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German Pages [257] Year 2009
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623947 — ISBN E-Book: 9783647623948
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften Pastoraltheologie und Wege zum Menschen und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie
Band 50
Vandenhoeck & Ruprecht
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Constanze Thierfelder
Durch den Spiegel der Anderen Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in Seelsorge und Beratung
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62394-7
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Für Maria, Birkhild, Anuschka, Bernd, meine Familie und alle anderen, die mich auf meinen Wanderungen zwischen den Welten begleiten.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
I.
Einleitung und Verortung von Thema und These . . . . . .
13
1. Die Fragestellung und ihre Relevanz in der aktuellen Situation 2. Vorgehen und Ziele dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Situierung im Kontext aktueller Seelsorgeansätze . . . . . . .
13 20 27
II. Luce Irigaray: Die Dekonstruktion der Einheit . . . . . . . .
41
1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zur Bedeutung von Irigaray: Beispiele ihrer Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Einführende Bemerkungen zu Irigaray: Biographie und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das (latente) Programm von Speculum: Die Funktion des Diskurses (Lacan) zu destruieren . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Lacan: Das menschliche Subjekt verdankt sich der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Lacans Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . 2.3 Lacans Verständnis weiblicher Subjektivität: Il n’y a pas La femme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Irigarays Bezug auf und ihre Abgrenzung von Lacan . . . 3. Irigarays Methodik: Dekonstruktion und positive Setzungen . 3.1 Die Struktur von Speculum und Irigarays Botschaft . . . 3.2 Mimetik als Systemkritik: Produktion durch Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Gebot der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Affirmationen der Frau: Das Geschlecht, das nicht eins ist 3.5 Subjekt und Differenz: Irigaray in der Kritik . . . . . . . 3.6 Wahrnehmung von Differenz bei Irigaray . . . . . . . . .
41 41 47 48 50 51 53 55 57 57 59 70 71 73 78
III. Differenz in der Ethnopsychoanalyse . . . . . . . . . . . . .
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1. Georges Devereux: Zum Umgang mit kultureller Differenz . .
85 7
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1.1 1.2 1.3 1.4
Devereux’ Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnopsychoanalyse von Subjekt und Kultur . . . . . . Ethnopsychoanalytische Methodik nach Devereux . . . Das neue Forschungsinstrument: Die Gegenübertragungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Störungen und Abwehrstrategien . . . . . . . . . . . . . 1.6 Devereux’ Konsequenzen für ein Verständnis von Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maya Nadig: Geschlechterdifferenz in fremder und eigener Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Maya Nadigs Forschungsansatz . . . . . . . . . . . . . 2.2 Nadigs Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Geschlechterverhältnisse in Nadigs Forschung . . . . . 2.4 Ethnopsychoanalytische Untersuchungen in der eigenen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Subjektivität als Prozeß im intermediären Raum . . . .
. . .
85 87 91
. .
92 95
. 107 . . . .
109 110 111 120
. 122 . 123
IV. Differenz in der Analyse einer Beratungssequenz . . . . . . 129 1. Von der Theorie zur Methode der Gesprächsanalyse . . . . 2. Darstellung der Gesprächssequenz . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Paargespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Einzelgespräche mit Herrn Hauser . . . . . . . . 2.3 Die Einzelgespräche mit Frau Laupe . . . . . . . . . . 2.4 Das gemeinsame Abschlußgespräch . . . . . . . . . . 2.5 Beziehungs- und Konfliktdynamik . . . . . . . . . . . 3. Die Wahrnehmung von Differenz aus diskurstheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Diskursanalyse im Anschluß an Irigaray. Methodologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Interpretation der Gesprächssequenz aus diskursanalytischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Ertrag der diskursanalytischen Perspektive . . . . 4. Die Wahrnehmung von Differenz aus ethnopsychoanalytischer Perspektive . . . . . . . . . . . . 4.1 Ethnopsychoanalyse und die Methodik der Gesprächsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Differenz in der Gesprächsbeziehung und der begleitenden Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der neue Umgang mit Differenz und die veränderte Paarbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
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. . . . . . .
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129 130 131 138 141 144 145
. . 147 . . 147 . . 155 . . 168 . . 169 . . 169 . . 172 . . 181
4.4 Analyse der Verknüpfung von Subjekt und Kultur . . . . 183 5. Ertrag der diskursanalytischen und ethnopsychoanalytischen Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
V. Fiktives Gespräch mit Klaus Winkler über Seelsorge und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Vorbemerkungen: Zum Genre des fiktiven Gesprächs . . . 2. Winklers Seelsorgeansatz und das Thema ‚Differenz‘ . . . 3. Fallbeispiel einer Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Beziehungs- und Konfliktdynamik . . . . . . . . . . . 4. Fiktive Fallbesprechung mit Klaus Winkler . . . . . . . . 5. Das persönlichkeitsspezifische Credo in der Postmoderne
. . . . . . .
. . . . . . .
193 196 218 218 222 223 230
VI. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
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Vorwort In der griechischen Mythologie ist der Spiegel das Kennzeichen von Selbstverliebtheit und Einsamkeit. Narziß verliebt sich in sein Spiegelbild im Wasser und erkennt nicht, daß er nur sein eigenes Bild betrachtet. Da er den vermeintlich Anderen nicht erreichen kann, geht er an seiner Liebe zugrunde. In diesem Mythos gibt es kein Gegenüber, keine Anderen, keine Differenz. Die unausweichliche Konsequenz ist der Tod. Durch den Spiegel der Anderen suche ich nach Wahrnehmungshilfen für Seelsorge und Beratung, die nicht nur auf Empathie und Nähe setzen, sondern auch Distanz, Nicht-Verstehen und Differenz in den Beratungsprozeß einbeziehen. Luce Irigaray zeigt, daß der Spiegel, den das Spiegelstadium voraussetzt, kein passives Objekt ist, sondern daß das Spiegeln eine aktive Leistung der Mutter ist. Hier wird der Spiegel selbst lebendig. Sie ist kein bildliches Echo des Kindes, sondern eine andere Person, ein Gegenüber. Die Ethnologen Devereux und Nadig entlarven dagegen unsere Begegnung mit den Fremden, den Anderen als eine narzißtische Täuschung, als ein Bild, das durch unsere Vorerfahrungen und Ängste verzerrt und getrübt ist. Ein Blick hinter den Spiegel ist nicht möglich. Nur ein bewußter Umgang mit den eigenen Ängsten läßt den Anderen die Freiheit anders zu sein. In beiden Fällen geht es um den Mut, die Anderen in ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren, auch wenn dadurch das Eigene in Frage gestellt wird. Natürlich drängt sich mir als Theologin dann die Frage geradezu auf, wie man angesichts dieser Theorien mit der Andersartigkeit Gottes umgehen kann. Ein differenzierter Umgang mit dieser Frage aus religionspsychologischer, praktisch-theologischer und systematischer Perspektive würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, so daß ich mich darauf beschränke, Spuren zu legen, ohne diese zu einer Theologie der differenzbewußten Seelsorge auszubauen. Im Hinblick auf die Präsentation habe ich dagegen bewußt und mit Genuß den üblichen Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit gesprengt, indem ich nicht nur neue Darstellungsformen wie z.B. gerahmte Absätze mit Hintergrundinformationen einfügte, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem Pastoralpsychologen Klaus Winkler in Form eines fiktiven Dialogs entwickelte. 11
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Ich danke allen, die diese Arbeit auf ihrem recht langen Weg begleitet und unterstützt haben: dem Würzburger Graduiertenkolleg „Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen“ und dem Luther-Stipendium der EKHN für die finanzielle Unterstützung, den Diplompsychologinnen Ellen Smith und Anne Jessen-Klingenberg für die psychologische Reflexion, dem Habilitandinnenkolleg der Philipps-Universität Marburg, der International Academy of Practical Theology, insbesondere Prof. Riet Bons-Storm und Prof. Christiane Burbach für ermutigende Kritik; Eva Jain, Gerhard Kaminski und Jörg Rustmeier für die redaktionelle Arbeit, der DGfP und der EKKW für Druckkostenzuschüsse und Prof. Gerhard M. Martin und Prof. Ulrike Wagner-Rau für ihre Gutachten zur Habilitation. Die Arbeit wurde unter dem Titel „Die Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in Seelsorge und Beratung. Ein Beitrag zur Grundlegung gegenwärtiger Seelsorgetheorie“ im Mai 2005 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als schriftliche Habilitationsleistung anerkannt. Weiterhin danke ich allen, die mich fachlich, moralisch und praktisch unterstützt oder mir, wie das Café Klingelhöfer im Marburger Südviertel, einen kultivierten Raum zum Denken zur Verfügung gestellt haben. Und nun freue ich mich, diese Arbeit einer breiteren Leserschaft vorzustellen und einen weitergehenden Diskussionsraum zu eröffnen. Wetter (Hessen) im Mai 2008
Constanze Thierfelder
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I. Einleitung und Verortung von Thema und These Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgend etwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zu dem Fremden, das ist mir leider fremd, ich bin hier nämlich selbst fremd. (Karl Valentin)1
1. Die Fragestellung und ihre Relevanz in der aktuellen Situation Wie kann ich die Andere oder den Fremden in Seelsorge- und Beratungssituationen wahrnehmen? Diese Frage will ich in der vorliegenden Arbeit an Hand von zwei Wahrnehmungsperspektiven bearbeiten. Der Begriff Differenz verweist auf eine strukturanalytische Perspektive, Fremdheit auf eine erfahrungsorientierte Wahrnehmung im Umgang mit anderen. Die These der vorliegenden Arbeit ist, daß beide Perspektiven auf die Differenz wesentliche Beiträge zur Theorie und Praxis von Seelsorge und Beratung leisten können. Seelsorge und Beratung sind beides kirchliche Handlungsfelder, die wesentlich von den aktuellen gesellschaftlichen Umbrüchen berührt werden. In der Seelsorgepraxis der Volkskirche wird vor allem relevant, daß gesellschaftliche und kirchliche Traditionen nicht mehr als verbindlich oder selbstverständlich angesehen werden. Im Hinblick auf die Kasualien lösen sich herkömmliche Normen immer weiter auf. Wann ein Kind getauft wird, nach der Geburt, vor der Konfirmation oder überhaupt nicht, wird in das Ermessen der Eltern gestellt. Ob und wann eine Ehe standesamtlich geschlossen wird, und ob und wann sich ein Paar kirchlich trauen läßt, wird immer mehr in den Entscheidungsbereich des jeweiligen Paares verlagert. Kinder sind nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil einer Partnerschaft, sondern werden durch bewußte, unbewußte und biographische Entscheidungsprozesse in die Lebensplanung ein- oder davon ausgeschlossen. Schon diese Vielfalt der Entscheidungsmöglichkeiten und der damit einhergehenden Lebensentwürfe führen zur Erfahrung von Fremdheit und Differenz, z.B. 1
Zitiert nach Erol Yildiz: Fremdheit und Integration. Domino 26, Bergisch Gladbach 1999, 10. Vgl. auch Michael Schulte (Hg.): Das Valentin-Buch. Von und über Karl Valentin in Texten und Bildern. München (1984) 8 1990, 489.
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zwischen kinderlosen Paaren und Familien mit Kindern. Durch die Häufigkeit von Trennungen, Scheidungen und neuen Partnerschaften entstehen neue und komplexe Lebenszusammenhänge mit Teilzeitkindern und -eltern. Durch die neuen Möglichkeiten, aber auch durch den Zwang zur Mobilität wird das Zusammenleben der Generationen seltener, bzw. die Kontakte müssen über größere oder kleinere Distanzen aufrecht erhalten werden. Auch im Hinblick auf die Geschlechterdifferenz stellen sich in der Seelsorge neue Arten von Fremdheitserfahrungen ein, wenn vertraute Rollen und Zuschreibungen für Frauen und Männer ihre allgemeine Gültigkeit verlieren, z.B. wenn Frauen in der Kirche Leitungspositionen übernehmen oder wenn geschlechtsspezifische Rollenerwartungen in Familien- und Berufsleben nicht erfüllt werden können oder nicht mehr erfüllt werden wollen. Eine weitere Herausforderung für volkskirchliche Gemeinden und die dort stattfindende Seelsorge ist die Erfahrung, daß die evangelische und die katholische Kirche nicht mehr die einzigen religiösen Deutungsinstitutionen am Ort sind. Christliche Gemeinden stellen fest, daß nicht weit von ihnen von einer Moschee zum Gebet gerufen wird, sich buddhistische Gruppen zur Meditation treffen oder verschiedene Praktiken der New-Age-Spiritualität auch von ihren eigenen Kirchenmitgliedern eingeübt werden. Im eigenen Gemeindehaus trifft sich vielleicht noch eine christliche Gemeinde von „fremder“ kultureller Prägung: eine methodistische Gemeinde aus Ghana, eine lutherische Gemeinde aus Schweden oder eine charismatisch geprägte Gemeinde von (Spät-)Aussiedlern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Alles in allem sind dies Gruppen, die von der volkskirchlichen Kerngemeinde oft mehr gelitten als geliebt werden.2 Für beide Seiten ist der Umgang mit Fremdheit und Differenz und den daraus resultierenden Irritationen keine leichte Aufgabe. Im Bereich der Beratung, d.h. in den Beratungsstellen christlicher Trägerschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Institute zur Anbahnung christlicher Ehen gegründet wurden, und die sich dann als Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen psychologisch und sozialpädagogisch professionalisierten,3 wird der gesellschaftliche Umbruch besonders deutlich spürbar. Paare und Einzelne suchen Beratung, weil ihre Ehen zu scheitern drohen oder gescheitert sind oder weil sie in neu zusammengesetzten 2 Vgl. dazu die Berichte und Analysen von Gotthard Fermor: Gemeinde I. Ort der Begegnung mit Kultur und Kulturen. In: Karl Federschmidt et al. (Hg.): Handbuch Interkulturelle Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2002, 81–90 und Jörn-Erik Gutheil: Gemeinde II. (Spät-)Aussiedler, Fremde, Neubürger. In: Federschmidt et al.: Handbuch. 91–102. 3 Vgl. Helmut Halberstadt: Psychologische Beratungsarbeit in der Kirche. Wandlungen und Perspektiven. WzM 36/1984, 180–185.
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Patchwork-Familien nach Einigkeit suchen und mit der Realität der Verschiedenheit kämpfen. Intakte Familien und Alleinerziehende suchen nach neuen Wegen und Möglichkeiten, beruflichen und familiären Anforderungen zu genügen, besonders wenn die öffentlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten ungenügend sind und ein Netz von Verwandtschaft, das bei der Kinderbetreuung entlasten könnte, fehlt. Junge Erwachsene versuchen, sich zwischen den vielfältigen Möglichkeiten, die die Gesellschaft bietet, und den Begrenzungen, die z.B. durch den aktuellen Arbeitsmarkt bedingt sind, zu orientieren. In den Beratungsstellen steigt die Zahl von Ratsuchenden, wie z.B. Migrantinnen und Migranten sowie Aussiedlerinnen und Aussiedler, Menschen muslimischen Bekenntnisses und derjenigen, die nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft sind. Weiter steigt die Zahl von binationalen Partnerschaften, die Beratung suchen. Für die Deutung dieser gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüche bedienen sich die Soziologie und inzwischen auch andere Wissenschaften wie z.B. die Theologie des philosophischen Begriffs der Postmoderne, selbst wenn die damit einhergehende Theorie nicht insgesamt übernommen wird.4 Drei Kennzeichen der Postmoderne beschreibt der Sozialpsychologe Heiner Keupp in seinem Artikel zu den postmodernen Perspektiven in einer reflexiven Sozialpsychologie: 1. Es werde immer deutlicher, daß die Verheißungen der Moderne nicht eingelöst wurden und werden. Weder wurde das Versprechen wahr, daß die Technisierung des Lebens zum Wohlstand und zur Entlastung aller führt, noch bewahrheitete sich, daß die Welt durch wissenschaftliche Erkenntnisse verbessert und von Vernunft geprägt sein würde. Vielmehr offenbarten die technische und instrumentelle Rationalisierung der Lebens- und Arbeitswelten und die fortschreitende Disziplinierung und Unterwerfung der Subjektivität ihre dunklen Kehrseiten.5 Sowohl die Zahl derer, die durch Rationalisierungsmaßnahmen ihre Arbeit verlören, als auch der innere Druck zu Leistung, Konformität und Mobilität stiegen. Auf der Strecke blieben diejenigen, die den geforderten Normen nicht entsprechen können, auch weil sie Aufgaben übernehmen, die in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft zwar gebraucht, aber nicht honoriert würden, wie z.B. die Pflege von Kindern oder alten Menschen.
4 Vgl. Heiner Keupp: Grundzüge einer reflexiven Sozialpsychologie. Postmoderne Perspektiven. In: Ders. (Hg.): Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie. Frankfurt/M. (1993) 3 1998, 226–274, bes. 228f: „Müssen wir wirklich gleich postmodern werden?“ 5 Vgl. Keupp: Grundzüge. 234.
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2. Weiterhin gehörten zum Bedeutungsspektrum der Postmoderne die oben schon beschriebenen Veränderungen der alltäglichen Lebenswelten und deren fortschreitende Individualisierung und Pluralisierung. Individualisierung bedeute, daß vertraute Umfelder und Gruppen verloren gingen, soziale und verwandtschaftliche Bindungen brüchig würden und vertraute Rollen und Konventionen, die Sicherheit und Geborgenheit versprächen, ihre Selbstverständlichkeit verlören. Pluralisierung eröffne zwar einerseits ein Feld von ungeahnten Möglichkeiten, überließe es aber dem Einzelnen und der Einzelnen, sich in diesen unübersichtlichen Räumen zurechtzufinden. Dies führe zu Widersprüchen und Brüchen. „Ein Leben ‚aus einem Guß‘ erscheint nicht mehr möglich.“6 3. Diese Erfahrungen des Scheiterns der Ansprüche der Moderne und der Pluralisierung von Lebenswelten münden in die Kritik und Dekonstruktion von Subjekt- und Weltkonzepten. Keupp faßt zusammen: „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ‚Postmoderne bedeutet, daß man den MetaErzählungen keinen Glauben mehr schenkt‘.“7 Diese Pluralisierung von Konzepten führt, wie Keupp ausführt, zu neuer Unübersichtlichkeit. Gleichzeitig bedeutet die Infragestellung der monolithischen, eurozentristischen Konzeptionalisierung der Welt und der damit verbundenen Ansprüche auf Letztgültigkeit und Gewißheit auch, daß Gewaltzusammenhänge und Herrschaftsansprüche offengelegt und der Kritik zugänglich werden. Von denjenigen, die im bisher herrschenden System zu den Ausgeschlossenen gehörten, werden die Vorstellungen der Postmoderne, insbesondere die Pluralisierung der Lebenswelten und Normvorstellungen, ausdrücklich begrüßt. Emmanuel Lartey aus Ghana sieht in den Errungenschaften der Postmoderne deswegen vor allem die Möglichkeit der Befreiung: Postmodernism espouses views born out of a realization that knowledge can only ever be partial, fragmented and incomplete, and as such there is an anti-foundationalism that challenges and rejects the claims of universal organized bodies of knowledge that present themselves as mediating “neutral”, disinterested truth. In place of these, knowledge is seen as located and contextual. The social, economic, cultural and political location of persons significantly affects their apprehensions and interpretations of phenomena. The suppression of knowledge by pow-
6
Keupp: Grundzüge. 236. Jean-François Lyotard zitiert nach Keupp: Grundzüge. 235, vgl. auch Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz/Wien 1986, 14f. 7
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erful and privileged groups is a matter of investigation and interest to postmodernists.8
Wie schon oben angesprochen, ist die Anerkennung von verschiedenen Lebenswelten ebenso wie die Pluralisierung von Konzepten des Wissens und seiner Kontextualität zwar einerseits eine Befreiung, andererseits wird das Subjekt vor neue Aufgaben gestellt. Damit geht einher, daß sich das Verständnis und die Konzeptionalisierung eines Subjekts wandeln müssen. In der postmodernen Kritik steht dabei vor allem „die individuelle Akkumulation ‚innerer Besitzstände‘, die durch ein steuerndes und zentralistisch gedachtes Ich zusammengehalten werden“9 . Von feministischer Seite wird ein Subjektverständnis kritisiert, das das Individuum unabhängig von anderen Subjekten, von Natur und Umwelt sieht.10 Zur Debatte stehen daneben die Vorstellung, daß das Subjekt allein von der Vernunft gesteuert sei,11 sowie das Bild eines einheitlichen und unabhängigen Subjekts.12 In Bezug auf das postmoderne Subjekt und eine Subjekttheorie ebenso wie in der fortschreitenden Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten tritt damit das Thema von Fremdheit und Differenz in den Blick. Wieder betont Lartey die positiven Aspekte des Deutlichwerdens von Differenz: One of the hallmarks of postmodernism has been a fascination with alterity (otherness). The “other” who is significantly different from the self (i.e. the Western self) is to be highly valued, listened to and learned from. This is because multiple positions and perspectives are seen as highly significant and pluralities of discourse that recognize diverse truths and divergent histories, are prized. Different forms of 8
Emmanuel Y. Lartey: In Living Color. An Intercultural Approach to Pastoral Care and Counseling. London/New York (1988) 2 2003, 38. 9 Keupp: Grundzüge. 249. 10 Vgl. Sandra Harding: Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. Berlin 1990, 184. 11 Obwohl schon Sigmund Freud bezweifelte, daß das Subjekt Herr im eigenen Haus sei, und dem Unbewußten und seinen Triebregungen große Macht zuschrieb, so war er doch insoweit ein Kind der aufgeklärten Moderne, daß er auch immer wieder versuchte, daß Ich gegen das Es und seine Triebregungen zu stärken, d.h. der Vernunft zum Siege zu verhelfen. Zu diesen Ambivalenzen Freuds gegenüber der Vernunft und dem Unbewußten vgl. Christa Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin/Heidelberg/New York (1991) 2 1992, 143. 12 Keupp zeigt, daß die in der Postmoderne kritisierte „substanzontologische“ Subjektphilosophie auch in der Philosophiegeschichte nicht unwidersprochen blieb; vgl. Keupp: Grundzüge. 242–245.
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knowledge that have been subjugated are given the opportunity to be released, find expression and be explored.13
Gerade im geeinten Europa sind Fremdheit und Differenz wichtige Themen, die jedoch vor allem im Hinblick auf ihre Kehrseite, auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus hin, gesellschaftliche Relevanz gewinnen. Dies zeigt sich an der Vielzahl von neuen, auch populärwissenschaftlichen Titeln wie z.B. Fremdheit und Integration,14 Fremde sind wir uns selbst,15 Papa, was ist ein Fremder?16 . Im kirchlichen Umfeld und auch in der Praktischen Theologie wurden Fremdheit und Differenz bis vor kurzem kaum als relevante Themen diskutiert. Kirche, vor allem in den Ortsgemeinden, sollte Heimat und Geborgenheit bieten.17 In der Seelsorge war Wahrnehmen und Annehmen18 , Verständnis und Nähe – zumindest in der neueren Seelsorgebewegung – das Gebot der Stunde. Diese in den 70er und 80er Jahren in der Seelsorge hart erkämpfte anthropologische Wende stellte eine wichtige Gegenbewegung zur eher sakramental ausgerichteten Seelsorge dar, die konkret und metaphorisch gesprochen weitgehend mit Bibel, Katechismus und Gesangbuch arbeitete. Ähnlich wie die Psychologie19 blieb jedoch auch die neuere Seelsorgebewegung weitgehend dem aufklärerischen, modernen Subjektverständnis verhaftet, das die Radikalität der gesellschaftlichen Umbrüche, die mit dem Begriff der Postmoderne beschrieben werden, nur unzureichend in den Blick nehmen wollte. Doch die Kirche, ihre Gemeinden und ihre Mitglieder leben in einer sich wandelnden Gesellschaft. Die Praxis von Seelsorge und Beratung ist unmittelbar von den gesellschaftlichen Prozessen der Pluralisierung und Individualisierung betroffen. Was bedeutet nun aber die postmoderne Lebenswelt für eine Theorie der Seelsorge? Inwieweit muß dies Niederschläge in einer Neukonzeptualisierung der Praxis finden? Wie kann eine Seelsorgetheorie dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Realität und dem Individuum und seinen Lebenszusammenhängen gerecht werden? Und im Hin13
Lartey: In Living Color. 38. Vgl. Yildiz: Fremdheit und Integration. 15 Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/M. 1990. 16 Tahar ben Jelloun: Papa, was ist ein Fremder? Gespräche mit meiner Tochter. Reinbek 1999. 17 Zu einer Diskussion der Sehnsucht nach der Kirche als Heimat vgl. Ingrid Schoberth: Heimat in der Kirche. Zu den Voraussetzungen einer praktisch-theologischen Aufgabe (JRP 14). Neukirchen-Vluyn 1998, 170–184. 18 So der vielzitierte Titel eines Buches von Dietrich Stollberg: Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis. Gütersloh 1978. 19 Vgl. Keupp: Grundzüge. 226–229. 14
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blick auf die Praxis der Seelsorge stellen sich die Fragen: Wie läßt sich in der Seelsorge mit Vielfalt und Verschiedenheit, mit Fremdheit und Differenz umgehen? Wie kann bei Fremdheits- und Differenzerfahrungen die Neugier bewahrt werden und wie läßt sich Verständigung, vielleicht sogar Gemeinschaft herstellen? Was kann Seelsorge und Beratung dazu beitragen, daß Subjekte mit der Vielfalt ihrer Chancen, mit ihren Bedürfnissen nach Einbindung und Orientierung, aber auch mit ihren Grenzen umgehen können? Welchen Stellenwert hat die religiöse Dimension in diesem Zusammenhang? Meine These ist, daß die Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz wichtige Hinweise, vielleicht sogar eine Basis für die Theorie und Praxis von Seelsorge und Beratung in der Postmoderne bieten kann. Wenn ich Fremdheit und Differenz ins Zentrum meiner Fragestellung rücke, so bedeutet dies vor allem, daß ich Selbstverständlichkeiten, selbst solche, die mir lieb und teuer sind, auf den Prüfstand stelle und unangenehme Erfahrungen wie z.B. Versagensgefühle differenziert in den Blick nehme – nicht um Schuldgefühle zu schüren, sondern um sie in neuem Licht zu interpretieren: Warum gelingt es in Beratungsstellen oft nicht, mit Menschen nicht-deutscher Kultur längerfristige Beratungsprozesse zu initiieren? Warum bleiben sich Ost- und Westdeutsche 15 Jahre nach der Wiedervereinigung fremd? Wie kann Zusammenleben auch von ost-/westdeutschen und binationalen Paaren gelingen, ohne daß die Differenzen übermäßig betont oder ausgeblendet werden? Und wie ist es um das Zusammenleben von Männern und Frauen überhaupt bestellt? Ist das Patriarchat zu Ende – bis zur Geburt des ersten Kindes? Für die Theorie der Seelsorge überlege ich anhand der Frage nach Fremdheit und Differenz, wie das Subjekt in seinen Beziehungen und Abhängigkeiten im gesellschaftlichen Kontext differenzierter wahrgenommen werden kann, ohne einerseits die Vergesellschaftung oder andererseits ohne die Fähigkeiten des Subjekts, sich in Zwängen und Abhängigkeiten Reflexionsund Entscheidungsfreiräume zu bewahren, zu leugnen.20 In der Zuspitzung meines Themas auf Fremdheit und Differenz sehe ich eine Möglichkeit, aus der aktuellen Polarisierung der poimenischen Diskussion zwischen neuerer Seelsorgebewegung und postmoderner Kritik heraus20 Ich werde den Begriff Identität weitgehend meiden, da er vielfach – wenn auch nicht immer zu Recht – mit einer Vorstellung von „Substanzontologie“ und „subjektiver Besitzstandswahrung“ verknüpft wird. Ich führe jedoch keinen Kampf um die Begrifflichkeiten Identität, Subjekt und Subjektivität, sondern versuche, ein Verständnis davon beschreibend einzukreisen. Ich halte es dabei mit Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990, 197: „Es kommt [. . .] darauf an, dieses Ich seinerseits nicht zu arretieren, sondern zu öffnen. Es gilt, seine Identität so auszubilden, daß sie der aktuellen Pluralität gewachsen, Identität in Übergängen ist.“
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zutreten.21 Statt dessen müssen die Aufgaben für die Theorie und Praxis von Seelsorge und Beratung benannt, aus verschiedenen Perspektiven reflektiert und Lösungen aufgezeigt werden, die sowohl theoretischen als auch praktischen Problemstellungen genügen.
2. Vorgehen und Ziele dieser Arbeit Um die Fragestellung zu bearbeiten, wie sich Seelsorge und Beratung in einer sich verändernden, sogenannten postmodernen Gesellschaft verorten können, müssen mindestens zwei Blickrichtungen beachtet werden: Einerseits die Perspektive von der Kultur und Gesellschaftsanalyse hin zum Subjekt und andererseits der Blick vom Subjekt und seiner Struktur und Funktion hin zu einer Situierung in Kultur und Gesellschaft. Ich beziehe mich dabei immer auf die Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz, und wie sich diese im jeweiligen Bereich darstellt und auswirkt. Als paradigmatische Theorien zur Wahrnehmung von Differenz greife ich eine feministische und eine ethnologische Theorie auf, denen gemeinsam ist, daß sie die psychoanalytische Grundthese – d.h. die Existenz des Unbewußten im Individuum, in der Sprache und in der Gesellschaft – voraussetzen und mitreflektieren. Die Entscheidung, eine ethnologische Theorie für die Wahrnehmung von Differenz hinzuzuziehen, bedarf keiner weiteren Erläuterungen, sondern geht vielmehr davon aus, daß eine Wissenschaft, deren zentrales Thema die Erkundung des Fremden ist, auch umfassende Überlegungen zur Methode der Wahrnehmung vorgenommen hat. Die Entscheidung für eine feministischen Theorie berücksichtigt, daß Frauen eine hinreichende Erfahrung mit Marginalisierungen und offensichtlichen und versteckten Differenzerleben haben. Wie die Ethnologie haben auch feministische Theorien eine längere Tradition des Umgangs mit und der Erforschung von Differenz, die mir für meine Arbeit nützlich sein kann. Ich beziehe mich im folgenden auf die feministische Theorie von Luce Irigaray, deren zentrales Anliegen die Dekonstruktion von selbstverständlichen Normen und Kategorisierungen ist. Die Dekonstruktion herkömmlicher Denkschemata bzw. das Nachdenken über ihre Konstruktion macht deutlich, daß die dichotomischen Unterscheidungen in Ausländerinnen, Ausländer und Einheimische, in Weiße und Schwarze, in Frauen und Männer auf Normierungen, Inklusionen und Ausgrenzungen beruhen, die in ihrer Allgemeingültigkeit sehr wohl hinterfragt werden können und auch hinterfragt werden müssen. 21
Vgl. unter I.3. die Auseinandersetzung mit Isolde Karle und Uta Pohl-Patalong.
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Welche Merkmale machen jemanden zur Ausländerin oder zum Ausländer? Der Eintrag im Reisepaß, der Geburtsort, die Muttersprache, der langjährige Aufenthaltsort oder das subjektive Zugehörigkeitsgefühl? Was ist von Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit, binationalen Eltern, oder Menschen, die sich in mehreren Kulturen zu Hause fühlen, zu halten? Sind sie „Problemfälle“ oder die Prototypen einer „hybriden Identität“?22 In Bezug auf die Geschlechterdifferenz fragen Dekonstruktivistinnen: Was macht eine Person zur Frau oder zum Mann? Ist es die biologische Ausstattung, sind es die XX- oder XY-Chromosomen, geschlechtsspezifische Verhaltensweisen oder bestimmte Kleidung? Warum wird ein Mann als „weibisch“ bezeichnet, wann eine Frau als „vermännlicht“? Welche Rolle spielt dabei die heterosexuelle oder homosexuelle Partnerwahl? Die Einführung in die feministische Theoriebildung von Regina BeckerSchmidt und Gudrun-Axeli Knapp zeigt die Konsequenzen dieser Fragestellung auf: Feministische Theorien, die ethnomethodologische und wissenssoziologische, im engeren Sinn konstruktivistische Ansätze präsentieren, verfolgen in erster Linie, wie Aussagesysteme über Geschlechter und Geschlechterdifferenzen zustande kommen und wie sie funktionieren. Nicht wie Männer oder Frauen als Personen beschaffen sind, ist von Interesse, sondern die Wissensbestände und Alltagsarrangements, aus denen kulturelle Muster von Weiblichkeit und Männlichkeit stammen. Geschlecht und Geschlechterdifferenz gelten als Konstruktionen, die sich auf einer vorwiegend normativen Ebene konstituieren: in symbolischen Ordnungen, durch Sprache und diskursiv vermitteltes Handeln. Das Subjekt erscheint als Intersubjekt, als Effekt von Interaktionen.23
Das konstruktivistische Weltverständnis geht davon aus, daß Geschlecht und Geschlechterdifferenz ähnlichen Mechanismen unterworfen sind wie die Wahrnehmung von kultureller Identität und Differenz. Diskurse und Konstruktionen bestimmen dabei nicht nur die Wahrnehmung und das Verstehen, sondern auch vermeintlich spontane, natürliche Äußerungen wie Gefühle: 22
In den Postcolonial Studies, ausgehend vom Center for Contemporary Cultural Studies in Birmingham (Großbritannien), wird mit dem Begriff Hybride – entlehnt aus dem Vokabular der Biologie – eine neue Kulturform bezeichnet, die aus einer Vermischung von anderen Kulturen hervorgegangen ist und die die Ursprungskulturen an Komplexität und Funktionalität übertrifft. Vgl. dazu Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997 und Nora Räthzel: Hybridität ist die Antwort, aber was war noch mal die Frage? In: Brigitte Kossek (Hg.): Gegen-Rassismen. Konstruktionen – Interaktionen – Interventionen. Hamburg 1999, 204–219. 23 Regina Becker-Schmidt/Gudrun-Axeli Knapp: Feministische Theorien. Zur Einführung. Hamburg (2000) 2 2001, 126.
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Auch Gefühle sind Teil der herrschenden Ordnung. Sie sind nicht einfach natürlich gegeben. Gerade Rassismus und Antisemitismus zeigen, wie sehr sich die Geschichte, die individuelle wie die kollektive nicht nur in die Gedanken, sondern auch in die Gefühle einschreibt; etwa in die Gefühle gegenüber Juden oder Jüdinnen, oder den Menschen mit schwarzer Hautfarbe oder gegenüber Sinti und Roma etc. Gefühle sind also nicht einfach überzeitliche, ahistorische Konstanten. Und sie sind nicht natürlich im Sinn von Unveränderbarkeit. Sondern in ihnen schlagen sich unsere gesamten Erfahrungen nieder und auch die, in denen wir gelernt haben, wer liebenswürdig und attraktiv ist, wer vertrauenswürdig und beängstigend ist und wer zu „uns“ gehört und wer nicht. Auch positive Gefühle stehen vielfach im Dienst der Bestätigung von Normen. So fragt man sich z.B., wie es kommt, daß nahezu alle heterosexuell orientierten Frauen sich in Männer verlieben, die größer, älter, statusgleich oder höher sind und dieselbe Hautfarbe haben? Ist das eine Himmelsmacht?24
Wie die exemplarische Analyse von Birgit Rommelspacher zum Bereich der Gefühle zeigt, sind die Konstruktionsprinzipien im Bereich der kulturellen Differenz und der Geschlechterdifferenz ähnlich, wenn auch nicht identisch. Von der Vielzahl der Theorien des feministischen Dekonstruktivismus25 wählte ich den Ansatz der Linguistin, Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray aus. Dabei handelt es sich nicht um eine der neuesten Theorien, sondern vielmehr um einen der ersten Ansätze, die das Mittel der Dekonstruktion im Bereich der Geschlechterdifferenz anwandten. Meine Wahl fiel auf Luce Irigaray, weil ihr Entwurf eine bestechende Klarheit und Radikalität auszeichnet, was ihn über die Grenzen ihrer Disziplin und über viele Sprachgrenzen hinweg bekannt werden ließ. Ein besonderes Merkmal von Irigaray ist, daß sie es nicht nur bei einer diskursiven Kritik des patriarchalen Wissens und Denkens beließ; vielmehr setzt sie ihr Programm auch in 24
Birgit Rommelspacher: West-Emanze und Ost-Mutti. Zur neuen Konfliktlage zwischen Frauen im vereinten Deutschland. Dokumentation der Frankfurter Rundschau vom 20. Februar 1994. 25 Als weitere prominente Vertreterin des feministischen Dekonstruktivismus sei Judith Butler genannt. Ihr Ansatz ist zwar aktueller als der von Luce Irigaray, aber weitgehend auf den Bereich der Sexualität zugespitzt. Butlers Theorie hat ihren Ausgangspunkt in der Konstruktion von Zwangsheterosexualität. Sie geht von einem konstitutiven Zusammenhang zwischen Geschlechterdifferenz und Heterosexualität aus. Damit konzentriert sie sich auf den Bereich der Sexualität, der aber nur ein Teil der feministischen Diskussion ist. Was ist mit den Geschlechterverhältnissen in der Arbeitsaufteilung, auch in Bezug auf Kinder, ihre Pflege und Erziehung? Bei Butler werden sowohl die Nicht-Identität wie auch der Bereich der Sexualität mit einem totalisierenden Erklärungsanspruch versehen. Dies verleiht ihrem Ansatz die mitreißende Radikalität, setzt ihm aber auch seine spezifischen Grenzen. Vgl. dazu auch Becker-Schmidt/Knapp: Feministische Theorien. 81–93.
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der Form ihrer Veröffentlichungen radikal um, indem sie die herkömmliche Textästhetik konterkariert und neue Weisen der Kritik und der Affirmation entwickelt. Die radikale Eindrücklichkeit von Irigarays Thesen verdankt sich einer gewissen Einlinigkeit, mit der sie in ihren Büchern Speculum – Spiegel des anderen Geschlechts26 und Das Geschlecht, das nicht eins ist27 ihr Anliegen vertritt. Dies erfordert für einen weiteren Gebrauch dieser Theorie eine hinreichende Differenzierung, die jedoch ihre grundsätzliche These nicht in Frage stellt. Die postmoderne Welt, in der wir leben, allein aus konstruktivistischer Perspektive zu betrachten, hieße jedoch, wieder eine allgemeingültige und allgemein verbindliche Perspektive der Wahrnehmung und Hermeneutik zu propagieren, sozusagen, den idealistischen Diskurs durch den konstruktivistischen Diskurs zu ersetzen. Damit würde das konstruktivistische Regelwerk zur Norm erhoben. Das Subjekt würde einem soziologischen Determinismus anheimgegeben und die Perspektive des Subjekts ignoriert. Dies ist nicht mein Ziel. Deswegen werde ich der dekonstruktivistischen Theorie eine Theorie der Wahrnehmung zur Seite stellen, die der ersteren diametral entgegengesetzt zu sein scheint: die Ethnopsychoanalyse. In der Ethnopsychoanalyse wird das Subjekt nicht nur ernstgenommen, sondern es wird als konstitutiv für die Wahrnehmung verstanden. Wahrnehmung wird radikal subjektiviert und individualisiert. Durch die Offenlegung der Subjektivität werden jedoch die Ergebnisse nachvollziehbar und validierbar. Die ethnopsychoanalytische Methode von Georges Devereux geht davon aus, daß eine reziproke Beziehung zwischen Forscher und „beobachtetem Objekt“ besteht, so daß nicht nur ein Objekt beobachtet und dadurch Daten produziert, sondern immer auch die Forschenden selbst und die konkrete Beziehung zwischen Forschenden und Objekt Teil eines Forschungsprozesses und des Forschungsergebnisses sind: Bei einer wissenschaftlichen Verhaltenstheorie erscheint die Subjektivität des Forschers im Forschungsprozeß mindestens an zwei entscheidenden Stellen: bei der Auswertung der persönlichen Verstrickung mit dem Material als auch bei der Einflußnahme auf das zu beobachtende Ergebnis.28
Die ethnopsychoanalytische Methode geht davon aus, daß die Verstrickungen der Forschenden mit dem zu erforschenden Material, die in der For26
Luce Irigaray (1974): Speculum – Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt/M.
1980. 27
Luce Irigaray (1977): Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979. Johannes Reichmayr: Einführung in die Ethnopsychoanalyse. Geschichte, Theorien und Methoden. Frankfurt/M. 1995, 188. 28
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schung üblicherweise als lästige Störungen verstanden werden, bewußt wahrgenommen und analysiert werden müssen. Erst durch die Analyse der eigenen Verstrickung der Forschenden, d.h. ihren Gegenübertragungsreaktionen, werden Ergebnisse deutlich, die nicht durch blinde Flecke und angstgeleitete Ausblendungen beeinträchtigt sind. Weiterhin geht Devereux davon aus, daß jedes Individuum von idiosynkratisch Charakterzügen, die psychologisch interpretiert werden können, und von kulturspezifischen Charaktereigenschaften, die soziologisch aufgeschlüsselt werden müssen, bestimmt ist. Diese biographisch-persönlichen und kulturspezifischen Charaktereigenschaften sind ineinander verwoben. Zur pluridisziplinären Analyse von ethnologischen Daten entwickelt Devereux deswegen die komplementaristische Methode. Sie untersucht das Zusammenspiel von individueller Entwicklung mit einer spezifischen Kultur.29 Der ethnopsychoanalytische Ansatz von Maya Nadig30 hat sich darüber hinaus dem heuristischen Prinzip verschrieben, die Subjektivität ihrer Forschungsobjekte, speziell die der Frauen, in den Vordergrund zu stellen. Nadig will herausarbeiten, daß Frauen innerhalb und außerhalb Europas zwar einerseits gesellschaftlichen Normen und Zwängen besonders ausgeliefert sind, daß sie aber andererseits unter schwierigsten Bedingungen oft überraschende Lösungen finden, um sich Lebens- und Freiräume zu schaffen. Mein Anliegen in der vorliegenden Arbeit besteht auch darin, die Absolutheitsansprüche einer einheitlichen Wahrnehmungsmethode zu konterkarieren, indem ich die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven der konstruktivistischen und der ethnopsychoanalytischen Theorie nebeneinanderstelle und im Anschluß daran Methoden für die Praxis entwickle, die ich an einem konkreten Beratungsfall erprobe. Es soll deutlich werden, daß jede der beiden Perspektiven bestimmte Ergebnisse ans Licht bringen kann, während andere in ihr verborgen bleiben. Konkret gesprochen: Während die konstruktivistische Theorie gesellschaftliche Wirklichkeiten und Machtstrukturen aufzeigt, geht die ethnopsychoanalytische Theorie von einem Subjekt, seiner Wahrnehmung und seinen kreativen Fähigkeiten im Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen und Prägungen aus. Für die Theorie und Praxis von Seelsorge und Beratung sind beide Methoden relevant. Mein spezifisches Anliegen besteht darin, Methoden zu finden, die für die Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz geeignet sind und damit Tendenzen zur Ausgrenzung, Ausblendung oder Vereinnahmung des An29
Vgl. Georges Devereux (1972): Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt/M. 2 1984. 30 Maya Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Frankfurt/M. (1986) 2 1997.
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dersartigen – schon im Bereich der Wahrnehmung – offenlegen und ihnen entgegentreten. Dieses Interesse, ein angemessenes Wahrnehmungsmodell für Fremdheit und Differenz zu finden, zeigt auch der Religionsgeschichtler Theo Sundermeier in seinem programmatischen Buch mit dem Titel: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik31 . Im Anschluß an Sundermeiers Modell, kann ich mein Interesse gut deutlich machen und mich gleichzeitig von seinem Ansatz abgrenzen. Auch Sundermeier arbeitet interdisziplinär, indem er ethnologische, kunstgeschichtliche, philosophische, kommunikationstheoretische und religionsgeschichtliche Perspektiven zur Wahrnehmung des Fremden benutzt. Er reflektiert kritisch die verschiedenen Modelle der Zuordnung von Fremdheit durch das Gleichheits-, Alteritäts- und Komplementaritätsprinzip.32 Obwohl Sundermeier die Problemskizze interdisziplinär anlegt, sieht er die Lösung des Problems in einem hermeneutischen Modell, das er in dem Satz zusammenfaßt: Das, was mich konstituiert, trennt mich von dem anderen. Hier wird Differenz und Zusammengehörigkeit gleich ursprünglich zum Ausdruck gebracht. Der andere ist nicht mit mir identisch und kann es nie werden, denn das würde ihn und mich unserer Identität berauben.33
Der Versuch von Sundermeier, die Wahrnehmung und die Hermeneutik des Fremden in ein Modell zu fassen, das vor allem der Abgrenzung verpflichtet ist, führt dazu, daß er interdisziplinäre Lösungsansätze in eine Struktur von „Stufen zum Verstehen des Fremden“ einfügt, die dann in der Lösung der „Konvivenz“ gipfeln.34 Zentrum von Sundermeiers Konvivenz-Ideal ist eine Vorstellung von Identität, die durch eine – wenn auch freundliche – Abgrenzung konstituiert ist. Er sieht es als Aufgabe des Christentums an, zur Motivation einer „xenologischen Hermeneutik“ beizutragen. Nach der Lektüre von Sundermeier und zur Zusammenfassung meines Anliegens sind mir die folgenden vier Punkte wichtig: • Das Interesse an einer Interdisziplinarität bei der Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz kann sich nicht auf die Problemskizze begrenzen, sondern muß darüber hinaus im Hinblick auf mögliche Lösungen durchgehalten werden. Genauer gesagt gilt es, nicht nur im interkulturellen Bereich Fremdheit und Differenz zu respektieren, son31
Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik. Göttingen 1996. 32 Sundermeier: Den Fremden verstehen. 72–77. 33 Sundermeier: Den Fremden verstehen. 133f. 34 Sundermeier: Den Fremden verstehen. 155.
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dern auch im wissenschaftlich-methodischen Bereich die Eigengesetzlichkeiten und Sprachspiele der verschiedenen Disziplinen wahrzunehmen und sorgfältig damit umzugehen. Von daher ist es illusionär, das Problem, „den Fremden zu verstehen“, mit einer einlinigen Hermeneutik lösen zu wollen. Meine hermeneutischen Überlegungen suchen deswegen weniger nach Lösungen als vielmehr nach umfassenderen Perspektiven der Wahrnehmung. • Gerade im Hinblick auf wissenschaftliche Redlichkeit ist es mir wichtig, zwischen interdisziplinären Theorien zur Wahrnehmung von Differenz, methodischen Überlegungen dazu und einer daraus resultierenden Praxis zu unterscheiden. • Ein interdisziplinärer Versuch der Wahrnehmung kann sein Ziel nicht in einer Identitätsvorstellung finden, die sich durch Abgrenzung und Ausschluß definiert. Zum einen wird diese Art von Identitätsvorstellungen in nahezu allen psychologischen Theorien als überholt angesehen, und von den neueren Ergebnissen der Forschung sogar als nicht angemessen verstanden.35 Zum anderen entsprechen diese Identitätsvorstellungen nicht den Anforderungen einer pluralistischen und komplexen gesellschaftlichen Lebenswelt.36 • Weiterhin sehe ich die Rolle von Kirche und Christentum nicht nur darin, eine ethische Begründung für eine xenologische Hermeneutik, d.h. für die Aufnahme und Annahme des Anderen und des Fremden zu liefern, obwohl diese Ethik der Gastfreundschaft biblisch einen zentralen Stellenwert innehat.37 Ich sehe die Aufgabe von Christentum und Kirche auch darin, zu einem (christlichen) Selbstverständnis aufzurufen, 35
Vgl. z.B. Heinrich Berger: Konstruktivistische Perspektiven in der Sozialpsychologie. Schizophrenie als die andere Seite der Normalität. In: Keupp: Zugänge zum Subjekt. 186–225, 186. Berger beschreibt, daß Schizophrenie unter konstruktivistischen Vorzeichen vor allem als Verstoß gegen gesellschaftliche Vorgaben gesehen werden kann, die zur Autonomie, Selbständigkeit und Selbstverantwortung verpflichten. Zu einer Zusammenstellung der Kritik eines ego-zentrierten, einheitlichen und autonomen Subjektverständnisses in der kulturvergleichenden Forschung, den feministischen Sozialwissenschaften, in systemischen Positionen und der kritischen Theorie vgl. Keupp: Grundzüge. 252–254. 36 Vgl. Wolfgang Welsch: Subjektsein heute. Zum Zusammenhang zwischen Subjektivität, Pluralität und Transversalität. In: Helmut Holzey/Jean-Pierre Lyvraz (Hg.): Vernunftnähe, Vernunftferne. Studia Philosophica 51/1992, 153–182. 37 Vgl. dazu Joachim Ringleben: Fremd sein. Systematisch-theologische Überlegungen. In: Ders./Klaus Winkler: Umgang mit Fremden. Vorlagen. Neue Folge 21. Hannover 1994, 13–37. Ringleben weist dort auf den biblischen Dreischritt zur Begründung der Fremdenfreundlichkeit und Gastfreundschaft hin: Zum einen die Begründung in Dtn 10,19 u.ö.: „Darum sollt auch ihr die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in
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in dem Angst und Neugier gegenüber Fremdheit und Differenz ausgehalten werden können, weil sich Christinnen und Christen trotz aller Verunsicherung in Gott sicher, gehalten und geborgen fühlen – gerade weil sich auch in der Gottesbeziehung Nähe und Distanz, Vertrautheit und Differenz ereignen. Wie Paul Tillich, der in der Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden sowohl die verheißungsvolle Möglichkeit als auch Bedrohung und Entfremdung sieht, gehe ich davon aus, daß nur im Umgang mit dieser Möglichkeit das Stadium der träumenden Unschuld verlassen werden und das reale Menschsein beginnen kann.38
3. Situierung im Kontext aktueller Seelsorgeansätze Der vorliegende Ansatz reflektiert Auswirkungen der bewußten Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz, vor allem von Kultur- und Geschlechterdifferenz, für die praktisch-theologischen Handlungsfelder von Seelsorge und Beratung. Dieses Anliegen will ich weiter konkretisieren, indem ich Gemeinsamkeiten und Differenzen zu ähnlich gelagerten Arbeiten zur Seelsorge und Beratung in der postmodernen Gegenwart aufzeige. Mit Albrecht Grözinger verbindet mich das Interesse, Differenzerfahrung für die Seelsorge fruchtbar zu machen. In einem Essay von 1994 plädiert Grözinger für einen doppelten Umgang mit Differenz in einer multikulturellen Gesellschaft. Er sieht die Notwendigkeit der Differenz-Blindheit,39 biblisch gesprochen: „Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau“ (Gal 3,18). Die Gottesebenbildlichkeit und in ihrer säkularen Form die allgemeinen Menschenrechte verbürgen den universellen Schutz aller Bürgerinnen und Bürger und ihre Gleichheit vor dem Gesetz. Andererseits sieht Grözinger auch die Notwendigkeit der Differenz-Aufmerksamkeit, die die Einzigartigkeit der Einzelnen, aber auch ihre Ägyptenland.“ Dann die Theologie des Fremdseins bei Jesus z.B. im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das in der Frage gipfelt: „Welcher von den dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ (Luk 10,36) Und schließlich das nicht zu überbietende Argument durch die Selbst-Identifikationen Gottes mit den Fremden bei Matthäus: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen.“ (Mt 25,35) „Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) 38 Vgl. Paul Tillich: Grenzen. Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt/M. am 23.September 1962. In: Gesammelte Werke Bd. XIII. Stuttgart 1972, 419–428. Vgl. auch Paul Tillich (1957): Systematische Theologie Bd. II. Frankfurt/M. 8 1984, 45–46. 39 Vgl. Albrecht Grözinger: Differenz-Erfahrung. Seelsorge in der multikulturellen Seelsorge. Ein Essay. Wechsel-Wirkungen. Waltrop 1994, 20f.
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Zugehörigkeit zu kulturell differenzierten Lebenswelten ernstnimmt. Diese Differenz-Aufmerksamkeit erfordert eine geschärfte Wahrnehmung, einen neuen Blick: Wahrnehmungsfähigkeit wird so zu einer unabdingbaren Voraussetzung für alle, die sich am Projekt der multikulturellen Gesellschaft beteiligen wollen. Wahrnehmung wird in der alteuropäischen Tradition mit dem griechischen Begriff der Aisthesis beschrieben. Damit bekommt die Ästhetik einen zentralen Stellenwert für die Ethik in der multikulturellen Gesellschaft.40
Für Grözinger ist die Aufmerksamkeit gegenüber der Differenz vor allem eine Frage der Ethik. Ich sehe jedoch in der Wahrnehmung der Differenz, der Differenz-Aufmerksamkeit – die ich nicht auf den Bereich der (Multi-) Kultur einschränke – vor allem die Frage nach dem Selbst-Verständnis: „Wer bin ich in dieser pluralen Welt?“ Es geht bei diesem Thema nicht nur um die Anderen, sondern um eine eigene Verortung im Verhältnis zur Welt, die immer auch ein Selbstverhältnis reflektiert. Die Aufmerksamkeit für Differenz fordert eine bestimmte Wahrnehmungseinstellung gerade im Bereich von Seelsorge und Beratung. An dieser Stelle setzen auch die Monographie von Christoph Schneider-Harpprecht mit dem Titel Interkulturelle Seelsorge41 und der Sammelband von Karl Federschmidt Handbuch Interkulturelle Seelsorge42 an. Während Grözinger die Bedeutung der Wahrnehmung hervorhebt, stellen die beiden letztgenannten Bücher eher die Frage nach der Methodik einer interkulturellen Seelsorge in den Vordergrund. Als Ziele für interkulturelle Seelsorge sieht Schneider-Harpprecht die soziale Integration43 und die kulturell sensible, christliche Hilfe zur Lebensgestaltung44 . Sein Ausgangspunkt im Handbuch Interkulturelle Seelsorge ist die steigende Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit Migrationshintergrund, so daß Deutschland inzwischen als ein Einwanderungsland verstanden werden muß. Auch in seiner Monographie Interkulturelle Seelsorge geht Schneider-Harpprecht weitgehend von der Situation aus, daß er mit einer störenden Fremdheit konfrontiert wird, die nicht zu übersehen ist. Was an Schneider-Harpprechts Darstellung auffällt, ist die konsequente Haltung, daß die Störung durch die kulturelle Andersheit der Anderen verursacht ist: 40
Grözinger: Differenz-Erfahrung. 25. Christoph Schneider-Harpprecht: Interkulturelle Seelsorge (APT 40). Göttingen 2001. 42 Federschmidt et al.: Handbuch. 43 Vgl. Christoph Schneider-Harpprecht: Was ist Interkulturelle Seelsorge? Eine praktisch-theologische Annäherung. In: Federschmidt et al.: 38–62, 40. 44 Vgl. Schneider-Harpprecht: Was ist Interkulturelle Seelsorge? 44. 41
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Die multikulturelle und multireligiöse Realität hat die Seelsorge eingeholt. Sie ist eine Störung, die sich auf die Dauer nicht ausblenden lässt. Sie mag zunächst durch den Hauch des Exotischen faszinieren, entpuppt sich aber bald als eher irritierend und unangenehm, denn im Umgang mit Fremden merken Seelsorgerinnen und Seelsorger, dass sie mit ihrem Latein schnell am Ende sind, weil die sprachliche Verständigung nicht klappt, weil es zu Missverständnissen kommt oder weil sie keine Interventionsmöglichkeiten sehen und sich ohnmächtig fühlen.45
Nahezu selbstverständlich geht Schneider-Harpprecht davon aus, daß die anderen, die Eingewanderten, den Seelsorger in Schwierigkeiten bringen, so daß er sich ohnmächtig fühlt. Fremde, vielleicht sogar exotische Fremde, kommen in „unsere“ Kirchengemeinden und „wir“ geben Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung, bzw. müssen Methoden gegen das Gefühl der Ohnmacht entwickeln, damit „wir“ diese Hilfe geben können. Bei dieser Rollenaufteilung entsteht leicht ein patriarchal-wohlmeinendes Autoritätsgefälle.46 Auf diese Gefahr der interkulturellen Seelsorge, das Machtgefälle zwischen Seelsorgenden und Seelsorge-Suchenden auszublenden, weist Eberhard Hauschildt im gleichen Band hin. Er zeigt, wie sich die Gefühle des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin von Macht zu Ohnmacht wandeln und zwischen Xenophilie und Xenophobie changieren können.47 Hauschildt sieht in der interkulturellen Seelsorge den Testfall für die Poimenik und schlägt vor, Seelsorge als „hochgradig interaktives Interpretationsgeschehen“48 und die Seelsorgetheorie dementsprechend als Hermeneutik zu konzeptionalisieren.49 Hauschildt nimmt mit seinem hermeneutischen Verständnis von Seelsorge Hans-Georg Gadamers hermeneutische Theorie50 auf, ist jedoch skeptisch, ob sich das Bild einer gemeinsamen Sache, die der Verständigung zugrundeliegt und sich bis zur „Horizontverschmelzung“ steigert, für das Verständnis einer interkulturellen Seelsorge als realistisch erweist. 45
Schneider-Harpprecht: Was ist Interkulturelle Seelsorge? 39. Dem widerspricht nicht, daß Schneider-Harpprecht für multisystemische Wahrnehmung und systemisches Denken und demgemäße Interventionen plädiert. Auch im systemischen Denken wird die Macht des Intervenierenden oft nicht reflektiert. 47 Vgl. Eberhard Hauschildt: Seelsorgelehre. Interkulturelle Seelsorge als Musterfall für eine Theorie radikal interaktiver Seelsorge. In: Federschmidt et al.: Handbuch. 241–261, 241f. 48 Vgl. Hauschildt: Seelsorgelehre. 248. 49 Vgl. Hauschildt: Seelsorgelehre. 250. Hauschildt bezieht sich dabei auf den eigenen Aufsatz: Seelsorge und Hermeneutik. Vom Verstehen helfender Gespräche. In: Ulrich Körtner (Hg.): Glauben und Verstehen. Perspektiven hermeneutischer Theologie. NeukirchenVluyn 2000, 75–96. 50 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen (1960) 2 1968, bes. 360. 46
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Diese Skepsis von Hauschildt will ich unterstützen, indem ich nicht nur von einer multi-kulturellen, sondern auch von einer postmodernen Realität ausgehe. Ich sehe die Differenzen nicht nur zwischen Eingewanderten und Einheimischen. Allein das Einbeziehen der Geschlechterdifferenzperspektive macht deutlich, das jede und jeder fremd ist, weil sie oder er auch anders ist, z.B. anders als das andere Geschlecht. Damit wird die Einbahnstraße von Verständnis und Hilfe zwischen Ratsuchenden und Seelsorgenden in Seelsorge und Beratung in Frage gestellt. Es geht vielmehr um einen wechselseitigen Prozeß des Wahrnehmens und Verstehens. Mit dieser erweiterten Wahrnehmungseinstellung in der Postmoderne geht einher, daß ich mich nicht nur den offensichtlichen Differenzen widme, sondern auch den Differenzen, die verschwiegen und in ihrer Relevanz geleugnet werden. Durch Emmanuel Lartey sehe ich mich darin bestätigt, zwischen multikulturellen Ansätzen, wozu ich auch Schneider-Harpprechts Ansatz rechnen würde, und Ansätzen zu unterscheiden, die nicht nur zwischen Einheimischen und Fremden differenzieren, sondern von einer beiderseitigen Verschiedenheit ausgehen und sowohl kulturelle Differenzen als auch Unterschiede in Geschlecht, Alter, Lebensstil miteinbeziehen. Emmanuel Lartey stammt aus Ghana, er ist Präsident der ICPCC (International Council für Pastoral Care and Counselling) und lehrte über mehrere Jahre als Professor für Seelsorge an der theologischen Fakultät der Universität Birmingham (Großbritannien), bevor er an das Columbia Theological Seminary in Georgia (USA) wechselte. In seinem Buch In Living Color. An Intercultural Approach to Pastoral Care and Counseling beschreibt er die Notwendigkeit einer Seelsorge, die nicht nur die kulturellen Differenzen zwischen Seelsorgendem und Klient in den Blick nimmt, sondern die Vielfalt der Verschiedenheiten,51 die in einer Seelsorgesituation zutage treten kann. In seinen Fallbeispielen beschreibt er unter anderem einen Paarkonflikt, der sowohl in verschiedenen Stammestraditionen, wie auch in der gleichzeitigen Existenz in der Vormoderne und der Moderne seine Ursachen hatte.52 Weiterhin schildert er die Zerrissenheit einer jungen Frau, deren Vater aus Nigeria stammte, während die Mutter Engländerin war,53 und wirft die Frage auf, wie sich eine Seelsorgebeziehung ändert, wenn nicht der Ratsuchende, sondern der Seelsorger Ausländer ist. Um diesen vielfältigen Erscheinungsformen von 51
Lartey: In Living Color. 13: “The term intercultural, in preference to cross-cultural or transcultural, is used to attempt to capture the complex nature of interaction between people who have been influenced by different cultures, social contexts and origins, and who themselves are often enigmatic composites of various strands of ethnicity, race, geography, culture and socio-economic setting.” 52 Lartey: In Living Color. 153–159. 53 Lartey: In Living Color. 159–162.
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Differenz gerecht zu werden, fordert Lartey eine Seelsorge, die Differenz nicht allein in Kategorien fremd versus einheimisch einordnet, sondern die Verschiedenheit in ihrer ganzen Vielfältigkeit, Individualität und Komplexität wahrnimmt und anerkennt. Er entwickelt einen ethnologischen Kulturbegriff: By culture I shall be referring to the way in which groups of people develop distinct patterns of life and give „expressive form“ to their social and material life experience.54
Er bezieht sich dabei auf Stuart Hall55 und die von ihm mitbegründeten Postcolonial Studies, die von fließenden kulturellen Grenzen und der Entwicklung von Mischkulturen und -identitäten ausgehen. Wie ich schon oben anführte, weist Lartey ausdrücklich darauf hin, daß die postmoderne Realität gerade für die sogenannte Dritte Welt auch die Chance der Befreiung von vorgefertigten Bildern und Normen der weißen Kolonialherren bietet. Die Postmoderne kritisiert die zentralisierte Definitionsmacht und stimmt damit in vielem mit dem Postkolonialismus überein.56 Für die Praxis der Seelsorge und Beratung sieht Lartey das Ideal in einer Verbindung von Elementen der westlichen Seelsorgepraxis mit den Anforderungen der Befreiungstheologie, so daß z.B. die konkrete Situation Ausgangspunkt aller Überlegungen sein muß und daß weiterhin die gesellschaftliche Analyse 54
Lartey: In Living Color. 31. Vgl. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften Bd. 2 (AS 226). Hamburg 1994. Ders.: Cultural Studies: Kritische Kulturwissenschaften. Ausgewählte Schriften Bd. 3 (AS 260). Hamburg 2000. 56 Einen Versuch, Postcolonial Studies zu beschreiben, unternimmt Heike Walz: „Die Dritte-Welt-Frau“? Geschlechterdifferenz im Scheinwerfer der Kritik postkolonialer Denkerinnen. In: Dies./Christine Lienemann-Perrin/Doris Strahm (Hg.): „Als hätten sie uns neu erfunden“. Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht. Luzern 2003, 41–54, 42: „Postkoloniales Denken ist im hohen Maße eklektisch und insofern ähnlich schwer zu definieren wie beispielsweise die Postmoderne. Oft bezieht sich Postkolonialismus zugleich auf Kolonialismus und Imperialismus, obwohl beides unterschiedliche historische Phänomene sind [. . .] Die sogenannten postcolonial studies fördern die literarische Entkolonialisierung mit Methoden des ‚rereading‘ und ‚rewriting‘. Anstöße dazu kamen vom französischen Poststrukturalismus. Es bestehen weiterhin Affinitäten zu postmodernem und dekonstruktivistischem Denken.“ Vgl. auch Ato Quayson: Art.: Postcolonialism. In: Edward Craig (Hg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy. London/New York 1998, 578–583. Das Anliegen der Postcolonial Studies deckt sich in vielem mit meinem Vorhaben, so daß immer wieder Querverbindungen auftreten. Dies war schon beim Begriff Hybridität, in Anmerkung 23 in diesem Kapitel der Fall. Auch Maya Nadig in Kapitel III bezieht sich bei ihrem Verständnis von Identitätsentwicklung auf Theorien der Postcolonial Studies. In Kapitel IV kann in der Diskursanalyse der Theorierahmen des Postcolonialism zum Verständnis von Subjektivität bei Migrantinnen und Migranten und anderen „Wanderern zwischen den Welten“ im Fallbeispiel beitragen. 55
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nicht übergangen werden darf und mit kritisch hermeneutischen Überlegungen verbunden werden muß. Auch Uta Pohl-Patalong sieht die Realität der Postmoderne als eine besondere Herausforderung, aber auch als Chance für die Seelsorge in der Gegenwart an. Sie fordert eine Neukonzeption der Seelsorgelehre, die den Anderen in seiner Andersheit anerkennt, sich nicht an seinen Defiziten, sondern vermehrt an seinen Möglichkeiten orientiert und eine kritische Analyse der Herrschafts- und Machtstrukturen einschließt.57 Dies bedeutet für PohlPatalong auch die Kritik an einer an „Normalisierung“ und „Vereinheitlichung“ orientierten Seelsorge. Sie sieht vor allem im Bereich der Identitäts- und Subjektivitätstheorien die Notwendigkeit von Veränderungen angesichts der Postmoderne. Sie plädiert für ein multiple Identität in einer pluralen Gesellschaft bzw. für eine Patchwork-Identität, die nicht dem Ideal von Ganzheitlichkeit folgt, sondern eine Verknüpfung von Teilidentitäten darstellt. Als Übergang zwischen individueller und gesellschaftlicher Seelsorge sieht Pohl-Patalong die Frage nach der Subjektwerdung, d.h. die Frage nach der Eigenständigkeit im Denken, Urteilen und Handeln. Das Zusammenspiel von Identität, Subjektwerdung und Seelsorge reflektiert sie folgendermaßen: Die Entwicklung einer gelungen „Patchwork-Identität“ bietet bereits, wie gezeigt, eine Chance zum Widerstand gegen Institutionalisierung und Standardisierung, da das Individuum ihren Einflüssen nur mit Teilidentitäten unterliegt und nicht in ihnen aufgeht. [. . .] Seelsorge kommt in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, die diesbezüglichen Gefahren zu reflektieren und die Chancen aufzuzeigen. Das Modell der multiplen Identität bietet die Chance, weder die Erfüllung gesellschaftlicher Forderungen und Muster – unrealistischerweise – ablehnen zu müssen noch ihrer unhinterfragten Übernahme das Wort zu reden. Seelsorge kann bei der Sondierung der institutionellen Vorgaben und gesellschaftlichen Zwänge helfen und die Fähigkeit zur Differenzierung stärken. Auf diese Weise kann das Individuum zwischen „objektiven“ strukturellen Zwängen und Grenzen sowie „subjektiven“, selbst gesetzten oder aus seiner eigenen Lebensgeschichte stammenden, unterscheiden lernen. Letztere können dann entweder bewußt akzeptiert oder aber therapeutisch aufgearbeitet werden, wo sie Entfaltungschancen blockieren. Ihre eventuellen Wurzeln in der Angst vor Überforderung, Unsicherheit oder auch dem Unvermögen, mit widersprüchlichen Anforderun57 Uta Pohl-Patalong: Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft. Elemente zu einer Neukonzeption der Seelsorgelehre. PTHe Bd. 27, Stuttgart 1996. Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem schillernden Begriff der Postmoderne und seinen Bedeutungen für die Theologie vgl. Kapitel 3: Individuum und Gesellschaft in der Gegenwart – Soziologische Analyse, philosophische Deutung und neue Konzeptionen. 55–157.
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gen und paradoxen Lebenssituationen umzugehen, können auf diese Weise erkannt werden.58
Sowohl mit Pohl-Patalongs Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch mit ihrer Forderung nach einer Neukonzeptionalisierung stimme ich weitgehend überein. Was mich hingegen verwundert – gerade im Hinblick darauf, daß sie die Rationalität früherer Seelsorgekonzepte59 kritisiert – ist die Betonung von vernünftigen Entscheidungen und die Polarisierung zwischen objektiv-strukturellen und subjektiv-selbstgesetzten Einschränkungen. Beides, daß die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Komponenten deutlich ist und daß sogenannte subjektive Komponenten erkannt und gegebenenfalls gebannt werden können, zeigt ein übergroßes Vertrauen in die Macht der Vernunft. Dagegen weisen Dekonstruktivistinnen darauf hin, daß selbst Gefühle „vergesellschaftet“ sind und nur bedingt subjektiven Entscheidungen unterliegen.60 Eindrücklich ist die Sprachästhetik von Uta Pohl-Patalong. Diese steht im Widerspruch zu ihrem Anliegen, daß Seelsorge nicht normalisieren, sondern der Subjektwerdung und den ganz eigenen, andersartigen und fragmentarischen Lösungen zu ihrem Recht verhelfen soll – auch durch die Narrativität, d.h. durch das Erzählen von (Lebens)Geschichten. Pohl-Patalongs Sprache ist über weite Strecken wie in dem vorgestellten Zitat abstrakt, universalisierend und unpersönlich. Die Subjektfunktion wird kaum von Personen übernommen, sondern meist von Konzepten wie z.B. „dem Modell der multiplen Identität“. Konsequent fehlen Fallbeispiele, selbst solche aus der Literatur. Wo bleiben die Pluralität und die Fragmentarität? Wo bleiben Brüche und Verwerfungen und die Vielfarbigkeit, die wesentliche Bestandteile der Postmoderne sind? 58
Pohl-Patalong: Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft. 261. Erstaunlicherweise lastet Pohl-Patalong die Betonung der Rationalität vor allem dem Einfluß der Psychoanalyse an – weil diese „die individuelle Problematik des Unbewußten mittels rationaler Deutung bewußt zu machen und dadurch aufzuheben suchte oder [. . .] sprachlich erarbeitete Lösungsmöglichkeiten [. . .] anbot“. Pohl-Patalong: Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft. 178. Diese Vorstellung von Psychoanalyse hat wenig mit psychoanalytischer Theorie und Praxis zu tun. Weder gilt dort das Unbewußte an sich als problematisch (vgl. z.B. Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1972, 24f), noch sind Deutungen ein Appell an die Rationalität (vgl. z.B. Charles Brenner: Praxis der Psychoanalyse. Psychischer Konflikt und Behandlungstechnik. Frankfurt/M. 1982, 56–60), noch ist Sprache ausschließlich ein Arbeitsmittel der Vernunft (vgl. als Gegenbeispiele: Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1972, 121–139). 60 Vgl. oben Rommelspacher: West-Emanze und Ost-Mutti. 59
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Auch Isolde Karle arbeitet an einer Neukonzeption der Seelsorgetheorie und -praxis unter den Bedingungen der Postmoderne.61 Ihre Kritik gilt vor allem dem psychoanalytischen Paradigma am Beispiel der Seelsorgelehre von Joachim Scharfenberg. Sie geht davon aus, daß die Systemtheorie Niklas Luhmanns die moderne Wirklichkeit weitaus „einfacher“ und „ohne Konstruktion zusätzlicher Weltvorkommnisse“62 wie der Voraussetzung des Unbewußten erfassen kann. Für die Seelsorgepraxis sieht sie den Begriff Lebensbegleitung für sinnvoller an als eine Annäherung an therapeutische Ideale. Dennoch übernimmt sie Vorstellungen aus der systemischen Therapie wie z.B. daß störenden Interventionen von außen nötig sind, die die Systeme der Gemeindeglieder hilfreich infragestellen. Diese zählen zu den massiven therapeutischen Eingriffen. Die Seelsorge kann von der systemischen Therapie lernen, sich in ihrer Praxis nicht auf das empathische und verständnisvolle Zuhören zu beschränken, sondern gegebenenfalls gezielt zu intervenieren und religiöse Deutungsangebote zu machen, die das Selbstverständliche in Frage stellen, neue Wahrnehmungsformen und Sinnhorizonte eröffnen und ungewohnte Perspektiven der eigenen Welt und des eigenen Lebens vermitteln.63
Welche Rolle die Seelsorgerin oder der Seelsorger dabei übernimmt und wie die Entscheidungen zur störenden Intervention auch (selbst-)kritisch begleitet werden könnten, wird bei Karle nicht reflektiert. Vielmehr sieht sie in der systemischen Theorie, der biblischen Tradition und in Takt, Güte und sozialer Geschicklichkeit eine ausreichende Grundlage für die Praxis der Seelsorge: Seelsorge ist keine Therapie. Das gilt auch für die Gesprächsführungsregeln. Es ist für eine kompetente seelsorgliche Gesprächsführung nicht erforderlich, eine pastoralpsychologische Zusatzausbildung zu absolvieren. Es genügt und ist anspruchsvoll genug, die grundlegenden Mechanismen der Kommunikation unter Anwesenden, der Höflichkeit und des Taktes zu kennen und zu beherrschen, die eigene Wahrnehmung zu 61
Vgl. Isolde Karle: Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre. Neukirchen-Vluyn 1996, bes. Kapitel III.1: Epistemologische Kritik: Kausalität und Unbewußtheit in der psychoanalytischen Denktradition, 129–136. 62 Hier wie auch in ihrer weiteren Psychoanalysekritik zitiert Karle ausschließlich Peter Fuchs: Blindheit und Sicht. Überlegungen zu einer Schemarevision. In: Ders./Niklas Luhmann: Reden und Schweigen. Frankfurt/M. 1992, 178–208, hier: 205. 63 Isolde Karle: Was ist Seelsorge? In: Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky (Hg.): Seelsorge im Plural. Perspektiven für ein neues Jahrhundert. Hamburg 1999, 36–51, 45.
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schulen und zu differenzieren und sich sensibel und mit sozialer Geschicklichkeit auf dem riskanten Terrain der Kommunikation zu bewegen.64
Die Frage bleibt, warum Isolde Karle die psychoanalytische Seelsorgelehre und die Möglichkeit zu pastoralpsychologischen Zusatzausbildungen mit solch einer Vehemenz abqualifiziert – zumal viele ihrer Aussagen über die Psychoanalyse nicht haltbar sind.65 Doch auch im Blick auf ihren Theorieansatz verwundert es, daß Karle die Lösung darin sieht, das psychoanalytischtherapeutische Paradigma der neuen Seelsorgebewegung durch die systemische Theorie Niklas Luhmanns zu ersetzen. Zum einen hatte die Seelsorgebewegung nie ein einheitliches Paradigma, sondern bestand schon immer aus heterogenen Gruppen mit recht unterschiedlichen Ansätzen, wobei die psychoanalytische eine unter mehreren ist. Zum anderen geht die systemische Theorie als postmoderne Theorie davon aus, daß es verschiedene Systeme mit verschiedenen epistemologischen Grundannahmen gibt, die nebeneinander existieren. Dies gilt sowohl für Sozialsysteme und Diskurssysteme wie auch für verschiedene Wahrnehmungsperspektiven und Versuche der Abstraktion in Form von Theorien. Ein Monopol auf die eigene Perspektive der Wahrnehmung und Theorieverarbeitung zur Erfassung von gegenwärtiger Realität kann weder die Luhmannsche Systemtheorie noch die Psychoanalyse beanspruchen. Wenn Karle davon ausgeht, daß die Erkenntnisse der Psychoanalyse für eine Erfassung der postmodernen Wirklichkeit irrelevant sind, so beachtet sie weiterhin nicht, daß auch von ihr zitierte Systemtheoretiker wie z.B. Helm Stierlin ausgebildete Psychoanalytiker sind. Auch Christoph Morgenthaler verbindet in seinem Ansatz der systemischen Seelsorge66 Impulse der Fami64
Karle: Was ist Seelsorge? 49. Karle geht zum Beispiel davon aus, daß die Rolle des Beobachters in der Psychoanalyse nicht reflektiert würde und damit ignoriert würde, daß Aussagen über das Wahrgenommene immer auch Aussagen über die Beobachterin oder den Beobachter darstellen (vgl. Karle: Seelsorge in der Moderne. 128f). Dieses Phänomen wird in der Psychoanalyse ausführlich unter dem Begriff der Gegenübertragungsanalyse reflektiert. Weiterhin kritisiert Karle – wieder mit enger Bezugnahme auf Fuchs –, daß in der Psychoanalyse eine zirkuläre Argumentationsweise verhindert, daß Deutungen zurückgewiesen würden (Karle: Seelsorge in der Moderne. 131f). Dazu läßt sich auf der therapeutisch-praktischen Ebene sagen, daß Deutungen sehr wohl validierbar und damit auch falsifizierbar sind (vgl. Brenner: Praxis der Psychoanalyse. Kapitel 2. Mutmaßung und Deutung. 42–64, bes. 58f). Zu Karles Kritik der psychoanalytischen Theoriebildung, wie sie sie von Fuchs übernommen hat, ließe sich noch einiges kritisch anmerken, was hier unterbleiben muß, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen. 66 Christoph Morgenthaler: Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtheorie für eine kirchliche Praxis. Stuttgart 1999. 65
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lien- und Systemtheorie mit einer psychoanalytischen Wahrnehmungsperspektive und zeigt, wie fruchtbar und konstruktiv sich diese Ansätze ergänzen können. Ich sehe das Anliegen meiner Arbeit darin, verschiedene Ansätze in der Seelsorge nicht gegeneinander auszuspielen, sondern ihren jeweiligen Beitrag zu einer Theorie und Praxis der Seelsorge zu nutzen und zu würdigen. Die Paradigmen der neueren Seelsorgebewegung müssen jedoch in einer zunehmend postmodernen Realität durch Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Umgang mit Pluralität, Individualität und Differenz ergänzt werden. Dabei können sowohl systemtheoretische Überlegungen als auch professionstheoretische Reflexionsansätze durchaus eine Rolle spielen.67 Im Zentrum der Seelsorgeansätze wird neben der postmodernen Wirklichkeit und ihren Auswirkungen jedoch immer auch die Person der Seelsorgerin und des Seelsorgers stehen, ihre Wahrnehmung und ihr reflektierter Umgang mit der Situation und ihren blinden Flecken. Zu den blinden Flecken in der Theorie und Praxis der Seelsorge im Hinblick auf die Selbstverständlichkeit eines männlichen Blickwinkels nimmt im deutschsprachigen Raum seit mehreren Jahren vor allem die Dresdener Professorin Ursula Pfäfflin Stellung. Ansonsten kommen selbst in neuesten Lehrbüchern zur Seelsorge – wie in Klaus Winklers Seelsorgelehrbuch68 – feministische Fragestellungen nur in Fußnoten, bei Winkler in einem Verweis auf Ursula Pfäfflins Kritik anthropologischer Konzepte in verschiedenen Seelsorgetheorien,69 zur Sprache. Zusammen mit Julia Strecker veröffentliche Ursula Riedel-Pfäfflin 1998 ein Buch zum Thema feministischer Seelsorge und Beratung.70 Hierbei wird m.E. deutlich, daß die Anliegen der feministischen Seelsorge vor allem in einer besonderen Aufmerksamkeit, einer besonderen Wahrnehmungsperspektive liegen sollten und weniger in bestimmten Methoden. Felder, in denen Frauen schon durch die gesellschaftlichen Strukturen immer wieder Konflikten ausgesetzt sind, müssen besondere Aufmerksamkeit genießen: Weil meistens Frauen Kinder betreuen, sind sie von der Vereinbarkeit von Berufund Familienarbeit besonders betroffen, ebenso wie sie öfter in ihrer körperlichen Integrität bedroht, in gesellschaftlichen Machstrukturen benachteiligt und in symbolischen Repräsentanzen vernachlässigt werden. Diese Wahr67
Vgl. Isolde Karle: Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft. Gütersloh 2001. 68 Vgl. Klaus Winkler: Seelsorge. Berlin/New York 1997. 69 Ursula Pfäfflin: Frau und Mann. Ein symbolkritischer Vergleich anthropologischer Konzepte in Seelsorge und Beratung. Gütersloh 1992. 70 Ursula Riedel-Pfäfflin/Julia Strecker: Feministische Seelsorge und Beratung. Konzeption – Methoden – Biographien. Gütersloh (1998) 2 1999.
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nehmungsperspektiven werden in den immer noch meist von Männern verfaßten Seelsorgekonzeptionen und auch in den von Männern konzipierten Seelsorgeausbildungen vernachlässigt. Andererseits werden insbesondere in den Zeiten der Postmoderne die Lebenswelten von Frauen immer vielfältiger, so daß gerade zwischen Frauen das Thema Fremdheit und Differenz an Virulenz gewinnt und in die Reflexion einbezogen werden muß. Zudem können auch ein feministischer Neuentwurf der Theorie und eine konsequente Neukonzeption der Praxis die bisherigen Erfahrungen und weiteren Entwicklungen in Seelsorge und Beratung nicht ignorieren. Ein Buch über „feministische Seelsorge“ zu schreiben, birgt die Schwierigkeit, daß Frauen keine einheitliche Gruppe bilden und daß es keine einheitliche feministische Theorie mehr gibt – es gab sie wohl nie. Die Landschaft der feministischen Theorien hat sich inzwischen in viele Richtungen ausdifferenziert, bis dahin, daß manche Theoretiker und auch Theoretikerinnen die Anliegen des Feminismus durch die Theorien der Postmoderne für erledigt halten. Weiterhin ist „feministische Seelsorge“ keine besondere Methode, sondern ein Anliegen, das seine Methoden aus der Vielzahl existierender Methoden verantwortlich auswählen muß. Für feministische Seelsorge gilt damit das gleiche wie nach Renate Höfer für die feministische Therapie: Feministische Therapie ist keine Therapiemethode im üblichen Sinne (wie Psychoanalyse, Gestalt-, Verhaltenstherapie usw.) sondern die Kombination einer Therapieform mit feministischen Zielsetzungen. Diesen feministischen Ansprüchen müssen die Strukturen der gewählten Therapieform entgegenkommen um optimales Zusammenwirken von Therapiearbeit und feministischer Orientierung zu ermöglichen.71
Die Schwierigkeiten und Aporien, in die Riedel-Pfäfflins und Streckers Ansatz zur feministischen Seelsorge und Beratung gerät, lassen sich darin zusammenfassen, daß die Autorinnen in ihrem Buch die Ebene der miteinander konkurrierenden feministischen Wahrnehmungsperspektiven weitgehend verlassen haben und statt dessen aufgrund einer „vereinheitlichten“ feministischen Sicht versuchen, Antworten zu geben, obwohl gerade im Bereich von Geschlechterdifferenz und Feminismus die Fragen immer vielfältiger und komplexer werden. Einen anderen Weg, mit den Anliegen des Feminismus und der Geschlechterdifferenz umzugehen, wählt die niederländische Professorin für Prakti71
Renate Höfer: Feministische Therapie. In: Theodor Seifert/Angela Waiblinger (Hg.): Therapie und Selbsterfahrung. Einblick in die wichtigsten Methoden. Stuttgart 1986, 107– 114, 107.
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sche Theologie und Frauenstudien an der Universität Groningen, Riet BonsStorm. In ihrem Buch The Incredible Woman. Listening to Women’s Silences in Pastoral Care and Counseling72 macht sie das Schweigen von Frauen und die strukturelle Ausgeschlossenheit von Frauen und ihren Erfahrungen in der Seelsorge zum Thema. Sie orientiert sich an Interviews von Frauen, die von ihren Erfahrungen mit Seelsorge berichten. Diese liest sie auf dem Theoriehintergrund der Wissenschaftstheoretikerinnen Sandra Harding und Rosi Braidotti zur Ausgrenzung von Frauen in Sprache und Gesellschaft. Sie zeigt auf, daß auch in biblischen Zeugnissen und psychologischen Entwicklungstheorien – ebenso wie in der Seelsorge – Frauen immer wieder als unglaubwürdig wahrgenommen und dargestellt werden. Bons-Storm stellt deswegen die Frage, welche Grundannahmen verändert werden müssen, damit Frauenerfahrungen adäquat wahrgenommen, als glaubwürdig verstanden und anerkannt werden können. Sie greift damit auch Luce Irigarays Analyse auf, daß die westliche Welt nach einem „mono-tonen“ Schema aufgebaut sei, gemäß dem Erfahrungen von Frauen nicht nur entwertet, sondern als nicht existent betrachtet werden.73 Erneut taucht die Frage nach der adäquaten Wahrnehmung von Differenz, in diesem Fall von Geschlechterdifferenz, auf. Die Ausführungen von Bons-Storm können von daher als exemplarischer Aufriß der Fragestellung betrachtet werden, mit der ich mich in den nun folgenden Kapiteln meiner Arbeit befassen will. Der Leitgedanke meiner Ausführungen ist, daß die Wahrnehmung von Differenz, wie ich sie in den Theorien zur Geschlechter- und Kulturdifferenz herausarbeiten werde, einen wesentlichen Beitrag zur Erfassung von Seelsorgesituationen und den dort ablaufenden Prozessen leisten kann. Ich werde zeigen, daß die Kategorie der Differenz nicht nur Entlastung bringen und ein erweitertes Verständnis eröffnen kann, sondern daß die Wahrnehmung von Differenz ein notwendiges Element ist, ohne das weder Anerkennung noch Beziehung in Seelsorge und Beratung möglich ist. Wie schon in meinen bisherigen Ausführungen deutlich wurde, bearbeite ich das Thema der Wahrnehmung von Differenz auf zwei verschiedenen Ebenen. Zum einen sehe ich im Thema der Differenz bzw. in den philosophischen und epistemologischen Ansätzen zur Wahrnehmung von Differenz einen wichtigen Beitrag zur Grundlegung einer gegenwärtigen Seelsorgetheorie. Zum anderen kann das Thema der Wahrnehmung von Differenz den Horizont des Erfassens von konkreten Seelsorgesituationen erweitern. 72 Riet Bons-Storm: The Incredible Woman. Listening to Women’s Silences in Pastoral Care and Counseling. Nashville 1996. 73 Vgl. Bons-Storm: Listening, 110f.
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Die der Einleitung folgenden Kapitel sind den beiden schon beschriebenen Theorien zur Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz gewidmet: Im zweiten Kapitel gehe ich auf die Wahrnehmungsperspektive von Luce Irigaray vor dem Hintergrund der Lacanschen Psychoanalyse sowie ihre Vorgehensweise zur Dekonstruktion der sprachlichen Realität ein. Die relativ umfassende Darstellung hat ihren Grund darin, daß Luce Irigaray in der deutschen Theologie – anders als in den Niederlanden, in Italien oder Frankreich – relativ unbekannt ist bzw. nur sehr einseitig und zum Teil abschätzig rezipiert wurde. Im dritten Kapitel erläutere ich Georges Devereux’ ethnologische Forschungen und ihre epistemologischen Konsequenzen. Wie bei Irigaray beziehe ich mich damit auf eine recht frühe Theorie, sozusagen die Ur-Idee, die in der Ethnopsychoanalyse große Verbreitung gefunden hat und später weiter ausgearbeitet wurde. Bei Devereux ist ihre Entstehung am besten zu beobachten und nachzuvollziehen. Maya Nadigs Weiterentwicklung der Ethnopsychoanalyse sucht zudem die Orte der Subjektwerdung von Frauen auf. Im vierten Kapitel zeige ich, inwiefern diese Theorien einen Beitrag zur Wahrnehmung von Differenz in der Praxis von Seelsorge und Beratung leisten können. Dazu sind zunächst Überlegungen zu einer methodischen Umsetzung nötig. Es folgt die Analyse einer Paarberatung, deren Verlauf in Form von Gedächtnisprotokollen vorgestellt wird. Hierbei soll deutlich werden, daß jede der beiden vorgestellten Perspektiven einen unterschiedlichen Wahrnehmungshorizont eröffnet. Die Ergebnisse lassen sich weder einfach als Ergänzung verstehen, noch stellt die eine Wahrnehmung die andere in Frage. Beide Wahrnehmungsperspektiven bewegen sich vielmehr in unterschiedlichen Räumen und machen die Komplexität der Wirklichkeit deutlich. Das fünfte Kapitel besteht weitgehend aus einem fiktiven Gespräch mit Klaus Winkler, der Psychoanalytiker in Hannover und bis 1997 Professor für Praktische Theologie in Bethel/Bielefeld war. Es soll zum einen zeigen, warum eine erweiterte Wahrnehmungsperspektive für die Seelsorge nötig ist, zum anderen deutlich machen, welche theologischen Implikationen diese für die Seelsorge hat. Die verschiedenen Kapitel unterscheiden sich stark in ihren Themen und in ihrer Form. Während das zweite und dritte eher klassisch darstellenden Charakter haben und ein Stück Wissenschaftsgeschichte skizzieren, umfaßt das vierte methodologische Überlegungen und die konkrete Analyse eines Fallbeispiels. Für das fünfte Kapitel wähle ich mit einem fiktiven Dialog eine eher ungewöhnliche Form für eine wissenschaftliche Arbeit, die je39
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doch meinem Anliegen und dem Inhalt der Ausführungen entspricht. Mit der Unterschiedlichkeit der Darstellungsformen will ich auf der sprachlichästhetischen Ebene meine These unterstreichen, daß nur vielfältige Wahrnehmungs- und Verstehensmodi der pluralistischen Realität unserer Zeit gerecht werden können.
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II. Luce Irigaray: Die Dekonstruktion der Einheit Fine, I don’t want to be in your economy anyway, and I show you what this unintelligible receptacle can do to your system; I will not be a poor copy in your system, but I will resemble you nevertheless by miming the textual passages through which you construct your system and showing that what cannot enter it is always inside it (as its necessary outside), and I will mime and repeat the gestures of your operation until this emergence of the outside within the system calls into question its systematic closure and its pretension to be self-grounding. (Judith Butler)1
1. Vorbemerkungen Damit der Beitrag von Luce Irigaray zu einer Theorie der Wahrnehmung von Differenz in seinem Kontext und seiner Bedeutung gewürdigt werden kann, stelle ich einige einführende Bemerkungen zu ihrer Wirkungsgeschichte und zu ihrer Biographie voraus. Zudem schließt diese Verortung von Irigarays Thesen in ihrem Kontext manches Mißverständnis beim Verständnis ihrer Theorie schon von vornherein aus. 1.1 Zur Bedeutung von Irigaray: Beispiele ihrer Wirkungsgeschichte Da Luce Irigaray und ihr Buch Speculum im universitären Kontext der protestantischen Theologie kaum bekannt ist, will ich die 30jährige Wirkungsgeschichte ihrer Ideen und Schriften, die extrem vielfältig und verzweigt ist, anhand von einigen Beispielen skizzieren. 1976 erschien in der Zeitschrift alternative eine Ausgabe zum Thema Frauenbewegung – Sprache – Psychoanalyse unter dem Titel Das Lächeln 1
Judith Butler: Bodies That Matter. In: Carolyn Burke/Naomi Schor/Margaret Whitford (Hg.): Engaging with Irigaray. Feminist Philosophy and Modern European Thought. New York 1994, 141–173, 157. In diesem Zitat legt Judith Butler Luce Irigaray eine englische Zusammenfassung ihrer, d.h. Irigarays Theorie in den Mund.
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der Medusa.2 Ausgehend von einem Treffen schreibender Frauen, zu dem der Verlag Frauenoffensive nach München eingeladen hatte, trafen sich 120 Frauen im Mai 1976, um an einer Programmatik feministischen Schreibens zu arbeiten. In den Auseinandersetzungen ging es um die Kriterien und Ziele feministischen Schreibens jenseits von ungefilterter Subjektivität und naivem Erfahrungspositivismus. In der Veröffentlichung zum Thema wurden Beiträge der französischen Frauenbewegung als kritische Gegenpositionen aufgenommen. Im Vorwort zu diesem Heft beschreiben Johanna Wördemann und Hildegard Brenner die Bedeutung des französischen Ansatzes: Anders als die Frauenbewegung in den USA – und an ihr hat sich die Neue Frauenbewegung in der BRD bisher orientiert – stellt sich für die französischen Frauen das Problem der femininen Schreibweise in Auseinandersetzung mit dem herrschenden Symbolsystem, als auf der Ebene der gesellschaftskonstituierenden GESETZE des Denkens und Sprechens. Dabei können sie auf kulturanthropologische, wissensgeschichtliche und symboltheoretische Traditionen (Lévi-Strauss, Foucault, Derrida u.a.) zurückgreifen, die sich in der politischen Praxis des Mai ’68 niederschlugen und radikalisierten. Die Auseinandersetzungen, stark von Vincennes (Groupe de Recherche Études Féminines) getragen, gehen um die Festschreibung der „Rolle der Frau“ in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, so durch ihre bürgerlichen Wissenschaftsvertreter (Freud, Lacan), um die Inanspruchnahme und Durchsetzung eigener Artikulations- und Handlungsräume innerhalb und außerhalb von Institutionen, der Staatsapparate Ausbildung und Wissenschaft. Die Wendung gegen das herrschende Symbolsystem, seine Denunziation als „phallokratisch“ bewahrt die Französinnen vor dem Positivismus, wie er der amerikanischen Frauenbewegung anhaftet (auch vor dem Mißverständnis der Verwechslung von Penis und Phallus), andererseits entgeht ihre Besinnung auf das gesellschaftliche Unbewußte nicht den Gefahren einer anthropologischen Lesart des Spezifischen der Frau.3
Die deutsche Rezeption der Französinnen, unter ihnen auch Irigaray,4 erfolgte im Kreis von Journalistinnen, Lektorinnen, Schriftstellerinnen und Filmemacherinnen sowie anderer Frauen, die neben ihrem Beruf schrieben oder schreiben wollten. Das Treffen und die Diskussion fanden nicht im universitären Raum statt. Es trafen sich vielmehr davon unabhängig vernetzte Frau2 Das Lächeln der Medusa. Frauenbewegung – Sprache – Psychoanalyse. alternative 19/1976. 3 Johanna Wördemann/Hildegard Brenner: Zu diesem Heft. alternative 19/1976, 114. 4 Vgl. Luce Irigaray: Neuer Körper, neue Imagination. Interview mit Martine Storti. alternative 19/1976, 123–126.
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en, die nach einer neuen Struktur von Sprache suchten, die ihre geschlechtsspezifischen Erfahrungen widerspiegeln könnte.5 Kristallisationspunkt der Diskussion waren die ein Jahr vorher unter dem Titel Häutungen veröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen von Verena Stefan.6 Im obigen Zitat wird deutlich, daß die Französinnen für die Radikalität in ihrer Kritik an der phallokratischen Sprache und für die Suche nach einer Symbolisierung weiblicher Erfahrung geschätzt wurden. Andererseits standen schon hier die Französinnen unter Verdacht, daß sie das Spezifische der Frau festschreiben wollten, weil z.B. Irigaray immer wieder den Körper und die Sexualität zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machte. In Italien waren die Theorien von Irigaray und anderen Französinnen in den Frauengruppen schon früh präsent. Frauenzeitungen und Frauenselbsterfahrungsgruppen, die in Italien seit Mitte der 60er Jahre aktiv waren, hatten die Erfahrung gemacht, daß die wahllose Veröffentlichung von weiblichen Erfahrungs- und Leidensberichten und das Eintauchen in die pure, kritiklose Subjektivität die Opferrolle der Frauen nicht veränderten. Es fehlte eine kritische Struktur der Auseinandersetzung und eine Vision, auf die sich die Diskussion beziehen konnte. Die Italienerinnen suchten Anregung und Hilfe bei der 1968 in Paris entstandenen Gruppe Psychanalyse et politique7 , zu deren weiterem Kreis auch Irigaray gehörte. In dem Erfahrungsbericht des Mailänder Frauenbuchladens Libreria delle donne di Milano mit dem Titel Wie weibliche Freiheit entsteht. Eine neue politische Praxis8 berichten die Italienerinnen, wie sie mit Hilfe der „Praxis des Unbewußten“ die Notwendigkeit gesellschaftlicher Frauenzusammenhänge erkannten. Wesentlichen Anteil an der italienischen Bewegung hatte die Philosophin Luisa Muraro, die schon 1976 Irigarays Buch Speculum ins Italienische übersetzte.9 Für die Italienerinnen, besonders für die Philosophinnengruppe DIOTIMA, war der beständige Austausch mit Irigaray von immenser Bedeutung.10 Auch 5
Vgl. Johanna Wördemann: Schreiben um zu überleben oder Schreiben als Arbeit. alternative 19/1976, 115–118. 6 Verena Stefan: Häutungen. München 1975. 7 Später nannte sich die Gruppe um in „Politique et psychanalyse“. 8 Libreria delle donne di Milano: Wie weibliche Freiheit entsteht. Eine neue politische Praxis. Berlin (1988) 3 1991. Das italienische Original erschien unter dem Titel: Non credere di avere die diritti. Turin 1987. 9 Die deutsche Übersetzung von Speculum wurde erst vier Jahre später, 1980, veröffentlicht. 10 Vgl. Chiara Zamboni/Luisa Muraro: Kurze Chronik der Gruppe DIOTIMA. In: DIOTIMA: Philosophinnengruppe aus Verona: Der Mensch ist zwei. Das Denken der Geschlechterdifferenz. Reihe Frauenforschung Bd. 11. Wien 1993, 195–206, 205: „Zu den bevorzugten Kontakten müssen wir auch den mit Luce Irigaray zählen, deren Werk für uns einen ständigen Bezugspunkt darstellt und ein bereits erreichtes Gelände für die Begegnung
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für die Italienerinnen stand die Arbeit am Symbolischen und an einer kritischen Reflexion der Möglichkeiten und Einschränkungen, die Sprache Frauen auferlegt, im Vordergrund. Stärker als in Deutschland und auch als bei Irigaray selbst war bei den Italienerinnen das Interesse an einer neuen politischen Praxis. Aus der Reflexion der Geschlechterdifferenz in Beziehung zur ihrer Lebenspraxis leiteten sie die Notwendigkeit ab, daß Frauenerfahrung persönlich vermittelt werden muß. Mit der Praxis des „affidamento“, d.h. indem Frauen untereinander Beziehungen gegenseitiger Hilfeleistung entwickeln, soll eine neue symbolische Ordnung installiert werden, in der Frauen, ihre Macht, ihre Autorität und ihre Beziehungen sichtbar werden und in der sie Gewicht erhalten.11 Weiterhin betonen Luisa Muraro und die Gruppe DIOTIMA, daß eine neue symbolische Ordnung nur entstehen kann, wenn die erste Beziehung, die Beziehung zur Mutter, geschätzt und positiv besetzt werden kann. Die symbolische Ordnung der Mutter anzuerkennen, bedeutet, daß jede Frau sich dieser ersten, auch körperlichen Beziehung zur Mutter verdankt.12 Diese Dankbarkeit schafft eine neue tragfähige Beziehung und damit neues positives Verständnis des Lebens. Und diese neue Beziehungsform ist nach Muraro keine private Errungenschaft, sondern eine eminent wichtige symbolische und politische Grundlage, die es nicht nur privat zu leben, sondern auch öffentlich zu lehren gilt.13 Ausgangspunkt aller Überlegungen der Italienerinnen ist der Begriff der Differenz, den sie als revolutionäres Instrument benutzen, um den Status der Frau als das andere Geschlecht, das als komplementäre Ergänzung zum männlichen Geschlecht verstanden wird, zu zerstören. Die Differenz ist der Hinweis auf das radikal Andere, jenseits des patriarchalen Denkens. Hier wird deutlich, daß sich aus und neben einer Basisbewegung von Frauengruppen eine akademische Diskussion entwickelt hatte, die auch internationale Wirkung entfaltete. In Deutschland fanden die Italienerinnen einen Ort der Diskussion in der Frankfurter Frauenschule und deren Veröffentliund den Gedankenaustausch mit anderen Frauen.“ Auf der anderen Seite war auch für Irigaray der italienische Kontext von großer Bedeutung, weil sie dort eine Verbindung von philosophischem Denken und politischer Praxis vorfand, die ihr in Frankreich fehlte. Vgl. Luce Irigaray: J’aime à toi. Esquisse d’une félicité dans l’histoire. Paris 1992. 11 Vgl. Libreria delle donne: Weibliche Freiheit. 143–151. 12 Vgl. Luisa Muraro (1991): Die symbolische Ordnung der Mutter. Frankfurt/M. 1993. 13 Vgl. Luisa Muraro (1992): Orientierung an der Dankbarkeit. In: DIOTIMA: Die Welt zur Welt bringen. Politik, Geschlechterdifferenz und die Arbeit am Symbolischen. Königstein/Taunus 1999, 48–57, bes. 56f. Muraro verweist auch auf Melanie Klein, die die Dankbarkeit ebenfalls als eine der größten Errungenschaften der Entwicklung versteht. Vgl. Melanie Klein: Neid und Dankbarkeit. In: Dies.: Das Seelenleben des Kleinkinds und andere Beiträge zur Psychoanalyse. Reinbek 1972, 174–186.
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chungen.14 Im akademischen Bereich initiierte die katholische Theologin Andrea Günter einen Dialog zwischen den Italienerinnen und der philosophischen Position von Hannah Arendt und zog Konsequenzen für eine theologische Ethik.15 In der Diskussion um die Postmoderne, d.h. seit Anfang der 90er Jahre, kam der Begriff der Differenz neu zu Ehren. Und auch Irigaray wird im Kontext dieser Entwicklung international neu gewürdigt – oft gerade mit Bezug auf ihre erste programmatische Veröffentlichung Speculum. In Italien bezieht sich Luisa Muraro 1994 erneut auf einen Text daraus, um die Vorstellung eines einheitlichen, sich selbst bewußten und sich selbst dem Prinzip der Vernunft zugeordneten Subjekts in Frage zu stellen.16 Aber auch im angelsächsischen Bereich erfährt Irigaray neue Beachtung. Ebenfalls 1994 veröffentlichen Carolyn Burke, Naomi Schor und Margaret Whitford in den USA einen Sammelband mit dem Titel Engaging with Irigaray. Feminist Philosophy and Modern European Thought.17 In diesem Band setzen sich Autorinnen, die zum Teil als Übersetzerinnen schon länger mit Irigarays Texten befaßt waren, mit grundsätzlichen Fragen bei der Interpretation von Speculum, und mit neueren Werken von ihr auseinander. Ein Diskussionspunkt ist erneut – wie schon im Heft alternative – die Frage, ob der Vorwurf, daß Irigaray Weiblichkeit essentialisieren will, gerechtfertigt ist. Weiterhin wird deren Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Systemen diskutiert, und es wird reflektiert, inwieweit mit Irigaray diskursiv und performativ eine neue symbolische Ordnung installiert werden kann. Hier wird deutlich, daß sie zumindest in der Philosophie in der akademischen Diskussion angekommen ist. Im Bereich der Theologie veröffentlichte Elaine Graham 1995 an der theologischen Fakultät der Universität Manchester eine Monographie, in der sie das Thema der Differenz, speziell der Geschlechterdifferenz mit Bezug auf
14
Vgl. z.B. Frankfurter Frauenschule/SFBFeV (Hg.): Zur Krise der Kategorien. Frau – Lesbe – Geschlecht. Facetten feministischer Theoriebildung Bd. 14. Frankfurt/M. 1994. 15 Vgl. Andrea Günter: Die weibliche Hoffnung der Welt. Die Bedeutung des Geborenseins und der Sinn der Geschlechterdifferenz. München 2000. Vgl. auch Andrea Günter (Hg.): Feministische Theologie und postmodernes Denken. Zur theologischen Relevanz der Geschlechterdifferenz. Stuttgart 1996. 16 Vgl. Luisa Muraro: Von sich selbst ausgehen und sich nicht finden lassen [. . .] In: DIOTIMA: Die Welt zur Welt bringen. 18–37, 32f. 17 Carolyn Burke/Naomi Schor/Margaret Whitford (Hg.): Engaging with Irigaray. Feminist Philosophy and Modern European Thought. New York 1994.
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Irigaray, für eine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie fruchtbar macht und die Konsequenzen für christliche Theologie und Praxis aufzeigt.18 Ebenfalls in Manchester erschien 1998 eine religionsphilosophische Studie, die sich auf Irigaray bezieht, speziell auf einen Aufsatz mit dem Titel Femmes devines.19 Grace M. Jantzen entwirft mit Bezug auf Irigaray eine Religionsphilosophie, die sich nicht auf die Finalität, die Bewegung zum Tode, sondern vielmehr auf die Kausalität, das Faktum des Geborenseins, bezieht.20 Auch in den Niederlanden ist der Ansatz von Irigaray nicht nur in der Philosophie21 , sondern auch in der Theologie präsent. In der Einleitung erwähnte ich die Arbeit von Riet Bons-Storm, die den Ansatz von Irigaray hinzuzieht, um das Schweigen von Frauen in Seelsorge und Beratung zu verstehen und zu deuten.22 Die Amsterdamer Dissertation von Susanne Hennecke bewegt sich dagegen im systematisch-theologischen Bereich.23 Hennecke vertritt die These, daß sich Irigarays Aufsatz La croyance même24 implizit mit dem christlichen Glaubensbekenntnis auseinandersetzt. Ausgehend von Strukturanalogien zwischen Irigarays Aufsatz und Karl Barths Prolegomena25 sucht sie nach Zusammenhängen zwischen Geschlechtlichkeit, Sprache und Glaube. In der deutschen protestantischen Theologie ist Irigaray weitgehend abwesend, was sich unter anderem dadurch erklären läßt, daß sich die feministisch-theologische Diskussion, ihre Wissenschaftskritik und ihre epistemologischen Reflexionen vor allem an US-amerikanischen Diskussionen orientieren. Diese Abwesenheit läßt sich m.E. auch damit erklären, daß der Vorwurf an Irigaray, sie würde Weiblichkeit essentialisieren, weitgehend unwidersprochen übernommen wurde. 18
Vgl. Elaine Graham: Making the Difference. Gender, Personhood and Theology. London 1995. 19 Luce Irigaray (1984): Göttliche Frauen. In: Dies.: Genealogie der Geschlechter. Freiburg 1989, 93–102. 20 Grace M. Jantzen: Becoming Divine. Towards a Feminist Philosophy of Religion. Manchester 1998. 21 Dafür spricht auch, daß Luce Irigaray und ihr Ansatz zum Thema einer philosophischen Dissertation in den Niederlanden wurde. Vgl. Annemie Halsema: Dialectiek van de seksuele differentie. De filosophie van Luce Irigaray. Amsterdam 1998. Im Anhang des Buches findet sich dankenswerterweise eine englische Zusammenfassung ihrer Thesen, 296– 302. 22 Vgl. Bons-Storm, The Incredible Women. 23 Vgl. Susanne Hennecke: Der vergessene Schleier. Ein theologisches Gespräch zwischen Luce Irigaray und Karl Barth. Gütersloh 2001. 24 Vgl. Luce Irigaray (1980): Der Glaube selbst. In: Dies.: Genealogie. 47–92. 25 Vgl. Karl Barth (1924): Prolegomena. Hg. von Hannelore Reiffen. Zürich 1985.
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Bei meiner Beschäftigung mit Irigaray werde ich mich mit diesem Vorwurf auseinandersetzen. Vor allem werde ich mich an die inzwischen international weit gefächerte Diskussion und Rezeption von Irigaray anschließen, die intensiv damit befaßt ist, zu überlegen, welche Konsequenzen das Wahrnehmen und Denken der Differenz für ein Verständnis der Welt, des Subjekts und damit auch für die Theologie hat. 1.2 Einführende Bemerkungen zu Irigaray: Biographie und Kontext Luce Irigaray wurde 1930 in Blaton in Belgien geboren.26 Sie studierte zunächst in Leuven Philosophie und Sprachwissenschaft und arbeitete in den 60er Jahren an einer empirischen Studie über die Sprache von Dementen (La Langage des Déments).27 Danach studierte sie in Paris Psychologie und Psychopathologie und trat der L’École de Freud de Paris bei, der psychoanalytischen Vereinigung, die Jacques Lacan 1964 als Abspaltung von der bisherigen psychoanalytischen Gesellschaft Frankreichs gegründet hatte. 1974 veröffentlichte sie die Arbeit Speculum. De l’autre femme und erntete damit große Anerkennung und harte Kritik. Aus den psychoanalytischen Reihen wurde ihr Nestbeschmutzung vorgeworfen, weil sie Lacan kritisierte, während ihr Feministinnen vorwarfen, eine neue Art von Essentialismus und Biologismus zu vertreten und damit der Sache der Frauen eher zu schaden als zu nutzen. Irigarays Kritik des Patriarchats fußt auf einer Analyse der Sprache, der Philosophie und vor allem der Psychoanalyse. Während in Speculum eher die Kritik an Freud im Vordergrund stand, befaßt sich der Sammelband Ce sex, qui n’est pas un28 vor allem mit der Lacanschen Psychoanalyse und seiner Wahrnehmung von Weiblichkeit, d.h. seiner These, daß es im Grunde kein eigenes weibliches Begehren gibt. Aufsätze aus der Zeit zwischen 1980 und 1986 zu den Themen Weiblichkeit, Körper und Geschlecht sind im schon genannten Sammelband Genealogie der Geschlechter veröffentlicht. Nach einer Phase, in der Irigaray sich vor allem der Phänomenologie29 und der neueren Philosophie zuwendet,30 beginnt nach 1986 eine Zeit, in 26
Die biographischen Angaben über Luce Irigaray sind extrem rar und disparat. Ich beziehe mich zum einen auf die Angaben, die auf der Innenseite des Umschlags von Luce Irigaray (1977): Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979 zu finden sind, und auf den Aufsatz von Carolyn Burke: Irigaray Through the Looking Glass. In: Dies./Schor/Whitford: Engaging with Irigaray. 37–56. 27 Luce Irigaray: La langage des déments. Den Haag 1973. 28 Luce Irigaray: Ce sexe, qui n’est pas un. Paris 1977. Die deutsche Übersetzung ist erschienen unter dem Titel: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979. 29 Vgl. Luce Irigaray: Amante marine. De Friedrich Nietzsche. Paris 1980. 30 Vgl. Luce Irigaray: L’éthique de la différence sexuelle. Paris 1983.
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der sie ihren Ansatz auch konkret politisch fruchtbar machen will und sich in Italien in der Frauenbewegung und in der marxistischen Partei engagiert.31 Damit ist auch die Wende von der dekonstruktivistischen Phase zur konstruktiven, ja prophetischen Phase eingeleitet. Während bis 1986 die Idee eines weiblichen Subjekts im Vordergrund stand, werden nun „die Bedingungen der Möglichkeit“ einer Beziehung zwischen weiblichen und männlichen Subjekten thematisiert.32 Seit Ende der 90er Jahre wandeln sich Irigarays Arbeiten erneut auch in Bezug auf die Form ihrer Veröffentlichungen. Diese erscheinen in ungewöhnlich kleinem Format und sind viersprachig (französisch, italienisch, deutsch und englisch), wobei je zwei Sprachen von der einen Seite und zwei Sprachen von der anderen Seite zugänglich sind. Es handelt sich dabei um Vorträge, in denen sich Irigaray intensiver der östlichen Philosophie zuwendet und das abendländische Denken mit seiner cartesianischen Subjekt-Objekt-Spaltung kritisiert.33 Im folgenden beziehe ich mich vor allem auf die frühen Veröffentlichungen von Irigaray, insbesondere auf Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Das Geschlecht, das nicht eins ist und Genealogie der Geschlechter. In diesen frühen Werken vertritt und verwirklicht sie ihr Anliegen am deutlichsten, am radikalsten und am kreativsten.
2. Das (latente) Programm von Speculum: Die Funktion des Diskurses (Lacan) zu destruieren34 Eine Darstellung von Irigarays dekonstruktiver Phase ist ein anspruchsvolles Unterfangen, weil es ihre Intention ist, inhaltliche Aussagen und den Stil ihres Schreibens miteinander zu verknüpfen. Wie andere französische
31
Vgl. Luce Irigaray: Le temps de la différence. Pour une révolution pacifique. Paris 1989. Burke sieht darin auch eine Reaktion auf die Umweltkatastrophe, die durch den Kernreaktor von Tschernobyl ausgelöst wurde. Vgl. Carolyn Burke: Translations modified: Irigaray in English. In: Dies./Schor/Whitford: Engaging with Irigaray. 249–261, 257. 32 Vgl. Luce Irigaray: Je, tu, nous. Pour une culture de la différence. Paris 1990. Irigaray: J’aime à toi. 33 Luce Irigaray: Zeit des Atmens – Le temps du souffle – L’epoca del respiro – The age of the breath. Rüsselsheim 1999. Luce Irigaray: Zu zweit, wie viele Augen haben wir? – Being two, how many eyes have we? – In due, quanto occhi abbimo? – A deux, nous avons combien d’yeux? Rüsselsheim 2000. 34 Luce Irigaray: Macht des Diskurses/Unterordnung des Weiblichen. In: Dies.: Das Geschlecht, das nicht eins ist. 70–88, 78.
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Strukturalistinnen und Strukturalisten35 geht Irigaray davon aus, daß Sprache die Welt nicht nur repräsentiert, sondern Welt schafft. Inhalt und Form des Textes sind daher untrennbar verbunden. Ich zitiere deswegen hier und im folgenden immer wieder Irigarays eigene Anleitungen zur Lektüre ihrer Texte: Bemerken wir, daß jeder dichotomisierende und zugleich verdoppelnde Einschnitt – eingeschlossen der zwischen dem Aussagen und der Aussage – aus der Fassung gebracht werden muß. Nichts, das jemals gesetzt wurde, das nicht umgekehrt und auch verwiesen werden muß auf das über diese Umkehrung Hinausgehende. Anders gesagt, es existiert nicht mehr Vorder- noch Rückseite des Diskurses, noch selbst des Textes, sondern ein Übergehen der beiden vom einem zum anderen, um auch dasjenige „verstehen“ zu lassen, was dieser Rekto-VersoStruktur, die den gesunden Menschenverstand trägt, widersteht. Wenn das durchgeführt werden muß für jeden gesetzten Sinn – Wort, Aussage, Satz, aber sicher auch Phonem, Buchstaben [. . .] – dann ist es billig, es in einer Weise zu tun, daß die lineare Lektüre des Textes nicht mehr möglich ist.36
Strukturalismus und Psychoanalyse verbinden sich in Frankreich vor allem mit der Person Jacques Lacans. Irigaray war Lacans Schülerin und 1964, als Lacan die l’École de Freud de Paris ins Leben rief, war sie Gründungsmitglied.37 Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie auch seine Analysandin, da Lacan seinen Einfluß in der psychoanalytischen Welt auch dadurch ausbaute, daß er zwei- bis viermal so viele Lehranalysandinnen und Lehranalysanden aufnahm wie andere Analytiker.38 Irigarays Denken, ihr Stil und ihre Abgrenzungen sind größtenteils direkt auf Lacans Thesen und seine Überzeugungen bezogen. Dennoch erwähnt sie seinen Namen in Speculum
35 Vgl. Gerda Pagel: Einleitung. In: Dies.: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg 1999, 7–20. Günther Schiwy: Der französische Strukturalismus. Mode – Methode – Ideologie. Reinbek 1984. 36 Irigaray: Macht des Diskurses. 82. 37 Vgl. Elisabeth Roudinesco (1993): Jacques Lacan: Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Frankfurt/M. 1999, 462. 38 Vgl. Roudinesco: Lacan. 307f.
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nicht.39 Auch in den beiden Aufsätzen Cosi fan tutti40 und Die „Mechanik“ des Flüssigen,41 in denen sie sich intensiv mit Vorträgen Lacans auseinandersetzt, erscheint sein der Name nur in den Fußnoten. Diese Ausblendung widerspricht nicht der These, daß Irigaray wie andere Schülerinnen und Schüler Lacans eine intensive, wenn auch ambivalente Bindung an Le Maître hatte.42 Die persönliche Beziehung zwischen Irigaray und Lacan soll hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Die Kenntnis von Lacans Theorien ist jedoch unerläßlich, um die Botschaft und auch um den Impetus von Irigaray zu verstehen. Diese sind für Irigaray nicht nur die Grundlage für ihr Verständnis von Sprache und Psychoanalyse, sondern sie bilden auch die Negativfolie, gegen die sie sich absetzen will. Deswegen stelle ich im folgenden nur Lacans Theorien in Bezug auf Sprache und Psychoanalyse, in Bezug auf Entwicklung, weibliche Sexualität und auf das Ziel der psychoanalytischen Behandlung dar – ohne den Anspruch, einen vollständigen Abriß von seiner Theorien zu geben oder diese ausreichend zu würdigen. 2.1 Lacan: Das menschliche Subjekt verdankt sich der Sprache Lacan ist einer der wichtigsten Vertreter des französischen Strukturalismus. Sprache ist für ihn grundlegend für die Wahrnehmung und das Verständnis der Welt. Nach Lacan hat Sprache eine doppelte Funktion: Als Sprechen ist sie ein Oberflächenphänomen, das produziert wird, ohne wirklich in einen Dialog mit dem Gegenüber einzutreten. Das Gegenüber bleibt vielmehr ein 39 Gleichzeitig benützt sie mit Speculum jedoch die Metapher des „Spiegels“, die Lacan in seinem ersten wichtigen Werk, das ihm zu öffentlicher Beachtung verhalf, verwendete. Vgl. Jacques Lacan: Le stade du miroir. Théorie d’un moment structurant et génétique de la constitution de la réalité, concu en relation avec l’expérience et la doctrine psychanalytique. Mitteilung auf dem 14. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß, Marienbad, 2.–8. August 1936, veröffentlicht in der Fassung von 1949 mit dem Titel: Le stade du miroir comme formateur du Je, telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique. In: Revue française de psychanalyse 4/1949, 449–455. Eine Übersetzung ins Deutsche findet sich bei Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. In: Ders.: Schriften I. Olten 1973, 61–70. 40 Luce Irigaray: Cosi fan tutti. In: Dies.: Das Geschlecht, das nicht eins ist. 89–109. 41 Luce Irigaray: Die „Mechanik“ des Flüssigen. In: Dies.: Das Geschlecht, das nicht eins ist. 110–124. 42 Vgl. Sherry Turkle: Psychoanalytic Politics: Freud’s French Revolution. New York 1978, 120ff. Diese ambivalente Bindung wurde noch dadurch intensiviert, daß ein Seminar, das Irigaray über Speculum am Institut für Psychoanalyse in Vincennes halten sollte, aus „programmtechnischen Gründen“, wahrscheinlich jedoch aufgrund von Jacques Lacans Intervention, gestrichen wurde. Vgl. Burke: Through the Looking Glass. 39–41.
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kleines „a“, weil es nicht wirklich als ein Gegenüber angesprochen wird, sondern nur als Projektionsfläche für ein narzißtisch-imaginäres (Selbst-) Bezogensein dient. Darin eingebettet und nur zwischen den Zeilen dieser Oberflächenkommunikation erkennbar ist jedoch die Sprache als „parole pleine“, d.h. als Mittel der Verständigung, wenn das imaginäre oder pseudo-reale Sprechen sich zum Symbolischen hin öffnet. Unter dem pseudo-realen versteht Lacan ein Sprechen, das einer bewußten, von Abwehr und Rationalisierungen geprägten Denkweise entspricht, sich aber der Auseinandersetzung mit unbewußten Motiven entzieht.43 Diesem pseudo-realen Imaginären stellt er das Symbolische, das wirklich Andere (l’Autre) „A“ gegenüber. Dieses manifestiert sich in Bildern und Metaphern, in Wortspielen und sprachlichen Fehlleistungen. Die Struktur der symbolischen Sprache, der „parole pleine“, entspricht demnach der Struktur des Unbewußten.44 Sie ist wie das Unbewußte nie direkt greifbar, sondern nur in Verwerfungen, Brüchen und Unterbrechungen der Sprache und des Sprechens. Nur die Analyse der Sprache und ihrer unbewußten Strukturen bietet von daher die Möglichkeit, einen Weg von der narzißtisch-imaginären Verflochtenheit mit Klein-„a“ zur echten symbolischen Kommunikation mit „Anderen“ zu finden. Das große „A“ durchbricht die Nicht-Kommunikation und eröffnet die volle symbolische Kommunikation, ohne daß dieses große „A“ je dingfest zu machen oder festzuschreiben wäre. Das heißt auch, daß keiner aus sich selbst heraus den Weg zum Symbolischen finden kann, sondern nur durch den „Anderen“: Das Unbewußte ist der Diskurs des Anderen.45
Das heißt, das Unbewußte kann nur dialogisch erfahren werden.46 Nur im Dialog mit dem Anderen kann die narzißtische Größenvorstellung abgebaut werden und eine realistische Selbstwahrnehmung entstehen. 2.2 Lacans Entwicklungspsychologie Entwicklungspsychologisch geht Lacan davon aus, daß die symbiotische, sprach-lose und von narzißtischen Phantasien geprägte Beziehung des Kindes zur Mutter durch den Vater unterbrochen werden muß. Im Namen des 43
Vgl. Pagel: Lacan. 37–53. Bei dieser These nimmt Lacan auf Freud Bezug, Vgl. Sigmund Freud (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. StA Bd. IV, 9–219. 45 Zitiert nach Pagel: Lacan. 49, wobei das Zitat am angegebenen Ort (Lacan: Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. 67) nicht zu finden ist. 46 Vgl. Pagel: Lacan. 49. 44
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Vaters/durch das Nein des Vaters47 wird die sprachlich-symbolische Ordnung und damit der Zugang zur Welt etabliert. Eine entwicklungspsychologische Aufgabe ist demnach, sich aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter zu lösen. Eine weitere Aufgabe ist, die Trennung und die damit verbundene Infragestellung narzißtischer Größenvorstellungen zu verarbeiten. In dem bereits genannten Aufsatz über das Spiegelstadium bei Kindern48 vertritt Lacan die These, daß ein Kind sein eigenes Kleinsein, wenn es sich im Spiegel ansieht, zunächst nicht ertragen kann. Deswegen entwickelt es eine narzißtische Größenvorstellung, die der realen Außenwahrnehmung widerspricht. Durch die gestörte Selbstwahrnehmung wird ein wirklicher Dialog mit den Anderen verhindert. Die Kommunikation mit der Welt bzw. mit dem Gegenüber geschieht nur noch darüber, daß das Gegenüber durch die narzißtische Brille gesehen und durch damit verbundene Projektionen verstanden wird.49 Der Ödipuskomplex ist für Lacan der Schlüssel zum Verständnis der psychischen Entwicklung bzw. der Irrwege der Entwicklung. Nach seiner Ansicht werden in diesem Entwicklungabschnitt Mädchen und Jungen mit der „Ent-Täuschung“ ihrer imaginären Vorstellungen konfrontiert. Der Junge erkennt, daß er bei seiner Mutter nicht an die Stelle des Vaters treten kann und darf. Das Mädchen erkennt, daß es keinen Penis hat und deswegen gleichfalls nicht an die Stelle des Vaters treten kann. Hiermit erkennen Mädchen und Jungen das Gesetz des Vaters, das die symbolische Ordnung repräsentiert. Garant dieses väterlichen Gesetzes und der symbolischen Ordnung ist nach Lacan „der Phallus“. Dieser Phallus darf nach Lacan nicht als biologisches Organ verstanden werden. Er symbolisiert vielmehr das Ziel des 47
Im Deutschen läßt sich Lacans Wortspiel mit dem Gleichklang „au nom/non du père“ nicht in gleicher Weise wiedergeben. 48 Vgl. Lacan: Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. 49 Lacans Auffassung dieses Spiegelstadiums und der Bedeutung für die Entstehung des Ichs widerspricht u.a. die Philosophin und Psychoanalytikerin Hanna Gekle. Sie zeigt, daß Lacan die Bedeutung dieses Spiegelstadiums weniger aufgrund empirischer Daten und einer nachvollziehbaren Hermeneutik entwickelte, sondern vielmehr die Beobachtungen anhand eines Vorverständnisses deutete, das er aus der Philosophie Husserls übernommen hatte, ohne diese Verbindung explizit darzulegen. Weiterhin macht sie deutlich, daß Lacan, indem er die Entstehung des Ichs nur von einer Wahrnehmung des Spiegelbilds durch das Kind abhängig macht, die ganze Vorgeschichte des Kindes mit seinen Eltern, d.h. seine Beziehungsgeschichte völlig verleugnet. Mit diesen Konstruktionen gelangt er zur Vorstellung eines Ichs, das immer von der Zerstückelung und der Paranoia bedroht ist. Damit werden die Krankheitsbilder, die Lacan in seiner Arbeit in der Psychiatrie kennengelernt hat, zur Grundlage jeder normalen Persönlichkeitsentwicklung erklärt. Vgl. Hanna Gekle: Lektion in Liebe. Zur Kritik an Lacans Spiegelstadium. Luzifer – Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 4/1991, 100–123.
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Begehrens, die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit und damit den immerwährenden Mangel. Begehren entsteht aus dem Gefühl eines existentiellen Mangels, der nie erfüllt werden kann. Von diesem unerfüllbaren Begehren unterscheidet Lacan körperliche Bedürfnisse, die prinzipiell erfüllbar sind. Um dem Gefühl des Mangels und des existentiellen Begehrens zu entgehen, versuchen Männer und Frauen zum einen, das Begehren in physiologische Bedürfnisse zu verwandeln und an der Realität zu befriedigen. Damit vernachlässigen sie die Dimension des Symbolischen. Zum anderen suchen sie nach imaginärer Erfüllung ihrer Wünsche und blenden die Realität aus, bzw. formen diese durch eigene Projektionen und projektive Identifikationen.50 2.3 Lacans Verständnis weiblicher Subjektivität: Il n’y a pas La femme Besonders deutlich werden die Versuche, das existentielle Defizit zu umgehen, im Bereich der sexuellen Begegnung. Einerseits wird versucht, das sexuelle Begehren auf ein physiologisches Bedürfnis zu reduzieren, das nach Triebentladung strebt. Aber das Objekt in seiner konkreten Realität erweist sich dabei nur noch als ein Stück totes Fleisch.51 Als Versuch imaginärer Wunscherfüllung wertet Lacan dagegen den Gedanken, daß ein Subjekt – l’homme – durch den Bezug zum anderen Geschlecht, d.h. durch die sexuelle Beziehung, ganz und heil, d.h. eins werden könnte.52 Lacan behauptet: [. . .] il n’y a pas de rapport sexuel.53
Die sexuelle Vereinigung mit der Frau kann keine hermaphroditische Einheit herstellen und ebensowenig den existentiellen Mangel beheben. Zudem 50 Projektive Identifikation ist ein Terminus technicus, der zuerst von Melanie Klein verwendet wurde und der einen Abwehrmechanismus beschreibt, bei dem ungeliebte eigene Anteile abgespalten und dann auf ein Gegenüber projiziert werden bzw. mit ihm identifiziert werden. Vgl. auch Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis (1967): Das Vokabular der Psychoanalyse Bd. 1. Frankfurt/M. 1972, 226–228. 51 An dieser Stelle bezieht sich Lacan auf den toten Vogel in Verhältnis zur Kunst des Bogenschießens. Vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar XI (1964) Weinheim/Berlin 1978, 188. 52 Vgl. Platons Vorstellung von der kugelförmigen Urgestalt des hermaphroditischen Menschen im Symposium: Frau und Mann ergänzen sich komplementär zu einer runden Einheit. Gegen diese Art von Ergänzungsdenken wendet sich Lacan. Vgl. Pagel: Lacan, 91f. 53 Jacques Lacan: La fonction de l’écrit. Le Séminaire XX: Encore (1972–1973). Paris 1975, 29–38, 35. Deutsche Übersetzung: „[. . .] es gibt kein Geschlechtsverhältnis.“ Jacques Lacan: Das Seminar XX: Encore (1972–1973). Weinheim/Berlin 1985, 39. Diese Übersetzung werde ich im folgenden unter der Abkürzung Lacan: Encore, deutsch verwenden, wenn ich den französischen Lacan-Zitaten eine deutsche Übersetzung beifüge.
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würde in jeglicher sexuellen Beziehung die Frau nur als „Signifikant“, d.h. als Repräsentanz der Mutter begehrt54 – weil in der frühkindlichen Phase „die Vereinigung mit der Mutter“ als Erfüllung von physiologischen und symbolischen Begehren erfahren wird. Keine Frau – außer der imaginierten Mutter – kann das Gefühl des Mangels und des existentiellen Defizits beheben. Zum einen gehört nach Lacan der Mangel zur existentiellen Ausstattung des Menschen und darf nicht erfüllt werden, zum anderen kann die Frau nicht wirklich und wesenhaft das existentielle Defizit füllen, weil sie „nicht-alles/pas-toute“55 ist. Diese nichtessentielle Wesenheit der Frau faßt Lacan in die Formel: Il n’ y a pas La femme.56
Da es die Wesenheit Frau nicht gibt, ist nach Lacan der bestimmte Artikel fehl am Platz und müßte eigentlich (durch-)gestrichen werden, so wie er dies auch in der Überschrift seines Vortrags tut: Dieu et la jouissance de La femme. Lacans provokanter, vielleicht auch arroganter Stil wird besonders deutlich, wenn er an dieser Stelle hinzufügt, daß sich Frauen über diese These natürlich beklagen würden, aber sie wüßten eigentlich nicht, was sie sagen, und das sei der Unterschied zwischen ihnen und ihm selbst.57 Dies ist nach Lacan auch das Problem beim sexuellen Genießen der Frau – die ja als solche nicht existiert. Es gäbe für die Frau wohl ein Genießen jenseits des Phallus/une jouissance au-delà du phallus,58 aber nur als Empfindung außerhalb ihrer bewußten Wahrnehmung: Il y a une jouissance à elle dont peut-être elle-même ne sait rien, sinon qu’elle l’éprouve.59 54
„La femme ne sera jamais prise quoad matrem. La femme n’entre en fonction dans le rapport sexuel qu’en tant que la mère.“ Lacan: La fonction de l’écrit. 36. Lacan: Encore, deutsch. 39: „Daß die Frau je nur genommen wird quoad matrem. Die Frau tritt in Funktion im Geschlechtsrapport nur als die Mutter.“ 55 Vgl. Lacan: Aristote et Freud: l’autre satisfaction, In: Le Séminaire XX, 49–60, 51. 56 Lacan: Dieu et la jouissance de La femme. In: Le Séminaire XX: Encore (1972–73), 61–71, 68. Lacan: Encore, deutsch. 80: „Es gibt nicht Die Frau.“ 57 „[. . .] il faut bien dire que s’il y a quelque chose dont elles-mêmes se plaignent assez pour l’instant, c’est bien de ca – simplement, elles ne savent pas ce qu’elles disent, c’est toute la différence entre elles et moi.“ Lacan: Dieu et la jouissance. 68. Lacan: Encore, deutsch. 80: „[. . .] man muß schon sagen, daß, wenn es etwas gibt, worüber sie selbst sich genug beklagen kann für den Augenblick, dann doch über das – sie wissen einfach nicht, was sie sagen, das ist der ganze Unterschied zwischen ihnen und mir.“ 58 Lacan: Dieu et la jouissance. 69. 59 Ebd. Lacan: Encore, deutsch. 81: „Es gibt ein Genießen für sie, von dem vielleicht sie selbst nichts weiß, außer daß sie es empfindet.“
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Oder verbergen die Frauen ihre Lust nur vor den Männern?60 Wie dem auch sei, so steht für Lacan jedoch fest, daß sexuelle Lust allein mittels des Phallus erfahren werden kann, und dieser Weg ist für die Frau unmöglich.61 Lacans Vortragsstil ist assoziativ und will provozieren. Er bricht mit den Konventionen der Sprache, redet in abgebrochenen Sätzen und wechselt in einem Satz zwischen den Diskursebenen, der Psychoanalyse, der Physik und der Philosophie hin und her. Er beschreibt psychoanalytische Erfahrungen in physikalischen Formeln und spickt seine Ausführungen mit Metaphern und Wortspielen. Gleichzeitig hält er den Horizont der Interpretationsmöglichkeiten so offen wie möglich. Seine Ausführungen lassen sich nicht festmachen und nicht greifen. Selbst wenn er eine Aussage macht, gelingt es ihm, sie den Hörerinnen und Hörern gleichzeitig zu entziehen.62 Diese Offenheit der Aussagen und die Vielzahl der Interpretationsmöglichkeiten machen es Kritikerinnen und Kritikern schwer, Lacan auf bestimmte Aussagen festzulegen und diese Aussagen einer konkreten Kritik zu unterwerfen. Auch Irigarays Anliegen, zu demonstrieren, daß Lacans System Frauen zu Nicht-Subjekten macht, stößt deswegen auf besondere Schwierigkeiten. 2.4 Irigarays Bezug auf und ihre Abgrenzung von Lacan Irigarays Denken ist wesentlich durch ihren Lehrer Lacan geprägt. Auch sie stellt die Sprache als Ort und als Instrument des Denkens und der Identitätsbildung in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Auch sie geht von einer sprachlich konnotierten symbolischen Ordnung aus, und auch für sie ist die Geschlechterdifferenz prägend für das Subjekt und sein Selbstverständnis.
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In der Sitzung eine Woche davor (Jacques Lacan: Aristote et Freud. 54. 13. Februar 1973) formuliert Lacan den folgenden Satz: „– nos collègues les dames analystes, sur la sexualité féminine elles ne nous disent [. . .] pas tout!“ Lacan: Encore, deutsch. 63: „– unsere Kollegen, die Damen Analytiker, über die weibliche Sexualität sagen sie uns [. . .] nicht alles!“ Er gibt vor, diesen Satz nur als Beispielsatz für die Verwendung des „pas-tout“ anzuführen und kann damit für den Inhalt nicht haftbar gemacht werden. 61 Dennoch geht Lacan davon aus, daß bei bestimmten Subjekten ein sexuelles Genießen jenseits des Phallus existiert. Dies siedelt er vor allem bei den Mystikerinnen an. Als Beispiele nennt er Hadewych und die Skulptur der Heiligen Therese von Bernini in Rom. Lacan: Encore, deutsch. 83: „Für die fragliche Hadewych ist es wie für die Heilige Theresa – Sie brauchen nur nach Rom und die Statue von Bernini ansehen zu gehen, um sofort zu begreifen, daß sie genießt, da gibt es keinen Zweifel. Und wessen genießt sie? Es ist klar, daß das wesentliche Zeugnis der Mystiker, das ist justement zu sagen, daß sie es empfinden, aber daß sie davon nichts wissen.“ 62 Vgl. oben: Lacan: Aristote et Freud. 54; Lacan: Encore, deutsch. 63. Vgl. Anm. 61.
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Doch im vermeintlichen „common ground“ sind schon wesentliche Unterschiede angelegt. Irigaray betont zwar wie Lacan die Geschlechterdifferenz, aber sie verknüpft Differenz nicht mit Besitz und Mangel oder mit Superiorität und Inferiorität. Sie betont vielmehr, daß die weibliche Differenz eine kategoriale ist und damit außerhalb des patriarchalen Systems steht. Ihr Ziel ist nicht, wie bei Simone de Beauvoir, die Geschlechterdifferenz zu minimieren, sondern sie zu maximieren. In ähnlicher Weise geht Irigaray mit Lacans Vorstellung einer symbolischen Ordnung um. Einerseits bejaht sie die Bedeutung des Symbolischen, andererseits stellt sie die Vorstellung von einer (patriarchalen) symbolischen Ordnung in Frage, indem sie die Morphologie des Körpers in den Blick nimmt. Gegen den Phallus als einzigen Signifikanten für eine symbolische Ordnung und für die Fähigkeit des Begehrens stellt sie die weibliche Morphologie mit einer Vielzahl von Orten des sinnlichen Genießens (jouissance). Irigaray benützt damit die weibliche Morphologie, um einen Raum zu kreieren. Sie stützt sich dabei auf die Freudsche Psychoanalyse, die den Körper einerseits als sozial geprägt und in Fesseln gelegt versteht und anderseits als einen Ort des Widerstands sieht, der die glatte Oberfläche von Bewußtsein, Vernunft und sozialer Ordnung immer wieder stört.63 Irigaray’s intention is to reinstate women as creatures of true essence, subverting Aristotelian systems which deny this. Irigaray’s radical project to rewrite Western epistemology and ontology restores the significance of the body, passion, libido and the unconscious as legitimate foundations of knowledge and selfhood. Being able to thin about oneself, rather than to be thought of by another is the project of feminist thought for Irigaray.64
Nach dieser Einführung in die Zusammenhänge und den Kontext von Irigarays Ansatz stelle ich nun am Beispiel von Speculum die Methodik vor, mit der Irigaray diskursiv und performativ die eine patriarchale Ordnung in Frage stellt. Eine Darstellung von Irigarays Methodik muß sich damit auseinandersetzen, daß Irigaray selbst nicht diskursiv argumentieren will, weil sie damit wieder in das herrschende (Sprach-)System eingeschlossen wird. Da ich bei meiner Darstellung, Zusammenfassung und Kritik von Irigaray notwendigerweise diskursiv arbeite, zitiere ich Irigaray ausführlich, um die Methode ihrer Argumentation deutlich werden zu lassen.
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Vgl. Graham: Making the Difference. 137–139. Graham: Making the Difference. 137.
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3. Irigarays Methodik: Dekonstruktion und positive Setzungen 3.1 Die Struktur von Speculum und Irigarays Botschaft Irigaray versteht ihre Schrift Speculum als radikale Kritik an der gesamten Geschichte von Philosophie und Psychologie. Gegen die chronologische Ordnung beginnt sie mit ihrer Kritik bei Freud und endet bei Platon. Das Zentrum oder die Mitte des Buches bildet ein Kapitel, das erneut mit Speculum überschrieben ist und ebenfalls einen Kurzdurchlauf durch die Philosophiegeschichte bietet – diesmal in chronologischer Folge. In dem Aufsatz Das Geschlecht, das nicht eins ist erläutert sie diese Art der Darstellung: Streng genommen gibt es in Speculum keinen Anfang und kein Ende. Die Architektonik des Textes, der Texte bringt jede Linearität eines Vorhabens, jene Teleologie des Diskurses, in welchem es für das „Weibliche“ keinen möglichen Ort gibt, es sei denn den traditionellen des Verdrängten, des Zensurierten, aus der Fassung. Übrigens, mit Freud „anzufangen“ und mit Platon „aufzuhören“, das heißt schon, die Geschichte „umzudrehen“. Im „Inneren“ einer solchen Umkehrung aber kann die Frauenfrage sich noch nicht artikulieren, so daß man sich mit ihr nicht einfach zufrieden geben kann. Deshalb diese Gliederung, die bewirkt, daß in den in der „Mitte“ stehenden Texten – die wiederum mit „Speculum“ überschrieben sind – offensichtlich die Umkehrung keinen Platz mehr hat. Das Entscheidende dabei ist, die Montage der Repräsentation gemäß ausschließlich „männlichen“ Parametern aus der Fassung zu bringen. Das heißt, gemäß einer zwangsläufig phallokratischen Ordnung, die es nicht umzukehren – das würde letztlich auf das Gleiche hinauslaufen –, sondern, ausgehend von einem teilweise ihrem Gesetz entzogenen „Außen“, zu stören und zu untergraben gilt.65
Diese „phallokratische Ordnung“ und ihre „Unangreifbarkeit“ sind nur auf dem Hintergrund der symbolischen Ordnung, die allein durch das Gesetz des Vaters bzw. durch das Gesetz des Phallus repräsentiert wird, zu verstehen. Nach Lacan lebt jeder, der sich dieser symbolischen Ordnung nicht unterwerfen will, entweder in einer pseudo-realen objektivierten Welt oder in einer narzißtisch-imaginären Illusion. Die Einschreibung dieser Ordnung des Phallus sieht Irigaray in allen philosophischen und psychoanalytischen Systemen des Abendlandes am Werk. „Die Frau“ hat in diesen Systemen keinen eigenen Raum und keine Repräsentanz ihrer Sexualität, ihres Begehrens und ihrer Lust – außer durch den Mangel. Im ersten Teil von Speculum zeigt Irigaray dies ausführlich in Bezug auf Freudund im dritten Teil in Bezug auf Platon. Der zweite Teil des Buchs 65
Irigaray: Macht des Diskurses. 70.
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besteht aus kurzen Zusammenfassungen, in welchen dargestellt ist, welcher Platz der Frau in verschiedenen philosophischen Denksystemen jeweils zugewiesen wird. Bei Freud wird die Frau immer in Bezug auf den Mann beschrieben. Sie wird als mangelhafter Mann oder als dessen Ergänzung beschrieben. Ihre Sexualität und ihr Körper sind defizitär im Vergleich zu männlichen Körpern und deren Sexualität. Freud liefert in dieser Hinsicht eine Vielfalt von Aussagen, die Irigaray unter der Überschrift Das Weibliche ist weiblich aufgrund eines gewissen Mangels an Qualitäten anhand von ausgewählten Zitaten vorstellt: Ein exorbitanter Narzißmus. – Die Eitelkeit einer Ware. – Die Scham ausgelöst durch eine Mißbildung. – Die Frauen haben niemals etwas erfunden, außer dem „Weben und Flechten“. – Ein neidischer Charakter. – Die Gesellschaft interessiert die Frauen nicht. – Eine geringe Fähigkeit zur Sublimierung. – Die Frau von dreißig Jahren.66
Auch bei Platon zeigt Irigaray, wie tief die Abwertung des Weiblichen als unbewußte, defekte Materie in sein System eingeschrieben ist. Die Art der Einschreibung des Weiblichen läßt sich jedoch nicht nur, oder nur in sehr oberflächlicher Weise, an den expliziten Aussagen oder Ausdrucksformen festmachen, daß z.B. nur von einem männlichen Subjekt gesprochen wird.67 Viel wichtiger ist es, die Rolle der Frau im System und die unbewußten, verborgenen Phantasien über Frauen aufzudecken. Wie aber können diese Vorstellungen von Weiblichkeit, die nicht nur einfache Zuschreibungen, sondern den philosophisch-analytischen Denksystemen inhärent sind, aufgedeckt und kritisiert werden? Wie können Frauen einen eigenen Ort und einen Subjektstatus gewinnen, wenn sie doch das System nicht verlassen können? Diese Schwierigkeiten potenzieren sich in der Auseinandersetzung mit Lacan, die in Speculum nicht explizit, aber zwischen den Zeilen geführt wird.68 Eine offene Kritik an ihm findet sich dagegen in zwei Aufsätzen des Sammelbandes Das Geschlecht, das nicht eins ist.69 66
Irigaray: Speculum. 7. Irigaray: Speculum. 351. 68 Implizit kann man gerade im dritten Teil, dem Teil über Platon sehen, daß Irigaray Platon immer mit Lacan liest und mit seiner Terminologie beschreibt und ihn zitiert, ohne jedoch auf Lacan zu verweisen. Vgl. im Abschnitt über Platon: „Die I DEE der I DEEN ist einzig in sich selbst sie selbst. Weil sie Signifikat, Signifikant und Referent in einem ist, gibt es kein Außerhalb von ihr.“ Speculum. 378. Kapitälchen und Kursivdruck gemäß der deutschen Übersetzung. 69 Vgl. Irigaray: Cosi fan tutti. Dies.: Die ‚Mechanik‘ des Flüssigen. 67
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Hier weist Irigaray darauf hin, daß bei Lacan nicht nur der Subjektstatus durch „l’homme“ (Mann/Mensch) besetzt ist, sondern die symbolische Ordnung der gesamten Sprachwelt durch den Phallus repräsentiert wird. Damit ist auch das „Außerhalb“ der Ordnung schon durch „L’Autre“ definiert. Der Mann kann sich durch den Bezug zu „L’Autre“ einen Bezug zum Symbolischen und damit einen Ort in der symbolischen Ordnung erwerben. „L’Homme“, der Mann/Mensch, ist dadurch in die Ordnung eingebunden. Er kann sich auf andere beziehen, kann sein Begehren artikulieren und seine Lust leben. Für die Frau gilt das nicht. Selbst wenn Lacan ihr zubilligt, daß es eine Lust au delà/jenseits des Phallus gibt und Frauen vielleicht einen besonderen Bezug zu „L’Autre“ haben, so wissen sie doch nichts davon. Sie können weder ihr Begehren noch ihre Lust artikulieren.70 Sie können nicht an der symbolischen Ordnung partizipieren und sind zwischen „a“ und „A“ in der Sprachlosigkeit und Bewußtlosigkeit gefangen. Welche Möglichkeiten haben Gefangene, die weder eine eigene Sprache noch einen Ort haben? Sie müssen die einzige Sprache nutzen, die sie haben, und von dem Ort aus sprechen, der ihnen in der phallischen Ordnung zugewiesen ist. Genauer: Sie müssen tun, als ob sie noch dort wären und die Sprache der phallischen Ordnung benutzen. Aber eigentlich imitieren sie nur. Sie praktizieren ein sprachliches „Mimikri“, um das System von innen auszuhöhlen. 3.2 Mimetik als Systemkritik: Produktion durch Reproduktion Irigarays schon oben beschriebene Art des Schreibens ist gekennzeichnet durch Wiederholung, endlose Zitate und das endlose Eintauchen in andere Denksysteme, so daß interpretierender und interpretierter Text ineinander übergehen.71 Sie nennt dies „die Praxis der Mimesis“. Mimesis zu spielen bedeutet also für eine Frau den Versuch, den Ort ihrer Ausbeutung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf reduzieren zu lassen. Es bedeutet – was die Seite des „Sensiblen“, der „Materie“ angeht –, sich wieder den „Ideen“, insbesondere der Idee von ihr, zu unterwerfen, so wie sie in/von einer „männlichen“ Logik ausgearbeitet wurden; aber, um durch einen Effekt spielerischer Wiederholung das „erscheinen“ zu lassen, was verborgen bleiben mußte: die Verschüttung einer möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache. Es bedeutet außerdem, die Tatsache zu „enthüllen“, daß, wenn die 70
Vgl. Lacan: Dieu et la jouissance. 70. Vgl. Speculum: Nachwort der Übersetzerinnen. 471. Vgl. auch Halsema: Dialectiek. 298: „I interpret mimesis as a textual strategy characterized by disruptive repetition of philosophical passages Irigaray rereads.“ 71
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Frauen so gut mimen, dann deshalb, weil sie nicht einfach in dieser Funktion aufgehen. Sie bleiben ebensosehr anderswo. Eine andere Beharrlichkeit der „Materie“, aber auch des „Lustempfindens“.72
In ihrem Spiel mit Texten und Zitaten in Speculum wechselt Irigaray zwanglos zwischen den Diskursebenen der Psychoanalyse, Philosophie und der Mathematik hin und her und läßt Zitate und Interpretationen nahezu nahtlos ineinander übergehen. Dies vermehrt wie bei Lacan die Schwierigkeiten, den Text angemessen darzustellen – was genau ihrer Intention entspricht: In der Tat, es handelt sich nicht darum, das Funktionieren des Diskurses zu interpretieren, indem man in dem selben Typ von Aussage verbleibt, der auch die diskursive Kohärenz garantiert. Das ist übrigens das Wagnis jedes Satzes, jedes Gesprächs über „Speculum“. Und auch ganz allgemein über die Frauenfrage. Denn von der oder über die Frau zu sprechen kann immer hinauslaufen auf oder verstanden werden als eine Wiederaufnahme des Weiblichen ins Innere einer Logik, die es in der Verdrängung, unter der Zensur, genauer in der Verkennung festhält.73
Das mimetische Spiel mit den Texten hat mehrere Funktionen, die im Text ineinander übergehen, aber hier um der Klarheit der Darstellung willen getrennt vorgestellt werden.74 • Mithilfe der mimetischen Strategie und auf dem Hintergrund der psychoanalytischen Technik werden die inhaltlichen Aussagen Freuds über die Frau/die Weiblichkeit einer Kritik unterzogen, und ihre Verwurzelung in der patriarchalen Gesellschaft Wiens zu Freuds Zeiten wird offengelegt (vgl. 3.2.1). • Die zweite Funktion der Mimetik ist es zu zeigen, daß auch das psychoanalytische Instrumentarium, das vorgibt „objektiv“ zu sein, selbst patriarchal bestimmt ist und der Aufklärung bedarf (vgl. 3.2.2). • Eine dritte Funktion des mimetischen Spiels ist es, Alternativen aufzuzeigen und Modelle zu kreieren, wie Frauen sich selbst als Subjekte und Symbolträgerinnen entwerfen können (vgl. 3.2.3). Im Folgenden werde ich diese drei Funktionen anhand von Beispielen zumeist aus Speculum veranschaulichen. Dabei wird deutlich, wie stark bei Irigaray Textästhetik und inhaltliche Aussagen miteinander verknüpft sind. 72
Irigaray: Macht des Diskurses. 78. Irigaray: Macht des Diskurses. 80. 74 Vgl. Halsema: Dialectiek. 299f. 73
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3.2.1 Die Strategie der Mimetik zur Dekonstruktion von Aussagen über „die Frau“ Irigaray verwendet die mimetische Taktik, um die Unstimmigkeit und Unsinnigkeit (3.2.1.1) sowie die gesellschaftliche Bedingtheit von Freuds Theorien über die Frau/die Weiblichkeit Frau aufzuzeigen (3.2.1.2). Irigaray benutzt dafür zum einen weitere Texte Freuds zur Gegenüberstellung und unterscheidet zum anderen zwischen bewußtem und unbewußten Aussagen der Texte. So spielt sie Freuds Technik gegen seine inhaltlichen Aussagen aus. 3.2.1.1 Neuverknüpfung von Texten als mimetische Technik Irigaray zeigt durch die Gegenüberstellung von Freuds Weiblichkeitstheorien und seinen allgemeinen Theorien zur Psychopathologie, wie absurd seine Texte zur Weiblichkeit und zur sexueller Entwicklung von Mädchen sind: Im Abschnitt Eine melancholische Sexualität75 stellt Irigaray dar, was Freud in seiner Entwicklungspsychologie über die emotionalen Konsequenzen der „Entdeckung der Kastration“ für das Mädchen sagt: Die „Wendung“ zur Frau die „Herstellung der Weiblichkeit“ setzt voraus, daß das Mädchen „die phallische Aktivität aus dem Weg räumt“, daß „die [. . .] Passivität [. . .] die Oberhand“ gewinnt und daß „die Wendung zum Vater“ überwiegt.76
Diesen Zitaten aus Freuds Gedanken zur Entwicklungspsychologie von Mädchen stellt Irigaray Freuds Erkenntnisse zur Melancholie gegenüber. Sie macht deutlich, daß die Symptome der Melancholie nahezu identisch sind mit den Folgen der Anerkennung von Weiblichkeit bzw. der Kastration, wie Freud es beschreibt. Liest man aus dieser Sicht Trauer und Melancholie77 noch einmal, so ist man frappiert von den möglichen Übereinstimmungen zwischen der melancholischen Symptomatik und dem, was die Libido-Ökonomie des kleinen Mädchens ausmacht, nachdem es die an ihm und seiner Mutter „vollzogene Kastration“ entdeckt hat: – schmerzliche Depression [. . .] – Aufhebung des Interesses für die Außenwelt [. . .] – Verlust der Liebesfähigkeit [. . .] 75
Irigaray: Speculum. 82–90. Irigaray: Speculum. 90. 77 Sigmund Freud (1917): Trauer und Melancholie. StA Bd. III, 193–212. 76
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– Hemmung der Leistung [. . .] – Herabsetzung des Selbstgefühls [. . .].78 Mit der Gegenüberstellung der Texte über die Anerkennung der Weiblichkeit bei Mädchen einerseits und über die Symptome der Melancholie andererseits zeigt Irigaray, daß es sich auch bei der Wendung zur Passivität bei Mädchen nicht um die Bearbeitung eines Objektverlusts handelt, sondern um die depressive Reaktion auf die Entwertung ihres Geschlechts und die Trennung von ihrem ersten Liebesobjekt, der Mutter.79 In diesem Fall benutzt Irigaray einen Text Freuds, um die Unhaltbarkeit seiner Aussagen über die Herstellung von Weiblichkeit an anderer Stelle aufzuzeigen. Durch das Ineinanderweben der Texte wird die Kritik offensichtlich. An anderer Stelle zeigt Irigaray allein durch die Aneinanderreihung von Texten bzw. von Textzitaten die Absurdität und Unhaltbarkeit der Aussagen: Im zweiten Teil von Speculum reiht sie im Abschnitt Aus dem Index der Werke Platons: Die Frau80 zehn Seiten lang Zitate aus Platons alphabetisch geordneten Werken aneinander, ohne diese Sammlung zu kommentieren. Was zunächst recht abstrus und redundant wirkt, führt jedoch eindringlich die selbstverständliche misogyne Einstellung von Platon und der griechischen Gesellschaft seiner Zeit vor Augen. Diese galt sowohl für das Menschenbild im allgemeinen, als auch für jeden Lebensbereich im einzelnen. 3.2.1.2 Übernahme von Rollenzuschreibungen als mimetische Technik Eine weitere Funktion des mimetischen Spiels ist es, den Ort ihrer [sc. der weiblichen] Ausbeutung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf reduzieren zu lassen81
und damit zu einer kritischen Diagnose der gesellschaftlichen Realität zu gelangen. Durch die bewußte Wiederholung der Texte und die Übernahme der Rollen, die z.B. Freud der Frau zuschreibt, wird deutlich, in welchem Rahmen und unter welchen Zwängen sich Frauen zu dieser Zeit bewegen 78
Irigaray: Speculum. 82f. Vgl. dazu auch Constanze Thierfelder: Gottes-Repräsentanz. Kritische Interpretation des religionspsychoanalytischen Ansatzes von Ana-Maria Rizzuto. Stuttgart 1998, 68–72, in dem ich in Bezug auf Freuds entwicklungspsychologische Annahmen und die Entstehung des Gefühls der Kastration zu ähnlichen Fragestellungen mit etwas anderen Antworten gekommen bin. 80 Vgl. Irigaray: Speculum. 193–202. 81 Irigaray: Macht des Diskurses. 78. 79
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mußten. Auf diese Weise wird die inhärente Logik auch von unbewußten „Entscheidungen“ offensichtlich, die Frauen damals trafen. Irigaray zitiert Freud und kommentiert ihn gleichzeitig: „Hingegen kann ich es nicht unterlassen, einen Eindruck zu erwähnen, den man immer wieder in der analytischen Tätigkeit empfängt. [. . .] Eine Frau um die gleiche Lebenszeit – dreißig Jahre also – erschreckt uns häufig [immer noch?] durch ihre psychische Starrheit und Unveränderlichkeit.“ Hat sie sich der unauffälligen Arbeit des Todes, der Todestriebe angeglichen und ist im übrigen erstarrt in der Repräsentation der „Weiblichkeit“, die ihr vorgeschrieben ist? Ein Fetisch, dessen Totemschönheit eine hart erworbene sexuelle Indifferenz spiegelt? „Ihre Libido hat endgültige Positionen eingenommen und scheint unfähig, sie gegen andere zu verlassen.“ Ihre Libido? Was heißt das? Es gibt keine „weibliche Libido“. Aber vielleicht haben die Unterdrückung, die Zensur und die darauf folgende Hemmung dieser Libido ihre Ausübung bis zu einem gewissen Grade versperrt, daß die Frau nicht mehr über genügend Energie verfügt, um ihre psychische Verfassung zu ändern? Zumal sie ökonomisch, sozial und kulturell determiniert ist.82
Freuds Analyse der Situation von einer dreißigjährigen Frau ist nach Irigaray durchaus korrekt – solange man sie als Ausdruck einer gesellschaftlichen Situation sieht und nicht als biologisch bedingtes Naturgesetz, das zudem noch in geheimnisvoller Dunkelheit liegt und bis jetzt nur von den Dichtern ergründet wurde.83 Indem Irigaray einerseits zitiert, andererseits in ihren Einwürfen auf die Zeit-, Kultur- und Sozialbedingtheit von Freuds Aussagen hinweist, nimmt sie dem Text seine „Unantastbarkeit“, ermöglicht den Leserinnen und Lesern, in Distanz zum Originaltext zu treten, und eröffnet auf diese Weise die Möglichkeit zur differenzierten Kritik. 3.2.2 Kritik psychoanalytischer Grundannahmen durch das mimetische Spiel Die zweite Funktion der Mimesis ist es, zu zeigen, daß die Psychoanalyse nicht nur in Bezug auf ihre inhaltlichen Thesen zur weiblichen Entwicklung und Sexualität eine einseitige und damit beschränkte Sicht darstellt, sondern 82
Irigaray: Speculum. 162f. Die Zitate entnimmt Irigaray aus Sigmund Freud (1933): Die Weiblichkeit. Neue Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, StA Bd. I, 544–565, 564, ohne jedoch auf den Fundort zu verweisen. 83 Vgl. Freuds Schlußabschnitt in Die Weiblichkeit. 565. Irigaray zitiert diesen Abschnitt in Speculum, 165, als Abschluß ihres Teils über Freud. Auch hier gibt Irigaray die Herkunft des Zitats nicht an.
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daß auch grundlegende Theorien, Axiome und Symbolgeschichten durch den patriarchalen Blick und seine Prämissen bedingt und eingeschränkt sind. Besonders deutlich wird dies bei der Vorstellung des Ödipuskomplexes und bei der Vorstellung des Todestriebs. Im Blick auf die „Kastrationsangst des Jungen“ und das „Gefühl der Kastration beim Mädchen“, das von Freud postuliert wird, zeigt Irigaray, daß der erschrockene Blick des Jungen zur Schwester oder zur Mutter und ihrem Mangel von Freud zu einer Theorie ausgebaut wird, die vorgibt, allgemeingültig zu sein. Die Reaktion des Jungen wird auf das Mädchen und die Frau übertragen, und ihnen wird Mangelhaftigkeit und Neid unterstellt. Diesem erschrockenen Blick des Jungen, der den Mangel registriert, werden keine weiteren Erfahrungen und Beobachtungen hinzugefügt, z.B. daß der Bauch der Mutter die Macht hat, Kinder hervorzubringen oder die Brüste der Mutter ein Kind nähren können. Statt der Andersartigkeit und dem Staunen über die Differenz wird das andere Geschlecht als mangelhaft definiert. Auf dem einen erschrockenen Blick des Jungen wird die gesamte Theorie des Kastrationskomplexes und des Penisneids für das Mädchen und die Frau aufgebaut. Irigaray fragt sich, wie es dazu kommen kann: Aber befragen wir doch Freud, in Freudschen Termini, und untersuchen wir, unter anderem, sein Verhältnis zu der Vaterfunktion, also zu der Handhabung, insbesondere zur psychoanalytischen Handhabung des Gesetzes der Kastration. Warum diese Angst, dieser Horror, diese Phobie vor dem Nichts-zu-Sehen, dem Nichts-zu-Sehen-zu-Haben, das seine Libido-Ökonomie bedroht? Man muß bei dieser Gelegenheit wohl daran erinnern, daß in dem soeben von Freud beschriebenen Szenario der Kastration der schreckerfüllte Blick des kleinen Jungen dem des kleinen Mädchens vorausgeht.84
Noch eindrücklicher wird die Verschränkung von psychoanalytischer Theoriebildung im allgemeinen und deren impliziten, unbewußten Prämissen über die Frau bei Freuds Konzeption des Todestriebs. Irigaray macht durch das Verflechten verschiedener Textteile deutlich, daß Freuds Konzeption des Todestriebs und der Möglichkeiten seiner Bearbeitung keineswegs geschlechtsneutral ist. Vielmehr wird der Sexualtrieb mit seiner aggressiv-destruktiven Tendenz eindeutig dem Mann zugeordnet, ohne daß Freud dies explizit benennt.85 Wenn er davon ausgeht, daß im Geschlechtsverkehr der Todestrieb so umgewandelt wird, daß die „Herabsetzung, Konstanterhal84 85
Irigaray: Speculum. 60. Sigmund Freud (1920): Jenseits des Lustprinzips. StA Bd. III, 213–272, 262f.
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tung, Aufhebung der inneren Reizspannung“86 gelingt, dann ist diese Umwandlung nach Irigaray eindeutig das Verdienst der Frau: Wenn die Dinge so sind, wagen wir die Hypothese, daß um in Begriffen der psychoanalytischen Theorie zu sprechen, die Bearbeitung der Todestriebe dem Mann vorbehalten bleibt, [. . .] der Frau aber unmöglich, verboten ist. Sie steht „im Dienst“ der Arbeit der Todestriebe. Des Mannes. Also fungiert sie als Unterpfand der „vollkommenen Aufhebung der Spannungen“ durch die Unterdrückung – Pazifizierung, Passivierung – ihrer Triebe, als Versprechen des Abklingens der Libido durch „freibewegliche Energieabfuhr“ im Koitus, so wie sie als „Gattin“ dazu verurteilt ist, die Homöostase, die „Konstanz“ aufrechtzuerhalten. Als Garant für die „Bindung“ der Triebe in der Ehe und durch die Ehe. Sie wird auch der angeblich mütterliche Ort sein, an dem man den Wiederholungszwang, die Wiederherstellung einer vorangegangenen Ökonomie, die Regression ins Unendliche der Lust ausagieren kann, bis zum bewußtlosen Schlaf, zur Lethargie. Doch gleichzeitig muß sie den Organismus bewahren, regenerieren und verjüngen, durch die geschlechtliche Reproduktion. Kurz, sie ist insgesamt dazu bestimmt, Leben zu spenden, Lebensspenderin und Ressource für das Leben zu sein, die wiederherstellende nährende Mutter zu sein, die die Arbeit des Todes hinausschiebt, weil sie die Grundlage für diese Arbeit ist: Umweg des Todes durch das wiederbelebende, Leben spendende Weiblich-Mütterliche.87
Das mimetische Spiel, die Wiederholung, dient in diesem Fall dazu, implizite geschlechtliche Konnotationen aufzudecken, die Freud voraussetzt, aber nicht nennt. Nur dann wird deutlich, daß die Mechanismen, die Freud beschreibt, auf einer bestimmten geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung basieren. Selbst diese relativ abstrakten Triebtheorien spiegeln die gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Frauen und Männer wider. 3.2.3 Mimetische Diagnose und Kritik als Ausgangspunkt für neue Bilder und Symbole Eine dritte Funktion der Mimetik ist es, diese in Kritik und Diagnose aufgezeigten Verhältnisse ins Schwingen zu bringen und die Reproduktion zu benutzen, um Veränderung zu bewirken. Diese dritte Funktion, in der sich Reproduktion und Produktion vermischen, ähnelt stark der psychoanalytischen Technik der freien Assoziation. 86 87
Freud: Jenseits des Lustprinzips. 264. Irigaray: Speculum. 65f.
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Schon Freud ging in seinem Werk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten davon aus, daß die Sprache zumal im Witz und in sprachlichen Fehlleistungen Ausdruck des Unbewußten ist.88 Lacans Weiterentwicklung der Psychoanalyse bewegt sich nahezu ausschließlich im Universum der Sprache und arbeitet mit Assoziationsketten, der Deutung von Metaphern, Metonymien und sprachlichen Fehlleistungen, um zum symbolischen Bereich der Sprache, d.h. der „parole pleine“ durchzudringen. Irigaray benutzt nun diese psychoanalytische Methode im Umgang mit der Sprache, die sie von Lacan übernommen hat, um psychoanalytische und philosophische Texte auf ihren unbewußten Gehalt hin zu untersuchen. Mit der mimetischen Praxis steigt sie in sprachliche Bilder hinein und erkundet sie von innen heraus. Im folgenden Beispiel zitiert sie ein Bild von Freud, das dieser von Lou Andreas-Salomé übernommen hat, und befragt es intensiv: Tatsächlich ist das später erwachsende Interesse an der Vagina hauptsächlich [. . .] analerotischer Herkunft [. . .]. Es ist nicht verwunderlich, denn die Vagina selbst ist nach einem guten Wort von Lou AndreasSalomé dem Enddarm „abgemietet“. Man sollte hier weiterfragen [schlägt Irigaray vor, Anm. der Verfasserin]: nach den Vertragspartnern, nach dem Preis, der für diese Vermietung bezahlt wird, wer die Lasten dieser Miete trägt, nach dem vorgesehen Zeitpunkt der Lust, etc. 89
Mit der Methode der Mimetik nimmt Irigaray die Metaphern ernster als Freud und führt damit konsequent durch, was Freud und Lacan im Hinblick auf die Sprache und ihre Beziehung zum Unbewußten vertreten haben. Im gesamten dritten Teil von Speculum befaßt sich Irigaray mit dem Höhlengleichnis von Platon,90 das sie mit dem Bild der Hystéra, der Gebärmutter, parallelisiert. Sie leitet ihr Vorhaben folgendermaßen ein: 88
Vgl. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. 149–168. Irigaray: Speculum. 92, vgl. auch Sigmund Freud (1933): Angst und Triebleben. StA Bd. I, 517–534, 543. 90 Platon: Der Staat. In: Wilhelm Nestle (Hg.): Platon. Hauptwerke. Stuttgart 1973, 151– 254. Im Höhlengleichnis (205–212), das Platon benutzt, um den Weg von minderen Erkenntnisstufen zu der normsetzenden höchsten Erkenntnis der Idee des Guten zu beschreiben, skizziert Platon ein Bild von Menschen, die in einer unterirdischen Höhle so gefesselt sind, daß sie nicht zum Höhleneingang blicken können, sondern nur ein Feuer als Lichtquelle im Rücken haben. Vor diesem Feuer werden Gegenstände hin- und her getragen, so daß die Gefesselten nur die Schatten davon an der Wand vor ihnen erkennen können. Sie werden diese für die Realität halten und würden in Verwirrung geraten, wenn sie losgemacht würden und die realen Gegenstände betrachten könnten. Wenn einer aus der Höhle an das Sonnenlicht käme, könnte er zunächst nichts sehen und würde die Nacht dem Tag und das Spiegelbild der Sonne im Wasser dem direkten Anblick der Sonne vorziehen. Trotz allem würde er sich gegenüber den Menschen, die in der Höhle geblieben sind, privilegiert fühlen 89
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Zum Beispiel, oder in beispielhafter Weise, könnte man beim Höhlengleichnis wieder anfangen. Um es diesmal als Metapher zu lesen, die – strenggenommen – undurchführbar ist, wie man im Text sehen wird –, als Metapher für die Höhle oder die Matrix oder hystéra, manchmal – für die Erde. Als Versuch der Metaphorisierung, als Prozeß der Umdeutung, der stillschweigend die abendländische Metaphysik vorschreibt, aber auf nachdrückliche Weise das, was (sich als) ihre eigentliche Bestimmung ankündigt, ihre Vollendung, ihre Interpretation.91
Das Höhlengleichnis nimmt bei Irigaray einen zentralen Platz ein, weil in ihm die Vorstellungen von der Frau, von ihrer Geschlechtlichkeit, von den Projektionen und Ängsten, die sie auslöst, aber auch die gesamte Metaphysik und Erkenntnistheorie des Abendlandes im Bild festgehalten sind: Sie [die Menschen, Anm. d. Verfasserin] sind von Anfang an Gefangene dieses Projekts oder Prozesses der Verschiebung, Verlagerung, Übertragung, Metamorphorisierung der hystéra. Das Vorher wird ins Nachher verlegt, der Ursprung ins Ziel, in den Horizont, ins télos, das niemals vorstellbar ist, selbst aber alle schon bekannten oder gekennzeichneten Vorstellungen verursacht, produziert und ermöglicht und das die Gefangenen durch die unaufhörliche Wiederholung der immer gleichen Arbeit der Projektion verstrickt und einkreist: eine Aufgabe, die unerfüllbar, zumindest niemals zu erfüllen ist.92
Irigaray deutet die verschiedenen Elemente des Höhlengleichnisses aus: Die Menschen sind Gefangene, gefesselt mit dem Rücken zum Ausgang. In ihrem Rücken ist eine Lichtquelle, ein Feuer, „nach dem Bild der Sonne“. Es gibt einen Weg nach Außen, der leicht ansteigt. Im Inneren der Höhle ist eine kleine Mauer, ein Hymen,93 ein Diaphragma.94 Gleichzeitig fragt Irigaray nach, warum die Menschen, die in dieser Höhle sitzen, nicht in einen Dialog eintreten und zusammen reflektieren, was mit ihnen geschieht. Sie beantwortet ihre eigene Frage damit, daß nur bestimmte Menschen, die männlichen, in Platons Dialogen sprechen; andere schweigen.95 und sich mit ihren Konkurrenzkämpfen, ihren Vorstellungen und Werten nicht mehr identifizieren können. Und wenn dieser doch wieder hinunterginge und seinen Platz einnehmen würde, könnte er schlechter als die anderen die Schatten sehen, würde von ihnen ausgelacht werden und gesagt bekommen, es lohne sich ja gar nicht, nach oben zu gehen. 91 Irigaray: Speculum. 303. 92 Irigaray: Speculum. 305f. 93 Irigaray: Speculum. 311. 94 Irigaray: Speculum. 317. 95 Vgl. Irigaray: Speculum. 322f. Die Menschen, die in der Höhle sitzen, die nicht reden und das, was ihnen vorgespielt wird, für die Realität halten, müssen demnach Frauen sein. Platon und sein Dialogpartner, dem er das Höhlengleichnis erzählt, kennen dagegen die ganze Wirklichkeit.
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Dann beginnt Irigaray dieses Bild, das sie vor sich hat, zu verändern und neue Elemente, neue Instrumente einzuführen. Sie geht von der Reproduktion von Bildern zur Produktion von neuen Bildern und Symbolen über. Sie beläßt auch diesen neuen Symbolen einen großen Spielraum an Interpretationsmöglichkeiten. Zunächst führt sie das Bild des Spiegels ein und macht aus der Höhle ein Spiegelkabinett. Dann nimmt sie den Spiegel Speculum als ein Untersuchungsinstrument zur Hand, das gerade in den 70er Jahren einen Kultstatus in der Frauenbewegung hatte, weil es die Selbstuntersuchung, das Selbst-Sehen ermöglichte. Die Höhle nun ist selbst und in sich selbst ein Speculum. Höhle der Reflexion. Glänzend uns spiegelnd spiegelt sie die Nachbilder der Derivate des Seins. Durch sie wird der Schauplatz der Repräsentation der Vorstellung, wird die Welt in der Vorstellung, vergrößert, erweitert, geschickt genutzt. Durch die bloße Einführung des Speculums in Mulden, Sphären, Kreise, Kammern, abgeschlossene Räume. Natürlich ein abortativer Eingriff. Allein die Reflexion reicht aus, um weitere Aborte hervorzurufen.96
Der Spiegel nimmt zudem den Begriff der Spiegelphase von Lacan auf. In seinem oben genannten Aufsatz Das Spiegelstadium aus dem Jahr 1949 beschreibt dieser, wie ein Kind durch den Blick in den Spiegel den Eindruck erhält, es könne dieses Bild schon selbst erzeugen. In der Realität ist das Kind jedoch auf das Gespiegelt-Werden durch die Mutter, d.h. auf ihren liebevollen Blick angewiesen. Die Mutter hält für das Kind und anstelle des Kindes diese Gesamtrepräsentanz aufrecht, bis das Kind dieses Bild selbst entwickeln kann.97 Diese Assoziationskette von Spiegel, Spekulation, Täuschung, Verblendung und haltendem Blick der Mutter stellt Irigaray im Blick auf das Höhlengleichnis – immer aus der Perspektive des männlichen Kindes – folgendermaßen dar: Vom Funkeln der fein zerstäubten Spiegel-Folie. Uneinlösbare Bürgschaft des Spiels – des Lichts –, die die Konfiguration und die ihr entsprechende Täuschung davor bewahrten, von ihrer Richtung abzukommen. Rettender Anker des Ursprungs. Der durch seine photologische Metaphorizität den Zyklus der phallischen Szenographie in einer unreflektierten Verblendung festigt und umschließt. In dessen Umkreis alles den blind machenden Betrug unterstützen wird.98 96
Irigaray: Speculum. 319. Vgl. auch Donald W. Winnicott: Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung. In: Ders. (1971): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 8 1995, 128– 135. 98 Irigaray: Speculum. 320. 97
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Durch das mimetische Spiel mit Platons Höhlengleichnis nimmt Irigaray die Vorstellung aufs Korn, daß es die Funktion der Mutter ist, dem Sohn als bewußtloser Spiegel, dem Mann als rezeptive Matrix, die sich an nichts erinnert, zu dienen. Desgleichen scheint bereits geklärt, daß das Verhältnis der Mutter zur Spiegelung nicht diskutiert werden muß. Obwohl es eben dieser Spiegel ist, der ohne Gedächtnis, ohne Erinnerung an irgendwelche Spuren, Eindrücke das Bild dessen re-präsentiert, der sich vor ihm präsentiert. Ebenso trug man Sorge, daß er geebnet „bis zur möglichsten Glätte“ [. . .] sei, damit er alle Gestalten ohne Verzerrung, die er seiner eigenen Natur verdankt, reflektiere. Hat er doch, im seinem Verhältnis zum Intelligiblen, keine andere Funktion als die der Bestimmung dadurch, daß er sich aus diesem Prozeß aller spezifischen Charakterisierung heraushält.99
Da die Mutter in ihrer Funktion als Spiegel gleichzeitig gebraucht und gefürchtet wird, muß sie auf ihre Funktion reduziert und als bewußtlos betrachtet werden. Aber auch dies genügt noch nicht, um die Gefahr zu bannen, die die Mutter und die spiegelnde Höhle repräsentieren. Sie muß nicht nur unbewußt gehalten, sondern auch noch negiert werden. Ihr Anteil an dem Werden des Sohnes und an der Stabilisierung des Mannes darf nicht ins Bewußtsein treten. Das Vergessen des Werdens der Idee ist erforderlich: durch Verkennung des Prozesses ihrer Einschreibung, durch Verdeckung des Spiegels, der sie immer schon reflektiert hat. Es ist nicht nötig – absolut nicht –, daß man weiß, daß sich die Erzeugung des „Sohnes“, des Logos, durch den Vater einer Verkehrung verdankt, noch daß die Mutter der Ort ist, wo sie sich vollzieht. Daß sie es ist, die sie durch und in ihrer „Unbewußtheit“ unterhält. Die Mutter, glücklicherweise, ist ohne Erinnerung. Jedem (neuen) Projekt unterworfen, blind gegenüber allen (neuen) Projektionen – ein Bild-Schirm, der ihrer schnellen Vermehrung dient.100
So ist das ganze System des patriarchalen Denkens, das Irigaray hier vorstellt, nicht nur durch die Mutter bedroht, sondern auch durch die Wahrnehmung des Sohnes, durch seine enthüllenden Fragen nach seinem Ursprung und danach, wem er sich wirklich verdankt. Diese Fragen würden das System in seiner vorgetäuschten Einheitlichkeit und Allgemeingültigkeit in Frage stellen und damit letztlich zum Einsturz bringen. 99 100
Irigaray: Speculum. 390. Irigaray: Speculum. 393.
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3.3 Das Gebot der Einheit Irigarays Kritik kulminiert in der These, daß die grundlegende Annahme des patriarchalen Denksystems das Gebot der Einheit ist. Obwohl die Normativität „des Einen“ in Speculum die ganze Zeit präsent ist, befaßt sich Irigaray erst im letzten Kapitel mit dem impliziten Verbot, daß es etwas anderes gibt als „die Eins“101 , als das Eine, das alles umfaßt. Sie benutzt Bilder aus der Mathematik um zu zeigen, daß „das Eine“ jegliche Unterschiedlichkeit und Zweiheit auffrißt, weil „die Zwei“ durch ihre Möglichkeit der Reproduktion das Chaos in sich birgt und dieses von ihr freigesetzt werden kann. Das Doppelte reproduziert unbegrenzt, obschon ohne Ordnung und durcheinander, wenn ihm die Eins – das E IN E – nicht in jedem Augenblick die Wirkung ihres Begriffs aufzwingt. Und wenn es der Gleichheit untergeordnet ist, damit es das Mehr und das Weniger, um das es geht, erzeugt – und auch dessen Abweichungen –, dann bläht es sich ins Unendliche auf. Aber als Selbes: die E INS der I DEE, die E INS ist. Eine Ausdehnung, die jede Progression, jede Regression und auch die leeren Zwischenräume in ihre unvergängliche Größe aufnimmt. Was also ist es, das all diese Substanzen und Kräfte enthält, jetzt schon und seit immer, seit ewigen Zeiten? Und was diese Substanzen und Kräfte in einer Rangordnung übertrifft, die diese als solche erst erzeugt und ihre Verbindungen ordnet? Es ist das G UTE (von) G OTT – (dem) – VATER.102
Irigaray sieht diese Gefahr der Dominanz und Hierarchisierung in allen Systemen, die sich auf eine Idee oder eine Repräsentanz – wie z.B. bei Platon auf „das Gute“ – hinbewegen oder daraufhin zuspitzen und von dort her ihren Sinn und ihre Struktur erhalten. Auch bei Lacan wird das ganze Denksystem von dem einen Gesetz, dem Gesetz des Vaters, garantiert und durch ein Symbol, den Phallus, repräsentiert. Dieser ist ein Absolutes, das nichts neben sich gelten läßt. Alles andere, was diese Einheit auseinander und durcheinander bringen könnte – z.B. die Frauen, die nach Irigaray schon in ihrer Körpersymbolik die Spaltung und die Leere repräsentieren –, darf mit diesem Einen, dem Absoluten, nicht in Berührung kommen. Die Mathematik und alles, was mit der grundsätzlichen Erfassung des Systems zu tun hat, muß eine männliche Domäne bleiben. Wenn es Teilungen gibt, so müssen sie immer auf das Eine, auf die Einheitlichkeit bezogen bleiben bzw. in dem Einen aufgehoben sein, damit nicht das Chaos ausbricht. 101
‚Die Eins‘ ist die Übersetzung von ‚l’Un‘; vgl. Irigaray: Speculum. 451 und öfter. Der maskuline Charakter von l’Un im Französischen läßt sich nicht ins Deutsche übertragen. 102 Irigaray: Speculum. 458.
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Das, was trennt, teilt, spaltet, muß vor dem anderen, dem „Weiblichen“ bewahrt bleiben. Sonst wüßten weder die Mathematik noch die Dialektik, woran sie sind. Sie würden sich in Unterschieden verlieren, die sich nicht in zwei auflösen, analysieren könnten, weil diese keine Beziehung zum SELBEN hätten. Auch die spaltbreite Öffnung eines Zwischenraums – eines Zeit-Raumes –, der heterogen zu ihm ist, muß ihre Ränder, ihre Lippen sofort, wie übrigens schon immer, wieder schließen über dem, was gemäß den Funktionieren des Logos selbst als unvergleichbar, als unerreichbar erscheinen müßte.103
In diesem Abschnitt, fünf Seiten vor dem Ende ihres Buches, deutet sich eine Veränderung in Irigarays Methodik an. Bis dahin kritisierte sie mit und durch ihre mimetische Taktik, d.h. durch die Wiederholung und das Spielen mit den Bildern von Philosophen und Psychoanalytikern, die symbolische Ordnung des Patriarchats, in der sich Frauen nur durch und über die Beziehung zum Phallus definieren und lokalisieren können. Über die Mimetik hinausgehend beginnt Irigaray an dieser Stelle eine neue Symbolik zu entwickeln, die sie in späteren Aufsätzen weiter ausführen wird. 3.4 Affirmationen der Frau: Das Geschlecht, das nicht eins ist Bilder, die in „Speculum“ nur in der negierten Form vorkamen, werden in ihrem Buch Das Geschlecht, das nicht eins ist zu zentralen Bedeutungsträgern. Diese Bilder – z.B. die Lippen, die Ränder, der Zwischenraum – entlehnt sie der weiblichen Morphologie und deutet sie in poetischer Form in alle Richtungen aus.104 Der Titel dieses Buches bezieht sich einerseits zurück auf Lacan, der die Frau nicht als Kategorie, sondern als Ausgeschlossene und Abwesende definiert. Gleichzeitig besagt der Titel, daß die Frauen die Identitätsdefinitionen des Patriarchats, die ihnen gelten, ablehnen. Weiterhin enthält der Titel eine Selbstdefinition, die sich nicht in eine polare Begriffsbestimmung von Andersheit gießen läßt, sondern selbstbewußt eine pluralistische Vorstellung von weiblicher Subjektivität zeichnet: Sie ist weder eine noch zwei. Bei aller Anstrengung kann sie nicht als eine Person, noch auch als zwei bestimmt werden. Sie widersteht jeder adäquaten Definition. Sie hat darüber hinaus keinen „Eigen“-Namen. Und ihr Geschlecht, das nicht ein Geschlecht ist, wird als kein Geschlecht gezählt. Als Negativ, Gegenteil, Kehrseite dessen, das einzig 103
Irigaray: Speculum. 459. Vgl. Luce Irigaray: Wenn unsere Lippen sich sprechen. In: Dies.: Das Geschlecht, das nicht eins ist. 211–224. Vgl. dazu auch Irigarays Aufsatz: Die „Mechanik“ des Flüssigen, in dem sie sich mit Lacans Mechanik des Festen und seiner Meta-Physik des Phallus auseinandersetzt. 104
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sichtbare und morphologisch bezeichenbare [. . .] Geschlecht zu besitzen: den Penis.105
Für den Entwurf einer neuen symbolischen Ordnung benutzt Irigaray das Bild von den Lippen, die sich begegnen. Sie entwirft ein neues Deutungsmuster, eine Form von Signifikanten, von dem sie gleichzeitig weiß und sagt, das es nicht existiert: Das Geschlecht, das sich nicht sehen läßt, hat ebensowenig eine eigene Form. Und wenn die Frau gerade durch diese Unvollkommenheit der Form ihres Geschlechts genießt, die bewirkt, daß sie unaufhörlich und auf unbestimmte Weise sich berührt, so wird dieser Genuß durch eine Zivilisation verleugnet, die den Phallomorphismus privilegiert. Der der einzig definierbaren Form entsprechende Wert blockiert jenen, der in der weiblichen Auto-Erotik im Spiel ist.106
Die Autoerotik der Lippen wird zum Bild für die Subjektivität der Frau, die der Mann zerstört und zerstören muß, indem er die Frau für sich instrumentalisiert. Die Andere jenseits des Einen kann nicht als Andere intakt und geachtet bleiben, sondern muß zur Komplettierung des eigenen Lustempfindens vereinnahmt werden. Die Symbolik der weiblichen Morphologie ergänzt Irigaray durch den Bezug auf die Vielfältigkeit der weiblichen Jouissance, auf die polymorphe Sexualität der Frau, die ein völlig anders Bild bietet als die einheitliche phallozentrische Ordnung des Patriarchats: Nun, die Frau hat bald da, bald dort Geschlechtsteile. Sie genießt bald da, bald dort. Selbst ohne von der Hysterisierung ihres ganzen Körpers zu sprechen, ist die Geographie ihrer Lust abwechslungsreicher, vielfältiger in ihren Differenzen, komplexer, subtiler als man es imaginiert [. . .] in einem Imaginären, das allzu sehr auf das Gleiche zentriert ist.107
Irigaray benutzt hier die Symbolik des polymorphen weiblichen Lustempfindens, um zu zeigen, daß es ihr nicht darum geht, der einen patriarchalen Ordnung eine andere, die weibliche gegenüberzustellen, sondern darum, statt einer Einheitlichkeit eine Vielfältigkeit von Signifikanten und symbolischen Ordnungen zu denken. Weiterhin weisen die Bilder von der vielgestaltigen weiblichen Sexualität und von den Lippen, die immer schon zwei sind, den 105
Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist. In: Dies.: Das Geschlecht, das nicht eins ist. 22–32, im folgenden zitiert unter Das Geschlecht (Aufsatz), 25. 106 Irigaray: Das Geschlecht (Aufsatz). 25. 107 Irigaray: Das Geschlecht (Aufsatz). 28, vgl. auch Irigaray: Wenn unsere Lippen. Bes. 216 und 220.
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Versuch zurück, die Frau auf ein einziges Bild zur reduzieren. Stattdessen wird damit auf die weibliche Vielfalt und Differenz hingewiesen. In dem Aufsatz Die „Mechanik“ des Flüssigen dekliniert Irigaray an Hand der morphologischen Unterschiede zwischen weiblichem und männlichen Körper das patriarchale Wissenschaftsverständnis. In der Kritik steht vor allem Lacan, den sie hier, anders als in Speculum, auch namentlich anspricht. Weiterhin verhandelt und kritisiert Irigaray implizit Aristoteles’ Unterscheidung zwischen der Materie, die weiblich konnotiert ist, und der Form, die er ausdrücklich männlich denkt: Und wie wäre es vermeidbar, daß das Unbewußte (des) „Subjekt(s)“, selbst als solches aufgeschoben, sogar reduziert wird in seiner Interpretation durch eine Systematik, die eine historische „Unaufmerksamkeit“ gegenüber dem Flüssigen remarkiert? Anders gesagt: Welche Strukturierung der Sprache, welche sprachliche Strukturierung unterhält nicht seit langem eine Komplizenschaft zwischen der Rationalität und einer Mechanik des nur Festen?108
Irigaray weist also auf die Verbindung zwischen Denkstrukturen von spezifischer Rationalität und den dazugehörigen Sprachstrukturen hin. Sie plädiert für eine Verflüssigung der Sprache, jenseits der einen feststehenden Ordnung. In diesem Zusammenhang gibt sie eine Leseanweisung zu ihrem Umgang mit Sprache und mit Bildern und antizipiert eine mögliche Kritik: Falls man einwendet, daß die so gestellte Frage sich allzu sehr auf Metaphern stützt, kann darauf leicht erwidert werden, daß sie vielmehr das Privileg der (quasi festen) Metapher über die Metonymie (die viel eher Anteil am Flüssigen hat) verwirft. Oder – lassen wir die Sanktion des Wahrhaftigen dieser „Kategorien“ und „dichotomen Oppositionen“ metalinguistischer Natur vorerst beiseite – daß in jedem Fall die Sprache (auch) „metaphorisch“ [. . .] ist und daß sie, um sich zu entziehen, das „Subjekt“ des Unbewußten verkennt und verweigert, sich zu befragen bezüglich seiner heute noch aktuellen Unterordung unter eine Symbolisierung, die sich mit dem Vorrang des Festen in Einklang befindet.109
3.5 Subjekt und Differenz: Irigaray in der Kritik Irigarays radikaler und provokativer Ansatz blieb nicht unwidersprochen. Im französischsprachigen Raum kam die Kritik zunächst vor allem aus dem Kreis um Simone de Beauvoir. Monique Plaza wirft Irigaray schon 1977 108 109
Irigaray: Die „Mechanik“ des Flüssigen. 111. Irigaray: Die „Mechanik“ des Flüssigen. 114.
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vor, ein essentialistisches Verständnis der Frau zu vertreten: Deren Ansatz postuliere, daß die Kategorie „Frau“ als bisher unbekannte und unaufgebbare Wesenheit bestünde und daß das weibliche Wesen der Frau nur außerhalb der unterdrückenden gesellschaftlichen Ordnung, d.h. im Körper der Frau entdeckt werden kann.110 Für den englischsprachigen Raum faßt Elaine Graham die Kritik an Irigaray folgendermaßen zusammen: Many Anglo-Saxon feminists read her work as either espousing a form of psychic essentialism with distinct and separate male and female libidos, grounded irrevocably in different kinds of bodies, or as reverting to a biologically deterministic account of femininity.111
Bekannt wurde auch die anti-essentialistische Kritik von Toril Moi: [Irigaray] falls for the temptation to produce her own positive theory of femininity. But as we have seen, to define “woman” is necessary to essentialize her.112
Auch diejenigen, die Irigarays Ansatz für anregend und weiterführend halten, sehen die Notwendigkeit, ihre Theorien zu diskutieren und zu hinterfragen. Naomi Schor als Anhängerin von Irigaray weist jedoch darauf hin, daß der Vorwurf des Essentialismus ein buntes Konglomerat von Vorwürfen beinhaltet, die Stück für Stück untersucht werden müssen, statt daß mit einem pauschalen Essentialismusvorwurf Irigarays Ansatz insgesamt diskreditiert wird. In ihrem Aufsatz This essentialism which is not one differenziert Schor vier verschiedene Arten, Irigaray Essentialismus vorzuwerfen.113 • Der Essentialismusvorwurf aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich läßt sich am besten durch den Satz Simone de Beauvoirs, der schon zum Allgemeingut geworden ist, charakterisieren: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“114 Nach Simone de Beauvoir arbeitet Irigaray, die die kategoriale Differenz der Frau proklamiert, dem 110
Vgl. Monique Plaza: Phallomorphic Power and the Psychology of Women: A Patriarchal Vicious Circle. Feminist Issues 1980/1, 73; zuerst veröffentlicht in Questions Féministes von 1977, einer Zeitschrift die Simone de Beauvoir mitherausgab. Zitiert nach Naomi Schor: Previous Engagements: The Receptions of Irigaray. In: Burke/Schor/Whitford: Engaging with Irigaray. 2–14, bes. 5f. 111 Graham: Making the Difference. 138. 112 Toril Moi: Sexual/Textual Politics. Feminist Literary Theory. London 1985, 139. 113 Naomi Schor: This Essentialism Which Is Not One. Coming to Grips with Irigaray. In: Burke/Schor/Whitford: Engaging with Irigaray. 57–78, 60–62. 114 Simone de Beauvoir (1949): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek 1990, 335.
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patriarchalen System in die Hände, das Frauen aufgrund ihrer anatomischen Unterschiede benachteiligt. Statt eine kategoriale Differenz zu behaupten, wäre es sinnvoller, für die Gleichberechtigung der Frau zu kämpfen, indem man die vielfältigen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen aufdeckt. • Aus sprachlich-strukturalistischer Perspektive wird Irigaray der Vorwurf des Essentialismus gemacht, weil sie die symbolische Ordnung der Sprache mit der Morphologie des Körpers in Beziehung setzt. Sie verläßt nach Lacanschem Verständnis die Ebene der Symbolisierung und begibt sich in die trügerische Welt des Imaginären, die Lacan der präödipalen Phase zuordnet. Eine angemessene feministische Kritik müßte demnach den Platz der Frau innerhalb der symbolischen Ordnung in Frage stellen. • Die Kritik aus philosophischer Perspektive – hauptsächlich in Anschluß an Derrida – macht Irigaray zum Vorwurf, daß sie mit ihrer Kategorie des weiblichen Anderen gegenüber der patriarchalen symbolischen Ordnung einen metaphysischen Essentialismus proklamiere, der sich erneut auf binäre Formen, auf stabile Identitäten und festgefügte Bedeutungen stütze, statt die Vielfalt der Unterschiede und Bedeutungen in der Sprache zu akzeptieren. • Weiterhin wird Irigaray vorgeworfen, daß sie die Kategorie Frau als Gegensatz zum männlichen Wertesystem entwirft und dabei die Vielfalt realer Unterschiede zwischen Frauen und ihren unterschiedlichen Diskursen außer acht ließe. Irigarays Essentialismus drohe eine neue Form von Universalismus zu produzieren, der gerade verhindere, daß Frauen unterschiedliche und in sich selbst vielfältige Identitäten entdeckten. Mit Schor lassen sich gegen diese Vorwürfe vor allem zwei Einwände erheben. Zum einen schrieb Irigaray ihre Theorie immer mit Bezug auf Simone de Beauvoir und verstand ihr Anliegen als notwendigen zweiten Schritt, der nicht nur die Andersartigkeit der Frau dekonstruierte, sondern die Geschichte ihrer Vereinnahmung und Instrumentalisierung in der patriarchalen Gesellschaft aufdeckte: If exposing the logic of othering – whether it be of Women, Jews, or any other victims of demeaning stereotyping – is a necessary step in achieving equality, exposing the logic of saming is a necessary step in toppling the universal from his/(her) pedestal.115 115
Schor: Essentialism which is not one. 65.
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Der weitere Vorwurf gegenüber Irigaray, sie würde mit ihren Körpermetaphern eine positive Theorie der Weiblichkeit entwerfen, eine Definition „der Frau“ vorgeben und „die Frau“ damit essentialisieren, greift nach Schor zu kurz. Sie sieht in Irigarays Entwicklung von weiblichen Essentialitäten vielmehr eine neue Variante der mimetischen Methode. Das heißt, indem sie die patriarchale Rede von den biologischen Determiniertheiten imitiert und sie spielerisch parodiert und karikiert, gewinnt die Rede von „der Frau“ eine neue Freiheit, eine Freiheit, die sich am besten hinter der Maske alter Begriffe entwickeln kann.116 Die meisten Interpretinnen von Irigaray gehen davon aus, daß Irigarays Verständnis von Differenz als Widerstand gegen festgeschriebene Universalismen nur im Kontext des französischen Dekonstruktivismus verstanden werden kann.117 Wie Burke und Weed118 zeigen, stehen sich vor allem Irigaray und Derrida in ihren Anliegen und in der Durchführung ihres „Programms“ sehr nahe. Auch Derrida stellt die rigide Einheitlichkeit des Lacanschen Systems ins Frage, das nach Lacan durch den Phallus repräsentiert wird. Auch Derrida sieht die Notwendigkeit, diese eine symbolische Ordnung, die er „Phallogozentrismus“ nennt, zu dekonstruieren.119 Mit „Logozentrismus“ beschreibt Derrida die nostalgische Suche der westlichen Philosophie nach einem einheitlichen Ursprung des Seins und des Verstehens. Diesen zentralen Ort der Bedeutung nimmt bei Lacan der Phallus ein, so daß die Wortschöpfung des „Phallogozentrismus“ Derridas Kritik an der westlichen Philosophie und an Lacan zum Ausdruck bringt. Nach Burke entwickeln Derrida und Irigaray ihre Kritik an Lacan in unterschiedlichen Gegen-Erzählungen oder -Fabeln, ohne daß sie damit Realitäten oder Wesenheiten beschreiben wollen: In both cases a fable is offered in opposition to Lacan’s figure of the phallus. Again, in both cases, it is important to note, that terms [sc. fables, Anm. der Verfasserin] [. . .] are being used with an awareness of their limitations as analogies, or as emerging “concepts” resisting the possibility that they will be taken as new master terms. To put it differently, the reader of such texts must be willing not to “believe” in their fables, to let go of them once they have become too useful.120 116
Vgl. Schor: Essentialism which is not one. 67. Vgl. dazu die verschiedenen Aufsätze in dem Sammelband von Burke/Schor/Whitford: Engaging with Irigaray. 118 Vgl. Burke: Through the Looking Glass. 37–56 und Elizabeth Weed: The Question of Style. In: Burke/Schor/Whitford: Engaging with Irigaray. 79–109. 119 Vgl. Jacques Derrida: Eine Frage des Stils. In: Ders.: Sporen. Nietzsches Stile. Venedig 1976, zitiert nach Burke: Through the Looking Glass. 42. 120 Burke: Through the Looking Glass. 44. 117
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Wenn diese enge Beziehung zwischen Derrida und Irigaray vorausgesetzt werden muß und damit Irigarays Methode auch als Dekonstruktivismus begriffen wird, kann die Diskussion über Irigarays Essentialismus in seinen verschiedenen Formen ad acta gelegt werden. Es wird deutlich, daß diese ihre Bilder, Symbole und Fabeln immer strategisch kreiert und benutzt, um das herrschende Sprachsystem und damit die patriarchale Norm zu erschüttern. Beiden, Irigaray und Derrida, ist gemeinsam, daß sie Identität und Differenz als referentielle, relationale und instabile Kategorien verstehen – die immer wieder hinterfragt werden müssen. Graham versteht dieses Anliegen als Kern des Dekonstruktivismus: Deconstructionist philosophies and strategies claim that „equality“ and „difference“ are not absolutes but are themselves constructs. They emerge from human discourse, and exist within a context of power relations and material practice. To attempt to impose absolute and unchangable meaning upon gender relations is to assert an abstraction which returns us to metaphysics. Derrida’s notion of différance121 as something referential, relational, and unstable may therefore be seen as corrective to more categorical understandings in which difference is conceived as an absolute. However, if difference is relational and positional, it may be regarded as in some way generated by human action, material or symbolic.122
Wenn an dieser historischen Gebundenheit und der Kontextualität von Bildern, Fabeln und Geschichten festgehalten wird, ist es möglich, mit Bildern zu spielen und sie strategisch und politisch zu benutzen – auch für das Projekt, daß Frauen an Sprache, Subjektivität und politischem Gewicht gewinnen. Das Festhalten an der Differenz ist damit nicht „der Weisheit letzter Schluß“, sondern eine historisch und kontextuell bedingte Form des Widerstands und eine Strategie gegen die Vereinnahmung in eine symbolische Ordnung, die „der Frau“ keinen Raum zu Selbstdefinition läßt. Essentialism thus becomes just another construct, as unstable and constrained by discourse as any other category. Not all talk of “difference” has to be essentializing. The political and theoretical challenge for feminists is to retrieve and reappropriate difference without, as Simone de Beauvoir terms, becoming “enclosed” in, or by difference [. . .]. As Fuss argues in defence of Irigaray,123 her assertion of an essentialist vision 121
Zur Bedeutung des „a“ in Derridas „différance“ vgl. Heinz Kümmerle: Jacques Derrida. Zur Einführung. Hamburg 5 2000; vor allem Kapitel IV. Das Denken der Differänz (différance). 77–84. 122 Graham: Making the Difference. 185. 123 Vgl. Diana Fuss: Essentially Speaking: Feminism, Nature and Difference. London 1990, 18.
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of woman is a liberatory strategy in the face of Aristotelian philosophy, which has never allowed woman an essence to start with.124
Obwohl der Vorwurf des Essentialismus von verschiedenen Seiten am häufigsten genannt wird, so lassen sich – gerade wenn dieser differenzierter betrachtet wird –, noch weitere Einwände gegen Irigarays Ansatz aus der Zeit von Speculum vorbringen, die vor allem ihr Sprechen vom Körper und ihren Umgang mit den Naturwissenschaften betreffen, die ich aber an dieser Stelle nicht weiter ausführen will, weil sie für meine weitere Arbeit nicht von größerer Relevanz sind.125 3.6 Wahrnehmung von Differenz bei Irigaray Charakterisierend für Irigarays Ansatz ist die Radikalisierung von Differenz. Ihre Strategie ist, die Geschlechterdifferenz kategorial zu überhöhen und damit allen Versuchen, Andersartiges als Ergänzung zu betrachten, es in seiner Andersheit zu relativieren und die Anstößigkeit des Fremden zu verharmlosen, den Boden zu entziehen. Ihre Theorie widersteht allen Versuchen, das Differente zu vereinnahmen und seiner Eigenartigkeit zu berauben. 124
Graham: Making the Difference. 188. In der Diskussion stehen Irigarays Verwendung des Körpers und die Symbole, die an die Morphologie vor allem des weiblichen Körpers angelehnt sind (vgl. Graham: Making the Difference. 139–146). Einerseits ist deutlich, daß Irigaray den Körper und vor allem den weiblichen Körper als Gegenpart zu Lacans sprachlichem Universum ins Feld führt – auch indem sie Freuds doppelte Wahrnehmung des Körpers als sozial geprägten und damit von der Unterdrückung gekennzeichneten Ort einerseits und andererseits als Ort des Widerstands aufnimmt (vgl. dazu die verschiedenen Aufsätze in Mathias Hirsch (Hg.): Der eigene Körper als Symbol. Gießen 2002). Weiterhin benutzt Irigaray auch die Vorstellung von einer unendlichen polymorphen weiblichen Libido als ein ironisches Zitat über die weibliche Sexualität (vgl. bei Jacques Lacan: Aristoteles und Freud: Die andere Befriedigung. In: Lacan: Encore, deutsch. 57–69, Ders.: Gott und das Genießen der Frau. In: Lacan: Encore, deutsch. 71–84). Dennoch bleibt der Körper bei Irigaray seltsam unkonkret und substanzlos. Ihre Körper-Sprache erinnert eher an einen metaphysischen als an einen konkreten Körper, der Reifungsphasen, sozialer Kontrolle, Krankheits- und Alterungsprozessen unterworfen ist. Hier zeigt sich, daß Irigaray die Erlösung des Körpers aus dem Gefängnis der Sprache eher fordert als konkret werden läßt. Sie bleibt dem sprachlichen Universum verhaftet, auch wenn sie vom Körper spricht. Eine weitere, ähnlich zwiespältige Beobachtung macht Naomi Schor: Irigaray setzt sich einerseits kritisch mit den Naturwissenschaften und ihrer Logik auseinander, entwirft aber gleichzeitig eine Metaphysik des Flüssigen, die sie mit naturwissenschaftlichen Theorien absichern will. Mit ihrem Sprach- und Metaphernspiel, in dem sie die Mechanik des Flüssigen gegen die Statik des Festen setzt, übt sie einerseits Kritik an der patriarchalen symbolischen (metaphysischen) Ordnung. Andererseits will sie ihre Kritik genau in dieser naturwissenschaftlichen Ordnung verankern (vgl. Schor: This Essentialism which is not one. 67–73). 125
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Wie ich in diesem Kapitel mehrfach gezeigt habe, muß Irigaray im Kontext dekonstruktivistischer Theorien verstanden werden. Es geht ihr nicht darum, die Kategorie Frau zu essentialisieren, sondern darum zu zeigen, daß alles, was im patriarchalen System als Frau-Sein definiert ist, nicht nur nicht zutrifft, sondern auch jeden Versuch der Frau, Subjekt zu werden, zunichte macht.126 Als Destruktivistin teilt Irigaray vieles an Interessen und an Grundannahmen mit Derrida und Foucault. Mit Derrida verbindet sie die Kritik an Lacan, die Skepsis gegenüber festgefügten Bedeutungen, die Frage nach einem Schreibstil und einer Sprache, die die Logik des patriarchalen Denkens und Schreibens offenlegt und ad absurdum führt. Derrida geht jedoch davon aus, daß die Dekonstruktion der Sprache und ihrer diskursiven Logik die patriarchalen Bedeutungen und Zuschreibungen für „die Frau“ auflöst, so daß von einem quasi neutralen Boden Neues entstehen kann. Dagegen hält Irigaray daran fest, daß es keinen neutralen Boden geben kann, solange nicht neben der Dekonstruktion die Möglichkeit eines Subjekt-Werdens der Frau (mit-) intendiert ist. Whitford beschreibt die Position von Irigaray im Verhältnis zu Derrida folgendermaßen: Speculum fuses, in a remarkable theoretical achievement, the psychoanalytic attention to what is repressed by culture with the Derridean account of the repression required by metaphysics. [. . .] Although, as Derrida’s interpreters point out, the deconstruction of identity does not necessarily mean that we can do without it, [. . .] nonetheless it is true that Derrida aspires to a “beyond” of sexual difference that could well leave women feeling that their interests have been subordinated to philosophy.127 From Irigarays point of view, as I interpret her, Derrida’s work may still be implicated in a patriarchal imaginary economy, in which woman remains the ground or condition of predication, so that although Irigaray may utilize deconstruction as a critical device, her aim is the reorganisation of the symbolic economy.128
Auch Foucault teilt mit Irigaray das Interesse an der Dekonstruktion der herrschenden Diskurse. Beide gehen davon aus, daß Diskurse über die Produktion von Wissen und Macht entscheiden. Doch während Foucault von einer Ökonomie zwischen Eingeschlossenem und Ausgeschlossenem ausgeht, will Irigaray über dieses binäre System hinausgehen. Sie zeigt, daß „das Weibliche“ im patriarchalen System nicht einfach ausgeschlossen ist, 126
Vgl. dazu Butler: Bodies That Matter. 149. Whitford verweist hier auf Rosi Braidotti: Patterns of Difference. Oxford 1991. 128 Margaret Whitford: Reading Irigaray in the Nineties. In: Burke/Schor/Whitford, Engaging with Irigaray. 15–33, 17. 127
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sondern daß es nicht repräsentiert ist. Dort, wo das Weibliche repräsentiert wird, dient diese Pseudo-Repräsentanz dazu, zu verhindern, daß eine weibliches Sein entsteht. Judith Butler zeigt, daß auch Foucaults Ansatz nicht nur keine Rechenschaft ablegt über das, was von der diskursiven Logik des Verstehens ausgeschlossen ist, sondern auch noch mißachtet, was vom System ausgeschlossen werden muß, damit solche ökonomisch selbstreferentiellen Systeme funktionieren.129 Irigarays Antwort auf diesen Ausschluß aus dem System der Repräsentanzen, bzw. der Ausstieg aus dem binären System von Eingeschlossenheit und Ausgeschlossenheit, ist die Praxis der Mimesis, d.h. der Versuch, die Macht der patriarchalen Logik zu destruieren, indem sie das System von innen heraus und aus sich selbst ad absurdum führt und sich der herrschenden diskursiven Logik entzieht. Butler beschreibt diese Technik auf eindrückliche Weise: This is citation, not as enslavement or simple reitineration of the original, but as an insubordination that appears to take place within the very terms of the original, and that calls into question the power of origination that Plato appears to claim for himself.130
Obwohl Butler an Irigaray schätzt, daß diese ihre Aufmerksamkeit auf das Nicht-Repräsentierte richtet, übt sie doch auch Kritik an dieser, weil sie nur das Weibliche zur Sphäre der Nicht-Repräsentierten zählt. In Speculum beruft sich Irigaray auf Platon, um den Ort der Frau als Nicht-Repräsentierte im patriarchalen System aufzuzeigen. Butler weist jedoch darauf hin, daß Platon nicht nur Frauen, sondern auch Sklaven,131 Kinder und Tiere von der Repräsentation im System ausschließt, weil diese nicht zur vernünftigen Sprache fähig seien.132 Wenn ich mit Butler den Kreis der vom System Nicht-Repräsentierten erweitere, verändert sich meine Perspektive. Die Frage nach dem, was nicht nur ausgeschlossen, sondern nicht im System repräsentiert wird, findet keine einfache Antwort mehr. Um das Nicht-Sagbare zum Sprechen zu bringen und das vielleicht nur im Widerstand Sichtbare ansprechen zu können, bedarf es einer Herangehensweise, die der Hermeneutik des Verdachts133 ähnelt, sich aber nicht nur auf Frauen, sondern auch auf andere, vom System 129
Vgl. Butler: Bodies That Matter. 148. Butler: Bodies That Matter. 158. 131 Sklaven gehörten zu den Nicht-Repräsentierten, weil sie meist Fremde und damit auch der griechischen Sprache nicht mächtig waren. 132 Vgl. Butler: Bodies That Matter. 161. 133 Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza (1985): Zu ihrem Gedächtnis. . . Eine feministischtheologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge. München 1988, bes. Kapitel 4–6. 130
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nicht Repräsentierte bezieht. Um das vom Diskurs ausgeschlossene, das den Herrschaftsdiskurs Bedrohende sichtbar zu machen, müssen verdeckte Diskurse aufgedeckt und stumm machende Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden. Dies soll mit Hilfe der Methode der Diskursanalyse im vierten Kapitel dieser Arbeit unternommen werden. Die Methode der Diskursanalyse schließt nicht nur zufällig an Foucault an und nicht an Irigaray. Diese hat ihre Methode der Mimesis für eine Analyse von Texten auf der Metaebene entwickelt und nicht für eine Analyse sozialer Wirklichkeiten. Irigaray bringt mimetisch-spielerisch und plapperndassoziativ vorgeblich festgefügte Strukturen von Texten ins Schwingen und zeigt sowohl Brüche und Inkohärenzen wie auch die z.T. absurden Selbstverständlichkeiten und Vorannahmen auf, mit denen diese Texte arbeiten. Ihre Art mit den für die abendländische Philosophie grundlegenden Texten umzugehen, läßt sich am ehesten als ein ästhetisches Unternehmen beschreiben. Sie stellt die herkömmliche Textästhetik in Frage wie René Magritte die Bildästhetik ironisiert, wenn er in herkömmlicher Weise eine Pfeife malt und dem Bild den Titel gibt: „Ce n’est pas une pipe“ (Das ist keine Pfeife). Ein ähnlich destruktivistisches Unternehmen verfolgt auch Pablo Picasso, wenn er die herkömmlich repräsentative Ästhetik aufgibt, um das Bild einer Person oder ein Gesicht zu dekonstruieren und gleichzeitig mehrere Perspektiven gleichzeitig zeigt.134 Irigaray spielt mit der herkömmlichen Textästhetik. Sie wendet die Argumente und betrachtet sie von verschiedenen Seiten, sie zerlegt und vervielfältigt sie, um Selbstverständlichkeiten aufzubrechen und Neues, noch nie Dagewesenes zum Sprechen zu bringen. Diese textästhetischen Verfahren lassen sich nicht direkt für die Analyse sozialer Wirklichkeiten wie z.B. einer Gesprächssituation verwenden. Es bedarf vielmehr eingehender hermeneutischer Überlegungen, um die Methode daraufhin zu überprüfen, ob und wie sie übertragbar ist. Das größte Problem stellt Irigarays dezidierter Verzicht auf diskursive Argumentation dar, denn die herkömmliche Textästhetik ist für sie Teil des patriarchalen Systems und seiner Sprachvorgaben. Auch wenn sie sich nicht stringent an ihre eigene Vorgabe hält, auf diskursive Logik zu verzichten, so ist es doch nicht unproblematisch, daß ich im folgenden mit der Methode der Diskursanalyse, die im Anschluß an Foucault entwickelt wurde, arbeiten werde. Für mein Vorhaben geltend machen läßt sich jedoch zum einen, daß Gespräche wie das, das ich analysieren werde, nicht im gleichen Maße von der 134
Als Erstlingswerk dieses malerischen Dekonstruktivismus bzw. Kubismus gilt von Pablo Picasso Les Desmoiselles d’Avignon von 1907.
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diskursiven Logik geprägt sind wie die philosophischen Texte, mit denen Irigaray umgeht. Gespräche stehen dem primärprozeßhaften Denken weitaus näher,135 und sie haben von sich aus schon mehr Anteil an der Mechanik des Flüssigen als philosophische Texte. Zum anderen sehe ich Irigarays Anliegen in meiner spezifischen Fragestellung nach der Wahrnehmung von Differenz aufgenommen. Diese Differenz umfaßt nicht nur die Systematik des Einschließens und Ausschließens, sondern darüber hinaus auch das, was durch Vereinnahmung und durch „saming“ (im Gegensatz zu “othering”) verharmlost und seiner Eigenheit und Subjektivität beraubt wird. Mein Anliegen in der Anwendung der Diskursanalyse ist deswegen immer wieder das Aufdecken von Selbstverständlichkeiten, die die Brüchigkeit von Diskursen verbergen und das „Andersartige“ zum Schweigen bringen sollen. Trotzdem ist mir bewußt, daß mit der Diskursanalyse die Anliegen von Irigarays Methode der Mimesis nicht vollständig erfaßt sind, schon weil die diskursiv-logische Methode den „Mehrwert“ der Ästhetik niemals ausschöpfen und zur Darstellung bringen kann. Auf der andere Seite wäre es ein Verlust, wenn Irigarays Methode und ihr Anliegen, ihre Kreativität und ihr Witz nicht auch für ein solches Unternehmen fruchtbar gemacht würden – bei allem Risiko und den Verlusten, die damit verbunden sind. Die Intention, Irigarays Anliegen aus der Methode der Mimesis in der Diskursanalyse präsent zu halten – auch wenn ich die diskursive Logik nicht aufgebe –, hält auf jeden Fall dazu an, sich nicht mit vorgegebenen Strukturen und Selbstverständlichkeiten zufrieden zu geben, sondern den Horizont offenzuhalten und die eschatologische Infragestellung alles faktisch Gegebenen mit zu bedenken.
135
Vgl. Brenner: Grundzüge. 52–56.
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III. Differenz in der Ethnopsychoanalyse Every human person is in some respects (a) like all others (b) like some others (c) and like no other.1
Die Ethnopsychoanalyse ist eine sozialwissenschaftliche Erkenntnismethode, die ihre Methodik und ihre Forschungsansätze im Rahmen und in der Reflexion von ethnologischen Feldforschungen mit psychoanalytischen Mitteln entwickelt hat. Ihr Wirklichkeitsbezug ist deswegen nicht philosophisch-linguistisch wie bei Irigaray, sondern empirisch-(sprach-)handlungsorientiert. Ihr Bezugsfeld ist zunächst die kulturelle Differenz und erst in zweiter Linie die Geschlechterdifferenz. Ich sehe in der Ethnopsychoanalyse eine weitere Wissenschaft, die eine Methodik zur Wahrnehmung von Differenz entwickelt hat, jedoch in einem anderen Feld, unter anderen Voraussetzungen und mit einem anderen Impetus als Irigaray. Besonders ins Auge fällt der Unterschied, daß Irigaray aus gutem Grund an einer kategorialen Vorstellung von Differenz festhält, während Devereux und die Ethnopsychoanalyse von einer gemeinsamen psychischen Grundstruktur aller Menschen ausgehen, die sich in verschiedenen kulturellen Gegebenheiten unterschiedlich präsentiert, weil sie unterschiedlichen Verdrängungsmechanismen unterworfen ist. Diese gemeinsame menschliche Struktur umfaßt auch die strukturelle Ähnlichkeit des Unbewußten, so daß Menschen unterschiedlichster Kulturen zueinander in Beziehung treten können. Der kulturelle Unterschied zwischen ihnen erscheint so als eine relative und nicht als eine kategoriale Differenz. Der Beginn der Ethnopsychoanalyse läßt sich nicht genau festlegen. Zwar rekurrierte Freud schon 1913 auf ethnologische Theorien, z.B. in seinem Essay Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker.2 Er bezog sich dabei nur selektiv auf ethnologische 1
Lartey, In Living Color, 171. Lartey überträgt in inklusive Sprache, was er bei Clyde Kluckhohn/Harry A. Murray: Personality in Nature, Society, and Culture. New York 1948, 35, fand: „E VERY MAN is in certain respects a. like all other men, b. like some other men, c. like no other man.“ 2 Sigmund Freud (1913): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Mit einer Einleitung von Mario Erdheim. Frankfurt/M. 1991.
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Theorien, ohne den Kontext einzubeziehen oder die Tatsache zu beachten, daß diese in der Ethnologie schon überholt waren. Das ethnologische Material diente ihm zur Untermauerung seiner Theorien, die er durch Eigenanalyse und in der Behandlung seiner Patientinnen und Patienten gewonnen hatte. Weiterhin versuchte er auf diese Weise, psychoanalytische Theorien über das individuelle Unbewußte auf kulturelle Phänomene zu übertragen.3 Schon früh4 bemühten sich Ethnologen, ihre Wahrnehmungen bei Feldforschungen psychoanalytisch zu reflektieren und zu deuten. Diese Forschungen waren jedoch dadurch beeinträchtigt, daß die Forschungsergebnisse und Daten mit herkömmlichen Methoden der Ethnologie und nicht im Rahmen einer psychoanalytischen Situation gewonnen worden waren. Die Interaktion zwischen Forscherin und Forscher mit ihren „Forschungsobjekten“ und deren unbewußte Anteile wurde deswegen noch nicht in die Erhebung einbezogen. Georges Devereux gilt als Urheber der ethnopsychoanalytischen Methode und der Theorien, auf denen sie aufbaut. Er war zunächst Ethnologe und kam aufgrund seiner ethnologischen Forschungen zur Psychoanalyse. Grundlegende Thesen zur Ethnopsychoanalyse entwickelt er vor allem in der retrospektiven Auswertung seiner Forschungen und seiner Ergebnisse. Spätere Ethnopsychoanalytiker und -analytikerinnen benutzten Devereux’ methodologische Reflexionen, um eigene Forschungsstrategien für die Feldforschung zu entwickeln. Dadurch wurden seine kritischen Überlegungen für die Praxis rezipiert und weiter ausgebaut.5
3 Mario Erdheim sieht den Grund dafür, daß Freud sich den Wilden zuwendet, in der Scheu davor, das Unbewußte in der eigenen Kultur zu erkennen. Er entwickelte seine Theorien im Hinblick auf die Wilden und konnte kritische Thesen geschützt durch Exotisierung und Verschiebung formulieren. Vgl. Mario Erdheim: Einleitung. Zur Lektüre von Freuds Totem und Tabu. In: Freud, Totem und Tabu. 7–42, bes. 40. 4 Géza Róheim hatte sich während seines Aufenthalts auf dem Trobriand-Archipel in Malinesien zwischen 1914 und 1918 mit psychoanalytischen Ideen beschäftigt. Vgl. dazu Reichmayr: Einführung. 42–50. 5 Vgl. dazu Reichmayr: Einführung. 194f: „Devereux hat seine epistemologischen und methodologischen Überlegungen [. . .], selbst nicht systematisch und forschungspraktisch umgesetzt. Sie bilden aber – neben dem ethnopsychoanalytischen Ansatz von Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy, der aus den praktischen Erfahrungen bei der Anwendung der psychoanalytischen Technik entwickelt wurde – den Ausgangspunkt für die ethnopsychoanalytischen Arbeiten von Maya Nadig, Mario Erdheim, Florence Weiss und anderen, die den Forderungen von Devereux in ihren ethnopsychoanalytischen Forschungen nachkommen und die affektive Verstrickung des Forschers mit seinem Gegenstand und die Subjektivität des Beobachters selbst als Weg zur Erkenntnis des Fremden und zur Aufklärung von Zusammenhängen nutzen.“
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Zur Darstellung der ethnopsychoanalytischen Methode, die im nächsten Kapitel zur Auswertung einer Seelsorgesituation herangezogen wird, stelle ich zunächst die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Devereux vor. Im Anschluß daran zeige ich, wie Maya Nadig dessen methodologische Überlegungen für ethnopsychoanalytische Feldforschungen in fremden Kulturen und in der eigenen Kultur benutzt.
1. Georges Devereux: Zum Umgang mit kultureller Differenz Georges Devereux war einer der ersten, die über eine Verknüpfung von der Psychoanalyse des Individuums mit der ethnologischen Studie des Individuums als Angehörigem einer spezifischen Kultur reflektierten. Er verstand sein ethnopsychoanalytisches Modell als eine komplementaristische Methode,6 in der Erkenntnisse über die spezifische Biographie eines Individuums zu dem Wissen um die kulturellen Gegebenheiten, in denen es aufgewachsen ist und in deren Weltbild es sich bewegt, in Beziehung gesetzt werden. Gerade an Georges Devereux’ eigener Biographie wird dieses Zusammenspiel von individueller Biographie und kulturellen Deutungsmustern deutlich, so daß es sinnvoll ist, diese etwas ausführlicher darzustellen.7 1.1 Devereux’ Biographie Georges Devereux wurde 1908 in Lugos (Ungarn) geboren, das damals Teil der Donaumonarchie war. 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde dieser Teil Ungarns Rumänien zugeschlagen. Die dort lebenden Ungarn wurden zu rumänischen Bürgern zweiter Klasse. Die ungarische Kultur wurde von den neuen rumänischen Machthabern abqualifiziert; die rumänische Kultur beanspruchte die alleinige Gültigkeit. Konkret bedeutete das, daß Rumänisch die offizielle Sprache wurde und es verboten war, an den Schulen Ungarisch zu sprechen. Selbst die Geschichte wurde von den neuen Machthabern umgeschrieben, um die identitätsstiftende Rolle des sagenumwobenen ungarischen Königs Arpad zu schmälern. Von den Ungarn wurde eine patriotische Gesinnung – für Rumänien – gefordert. Rumänen wurden bei offiziellen Ausschreibungen bevorzugt, auch wenn sie weniger qualifiziert waren als ungarische Bewerber. Georges Devereux’ Vater war Anwalt in der Kleinstadt Lugos und forderte von seinem Sohn besondere Leistungen. Seine Mutter, so sagte Devereux 6 Vgl. Devereux: Ethnopsychoanalyse. Franz. Original: Ethnopsychanalyse complémentariste. Paris 1972. 7 Vgl. Ulrike Bokelmann: Georges Devereux. In: Hans Peter Duerr (Hg.): Die wilde Seele. Zur Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux. Frankfurt/M. 1987, 9–31.
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später, neidete ihm die Begabung, Gedichte zu schreiben. Geborgenheit fand er nur bei seiner ungarischen Kinderfrau, die er sehr liebte. Zum wichtigsten Mittel, seine Gefühle auszudrücken, wurde die Musik. Er wollte in Paris Klavier studieren und Pianist werden, doch eine mißglückte Operation an seinem Handgelenk machte diese Pläne zunichte. Er ging trotzdem nach Paris und studierte ein Jahr Physik, um in dieser Wissenschaft nach der „objektiven Wahrheit“ zu suchen. Aufgrund einer schweren Erkrankung mußte er jedoch nach Lugos zurückkehren. Nach seiner Genesung machte er in Leipzig eine Lehre als Verlagsbuchhändler und ging dann erneut nach Paris, um sich dort dem Schreiben von Romanen zu widmen. Er erkrankte an Typhus und kehrte nach Lugos zurück, schrieb sich allerdings noch vorher in Paris als Student ein, um dem rumänischen Militärdienst zu entgehen. Er wählte das Studium der malayischen Sprache und entschloß sich daraufhin, auch den Abschluß in Ethnologie abzulegen – ohne ein vorausgegangenes Ethnologiestudium und ohne konkrete Berufsabsichten. Obwohl seine Professoren Marcel Mauss und Lucien Lévy-Bruhl zunächst skeptisch waren, bestand er die Prüfung als Zweitbester. Erst dann begann Devereux sich wirklich für den Beruf des Ethnologen zu interessieren. Er setzte seine ethnologischen Studien bis zu Lehrbefähigung fort und plante danach einen Feldforschungsaufenthalt bei den Sedang-Moi in Indonesien. Zur Vorbereitung dieses Unternehmens sollte er jedoch die Sexualpraktiken des indianischen Stamms der Mohave in den USA untersuchen. Aus dieser Zwischenstation wurde für Devereux ein Ort, an den er sich lebenslang gebunden fühlte, so daß er von sich sagte, daß er sich bei den Mohave zum ersten Mal in seinem Leben wohl und glücklich gefühlt hätte.8 Danach lebte er 18 Monate bei den Sedang-Moi, zu denen er jedoch nie ein so enges Verhältnis entwickelte wie zu den Mohave. Im Anschluß an die Feldforschung sollte er eine Anstellung beim Musée de l’Homme in Paris erhalten, was sich jedoch aus politischen Gründen zerschlug. Die Machtübernahme Hitlers veranlaßte Devereux, in die USA überzusiedeln, wo er dreißig Jahre blieb. Er begann ein Promotionsstudium in Berkeley, doch die Ablehnung durch seinen früheren Förderer K. L. Körber und die Vorbehalte, auf die seine Ideen stießen, gefährdeten seine Position als Wissenschaftler. 1943 wurde seine Bewerbung zum Militärdienst in den USA angenommen, aber 1944 mußte er aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden. 1946–1953 war er in Topeka/Kansas angestellt, absolvierte am Menninger-Institut eine psychoanalytische Ausbildung und sammelte klinische Erfahrung. 1953–1955 arbeitete Devereux an einer privaten psychiatri8
Vgl. Brokelmann: Devereux. 16.
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schen Kinderklinik, bevor er 1956 nach New York zog und dort begann, als Psychoanalytiker in freier Praxis zu arbeiten. 1963 kehrte Devereux nach Paris zurück. Claude Lévi-Strauss holte ihn an die École des Haute-Études, wo er bis 1981 als Studiendirektor für Ethnopsychiatrie arbeitete. Da diese Stelle jedoch nur jeweils für ein Jahr vergeben wurde – d.h. jedes Jahr verlängert werden mußte – fühlte sich Devereux unter enormen Konformitätsdruck. Dies wurde noch dadurch verstärkt, daß in Paris in den 60er Jahren Jacques Lacan und seine Anhängerschaft den Ton in der Psychoanalyse und in den Sozialwissenschaften bestimmten, so daß Devereux sich erneut in der Defensive fühlte. 1985 starb er nach längerer Krankheit. Bis zum Schluß blieb er streitlustig, war aber auch verbittert über die mangelnde Anerkennung, die seinem Werk seines Erachtens entgegengebracht wurde.9 1.2 Ethnopsychoanalyse von Subjekt und Kultur Georges Devereux sieht in der Mehrperspektivität eine methodologische Notwendigkeit für die Ethnologie, damit Ethnologinnen und Ethnologen nicht nur als außenstehende Beobachterinnen und Beobachter Sitten und Gebräuche aufzeichnen, wie das bis in die 50er Jahre üblich war,10 sondern auch die Psyche und ihre spezifische Entwicklung in einer Kultur verstehen. In Ethnopsychanalyse complémentaristes geht Devereux davon aus, daß sich kulturelle Phänomene und menschliche Verhaltensweisen sowohl psychologisch als auch soziologisch erklären lassen, daß aber nur eine mehrperspektivische Betrachtung die Komplexität menschlicher Verhaltensweisen angemessen darstellen kann.11 Devereux geht von einer Interdependenz der soziologischen und psychologischen Daten aus, hält jedoch an der Autonomie der einzelnen Diskurse fest, weil weder die Soziologie auf Psychologismen, noch das Verhalten der Individuen allein auf soziologisch beschreibbare Strukturen reduziert werden kann. Er vergleicht das Verhältnis dieser beiden Perspektiven zu einander mit den beiden Theorien über das Licht: 9
Vgl. Georges Devereux: Nachwort. In: Duerr: Die wilde Seele. 446–467, bes. 446–
449. 10 Vgl. Paul Parin: Ethnologie und Psychiatrie. In: Ders.: Der Widerspruch im Subjekt. Hamburg 1992, 233–245, 234: „Nach dem genauen Studium dieser [sc. der ethnologischen] Literatur fuhren wir ins Land der Dogon, ohne die geringste Ahnung zu haben, welche Art von Menschen wir dort vorfinden würden. Obzwar ihre Sitten und Institutionen, ihre materiellen Lebensumstände, intellektuellen Kenntnisse und geistigen Fähigkeiten meisterhaft dargestellt waren, wußten wir nicht, ob die Dogon-Männer und Dogon-Frauen offene oder verschlossene Menschen sind, ob sie ein glückliches und ausgeglichenes oder ein unglückliches und verstörtes Wesen haben.“ 11 Vgl. Devereux: Ethnopsychoanalyse. 12.
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der Wellen- und der Partikeltheorie. Die Beobachtung, daß beide Theorien über das Licht wahr sind bzw. daß die ganze Wahrheit über die Eigenschaften des Lichts nur durch die Verwendung beider Theorien gesagt werden kann,12 übernahm Devereux als Komplementaritätsprinzip für die Ethnologie. Die Möglichkeit, ein Geschehen in einem besonderen Bezugsrahmen wie z.B. der Psychologie adäquat zu verstehen und vorauszusagen, bedeutet keineswegs, daß dieses Phänomen primär psychologisch ist und daß in soziokulturellen Begriffen nicht genauso zufriedenstellende Erklärungen und Voraussagen hätten formuliert werden können. Obschon jeder Bezugsrahmen notwendigerweise partielle Abstraktionen verwendet und in ihnen entsprechend funktioniert, kann er dennoch eine operational befriedigende und „vollständige“ Erklärung und Voraussage eines gegebenen Phänomens liefern. [. . .] Noch wichtiger ist die Tatsache, daß zwischen dem psychologischen (individuell) und dem soziokulturellen (kollektiv) Verstehen eines gegebenen Phänomens ein echtes Komplementaritätsverhältnis besteht [. . .]. Es ist logisch unmöglich, gleichzeitig in zwei Bezugssystemen zu denken, besonders wenn für den einen die Schlüsselerklärung ist: „In unserer Kultur werden alle Schwiegermütter als Ärgernis betrachtet“, während der andere erklärt: „Frau Schulze mischt sich ständig in die Ehe ihrer Tochter ein.“13
Devereux sieht die Lösung dieses Dilemmas in der Entwicklung eines doppelten Persönlichkeitsmodells,14 das jedoch nicht mit einer konkreten, wirklichen Person verwechselt werden darf. Devereux geht davon aus, daß kulturelles oder politisches Verhalten zum einen durch persönliche und individuell verschiedene Motive bestimmt ist, die zum Teil nicht bewußt sind, daß aber zum anderen die Gesellschaft Rituale, Parteien, Revolutionen und Konterrevolutionen sowie das Akzeptieren und Ablehnen bestimmter Kulturforderungen anbietet, in denen es legitim und allgemein akzeptiert ist, die individuellen Bedürfnisse zu leben. Man muß deshalb lediglich davon ausgehen, daß ein gegebener historischer Augenblick oder ein gegebenes historisches Ereignis einer großen Anzahl unterschiedlich motivierter Individuen für die Befriedigung ihrer verschiedenen subjektiven (und bisher unbefriedigten) Bedürfnisse geeignet erscheint. [. . .] Würden diese Bedürfnisse privat ausagiert, so wären sie nicht nur gesellschaftlich nicht akzeptabel, sondern auch im hohen Maße angsterregend und riefen starke Schuldgefühle hervor. Im 12
Vgl. Bokelmann: Devereux. 23–25. Devereux: Ethnopsychoanalyse. 115. 14 Vgl. Devereux: Ethnopsychoanalyse- 109–130. 13
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soziologischen Bezugsrahmen erlaubt einem diese Sichtweise umgekehrt, die Vielfalt von (psychologisch bereits existierenden) in hohem Grade individualisierten Bedürfnissen und Motiven als Mittel aufzufassen, die es möglich machen, daß ein sozialer Prozeß sich kristallisiert, – sei er nun spontan oder traditionsgebunden –, ebenso wie eine Vielfalt von Brennstoffen, die gleichzeitig in denselben Ofen geworfen werden, einen einzigen Dampfkessel heizen können.15
Mit dieser Theorie, daß sich individuelle Bedürfnisse soziologischer und politischer Strukturen bedienen, um Erfüllung zu finden, wendet sich Devereux vor allem gegen die kulturrelativistische Theorie der Vertreter der Culture and Personality-Richtung,16 die davon ausgehen, daß es eine jeweils kulturspezifische Persönlichkeit gibt, die durch das kulturelle Milieu, in dem sie aufwächst, geprägt ist, und daß die verschiedenen Kulturen jeweils unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen hervorbringen, die nicht miteinander vergleichbar sind. Für sie repräsentiert die kulturspezifisch geformte Persönlichkeit eine Synthese der Daten von Psychologie und Soziologie. Gegen diese kulturalistische These von der Vergesellschaftung des Individuums weist Devereux darauf hin, daß soziokulturelle Strukturen nicht als psychische Strukturen funktionieren und von daher auch nicht als solche integriert oder übernommen werden können. Gesellschaftliche Bedingungen werden vielmehr jeweils in psychisches Material „umgewandelt“ und als solches integriert.17 Aber Devereux wendet sich auch gegen die Psychologisierung der Gesellschaft, indem er betont, daß Begriffe der psychischen Struktur für die Analyse der gesellschaftlichen Strukturen nicht einfach übernommen werden können. Eine Gesellschaft hat kein „Über-Ich“ oder „Ich-Ideal“; der oder die Einzelne kann jedoch sein oder ihr Über-Ich subjektiv an gesellschaftliche Instanzen abtreten oder damit in Übereinstimmung bringen. Beides kann jedoch nicht gleichgesetzt werden. Deshalb plädiert Devereux immer wieder für eine doppelte Perspektive auf menschliches Verhalten: Nur die Zuhilfenahme dieser Art einer doppelten, aber nicht gleichzeitigen Erklärung garantiert einerseits ein wirkliches Verständnis der Tatsachen und andererseits eine Autonomie sowohl der Psychologie als auch der Sozialwissenschaft. Schließlich und endlich kann man mit 15
Devereux: Ethnopsychoanalyse. 123. Vgl. Klaus-Dieter Brauner: Kultur und Symptom. Über wissenschaftstheoretische und methodologische Grundlagen von Georges Devereux’ Konzeption einer Ethnopsychoanalyse und Ethnopsychiatrie. Frankfurt/M. 1986, 217–228, 218f. Als Vertreter der Culture and Personality-Gruppe nennt Brauner Abram Kardiner, Ruth Benedict und Margaret Mead. 17 Vgl. Devereux: Ethnopsychoanalyse. 117. 16
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dieser Vorgehensweise einerseits den soziologischen Fehlschluß vermeiden, durch die der Mensch zur Marionette wird, die ausschließlich durch Gesellschaft und Kultur „aktiviert“ wird, obwohl Gesellschaft [. . .] doch nur ein erklärendes Konstrukt ist; andererseits vermeidet man die psychologistische Verlockung, die, wenn man ihr konsequent folgt, zu einer soziologischen oder gar biologischen Auffassung des menschlichen Wesens und Verhaltens führt.18
Devereux’ Ethnopsychoanalyse ist durch ein universalistisches Verständnis von Kultur geprägt – erneut im Widerspruch zu kulturrelativistischen Positionen der Culture and Personality-Gruppe.19 Devereux geht davon aus, daß es eine allgemeine Struktur gibt, die die Basis aller Gesellschaftsstrukturen ist.20 Das Spezifische einer Kultur entsteht dadurch, daß nur ein Teil des universal Möglichen realisiert wird, während anderes z.B. aufgrund von ethnotypischen Traumata verdrängt werden muß. Diese ethnotypischen Verdrängungen bestimmen das spezifische Gesicht der Kultur. Sie entscheiden darüber, was in einer Kultur unzensiert gelebt werden kann und was in der Latenz oder im Unbewußten bleibt. Auch die Mittel der Verarbeitung sind weitgehend vorgegeben: Vor allem aber entscheidet das kulturelle Milieu darüber, welche Triebe oder Phantasien unmittelbar kulturell und welche nur indirekt und „ersatzweise“ ausgearbeitet und wirksam werden, welche nur subjektiv aktualisiert werden und welche überhaupt unbewußt bleiben und die Form verdrängten Materials annehmen, geschehe dies durch von der Kultur bereitgestellte Verdrängungsmittel, oder aber durch solche, die idiosynkratisch ausgearbeitet wurden und jeder kulturellen Unterstützung entbehren.21 18
Devereux: Ethnopsychoanalyse. 129f. Zum Kulturverständnis der Culture and Personality-Gruppe vgl. Wolfgang. Schoene: Über die Psychologie in der Ethnologie. Eine theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit einigen Grundlagen der nordamerikanischen Kultur- und Persönlichkeitsforschung. Dortmund 1966, 54: „Die kulturrelativistische Theorie nimmt [. . .] die einzelne Kultur als ein Ganzes und als eine einmalige Gestaltung hin, die in ihrer Ganzheit und Einmaligkeit von allen anderen Kulturen verschieden ist. Von der Auffassung aus bestreitet die Theorie grundsätzlich das Vorhandensein allgemein menschlicher psychischer Gegebenheiten von kultureller Relevanz. Vielmehr sind nach ihrer Auffassung diese Gegebenheiten selbst Bestandteil der Kultur und somit – wie diese – besonders und einmalig. Die Aufgabe der Psychologie beginnt erst nach der Ermittlung des kulturellen Tatbestands, und sie liegt gerade darin, das Entstehen der besonderen psychischen Strukturen und das ‚Einpflanzen‘ der besonderen psychischen Inhalte durch die Entwicklung der Kultur aufzuzeigen.“ 20 Vgl. Brauner: Kultur und Symptom. 61–64. Brauner verweist hier vor allem darauf, daß Devereux seine Strukturvorstellungen in Anlehnung an Lévi-Strauss „ideales Repertoire“ entwickelte. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt/M. 1979. 21 Devereux: Ethnopsychoanalyse. 78. 19
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Nach Devereux wird das Individuum in der jeweiligen Kultur einerseits durch dieses ethnische Unbewußte, andererseits durch biographisch bedingte Konflikte und Traumata und das daraus resultierende idiosynkratische Unbewußte bestimmt. Deswegen muß es auch von beiden Seiten – aus kultureller und psychologischer Perspektive – betrachtet werden. 1.3 Ethnopsychoanalytische Methodik nach Devereux Devereux’ Ansatz hat Konsequenzen für seine Methodik ethnologischen Forschens und für sein Verständnis von Verhaltensforschung insgesamt. Wenn Kultur und Persönlichkeit jeweils universelle Strukturen zu Grunde liegen, die durch ethnotypische bzw. idiosynkratische Verdrängungen gekennzeichnet sind, so kann die Erforschung bzw. die Wahrnehmung des Andersartigen nur unter Einbeziehung des Unbewußten geschehen. Weiterhin müssen die eigenen ethnotypischen und idiosynkratischen Verdrängungsprozesse in die Forschung einbezogen werden, um die Strukturen der Anderen samt ihrer typischen Verdrängungsprozesse zu verstehen. Devereux geht davon aus, daß die Verhaltensforschung beim Erstellen und Entschlüsseln von Daten im wesentlichen drei Punkte beachten muß: 1. Das Verhalten des Objekts. 2. Die „Störungen“, die durch die Existenz und Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden. 3. Das Verhalten des Beobachters: seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine „Entscheidungen“, d.h. die Bedeutung die er seinen Beobachtungen zuschreibt.22 Andere Forschungsmethoden nehmen oft nur den ersten Punkt in den Blick und beziehen die von ihnen verursachten Störungen, aber auch ihr eigenes Verhalten nicht in die Datenerhebung ein. Dagegen zeigt Devereux in Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften nicht nur die Bedeutung von ethnotypischen und idiosynkratischen Verzerrungen bei der Wahrnehmung, sondern er nimmt die Beobachtungssituation selbst ins Visier und zeigt, daß jede Versuchsanordnung und jede Messung eines Objekts oder Phänomens diese bzw. dieses verändert und beeinträchtigt.23 Gleichzeitig geschieht eine 22
Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. (1973) Frankfurt/M. 4 1998, 20. Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel: From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences. Paris 1967, die Anfänge des Buches reichen jedoch schon in die 40er Jahre zurück. Vgl. Reichmayr: Einführung. 186f. 23 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 36f: Devereux spricht mit Nils Bohr vom „Abtötungsprinzip“, weil das Experiment das Forschungsobjekt verändert und im Extremfall sogar zum Tod des Objekts führen kann.
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weitere Veränderung und Verfremdung, wenn die Wahrnehmungen in Begriffe gefaßt werden.24 Zum wichtigsten Forschungsinstrument, um die Verdrängungsprozesse offenzulegen, wurde für Devereux die Analyse von Gegenübertragungsphänomenen, d.h. von den Gefühlen, die das „Forschungsobjekt“ im Unbewußten des Forschers auslöst. 1.4 Das neue Forschungsinstrument: Die Gegenübertragungsanalyse Die These von der Gegenübertragung als wichtigstem Forschungsinstrument impliziert, daß es eine gemeinsame Basis zwischen Forschenden und „Forschungsobjekt“ gibt, die allen Differenzen vorausgeht. Für den Bereich der Ethnologie bedeutet dies, daß nicht die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe, sondern die Eigenschaft von Individuen aller Kulturen, daß sie der Spezies Mensch angehören, die wichtigste Prämisse der ethnologischen Forschung ist. Das Gemeinsame von Forschenden und „Forschungsobjekt“ wird deutlich in einer Reziprozität zwischen diesen in der Beobachtungssituation. Devereux zeigt, daß das Bild vom aktiv Forschenden am passiven „Forschungsobjekt“ eine zumindest einseitige, wenn nicht verkehrte Wahrnehmung darstellt. Vielmehr löst eine Begegnung zwischen forschendem Subjekt und untersuchtem Objekt nicht nur eine Reaktion im „Forschungsobjekt“ aus, sondern dieses selbst löst auch in den Forschenden Reaktionen aus, die weitgehend unbewußt bleiben. Ebenso beobachtet nicht nur die Ethnologin oder der Ethnologe, sondern das „Forschungsobjekt“ tut das gleiche. Er oder sie ordnet die Ethnologinnen und Ethnologen anhand der Kategorien Sprache, Alter, Geschlecht, Kleidung, Treffpunkt und Interventionen ein und zeigt Reaktionen, die immer auch auf diese Wahrnehmungen bezogen sind.25 Die Daten, die Verhaltenswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erhalten, sind also immer Daten, die sich auf eine Beziehung zwischen Forschenden und „Forschungsobjekt“ in einer bestimmten Situation beziehen. Diese Daten können niemals allein dem beobachteten Objekt zugeschrieben werden.26 24
Vgl. Devereux: Angst und Methode. 289–308. Diese Erkenntnis von der Reziprozität setzt sich in der Psychoanalyse auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Psychoanalytikerin/Psychoanalytiker und Analysandin/Analysand durch. Für das Verständnis der Übertragung bedeutet das, daß diese nicht alleine als phantasierte Übertragungen der inneren Objektwelt auf den Analytiker oder die Analytikerin verstanden werden, sondern zumindest teilweise Teil als Übertragungen, die sich auf reale Beobachtungen und Wahrnehmungen der analytischen Situation beziehen. Vgl. Psyche 53/1999 Sonderheft zum Thema: Therapeutischer Prozeß als schöpferische Beziehung. Übertragung – Gegenübertragung – Intersubjektivität. 26 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 157–285. 25
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Die Reziprozität der Beziehung zwischen Forschenden und Beobachtungsobjekt bezieht sich nicht nur auf die bewußten, manifesten Äußerungen. Die Psychoanalyse weist vielmehr auf die Bedeutung des unbewußten Dialogs im Forschungszusammenhang hin. Devereux geht davon aus, daß die wichtigsten Erkenntnisse dadurch erzielt werden, daß die Ethnologin und der Ethnologe sich in ihrem bzw. seinem Unbewußten durch das Unbewußte des „Forschungsobjekts“ berühren läßt. Devereux sieht in der Auswertung der Gegenübertragung den Kern der Verhaltensforschung: Ich behaupte, daß das entscheidende Datum jeglicher Verhaltenswissenschaft eher die Gegenübertragung denn die Übertragung ist, weil man eine aus der Übertragung ableitbare Information gewöhnlich auch noch auf anderen Wegen gewinnen kann, während das für die Information, die aus der Analyse der Gegenübertragung hervorgegangen ist, nicht zutrifft.27
Während die Analyse der Übertragung z.B. Aufschluß darüber gibt, was Angehörige eines afrikanischen Stammes mit Menschen europäischer Herkunft verbindet, welche Übertragungskategorien dadurch aktiviert werden,28 reicht die Analyse von Gegenübertragungsphänomenen weiter, da sie quasi zweifach im Unbewußten wurzelt. Wenn Forschende oder Analytikerinnen und Analytiker die andere Person in ihre eigene Psyche hineinreichen lassen, können sie Gegenübertragungsphänomene bei sich selbst beobachten und diese analysieren. Relevant sind z.B. Assoziationen zu einem Traum der Klientin bzw. des Klienten, auch die Wahrnehmung von Unbehagen in einer Situation oder das Gefühl, daß im Traum, in der Assoziation oder in der Interaktion etwas fehlt.29 Dies bedeutet für Devereux, daß die psychologische und die ethnologische Forschung nur durch und mit Hilfe der Subjektivität des Forschenden und der Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker möglich ist und daß nur die Beachtung der subjektiven Gefühle, d.h. die Analyse der Mitteilungen des Unbewußten, eine intensive Forschung möglich macht. Devereux verdeutlicht den Unterschied zwischen einer Methode, die die Subjektivität einbezieht und einer anderen, die sich auf „objektive“ Daten, die am Objekt gemessen werden, beschränkt, durch das Bild von einem 27
Devereux: Angst und Methode. 17. Als Beispiel für eine Ethnopsychoanalyse, die weitgehend auf der Analyse von Übertragungsphänomenen beruht vgl. Paul Parin/Goldy Parin-Matthèy/Fritz Morgenthaler: Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika. (1963) Hamburg 4 1993. 29 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 339–346, Fallbeispiele Nr. 427–432. 28
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Stock,30 den man in der Hand hält, um einen Gegenstand damit zu erkunden. Hält man den Stock fest in der Hand, bildet er eine starre Verlängerung des eigenen Arms. Auf diese Weise kann man z.B. grob die Umrisse eines Gegenstandes abtasten, erhält aber nur eine sehr eingeschränkte Menge an Daten. Hält man den Stock dagegen lose in der Hand, ist die Hand die direkte Empfängerin der Daten. Der Gegenstand, der erforscht werden soll, kann den Stock bewegen. Dann nimmt die Hand wahr, was das zu untersuchende Objekt mit dem Stock macht und kann auf die Beschaffenheit und die Eigenschaften des Gegenstands schließen.31 Devereux geht davon aus, daß die einzig sinnvolle Methode, Verhaltenswissenschaften zu betreiben, die Methode des losen Stocks ist, die dem „Forschungsobjekt“ bzw. der Person, die untersucht wird, ihre Subjektivität und die Möglichkeit, auf einen Reiz zu antworten, beläßt. Das heißt, dem „Forschungsobjekt“ bleibt die Möglichkeit, sich reziprok zu verhalten. Wie das Bild des losen Stocks zeigt, rückt dabei das „Forschungsobjekt“ den Beobachtenden näher. Nicht das Ende des jeweiligen Stocks, sondern die Hände der Beobachtenden werden zu Meßinstrumenten. In der Verhaltenswissenschaft rückt das „Forschungsobjekt“ den Forschenden noch mehr auf den Leib. Das Objekt reicht bis in das Unbewußte der Beobachtenden hinein und löst dort Angst und andere Störungen aus. Devereux macht dies anschaulich, indem er die Reaktionen einer Gruppe auswertet, die sich einen Dokumentarfilm über rituelle Beschneidung (Subinzision) von Männern bei einem australischen Stamm angeschaut hatte. Er sammelt, was die Zuschauenden im Anschluß an den Film an somatischen Reaktionen und Träumen erlebten und was sie ihm später schriftlich berichteten.32 Die Gruppe reagierte mit starkem Unbehagen, einige der Zuschauerinnen und Zuschauer verließen den Raum. In ihren späteren Notizen berichteten einige Personen, daß ihnen keine Gefühle aus dieser Zeit bewußt waren und daß sie keine Träume danach erinnerten. Dagegen bemerkten sie bei sich am nächsten Morgen große Müdigkeit – ein Anzeichen für intensive Traumtätigkeit – und auch Schmerzen im Bereich des Unterleibs. Die Träume, an insbesondere die Zuschauer erinnerten, beschäftigten sich direkt und indirekt mit der Angst vor Kastration, die durch den Film ausgelöst wurde 30 Dieses ist ein Experiment von Nils Bohr, das Devereux immer wieder hinzuzieht; vgl. Devereux: Angst und Methode. U.a. 315–317, 335f. 31 Besonders anschaulich ist dieser sensibel tastende Umgang bei der Handhabung des Blindenstocks. 32 Die Gruppe bestand aus dem Personal einer psychiatrischen Klinik, das viele Psychoanalytikerinnen/Psychoanalytiker, Lehranalytikerinnen/Lehranalytiker und Lehranalysandinnen/Lehranalysanden umfaßte. Vgl. Devereux: Angst und Methode. 72–105.
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und von den Zuschauern auf unterschiedliche Art verarbeitet oder abgewehrt wurde. Devereux’ These ist, daß genau diese Störungen bzw. die Verarbeitung dieser Störungen durch das Unbewußte die wichtigsten Erkenntnisse über das „Forschungsobjekt“ liefern. Die Forscherin und der Forscher muß jedoch wie die Psychoanalytikerin oder der Psychoanalytiker ihr bzw. sein Unbewußtes für die Störungen öffnen, die ihr und ihm entgegenkommen. Sie müssen auf mehreren Ebenen zuhören, bewußt den Punkt der Trennung zwischen Beobachtetem und Beobachtenden wählen, der eigenen Wahrnehmung trauen, und im Bewußtsein der eigenen Subjektivität sagen: „Und dies nehme ich wahr.“33 Nach Devereux kann also Wahrnehmung und Erkenntnis nur durch einen intersubjektiven Prozeß gewonnen werden. Das Wahrnehmungsinstrument, d.h. der Ort, wo die Daten ablesbar sind, ist dabei die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler selbst. Nur dort sind die Gegenübertragungsgefühle wahrnehmbar, und nur dort manifestieren sich die Abwehrmechanismen gegen diese Gefühle. 1.5 Störungen und Abwehrstrategien Die bewußte Wahrnehmung der Störungen im eigenen Unbewußten durch das Forschungsobjekt wird nach Devereux durch Angst erschwert. Die Angst, die die Störung begleitet, ist zum einen die Angst vor dem Differenten und zum anderen die Angst vor dem Ähnlichen, die beide die eigene Identität auf unterschiedliche Weise bedrohen. Für Devereux kann prinzipiell jede Forschungsmethode zur Abwehr von Angst benutzt werden. Er geht sogar so weit zu sagen, daß jede Forschung neben ihrer Funktion, nach Erkenntnissen zu suchen, auch die Funktion hat, Angst abzuwehren. Gerade wenn die Forscherin oder der Forscher die Abwehrfunktion leugnet, wird diese verstärkt, um das jeweilige Vorhaben als „rein wissenschaftlich“ zu legitimieren. Ein sinnvoller Umgang mit Methoden ist für Devereux immer dann gegeben, wenn diese zur echten Sublimierung und permanenten Verminderung von Angst dienen und sie die Resultate nicht weiter verzerren.34 Die professionelle Identität z.B. des Ethnologen oder der Ethnologin wird durch die Angst auf den Prüfstand gestellt. Angst zu haben weist darauf hin, daß die Objektivität und Distanziertheit, die meist mit Professionalität verbunden werden, letztlich nicht haltbar sind, sondern immer von neuem 33 Zur Theorie der Objekt-Beobachter-Trennung und zur Bedeutung der Subjektivität der Wahrnehmung vgl. Devereux: Angst und Methode. 123, 315–326, 327–354. 34 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 127.
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gestört und untergraben werden. Die Angst stellt damit professionelle Verhaltensnormen in Frage, so daß ein Prestigeverlust für die Ethnologin und den Ethnologen sowie für die Psychoanalytikerin und den Psychoanalytiker die Folge sein könnte.35 Wenn die Angst zu groß und die Identität zu stark bedroht wird, setzt die Psyche Abwehrmechanismen in Gang.36 Devereux stellt einen Katalog dieser Abwehrmechanismen zusammen, die er im Rahmen der verhaltenswissenschaftlichen Forschung vorfand. Er unterscheidet dabei die professionellen Abwehrmaßnahmen von den soziokulturell bedingten Verzerrungen und von den Störungen und Gegenübertragungen, die durch die Persönlichkeitder Forscherin oder des Forschers bedingt sind. 1.5.1 Professionelle Strategien im Dienst der Abwehr37 Zum Bereich der professionellen Abwehrstrategien stellt Devereux zunächst umfassend fest: Ein beträchtlicher Teil der professionellen Abwehrstrategien sind einfach Variationen der Isolierungs-Strategie, die angsterregendes Material „entgiftet“, indem sie es verdrängt oder seinen affektiven Inhalt und seine humane wie persönliche Relevanz leugnet.38
Besonders wichtig im professionellen Bereich ist die angstmindernde Wirkung von Vorerfahrung, d.h. von Antizipation eines angsterregenden Ereignisses, das damit nicht mehr überraschend auftritt. Der Profi „weiß Bescheid“ und kann sich damit wenigstens vorübergehend gegen die Angst immunisieren. Auch die Selbstdefinition als professionelle Ethnologin oder professioneller Ethnologe und die damit einhergehende berufsbedingte Aktivität kann als Abwehrmechanismus benutzt werden, indem sie verhindert, daß Verhaltenswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sich von der Situation und ihrem angsterregenden Potential berühren lassen. Durch diese distanzierte Beobachtung von professioneller Warte aus wird es möglich, auch Inhalte zu beschreiben, die in früheren Feldforschungen ausgespart wurden oder nur verschlüsselt geschildert werden konnten. 35
Damit will Devereux nicht der hemmungslosen Subjektivität das Wort reden. Im Gegenteil, eine gewisse Objektivität und selbstreflexive Distanz sind unverzichtbare Merkmale von Professionalität und Wissenschaft überhaupt. 36 Vgl. auch Anna Freud (1936): Das Ich und die Abwehrmechanismen. München 11 1978. 37 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 109–129. 38 Devereux: Angst und Methode. 109.
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Eine Distanzierung kann methodisch durch ethischen Relativismus verstärkt werden. Damit wird gegenüber bestimmten kulturellen Praktiken ein ethisches Urteil vermieden. Statt dessen wird diese Tradition wertneutral betrachtet. Die Ethnologin und der Ethnologe können eine Tradition als museales Kuriosum untersuchen, weil sie oder er diese Praxis nicht in Verbindung mit ihrem oder seinem Wertesystem sieht.39 Sie können Distanzierung auch bewirken, indem sie das Individuelle eliminieren. Gerade die Methoden der quantitativen Forschung zerlegen Personen und ihre Psyche in Einzelteile. Auch die Verallgemeinerung, indem z.B. Persönlichkeitsmodelle für bestimmte Ethnien konstruiert werden, kann der Distanzierung dienen, weil jeweils nur die weniger angstmachenden psychischen Anteile einer Person aufgenommen werden, während die anderen angstauslösenden Anteile ausgeklammert und zugedeckt bleiben.40 Manche Forschungsobjekte und -themen lösen mehr Angst aus und rufen von daher stärkere Abwehrfunktionen hervor als andere. Devereux führt dies am Beispiel der Sexualforschung aus.41 Den professionellen Abwehrstrategien mit ihren Varianten der Isolierung setzt Devereux ein Bild von Forschung entgegen, in dem das Forschungsobjekt als Ganzes in seinem objektiven und subjektiven Kontext betrachtet und dargestellt wird. Er sieht es als unumgänglich an, daß der objektive Bezugsrahmen, in dem sich das Geschehen abspielt, genau beschrieben wird. Das heißt, daß die psychologischen, sozial-psychologischen und sozio-kulturellen Faktoren, die auf ein Individuum bzw. ein System einwirken, Teil der Beschreibung sein müssen. 1.5.2 Soziokulturell bedingte Störungen der wissenschaftlichen Wahrnehmung42 Auch der soziale und politische Kontext, in dem Forschung stattfindet, beeinflußt und „stört“ die Ergebnisse. Während in totalitären Systemen Forschenden ganz reale Zwänge auferlegt werden, die ihre Forschungsergebnisse beeinflussen, wird in demokratischen Kontexten die Forschung mehr 39
Diese „Wertneutralität“ war lange Zeit üblich z.B. bei Praktiken von weiblicher Genitalverstümmelung, von Witwenverbrennung oder dem Verkrüppeln von Füßen bei Frauen. 40 Als Beispiel für das Zudecken bestimmter Teile benutzt Devereux das Bild der Operationsdraperie, die alles abdeckt bis auf das Operationsfeld. Dieses Abdecken dient weniger medizinischen Belangen, sondern soll vor allem helfen, das Aktionsfeld einzugrenzen und zu isolieren. Es dient einerseits dem Chirurgen zur Konzentration, andererseits sorgt es auch für die Objektivierung und Entpersonifizierung des Operationsfelds. 41 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 130–145. 42 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 155–228.
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oder weniger subtil auch durch die Verteilung der finanziellen Ressourcen bestimmt. Welche Forschung wird durch wen finanziert? Oder auch nur die Frage: Wie muß der Antrag formuliert sein, und welche Schlüsselworte muß er enthalten, damit er befürwortet wird? Welche Denkmodelle, welche Forschungsthemen haben zu der jeweiligen Zeit Konjunktur? Welche werden als konservativ, individualistisch, als bürgerlich oder als „zu links“ abgetan? Weiterhin ist der soziale und ethnische Hintergrund der Forschenden selbst immer mitbestimmend für die Forschung und bringt gewisse Einschränkungen für das Denken, die Forschungsrichtung und die Auswahl der Themen. Es ist nicht bedeutungslos, ob Forschende im westlichen Europa oder in Nordamerika wissenschaftlich sozialisiert wurden, in welcher Tradition und in welcher kulturhistorischen Zeit sie ihre Forschungen begannen und unter welchen politischen und geistesgeschichtlichen Bedingungen sie diese durchführten. Mario Erdheim zeigt z.B., wie tief Freuds Psychoanalyse im Boden des Wiener Bürgertums zur Zeit der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert verwurzelt ist.43 Auch das Erkenntnisinteresseder Beobachtenden beeinflußt ihre Wahrnehmung. Deutlich wird dies z.B. bei den Berichten von Missionaren, die zwar einerseits detaillierte und zum Teil einzigartige Berichte über Kulturen und Religionen lieferten, deren Beobachtungen jedoch immer interessengeleitet waren, so daß sie z.B. Religionen, die sie vorfanden, entweder als „primitiv“ und „barbarisch“ be- und entwerteten oder sie im Hinblick auf ihre Ähnlichkeit und Anschlußfähigkeit zum Christentum beurteilten. Eine weitere Störungsquelle, die mit der forschenden Person selbst verknüpft ist, hängt mit der Ebene der schon genannten Selbstbezogenheit aller Forschung zusammen, d.h. mit der Tatsache, daß auf einer unbewußten Ebene bei jedem Thema ein persönliches Interesse eingewoben ist. Ethnologinnen und Ethnologen, die sich mit dem Verhalten von Menschen beschäftigen, sind schon durch ihre eigene Menschlichkeit mit ihrem Objekt verbunden und müssen sich damit auseinandersetzen, daß sie dazu tendieren, sich mit dem Forschungsobjekt zu identifizieren. Ein Versuch von Forschenden, die Identifizierung zu vermeiden, besteht darin, die Position eines Marsmenschen einzunehmen und damit vorzugeben, man hätte mit den beobachteten Menschen nichts Gemeinsames.44 Ein weiterer Versuch der Distanzierung ist die Zoomorphisierung und Mecha43 Vgl. Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/M. 1984. 44 Vgl. z.B. Michael Vester: Epilog. In: Wolfgang Vögele/Helmut Bremer/Michael Vester (Hg.): Soziale Milieus und Kirche. Religion in der Gesellschaft Bd. 11. Würzburg 2002, 411–418, 417.
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nisierung der menschlichen Forschungsobjekte, d.h. die Mitmenschlichkeit wird geleugnet, indem man Menschen als hochentwickelte Tiere oder als Maschinen betrachtet, um so diesen Forschungsobjekten möglichst objektiv gegenüberzustehen.45 Die Dissoziation von Andersartigen kann durch den Glauben verstärkt werden, daß nur die Individuen der eigenen ethnischen oder sozialen Gruppe als vollgültige Menschen legitimiert sind. Die eigene Psyche und die der eigenen Gruppe wird als prototypisch betrachtet, so daß andere Verhaltensweisen und Gefühlsarrangements z.B. im Bereich der Sexualität als „unmenschlich“ oder „tierisch“ abgewertet werden können. In anderer Weise isolieren sich Forschende, wenn sie sich ausschließlich als außenstehende, reaktionslose Beobachtende verstehen. Menschliche Forschungsobjekte werden in die Rolle von Versuchsobjekten gedrängt, deren Verhalten und Interaktionen von außen beobachtet werden. Nur indem sich die Forschenden außerhalb der Gesellschaft stellen, ist es ihnen möglich, ihren Forschungsunternehmen solche Priorität einzuräumen, daß ihnen das Schicksal der Untersuchten gleichgültig wird.46 All diese Versuche der Distanzierung dienen dazu, mit dem Grundkonflikt umzugehen, daß Ethnologinnen und Ethnologen bei der Erforschung menschlicher Objekte sich immer auch selbst erforschen. Immer noch wird zur Bewältigung dieses Dilemmas auf das Sich-Unterscheiden und auf die Objektivierung gesetzt, statt daß auf kreative Weise, z.B. durch die Entwicklung der Einfühlung, die Gemeinsamkeiten wahrgenommen und die Unterschiede herausgearbeitet werden. Eine weitere Störungsquelle bei ethnologischen Studien ist die Neigung von Menschen, sich selbst, bzw. ihr teilweise idealisiertes Selbst-Modell als Standard, Prüfstein und Richtschnur bei der Einschätzung anderer Subjekte
45 Eine Zuspitzung der Zoomorphisierung und Mechanisierung erfährt dieser Abwehrmechanismus, wenn menschlichen „Forschungsobjekten“ ihr vollmenschlicher Status abgesprochen wird, wie dies z.B. bei Sklaven oder Juden geschah. Damit wurde es Forscherinnen und Forschern möglich, andere Menschen zu medizinischen Experimenten zu benutzen oder sie zu töten, ohne sich ihrer Menschlichkeit bewußt zu sein. 46 Bis zu einem gewissen Grad ist dieser Ausschluß aus der Gesellschaft bei allen heilenden Berufen gegeben. Wie schon Schamanen, Hebammen und Hexen, so werden auch Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen sowie Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker mit einem bestimmten Nimbus ausgestattet und auf Distanz gehalten. Ihre Fähigkeiten, zu heilen und zu schaden, trennt sie von anderen. Für Pfarrerinnen und Pfarrer gilt diese (Selbst-)Ausgrenzung auf ähnliche Weise. Vgl. Manfred Josuttis: Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie. München 1982.
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zu verwenden.47 Jeder Mensch reagiert deswegen mit Widerstand und Verleugnung auf die Infragestellung oder Degradierung des eigenen Selbstbilds durch ein Gegenüber. Dies gilt für das Bild von Krankheit oder Gesundheit, das Forschende mit sich tragen, aber auch für die Hautfarbe, für die Nasenform und andere typische Merkmale hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Bestimmte Merkmale werden oft wie ein physischer Defekt behandelt. Dann wird es für genauso taktlos gehalten, auf die dunkle Haut oder die andersartige Nase eines Menschen zu schauen wie auf den leeren Ärmel eines Einarmigen. Besonders schwere Störungen des Selbstund Körperbilds sind nach Devereux bei Personen zu finden, die zu unterprivilegierten rassischen Minderheiten gehören und das (Körper-)Selbstbild der Majorität als Ideal übernommen haben.48 Für Verhaltenswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie für Ärztinnen und Ärzte hat das idealisierte Selbst-Modell zur Folge, daß sie die Andersartigkeit eines Körpers nicht unbefangen wahrnehmen, untersuchen und feststellen können, sondern diese wie andere Bedrohungen des Selbstbilds geleugnet und „übersehen“ werden muß.49 Devereux sieht auch in Bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit das oben genannte Muster am Werk. Auch hier wird das eigene Modell als der Normalfall betrachtet, während das andere Geschlecht die Abweichung darstellt. Kurz, schon immer hat den Menschen die Tatsache verblüfft, daß ein anderes Wesen, das sich in fast jeder Hinsicht mit seinem (oder ihrem) Selbstmodell deckt, ihm gleichzeitig so sehr ähneln und doch in einer Hinsicht – der Sexualität – so verschieden sein könnte.50
Devereux geht davon aus, daß die sexuelle Differenz eine Irritation ersten Ranges ist. Dies wird gerade auch im Bereich der Sexualforschung und der diagnostischen Arbeit deutlich, wo sexuelle Unterschiede selbst von Ärzten 47
Dies wird auch daran deutlich, daß alle wesentlichen Maßeinheiten auf Körperdimensionen basieren: Fuß, Elle, Yard, Faden, selbst das Dezimalsystem hat seine Entsprechung in den 10 Fingern. Vgl. Devereux: Angst und Methode. 192f. 48 An Devereux’ Verwendung von Majorität und Minorität, die über das herrschende Ideal entscheiden, wird deutlich, daß er das soziale Gefüge und den damit verknüpften Machtfaktor bei der Entscheidung über das geltende Ideal einer Gesellschaft nicht bedenkt. Gerade in Afrika, wo die weiße Haut ein Merkmal der Minorität ist, wird, wie in allen von westlichen Medien und Abhängigkeiten beeinflußten Gesellschaften, die helle Haut als Schönheitsideal gesehen und mit allen Mitteln angestrebt. 49 Devereux berichtet von der Befangenheit weißer amerikanischer Ärzte, Afroamerikaner an Mund und Nase zu untersuchen oder Auffälligkeiten bei der Pigmentierung ihrer Haut oder ihrem Haar anzusprechen bzw. in die Diagnose einzubeziehen. Vgl. Devereux: Angst und Methode. 204–208. 50 Devereux: Angst und Methode. 209.
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und Ärztinnen geleugnet oder sogar eliminiert werden.51 Er sieht auch, daß geschlechtsgebundene Merkmale wie z.B. der weibliche oder der männliche Kastrationskomplex nicht universal gegeben sind, sondern mit der jeweiligen Sozialisation verknüpft sind.52 In gleicher Weise erkennt er, daß die Beeinträchtigung des weiblichen Selbstmodells, wie sie im weiblichen Kastrationskomplex sichtbar ist, große Ähnlichkeit mit der Beeinträchtigung des Selbst-Modells unterdrückter rassischer Minderheiten hat.53 1.5.3 Die Persönlichkeit der Forschenden und daraus entstehende Störungen54 Devereux zeigt zunächst, daß wissenschaftliche Forschung schon an sich eine gewisse Persönlichkeit erfordert, die weder zu zwanghaft noch zu hysterisch und phantasievoll sein darf: Natürlich sollte der Wissenschaftler nicht in nahezu autistischer Weise seinen Durst nach dem Erstaunlichen und nach dem, was, vom gesunden Menschenverstand aus betrachtet, einfach unwahrscheinlich und fast unmöglich ist, befriedigen, um nicht seine Wissenschaftlichkeit aufs Spiel zu setzen, indem er in seiner Arbeit nur seine neurotischen Probleme ausagiert. Andererseits sind ein triebbestimmtes Kleben am Boden, eine zwanghaft hyperkritische Haltung gegenüber neuen Fakten und Theorien und eine ängstliche Unterwerfung unter die traditionelle 51 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 216–223; vgl. dazu die häufige Entfernung der Gebärmutter, ohne daß triftige medizinische Gründe vorliegen. Unter anderem festgestellt in: The Boston Women’s Health Book Collective (Hg.): Unser körper, unser leben Bd. 1. Reinbek 1980, 284–290. 52 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 211. 53 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 210. Wie bei dem Selbst-Modell rassischer Minderheiten so beachtet Devereux auch hier nicht, daß es nicht eine Frage von Mehr- oder Minderheiten, sondern von gesellschaftlicher Stellung und der Macht bestimmter Gruppierungen ist, wenn eine Gruppe kein Selbst-Modell bilden kann, sondern sich am Modell einer anderen Gruppe orientiert. Weiterhin muß man ihm gerade in Bezug auf seine Diskussion des geschlechtlich geprägten Selbst-Modells vorwerfen, daß er hier zu Zoomorphismen Zuflucht nimmt, die er noch kurz zuvor angeprangert hat. Als Beispiel sei folgende Stelle aus diesem Kapitel über das geschlechtliche geprägte Selbst-Modell zitiert: „Der Einfluß des geschlechtsgebundenen psychologischen Selbst-Modells auf die psychologische Forschung, [. . .] wird am eindrucksvollsten durch die Tatsache belegt, daß in den letzten Jahren ein großer Teil der wirklich bedeutenden psychoanalytischen Arbeit über psychologische und psychophysiologische Geschlechtsunterschiede von Psychoanalytikerinnen geleistet worden ist. Das erklärt sich teilweise aus dem Umstand, daß der hohe Grad des sexuellen Dimorphismus der menschlichen Spezies weitgehend auf die extreme und auffällige Weiblichkeit der Frau zurückzuführen ist, die sichtbarer ist als die irgendeines anderen weiblichen Säugetiers.“ Devereux: Angst und Methode. 223. 54 Vgl. Devereux: Angst und Methode. 250–285.
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Methodologie Selbstbetrug, zumal diese Haltung oft so weit getrieben wird, daß die Methodologie nicht länger dem Zweck dient, etwas auf die richtige Weise zu tun, sondern sich als Code von Tabus herausstellt, die einen daran hindern, überhaupt irgendetwas zu tun. Dieses Haltung führt nur dazu, daß man die Realität erstaunlicher Daten leugnet, und hemmt die Fähigkeit, zumindest heuristisch „unerhörte Hypothesen“ zu konstruieren [. . .], die allein gewährleisten, daß das Wissenschaftswachstum exponential verläuft.“55
Weiterhin muß bei der Auswahl von Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern für die Feldforschung beachtet werden, daß die Persönlichkeit von Feldforschenden nicht im unüberbrückbaren Gegensatz zur Kultur des Stammes stehen darf, zu dem sie geschickt werden. Ebenso wie nicht jede Psychoanalytikerin oder jeder Psychoanalytiker jede Patientin oder jeden Patienten analysieren kann, so befähigt das Studium der Ethnologie die Forschenden auch nicht dazu, jeden Stamm effektiv zu erforschen. Störungen durch die Persönlichkeit der Forschenden manifestieren sich nicht nur in Einschränkungen bezüglich der Wahrnehmungen, sie zeigen sich besonders auch bei der Niederschrift der Untersuchungsergebnisse. Innere Widersprüchlichkeit der Daten weist auf unbewußte Ängste oder Ekel hin, z.B. in Bezug auf bestimmte Praktiken. Zweideutigkeiten und Fehlleistungen rühren von unbewußten Widerständen gegen das vollständige Verstehen der Daten her. Wenn Passagen des Textes unklar sind, verbergen sich dort oft dumpf empfundene zusätzliche Einsichten, die mit der sonstigen Struktur der oder des Forschenden nicht vereinbar sind und deswegen der Verdrängung anheimfallen. 1.5.3.1 Selektivität Persönlichkeitsbedingt ist auch die unvermeidliche Selektivität bei der Beobachtung und der Auswahl der Daten. Die Auswahl kommt zum einen durch die bewußten Zielsetzungen des Feldforschers zustande. Zum anderen tragen auch unbewußte Interessen dazu bei, daß ein Ausschnitt der beobachteten Kultur besonders beachtet wird, z.B. die Verwandtschaftsverhältnisse, die materielle Kultur, der Bereich des Rechts oder der Zusammenhang zwischen Kultur und Persönlichkeit. In der ethnologischen Forschung ist nach Devereux besonders die exotische Selektivität56 häufig zu finden. Was Forschenden europäischer Herkunft exotisch erscheint, wird der Untersuchung für wert befunden. Das bedeutet, daß z.B. Rituale ein besonderes Forschungsinteresse wecken, während 55 56
Devereux: Angst und Methode. 234. Devereux: Angst und Methode. 241f.
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das Alltagsleben nicht die gleiche Aufmerksamkeit findet. In gleicher Weise werden besondere Merkmale einer Kultur hervorgehoben, wie z.B. die Tapferkeit der – im Klischee immer männlichen – Prärieindianer. Dabei wird vergessen, daß jedem manifesten Merkmal einer Kultur auch eine latente Kehrseite zuzuordnen ist. Im Falle der Prärieindianer läßt sich nach Devereux neben der Tapferkeit ein latenter Masochismus und ein Hang zum Selbstmitleid ausmachen.57 Die Gegenübertragungen der Forscherin oder des Forschers manifestieren sich oft dadurch, daß sie sich in ihren Forschungen nur für den manifesten Teil des Gesamtmusters einer Kultur interessieren, weil dieser ihnen besonders auffällt oder ihnen affektiv nahe steht. Ebenso wenig hilfreich ist es jedoch, sich hauptsächlich für den latenten Teil des Gesamtmusters zu interessieren und die manifesten Teile zu ignorieren. Es geht vielmehr um die Anerkennung der Existenz von dualen Mustern und um die Analyse der Interaktion, die zwischen der latenten und der manifesten Seite vor sich geht.58 Von großer Bedeutung ist für Devereux, daß jede Gruppe, die eine Forscherin oder ein Forscher untersucht, bei ihr oder ihm eine Gegenübertragung auslöst, die durch seine oder ihre eigene Persönlichkeit beeinflußt ist. Der „Lieblingsstamm“ einer Ethnologin oder eines Ethnologen wird immer der sein, mit dessen manifester Seite sie oder er am meisten Affinitäten hat. Eine Kultur, die dagegen eine polar entgegengesetzte Struktur zur eigenen Persönlichkeit hat, befriedigt die projektiven Bedürfnisse einer Forscherin oder eines Forschers nach einer Art Gegenideal oder einer Kontrastfolie.59 Dabei ist es für Devereux unwichtig, ob die erste Reaktion auf die manifeste Seite einer Kultur Abneigung oder Zuneigung ist. Es gilt immer auch die andere, die latente Seite einer Kultur zu entdecken. Explizit wird diese Affinität zu einem Stamm besonders dann, wenn die Forschenden während ihres Aufenthalts in der Kultur ein „Wir-Gefühl“ entwickeln oder sie bei einem „Sie-Gefühl“ stehen bleiben. Lassen die „Heldentaten“ der zu erforschenden Gruppe auch das eigene Herz höher schlagen? Werden Freunde, die der Forscher oder die Forscherin in der Gruppe gefunden hat, als Teil der Gruppe oder als für diese untypische Individuen gesehen?
57
Devereux: Angst und Methode. 243f. Vgl. Devereux: Angst und Methode. 248. 59 Bei Devereux spielt der Stamm der indonesischen Sedang die Rolle der Kontrastfolie. Bei ihnen sah er in der manifesten Seite Grausamkeit und Härte, Kleinlichkeit und Häme. Dagegen war der Stamm Mohave in Nordamerika Devereux’ Lieblingsstamm, in deren heiterer und großzügiger Kultur er sich wohl fühlte und bei denen er auch begraben werden wollte. 58
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1.5.3.2 Komplementäre Übertragung und Gegenübertragung Noch schwieriger als mit der identifizierenden Gegenübertragung ist es, mit einer komplementären Gegenübertragung umzugehen, d.h. einer Gegenübertragung, die durch latente Aufforderungen oder Statuszuschreibungen ausgelöst wird. Sie wird ihre Wirkung zeigen und unbemerkt bleiben, wenn der Forscher oder die Forscherin aus diesen Statuszuschreibungen unbewußte Befriedigungen ziehen kann. Die komplementäre Gegenübertragung bedient sich der Routine der Reziprozität: Wenn einer die Hand zur Begrüßung ausstreckt, nimmt der oder die andere sie. Die komplementären Muster einer Gesellschaft werden den Mitgliedern von Kindesbeinen an eingeschärft, die meisten, ohne daß sie ins Bewußtsein treten. Das gilt bzw. galt für das Verhalten von Männern und Frauen zueinander. Ein gutbürgerliches Mädchen in wilhelminischer Zeit sollte jungfräulich, sexuell unbeholfen und monogam sein, während, so schreibt Devereux, das polynesische Mädchen sinnlich, sexuell erfahren und promisk sein sollte, weil dies dem erwarteten Ideal der Männer dieses Stammes entsprach.60 Forscherinnen und Forscher können durch die Gruppe, die sie untersuchen, in eine bestimmte Rolle gedrängt werden. Diese werden sie um so leichter akzeptieren, je näher die Statuszuschreibungen an bei ihnen latent vorhandene Strukturen anknüpfen können.61 Diesen Rollenangeboten gegenüber müssen sich Ethnologinnen und Ethnologen ebenso wie Analytikerinnen und Analytiker bewußt verhalten, sonst wird die bewußte Interaktion zum unbewußten Ausagieren von Bedürfnissen. Dann entwickeln Forschende an dieser Stelle einen „blinden Fleck“, d.h. ein bestimmter Teil des eigenen Verhaltens und des Gruppenverhaltens bleibt in unbewußter Kollusion verschränkt. Für Ethnologinnen und Ethnologen bedeutet schon allein die Entfernung vom vertrauten sozialen Netz eine Verunsicherung und Gefährdung: Die physische Entfernung von der Ingroup, die abwegige Reaktionen sehr wirkungsvoll hemmt und das rationale Ich stützt [. . .], entfesselt leicht die neurotischen Tendenzen und befördert das Ausagieren. Der Anthropologe befindet sich bei der Feldforschung in einer solchen Si60
Vgl. Devereux: Angst und Methode. 271. Zudem gibt es Menschen, die Gegenübertragungen hervorrufen, die in keiner Weise mit dem sonstigen Verhalten des Objekts übereinstimmen. Devereux nennt den „Sammler von Ungerechtigkeiten“, der es schafft, von ansonsten freundlichen Menschen schroff und unfair behandelt und damit ein weiteres Mal zum Opfer der Umstände zu werden. Devereux beschreibt weiterhin, wie es mächtigen und narzißtischen Menschen gelingt, Situationen umzudefinieren, so daß ihre unberechtigten Forderungen völlig normal und berechtigt erscheinen. Vgl. Devereux: Angst und Methode. 274. 61
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tuation und muß folglich die Reserven seines Ich und seines Ich-Ideals mobilisieren, um der Versuchung des „Ausagierens“ zu widerstehen.62
Für Feldforschende ist es schwer, sich diesen Rollenerwartungen zu entziehen, gerade wenn bei ihnen der Eindruck entsteht, ihnen wird eine traditionelle Rolle angeboten, der sie sich nicht entziehen dürfen, ohne das Vertrauen der zu erforschenden Ethnie zu verlieren. Wenn sie die angebotene Rolle übernehmen, wird die Ethnie den Forschenden jedoch nur noch die Seite zuwenden, die der übernommenen Rolle komplementär entspricht. Damit wird ihre Selbstdarstellung zur Quelle von Verzerrungen und Fehlinformationen.63 Devereux betont, daß die Forschenden nicht zur Übernahme dieser Aufforderungen und Rollenzuschreibungen durch die Kultur des Stammes „gezwungen“ sind, sondern daß sich das subjektive Gefühl des Gezwungenseins einstellt, weil das Ich in der Fremde geschwächt ist und verdrängte IchAnteile stimuliert werden. Die Fremdheit der Kultur, die er untersucht, die anfängliche Unverständlichkeit ihrer Aufforderungsreize (die gerade, weil sie unverständlich sind, direkt auf sein Unbewußtes einwirken), ihr unwiderstehlich konsequentes Muster und die Hartnäckigkeit, mit der sie dem Anthropologen einen bestimmten Status zuzuweisen suchen, gleichgültig, ob er ihn Ich-syston oder Ich-dyston findet, und ob er all seine Implikationen versteht – alle diese Faktoren mobilisieren selbst beim normalen Anthropologen, da dessen kulturell erworbenen Abwehrmechanismen und Reaktionen in einer fremden Gesellschaft normalerweise unwirksam sind [. . .], unweigerlich neurotische und regressive Reaktionen und Triebe. Gerade weil jede Kultur jeweils bestimmte Triebe offen auslebt, die in der Kultur des Anthropologen verdrängt werden, wird die ihm zugeschriebene Rolle unweigerlich einige seiner normalerweise gehemmten Triebe stimulieren. Ob er sie dann ausagiert oder aber überverdrängt, oder sie auf reife Weise bewältigt, wird von seiner Einsicht in seine verborgenen Triebe und von seiner Fähigkeit zur Sublimierung abhängen.64
Wie der Abschnitt zeigt, ist die Gefährdung der Ethnologin oder des Ethnologen durch das Fremd-Sein und durch die Fremdheit der Kultur, in der er oder sie sich bewegt, unvermeidlich. Die Ankunft und der Aufenthalt einer Forscherin oder eines Forschers in einer fremden Kultur kann mit einer Versuchsanordnung verglichen werden, in die ein fremder Reiz eintritt. Damit wird die normale Lebenssituation 62
Devereux: Angst und Methode. 274f. Vgl. Devereux: Angst und Methode. 276. 64 Devereux: Angst und Methode. 276. 63
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unterbrochen und gestört. Jeder Reiz verändert die Situation in einer spezifischen Weise. Jeder Reiz sorgt für eine bestimmte Brechung und damit für eine bestimmte Verzerrung der Ergebnisse. Die Verzerrung entsteht auch, wenn die Forschenden die Rollen übernehmen, die ihnen angeboten werden. In der jeweiligen Rolle können sie nur ein bestimmtes Segment der Kultur entdecken, in der sie sich bewegen. Die Einseitigkeit vieler Beschreibungen und Charakterisierungen von Kulturen und ethnischen Persönlichkeiten rührt normalerweise von dem Umstand her, daß der Feldforscher ohne sein Wissen in einen besonderen Status manövriert wurde, der ihn nur die Seite der Kultur und der Menschen sehen ließ, die die Inhaber dieses speziellen Status wahrnehmen können – und die ihnen zugekehrt wird. Deshalb sollten wir, statt unser wissenschaftliches Gewissen mit der Fiktion von der neutralen Position des teilnehmenden Beobachters zu beruhigen, die tatsächliche Situation, in die wir hineinmanövriert werden, analysieren, damit wir jene wirkliche Objektivität erreichen, die nur die Analyse der Rolle, die man uns zugeschrieben hat, ermöglicht.65
Devereux’ Ziel ist es, daß Forschende die durch ihre Anwesenheit verursachten Störungen – dazu gehören auch Rollenangebote und Rollenübernahmen oder Veränderungen im Setting – nicht zu eliminieren versuchen; vielmehr sollen sie die Störungen, die durch sie entstehen, als besonderes Datenmaterial betrachten und auswerten. In Bezug auf die ethnologische Fragestellung müssen sich die Forschenden fragen: In welche Rolle fühle ich mich gedrängt? Inwieweit kann ich meine Rolle als komplementär zum Verhalten oder zur besonderen Kultur der Ethnie verstehen? Was löst die Anwesenheit von Fremden – Frauen und/oder Männern – im Verhalten eines Stammes und seiner einzelnen Mitglieder aus? Darf z.B. in der Gegenwart einer oder eines Fremden eine erotische Atmosphäre entstehen? Welche Rolle wird den Fremden dabei zugewiesen? Wie und mit welchen Mitteln und Schwierigkeiten wird die Anwesenheit einer oder eines Fremden bewältigt? Welche Aufnahmeriten werden zur Integration benutzt? Für die ethnopsychoanalytischen Forschenden steht deswegen nicht im Vordergrund, möglichst viele Fakten zu sammeln und zu sortieren, sondern im Umgang mit dem Rohmaterial von Daten und Erfahrungen die Brechungen und Störungen im Prozeß ihrer Sammlung und Auswertung auch mit Hilfe einer Lehranalyse bzw. der Forschungssupervision zu reflektieren.66 65 66
Devereux: Angst und Methode. 282. Vgl. dazu die Auswertungspraxis von Maya Nadig unter III.2.
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1.6 Devereux’ Konsequenzen für ein Verständnis von Subjektivität Wie der vorausgehende Abschnitt zeigt, geht Devereux davon aus, daß schon die Wahrnehmung einer anderen Person durch einen intensiven Dialog zwischen beiden Personen bzw. Personengruppen auf bewußter und unbewußter Ebene bestimmt ist, so daß die Wahrnehmung selbst ein wechselseitiger Dialog ist. Die Aufteilung in einen wahrnehmenden und einen wahrgenommenen Teil ist eine forschungstechnische Setzung, die nur einen Teil der Realität wiedergibt. Devereux macht deutlich, daß die wirkliche Wahrnehmung des Anderen und ein Verständnis für das Fremde erst möglich sind, wenn die Forschenden der oder dem Anderen Handlungsfreiheit, eigene Reaktionen und auch die Möglichkeit zur Abwehr beläßt. Devereux betont immer wieder, daß die Forschenden um ihre eigenen subjektiven Grenzen wissen und diese mit den Worten: „Dies nehme ich wahr!“ benennen können müssen. Dieser Satz, der die subjektiven Grenzen der Wahrnehmung im Sinne von „Dies ist alles, was ich ertragen kann.“ markiert, durchzieht implizit und explizit alle seine methodologischen Überlegungen.67 Devereux beschreibt, daß seine Theorie der Wahrnehmung und der Verarbeitung von Differenz und die damit verknüpfte Theorie über das Zusammenspiel von Subjekt und Objekt auch Konsequenzen für eine Konstruktion des Subjekts hat. Ausgehend von dem, was er mit seiner Untersuchungsmethode wahrnehmen kann, definiert er das Subjekt nicht von innen, z.B. durch eine Kernidentität. Die Eigenart eines Subjekts sieht er vielmehr darin, wie diese an ihren Rändern beschaffen ist und wie sie mit Störungen an ihren Grenzen umgeht. Reagiert sie auf Störungen mit Angst und Abwehr oder mit Neugierde? Wie empfindlich reagiert eine Person auf Andersartigkeit? Welche Arten von Fremdheit verursachen größere Störungen als andere? Welche Art von Abwehrmechanismen benutzt eine Person, um ihre Identität zu schützen? Wieviel Störung braucht sie, um sich zu verändern und sich zu entwickeln? Welches Maß an Störung ist zuviel und führt zu Rückzug und Entwicklungsverzögerung? Nach Devereux werden die Störungen nicht nur durch äußere Reize ausgelöst, sondern auch durch innere Reize und Triebimpulse. Die Grenze, an der Störungen wahrgenommen werden, ist damit von beiden Seiten, von innen und außen, von Unbestimmtheit und Fremdheit umgeben. Die bewußte Wahrnehmung und das Sich-Verhalten zu den Störungen machen die Subjektivität aus. 67 Vgl. Devereux: Angst und Methode. u.a. 48–51, 360, vgl. auch Reichmayr: Einführung. 192.
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Keiner dieser Triebe ist wahrnehmbar, ehe er nicht eine Störung erregt, die eine Trennung hervorruft. Diese kann – als Ort des „und das nehme ich wahr“-Phänomens – mit dem Ich gleichgesetzt werden, das von anderen mit einem anderen Namen belegt werden mag. Es muß noch einmal betont werden, daß das so definierte Ich nicht einfach „beweglich“ ist. In Wirklichkeit wird es ständig geschaffen. Es kann deshalb weder a priori einen Ort noch genuine „meßbare“ Eigenschaften haben.68
Konkret und unterscheidbar wird das Subjekt nach Devereux dort, wo es sagt: „Das nehme ich wahr“. Damit setzt sich das Subjekt zu äußeren Reizen und inneren Trieben in Beziehung und macht die Grenze und seinen immer neuen Umgang damit bewußt. Stricto sensu kann die Grenze nicht „beweglich“ sein, da sie ununterbrochen de novo geschaffen wird; die Trennung befindet sich dort, wo zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt eine Störung stattfindet. Gibt es keine Störung, so „gibt“ es auch keine Trennung. So gibt es z.B. in dem Sinne, der uns interessiert, bei einer Leiche keine Trennung (die Relevanz dieser Aussage in den Begriffen des Bohrschen Abtötungsprinzips [i.O. deutsch] ist offensichtlich). In diesem Bezugsrahmen ist Leben ein Zustand der Materie, in dem sich selbst erweiternde, Trennung provozierende Störungen auftreten können.69
Devereux begründet damit das Ich bzw. die Identität einer Person operational. Es hat keine Substanz und auch keinen Ort, sondern es manifestiert sich dann und dort, wenn eine Störung auf eine Grenze trifft und damit eine Reaktion hervorgerufen wird. Damit widerspricht Devereux dem topographischen Modell der klassischen Freudschen psychoanalytischen Theorie und nähert sich den Vorstellungen der modernen Psychoanalyse, in der die früheren statischen Begrifflichkeiten von Introjektionen, Instanzen, etc. durch Beschreibungen des Geschehens ersetzt werden, so daß ein dynamisches Verständnis der Psyche möglich wird.70
68
Devereux: Angst und Methode. 359. Devereux: Angst und Methode. 356. 70 Vgl. Roy Schafer: A New Language for Psychoanalysis. New York 1976. Zum Teil übersetzt unter dem Titel: Eine neue Sprache für die Psychoanalyse. Stuttgart 1982. Andererseits bleibt Devereux in mancher Hinsicht auch einem statischen Identitätsverständnis verhaftet. Vgl. Brauner: Kultur und Symptom. 274–282. 69
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2. Maya Nadig: Geschlechterdifferenz in fremder und eigener Kultur Devereux konnte seine epistemologischen und methodologischen Überlegungen selbst nicht systematisch und forschungspraktisch z.B. in ethnologischen Feldforschungen umsetzten. Für Maya Nadig und andere Ethnopsychoanalytikerinnen bildeten jedoch Devereux’ Überlegungen zusammen mit dem ethnopsychoanalytischen Ansatz von Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy71 den Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Gemäß den Forderungen von Devereux nutzen sie die affektive Verstrickung der Forschenden mit ihrem Gegenstand und die Subjektivität der Beobachtenden selbst als Weg zur Erkenntnis des Fremden. Maya Nadig entwickelte für ihre Feldforschung eine dreigliedrige Methode der ethnopsychoanalytischen Forschung mit forschungsbegleitender Reflexion, der Analyse der Gesprächsbeziehungen und der Interpretation der Verflechtung von kultureller Struktur und Subjekt.72 Anders als Devereux sieht sie in der Geschlechterdifferenz nicht nur einen Faktor neben anderen, der die Wahrnehmung beeinträchtigt, sondern begreift die Geschlechterdifferenz bzw. deren Verarbeitung als ein wichtiges Strukturmerkmal jeder Gesellschaft.73 In dem Punkt, daß die Geschlechterverhältnisse auch immer Machtverhältnisse sind, stimmt Nadig mit Irigaray überein. Nadig teilt jedoch nicht den Radikalismus von Irigaray, daß Frauen keine eigene Sprache und keinen eigenen Raum in der patriarchalen Gesellschaft haben. Vielmehr setzt sich Nadig mit der widersprüchlichen Welt der Fakten auseinander, die sich nur schwer in großen und radikalen Theorien einfangen läßt, weil dort weniger die Eindeutigkeit und mehr die Widersprüchlichkeit zuhause ist. Weiterhin macht Nadig die Methode der Ethnopsychoanalyse auch für ethnologische Forschungen in der eigenen Kultur fruchtbar und weist auf 71
Vgl. u.a. Parin/Parin-Matthèy/Morgenthaler: Die Weißen denken zuviel. Vgl. auch Reichmayr: Einführung, 83–128. 72 Vgl. III.2.2. 73 Die These, daß die Wahrnehmung und Verarbeitung der Geschlechterdifferenz ein wichtiges Merkmal jeder Kultur und Gesellschaft darstellt, ist auch die Grundlage der Strategie des Gender Mainstreaming. Diese Strategie zur Chancengleichheit für die Geschlechter, die seit 1999 durch die Amsterdamer Verträge als EU-Richtlinie für alle Mitgliedsstaaten verbindlich ist, wurde in der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking auf den Weg gebracht. Mit der Strategie, daß eine Institution bei all ihren Entscheidungen reflektiert, welche Auswirkungen diese Entscheidungen auf die Situation der Männer und Frauen der jeweiligen Institution hat, arbeiten inzwischen auch viele Landeskirchen. Vgl. dazu z.B. Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Geschlechterdemokratie als neues Konzept. Berlin 1997.
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die Besonderheiten der Forschung in diesem Feld sowohl bei der Datenerhebung als auch bei deren Auswertung hin.74 2.1 Maya Nadigs Forschungsansatz Maya Nadig wurde 1946 in der Schweiz geboren. Sie ist Ethnologin, klinische Psychologin und Psychoanalytikerin. Viele ihrer Forschungen sind in Zusammenarbeit mit Mario Erdheim entstanden. Gegenwärtig arbeitet sie als Professorin für Ethnologie an der Universität Bremen. Ihre wissenschaftliche Arbeit siedelt sie an der Schnittstelle zwischen kritischer Ethnologie, gesellschaftlich interessierter Psychoanalyse und feministischer Sozialwissenschaft an. Sie sieht die Gemeinsamkeit der drei Bereiche darin, daß sie am Fremden, am Unbeachteten und am Unterdrückten Erkenntnis gewinnen wollen. Es sind die Bereiche, die in der herrschenden Kultur keinen Raum haben. Sie wurden verdrängt, unsichtbar gemacht oder ideologisiert; es geht um Zusammenhänge, die uns selber unbekannt, in uns tabuisiert sind, und an die wir nicht selbstverständlich und mit adäquatem Vorwissen herangehen können. Vorurteile und Verbote, die geisteswissenschaftlich, theoretisch, terminologisch und moralisch tief verankert sind, erschweren den Zugang zum gesuchten Bereich und dessen Realität.75
In der Tradition der 68er-Bewegung fragt Nadig nach den Machtstrukturen, die das Leben in einer Gesellschaft bestimmen, und geht davon aus, daß die Arbeits- und Produktionsverhältnisse wesentlichen Anteil an der Etablierung und Erhaltung der jeweiligen Hierarchie haben. Bei ihrer Feldforschung in den 70er Jahren im mexikanischen Dorf Daxhó führte Nadig ethnopsychoanalytische Gespräche mit den Frauen des Dorfes. Das Ziel ihrer Untersuchung war, die Lebenswelt der Frauen und deren Probleme zu verstehen. Durch teilnehmende Beobachtung und anhand der Gespräche ließ sie sich in den Umgang mit den Geschlechterbeziehungen und mit der Ökonomie einbeziehen, verwickeln. Am Beispiel einzelner Frauenbiographien wollte sie herausarbeiten, wie sich Frauen einerseits auf die 74
Vgl. Maya Nadig et al.: Formen gelebter Frauenkultur. Ethnopsychoanalytische Fallstudien am Beispiel von drei Frauengenerationen des Züricher Oberlandes. Zürich 1991. 75 Maya Nadig: Zur ethnopsychoanalytischen Erarbeitung des kulturellen Raums der Frau. In: Helga Haase (Hg.): Ethnopsychoanalyse. Wanderungen zwischen den Welten. Stuttgart 1996, 143–172, 143. Wiederabdruck des gleichnamigen Aufsatzes aus Psyche 40/1986, 193–219.
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vorgegebenen Rollen und Erwartungshaltungen der Dorfgemeinschaft einließen und doch ganz individuelle Bewältigungsstrategien (er-)fanden, um kreativ und ihren Möglichkeiten entsprechend ihr Schicksal zu gestalten.76 Von besonderer Bedeutung war dabei, daß die traditionelle Lebenswelt und die bäuerlichen Produktionsstrukturen durch den Kontakt mit der USamerikanischen Kultur, durch Wanderarbeit der Männer und die Orientierung an Konsumgütern ins Wanken gerieten. Die Frauen mußten weitgehend allein und in eigener Verantwortung den Lebensunterhalt sichern, während gleichzeitig die Beziehungen zwischen Männern und Frauen durch die patriarchale Gesellschaftsstruktur, den Machismo, bestimmt wurde. 2.2 Nadigs Methodik Um das Leben dieser Frauen verstehen zu können, ohne es in ein Raster vorgefertigter Kategorien zu pressen, entwickelte Nadig in der Tradition von Devereux und von den Schweizer Ethnopsychoanalytikerinnen und -analytikern Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler eine Methodik, in der die eigene Subjektivität, d.h. Gefühle, Vorstellungen, Vorurteile und Befindlichkeiten bei der Feldforschung ein wichtiger Teil der Untersuchung sind und deswegen in Verbindung mit den anderen erhobenen Daten reflektiert werden müssen. Nadig unterscheidet in der ethnopsychoanalytischen Forschung drei verschiedene Ebenen und zeigt, daß die Subjektivität der Forschenden sich in diesen Bereichen jeweils verschieden manifestiert und in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden muß. Sie reflektiert zuerst die gesamte Forschungssituation; dann analysiert sie die Gesprächsbeziehungen. In einem dritten Schritt untersucht sie die Verflechtungen von kultureller Struktur und einzelnen Subjekten, besonders in Form der individuellen Anpassungsmechanismen.77 2.2.1 Die ethnopsychoanalytische „Begleitung“ der Forschungssituation – Begleitende Reflexion Als eine Ebene der ethnopsychoanalytischen Forschung nennt Nadig die ethnopsychoanalytische Begleitung, die zumindest während der Feldforschung meistens eine Zeit der Selbstbegleitung, d.h. begleitende Selbstreflexion ist. Nadig sieht es als unerläßlich an, daß die Forschenden sich während des Forschungsaufenthalts selbst beobachten und diese Beobachtungen samt den 76 77
Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 355–400. Vgl. Nadig: Zur ethnopsychoanalytischen Erarbeitung. 152–172.
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spontanen Assoziationen und Irritationen in einem Arbeitstagebuch festhalten. Diese Notizen zeigen die subjektiven Reaktionen auf die fremde Kultur und stellen einen Text dar, der nicht durch nachdrückliche Eindrücke verändert und geglättet ist, und von dem anzunehmen ist, daß er Manifestationen des Unbewußten enthält. Die selbstbeobachtende Begleitung im Forschungsprozeß soll Hindernisse, die aus idiosynkratischen, persönlichen Relationen (Ängsten, Konflikten, Sexualität, Anziehung, institutionelle Identifikation) und deren Abwehr (Projektion, Idealisierung, Verleugnung, Entwertung, etc.) entstehen, bewußtseinsfähig und handhabbar machen. Selbstbeobachtung soll den Weg zur Realität offenhalten.78
Die sozialwissenschaftliche Methode der teilnehmenden Beobachtung wird in der Ethnologie häufig verwendet. Dabei erleben die Forschenden beobachtend den Alltag und die Feste einer fremden kulturellen Gemeinschaft mit. Diese Methode bedarf einer regelmäßigen reflexiven Begleitung durch Tagebuchnotizen über die erfahrenen und beobachteten Begebenheiten und die eigenen Reaktionen darauf. Der Eintritt in eine fremde Kultur bringt für die Ethnologin oder den Ethnologen eine unüberschaubare Fülle von Eindrücken mit sich. Dies kann von ihnen als bedrängend und ängstigend erlebt werden und dazu verführen, die Eindrücke durch theoretische Raster oder durch vorschnelle Systematisierung zu ordnen, um so das Chaos zu lichten. Zu Beginn meines Aufenthaltes im Dorf wurde ich von Informationen überschwemmt: es wurde eine derartige Vielzahl erdrückender sozialer Fakten, fremder Kommunikationsformen und Gefühle an mich herangetragen, daß es mir schwerfiel, nicht in Panik zu geraten. Ich war nicht selten versucht, in eine gut einsozialisierte Abwehrhaltung der intellektuellen Distanz und der organisatorischen Effizienz zu verfallen. Das gestattete mir, die erschütternden und verunsichernden Ereignisse sofort in einem theoretischen Denkmodell über die Folgen des Imperialismus zu verstauen und quasi „Exemplifizierungen“ zu vorfabrizierten Thesen zu sammeln. Diese vorschnelle Anwendung von vertrauten abstrakten Erklärungsmodellen verbaute mir aber auch den Zugang zu den Menschen von Daxhó und damit auch zu ihren konkreten Erlebnisund Denkweisen. Erst als mir meine Ängste und Panik bewußt wurden, konnte ich die vorschnelle Imperialismusdeutung fallenlassen und anders hinhören.79 78
Maya Nadig: Ethnopsychoanalyse und Feminismus – Grenzen und Möglichkeiten. In: Feministische Studien 2/1986, 105–118, 107. 79 Nadig: Ethnopsychoanalyse und Feminismus. 108.
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Eine Niederschrift der überwältigenden Eindrücke erlaubt mit der Zeit, auch mit Hilfe von Supervision, einen gewissen Abstand zu den eigenen Affekten zu entwickeln und auch in Zeiten der Verwirrung bzw. im Anschluß daran, mit Hilfe der Notizen Strukturen in den Assoziationen zu entdecken. Diese konsequente selbstreflexive ethnopsychoanalytische Begleitung macht es möglich, sich von unbewußten kulturellen und liebgewonnenen theoretischen Vorannahmen Schritt für Schritt zu befreien und sich auf andere kulturelle und ökonomische Strukturen und ein anderes Lebensverständnis einzulassen. Wie die Lehranalyse, so sollte auch die Feldforschung eine Umstrukturierung der Erfahrung zustande bringen, und zwar dadurch, daß in beiden Fällen die Rollensysteme, die unsere Identität stützen und unsere Wahrnehmung lenken, durch die Konfrontation mit dem Fremden erschüttert werden.80
Dieses Hintersichlassen der Vorannahmen und des theoretischen Rüstzeugs ist ein schmerzhafter Prozeß, in dem die grandiosen Ziele und Vorstellungen, die die Forschenden mit ihrem Aufenthalt im Feld verbanden, aufgegeben werden müssen. Nadig und Erdheim nennen dies den Prozeß des sozialen Sterbens. Bei der Begegnung mit einer fremden Kultur werden klassen-, kultur- und zum Teil auch geschlechtsspezifische Rollenidentifikationen in Frage gestellt, so daß unbewußte Selbstverständlichkeiten und Wertvorstellungen bewußt werden können. Wenn Wahrnehmung und Kommunikation nicht mehr der Abwehr dienen, geraten bewährte Identitätsstützen ins Wanken, so daß reflexartig Zuflucht zu Schutzmechanismen gegen die Erschütterung der Rollenidentifikationen in Gang gesetzt werden. Gegen diesen Prozeß aber, der vom Individuum als sozialer Tod erlebt wird, werden Abwehrstrategien (Elitarismus, Exotik, Melancholie) eingesetzt, deren Wirksamkeit von den unbewußten Größen- und Allmachtsphantasien herrühren, die institutionell gestützt werden.81 Der soziale Tod setzt die Größen- und Allmachtsphantasien frei, entblößt sie ihres institutionellen Glanzes und wirft das Individuum auf seinen Alltag zurück.82
Die selbstreflexive ethnopsychoanalytische Begleitung kann die Allmachtsund Größenphantasien bewußt machen, so daß sie ihre Wirksamkeit zumindest teilweise verlieren und der Prozeß des sozialen Sterbens seinen Lauf 80 Mario Erdheim/Maya Nadig: Größenphantasien und sozialer Tod. In: Kursbuch 58/1979, 115–128, 122. 81 Erdheim/Nadig: Größenphantasien. 122. 82 Erdheim/Nadig: Größenphantasien. 123.
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nehmen kann. Der soziale Tod ist damit einerseits die Entäußerung von hohen Forschungszielen und -idealen und andererseits eine Wende zum Alltag, zur Begegnung mit den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern sowie zur unverstellteren subjektiven Wahrnehmung, so daß eine schrittweise Annäherung an die Realität der Menschen einer anderen Kultur möglich wird. 2.2.2 Die ethnopsychoanalytische Beziehung im Gespräch Ebenso wichtig ist die Subjektivität der Forscherin oder des Forschers bei der Analyse der Beziehungen, die in der jeweilig zu untersuchenden Kultur mit Frauen und Männern geknüpft werden. Die ethnopsychoanalytischen Gespräche, die die Forschenden mit den ortsansässigen Personen führen, rufen Übertragungen und Gegenübertragungen hervor und lösen Sympathien und Antipathien aus. Diese Gespräche unterscheiden sich weniger der Form als vielmehr der Motivation nach von psychoanalytischen Therapiegesprächen. Das therapeutische Gespräch wird von der Patientin oder dem Patienten gesucht, weil sie oder er sich durch ihren oder seinen Leidensdruck dazu veranlaßt sieht, sich diesen Gesprächen und der damit verbundenen Selbstreflexion auszusetzen. In der freien Assoziation wird die Krankengeschichte rekonstruiert, und in der Übertragung werden familiäre Rollen und Interaktionsmuster wiederholt, die bei der Analytikerin oder bei dem Analytiker Irritationen, d.h. Gegenübertragungen, auslösen.83 Beim ethnopsychoanalytischen Gespräch geht die Initiative von den Ethnologinnen oder Ethnologen aus, auch wenn zum Teil auch die Gesprächspartnerinnen und -partner selbst initiativ werden, weil sie damit soziale Vorteile verknüpfen oder nach Beachtung und Verständnis suchen. Die ethnopsychoanalytische Beziehung entsteht jedoch nicht wie die therapeutische Beziehung aufgrund eines Leidensdrucks, sondern basiert weitgehend auf Neugierde. Diese ist Antrieb zum Erzählen, sie bildet die Motivation zur Darstellung des eigenen Lebens. In der Übertragung werden kulturelle Rollen und Interaktionsmuster wiederholt, die bei den Ethnologinnen und Ethnologen, die nicht Teil des kulturellen Musters sind, Irritationen auslösen. Ziel der ethnopsychoanalytischen Gespräche ist nicht die Auflösung von neurotischen Anteilen wie in der Therapie, sondern daß die Forschenden durch den Bezug zum Unbewußten der Gesprächspartnerinnen und -partner die kulturelle Dynamik ihres Handelns verstehen und ins Bewußtsein heben können. Die Dynamik der Beziehung entsteht durch die kulturelle Verschie83
Vgl. Nadig: Die verborgenen Kultur der Frau. 48f.
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denheit der beiden Gesprächspartnerinnen und -partner, sowohl im Hinblick auf ihre kulturspezifische Psychodynamik als auch auf ihr kulturelles Milieu. Die ethnopsychoanalytischen Gespräche stellen eine Form von gesellschaftlicher Interaktion auf einer libidinösen Ebene dar. Menschen, die verschiedenen Kulturen angehören, agieren und reagieren kulturspezifisch aufeinander. Die in der Beziehung ausgelösten emotionalen und libidinösen Bewegungen werden in einer Weise strukturiert, die für die Kultur, der jede Teilnehmerin angehört, typisch ist. Das Aufeinanderstoßen zweier kultureller Kommunikationsmuster löst bei der Ethnologin subjektive Irritationen aus, die sie unweigerlich in den oszillierenden Prozeß der empathisch-identifikatorischen Annäherung und des reflexiv abgrenzenden Rückzugs hineinführen. Ohne diesen Oszillationsprozeß könnte sie die kulturspezifische Umgangsweise des Gegenübers gar nicht wahrnehmen, sie müßte sie – aus Selbstschutz – als neurotische und individuelle Abwehrform deuten. Die Pathologisierung des Anderen würde im Dienste der eigenen Abwehr eingesetzt werden müssen.84
Neben der „Pathologisierung der Anderen“ nennt Nadig als weitere Abwehrmechanismen die Verherrlichung und Idealisierung der untersuchten Kultur und ihrer Angehörigen, sowie die Exotisierung, die unterstellt, daß die Anderen, die (edlen oder primitiven) Wilden und ihre Kultur, nichts mit der eigenen Lebenswelt zu tun haben. Auch der Rückzug der Ethnologin in Arbeitsstörung und Krankheit kann der Flucht aus einer ängstigenden Realität dienen.85 Nadig reflektiert ihre Beziehung zu ihren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern in zweifacher Weise: 1. Sie unterbreitet ihnen ihre Hypothesen und Gedanken über das, was sie im Gespräch verstanden hat, in Form von konfrontierenden Fragen oder spiegelnden Feststellungen. In vieler Hinsicht entspricht dieser Schritt dem, was in der Psychoanalyse unter „Deutung“ verstanden wird. Doch da die ethnopsychoanalytische Beziehung weder der Form nach, noch der Motivation oder dem Ziel nach eine Psychoanalyse ist, benutzt Nadig statt dessen den Begriff des selbstreflexiven Gesprächs.86 Was das konkret bedeutet, zeigt Nadig an einer Gesprächssequenz mit einer Frau namens Amanda.87 Diese hatte ausführlich über ihre Arbeit erzählt. Die Ethnologin war irritiert, weil ihrer Meinung nach das Leben nicht 84
Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 49f. Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 408. 86 Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 51–54. 87 Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 253–316, bes. 274–282. 85
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nur aus Arbeit besteht. Im Laufe der Gespräche verstand sie jedoch, daß die Arbeit in der bäuerlichen Produktion für Frauen in Mexiko einen anderen Stellenwert hatte als die Hausarbeit für eine Schweizer Hausfrau. Erst als die Ethnologin die Bedeutung der Arbeit für Amanda akzeptierte („Du weißt, was du willst, du kannst arbeiten, und kämpfen, du kannst deine Familie erhalten, du erreichst, was du willst, du kannst dich verteidigen.“),88 konnte Amanda auch von konfliktreicheren Lebensbereichen wie z.B. ihrer Schwangerschaft sprechen.89 2. Die zweite Reflexion der Beziehungen90 erfolgt an Hand der verschriftlichten Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen und der Notizen über Irritationen und Auffälligkeiten zu diesen. Nadig untersucht die Gesprächsprotokolle daraufhin, welcher Diskurs hinter dem Erzählten liegt. Welche dynamischen Hinweise wie z.B. Wiederholungen, Unterbrechungen, Themenwechsel etc. weisen auf die verdrängten und verschobenen Anteile im Leben der Erzählenden hin? Neben der Dynamik des Gesprächs sind vor allem Irritationen von Bedeutung, die durch eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen und libidinöse Empfindungen ausgelöst werden. Zum anderen gibt es Irritationen durch bestimmte „Reizwörter“, die bei den theoretischen und kulturspezifischen Kenntnissen der Interpretin einhaken. Durch diese Reiz88
Nadig, 275. Nadig führt mehrere grundsätzliche Erfordernisse an, damit eine Interpretation der ethnopsychoanalytischen Gespräche erfolgreich sein kann. Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 56: 1. Es sollten mit zwei oder mehr Mitgliedern einer Kultur Gespräche geführt werden, damit Vergleiche möglich sind. 2. Die verschiedenen Arten der Beziehungen zwischen der Ethnologin und ihren Gesprächspartnerinnen müssen miteinander verglichen und in ihrer Unterschiedlichkeit oder Ähnlichkeit benannt werden. 3. Parallel dazu muß der soziale und kulturelle Ort der Gesprächspartnerinnen in ihrer Gesellschaft eruiert werden. Erst die unterschiedlichen Beziehungsformen in der Zusammenschau mit den verschiedenen sozialen Positionen der betreffenden Personen erlauben die Bildung von Hypothesen und Interpretationen von kulturellen Strukturen und latenten Funktionsweisen in der betreffenden Gesellschaft. 4. Gründliche Kenntnisse der gesellschaftlichen Verhältnisse der untersuchten Kultur sind unerläßlich. Unbewußte Bedeutungen und Sinnzusammenhänge kultureller Muster können in den Gesprächen nur dann erkannt werden, wenn die jeweilige emotionale Atmosphäre und psychische Bewegung ernst genommen werden, in der kulturelle Inhalte beschrieben oder inszeniert werden. Der emotionale Zusammenhang, in dem zum Beispiel religiöse Glaubensinhalte oder Arbeitsprozesse beschrieben werden, erlaubt eine Deutung, die den Zusammenhang zwischen Kultur und Subjekt erhellt. Nur so lassen sich Bedürfnisse, Wünsche und Funktionen fassen, die mit dem Gebrauch dieser Inhalte und Muster verknüpft sind. 90 Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 54–60. 89
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wörter werden historische, ökonomische und theoretische Problemkreise als Fragestellungen präsent. 2.2.3 Die ethnopsychoanalytisch-tiefenhermeneutische Interpretation der Verflechtung von kultureller Struktur und Subjekt Diese dritte Interpretationsebene fragt speziell nach der Verknüpfung der individuellen Struktur und der Biographie mit den überindividuellen kulturellen Strukturen einer Gesellschaft. Nadig geht davon aus, daß in allen individuellen und sozialen Konflikten kulturelle Muster eingewoben sind, d.h. daß jeder noch so individuelle Konflikt seine spezielle Prägung durch die jeweilige Kultur bekommt, in der das Subjekt sozialisiert ist. In jeder Gesellschaft gibt es unbewußte soziale Regulative, die im Sinne von Konfliktlösungsstrategien oder Konfliktvermeidungsstrategien funktionieren, um ständig auftretende Spannungen zu lösen, zu verhindern, zu verschieben oder abzuführen.91 Um diesen kulturellen Normen- und Wertekanon zu eruieren und zu sehen, welche manifesten und latenten Muster von individuellen und kollektiven Lebenseinstellungen damit harmonisch oder konflikthaft verbunden sind, bedarf es einer speziellen Wahrnehmungseinstellung. Diese hilft, nach Bruchstellen der Biographie zu suchen, um dort nach der latenten Verquickung zwischen bestimmenden Momenten der Lebensgeschichte und unbewußten Sozialmechanismen der betreffenden Kultur zu forschen. Dies nennt Nadig die ethnopsychoanalytisch-tiefenhermeneutische Interpretationsebene. Sie geht davon aus, daß jedes Individuum einer Kultur nicht nur durch innerpsychische, familiale und soziale Konflikte bestimmt ist, sondern auch durch die Differenz zwischen eigenen unbewußten Wünschen und gesellschaftlich gültigen Normen.92 Für Nadig geht es um das Verständnis einer Biographie in ihrem soziokulturellen Lebensraum, d.h. darum, wie sich das Subjekt in der Wechselbeziehung zu soziokulturellen Anforderungen, Normen und zu den normgebenden Institutionen verhält. Um diese Verflechtung aufzudecken, schlägt sie eine dreifache Fragestellung vor: 91
Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 379. Vgl. auch die Beziehung zu Alfred Lorenzer: Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: Hans-Dieter König et al. (Hg.): Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zu Kultur Bd. I. Frankfurt/M. 1986, 11–98, 67. Lorenzer nennt hier als Beispiele für die Wechselwirkungen zwischen Biographie und Kultur die literarischen Figuren der Rebekka bei Ibsen oder des Michael Kohlhaas bei Kleist. 92
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Um nun diese, auf ihre Bruchstellen hin analysierte Lebensgeschichte in ihrem sozialen Zusammenhang zu verstehen und um Rückschlüsse auf die Wechselwirkung zwischen der Subjektivität des Individuums und den es bestimmenden Sozialmechanismus und unbewußten Funktionsweisen seiner Kultur ziehen zu können, schlage ich vor, die Lebensgeschichte zusätzlich auf drei sich überschneidende Themenkreise hin zu untersuchen: den ökonomischen, den kulturellen (oder ethnischen) und den subjektiven. Werden ökonomische Gesetzmäßigkeiten, die kulturellen Institutionen, Traditionen und Normen sowie die Sozialisationsbedingungen der Lebenswelt der Erzählenden mit ihrer lebensgeschichtlichen Darstellung und ihrer Persönlichkeit in Zusammenhang gebracht, so wird deutlich, bis zu welchem Ausmaß die Autoren der Lebensgeschichte in Anpassung oder Widerspruch zu den sozio-ökonomischen Strukturen ihrer Umgebung stehen. Es geht darum, nachzuvollziehen, inwieweit und bis zu welchem Punkt es dem Subjekt gelingt, sich die im Wandel befindlichen Institutionen und kulturellen Muster anzueignen, sie zu umgehen oder zu bekämpfen, bzw. inwieweit es ihnen ausgeliefert ist.93
Wie diese Wechselwirkung zwischen Kultur und Subjekt geschieht, bzw. wie das Subjekt mit den Normen und Zwängen in einer Gesellschaft umgeht, untersuchten Parin, Parin-Matthèy und Morgenthaler in den 70er Jahren im Anschluß an ihre Afrikastudien bei den Dogon94 und den Agni.95 Sie verstehen diesen Prozeß als aktive Anpassung und sehen in den „Anpassungsmechanismen“ eine Struktur analog zu den Abwehrmechanismen, die Anna Freud beschreibt.96 Diese Anpassungsmechanismen siedelt Parin im Ich an, ohne daß sie jedoch durch das Bewußtsein zu steuern wären. Anpassungsmechanismen nenne ich im Ich des Erwachsenen mehr oder minder fest etablierte Mechanismen, die unbewußt, automatisch und immer wieder gleich ablaufen, gerade so, wie es bei den Abwehrmechanismen beschrieben ist. Während sich diese jedoch im Ich etabliert haben, um unerwünschte oder störende Triebregungen, Wünsche und Affekte abzuwehren, haben die von mir gemeinten Anpassungsmechanismen den Zweck, mit eingreifenden Einflüssen der sozialen Umwelt fertig zu werden. Auch in meiner Argumentation finden sich Analogien zum Vorgehen von Anna Freud, besonders aber in der 93
Nadig: Zur ethnopsychoanalytischen Erarbeitung. 168. Parin/Morgenthaler/Parin-Matthèy: Die Weißen denken zuviel. 95 Paul Parin/Fritz Morgenthaler/Goldy Parin-Matthèy: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt/M. 1971. 96 Vgl. A. Freud: Abwehrmechanismen. 94
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Zielrichtung. Man hat die jeweilige Abwehrorganisation des Ich als eine idiosynkratische Form, ja als das wichtigste dynamisch wirksame Substrat des Ich begreifen gelernt; in ähnlicher Weise scheinen sich auch die Anpassungsmechanismen zu einer Organisation zusammenzufügen, die idiosynkratische Merkmale des sozialen Verhaltens, ja so etwas wie kulturspezifische Ichvarianten bedingt.97
Warum nun kommt es zu einer Wechselwirkung? Was gewinnt das Subjekt durch die Anpassung an Kultur, gesellschaftliche Normen und Institutionen? Paul Parin weist auf die Motivation der Anpassung hin: Sie [sc. die Anpassungsmechanismen] entlasten andere Ichapparate und erleichtern es, zu Triebbefriedigungen zu gelangen, die von der Umwelt im Rahmen der entsprechenden Institutionen geboten werden. Narzißtische Befriedigungen treten dabei gegenüber objektbezogenen in den Vordergrund. Andererseits schränken die Anpassungsmechanismen die Flexibilität des Ich ein und verhindern, daß eine weitere Anpassung der Triebwünsche an andere oder sich verändernde soziale Verhältnisse zustande kommt.98
Wie Parin geht Nadig davon aus, daß die Anpassungsmechanismen die IchFunktionen stützen und stabilisieren und objektbezogene und narzißtische Gratifikationen versprechen. Als Quelle und Ursache für die Anpassungsleistungen sieht Parin nach seinen Afrika-Erfahrungen zum einen das GruppenIch, zum anderen das Clan-Gewissen und zum dritten die Forderung der Institutionen nach der Identifikation mit sozialen Rollen. Während die beiden ersten sozialen Vorgaben eher objektbezogene Gratifikationen anbieten, verspricht die Identifikation mit einer gesellschaftlich vorgegebenen Rolle vor allem narzißtische Gratifikationen.99 Anpassungsmechanismen entlasten einerseits das Ich; sie schränken jedoch andererseits die Wahrnehmung ein, weil kulturell und institutionell Unerwünschtes nicht mehr wahrgenommen werden kann. Da die Anpassungsmechanismen kulturspezifisch sind, wird bei gesellschaftlichen Veränderungen oder bei Migration die Möglichkeit der Anpassung eingeschränkt. 97 Paul Parin: Das Ich und die Anpassungsmechanismen. In: Ders.: Der Widerspruch im Subjekt. 78–111, 78. 98 Parin: Anpassungsmechanismen. 85. 99 Zur weiterführenden Debatte über die Anpassungsmechanismen und die Rolle des Narzißmus darin vgl. Roland Apsel: Das Technik-Selbst. Überlegungen zu einer Neubewertung der „Theorie der Anpassungsmechanismen“ und zu ihrer Weiterentwicklung in der Ethnopsychoanalyse. In: Ethnopsychoanalyse Bd. 6: Forschen, erzählen und reflektieren. Frankfurt/M. 2001, 202–217 und bei Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit.
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Eine besondere Form der kulturspezifischen Anpassungsmechanismen in Form der Übernahme von vorgegebenen Rollen sieht Nadig im Umgang mit der Kategorie Geschlecht. An dieser Stelle wird exemplarisch deutlich, wie gesellschaftliche Normen und subjektive Wünsche und Eigenschaften wahrgenommen, verflochten und gelebt werden. 2.3 Geschlechterverhältnisse in Nadigs Forschung Das erkenntnistheoretische Problem, daß bei den ethnopsychoanalytischen Gesprächen zwei verschiedene Kulturen zusammenstoßen100 und damit mitunter die grundlegenden Kategorien fehlen, um das Leben in einer fremden Gesellschaft und die dort herrschenden Strukturen zu verstehen, wird durch die Geschlechterdifferenz noch verschärft. Auch die Geschlechterverhältnisse sind sozial vermittelt und stellen damit ein Feld dar, in dem eigene Kategorien und Vorerfahrungen das Verständnis anderer Verhältnisse eher erschweren als fördern. Nadig geht einerseits davon aus, daß es in der Ethnologie schon immer ein Bewußtsein dafür gab, daß eine Gesellschaft nicht nur durch die männlichen Strukturen bestimmt ist, sondern daß Frauen in den jeweiligen Gesellschaften eigene Räume und eigene Rollen haben, die für das Leben und Überleben einer Gesellschaft unabdingbar sind. Das Wissen, daß die Rollen und Räume von Frauen kulturell bestimmt und sozial definiert sind, hat in der Ethnologie schon früh zu der Erkenntnis geführt, daß weibliche Rollen nicht biologisch determiniert sind, sondern weitgehend als soziale Konstruktionen verstanden werden müssen. Eine feministische Ethnologie muß davon ausgehen, daß es keineswegs klar ist, was genau „ein Mann“ oder „eine Frau“ ist. Selbst biologische Definitionen sind schon ideologische Konstrukte. Daher reicht es auch nicht aus, z.B. die Situation „der Frau“ darzustellen; vielmehr sind die Geschlechterverhältnisse von entscheidender Bedeutung.101 Nadig beschreibt ihre Arbeit, die Kultur und die Räume von Frauen zu analysieren, folgendermaßen: Ich verstehe den Lebensraum und die sozialen Bilder von Frauen als soziales Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse. Es scheint mir sinnvoll, den von Marcel Mauss (1925) geprägten Begriff des „fait social total“ auf „die Frau“ in einer bestimmten Kultur anzuwenden und 100
Vgl. Maya Nadig: Der ethnologische Weg zur Erkenntnis. Das weibliche Subjekt in der feministischen Wissenschaft. In: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.): Traditionen Brüche. Freiburg/Brsg. (1992) 2 1995, 151–200, 167. 101 Vgl. Nadig: Der ethnologische Weg zur Erkenntnis. 169f.
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sie als ein „auf die Gesamtheit der Kultur bezogenes Phänomen“ zu betrachten. Damit kann „die Frau“ nie als eine bekannte Größe vorausgesetzt werden, sondern muß als Teil der ökonomischen, rechtlichen, biologischen, religiösen, psychologischen, ideologischen, politischen usw. Verhältnisse analysiert werden. Ihre Situation entsteht im und durch das Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte; die Art, in der sich diese Kräfte überschneiden, läßt ein enggewobenes Netz von Zeichen und Bedeutungen entstehen, die im alltäglichen Handeln gesetzt, gelebt und konstruiert werden. Diese Zeichen und Codes gilt es wahrzunehmen und in der Weise zu lesen, daß das Verhältnis aller sie betreffenden gesellschaftlichen Strukturen mitberücksichtigt wird – das Verhältnis zum Raum, zum Körper, zur Arbeit, zum Alltag usw. Insofern kann die Frau selber zu einem räumlichen, biologischen, alltäglichen oder ökonomischen Faktum werden. Ändert sich das Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte zueinander, so verändern sich die sozialen Räume und Bilder, die der Frau zugewiesen werden oder die Frauen sich schaffen.102
Als wichtigen Teil der Konstruktion von Geschlechterverhältnissen sieht Nadig, daß den Geschlechtern durch geschlechtsspezifische Sozialisation und jeweilig spezifische Werte und Normen bestimmte Arbeitsfelder zugewiesen werden. Gerade in vormodernen Gesellschaften entstehen durch diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung Kulturräume von Frauen, die an der offiziellen, wirtschaftlich bedeutenden und einflußreichen Arbeitswelt nur wenig Anteil haben. Sowohl in Mexiko als auch in der ländlichen Schweiz fand Nadig von Frauen geschaffene Kultur- und Arbeits-„Räume“, in denen Frauen die übernommenen Aufgaben von Subsistenzwirtschaft, Kinder- und Altenpflege sowie Haushaltsführung neben einer meist geringfügigen Berufstätigkeit bewältigen können. Diese nur wenig strukturierten Frauengemeinschaften dienen der alltäglichen, wechselseitigen Hilfeleistung und Unterstützung. Sie formen jedoch auch Werte und Normen und beinhalten eine Form der sozialen Kontrolle, die Andersartige ausschließen. Obwohl diese Kultur-„Räume“ von Frauen für das ökonomische und soziale (Über-)Leben der Familien und der Wirtschaft unentbehrlich sind, bilden sie eher eine Subkultur und erfahren wenig gesellschaftliche oder soziale Anerkennung.103 Die moderne und spätmoderne Umstrukturierung der Gesellschaft bedeutet auch eine wesentliche Veränderung für diese Frauen-„Räume“. Zum 102
Nadig: Der ethnologische Weg zur Erkenntnis. 170. Vgl. Maya Nadig: Der Wahn der Männer – die Arbeit der Frauen. Thesen aus einer ethnopsychoanalytischen Untersuchung. In: Jürgen Belgrad et al. (Hg.): Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen Verstehens. Frankfurt/M. 1987, 245–258. 103
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einen werden die sozialen Rollenvorgaben für Frauen weniger strikt eingefordert, so daß sich Frauen auch von Heim und Herd entfernen und durch Berufstätigkeit an sozialem Status und Freiraum gewinnen können. Zum anderen haben viele Frauen, die Kinder und Haushalt versorgen, oft keine andere Wahl als sich im offiziellen Arbeitsmarkt zu bewähren, weil das „Versorgerprinzip“, das zumindest für einen bestimmten Teil von Frauen intakt war, weniger denn je greift.104 Nadig untersucht deswegen, wie Frauen ihre „Räume“ strukturieren; wie sie sich einerseits mit den durchaus noch vorhandenen geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen arrangieren und andererseits den Anforderungen des Arbeitsmarkts, der ihr finanzielles Auskommen bestimmt, sowie den Anforderungen der Versorgung von Kindern und Alten, die mit der inoffiziellen Kultur der Frauen verbunden sind, genügen.105 Jede Gesellschaft bietet Frauen bestimmte Möglichkeiten, diesen unterschiedlichen Anforderungen zu genügen und sich dazu zu verhalten, während andere Möglichkeiten strukturell oder durch normative Setzungen ausgeschlossen werden. 2.4 Ethnopsychoanalytische Untersuchungen in der eigenen Kultur Bei ihrem Forschungsprojekt zu den Lebenszusammenhängen von Frauen in der eigenen Schweizer Kultur übernahm Nadig weitgehend die Methodik, die sie bei der Erforschung der Kultur mexikanischer Bäuerinnen entwickelt hatte. Sie stellte jedoch fest, daß bei der Erforschung der eigenen Kultur andere Phänomene speziell im Bereich der Gegenübertragungen in Erscheinung treten. Wenn kulturelle Fremdheit und Verschiedenheit fehlen, die bei der Erforschung fremder Kulturen entstehen, treten auch die damit verknüpften Ängste und Irritationen als Gegenübertragungsreaktionen in den Hintergrund. Statt dessen stehen das gemeinsame kulturelle Unbewußte und die gemeinsamen Abwehr- und Anpassungsmechanismen von Forschenden und „Forschungsobjekten“ im Vordergrund. Von daher wird es noch wichtiger, sich über die eigenen Verarbeitungs- und Abwehrtechniken im klaren zu sein.106 104
Dies läßt sich nicht nur auf die Flexibilisierung von Werten und Normen zurückführen, sondern auch auf die immer schwierigeren Arbeitsmarktverhältnisse. 105 Die verschiedenen Anforderungen und die damit zusammenhängenden Kompromißbildungen schildert Nadig ausführlich in ihrem Buch Die verborgenen Kultur der Frau am Beispiel von drei Frauenbiographien. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich biographisch und persönlichkeitsbedingt die Lösungen sind, zu denen diese Frauen kommen. Vgl. Nadig: Die verborgene Kultur der Frau. 167–400. 106 Vgl. Reichmayr: Einführung. 184f.
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Nadig beschreibt die spezifischen Unterschiede zwischen ethnopsychoanalytischer Forschung in der fremden und in der eigenen Kultur bei der Auswertung ihres Forschungsprojekts im Großraum Zürich: Es hat sich gezeigt, daß in der eigenen Gesellschaft nicht vorwiegend der Befremdungsschock wegleitend ist, sondern die Irritation gegenüber dem Bekannten. Sie äußert sich in einem nicht immer bewußten Distanzierungs-, Abgrenzungs- oder Absetzungswunsch, der sich auch in Entwertung und Herabminderung des Interesses äußern kann. Wir haben entdeckt, daß oft gerade an diesen Punkten der Distanzierung zentrale, gesellschaftlich unbewußte gemachte Konflikte zu entdecken sind. [. . .] Das Aufspüren dieses eigenen und gemeinsamen Unbewußten verläuft nicht wie in der Psychoanalyse über die Irritation am Neurotischen im Gegenüber, sondern vor allem über die Irritation gegenüber den eigenen Entwertungen und gegenüber den eigenen Rationalisierungen.107
Auch die Rolle der Forschenden ist in der eigenen Kultur eine andere als „in der Fremde“. In Mexiko war Nadig mit Phänomenen der Idealisierung und Entwertung bei ihren „Forschungsobjekten“, aber auch bei sich selbst konfrontiert. In der eigenen Kultur standen eher Rivalitätskonflikte, aber auch die Suche nach Identifikationen mit den daran geknüpften Erwartungen und Hoffnungen im Vordergrund. Die Forscherinnen wurden als Mittlerinnen zwischen der privaten Frauenwelt und der öffentlichen Männerwelt betrachtet und mit den Wünschen nach Anerkennung konfrontiert.108 Nadig zeigt, daß auch in der eigenen Kultur formelle und informelle Frauengruppen – unabhängig von deren gesellschaftlichem Anspruch – Frauen „Räume“ anbieten, die zwar den Anpassungsmechanismen genügen, aber gleichzeitig helfen, eine soziale und persönliche geschlechtsspezifische Subjektivität aufrecht zu erhalten. Die Bedeutung dieser „Räume“ für das eigene – geschlechtsspezifische und kulturelle – Subjektsein verdeutlicht Nadig auch mit Hilfe von Theorien der Postcolonial Studies.109 2.5 Subjektivität als Prozeß im intermediären Raum Nadig versteht Subjektivität als Wechselwirkung zwischen sozio-kulturellökonomischen Einflüssen und bewußten und unbewußten Verarbeitungsund Anpassungsmechanismen. 107
Nadig et al.: Formen gelebter Frauenkultur. 76. Vgl. Nadig et al.: Formen gelebter Frauenkultur. 77. 109 Vgl. III.2.5. 108
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In der traditionellen Gesellschaft ist das Individuum eingebettet in einen sozialen und kulturellen Kontext und damit verknüpften Tätigkeiten und Arbeitsfeldern. Jede Person besitzt zwar ihre eigenen biographisch geprägten Wünsche und Vorstellungen. Jedoch muß sie ihre Idealvorstellungen mit den sozial vertretenen Normen und Vorstellungen vermitteln. In ihrer Arbeit über die Indianergesellschaft in Daxhó zeigte Nadig, wie Frauen sich zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten und patriarchal bestimmten Normen und Wertvorstellungen verhielten. Obwohl die Frauen nach der Ideologie des Machismo in eine untergeordnete, nahezu verachtete Rolle gedrängt waren, waren sie in der Lage, neben der oberflächlichen Angepaßtheit eine innere Unabhängigkeit und ein Gefühl des eigenen Wertes zu behalten. Dies gelang ihnen vor allem dadurch, daß sie ihre Arbeit hoch besetzten und wußten, daß trotz aller Abwertung das ganze bäuerliche Produktionssystem einer Familie von ihrer Arbeit – von der Arbeit der Frauen – aufrechterhalten wird. Diese Mischung von offizieller und ideologischer Entwertung mit dem geheimen Wissen um die immense Bedeutung ihrer Arbeit für das familiäre Produktionssystem bedeutete für die Frauen eine Form von Subjektivität, die die offizielle Ohnmacht mit heimlichem Stolz und die oberflächliche Angepaßtheit mit versteckter Autonomie verband. Weiterhin wurde diese Form der Subjektivität durch wechselseitige Hilfeleistung und Konkurrenz zwischen den Frauen sowie durch Rebellion und Abhängigkeit gegenüber den Männern abgestützt. Mit der Entstehung und der kontinuierlichen (Re-)Konstruktion von Subjektivität unter den Bedingungen der Postmoderne befaßt sich Nadig in einem neueren Aufsatz und zeigt, was die Ethnopsychoanalyse zu diesem Thema beitragen kann.110 Nadig bezieht sich dabei auf Forschungen zur Konstruktion subkultureller Prozesse und Identitäten, die am Center for Contemporary Cultural Studies in Birmingham durchgeführt wurden, und zeigt, welche Verbindungen diese zur Ethnopsychoanalyse haben. Die Postcolonial Studies untersuchen, wie im Individuum ein Gefühl von Kohärenz und Kontinuität, von Zugehörigkeit und sozialer Identität entstehen kann – in einer Gesellschaft, die durch zunehmende Unübersichtlichkeit und durch die Auflösung sozialer Systeme in Folge von Globalisierung und veränderten Kommunikationssystemen geprägt ist. Wichtig und unvermeidlich ist bei diesem Prozeß, daß das Individuum vor einer Neuorientierung eine Übergangsphase durchlaufen muß, die 110
Vgl. Maya Nadig: Interkulturalität im Prozeß. Ethnopsychoanalyse und Feldforschung als methodischer und theoretischer Übergangsraum. In: Hildegard Lahme-Gronostaj/Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.): Identität und Differenz. Zur Psychoanalyse des Geschlechterverhältnisses in der Spätmoderne. Wiesbaden 2000, 87–101.
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von Chaos, Desorientierung und der Suche nach Übersicht geprägt ist. Besonders augenfällig und quasi im Zeitraffer sichtbar ist das Zerbrechen von traditionellen Identifikationen, die Desorientierung und Neukonstruktion der Subjektivität bei „Diaspora-Identitäten“, d.h. von Personen, die sich nach einem Migrationsprozeß neu positionieren müssen. Stuart Hall beschreibt die Entstehung einer Diaspora-Identität im Bild von Hybridität, d.h. einem Subjekt, das durch Grenzüberschreitung, Zusammensetzung, Vermischung und der Überschneidung von verschiedenen Komponenten geprägt ist.111 Dies bedeutet, daß nicht eine Identität abgelegt und eine neue übernommen wird, sondern etwas Neues entsteht. Damit ein hybrides Selbstverständnis entstehen oder konstruiert werden kann, wird nach Homi Bhabha112 ein „Dritter Raum“ gebraucht, ein sozialer Begegnungs-, Denk- und Erfahrungsraum, in dem sich Migrantinnen und Migranten treffen, ihre Wahrnehmungsweisen besprechen und austauschen können. Nur wenn dieser „Raum“ weitgehend angstfrei ist, können sich Grenzen zwischen Fremdem und Eigenem vorübergehend auflösen, so daß es zu einer chaotischen und unüberschaubaren Vielfalt kultureller Zugehörigkeiten und Bedeutungen kommt, die in eine Neukonstruktion von Subjektivität münden kann. Nadig weist darauf hin, daß die Funktion des „Dritten Raums“ für die Entstehung und Konstruktion von Subjektivität, wie sie bei Bhabha beschrieben ist, Entsprechungen in der psychoanalytischen Identitätsdiskussion hat.113 Nadig bezieht sich bei ihrer Verknüpfung der soziologischen IdentitätsDiskussion mit der (ethno-)psychoanalytischen Debatte um die Identität vor allem auf Werner Bohleber.114 Bohleber konstatiert zunächst, daß der Begriff Identität kein psychoanalytisches Konzept im engeren Sinne ist. Er konzediert jedoch, daß das Konzept der Identität, anders als viele psychoanalytische Theorien, in Rechnung stellt, daß Entwicklungsprozesse sich immer an der Schnittstelle zwischen äußerer und innerer Realität abspielen und daß der Begriff der Identität von daher von der Psychoanalyse beibehalten bzw.
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Vgl. z.B. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften. Bd. 2 (AS 226). Hamburg 1994, 26–43, 41. 112 Vgl. Homi Bhabha: Verortungen der Kultur. In: Bronfen/Marius/ Steffen: Hybride Kulturen. 123–148. 113 Giddens bezieht sich bei seiner Diskussion der Identitätsentstehung ausdrücklich auf Winnicott und seine Vorstellung des intermediären Raums. Vgl. Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Identity and Self in Modern Age. Cambridge 1991, bes. 35ff. Vgl. Donald W. Winnicott (1953): Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. In: Ders.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 8 1995, 10–36. 114 Werner Bohleber: Identität und Selbst. Die Bedeutung der neueren Entwicklungsforschung für die psychoanalytische Theorie des Selbst. Psyche 46/1992, 336–365.
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aufgenommen werden sollte.115 Ausgehend von der neueren Säuglingsforschung zeigt Bohleber, daß für die Gewinnung eines sicheren Identitätsgefühls die Erfahrung eines sicheren Ortes unabdingbar ist, in dem inneres Erleben und äußere Erfahrung zusammenfließen und in einen kreativen Dialog eintreten können. Dieser intermediäre Raum116 ist zunächst ein imaginärer Raum zwischen Mutter und Kind, in dem die äußere Realität und ihre Objekte angeeignet werden, indem sie mit subjektiven Bedeutungen, d.h. mit Symbolisierungen, versehen werden.117 Im weiteren Leben und seinen Identitätsbildungsprozessen kann der „Übergangsraum“ als ein kultureller Raum und ein In-ein-soziales-Umfeld-Eingebunden-Sein verstanden werden, wodurch das subjektive Gefühl von Kohärenz und Kontinuität entstehen kann und es möglich wird, dieses Gefühl immer wieder aufs neue zu konstruieren, auch unter den schwierigen und destabilisierenden Bedingungen der Spätmoderne. Ausgehend von völlig unterschiedlichen Forschungsperspektiven sind die Psychoanalyse und die britische Soziologie zu ähnlichen Begriffen und Bedeutungen gekommen. Nadig kommentiert: Es ist verblüffend wie ähnlich die Begriffe [von Winnicott, Anm. der Verfasserin] zur Erfassung von Zuständen „dazwischen“ oder „in between“ denen aus der postkolonialen konstruktivistischen Theorie und Methodendiskussion sind: Es geht um die Vermittlung der Trennung zwischen innerer und äußerer Realität, resp. zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Bedeutungen und Symbole vermitteln sich zwischen Ich 115 Aufgenommen wurde der Begriff Identität in die Psychoanalyse durch Erik H. Erikson, der die Identitätsbildung als die phasenspezifische Aufgabe für die Adoleszenz darstellte und die Schwierigkeiten der Identitätsbildung in vielen Fallstudien, auch bei historischen Persönlichkeiten (Martin Luther, Mahatma Gandhi etc.) beschrieb. Der Begriff war jedoch in der Psychoanalyse immer wieder umstritten, weil er als unterdefiniert und diffus galt. 116 Auch Bohleber greift auf die Theorie Donald W. Winnicotts zurück, daß ein Kind zunächst Übergangsobjekte wie Teddys etc. braucht, um zwischen innerer Welt und Außenwelt zu vermitteln und sich daraus später der intermediäre Raum entwickelt, der es ermöglicht, einen inneren Raum bzw. Symbolisierungen, wie sie in Kunst, Religion und Kultur zu finden sind, zu schaffen bzw. zu verstehen. Vgl. Winnicott: Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. 117 Vgl. dazu auch: Yecheskiel Cohen: Borderline-Kinder. Auf dem Weg zur Beziehungsfähigkeit. In: Hildegard Lahme-Gronostaj/Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.): Identität und Differenz. Zur Psychoanalyse des Geschlechterverhältnisses in der Spätmoderne. Wiesbaden 2000, 119–148. Cohen beschreibt die stationäre Behandlung von Kindern mit mangelndem Identitätsgefühl. In einem langsamen Prozeß lernen die Kinder, denen es an einem Gefühl eigener Identität fehlt, zunächst zwischen sich und anderen zu unterscheiden, indem der therapeutische Raum d.h. die Klinik und das Personal die Aufgabe des intermediären Bereichs übernehmen und dem Kind helfen, Objekte und Abläufe mit Bedeutungen zu versehen. Mit der Möglichkeit, Symbolisierungen vorzunehmen, entsteht auch ein Gefühl für das eigene Selbst.
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und Gegenüber, innen und außen, resp. den kulturellen Differenzen. Indem die Symbole selber die Einheit/illusionäre Verschmelzung und die Trennung/Differenz repräsentieren und enthalten, machen sie die Spannung aushaltbar und erzeugen neue Dimensionen des Verstehens und Verhaltens.118
Für ihr eigenes Gebiet, die psychoanalytische Feldforschung, zeigt Nadig, daß auch in den ethnopsychoanalytischen Gesprächen ein intermediärer Raum entstehen kann. Dieser ist zwar fragil und von befürchteten Enttäuschungen und Vertrauenskrisen bedroht, aber er bietet, wenn er in gemeinsamer Anstrengung aufrecht erhalten wird, nicht nur für die Forschenden, sondern auch für den Gesprächspartner bzw. die Gesprächspartnerin die Möglichkeit, ein vertieftes Gefühl für die eigene Realität zu entwickeln. Es entsteht ein Verständnis für das eigene Leben, indem nicht nur die Fakten und Realitäten aufgelistet werden, sondern die Fakten mit Bedeutung und Gewichtung versehen und damit der Symbolisierung zugänglich werden. Weil die ethnopsychoanalytische Forschung nicht nur einen Beitrag zur abstrakten Wissenschaft und Erkenntnis leistet, sondern durch den gemeinsamen Übergangsraum auch dem „Forschungsobjekt“ die Möglichkeit eröffnet, sein Leben zu verstehen, hält Nadig diese wissenschaftliche Methode für wegweisend: Der Übergangsraum ist gleichzeitig ein Mittel der Forschung selber, in dem Forschende und Gesprächspartner gemeinsam neue Bedeutungen und Theorien finden können. Das ist auch von wissenschaftspolitischer Bedeutung. Schließlich meine ich, daß die heutige Gesellschaft Übergangsräume braucht und auch im Rahmen der Wissenschaft die Fähigkeit entwickelt werden sollte, solche Zwischen-Räume wahrzunehmen und zu fördern.119
Die Ethnopsychoanalyse ist damit eine Forschungsmethode, die das „Forschungsobjekt“ nicht zerstört, sondern seine Subjektivität fördert und die Identitätsbildung stützt. Gleichzeitig weist sie auf die Notwendigkeit von intermediären Räumen für die psycho-soziale Gesundheit einer Gesellschaft und ihrer Individuen hin.120 118
Nadig: Interkulturalität als Prozeß. 93. Nadig: Interkulturalität als Prozeß. 99. 120 Während Maya Nadig die ethnopsychoanalytische Methode und ihre Gespräche als einen Übergangsraum versteht, in dem Menschen mit ihren Biographien und Lebenswegen die Möglichkeit gegeben wird, den biographischen Fakten Bedeutung zu verleihen, zeigt Ulrike Wagner-Rau, daß auch die Kasualpraxis der Volkskirche Menschen die Möglichkeit bieten kann, innere und äußere Realität zu verbinden und somit dort einen symbolischen Raum, einen Segensraum zu schaffen. Vgl. Ulrike Wagner-Rau: Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft. PTHe Bd. 50. Stuttgart 2000, 156–173. 119
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IV. Differenz in der Analyse einer Beratungssequenz Look, I am a foreigner.1
1. Von der Theorie zur Methode der Gesprächsanalyse Der Übergang von einem Theoriemodell zu seiner methodischen Verwertung, z.B. zur Analyse eines Gesprächsprotokolls, ist ein schwieriges Unterfangen. Wie schützt man die Theorie vor groben Vereinfachungen und Polarisierungen? Und wie kann man methodisch der Vielschichtigkeit der Realität gerecht werden? Um diesen Fragen Rechnung zu tragen, stelle ich den Analysen jeweils methodologische Überlegungen voran. Dabei ist der Weg von der Diskurstheorie zur Diskursanalyse etwas länger als der von der ethnopsychoanalytischen Theorie zur ethnopsychoanalytischen Praxis. Anhand der Gesprächsanalysen werde ich verdeutlichen, was die Wahrnehmung und Verarbeitung von Differenz zur Subjektivitätsgewinnung und Identitätsfindung beitragen kann. Die doppelte Perspektive der Diskursanalyse und der Ethnopsychoanalyse soll zu einem umfassenderen Verständnis des Geschehens beitragen. Das Weiterführende bei dieser doppelten Perspektive ist, daß die Methoden von sehr verschiedenen Grundannahmen ausgehen und so Phänomene auf sehr unterschiedliche, nahezu sich widersprechende Weisen wahrnehmen – ähnlich wie die Eigenschaften des Lichts in Modellen von Wellen oder Teilchen erklärt werden können. Jede Methode der Wahrnehmung kann nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden – anderes fällt durch ihr Raster und bildet den jeweils spezifischen blinden Fleck. Indem ich zwei sehr unterschiedliche Methoden der Wahrnehmung und Analyse heranziehe, beleuchtet die eine Methode den blinden Fleck oder den toten Winkel der jeweils anderen. Um der wissenschaftlichen Redlichkeit und der Nachvollziehbarkeit meiner Untersuchung willen werde ich zunächst die Gesprächssequenz so ob1
Fritz Morgenthaler: Das Fremde verstehen. In: Fritz Morgenthaler/Florence Weiss/ Marco Morgenthaler: Gespräche am sterbenden Fluß. Ethnopsychoanalyse bei den Iatmul in Papua-Neuguinea. Frankfurt/M. 1984, 9–16, 9f. Morgenthaler berichtet, wie dieser Satz ihm half, Beachtung zu finden: Über viele Tage hatte er in einem Drug Store in New York versucht, einen Kaffee ohne Zucker zu bestellen, ohne daß sein Wunsch Beachtung fand. Erst als er seinen Wunsch mit „Look, I am a foreigner“ einleitete, bekam er einen schwarzen Kaffee, und andere Gäste begannen ein Gespräch mit ihm.
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jektiv wie möglich darstellen (2.). Da es sich dabei jedoch nicht um eine Tonbandabschrift, sondern um ein Gedächtnisprotokoll handelt, beinhaltet schon die Darstellung ein interpretatives Moment. Dazu kommt, daß ich an den Gesprächen als Beraterin beteiligt war. Um diese Ebene der Involviertheit darzustellen, füge ich spontane Kommentare zu den einzelnen Gesprächen in kursiver Schrift an. Ich schließe die Darstellung des Gesprächs mit einem zusammenfassenden Kommentar zur Beziehungs- und Konfliktdynamik ab. Es folgen die diskursanalytischen (3.) und die ethnopsychoanalytischen (4.) Interpretationen der Gespräche im Hinblick auf das Thema der Differenz. Beiden stelle ich einen Abschnitt voraus, in dem ich die Wege von der Diskurstheorie und der Ethnopsychoanalyse zu Methoden der Gesprächsanalyse skizziere.
2. Darstellung der Gesprächssequenz Karin Laupe2 ist zum Zeitpunkt der Beratung 37 Jahre alt und hat zwei Kinder aus zwei vorhergegangenen Beziehungen. Sie ist Akademikerin, arbeitet in jener Zeit jedoch als Sachbearbeiterin. Sie wuchs in Ostberlin auf und lebte in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern, bis sie zu Herrn Hauser zog. Herr Reiner Hauser ist 45 Jahre alt und hat einen Sohn aus erster Ehe, der bei seiner geschiedenen Frau lebt. Er ist Handwerker, hat sich zum Techniker weitergebildet und stammt aus Braunschweig. Das Paar lebt zusammen mit Frau Laupes 15jährigem Sohn Franz und ihrer 11jährigen Tochter Susanne in Braunschweig; Herrn Hausers 12jähriger Sohn Jens kommt jedes zweite Wochenende zu Besuch. Das Paar wirkt relativ jung; beide sind schlank und leger, fast nachlässig mit Jeans und Pulli bekleidet. Frau Laupe hat braune runde „Knopfaugen“ und ist sehr lebendig, wenn sie spricht. Herr Hauser wirkt etwas älter und ruhiger als seine Partnerin. Das Paar kommt zur Beratung, weil ihnen die Streitigkeiten über den Kopf wachsen und sie die gesamte Beziehung zeitweise in Frage stellen. Sie hatten sich zu Beginn ihrer nunmehr 4jährigen Beziehung versprochen, daß sie sich, bevor sie sich wirklich trennen, eine Beratung suchen würden. Auslöser sind die gemeinsamen Ferien mit allen Kindern gewesen. Dabei spitzten sich die Streitigkeiten so zu, daß Frau Laupe mit ihren Kindern einen Tag vor Ende des Urlaubs abreiste und Herr Hauser mit seinem Sohn zurückblieb. Nach der Anmeldung warteten sie drei Monate auf einen Beratungsplatz. 2
Alle Personennamen sowie alle weiteren Angaben, die zur Identifizierung führen könnten, wurden verändert.
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Das Paar Laupe/Hauser kam zu insgesamt dreizehn Gesprächen in einem Zeitraum von sechs Monaten in die Beratungsstelle. Zu den Gesprächen 1–5 kamen beide gemeinsam, zum 6. Gespräch kam Herr Hauser, zum 7. Gespräch Frau Laupe, zum 8. Gespräch beide gemeinsam, zum 9. Gespräch kam Frau Laupe, zum 10. Gespräch Herr Hauser, zum 11. und 12. Gespräch Frau Laupe, zum 13. Gespräch kamen wieder beide gemeinsam. Im folgenden schildere ich die Paargespräche 1 bis 5 und 8 einzeln, die Einzelgespräche 6, 7, 9, 10, 11 und 12 für die beiden Partner getrennt und zuletzt das 13. Gespräch als Abschlußgespräch. Kursiv stelle ich die Reaktionen und Wahrnehmungen der Beraterin dar, auf die ich besonders in der ethnopsychoanalytischen Analyse Bezug nehmen will. 2.1 Die Paargespräche 1. Gespräch Im ersten Gespräch sprechen Frau Laupe und Herr Hauser von dem Beginn ihrer Beziehung, von ihren Problemen und von ihrer Motivation, zur Beratung zu kommen. Herr Hauser: „Wir haben uns schon vor acht Jahren kennengelernt, aber da waren wir beide noch verheiratet. Das war die große Liebe, und wir haben uns dann von unseren Partnern getrennt und wohnen seit vier Jahren zusammen, mit ihren beiden Kindern, und mein Sohn kommt alle 14 Tage. Aber in letzter Zeit streiten wir immer wieder, und wir hatten uns zwar gesagt, daß wir den Streit austragen würden, aber inzwischen eskaliert es jedes Mal und alles wird in Frage gestellt. Und meistens geht es eben um die Kinder.“ Frau Laupe: „Ja, und wir hatten uns vorgenommen, wenn es bei uns wirklich schlimm wird, machen wir lieber eine Therapie, bevor wir uns trennen. Und irgendwann haben wir gedacht, wie schlimm muß es noch kommen, vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt schon gekommen. Und als es dann wieder einmal so richtig geknallt hat, habe ich dann hier angerufen.“ Als Problem sehen Frau Laupe und Herr Hauser ihren unterschiedlichen Umgang mit Konflikten. Frau Laupe: „Es ist eigentlich immer wieder so, daß unsere unterschiedlichen Charaktere es uns schwer machen. Ich komme aus einer Familie, in der man eben sehr emotional reagiert, während in seiner Familie alles über den Kopf entschieden wird.“ 131
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Als wichtigstes Problem werden die Konflikte um Jens dargestellt. Obwohl Frau Laupe zunächst einen guten Kontakt zu Jens hatte, ist sie inzwischen von seinen Provokationen und Marotten genervt, vor allem von seiner Gefräßigkeit. Sie beschrieb ihre Versuche, Jens zu erziehen, aber auch ihren Ekel. Frau Laupe: „Ich gebe ihm immer etwas weniger [sc. Essen], damit er sich noch Nachschlag holen kann. Ich kann auch einfach nicht zusehen, wie er das Essen in Mengen runterschlingt. Ich kann seine Eßgewohnheiten nicht ändern, aber es würgt mich, wenn ich da zusehen muß.“ Herr Hauser kontert, daß er mit Frau Laupes Kindern die ganze Zeit zusammenwohne. Manchmal sei er auch entnervt und fühle sich alleine, wenn sie sich mit ihren Kindern verbündet. Herr Hauser: „Ich habe jetzt beschlossen, daß ich Jens nicht mehr mit in unsere Ferien nehme, sondern lieber alleine mit ihm verreise, weil Karin mit ihm einfach nicht kann. Sie reagiert immer gereizt auf ihn. Und ich erwarte eigentlich schon, daß Karin das (wie schwer es Jens hat, mit der heilen ‚Zweitfamilie‘ von Herrn Hauser, Frau Laupe und ihren beiden Kindern klarzukommen, Anm. der Verfasserin) auch versteht und etwas toleranter ist, ich bin es ja auch bei ihren Kindern.“ Frau Laupe (scherzhaft sich an die Beraterin wendend): „Ja, manchmal denke ich auch, wenn Sie ein Rezept für mich hätten, wie ich toleranter sein könnte, dann wären unsere Probleme gelöst.“ Die Beraterin geht auf das Spiel ein und sagt, daß sie in ihrer Rezeptsammlung suchen würde. Dann bietet sie ihnen an, die Verletzungen, Dünnhäutigkeiten und Empfindlichkeiten, die auf beiden Seiten entstanden sind, in weiteren Gesprächen in den Blick zu nehmen. Sie willigen ein, nachdem Herr Hauser sich versicherte, welche Kosten entstehen – und die Beraterin vereinbart fünf Gespräche mit ihnen. Später, nach diesen Gesprächen, vereinbart sie weitere fünf Treffen und ein Abschlußgespräch. Noch während dieses Gesprächs spürt die Beraterin eine Ratlosigkeit, was denn das Thema sein könnte, um das es hier geht. Sie fühlt sich hilflos und unter Druck, das Richtige zu tun. 2. Gespräch In diesem Gespräch kündigt das Paar einen zweiten Problemkreis an. Herr Hauser (erklärend): „Ja, es geht dabei um die Sexualität. Es ist einfach nicht mehr so, wie ich mir das wünsche. Um es auf den Punkt zu bringen: Früher haben wir uns während drei Jahren insgesamt nur drei- bis viermal für ein Wochenende gesehen, aber an diesen Wochenenden haben wir
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mehr erlebt als jetzt während des ganzen Jahres. Und das wünsche ich mir anders und auch, daß von ihr nie die Initiative kommt, das fehlt mir.“ Frau Laupe: „Ja, von meiner Seite sieht das so aus, daß ich einfach zufrieden bin mit dem, was ich habe. Ich gehe auch gerne mit, aber ich habe einfach nicht das Bedürfnis, selbst die Initiative zu ergreifen. Ich bin zufrieden mit der Geborgenheit, die ich spüre, mit Kuscheln, und ich schaue Dich auch gerne an. Aber darüber hinaus brauche ich es eigentlich nicht. Und ich merke, daß Du mehr willst, aber ich kann ja auch nicht so tun, als wenn ich mehr wollte. Und wenn Du etwas willst, gehe ich ja auch meist darauf ein.“ Herr Hauser: „Ja, und ich mache dann vorsichtige Annäherungsversuche, und entweder versuche ich es und werde dann abgelehnt, oder ich versuche es etwas ausdauernder und bekomme dann immer noch einen Korb.“ Frau Laupe: „Ich finde, daß ich Dir nur ganz selten einen Korb gebe.“ Herr Hauser: „Ja, meistens merkst Du es wahrscheinlich gar nicht, weil ich aufgebe, bevor Du mir eine verbale Absage erteilst. Du zeigst mir schon öfter, daß Du kein Interesse hast.“ Frau Laupe meint, daß ihnen Berufsstreß und Familie keine Ruhe dafür ließen. Er wirft ihr vor, daß sie Unruhe produziere und die Ruhe auch immer wieder vermieden hätte. Frau Laupe (abschließend): „Ich habe Dich ja gewarnt!“ In diesem wie auch im Gespräch davor geht das Paar vorsichtig, fast übertrieben rücksichtsvoll miteinander um. Sie konstatieren, daß es in den letzten Wochen besser gehe. Herr Hauser: „Ja, irgendwie war es gar nicht so schlecht. Aber es kann jederzeit wieder beginnen, wenn etwas kommt.“ Beraterin: „Wenn Sie den Urlaub planen.“ Frau Laupe bestätigt: „Ja, das schieben wir die ganze Zeit vor uns her.“ Die Ratlosigkeit der Beraterin und der Druck, etwas zu tun, nehmen weiter zu. Sie hat das Gefühl, daß die Konfliktpunkte benannt sind, und doch fehlt etwas Entscheidendes, um den Konflikt zu verstehen. 3. Gespräch In diesem Gespräch schildert das Paar die Geschichte seiner Beziehung. Sie lernten sich über die Gewerkschaftsarbeit kennen. Frau Laupe war erstaunt, wie gut und selbstverständlich sie mit Herrn Hauser reden konnte. Herr Hauser fühlte die Vertrautheit und Anziehungskraft, hatte aber eigentlich eine glückliche Beziehung und einen kleinen Sohn. Trotzdem begannen sie eine Beziehung. Herr Hauser sagte Frau Laupe zu, daß er sich von seiner Frau trennen würde.
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Herr Hauser: „Was dann folgte, waren die aufregendsten, aufwühlendsten und nervigsten Jahre meines Lebens. Nie zuvor habe ich solche Höhen und solche Tiefen erlebt, nie zuvor mußte ich mich so mit mir auseinandersetzen. Das waren wirklich wunderschöne, aufregende Tage mit ihr, wenn wir uns zwei-, dreimal im Jahr sahen. Aber ich hatte manchmal auch ein richtiges Hochgefühl, wenn ich merkte, daß ich es klar machen kann, daß ich sowohl meiner Freundin klar sagen konnte, daß ich mich nicht von meiner Frau trennen werde, und auch klar meiner Frau sagen konnte, daß diese Beziehung (sc. zu Frau Laupe) mir sehr wichtig ist. Denn Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig. Und die erwarte ich auch von anderen. Ja, aber irgendwann ging das dann alles nicht mehr. Meine Frau sagte zwar immer wieder, daß sie das alles aushalten kann und daß sie sich nicht von mir trennen will, aber ich merkte, daß es ihr immer schlechter ging. Und sie (sc. Frau Laupe) wollte das auch nicht mehr länger. Ja und da habe ich gemerkt, daß mir die Beziehung zu ihr immer wichtiger wurde als die zu meiner damaligen Frau, und ich habe ihr gesagt, daß ich mich von ihr trennen will, und dann ging es ihr so richtig schlecht.“ Seine Frau und seine Schwiegermutter bestärkten sich gegenseitig darin, daß alles wieder gut würde, solange seine Frau nur an der Beziehung festhielte. Nach der endgültigen Trennung verschlechterte sich der psychische Zustand von Herrn Hausers Ex-Frau, und sie wurde stationär in die Psychiatrie aufgenommen. Er meint auf die Nachfrage der Beraterin, daß sie nicht wegen Depressionen, sondern wegen Schizophrenie eingewiesen worden sei. Inzwischen wäre sie wieder in einer neuen Beziehung. Herr Hauser meint, daß sein Sohn viel mitgemacht habe, während Frau Laupe davon ausgeht, daß ihre Kinder die Trennungen gut überstanden hätten. Frau Laupe (gegen Ende der Stunde): „Nach dem, was Rainer da letztes Mal zu mir gesagt hat, daß er immer das Gefühl hat, bei mir abzublitzen, da habe ich gemacht, was ich immer mache, und ein Buch gekauft Venus, Mars und Eros. Und ich habe es gelesen und mir gedacht, wir könnten doch beide anstreichen, was uns interessant erscheint, und dann könnten wir darüber reden. Na ja, ich war dann ganz enttäuscht, als ich gesehen habe, was er angestrichen hatte.“ Als die Beraterin Herrn Hauser fragt, was er angestrichen habe, verliert er sich in ausschweifenden Erklärungen und kommt nicht auf den Punkt. Frau Laupe (erklärt): „Ja, was er angestrichen hatte, das ging nur um die Sexualpraktiken, daß Männer eben so oder so berührt werden wollen. Und ich habe dann mit ihm darüber reden wollen, daß Männer und Frauen eben unterschiedliche Bedürfnisse haben und daß das vielleicht auch geht, wenn ich nicht so sehr will, und es dann halt etwas kürzer wird. Und da hat er 134
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gesagt ‚Ich will nicht nur auf Dich draufsteigen, das genügt mir nicht.‘ Und das fand ich wirklich bitter, und das tat mir weh.“ Herr Hauser: „Aber ich fand das auch wirklich komisch, was Du da angestrichen hast. Du streichst nur an, was Dich und Deines bestätigt und hast überhaupt nicht verstanden, was ich eigentlich will und ignorierst es.“ Beide sind wütend und beleidigt und fühlen sich nicht verstanden. Dies verschärft sich noch dadurch, daß die Stunde zu Ende ist und die Beraterin nur noch sagen kann, daß hier noch einiger Gesprächsbedarf besteht. Frau Laupe drückt ihr noch im Vorbeigehen die Hand, verläßt aber das Zimmer so schnell es geht. Sie scheint den Tränen nahe. Nach dieser Stunde ist die Beraterin erleichtert, daß zum ersten Mal etwas von der affektiven Seite des Konflikts deutlich geworden ist. Sie hat aber Bedenken, ob ihr Beharren auf der Begrenztheit der Stunde nicht übermäßige Wut, ja, den Abbruch der Beratung zur Folge haben würde. 4. Gespräch Die Beraterin ist gespannt, wie das Paar mit dem Eklat der letzten Stunde umgehen wird. Herr Hauser beginnt: „Ja, wir haben geredet und gedacht, eigentlich könnten Sie heute mal anfangen.“ (Die Beraterin überläßt den Einstieg weitgehend den Klienten, damit sie ansprechen können, was ihnen wichtig ist.) Beraterin: „Ah, Sie wollen die Spielregeln ändern?“ Herr Hauser: „Ja, wir haben gedacht, wir haben ja jetzt alles erzählt. . . “ Frau Laupe (hinzufügend): „ . . . und wir haben alles mal gestreift und sind nirgends richtig in die Tiefe gegangen, das ist ja auch schwierig, immer mit dieser Sanduhr dabei, wenn dann gleich wieder Schluß ist.“ Herr Hauser: „Ja, und im Moment haben wir eigentlich auch keine Probleme. Jetzt müssen Sie mal.“ Beraterin: „Wie schon gesagt, ich habe keine Rezepte, sie müssen sich schon selbst an die Arbeit machen.“ Herr Hauser: „Eigentlich haben wir heute schon gearbeitet. Ja, wir sind eigentlich jetzt in einer Sondersituation, weil die Kinder weitgehend weg sind. Dann haben wir 80 Prozent weniger Konfliktstoff als sonst.“ Beraterin: „Die Kinder bringen doch nur die Konflikte ans Licht, die sonst umgangen werden können. Was denken sie, Herr Hauser, wenn sie so richtig wütend sind?“ Herr Hauser: „Naja, ich denke dann, vielleicht wäre es alleine schöner, eigentlich könnte ich auch alleine leben. Und dann gehe ich eine Runde, und dann bin ich doch ganz froh wieder zurückzukommen.“
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Frau Laupe: „Naja, ich denke dann auch, vielleicht sollten wir lieber getrennt leben und uns nur ab und zu treffen, aber dann ist der andere auch immer gerade nicht da, wenn es wichtig ist, und das ist auch wieder schade. Und diese alltäglichen Reibereien sind natürlich schwierig: Ich bemühe mich ja, aber ich kann es auch nur begrenzt. Zum Beispiel versuche ich ja jetzt immer, die Schranktüren zuzumachen, weil ich weiß, daß ihm das wichtig ist, aber dann ist immer noch etwas anderes.“ Herr Hauser: „Ja, es ist nicht nur in der Küche, sondern im ganzen Haus so, überall stehen die Schranktüren offen. Ich habe schon einmal daran gedacht, sie alle auszuhängen und in den Keller zu stellen, sie werden ja sowieso nicht gebraucht. Und es geht mir dabei ja immer auch um die Kinder: Die machen ja nur, was sie vorgemacht bekommen. Aber wie kann ich ihnen etwas sagen, wenn es bei uns genauso aussieht? Und es ist ja nicht nur, daß die Türen offenstehen, sondern es liegt ja alles herum. Man kann ja zum Teil nicht mehr treten!“ Frau Laupe: „Das stimmt so aber nicht, das klingt, als wenn bei uns alles total chaotisch wäre. Das ist aber nicht so. Und ich kann einfach nicht alles machen. Ich schaffe es nur zu 80 Prozent, nicht zu 100 Prozent, so wie ich das gern wollte.“ Beraterin: „Herr Hauser, das klingt so, als wenn Sie nicht nur die Kinder erziehen wollten, sondern auch noch Ihre Frau!“ Herr Hauser meint dagegen, daß er das eigentlich nicht wolle, und zählt dann viele rationale Gründe auf, die dafür sprechen, Ordnung zu halten. Beraterin: „Ich glaube, es geht hier nicht um rationale Argumente, sondern um Gefühle, und da sieht es fast so aus, als ob Sie Bedingungen stellen!“ Herr Hauser: „Das will ich eigentlich gar nicht. Ich weiß ja auch, was sie mir bedeutet. Letztens war mir das auch wieder ganz klar geworden. Da habe ich gemeckert, weil sie mit dem Fuß in den Abfalleimer trat und ihn auseinander drückte. Ich sah schon wie der Mülleimer kaputtging und die Tüte riß. Und da sagte sie mir: ‚Du gehst vielleicht sorgfältiger mit Dingen um, aber ich mit Menschen.‘ Und da ist schon etwas dran, gerade was das Beziehungen knüpfen und halten angeht. Und auch wenn ich sage ‚Du hast das Chaos in mein Leben gebracht‘, meine ich das durchaus positiv.“ Frau Laupe: „Ich habe Dir ja gesagt, daß Du es (sc. diese Beziehung) selbst gewollt hast, aber ich verstehe den Satz nicht als positiv. Es gibt wenige Leute, die mit Chaos etwas Positives verbinden. Und dieser Satz verletzt mich schon. Manchmal werde ich auch wütend, das ist eigentlich besser. Aber meistens resigniere ich nur und kann mich nur damit trösten, daß es vielen meiner Freundinnen auch so geht.“
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Die Beraterin betont, daß es wichtig ist zu sagen, daß sie dieser Satz kränkt, und fragt in diesem Zusammenhang auch, inwieweit ihr jetziges Beziehungsmuster mit ihren früheren Beziehungen zusammenhängt. Beraterin: „Gerade Sie, Herr Hauser, haben ja z.B. eine ganze Zeit überlegt, ob Sie in Ihrem ruhigeren Leben bei Ihrer früheren Frau bleiben oder ob Sie sich auf das Chaos mit ihrer jetzigen Frau einlassen.“ Herr Hauser: „Ja vielleicht, aber ich weiß doch ganz sicher, daß ich mich in dieser Beziehung wirklich entwickelt habe und sich vieles bei mir verändert hat und daß ich das gut finde und daß ich Dich auch dafür liebe.“ Frau Laupe: „Daß Du Dich durch uns verändert hast und daß Du das mir verdankst, das sage ich dir schon. Einer muß mich ja loben! (Alle drei brechen in Gelächter aus.) Aber es stimmt schon, daß ich immer das Gefühl habe, er vergleicht mich mit seiner Frau, daß die viel ordentlicher war. Die hat ja auch nicht so viel gearbeitet, und bei zwei Kindern ist das anders und bei achteinhalb Stunden am Tag.“ Die Beraterin will den nächsten Termin vereinbaren und fragt das Paar, ob sie damit einverstanden sind. Frau Laupe: „Ja, ich will das schon.“ Herr Hauser: „Ja, dann komme ich auch mit. Vorhin wollte sie ja gar nicht mehr kommen, aber jetzt geht es ja doch.“ Die übergroße Wut auf die Beraterin war ausgeblieben. Statt dessen wurde sie spielerisch-provokativ, etwas gekränkt, aber nicht auf zerstörerische Weise angegriffen. Gleichzeitig tauchte zum ersten Mal das Wort Chaos als ambivalent besetzte Bezeichnung für die Beziehung auf. 5. Gespräch In diesem Gespräch wurde erneut an verschiedenen Situationen gezeigt, wie unterschiedlich Frau Laupe und Herr Hauser mit Konflikten umgingen. Herr Hauser war ärgerlich auf Frau Laupe, weil sie soviel Gefühlschaos produzierte, während er doch alles ordentlich und harmonisch regeln wollte. Gleichzeitig vermieden es beide, Emotionen zu zeigen, und beschuldigten sich gegenseitig, noch an ihre früheren Partnerschaften gebunden zu sein. Um beiden Partnern Raum und die Gelegenheit zu geben, ihre Trennungsgeschichten separat zu bearbeiten, bot ihnen die Beraterin Einzelgespräche an. Sie ließen sich drauf ein. In diesem Gespräch wurde die Beraterin ebenfalls in die Konflikte und das Gefühlschaos hineingezogen. Von daher könnte ihr Vorschlag zu Einzelgesprächen durchaus auch davon motiviert sein, die eigene Angst vor dem Ausbruch des Chaos der Gefühle zu mindern.
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8. Gespräch Nach zwei Einzelgesprächen traf sich die Beraterin in der 8. Stunde wieder mit dem Paar. Im Gespräch wurde deutlich, daß die Einzelgespräche intensiver und hilfreicher empfunden worden waren als die Paargespräche. Deswegen wurden weitere Einzelgesprächstermine vereinbart, die vor allem Frau Laupe wahrnahm. Am 13. Termin wurde das gemeinsame Abschlußgespräch geführt (vgl. 2.4). Im folgenden werde ich die Einzelgespräche mit Herrn Hauser und Frau Laupe jeweils zusammengefaßt darstellen. 2.2 Die Einzelgespräche mit Herrn Hauser (das 6. und 10. Gespräch) Herr Hauser beginnt das Einzelgespräch, indem er auf das Aquarium im Wartezimmer Bezug nimmt: „Ich habe selbst mal ein Aquarium besessen und habe es meiner Frau zuliebe [ob er damit Frau Laupe oder seine Ex-Frau meinte, bleibt offen] und aus rationalen und finanziellen Gründen aufgegeben. Später, als Susanne, die Tochter von Frau Laupe, Wüstenrennmäuse als Haustiere bekam, wurde mir erst klar, wie sehr mir dieses Aquarium gefehlt hatte.“ Weiterhin erzählt Herr Hauser von einem Streit zwischen ihm und Frau Laupe, doch die Beraterin sagt ihm, daß das nur zu dritt besprochen werden kann. Sie fragt ihn statt dessen, was bei seiner früheren Frau und in seinem Elternhaus anders gewesen sei als in seiner jetzigen Beziehung. Herr Hauser erzählt: „Meine Mutter hat mir nie viel Wärme entgegengebracht, sondern mich aus Überforderung, denke ich, viel geschlagen. Aber jetzt habe ich ein besseres Verhältnis zu ihr.“ Er betont auch, daß sich seine ExFrau bei der Trennung sehr anständig verhalten habe und daß er sie auch jetzt nicht blöd finden könne. Er erzählt: „Einige Freunde sind jetzt noch ärgerlich, daß wir uns getrennt haben. Und die Partnerschaft [sc. mit seiner früheren Frau,] ist bis auf Schwierigkeiten am Anfang ganz gut gegangen. Dann aber habe ich mehr Möglichkeiten gehabt, mich zu entwickeln, auch durch die Gewerkschaftsarbeit, während meine Frau eine neue Chefin bekommen hatte und immer mehr Ärger bekam.“ Beraterin: „Und was waren das für Anfangsschwierigkeiten?“ Herr Hauser: „Ich glaube, ich war ziemlich eifersüchtig und habe ziemlich geklammert. Ich war ziemlich unsicher.“ Von seiner jetzigen Partnerin erzählte er, daß sie es sicher nicht leicht damit hatte, daß er sich für die Entscheidung zwischen den Frauen soviel Zeit genommen hatte.
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Herr Hauser: „Ich habe es mir ja auch nicht leicht gemacht mit der Entscheidung, das ging lange hin und her. Das waren die schrecklichsten und schönsten Zeiten meines Lebens, einfach sehr intensiv, und ich habe stundenlang telephoniert mit Karin [sc. Frau Laupe] und nächtelang diskutiert mit meiner früheren Frau. Davon habe ich jetzt noch viel bei der Arbeit. Aber Karin hat mir das schon übelgenommen. Ich glaube, sie hat das Gefühl, daß sie immer noch etwas gut hat. Besonders schlimm war es einmal, als ich Karin schon zugesagt hatte, daß ich meiner Frau sage, daß ich mich trenne, und dann ging es meiner Frau so schlecht, daß ich es nicht übers Herz brachte, und da war Karin total sauer und wollte sich trennen.“ Beraterin: „Das ist ja auch eine schwierige Position, wenn sie total ohnmächtig ist und nur darauf hoffen kann, daß Sie etwas tun. Sie hatten da eine andere Position. Sie waren der aktive Partner. Sie konnten Entscheidungen treffen oder nicht treffen. Es war auch eine Position der Macht, die Sie hatten.“ – Herr Hauser bestätigt das. Beraterin: „Vielleicht hängt auch damit dieses Hochgefühl zusammen, das Sie gerade in dieser schwierigen Situation hatten.“ Herr Hauser: „Das habe ich noch nie so gesehen. Aber es war schon schwierig. Aber ich habe mich dann getrennt, und ich will auch nicht diese Beziehung zurückwünschen.“ Als die Beraterin sagt: „So eine Trennung bringt viel Leid mit sich!“, sinkt Herr Hauser etwas in sich zusammen, und es entsteht eine lange Pause. Dann meint er: „Ja, für Karin war es scheint’s einfacher, die geht leichter in eine Beziehung rein, aber auch leichter wieder raus. Ich überlege mir das alles ganz genau, und ich stehe dann auch dazu. Aber jetzt sind wir beide etwas ratlos, und zeitweise will ich mich wirklich trennen. Mir fehlt einfach das Gefühl der Geborgenheit, und ihr geht es, glaube ich, genauso.“ Beraterin: „Zur Geborgenheit braucht es Sicherheit und Vertrauen.“ Da fällt Herrn Hauser eine Geschichte ein. Als Frau Laupe vor zwei Jahren ihre Kinder nach Berlin brachte und noch eine Freundin besuchte, suchte er nach gemeinsamen Unterlagen bei ihr. Er fand dabei einen Brief von Frau Laupes Expartner an sie. Dieser Brief klang wie die Antwort auf einen Liebesbrief von Frau Laupe an ihren ehemaligen Mann. Herr Hauser rief seine Partnerin sofort an und sagte ihr, daß sie den Besuch bei der Freundin in Berlin abbrechen und nach Hause kommen solle. Dann habe er sie dazu verdonnert, einen deutlichen (Trennungs-)Brief an diesen Mann zu schreiben. Diese Geschichte würde ihm schon noch nachhängen. Zu dem zweiten Einzelgespräch kommt Herr Hauser sehr verärgert und sieht in Einzelgesprächen keinen Sinn mehr, weil er sicher ist, daß die Schwierigkeiten nur die Schuld seiner Partnerin seien. Er könne da nichts 139
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machen. Als Beispiel führt er das Problem der gemeinsamen Urlaubsplanung an. Herr Hauser: „Sie [sc. Frau Laupe] bringt immer ein solches Durcheinander mit sich, und sie kann scheinbar nichts zustimmen, was ich mir wünsche. Zum Beispiel, den Urlaub zu planen, ist die Hölle. Ich möchte irgendetwas anderes sehen, anderes Klima, andere Kultur, andere Sprache.“ Beraterin: „Und Ihre Partnerin?“ Herr Hauser: „Die will das alles nicht. Und ich habe mich zum Teil auch darauf eingelassen, und jetzt in Hiddensee war es auch ganz schön. Aber ich habe z.B. ein Lieblingsziel, wo ich mit einer früheren Freundin war, aber auch mit Freunden. Sie will da nicht hin. Und jetzt mit der Urlaubsplanung ist das echt das Chaos. Wir haben einen Kompromiß gefunden, einmal war das die Bretagne, jetzt haben wir in den Cevennen mit Eurocamp gebucht. Dann meinte sie plötzlich, es wäre doch besser, das Ferienhaus von Freunden in Brandenburg zu nehmen.“ Als Herr Hauser weiter davon schwärmt, daß es alleine viel einfacher wäre, weist die Beraterin ihn darauf hin, daß das Thema mit dem Chaos, das durch Frau Laupe und ihre Kinder in sein Leben getreten wäre, schon in einem anderen Gespräch als Thema war. Da habe er durchaus die positiven Seiten davon gesehen. Als Herr Hauser darauf besteht, daß das Nervige immer mehr und die Schwierigkeit, miteinander zu reden, immer stärker würden, weist die Beraterin ihn auf die Unterschiede hin, die in einer Partnerschaft nach der Phase der Verliebtheit immer deutlicher werden. Herr Hauser: „Ja, die ersten Jahre, wo wir uns nur sporadisch gesehen haben, die waren toll. Da gab es faszinierende Momente. Jetzt haben wir so etwas irgendwie nicht mehr.“ Beraterin: „Haben Sie sich auch klar gemacht, daß sie aus zwei verschiedenen Ländern kommen, mit völlig unterschiedlicher Geschichte und ganz anderer Sozialisation? Daß da eigentlich immer noch ein Graben dazwischen ist?“ Herr Hauser: „Nein, das habe ich mir eigentlich nicht überlegt. Aber das ist schon wahr.“ Beraterin: „Ja, und Ihre Partnerin hat eigentlich ihre Wurzeln im Osten verlassen und ist zu Ihnen in den Westen gekommen. Sie hat viel aufgegeben.“ Herr Hauser: „Ja, das hatte auch praktische Gründe. Sie fand hier leichter Arbeit als ich dort. Aber ich hätte das wohl nicht gekonnt. Ich bin nicht so gut im Kontakteknüpfen. Von daher war es gut, daß sie es gemacht hat. Aber ich hatte gar nicht das Gefühl, daß sie dort, wo sie war, Wurzeln hatte [. . .].“
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Nachdem Herr Hauser das Entgegenkommen seiner Frau anerkannt hat, will er es gleich wieder minimieren, indem er ausführt, daß sie ja dort keine Kontakte hatte. Danach will er über die Selbstwertproblematik seiner Frau reden. Als die Beraterin es ablehnt, darüber in Abwesenheit seiner Partnerin zu sprechen, schneidet er ein neues Thema an: die Wohnsituation. Die Eigentumswohnung, die Herr Hauser zusammen mit Frau Laupe gekauft hat, habe sich als zu eng erwiesen, so daß Frau Laupe den Vorschlag gemacht hat, noch eine kleine Wohnung hinzuzukaufen. Dieser Vorschlag wird von Herrn Hauser sehr ambivalent aufgenommen: „Erst war ich ganz froh, daß sich da nichts fand, weil ich Angst hatte, daß wir uns dann aus dem Weg gehen, statt uns zu streiten. Dann dachte ich, na ja, ist ja auch ganz gut. Im Notfall habe ich dann schon eine Wohnung. Dann kam aber von Karin der Vorschlag, daß Franz [sc. Frau Laupes Sohn] ein Jahr nach Amerika geht, und da war ich erst dagegen. Dann fand ich es toll, weil ich dachte, daß dann Platz wird und ich vielleicht doch keine Wohnung zu suchen brauche.“ Beim Abschied sagt Herr Hauser, daß beim nächsten Mal Frau Laupe käme und daß er wohl nicht mehr. Er habe schon überlegt, ob er zu diesem Termin kommen solle. Dann habe er doch beschlossen, selbst noch einmal zu kommen, und es sei auch gut gewesen. Gerade den Punkt, daß sie aus verschiedenen Ländern kommen, hätte er noch nicht reflektiert. Als die Beraterin sagt, daß sie sich dann länger nicht mehr sehen, zögert Herr Hauser kurz und verabschiedet sich dann herzlich. Die beiden Einzelgespräche mit Herrn Hauser waren sehr verhalten. Die Beraterin hatte das Gefühl, daß er in den Einzelgesprächen verschlossener war und sie mehr auf Distanz hielt als in Anwesenheit seiner Frau. 2.3 Die Einzelgespräche mit Frau Laupe (das 7., 9., 11. und 12. Gespräch) Im ersten Einzelgespräch spult Frau Laupe ihren privaten und beruflichen Lebenslauf relativ emotionslos ab und hält eine große Distanz zur Beraterin. Sie zeigt wenig, mit welchen Emotionen wie Ärger, Enttäuschung und Trauer die erlebten Lebenseinschnitte und Krisen verbunden waren, so daß selbst sehr drastische Erlebnisse und dramatische Ereignisse fast belanglos klingen: „Also mit meinem ersten Freund das war so: Den kannte ich vor dem Abitur, und danach wollte ich zum Studium in die Ukraine. Ich wollte gerne Russisch lernen, vielleicht, weil mein Vater in Moskau promoviert hatte und ich so in seine Fußstapfen treten konnte. Aber mir ging es dort nicht gut. Es war 1980, als auch der Streik der Bergleute in Polen war. Die Versorgungslage war sehr schlecht.“ 141
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Beraterin: „Warum ging es Ihnen schlecht?“ Frau Laupe: „Ja, mir ging es psychisch nicht gut. Meine DDR-Mitstudenten waren Hundertfünfzigprozentige, und dann war die Kontrolle sehr scharf. Ich durfte meinen Bekannten am anderen Ende der Stadt nicht besuchen. Ich fühlte mich einfach einsam. Und dann bin ich im Februar zurück, nachdem ich im September erst gegangen war. Ich habe mich auch nach Franz‘ Vater gesehnt. Das war schon ein großer Affront – so, als wenn ein Lehrer aus der Partei austritt oder sonst etwas. Ich habe dann als Pförtner an der Universität gearbeitet. Wir haben geheiratet und dann, als ich 22 war, kam Franz. Ich habe dann wieder mit dem Studium angefangen. Das ging damals noch ganz gut, Studium und Kind zu verbinden.“ Im Anschluß spricht sie auch sehr abgeklärt und pragmatisch über ihre Beziehungen in der DDR und die Trennungen: „Franz‘ Vater hatte damals auch angefangen zu studieren, ein künstlerisches Fach, aber er hat einfach seine Verantwortung für Franz nicht wahrgenommen. Ich mußte den ganzen Alltagskram machen, und er hat mit Franz Bauklötze gespielt. Und diese Rolle wollte ich nicht. Und ich bin dann alleine gezogen. Er war ein eher leichtlebiger Romantiker, eigentlich genau wie man sich einen Künstler vorstellt. Und dann habe ich relativ bald Susannes Vater kennengelernt. Der war viel ernsthafter, und ich habe mich in vielem mit ihm viel besser verstanden. Wir wollten auch beide raus aus Berlin. Ich wollte auch nicht mehr in meinem Beruf arbeiten. Es wurde immer schlimmer, als sie Berlin richtig zur Hauptstadt ausbauten. Und es war dann auch richtig schön, wenn es auch sehr schwierig war. Wir haben ein ganz altes Haus gekauft, wo es noch nicht einmal Wasser gab und ich die Windeln im Eimer waschen mußte. Aber das Schlimme war, daß ich wieder das Gefühl hatte, ich muß die Scheißarbeit machen, damit er sich als Künstler entfalten konnte. Und dann kam die Wende, und er wurde arbeitslos und verbittert, und ich war dagegen gefragt. Ja, und irgendwann wollte ich auch nicht bloß am Rande stehen und Susannes Vater als Künstler zuarbeiten, und dann habe ich die Beratung gemacht, aber Susannes Vater wollte zunächst nicht mitmachen. Und als er dann dazukommen wollte, da wollte ich nicht mehr, da wollte ich unabhängig sein. Ich hatte mich die ganze Zeit der Beziehung angepaßt und jeden Streit vermieden. Vielleicht, weil ich durch die Zwiste meiner Eltern auch einen wirklichen Horror vor Streit hatte. Das ist jetzt schon anders.“ Beraterin: „Was haben Sie denn von Ihrer Beratung damals mitgenommen?“ Frau Laupe: „Ja, wirklich, daß ich nicht mehr jeden Streit vermeiden muß, sondern daß es auch dazugehört, daß es auch gut sein kann, sich zu streiten.“ 142
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Erst im zweiten Einzelgespräch, als die Beraterin Frau Laupe fragt, ob sie in ihren früheren Partnerschaften ähnliche Probleme wie mit Herrn Hauser gehabt habe, kommen Gefühle mit ins Spiel. Frau Laupe: „Nein, das war ganz anders. Das waren ja beides Künstler, da drehte sich alles um ihre Kunst und der Rest war unwichtig.“ Beraterin: „Und wie war das bei der Beziehung Ihrer Eltern?“ Frau Laupe: „Ja, das war eine sehr stürmische Beziehung mit vielen Höhen und Tiefen und viel Streit, der auch uns Kindern nicht verborgen blieb. Aber sie sind die ganze Zeit zusammengeblieben.“ Beraterin: „Und was machten Ihre Eltern beruflich?“ Frau Laupe erklärt, daß beide akademische Berufe hatten [Diese werden hier aus Anonymisierungsgründen nicht genannt – d. Verfasserin]: „Meine Mutter ist jetzt Rentnerin, mein Vater war unter anderem Leiter einer sozialistischen Bildungseinrichtung und hatte dann noch verschiedene Funktionärsposten.“ Beraterin: „Und wie haben Ihre Eltern die Wende verkraftet?“ Frau Laupe erklärt: „Mein Vater war eine sehr integere Persönlichkeit und bekam auch danach gleich wieder eine Anstellung. Er hatte die DDR nie völlig idealisiert. Ich habe auch nicht alles idealisiert, aber manches fehlt mir schon. Es ist kühler hier und alles mehr am Geld orientiert. Ich habe schon noch meine Ideale, ich habe mich auch viel in der Politik engagiert, auch im Betriebsrat, ich habe ein Patenkind in Afrika und helfe den Rußlanddeutschen in meinem Betrieb. Aber mehr kann ich nicht machen, sonst bekomme ich mich wieder mit Reiner in die Haare, weil ich noch mehr weg bin.“ Frau Laupe beginnt, von ihren früheren Beziehungen und Trennungen zu erzählen. Die Trennungen seien ihr damals ziemlich leicht gefallen, und erst jetzt stelle sie in Frage, ob sie sich zum Teil nicht zu früh und zu schnell getrennt habe. Es werden Gefühle von Schuld und Trauer deutlich. Sie erzählt von ihren Sehnsüchten, Wünschen und Erinnerungen und von ihrer Kindheit, als sie in einem Kollektiv auf dem Campus einer Bildungseinrichtung für junge Erwachsene aus dem sozialistischen Ausland aufwuchs. Frau Laupe: „Ich habe immer noch den Wunsch, neben der Familie in einem größeren Kollektiv zu leben, so wie als Kind. Die Leute kamen aus dem ganzen sozialistischen Ausland, und wir lebten mit auf dem Gelände der Bildungseinrichtung. Mein Vater war der Direktor und thronte über allem, war aber kaum zu Hause. Ich hatte einen Vater, der für die Weltrevolution zuständig war, und einen für die Anpassung der Skistöcke, das war der Vater der Nachbarfamilie.“
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Neben diesen hohen Zielen ihres Vaters nehmen sich ihre persönlichen Bedürfnisse nach privater Zufriedenheit und Glück kleinlich und bequem aus. Frau Laupe erkennt, wie sehr sie sich unter Druck setzt, ihrem eigenen Ideal gerecht zu werden, d.h. gesellschaftlich engagiert zu sein wie der Vater und eine allzeit perfekte Hausfrau und Mutter zu sein wie ihre Mutter. Mit der Erkenntnis, nicht perfekt sein zu müssen, kann sie ihre eigenen Ansprüche herunterschrauben und den Ansprüchen ihres Partners besser Paroli bieten, gerade wenn er sie mit seiner Ex-Frau vergleicht. Im letzten Einzelgespräch erzählt Frau Laupe voller Freude, welche positiven Folgen das Erinnern und das Anknüpfen an die Vergangenheit haben: „Wir sprechen jetzt mehr über meine Vergangenheit und verstehen, daß wir aus zwei verschiedenen Geschichten kommen.“ Unter anderem habe sie ihre Mutter gefragt, welche Erwartungen diese an sie hat. Die Mutter äußerte keine weiteren Erwartungen oder Ansprüche, sondern meinte nur: „Du bist doch ganz in Ordnung!“ Fast nebenbei erwähnt Frau Laupe, daß mit der Sexualität schon nach dem dritten Gespräch hier alles wieder in Ordnung gewesen sei. Sie erklärt sich das mit dem Buch, das sie zur gemeinsamen Lektüre gekauft hatte. Im ersten Gespräch erlebte die Beraterin Frau Laupe sehr an den Fakten orientiert. Sie fühlte sich auf Distanz gehalten und gleichzeitig unter Druck gesetzt. Erst im zweiten Einzelgespräch, als sie sie auf die Anstrengungen, die mit den Trennungen verknüpft waren, ansprach, konnte Frau Laupe etwas von ihrer Erschöpfung und von ihren Gefühlen zeigen. Im dritten und vierten Gespräch erlebte die Beraterin Frau Laupe lebendig und geradezu sprudelnd. Sie war als unterstützende Mutter akzeptiert und „benutzt“ worden. 2.4 Das gemeinsame Abschlußgespräch Im letzten Gespräch scheint es fast so, als ob sich alle Probleme in Luft aufgelöst hätten. Als beide zur Beratung kommen, fällt ihnen nichts mehr ein, was sie noch besprechen wollen. Herr Hauser meint: „Es ist ja alles jetzt ganz gut, obwohl sich manche Probleme auch nicht geändert haben.“ Als die Beraterin fragt, was es denn noch für Probleme gäbe und sagt: „Ist es das Joggen?“, meint Herr Hauser: „Nein, damit habe ich keine Probleme, außer daß ich befürchte, sie könnte süchtig danach werden. Aber wir sind eben doch sehr verschieden.“ Die Beraterin fragt erneut nach: „In welcher Hinsicht? In dem Bedürfnis nach Nähe?“ Herr Hauser meint: „Nein, nein, ich brauche auch manchmal Distanz. Es sind eher die Konfliktlösungsstrategien.“ Doch auch hier sieht Frau Laupe den Unterschied nicht so deutlich. Als die Beraterin fragt, was 144
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aus den Problemen geworden sei, mit denen sie zu Beginn in die Beratung gekommen waren, antwortet Frau Laupe: „Die Lage mit Jens ist jetzt viel entspannter.“ Als die Beraterin fragt: „Und das andere Problem?“, kann sich Herr Hauser an kein weiteres Problem erinnern. Frau Laupe meint lachend: „Das ist immer so bei ihm, wenn ein Problem gelöst ist, vergißt er es einfach.“ Jetzt fällt es auch Herrn Hauser wieder ein: „Ja, das Problem mit der Sexualität, ja, das hat sich im Laufe der Beratung stark verändert! Und wenn es in dem Bereich klappt, dann kann ich auch die anderen Probleme ganz gut wegstecken.“ Das Paar gerät daraufhin fast wieder in einen Streit, ob der Alltag oder die Sexualität wichtiger sei. Relativ zusammenhangslos hebt dann Herr Hauser an zu sagen, daß er seine Partnerin immer noch liebe und daß er sich gar nicht von ihr trennen wollte. Dies entbehrt für Frau Laupe und die Beraterin nicht einer gewissen Komik, weil Herr Hauser bis jetzt fast ausschließlich von seiner Angst geredet hat, daß Frau Laupe ihn verlassen könnte. Ein weiteres Thema ist die neue Wohnung. Herr Hauser meint: „Ich beginne mich wirklich darauf zu freuen, mich dahin absetzen zu können, wenn mir das Chaos zu groß wird, aber ich habe auch Angst, daß es dann leichter zu einer Trennung kommt, wenn die Möglichkeit schon da ist.“ Als die Beraterin sagt, daß sie ja auch gemeinsam die Flucht ergreifen könnten, wenn die Kinder mit ihrer Musik zu laut wären, weckt sie lustvolle Assoziationen. Frau Laupe fragt scherzhaft nach: „Ja, ich hoffe, daß ich auch einen Schlüssel von der Wohnung bekomme!“ Herr Hauser antwortet: „Ja schon, ich will ja auch den Schlüssel zu unserer gemeinsamen Wohnung nicht abgeben.“ Sie erzählen, daß sie im Sommer am Wochenende zu zweit mit den Rädern weggefahren sind, um allein zu sein. Aber das sei im Winter nicht so einfach gewesen. Da böte doch die neue Wohnung neue Möglichkeiten. Frau Laupe meint: „Ich bin froh, daß durch die neue Wohnung der Druck rausgenommen werden kann. Auch die Möglichkeit, bei Bedarf wieder in die Beratungsstelle zurückkommen zu können, beruhigt mich sehr.“ Sie verabschieden sich herzlich. 2.5 Beziehungs- und Konfliktdynamik Das Paar war in einer ambivalenten Beziehung gefangen. Beide stellten ihren Konflikt sehr bewußtseinsnah und vernünftig dar („Wir gehen unterschiedlich mit Konflikten um.“). Sie befürchteten, daß Auseinandersetzungen in ihrer Beziehung, die auch emotionale und aggressive Gefühle umfaßten, das Chaos und letztlich die Trennung herbeiführten. Deswegen mußten diese 145
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Seiten weitgehend ausgeblendet werden. Beide wünschten sich jedoch auch eine lebendige, emotionsreiche Beziehung und hatten sich deswegen aus ihren vorherigen Beziehungen gelöst. In der Beziehung zur Beraterin versuchten sie, sie zunächst auf die Funktion einer Ratgeberin festzulegen und zu reduzieren, um von ihr „vernünftigen“ Rat zu bekommen. Die Arbeit auf der Schiene der Vernunft führte diese in die gleiche Ratlosigkeit wie sie. Erst als Herr Hauser emotional und vehement seine Wünsche im Bereich der Sexualität einforderte und die rationalen Argumente seiner Frau vom Tisch wischte, wurde deutlich, welche Gefühle bis jetzt nicht zur Sprache gekommen waren: Herrn Hausers Gefühl, sich abzumühen und doch abgewiesen zu werden; Frau Laupes Gefühl, daß ihre Kompromißangebote abgelehnt werden. In den nächsten beiden Sitzungen wurde die chaotische Seite der Beziehung jedoch wieder zur Vernunft gebracht. Herr Hauser stellte sich auf die Seite von Ruhe, Ordnung und Harmonie und lokalisierte das Chaos bei Frau Laupe. Auf diese Weise löste er die Nähe, die durch den Ausbruch der Gefühle in der Stunde davor entstanden war, wieder auf. Um die Angst vor dem Chaos zu entschärfen und um die von beiden geleugneten Beziehungen zu den früheren Partnern im geschützteren Raum ansprechen zu können, bot die Beraterin beiden Einzelsitzungen an. In den Einzelsitzungen wurde deutlich, daß für beide diese neue Beziehung ein Aufbruch aus alten, einengenden Strukturen war. Herr Hauser lebte bis dahin in einer zwanghaft strukturierten, jedoch oberflächlich aggressionsfreien und harmonischen Beziehung. Die Tatsache, daß er sich so verlieben konnte, sowie die aufwühlende Entscheidungsphase ließen ihn seine Triebgebundenheit und Lebendigkeit wahrnehmen. Gleichzeitig erschien es jedoch, als ob das Ausleben seiner Lust seine frühere Frau und seinen Sohn in Krankheit und Unglück gestürzt hatte, so daß die Lust mit starken Angstund Schuldgefühlen verknüpft blieb und das Gefühl auslösten, sich trennen zu müssen bzw. daß sich Frau Laupe trennen würde. Die Beziehung zur Beraterin war im Einzelgespräch distanziert, doch war das Gespräch von Wohlwollen und Interesse getragen und schien entängstigend zu wirken. Auch für Frau Laupe bedeutete das Sich-Verlieben in Herrn Hauser den Ausbruch aus einer Beziehung, die zunächst auf der Idealisierung des großen Künstlers begründet war und in gewisser Weise auch eine töchterliche Beziehung blieb. Mit Herrn Hauser entschied sie sich zum ersten Mal für einen Mann, der sie als gleichwertige Person wertschätzte. Für diese Beziehung gab sie zwar nicht ihre Selbstachtung, dafür aber ihre Verwurzelung in ihrer Herkunft und Geschichte auf. Im Einzelgespräch konnte sie ihre Sehnsucht nach Heimat in Worte fassen und fühlte sich damit ernst genommen und an146
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erkannt. Sie konnte die fruchtlosen Versuche aufgeben, sich eine Heimat zu verschaffen, indem sie die Ideale ihres Vaters oder ihrer Mutter verwirklichte. Mit der Rückbindung an ihre Heimat schien auch die Anerkennung ihrer Wünsche nach Nähe und nach Sexualität konfliktfreier möglich zu sein.
3. Die Wahrnehmung von Differenz aus diskurstheoretischer Perspektive Schon der erste Eindruck von dem Gespräch zeigte, daß dem Paarkonflikt, der das Paar eine Beratungsstelle aufsuchen ließ, mehr als ein Zweierkonflikt, auch mehr als ein Mann-Frau-Konflikt zugrunde lag, sondern daß hier auch ein gesellschaftlicher und kultureller Konflikt verhandelt wurde. Dieser soll als ein Konflikt von Diskursen dargestellt werden. Damit vermeide ich, die Differenzen, die dem Konflikt zugrunde liegen, als essentielle Kategorien festzulegen. Vielmehr kann ich im Anschluß an die Diskursanalyse phänomenologisch beschreiben, wo und wie die Differenzen verhandelt werden. Vor allem bietet mir die Diskursanalyse und die Diskurstheorie die Möglichkeit, den Faktor der Macht ins Spiel zu bringen. Diskurse stehen nur selten nebeneinander, sondern meist in einem Machtverhältnis zueinander, das bestimmte Diskurse hervortreten läßt und andere vernachlässigt bzw. ihnen weniger Plausibilität zugesteht. 3.1 Diskursanalyse im Anschluß an Irigaray. Methodologische Überlegungen Wenn ich die vorliegende Gesprächssequenz aus diskursanalytischer Perspektive interpretiere, muß ich zunächst von Irigarays Theorie aus zu einer Methode der Gesprächsanalyse finden. Die Operationalisierung ihres Theoriemodells muß durch Überlegungen vorbereitet werden, ob und wie dieses in der sozialen Wirklichkeit beobachtbar ist. Ich stelle einen Weg von der Theorie zu einer Methodologie dar und leite daraus eine konkrete Methode der Dateninterpretation ab. Auch zeige ich, daß dieser Weg von der Theorie zur Methode bei der Diskursanalyse keine Einbahnstraße, sondern in wechselnden Richtungen begangen werden kann. Irigaray stellt methodologische Überlegungen dazu an, wie in philosophischen und metapsychologischen Texten die ihnen zugrunde liegende Diskursstruktur im Hinblick auf die Geschlechterdifferenz aufgezeigt werden kann. Überlegungen zur Fruchtbarmachung von ihrer Theorie und Methode für die Analyse sozialer Wirklichkeit findet man bei ihr jedoch nicht. Deswegen beziehe ich mich bei der Entwicklung einer diskursanalytischen Metho147
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dik auf die neueren Diskussionen zur Entwicklung einer diskursanalytischen Methode im Anschluß an Michel Foucault, wo diesbezügliche Überlegungen schon weiter gediehen sind.3 Für Irigarays und Foucaults Diskurstheorien gilt gleichermaßen, daß der Diskurs nicht direkt zu erfassen ist und daß sich Aussagen von Subjekten nicht mit Aussagen über Diskursstrukturen gleichsetzen lassen: Die Methodologie der Diskursanalyse könnte als Hermeneutik zweiter Ordnung charakterisiert werden: Aufgabe der Diskursanalyse ist, eine den Individuen nicht einsichtige Regelmäßigkeit (die der Formationsregeln) innerhalb einer diskursiven Praxis intelligibel zu machen, d.h. rekonstruierend zu verstehen. Hubert Dreyfus und Paul Rabinow4 haben in diesem Sinne von einer „interpretativen Analytik“ gesprochen, die sich „jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik“ bewege.5
Wie kann also dann der Zusammenhang von Diskursanalyse und sozialer Wirklichkeit dargestellt werden? Hannelore Bublitz, die ebenfalls vom Diskursmodell Foucaults ausgeht, beschreibt die soziale Wirklichkeit als objektiven Niederschlag von Diskursen: Diskurse konstituieren insofern eine eigene Objektivität des Sozialen, als davon ausgegangen wird, daß diskursive Praktiken sich materialisieren und damit regelgeleitete Wirklichkeit(en) hervorbringen. Auf diese Weise werden sie zu Entitäten sui generis, zu sozialen Tatsachen. Damit ist nun auch ihre Wirkmächtigkeit angesprochen. Diskurse lassen sich nun als regelhafte Praktiken der Konstitution sozialer Wirklichkeit und deren Wirk(lichkeits)mächtigkeit bestimmen; sie können als spezifische Praktiken der Konstitution von sozialen Wirklichkeit(en) verstanden werden. Soziale Wirklichkeit erscheint diskurstheoretisch als (Macht)Effekt von Diskursen, der einer Regelhaftigkeit unterliegt;
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Um die Überlegungen zur Operationalisierung von Foucaults Diskurstheorie für die Entwicklung einer Diskursanalyse im Anschluß an Irigaray fruchtbar zu machen, beziehe ich mich vor allem auf: Hannelore Bublitz (Hg.): Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz. Frankfurt/M. 1998. Hannelore Bublitz et al. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/M. 1999. Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Bd. 1: Theorien und Methoden. Opladen 2001. 4 Vgl. Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt/M. 1987, 11ff. 5 Rainer Diaz-Bone: Probleme und Strategien der Operationalisierung des Diskursmodells im Anschluß an Michel Foucault. In: Bublitz et al.: Das Wuchern der Diskurse. 119– 135, 126f.
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oder anders ausgedrückt: Die Regelhaftigkeit erscheint als Machtwirkung von Diskursen.6
Bei Überlegungen zu einer Operationalisierung von Irigarays Theorie werden gewisse Schwierigkeiten deutlich. Zum einen muß das Feld der Analyse erweitert werden: Während Irigarays Diskursanalyse sich weitgehend auf die Analyse von philosophischen Texten bezieht,7 muß eine Diskursanalyse sozialer Wirklichkeit alltagssprachliche Interaktionen, sprachliches und nicht-sprachliches Handeln umfassen. Die sprachtheoretische Methode der Analyse von Texten muß erweitert werden, damit auch die gesellschaftliche und soziale Wirklichkeit zum Ausgangsmaterial ihrer Analyse werden kann. Weiterhin wird bei einer Verwendung von Irigaray für die Entwicklung einer diskursanalytischen Methodik zur Analyse sozialer Wirklichkeit deutlich, daß der Geschlechterdifferenzdiskurs, den Irigaray darstellt, nicht das einzige wirksame Strukturmodell ist, das über die Verteilung von Wissen und Macht entscheidet.8 Vielmehr muß man – zumal wenn man sich der sozialen Wirklichkeit nähert – davon ausgehen, daß verschiedene Diskurse, auch solche zur Geschlechterdifferenz nebeneinander existieren.9 Diese wirken in verschiedenen Milieus und stammen aus unterschiedlichen politischen und zeitlichen Strömungen. Bublitz geht davon aus, daß die zunehmende Diversifizierung der Milieus in unserer postmodernen Gesellschaft erst durch die Vervielfachung von Diskursen hervorgerufen wurde: Die Differenzierung der Gesellschaft erfolgt auf der Ebene heterogener Diskurse zunächst auf unterschiedliche Weise. Das heißt dann aber auch: Es gibt nicht ein Strukturmuster und ein Achsenmodell, nicht eine gesellschaftliche Ordnung, sondern gesellschaftliche Ordnungen.”10
Die Vorstellung einer kohärenten Ordnung muß dahingehend differenziert werden, daß es sich um ein Netz von Diskursen und Machtstrategien han6
Hannelore Bublitz: Differenz und Integration. Zur dikursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit. In: Keller: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. 225–260, 232. 7 In den Aufsätzen zur Genealogie der Geschlechter geht Irigaray über die Analyse von Texten hinaus und nimmt auch Szenen zum Ausgangspunkt ihrer Analyse, z.B. das Liegen auf der Couch in der Analyse (Luce Irigaray (1985): Die Geste in der Psychoanalyse. In: Dies.: Genealogie. 145–168, 147ff) oder das Abendmahl (Irigaray: Der Glaube selbst. 50). 8 Naomi Schor weist in dem Aufsatz This Essentialism Which Is Not One, 65f, nach, daß der Vorwurf des Essentialism an Irigaray nicht zutrifft, daß aber ihr Denksystem, das sich gegen die Einheit(lichkeit) richtet, selbst universalistische Tendenzen in sich birgt. Vgl. auch Becker-Schmidt/Knapp: Feministische Theorien. 84. 9 Vgl. die Kritik von Butler an Irigaray in Bezug auf die Geschlechterdifferenz als einzig relevantem Struktur- und Ausschlußmodell: Butler: Bodies That Matter. 161. 10 Bublitz: Differenz und Integration. 243.
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delt, die sich um einen Gegenstand wie z.B. den Körper oder die Sexualität spannen. Diese Diskurse bilden Strukturmuster, Normengefüge und schließlich Normalisierungsachsen, die zwischen Normalität und Abweichung unterscheiden. Besonders deutlich war dies beim Nebeneinander der Diskurse in der DDR und der BRD bis 1989. Ebenso deutlich ist, daß es rivalisierende Diskurse verschiedener Generationen und Milieus gibt. So unterscheidet sich der Diskurs des Nachkriegskleinbürgertums zum Thema Geschlechterdifferenz wesentlich vom Diskurs der 68er-Bewegung. Auch feministische Diskurse unterliegen den Machtstrukturen des Diskurses und sind nicht gegen Normativität und Herrschaftsansprüche gefeit. Wenn Diskurse und Strukturmuster über Normen, Normativität und Normalität entscheiden, wird das menschliche Subjekt einmal mehr – nach der kopernikanischen Wende und Freuds Entdeckung des Unbewußten – seiner zentralen Position und Funktion enthoben. Das menschliche Subjekt wird zu einem Element diskursiver Strukturen, denen es weitgehend ausgeliefert ist. Dies hat auch Folgen für eine Theorie wissenschaftlichen Handelns: Die Rekonstruktion der Genese sozialer Wirklichkeit ist daher nicht Gegenstand der Theorie eines wissenden Subjekts, sondern einer Theorie diskursiver Praktiken, der Archäologie.11 Sie rekonstruiert die Schicht der diskurstheoretischen Regeln, deren Herkunft sich genealogisch aus den Machtpraktiken erschließt. Beide Verfahren schließen sich zur Simultaneität einer diskursiven Praxis zusammen, in der Wissen und Macht in einer unauflöslichen Beziehung zueinander stehen.12
Die Diskurstheorie geht von einem Modell aus, in dem dezentrale Praktiken und „subjektlos-anonyme Regelzusammenhänge“13 Macht ausüben und nicht nur die soziale Wirklichkeit, sondern auch das menschliche Subjekt bestimmen. Der gesellschaftliche Diskurs bzw. die Diskurse bestimmen das Denken und Handeln der Subjekte so weit, daß diese Diskurse in die Psyche des Subjekts eingehen, ja nach Foucault und Butler sogar notwendiger Teil der Subjektkonstitution sind. Es gibt somit kein Subjekt, das dem Herrschaftsdiskurs unabhängig gegenübersteht.14 11
In ihrem Glossar erläutert Bublitz den Begriff der Archäologie. Die Archäologie rekonstruiert Diskurse aus historischen Praktiken des Archivs einer Kultur. Damit macht sie geschichtlich gegebene Wissensformen zugänglich. Die Archäologie untersucht die Wirkung der Diskurse auf diese Praktiken. Vgl. Bublitz: Differenz und Integration. 255. 12 Bublitz: Differenz und Integration. 227f. 13 Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg 1994, 212, zitiert nach Bublitz: Differenz und Integration. 227. 14 Vgl. Judith Butler (1997): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M. 2001, 7–34.
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Andererseits gehen sowohl Irigaray als auch Butler davon aus, daß das (weibliche) Subjekt Strategien entwickeln kann, um die bestimmenden Diskurse bzw. die daraus resultierenden Praktiken zu unterlaufen. Irigaray sieht als eine Taktik, den Diskurs zu unterlaufen, die Mimetik, d.h. die Strategie, die zugewiesenen Rollen zu übernehmen und zu wiederholen, um ihre Absurdität aufzuzeigen. Dies ähnelt der Strategie der parodistischen Wiederholung, die auch Butler als Möglichkeit des subversiven Widerstands beschreibt.15 Diese Vorstellung, daß die Gesellschaft von Diskursstrukturen bestimmt wird und menschliche Subjekte keine oder nur geringe Handlungsund Wirkmacht darin haben, ist bei Foucault, Irigaray, Butler und Bublitz mit dem Gedanken verknüpft, daß durch das Aufdecken der Diskurse neue Freiheiten für das Subjekt möglich werden.16 Irigaray mit ihrer Strategie der Mimesis und Butler mit ihren parodistischen Elementen weisen jedoch mehr als Foucault darauf hin, daß es nicht nur in Diskurse Eingeschlossenes und Ausgeschlossenes gibt, sondern auch Diskurse, die schon durch die Struktur der Sprache von (angemessener) sprachlicher Symbolisierung ausgeschlossen und damit „genichtet“ sind. Was dieses Nicht-Repräsentierte ist, läßt sich nur ansatzweise benennen. Deswegen gilt es – auch bei einer methodischen Umsetzung der Diskurstheorie wie bei Bublitz – Räume offenzuhalten und aufmerksam zu sein für das, was noch keine Sprache hat.17 Wenn ich nun nach der Möglichkeit einer Analyse von Diskursen und ihren Niederschlägen in gesellschaftlichen Praktiken frage, taucht als weitere Frage auf, ob Diskurse der Diskursanalyse vorgängig sind oder ob ihre Rekonstruktionen in Wahrheit Konstruktionen sind. Sowohl bei Foucault als auch bei Irigaray ist deutlich, daß die Analysemethode von der vorausge15
Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991, 216. Vgl. z.B. Michel Foucault: Wahrheit, Macht und Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982). In: Ders./Luther H. Martin (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt/M. 1993, 15–23, 16f: „Ich habe mir vorgenommen [. . .] den Menschen zu zeigen, daß sie weit freier sind, als sie meinen; daß sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind und daß man diese sogenannte Evidenz kritisieren und zerstören kann. Etwas in den Köpfen der Menschen zu verändern – das ist die Aufgabe des Intellektuellen. [. . .] Ich möchte zeigen, daß viele Dinge, die Teil unserer Landschaft sind – und für universell gehalten werden –, das Ergebnis ganz bestimmter geschichtlicher Veränderungen sind. Alle meine Untersuchungen richten sich gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein. Sie helfen zu entdecken, wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wieviel Wandel noch möglich ist.“ Vgl. die MimesisStrategie von Irigaray unter II.3.2 dieser Arbeit; Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 49–62; Bublitz: Differenz und Integration. 253–255. 17 Vgl. dazu auch II.3.6. 16
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henden Theorie nicht streng getrennt werden kann: Die Analyse schafft die Theorie, und die Theorie begründet die Analyse. Im Rahmen der empirischen Sozialwissenschaften erscheint dies als widersprüchlich, ja als unwissenschaftlich. Und ist es Wahnsinn, so hat es doch Methode: Diskurstheorien gründen auf einer Epistemologie, die davon ausgeht, daß das Phänomen nicht von den Bedingungen seiner Wahrnehmungen getrennt betrachtet werden kann.18 Diskurse sind also nicht vor der Analyse klar zu beschreiben, sondern können nur in der Arbeit, am Material selbst (re-)konstruiert werden. Die Diskursanalyse ist somit ein Verfahren der analytischen Rekonstruktion von gesellschaftlichen Regelmäßigkeiten, ohne daß auf Ordnungsstrukturen aus einer vorgängig formulierten Gesellschaftstheorie zurückgegriffen werden kann. Sowohl Foucault als auch Irigaray gründen ihre Thesen nicht nur auf streng empirische Daten. Irigarays These, daß die Frau als eigenständiges Wesen mit eigener Perspektive in der patriarchalen Gesellschaft nicht existiert, ist genauso wenig rein empirisch zu begründen wie Foucaults Thesen zur Funktion von Psychiatrie, Wahnsinn und Sexualität. Die Diskursanalyse greift auch Zusammenhänge auf, die nur zwischen den Zeilen lesbar sind. Als zentrale Objekte der Erkenntnis sieht die Diskursanalyse die Problematisierungsweisen und damit die Regeln, nach denen soziale Wirklichkeit objektiv, begrifflich und strategisch gebildet wird: Es handelt sich dabei um die Regeln, die der Formation der Gegenstände, der Begriffe, der Äußerungsmodalitäten und der Formation der Strategien zugrunde liegen. Sie konstituieren einen objektiven Raum, der durch die Zeitachse, auf der die – diachronische – Genealogie von Diskursen mit ihren Verschiebungen und Transformationen sichtbar wird, ergänzt wird.19
Diese Regeln lassen sich als Teil eines gesellschaftlichen Reservoirs verstehen und als solche aufdeckend „archäologisch“ auffinden und rekonstruieren. Diese Rekonstruktion umfaßt auch die Frage nach ihren historischen Wurzeln, ihrer Genealogie. Archäologische und genealogische Perspektiven sind miteinander verschränkt und sind zudem durch Machtpraktiken bestimmt, die als übersubjektive Machtsysteme die Möglichkeit von Wissen und von Wahrheit regeln. Beide Dimensionen des Diskurses, Macht und Wissensformen, stehen in einer Beziehung zueinander, die so zu denken ist, daß sie Zwangswir18 Vgl. Walter Privitera: Stilprobleme. Zur Epistemologie Michel Foucaults. Frankfurt/M. 1990, 21. Hier wird eine gewisse Nähe zur Epistemologie von Georges Devereux deutlich, was den letzteren jedoch zu anderen Schlußfolgerungen führte. 19 Bublitz: Differenz und Integration. 244f.
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kungen innerhalb eines strategischen Feldes zeitigen. Wenn etwas als Wissenselement auftritt, ist es zugleich Element eines Machtsystems spezifischer Zwänge; umgekehrt sind Machtmechanismen begründet in Wissenssystemen.20
Diese diskursiven Praktiken, die Niederschläge der Diskurse, sind nach Foucault im „Spiel der Äußerlichkeit“21 eingefangen und müssen dort auf einer sehr bodenständigen Ebene, in der konkreten Beschreibung von Einzelereignissen aufgesucht werden. Umfassende transzendentale Deutungen oder die Suche nach einem Sinn-Kern verhindern dagegen, daß die historischen Verortungen und Entwicklungen der Diskurse in den Blick geraten. Die Verwobenheit der Strukturen und diskursiven Praktiken, die als Selbstverständlichkeiten gelten, mit den Individuen, die mit diesen Selbstverständlichkeiten leben, werden im Alltagsleben besonders deutlich. Die Individuen stabilisieren die Praktiken, sie werden von ihnen stabilisiert und doch übernehmen die Individuen sie in der Wiederholung nicht nur, sondern deuten sie im Vollzug der Aneignung um. Diese Mechanismen des aktiven Mitvollzugs, der Aneignung und der subversiven Umdeutung sind auch im vorgelegten Fallbeispiel der Paarberatung erkennbar. In der Alltagspraxis dieses Paars wird zudem deutlich, wie unterschiedliche Selbstverständlichkeiten und Diskurse im Vollzug „diskutiert“ und ausgehandelt werden und zum Teil stillschweigend im Vollzug, zum Teil auch in ständigem Ringen entschieden wird, welcher Diskurs der bestimmende wird. Diese Alltagspraktiken und die ihnen inhärenten Selbstverständlichkeiten bekommen ihre besondere Wirkung dadurch, daß sie nicht nur Teil der familiären Interaktion sind, sondern daß diese familiären Praktiken Niederschläge von historisch gewordenen gesellschaftlichen Diskursen sind, die im Alltag zu unhinterfragten Selbstverständlichkeiten geronnen sind. Das Material, auf das ich meine Analyse beziehe, beruht zum einen auf den Erzählungen des Paars, auf der Darstellung ihrer Geschichte, ihres Alltags und ihres Urlaubs sowie ihrer sprachlichen Interaktionen und Handlungssequenzen. Zum anderen ist jedoch auch das, was in der Beratungsstelle an Interaktion zwischen den Partnern und der Beraterin22 stattfand, 20
Bublitz: Differenz und Integration. 230. Michel Foucault (1969): Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1971, 178. 22 Während ich bei der Darstellung der Gespräche über meine Tätigkeit als Beraterin in der 1. Person gesprochen habe, wechsele ich die Analyse in die 3. Person und spreche von „der Beraterin“, um die kritische Distanz zu dem, was in der Beratung geschah, zu kennzeichnen. 21
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von Bedeutung und kann Hinweise auf den herrschenden Diskurs und die Verortung des Paars darin geben. Eine Diskursanalyse der sozialen Wirklichkeit ist daran interessiert, wie die Subjekte alltägliche oder auch weniger alltägliche Aufgaben bewältigen und dabei ihre „Realität“ sprachlich oder interaktiv konstruieren.23 Die Diskursanalyse arbeitet deswegen mit Aufzeichnungen darüber, wie Menschen ihre Welt konstruieren, z.B. wenn sie von Ereignissen erzählen oder sich über Beziehungen streiten. Statt kontrollierte experimentelle Settings wie z.B. standardisierte Interviewsituationen herzustellen, versucht die Diskursanalyse den Rahmen und den Kontext der Situation möglichst genau zu beschreiben und ihn in ihre Analyse einzubeziehen. Bei der Diskursanalyse der Gesprächssequenz werde ich mich an den Fragestellungen und den geschilderten Konflikten des Paars entlang bewegen, weil ich davon ausgehe, daß diese Konflikte „Bruchstellen“ in dessen Alltagspraktiken markieren, d.h. darauf hinweisen, wo die Selbstverständlichkeiten des Alltags brüchig geworden sind. Die vorliegende Diskursanalyse arbeitet von daher exemplarisch an Themen, die das Paar im Gespräch vorstellte. Für die folgende Analyse der Gesprächssequenz sind mir einige methodologische Überlegungen besonders wichtig: • Ziel der Untersuchung ist es zu zeigen, welchen Einfluß überindividuelle Diskursstrukturen auf vermeintlich private Beziehungen haben. • Die mit den Diskursen verknüpften Machtstrukturen sollen offengelegt und untersucht werden. • Auch das Wissen und Nicht-Wissen der Beraterin und der beiden Gesprächspartner ist durch überindividuelle Machtstrukturen bestimmt. „Leerstellen“, d.h. Themen, die ausgespart werden, obwohl sie offensichtlich von Bedeutung sind – wie z.B. die Sozialisation von Herrn Hauser und Frau Laupe in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen –, haben deswegen eine besondere Aussagekraft und weisen auf verborgene Diskursstrukturen hin. • Im Beratungsgespräch bewegen sich die Klienten und die Beraterin im Feld verschiedener diskursiver Praktiken, an denen exemplarisch damit verwobene Diskurse zur Kultur- und Geschlechterdifferenz aufgezeigt werden sollen. Diese beiden Diskurse und deren Niederschläge in der 23 Vgl. Jonathan Potter: Diskursive Psychologie und Diskursanalyse. In: Keller: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. 313–334, bes. 313, 322.
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sozialen Wirklichkeit sollen im Fokus meiner Dekonstruktionen und Rekonstruktionen stehen. • Die gesellschaftlichen Praktiken sollen sowohl archäologisch auf die dahinterliegenden Diskurse als auch genealogisch im Bezug auf die historischen Wurzeln der verschiedenen Diskurse untersucht werden.24 • Bei der Untersuchung der diskursiven Praktiken ist es mein Ziel aufzuzeigen, wie diese und die dahinter liegenden Diskurse Macht und Wissen strukturieren und wie in diesen Konstruktionen mit Differenz umgegangen, sie bearbeitet und bewältigt wird. Es ist es nicht mein Anliegen, diese Praktiken, die Diskurse im Hintergrund und ihre Wurzeln in aller Ausführlichkeit darzustellen. Dies würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und entspricht auch nicht meinem Interesse. 3.2 Die Interpretation der Gesprächssequenz aus diskursanalytischer Perspektive 3.2.1 Die Ausgangssituation Das Paar kam in die Beratungsstelle und nannte als Motivation für die Suche nach Beratung, daß bei Konflikten zwischen ihnen die Streitigkeiten so intensiv und grundsätzlich würden, daß sie die Basis ihrer Beziehung in Frage stellten. Das Paar hatte selbst nach Erklärungen für diese destruktiven Streitigkeiten gesucht und war zu dem Schluß gekommen, daß diese in ihrem unterschiedlichen Umgang mit Konflikten begründet wären. Diese unterschiedlichen Streitkulturen brachten sie mit den verschiedenen Prägungen durch ihre Familien in Verbindung: Es ist eigentlich immer wieder, daß auch unsere unterschiedlichen Charaktere es uns schwer machen. Ich komme aus einer Familie, in der man eben sehr emotional reagiert, während in seiner Familie alles über den Kopf entschieden wird. (Frau Laupe im 1. Gespräch)25
Frau Laupe und Herr Hauser benannten eine Differenz zwischen ihren Charakteren. Gleichzeitig wurde diese Differenz der Streitkulturen durch die unterschiedlichen Herkunftsfamilien erklärt. Damit implizierten sie, daß die 24 Um die Diskursebene deutlich von den Alltagspraktiken abzuheben, versehe ich Textteile mit Hinweisen, Erläuterungen und Darstellungen zur Diskursebene mit einem Rahmen. 25 Im folgenden Text werde ich beim Zitieren von Gesprächssequenzen nur die wesentlichen Teile darstellen und ansonsten die Leserin und den Leser auf die ausführliche Darstellung des jeweiligen Gespräche am Anfang des Kapitels verweisen.
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Art des Umgangs mit Konflikten „vererbt“ oder durch Imitation nahtlos an die nächste Generation weitergegeben würde. Es wurde vorausgesetzt, daß diese Differenzen naturgegeben, selbstverständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig wären. Auf diese Weise erübrigte es sich, daß Anschuldigungen vorgenommen wurden: Es war ja so oder so gelernt oder vererbt worden. Auch brauchte keine und keiner alleine die Verantwortung für die Eskalation der Streitigkeiten zu übernehmen. Die Frage der Machtverteilung schien nicht zu existieren. Im Gegenteil, beide Partner gingen äußerst rücksichtsvoll und „fair“ miteinander um. Diese Konstruktion der Erklärungsversuche könnte als ein aufgeklärter, individualistischer Aushandlungsdiskurs verstanden werden, an dem beide gleichberechtigt und in gleichem Maße verantwortlich teilnahmen. Das Paar kam jedoch in die Beratung, weil ihre diskursiven Konstruktionen nur vordergründig funktionierten, aber zu keinem Konsens führten. Ich gehe deswegen davon aus, daß diesen Streitigkeiten noch andere diskursive Praktiken, Macht- und Wissensstrukturen zugrunde lagen, von denen das Paar jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nichts wußte oder wissen wollte. Auf der Suche nach weiteren relevanten diskursiven Strukturen werde ich mich mit den Themen beschäftigen, an denen sich die Streitigkeiten immer wieder entzündeten: die Wahl des Ferienorts, die Gewerkschaftsarbeit von Frau Laupe, die Familienbilder und die Sexualität.26 3.2.2 Die Wahl des Ferienortes Ein Thema, woran sich die Streitigkeiten des Paars immer wieder entzündeten, war die Wahl des Ferienortes. „Ferien zu machen“ bedeutete für Herrn Hauser, daß er weit weg fuhr, das Vertraute hinter sich ließ und Freiheit jenseits des üblichen Alltags gewann. Er wollte nach Frankreich in die Bretagne oder in die Cevennen fahren und dort zelten, an Ferienorten, wo er auch schon mit früheren Freundinnen und Freunden war: Ich möchte irgendetwas anderes sehen. [. . .] Sie will da nicht hin. [. . .] Es wäre doch besser, das Ferienhaus von Freunden in Brandenburg zu nehmen. (Herr Hauser, 10. Gespräch)
Anders als für Herrn Hauser bedeutete für Frau Laupe Urlaub zu haben weniger Freiheit und Abenteuer, sondern Rückkehr zum Vertrauten, Kontaktaufnahme mit alten Freunden, vielleicht auch mit dem Besuch von Orten, 26
Die Reihenfolge der Bearbeitung der Themen richtet sich nach den Notwendigkeiten der Darstellung und der Argumentation und entspricht nicht der Reihenfolge, in der die Themen von dem Paar angesprochen wurden.
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wo sie als Kind die Ferien mit ihren Eltern verbracht hatte. Sie wollte deswegen die Ferien lieber auf Hiddensee oder in einem Ferienhaus in Brandenburg mit Freunden verbringen. Sie ließ sich zunächst auf Herrn Hausers Kompromißvorschläge ein, obwohl deutlich war, daß diese Vorschläge mehr seinen als ihren Interessen folgten. Ihre Interessen kamen jedoch in abrupten Gegenvorschlägen zum Vorschein, die Herrn Hauser überraschten und irritierten. Wenn man die Diskussion überblickt, ist es verwunderlich, daß Frau Laupe ihre Herkunft aus der DDR nicht als Begründung für ihren Urlaubswunsch anführte. Sie äußerte zwar ihre Wünsche und Vorlieben, aber da sie nicht die Begründung und „den Sinn“ für diesen Urlaubswunsch mitlieferte, wurden ihre Vorschläge als irrelevant abgetan. Der Wunsch nach Rückbindung, nach Heimat und der Verbindung zur Vergangenheit, den Frau Laupe mit ihren Urlaubswünschen verknüpfte, konnte nicht geäußert werden. Auch ein weiteres Detail deutet darauf hin, daß Frau Laupe (und Herr Hauser) die Bedeutung der Verbindung zur Vergangenheit nicht wahrnahm(en): Während Herr Hauser losen und selbstverständlichen Kontakt zu seinem Heimatort hielt, besuchte Frau Laupe weder allein noch mit ihrem Partner die Orte, wo sie wesentliche Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Erst nachdem die Beraterin über die Bedeutung von Frau Laupes Vergangenheit für ihre Beziehung gesprochen hatte, besuchten Frau Laupe und Herr Hauser gemeinsam den Ort ihrer Kindheit. Diese Indizien weisen darauf hin, daß Frau Laupe mit ihrem Umzug in den Westen und ihrer neuen Partnerschaft die Verbindung zu ihrer DDRVergangenheit und den damit verknüpften Diskursen aufgegeben und sich – wenigstens nach außen hin – an die westlichen Diskurse angepaßt hatte. Im Grunde war sie eine Migrantin, deren Herkunftsland nicht mehr existierte.27 Auch die Diskurse, in denen sie sich in der DDR bewegt hatte, existierten nicht mehr. Es war Frau Laupe gelungen, sich nahezu nahtlos in den wirtschaftlichen Diskurs der BRD, der sich um Kapital und Leistung dreht, einzufügen. Diese Anpassungsleistung hat eine fast identische Entsprechung in der gesamtgesellschaftlichen Situation von BRD und DDR. Die Vereinigung von BRD und DDR geschah weitgehend so, daß der herrschende DDR-Diskurs, der im politischen Apparat, in allen Institutionen, Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen bis hin zur Beschilderung im Straßenverkehr eingeschrieben war, durch den Diskurs der BRD na27
Zur Theorie von Migrationsprozessen vgl. Hall: Rassismus und kulturelle Identität; Bhabha: Verortungen der Kultur.
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hezu ausradiert wurde. Die DDR wurde unter dem Namen „die Neuen Länder“ in einem nahezu kolonialistischen Prozeß „vereinnahmt“, die alten Strukturen weitgehend aufgelöst und neue nach dem Vorbild der „Alten Länder“ installiert. Die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger des nicht mehr existenten Gesellschaftssystems der DDR mußten sich in Ost oder West zum nun herrschenden Diskurs des Westens verhalten. Viele ehemalige DDRBürgerinnen und -Bürger lösten den Konflikt zwischen dem herrschenden BRD-Diskurs und ihrer Vergangenheit im DDR-Diskurs, indem sie sich zu Opfern des DDR-Regimes stilisierten und sich nachträglich vom DDR-Diskurs distanzierten. Damit verorteten sie sich eindeutig im BRD-Diskurs. Andere verfielen der „Ostalgie“ und romantisierten und idealisierten die Verhältnisse der DDR nachträglich. Sie sahen sich als Opfer der Wende.28 Frau Laupe versuchte sich ganz pragmatisch in der westlichen Gesellschaftsstruktur und ihrem Herrschaftsdiskurs zu verorten. Dies verwundert um so mehr, da Frau Laupe die DDR und ihre sozialistischen Wertvorstellungen nicht nur als „hohle Phrasen“ und als ideologischen Überbau erlebt hat. Frau Laupe erzählte im 11. Gespräch: Ich habe immer noch den Wunsch, neben der Familie in einem größeren Kollektiv zu leben, so wie als Kind. [. . .] Mein Vater war der Direktor und thronte über allem. Sie hatte auf einem Campus mit Studierenden aus verschiedenen sozialistischen Ländern eine lebendige, tatkräftige und offene Form des Sozialismus gelebt. Doch diese positive Erfahrung mit dem Sozialismus, dieses andere Erleben des DDR-Diskurses war nicht mehr sprachfähig, nicht mehr symbolisierbar nach der Wende. Seit dem Fall des DDR-Regimes war für eine positive Wahrnehmung von Aspekten der DDR weder im Diskurs der „Westler“ noch in dem der „Ostler“ Raum. Die Schriftstellerin Daniela Dahm stellt fest: Bislang sind aber DDR-Themen, die womöglich nicht nur negative Aspekte an Tageslicht brächten, in der staatlich geförderten Forschung tabuisiert. Zu solchen Themen könnten gehören: 28
Zu den verschiedenen Theorien, die Vereinigung von DDR und BRD gesellschaftlich, aber auch psychosozial zu verstehen vgl. Tilman Moser: Besuche bei Brüdern und Schwestern. Frankfurt/M. 1992; Wolf Wagner: Kulturschock Deutschland. Hamburg 1996.
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• Auswirkung von Volkseigentum auf zwischenmenschliche Beziehungen [. . .]. • Folgen von Vollbeschäftigung der Frauen auf ihre Identität und auf die Beziehungen in den Familien [. . .]. • Wertvorstellungen unter den Bedingungen eingeschränkter Konkurrenz. Wenn Zeit nicht Geld ist. • Einflüsse osteuropäischer Mentalität und Kultur. Geselligkeit, Datschenwesen. • Das Kollektiv als Zweitfamilie. Zwischen Intrigen und Solidarität, Gängelung und Hilfsbereitschaft.29
3.2.3 Gewerkschaftsarbeit Ein weiterer Konflikt zwischen den beiden Partnern war Frau Laupes Gewerkschaftsarbeit. Sie investierte viel Zeit und Energie in diese Arbeit, was von Herrn Hauser mit Unverständnis und Verärgerung quittiert wurde, obwohl er selbst auch in der Gewerkschaftsarbeit tätig gewesen war und sie sich in diesem Rahmen kennengelernt hatten. Im Einzelgespräch wurde deutlich, was diese Arbeit für Frau Laupe bedeutete. Nach dem Gespräch darüber, wie ihr Vater die Wende verkraftet hatte, erzählt sie: Ich habe auch nicht alles [in der DDR, Anm. d. Verfasserin] idealisiert, aber manches fehlt mir schon. [. . .] Ich habe mich auch viel in der Politik engagiert, auch im Betriebsrat. (9. Gespräch mit Frau Laupe)
Hier wird deutlich, daß auch die Gewerkschaftsarbeit für Frau Laupe eine Rückbindung an den DDR-Diskurs und an seine Ideale verkörperte. Neben der Arbeit für das Gemeinwohl suchte sie auch die Einbindung in eine Gemeinschaft, die sie sonst in der BRD vermißte. Für Herrn Hauser hatte die Gewerkschaftsarbeit eine andere Bedeutung. Für ihn bedeutete sie Ausbruch aus der Enge und Aufbruch in die große, weite Welt. Für Herrn Hauser war die Gewerkschaftsarbeit also in den Individualisierungs- und Selbstverwirklichungsdiskurs des Westens eingebettet, so daß es nur schlüssig war, daß 29
Vgl. Daniela Dahm: Vereintes Land – geteilte Freude: Über das Gefühl der Ostdeutschen, sich für ihre Identität entschuldigen zu müssen. Frankfurter Rundschau – Dokumentation vom 2./3. Oktober 2001.
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er im Zusammenhang mit dieser Arbeit Frau Laupe kennenlernte, seine alte Partnerschaft verließ und eine neue Partnerschaft begann. Im Zusammenhang mit seiner früheren Beziehung erzählte er im 6. Gespräch: Und die Partnerschaft [mit seiner früheren Frau, Anm. der Verfasserin] ist bis auf Schwierigkeiten am Anfang ganz gut gegangen. Dann aber habe ich mehr Möglichkeiten gehabt, mich zu entwickeln, auch durch die Gewerkschaftsarbeit.
Frau Laupe und Herr Hauser hatten sehr unterschiedliche Motive für ihre Gewerkschaftsarbeit. Und erneut schien Frau Laupe zwar eigene Wünsche zu haben, z.B. in der Gewerkschaft aktiv zu sein, aber sie konnte auch in diesem Bereich die Bedeutung ihrer Wünsche gegenüber ihrem Partner nicht deutlich machen. Weder sie noch ihr Partner schienen zu wissen, daß ihre Gewerkschaftsarbeit eine Rückbindung an den Diskurs der DDR war, an seine Ideale und den damit verbundenen Lebensentwurf, der nicht nur auf die Kleinfamilie abzielte, sondern auf ein Leben im Kollektiv. Für ihren Partner, aber auch für sie, schienen mit dem Zusammenbruch der realen DDR deren Ideale und Lebensverhältnisse an Relevanz verloren zu haben, so daß sie nicht mehr als Begründung für das eigene Tun heranzogen werden konnten. Für Herrn Hauser hatte die DDR eher eine ideelle als eine reale Bedeutung. Sie war das sozialistische Ausland gewesen, aber wie die Menschen dort tatsächlich gelebt und gearbeitet hatten, wie sie sich mit den Vorzügen und Nachteilen des Systems arrangiert hatten, wußte er nicht. Als er Frau Laupe kennenlernte, existierte die DDR nicht mehr. Sie gehörte der Vergangenheit an und hatte keine Bedeutung für ihn, auch nicht in seiner Beziehung zu Frau Laupe. Mit dieser Sicht der Dinge befand sich Herr Hauser im Mainstream des BRD-Diskurses, der vor allem von Westbürgern, die zu DDR-Zeiten keine Kontakte in den Osten hatten, getragen wurde: In diesem Diskurs wurde die DDR vor der Wende als Terra Incognita, als fernes unbekanntes Land, aber auch als wirtschaftliches Entwicklungsland behandelt, wo man keine Importgüter wie Bananen kaufen konnte, zehn Jahre auf ein Auto warten mußte und Westfernsehen verboten war. Nach der Wende wurde der Diskurs weiterentwickelt, das Entwicklungsland Ost-Deutschland von der Versklavung durch den Kommunismus befreit und mit dem westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem „beglückt“. DDR-Bürger bzw. Bewohner der Neuen Länder hatten wenig Möglichkeit, ihre Diskurswelt darzustellen und zu entwickeln.30
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Die verschiedenen Beispiele zeigen, daß Frau Laupe zwar ihre Wünsche äußerte, aber ihnen keinen Sinn und keine Bedeutung verleihen konnte, indem sie z.B. auf den Zusammenhang mit ihrer Herkunft und dem Wunsch nach Rückbindung und Erinnerung hingewiesen hätte. Daß Frau Laupe diesen Argumentationszusammenhang nicht aufgriff, ist m.E. am einleuchtendsten damit zu erklären, daß auch bei diesem Paar diskursive Machtstrukturen und -mechanismen über die Verteilung von Wissen und Macht entschieden, die aber nicht offengelegt werden durften, weil sie die These eines gleichberechtigen, partnerschaftlichen Umgangs gestört hätten. In der zumindest nach außen vertretenen Übernahme des BRD-Diskurses war die diskursive Praxis des Paars analog den gesellschaftlich vorherrschenden Praktiken im OstWest-Dialog konstruiert worden. Dies galt hinsichtlich der Bereiche Arbeit und Familie sowie in Bezug auf die Ausblendung des DDR-Diskurses. Diese These will ich an weiteren (Konflikt-)Themen des Paars verdeutlichen. 3.2.4 Familienbilder Als erstes hatte das Paar in der Beratung das Problem angeführt, daß Frau Laupe Herrn Hausers Sohn Jens gegenüber nicht tolerant genug sei. Herr Hauser erklärte im ersten Gespräch: Ich habe jetzt beschlossen, daß ich Jens nicht mehr mit auf unsere Ferien nehme, sondern lieber alleine mit ihm verreise, weil Karin mit ihm einfach nicht kann. Sie reagiert immer gereizt auf ihn. [. . .] Und ich erwarte eigentlich schon, daß Karin das [wie schwer es Jens hat, mit der heilen „Zweitfamilie“ von Herrn Hauser, Frau Laupe und ihren beiden Kindern klarzukommen, Anm. der Verfasserin] auch versteht und etwas toleranter ist, ich bin es ja auch bei ihren Kindern.
Hier zeigte sich eine diskursive Praxis zum Thema Familie, die davon ausging, daß auch Patchwork-Familien den Normen von „Erstfamilien“ unterliegen (müssen). Dieser Familiendiskurs sieht vor, daß die Familie eine Einheit darstellt und die Bindungen der Eltern – besonders der Mutter – zu allen Kindern „gleich“ und von toleranter Mutter- bzw. Vaterliebe getragen sind bzw. sein sollten. Dabei wird ausgeblendet, daß Familien und besonders Patchwork-Familien keine kontextlosen Systeme, sondern verschiedenen sozialen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen unterworfen sind. Diese Kontexte entscheiden über die Ausprägungen der realen 30
Vgl. Dahm, Vereintes Land – geteilte Freude.
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Familie und auch über die Normen, nach denen Familie und vor allem die Rolle der Mutter konstruiert werden soll.31 Typisch für die diskursive Praxis zum Thema Mutter in der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts ist, daß sie weitgehend als „ungenügende Mutter“ ins Bild kommt.32 Die Mutter soll den Kindern und vor allem dem Mann einen Hort der Geborgenheit und Regression bieten. Frau Laupe sah sich einerseits diesem Familien- und Mutterdiskurs verpflichtet. Sie sah sich selbst sehr kritisch im ersten Gespräch und wünschte sich mehr Toleranz: Ja, manchmal denke ich auch, wenn Sie ein Rezept für mich hätten, wie ich toleranter sein könnte, dann wären all unsere Probleme gelöst. (Frau Laupe, 1. Gespräch)
Andererseits lebte sie jedoch mit ihren beiden Kindern eine sehr viel pragmatischere Variante von Familie und Mutterschaft, in der Mutterliebe zumindest nicht vordergründig von hausfraulicher Präsenz und Fürsorge geprägt war, sondern in der die Mutter vor allem die materielle Existenz ihrer Familie absicherte – unabhängig von einem männlichen Versorger. Hier zeigten sich sehr deutlich die Niederschläge der realen und diskursiven Praktiken der DDR: Mütter, ob alleinerziehend oder mit Partner, genossen in der DDR ein größtmögliches Maß an Unterstützung in Bezug auf Wohnungsvergabe, materielle Unterstützung, institutionelle Kinderbetreuung und Freistellung vom Beruf zur Pflege kranker Kinder. Mütter waren materiell weitgehend unabhängig von den Einkünften eines Partners. Ein Kind zu haben, war für Frauen in der DDR nicht wie in der BRD mit einem „Karriereknick“ und finanziellen Einbußen verknüpft.33 Die diskursiven Praktiken der DDR in Bezug auf Mütter und besonders 31
Vgl. Shari Thurner: Mythos Mutterschaft: Wie der Zeitgeist das Bild der guten Mutter immer wieder neu erfindet. München 1995. 32 Zum europäisch-nordamerikanischen Diskurs über „die Mutter“ und Mütterlichkeit im 20. Jahrhundert vgl. bes. Thurner: Mythos Mutterschaft. 337–438; vgl. auch Ursula Pasero/ Ursula Pfäfflin (Hg.): Neue Mütterlichkeit. Ortsbestimmungen. Gütersloh 1986. 33 Vgl. Rommelspacher: West-Emanze und Ost-Mutti; vgl. auch Beate Neubauer: Die verordnete Gleichberechtigung – das DDR-Frauenbild im ersten Jahrzehnt. In: Kirsten Beuth/Kirsten Plötz (Hg.): Was soll ich euch denn noch erklären? Ein Austausch über Frauengeschichte(n) in zwei deutschen Staaten. Gelnhausen 1998, 78–89, 88.
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alleinerziehende Mütter sind für ehemalige DDR-Bürgerinnen interessanterweise auch dann noch relevant, wenn sich die realen Lebensumstände verändert und der West-Situation angenähert haben. Dies wird z.B. daran deutlich, daß Alleinerziehende aus dem Gebiet der DDR subjektiv das Gefühl haben, ihrem Alltag besser gewachsen zu sein als Westbürgerinnen, auch wenn die äußere Situation vergleichbar ist.34 Auch wenn Frau Laupe sich den Anforderungen an Mütter im westlichen Familiendiskurs anpassen wollte, lebte sie doch einen anderen Diskurs, der weitaus mehr von den Praktiken der DDR bestimmt war.35 Sie hatte nach der Geburt ihres ersten Kindes in der DDR problemlos ein Studium aufnehmen und abschließen können, selbst ohne die Unterstützung durch ihren Mann, weil für das Kind selbstverständlich Betreuungsmöglichkeiten vorhanden waren. Sie hatte auch nach der Geburt ihres zweiten Kindes, als ihr zweiter Partner nach dem Zusammenbruch des DDR-Systems keine Aufträge mehr bekam, für den Unterhalt der Familie gesorgt. Später im Westen verdiente sie wieder den Unterhalt für sich und ihre Kinder. Trotzdem betrachteten Herr Hauser und Frau Laupe den Haushalt und seine Ordnung weitgehend als Frau Laupes Zuständigkeitsbereich. Diese erzählte im 4. Gespräch: Und diese alltäglichen Reibereien [um den Haushalt, Anm. der Verfasserin] sind natürlich schwierig: Ich bemühe mich ja. [. . .] Ich schaffe es nur zu 80 Prozent, nicht zu 100 Prozent so, wie ich das gern wollte.
Frau Laupe gab zu, daß sie es einfach nicht schaffen würde, den Haushalt völlig in Ordnung zu halten. Damit zeigte sie jedoch, daß sie akzeptierte, daß sie für die Ordnung im Haushalt weitgehend allein zuständig war, obwohl sie 34
Vgl. Norbert F. Schneider et al. (Hg.): Alleinerziehen – Vielfalt und Dynamik einer Lebensform. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Schriftenreihe Bd. 199. Stuttgart 2001, 375: „In einem weiteren Schritt wurden Alleinerziehende aus den neuen und alten Bundesländern mit dem jeweils gleichen Erwerbsstatus verglichen. [. . .] Dabei zeigt sich, dass die Herkunft aus den alten bzw. neuen Bundesländern [. . .] eine zentrale Rolle spielt. Berufstätige Frauen aus dem Westen fühlen sich deutlich stärker durch die Kindererziehung, die Organisation der Kinderbetreuung, die Alleinverantwortung sowie die Rollenvielfalt belastet. [. . .] Die heterogene Bewertung der Rollenvielfalt lässt zudem vermuten, dass in den alten Bundesländern verschiedene Leitbilder der „guten Mutter“ existieren: Die Rollenvielfalt dürfte ganz besonders für Frauen, die sich am traditionellen westdeutschen Leitbild der ‚guten Mutter‘ orientieren, belastend sein.“ 35 Auch der DDR-Diskurs hilft jedoch – so scheint es – nicht gegen das Gefühl, eine Rabenmutter zu sein, denn dieses trat bei Frau Laupe auch immer wieder zutage (z.B. im 8. Gespräch).
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ebenso berufstätig war wie Herr Hauser. An dieser Stelle reproduzierte Frau Laupe in ihrem Leben in der BRD die Realität der Frauen in der DDR mit der ihr inhärenten Widersprüchlichkeit. Die Wirtschaft der DDR war auf die Arbeit von Frauen angewiesen. Frauen wurden relativ vorbehaltlos in Berufen akzeptiert, die im Westen als Männerberufe definiert waren. Frauen in der DDR wurden weitaus früher als in der BRD als Baggerführerinnen, Bus- und Bahnführerinnen und Bauarbeiterinnen akzeptiert. In der DDR waren 91 Prozent der Frauen vollzeit erwerbstätig.36 Obwohl Frauen und Männer damit weitgehend gleichberechtigt am Berufsleben teilnahmen,37 wurde die Haushalts- und Erziehungsarbeit in den Familien nicht umverteilt, sondern blieben weiterhin die Sache der Frauen. Birgit Rommelspacher beschreibt das Arrangement der Geschlechter in der DDR im Hinblick auf Arbeit und Haushalt folgendermaßen: Mit ihrer (sc. die der DDR) berühmten Mutti-Politik wurde die Frau trotz und entgegen ihrer Position im Erwerbsleben auf ihre Frauenrolle festgelegt, so ungefragt, daß es kaum einer auffiel, daß man nicht Frauen unendlich für Männerberufe qualifizieren kann, wenn man nicht gleichzeitig Männer in Frauenberufe schickt. Vaterschaft und die Rolle des Mannes waren kein Thema. Er war die selbstverständliche Norm. Die Frau hatte das Problem, das es gemeinsam zu lösen galt.38
3.2.5 Sexualität Als letztes und als Kulminationspunkt der Auseinandersetzungen des Paars untersuche ich den Konflikt des Paars im Bereich der Sexualität. Herr Hauser erklärte im zweiten Gespräch, daß er mit dem Bereich der Sexualität nicht mehr zufrieden sei und daß er sich von Frau Laupe abgelehnt fühlte. 36 Vgl. Rommelspacher: West-Emanze und Ost-Mutti. Vgl. auch Neubauer: Die „verordnete“ Gleichberechtigung. 88. 37 Die berufliche Gleichberechtigung von Frauen in der DDR schlug sich dabei eher in einem breiteren Berufsspektrum nieder als darin, daß sie die gleichen Karrierechancen wie Männer hatten. Vgl. Gunilla-Friederike Budde: Mobilisierung der Frauenreserve. Kein strahlendes Ruhmesblatt: Die Lage der Akademikerinnen in der DDR. Frankfurter Rundschau – Dokumentation vom 19. September 2000. Auch die Praxis die männliche Sprachform der Berufe auch für Frauen beizubehalten, weist darauf hin, daß das Geschlechterarrangement im Beruf zwar de facto, aber nicht in der Repräsentation verändert wurde. Vgl. Frau Laupe im ersten Einzelgespräch (7. Gespräch): „Ich habe dann als Pförtner an der Universität gearbeitet.“ 38 Rommelspacher: West-Emanze und Ost-Mutti.
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Ja, es geht dabei um die Sexualität. [. . .] Das wünsche ich mir anders und auch, daß von ihr nie die Initiative kommt, das fehlt mir.
Mit dieser Aussage präsentierte sich Herr Hauser als der aktive Part in der Beziehung. Indem er von seiner Partnerin erwartete, daß auch sie die Initiative ergriff, definierte er die Situation. Er schob Frau Laupe die passive Rolle zu, indem er sagte, daß sie seinen Erwartungen nicht (mehr) genüge. Der Begründungszusammenhang für diese Argumentation könnte im Anschluß an den 68er-Diskurs gesehen werden. Dort wurde die sexuelle Befreiung gefordert und sexuelle Aktivität mit der Befreiung von individuellen und politischen Zwängen verknüpft. Herr Hauser sah Frau Laupe jetzt in der Rolle einer passiven und sexuell genügsamen, fast frigiden Frau, die sexuell noch oder wieder befreit werden müßte. Mitte der 60er Jahre wird die BRD von der Sex-Welle überschwemmt.39 Die entfesselte Sexualität soll gemäß den Theorien von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse die Gesellschaft von Selbstdestruktivität und Zwängen befreien. Reich geht davon aus, daß die sexual-ökonomische Selbststeuerung durch einen Libidokreislauf gesteuert wird. Die sich frei entfaltende Genitalität müßte die Fesseln und Zwänge der prägenitalen Partialtriebe abstreifen und sie der Genitalität unterordnen. Die Destruktionstriebe verlieren so die Möglichkeit, sich sexuell zu engagieren, und müssen sich für sozial nützliche Tätigkeiten absorbieren lassen.40 Mit der Einführung der Anti-Baby-Pille im Jahr 1967 wird zudem die Trennung von Sexualität und Empfängnis zum ersten Mal sicher und für eine breite Mehrheit von Frauen (und Männern) möglich. Dies hatte jedoch auch zur Folge, daß Frauen sich auf neue und andere Weise mit ihren Wünschen und Bedürfnissen im Bereich der Sexualität auseinandersetzen mußten. Die Gefahr der Schwangerschaft war als Hemmschwelle, aber auch als Entschuldigung nicht mehr existent. Gleichzeitig wurde von Frauen wegen der Pille und unter dem Slogan der sexuellen Befreiung eine neue Art der sexuellen Verfügbarkeit erwartet. Die DDRDiskurse zum Thema Sexualität verliefen anders als in der BRD und waren mit anderen Körper- und Geschlechterdiskursen verknüpft. Dies zeigte sich zum einen in der schon beschriebenen Unabhängigkeit von Müttern durch finanzielle Unterstützung und flächendeckende Kinderbetreuung. Einen weiteren Niederschlag der pragmatischeren DDR-Diskurse zum Thema Sexualität fand sich in der Gesetzgebung zur Regelung von Abtreibungen wieder. Während in der BRD §218 über Jahrzehnte heiß umkämpft wurde, war in der DDR eine Fristenregelung in Kraft, 165
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die nicht von Tabus und normativen Ansprüchen geprägt war, sondern weitgehend den Frauen die Entscheidung über Abtreibung oder Fortführung der Schwangerschaft überließ. Die Sexualitäts-Diskurse der DDR könnten im Vergleich zur BRD als pragmatischer und bedürfnisorientierter beschrieben werden. Sie waren weniger von Tabus und von dem Bild romantischer Liebe41 geprägt. Frau Laupe stand vor dem Problem, ihr sexuelles Desinteresse vertreten zu müssen. Während Herr Hauser die sexuelle Selbstverwirklichung als Argument heranzog, rekurrierte sie auf einen naturwissenschaftlich normierenden Diskurs, der davon ausgeht, daß Frauen und Männer unterschiedliche Triebbedürfnisse haben. Ihr Versuch, das Problem zu lösen, könnte von den pragmatischen DDR-Diskursen beeinflußt sein. Und ich habe dann mit ihm darüber reden wollen, daß Männer und Frauen eben unterschiedliche Bedürfnisse haben und daß das vielleicht auch geht, wenn ich nicht so sehr will und es dann halt etwas kürzer wird. (Frau Laupe, 3. Gespräch)
Um ihre Abwehr im sexuellen Bereich zu untermauern, stützte sich Frau Laupe auf den naturwissenschaftlichen Diskurs über Geschlechterdifferenz, wie er zu Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert worden war.
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Eher populärwissenschaftliche, aber sehr anschauliche Darstellungen von Sex-Welle und sexueller Revolution in der BRD finden sich bei: Sabine Weißler: Sexy Sixties. In: CheSchahShit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow. Reinbek 1986, 138– 147; Eckhard Siepmann: Genital versus Prägenital. Die Großväter der sexuellen Revolution. In: CheSchahShit, 148–150. 40 Vgl. Wilhelm Reich (1936): Die sexuelle Revolution. Darmstadt 1966. 41 Die DDR-Diskurse zur Sexualität tabuisierten der Tendenz nach weniger die Sexualität, als vielmehr die Gefühle von Liebe, Wut, Trauer etc., die in einer sozialistischen Gesellschaft als sehr viel bedrohlicher und revolutionärer angesehen wurden als die sexuellen Bedürfnisse. 42 Barbara Ehrenreich/Deidre English: Zur Krankheit gezwungen. München 1976, 32. 43 Zur Entstehung dieses naturwissenschaftlich normierenden Diskurses zum Thema der Geschlechterdifferenz, Sexualität und sexuelle Bedürfnislosigkeit von Frauen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. Hannelore Bublitz: Diskursanalyse als Gesellschafts„Theorie“. „Diagnostik“ historischer Praktiken am Beispiel der „Kulturkrisen“-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende. In: Bublitz et al.: Das Wuchern der Diskurse. 22–48, 37–45 und Thurer: Mythos Mutterschaft. 317–335.
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Man nahm zwar an, daß sie [sc. die Frauen des Bürgertums] ganz und gar von ihren Eierstöcken und ihren Gebärmüttern beherrscht würden, aber daß sie von dem Geschlechtsakt selbst abgestoßen würden. Tatsächlich empfand man sexuelle Empfindungen als unweiblich, krankhaft und möglicherweise schädlich für die Hauptaufgabe der Fortpflanzung. (Andererseits glaubte man wohl, daß Männer sexuelle Empfindungen hätten, und viele Ärzte gingen sogar so weit, daß sie die Prostitution guthießen, mit der Begründung, daß die Männer der oberen Mittelschicht und der Oberschicht Möglichkeiten haben müssen, ihre sexuellen Bedürfnisse nicht nur an ihren zarten Frauen auszutoben).42 Hannelore Bublitz weist darauf hin, daß zu Beginn des 20. Jahrhunderts Sittlichkeits- und Gesundheitsdiskurse, sowie Geschlechterund Klassendiskurse ineinandergriffen und sich gegenseitig bestärkten.43 Während Frauen aus der Arbeiterklasse und Prostituierte als schmutzig, sittenlos und sexuell aktiv angesehen wurden, sollten Frauen aus dem Bürgertum sich zur Pflege ihrer Weiblichkeit und Fortpflanzungsfähigkeit schonen und sich in sexueller Askese üben: Bublitz stellt dar, wie diese Sexual- und Sittlichkeitsdiskurse vom Bürgertum auf andere Klassen übertragen wurden, aber auch das Bürgertum sich selbst den Normalisierungspraktiken unterwarf: Die „gesunde“ Form heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit als bürgerliche Norm dient dem Bürgertum als Folie sowohl für die Missionierung der arbeitenden Klassen als auch für die kulturmissionarische Aufgabe der bürgerlichen Frau. Das Bürgertum, selbst durchdrungen von den als Gegenstand des Wissens konstituierten Pathologien des Körpers, wird zu allererst selbst zum Gegenstand der Normalisierungspraktiken. Die anderen Bevölkerungsgruppen werden, ebenso wie die außereuropäischen Völker, vom „normalen“ Volkskörper abgespalten und ausgeschlossen und aufgrund dieser Praktiken als Gegenstand des Wissens objektiviert. Gegenstand missionierender, disziplinierender und regulierender Praktiken werden sie nun, als abweichende, unmoralische oder pathologische Subjekte mit Hilfe von Normalisierungspraktiken in die organisch konzipierte, gleichwohl fragmentierte Gesellschaft „eingebürgert“.44 Mit diesem naturwissenschaftlichen Diskurs über die Geschlechterdifferenz übernahm Frau Laupe einerseits alte Rollenklischees über die Passivität der Frau. Indem sie sich selbstbewußt damit identifizierte, gewann sie anderer44
Bublitz: Diskursanalyse als Gesellschafts-„Theorie“. 44.
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seits einen Zuwachs an Freiheit. Sie hatte einen Begründungszusammenhang gefunden, der es ihr ermöglichte, sich in legitimer Weise den Wünschen und Normsetzungen ihres Partners zu widersetzen. In gewisser Weise benutzte Frau Laupe das mimetische Instrumentarium, das Irigaray beschreibt. Sie übernahm das Bild von der sexuell desinteressierten Frau und ordnete sich aktiv in das Rollenklischee der passiven Frau ein. Sie benutzte dieses Klischee aber aktiv, um ihre Interessen zu vertreten. Sowohl Frau Laupe als auch Herr Hauser wählten aus den möglichen Diskursen zur Geschlechterdifferenz diejenigen aus, die sich mit ihren Interessen deckten. In diesem Fall kann man davon sprechen, daß nicht nur die Diskurse die Subjekte bestimmen, sondern daß – zumindest in den Zeiten der Postmoderne – auch die Subjekte aktiv zwischen den Diskursen wählen, in die sie sich einfügen. Diese werden benutzt, um auf offensichtliche oder verdeckte Weise subjektive Interessen zu vertreten. Weiterhin fällt auf, daß sich Frau Laupe in Bezug auf die Konflikte um Urlaub, Gewerkschaftsarbeit und Haushalt – wenigstens nach außen hin – an die diskursiven Praktiken und Normen der BRD anpaßte und sich bemühte, ihnen zu entsprechen. Dagegen verweigerte sie im Bereich der Sexualität die diskursive Logik der sexuellen Befreiung und Selbstverwirklichung und vertrat ihre Haltung unter Zuhilfenahme des Diskurses der naturwissenschaftlich begründeten Geschlechterdifferenz. 3.3 Der Ertrag der diskursanalytischen Perspektive Die diskursanalytische Herangehensweise an das Fallmaterial ermöglichte es mir, die verschiedenen Diskurszusammenhänge zu dekonstruieren und zu rekonstruieren. Die vordergründige individualistische Erklärungsweise des Paars, daß Konflikte auf unterschiedlichen Interessen bzw. auf den familiären Erbschaften beruhen, erwies sich als ein Erklärungsmodell, das die Diskurse und ihre Macht- und Wissensstrukturen, die bei den Konflikten ans Licht traten, eher verschleierte als erhellte. Die kulturelle Differenz in den diskursiven Praktiken der BRD und der DDR wurde nach der Wiedervereinigung durch die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens in ein hierarchisches Lösungsmodell überführt. Dies spiegelte sich in den diskursiven Praxen des Paars wider. Die diskursiven Praktiken der BRD nach der „Wiedervereinigung“ statteten Herrn Hausers Argumente mit einer selbstverständlichen Plausibilität aus, während die Wünsche von Frau Laupe und ihre weitgehend unausgesprochenen Begründungszusammenhänge für ihn der Relevanz entbehrten und bei ihm keine Resonanz fanden. Die Differenz, die im Bereich der kulturell verorteten diskursiven Praktiken zutage trat, wurde demnach verschleiert, um nicht offen168
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bar werden zu lassen, daß mit ihr eine bestimmte Verteilung von Macht und Wissen verknüpft war. Auf diese Weise wurde die Differenz ignoriert, bzw. sie wurde in eine bestimmte Hierarchie eingebettet, die nur der einen Seite Relevanz zubilligte, während die andere als irrational und unverständlich abgetan wurde. Der Bereich der Sexualität wurde ebenfalls zu einem Ort, wo sich individuelle Interessen und diskursive Strukturen kreuzten und Diskurse bewußt herangezogen wurden, um die eigenen Interessen zu stützen und zu schützen. An dieser Stelle entstand eine Pattsituation, weil sich keiner auf die diskursive Konstruktion des anderen einließ; zumal sich für keine der diskursiven Praktiken ein größeres Maß an Akzeptanz in der Gesellschaft finden ließ. Auch die Beraterin als Repräsentantin von Öffentlichkeit und Moral ließ sich nicht dazu verführen, einen der Diskurse zu favorisieren. An dieser Stelle wäre zu überlegen, inwieweit die diskursive Überlegenheit von Herrn Hauser im gesellschaftlichen Bereich dazu führte, daß Frau Laupe im Bereich der Geschlechterdifferenz an einer diskursiven Norm festhielt, die der ihres Mannes widersprach, um die eigene Machtposition innerhalb der Beziehung zu festigen und um wenigstens annähernd ein Gleichgewicht der definitorischen Macht aufrechtzuerhalten.
4. Die Wahrnehmung von Differenz aus ethnopsychoanalytischer Perspektive 4.1 Ethnopsychoanalyse und die Methodik der Gesprächsanalyse Die Diskurstheorie geht davon aus, daß nicht Subjekte autonom über ihre Handlungen und die Konstruktion ihrer Lebensgeschichte entscheiden, sondern die Individuen sich durch Anpassung und Widerstand in normative, ihnen vorgegebene Diskurse einfügen, die ihnen weitgehend nicht bewußt sind. Wenn ich im folgenden die vorliegende Gesprächssequenz mit einer Methode untersuche, die ich im Anschluß an die Ethnopsychoanalyse entwickle, kommen andere Grundannahmen zum Tragen. Die Ethnopsychoanalyse und die Psychoanalyse45 gehen von der Existenz und Relevanz eines Sub45
Wie ich schon im III. Kapitel dargestellt habe, unterscheidet sich die Ethnopsychoanalyse von der Psychoanalyse nicht in ihren Grundannahmen und weitgehend auch nicht in ihrer Methodik der Wahrnehmung. Vielmehr ist das Forschungsziel der Ethnopsychoanalyse ein anderes: Während die Psychoanalyse im Allgemeinen der Rekonstruktion einer psychischen Struktur und der speziellen psychischen Dynamik einer Person dient – meist zu therapeutischen Zwecken –, beschreibt Paul Parin (1978): Typische Unterschiede zwischen Schweizern und Süddeutschen aus dem gebildeten Kleinbürgertum. In: Ders.: Der
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jekts aus, das nicht nur von Kultur und Gesellschaft geformt wird, sondern mit gesellschaftlichen Vorgaben aktiv umgeht, sich anpaßt und Gegebenes kreativ aneignet. Von daher müssen sowohl die Kultur und das Subjekt in der Feldforschung untersucht werden. Darüberhinaus muß auch die Verknüpfung von Individuum und Kultur im jeweiligen Fall analysiert werden. Nadigs ethnopsychoanalytische Methode unternimmt dies mit einer Analyse auf drei Ebenen:46 • die Analyse der ethnopsychoanalytischen Gesprächsbeziehung, • die begleitende ethnopsychoanalytische (Selbst-)Reflexion in der Feldforschungssituation • und die ethnopsychoanalytisch-tiefenhermeneutische Analyse des Zusammenspiels von Subjekt und Kultur. Wenn die ethnopsychoanalytische Methode wie in diesem Fall auf ein anderes Setting angewandt wird, müssen die veränderten Rahmenbedingungen reflektiert werden. Zum einen unterscheidet sich das Setting der ethnopsychoanalytischen Feldforschung von dem eines Beratungsgesprächs dadurch, daß die Beraterin und der Berater sich nicht einer unsicheren fremden Situation aussetzen, während die Forschungssubjekte „zu Hause“ sind. Vielmehr finden die Beratungsgespräche in einem Rahmen statt, der der Beraterin bzw. dem Berater vertraut ist, während die Klientin und der Klient unsicher sind und sich fremd fühlen. Zudem ist der Rahmen relativ stark reglementiert und normiert, das aktive Handlungsrepertoire ist für die Beraterin, den Berater, die Klientin und den Klienten relativ beschränkt. Die Konfrontation mit der Fremde findet weitgehend auf einer inneren Bühne, nicht auf einer äußeren statt. Die Analyse der Gesprächsbeziehung und der Begleitung des Feldforschungsprozesses vor Ort, die dazu dient, die Erfahrung von Fremdheit zu reflektieren, geschieht in diesem Fall ausschließlich an Hand der Gesprächsanalysen. Eine ethnopsychoanalytische Untersuchung einer Beratungssequenz kann die Aufmerksamkeit für das Fremde in der vermeintlich vertrauten Situation des Beratungsgesprächs schärfen.47 Die Konfrontation mit Widerspruch im Subjekt. Hamburg 1992, 215–232, 215, die Ethnopsychoanalyse als eine vergleichende Psychoanalyse, die „die Zusammenhänge, die es zwischen Erziehungsgewohnheiten, Traditionen und Lebensumständen einerseits, psychischen Eigenheiten, Charakterzügen, Verhaltensmustern und dergleichen andererseits gibt“, aufdeckt. Von ihren Forschungszielen steht die Ethnopsychoanalyse also der Ethnologie näher, die Methoden stimmen jedoch weitgehend mit der Psychoanalyse überein. 46 Vgl. Nadig: Zur ethnopsychoanalytischen Erarbeitung. 47 Vgl. in der vorliegenden Arbeit Kap. III.2.4: Ethnopsychoanalytische Untersuchungen in der eigenen Kultur.
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dem fremden Kontext findet neben der Begegnung mit den Ratsuchenden vor allem indirekt, über die Erzählungen der Klientin und des Klienten statt. Beides ruft eigene Erfahrungen und Vorurteile der Beraterin bzw. des Beraters auf den Plan, die in das Gespräch einfließen und gedeutet werden müssen. Von daher muß in der vorliegenden Fallbearbeitung die ethnopsychoanalytische Analyse der Gesprächsbeziehung mit der begleitenden Selbstreflexion zusammengeführt werden.48 Im vorliegenden Fall analysiere ich die Gesprächsbeziehungen49 zwischen der Beraterin und dem Paar, der Beraterin und Herrn Hauser bzw. der Beraterin und Frau Laupe. Ich benenne nicht 48
In vielem überschneidet sich mein Anliegen mit der Methodik, die Nadig für die ethnopsychoanalytische Erforschung der eigenen Kultur entwickelt hat, vgl. Nadig et al.: Formen gelebter Frauenkultur, und Kapitel III.2. dieser Arbeit. 49 In der vorliegenden Gesprächsreihe veränderte ich nach fünf Gesprächen das Setting und führte abwechselnd Einzelgespräche mit beiden Partnern. Ich wechselte die Perspektive vom Blick auf die Paarbeziehung zum Blick auf die miteinander verwobenen Systeme von Beziehungen, d.h. der systemischen Sicht. Daß eine Gruppe nicht nur aus Einzelbeziehungen besteht, sondern als System funktioniert, ist eine Annahme, die von allen systemischen Theorien geteilt wird. Ansonsten bestehen auch hier große Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulen, z.B. dem kybernetisch autopoietischen Modell der Mailänder (Mara Selvini-Palazzoli et al. (1988): Die psychotischen Spiele in der Familie. Stuttgart 1992), dem amerikanisch-pragmatischen Modell (Iván Böszörményi-Nagy: Eine Theorie der Beziehungen: Erfahrung und Transaktion in der Familientherapie. Reinbek 1975) oder auch dem Heidelberger Modell (Helm Stierlin: Individuation und Familie. Frankfurt/M. 1989). Die psychoanalytische Familientherapie verbindet die Einsichten der Analyse mit denen der systemischen Theorie. Sie bezieht sich sowohl auf das System Familie als auch auf deren Einzelpersonen und arbeitet vor allem auf der Beziehungsebene. Sie hat zum Ziel, trotz notwendiger Aktivität der Therapeutin oder des Therapeuten, die bei der systemischen Therapie im Vordergrund stehen, die Verantwortung so weit wie möglich bei den Klientinnen und Klienten zu belassen. Sie sieht es als notwendig an, z.B. durch den Wechsel des Settings Anstöße zu vermitteln oder auch Denkweisen in Frage zu stellen, ohne damit konkrete Ergebnisse vorzugeben und damit die Klienten oder das System zu manipulieren. (vgl. z.B. Thea Bauriedl: Beziehungsanalyse. Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse und seine Konsequenzen für die psychoanalytische Familientherapie. Frankfurt/M. (1980) 2 1983). Zu einem Vergleich zwischen dem systemischen Modell der Mailänder Schule und der beziehungstheoretischen Sicht von Thea Bauriedl vgl. Jürgen Maurer: Die psychotischen Spiele in der Familie. Eine Kritik der Systemischen Familientherapie von Mara Selvini-Palazzoli aus beziehungsanalytischer Sicht. In: Franz Herberth/Jürgen Maurer (Hg.): Die Veränderung beginnt im Therapeuten. Frankfurt/M. (1997) 2 1998, 283–302. Im Fall Laupe/Hauser gab ich den Anstoß, das Setting zu wechseln, weil dadurch die Systeme, in die beide Partner vor der jetzigen Beziehung eingebunden waren und mit denen sie besonders auch durch die Kinder immer noch verbunden waren, deutlicher erkennbar und auch benennbar wurden. Weiterhin wurde gerade in der Trennung und Wiedervereinigung des Paars das Thema von Nähe und Distanz, von Einheit und Differenz, das beide Partner beschäftigte, in Szene gesetzt und zum Thema gemacht. (Zur Aktivität und Passivität
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nur die aktuellen Gefühle der Beraterin, sondern auch ihren Erfahrungshintergrund (4.2). Anders als in der ethnopsychoanalytischen Feldforschung ist in einem Beratungsgespräch eine Veränderung, in diesem Fall die Verbesserung der Paarbeziehung intendiert. Von daher bin ich noch mehr als in der ethnopsychoanalytischen Forschung dazu gezwungen, die Entstehung einer Beziehung, ihren Verlauf und ihren Ausgang zu beschreiben (4.3). In einem weiteren Teil (4.4) untersuche ich das Zusammenspiel zwischen Subjekt und Kultur. Ich stelle die Frage, wie sich Frau Laupe mit ihrer speziellen Biographie an die Normen und Strukturen der DDR angepaßt hat und welche Bedeutung dies hatte, als die Wende die gesellschaftliche Struktur in der DDR veränderte und Frau Laupe nach Westdeutschland migrierte. In diesem Zusammenhang analysiere ich Herrn Hausers Anpassung an die Kultur der BRD vor der Wende und die Konsequenzen für die Beziehung. Hier wird ein weiterer Unterschied zur ethnologischen Forschung deutlich im Hinblick auf das Material, das mir für meine Untersuchung zur Verfügung stand. Die ethnologische Forschung sammelt alle nötigen Informationen im Gespräch und appelliert an die Neugier und das Interesse des Subjekts, damit dieses durch Gespräche und Informationen zur Forschung beiträgt. Falls bei einer ersten Auswertung deutlich wird, daß wichtige Informationen fehlen, können diese bei einem weiteren Forschungsgang nachgefragt werden. Mein Material liegt dagegen in Form eines Gedächtnisprotokolls über eine abgeschlossene Gesprächssequenz vor und kann nicht durch weitere Daten ergänzt werden. Das vorhandene Material muß genügen, um mir ein Bild von den Personen und ihrem sozialen und kulturellen Kontext zu machen. Hinzu kommt, daß die Gespräche nicht mit dem Ziel der Forschung, sondern mit dem Ziel der Beratung durchgeführt wurden. Biographische Daten wurden von beiden Ratsuchenden nur soweit berichtet oder von der Beraterin erfragt, wie es für die Beratung notwendig war. Diese Einschränkung der Materialgrundlage muß bei der Auswertung berücksichtigt werden. 4.2 Differenz in der Gesprächsbeziehung und der begleitenden Reflexion Zunächst zeige ich, wie in den Beziehungen zwischen dem Paar und der Beraterin sowie zwischen dieser und Herrn Hauser bzw. Frau Laupe in der Analyse von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen die unbewußten und latenten Themen des Paars und der Einzelpersonen aufgedeckt der Familientherapeutinnen und -therapeuten sowie der Gefahr der Manipulation vgl. Thea Bauriedl: Beziehungsanalyse. 33–35, 202–209).
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werden. Weiterhin manifestieren sich in diesen Beziehungsmodi spezielle Umgangsweisen und Abwehrmechanismen im Hinblick auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Differenz, vor allem der Kultur- und Geschlechterdifferenz, aber auch andere wie z.B. der sozialen Herkunft. 4.2.1 Wahrnehmungen zur Paarbeziehung innerhalb der Beratungsbeziehung Das Paar Hauser/Laupe präsentierte sich im ersten Gespräch als harmonische Einheit: Wir haben uns vor acht Jahren kennengelernt. Es war die große Liebe. Die Beraterin war zunächst voller Bewunderung, ja fast neidisch auf „die große Liebe“ dieses Paars und das Zusammenfinden trotz aller Hindernisse. Die Beraterin hatte das Gefühl, auf eine gelungene Patchwork-Familie getroffen zu sein – eine postmoderne Familie in Reinkultur. Es lag ihr nahe, diese Beziehung zu idealisieren und bei den Partnern übermenschliche Kräfte und/oder eine übermenschliche Liebe zu vermuten. Nur schien das Paar im Moment nicht glücklich, sondern sehr verzweifelt zu sein. In der ersten Sitzung wurde nicht ihre Liebe zueinander als Problem benannt, sondern daß Frau Laupes Liebe sich nicht auch auf Herrn Hausers Sohn erstreckte. Die Diskrepanz zwischen dem harmonischen gemeinschaftlichen Auftreten des Paars einerseits und der Verzweiflung und der Angst vor dem Zerbrechen der Partnerschaft andererseits ließ die Beraterin erkennen, daß ihre eigene Idealisierung der Paarbeziehung eine Entsprechung in den Idealen des Paars in Bezug auf ihre Paarbeziehung hatte. Dessen Vorstellung von einer idealen Beziehung schien zu umfassen, daß diese die Grenzen von Gesellschaftssystemen, von Kulturen und von früheren Partnerbeziehungen überschreiten könnte – eine grandiose Vorstellung, durch die alle Zweifel abgewehrt werden konnten und mußten. Das Paar ging außerdem davon aus, daß die Kinder aus den früheren Beziehungen ebenfalls in die Beziehung und die große Liebe eingeschlossen wären. Diese Idealisierung einer grenzüberschreitenden Paarbeziehung war mit einem hohen, ja überhöhten Anspruch an sich selbst und den anderen verknüpft. Beide, Herr Hauser und Frau Laupe, hatten für diese Beziehung einen hohen Preis bezahlt. Eine innere Differenzierung der Familie (und der Familien) und auch ein ehrlicher und offener Umgang mit Gefühlen und Affekten bedrohte dieses Ideal einer Beziehung existentiell. Beide gingen sehr zurückhaltend und vorsichtig miteinander um, sich immer wieder rückversichernd, daß sie sich ja einig wären. Die zunehmend auftretenden Differenzen durften nicht deutlich werden.
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Dies wurde beim Verhandeln des Themas Sexualität deutlich: Herr Hauser konnte nicht umhin, die Differenz zwischen seinem Ideal von einer erfüllten sexuellen Beziehung und der Realität, daß er von seiner Frau oft zurückgewiesen wurde, wahrzunehmen. Er stellte an seine Partnerin den Anspruch, daß auch sie dazu beitrage, den früher erlebten Zustand einer aufregenden und erfüllenden sexuellen Beziehung wieder herzustellen. Auch Frau Laupe wollte an dem Ideal einer grenzenlos gelingenden Partnerschaft festhalten. Sie nahm deswegen zu der Begründung Zuflucht, daß die Anforderungen des Alltags und die Dauer der Beziehung ganz natürlich dazu führten, daß die Lust auf Sexualität abnähme. Da Herr Hauser diese Sichtweise nicht teilen wollte, rekurrierte Frau Laupe außerdem noch auf das Faktum der Geschlechterdifferenz, die ja nicht bestritten werden konnte und die eben auch die Konsequenz hätte, daß es im sexuellen Bereich unterschiedliche Bedürfnisse gäbe. Bis dahin lief die Diskussion auf einer sehr „vernünftigen“, sich an rationalen Argumenten orientierenden Ebene. Doch als es um die Sexualität ging, verließ Herr Hauser diese Ebene und brachte seine Gefühle der Enttäuschung, des Zurückgewiesenseins und der Wut zum Ausdruck. Auch bei Frau Laupe kamen als Folge Gefühle der Trauer und Wut zum Vorschein. Das Idealbild der Beziehung konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Position der Beraterin gegenüber dem Paar wechselte ebenfalls in dem Moment, als die Gefühle ausbrachen. Während sie bis dahin als unparteiische Ratgeberin wahrgenommen wurde, war sie jetzt plötzlich zum Stein des Anstoßes geworden. Durch ihre Grenzziehung entlud sich Frau Laupes Wut auf sie. Nachdem die Beraterin gesagt hatte, daß die Stunde nun zu Ende wäre, stürzte Frau Laupe an ihr vorbei, gab ihr noch die Hand und rannte, den Tränen nahe, zur Tür hinaus. Der Ärger richtete sich auf die Beraterin, wohl auch, weil die Paarbeziehung vor übergroßer Wut und Enttäuschung geschützt werden mußte. In diesem Dialog zwischen Partnerin und Partner – verstärkt durch die Grenzziehung der Beraterin – trat zum ersten Mal für das Paar die bedrohliche Ahnung auf, daß es eine große, vielleicht ja sogar eine unüberbrückbare Differenz zwischen ihnen geben könnte. Dies wurde deutlich, als die Beraterin nach der Sitzung bei sich die Angst wahrnahm, daß das Paar, besonders Frau Laupe, die Beratung enttäuscht abbrechen würde. Die Beraterin hatte das Gefühl, keine Chance gehabt zu haben, die Sitzung abgerundet zu Ende zu bringen, weil Frau Laupe das Thema erst gegen Ende der Stunde eingebracht hatte. Sie nahm weiterhin ein Gefühl der Resignation bei sich wahr: „So ist das Leben, alles hat einmal ein Ende.“
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Wie sich später herausstellte, spiegelten diese Gegenübertragungsgefühle das Erleben des Paars wider: Beide hatten das Gefühl, sich bis über ihre Grenzen hinaus zu verausgaben, um den Partner zu erreichen und um die frühere ideale Beziehung wieder herzustellen. Sie fühlten sich überfordert und waren schon dabei zu resignieren. Frau Laupes Versuch, eine pragmatische Lösung für die sexuellen Probleme zu finden, war schon von einer inneren Distanzierung begleitet. Es war ein Versuch, mit Differenz pragmatisch umzugehen, wenn sie schon nicht aufgehoben oder verleugnet werden konnte. Trotzdem war nicht nur Herrn Hauser, sondern auch Frau Laupe im Grunde klar, daß diese Lösung emotional ungenügend blieb. In diesem Fall wurde die Beraterin zum Sündenbock. Dies hatte für das Paar auch eine verbindende Wirkung: In der nächsten Sitzung verbündeten sich beide spielerisch gegen die Beraterin („Heute sind Sie mal dran!“), und ihre Beziehung war danach wieder im Lot, wie die Beraterin erst am Ende der Beratung erfuhr. Das Paar benutzte den emotionalen Ausbruch und die Abgrenzung zur Beraterin, um in der nächsten Stunde statt der idealen eine realistische Gemeinschaft zu suchen. Dies ermöglichte, daß auch Kränkungen, Verletzungen und Differenzen ausgesprochen wurden. Herr Hauser sagte zu Frau Laupe: „Du hast das Chaos in mein Leben gebracht.“ und konnte mit ihr darüber streiten und scherzen. Die Spannung von Ansprüchen und Forderungen einerseits und Verweigerung andererseits schienen zunächst aufgelöst zu sein. In der fünften Sitzung wurde auch die Beraterin in „das Chaos“ hineingezogen. Frau Laupe und Herr Hauser versuchten, sie jeweils auf ihre Seite zu ziehen. Sie wurde verwickelt, fühlte sich überfordert und verlor den Überblick. In dieser Situation bot die Beraterin dem Paar an, Einzelgespräche jeweils mit Frau Laupe und Herrn Hauser zu führen, auch um die Verflechtungen mit den früheren Familien zu verstehen. Beide gingen bisher davon aus, daß ihre gegenwärtige Situation das Problem wäre und Ratschläge zur Veränderung der Situation die Lösung darstellten. Daß ihre Beziehungsschwierigkeiten auch in ihrer Biographie verankert sein könnten und ihre jetzige Situation mit den vorherigen Beziehungen und Trennungen verbunden war, wollte keiner von beiden wahrhaben. Die Entscheidung der Beraterin, die unterschiedlichen biographischen Erfahrungen und Gefühle in getrennten Sitzungen zu bearbeiten, war auch durch ihre eigenen Erfahrungen geprägt. Ihr war der kulturelle Unterschied zwischen DDR und BRD präsent, weil eine Hälfte ihrer Familie aus der DDR stammte und von dort nach dem Zweiten Weltkrieg in die BRD geflüchtet war. Während ihrer Kindheit hatte sie an den regen Beziehungen ihrer Großeltern zu den Verwandten in der DDR teilgenommen und hatte 175
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auch Verwandte in der DDR besucht und dort das beschauliche Leben auf dem Land genossen. Als Jugendliche und junge Erwachsene hatte die Beraterin mit Kontakt zu kirchlichen Jugendgruppen der DDR die repressive Macht des DDR-Staatsapparats erlebt. Die Beraterin betrachtete Frau Laupe und Herrn Hauser nicht nur als das jetzige Paar, sondern sprach beide jeweils auch auf ihre Zugehörigkeit zu anderen Systemen an. Indem sie die Tatsache ihrer Differenz auch durch das Setting in Erinnerung rief, machte sie die Differenz der unterschiedlichen Biographien mit ihren Konsequenzen für die Gegenwart kenntlich. Sie trennte das Paar und erlaubte damit eine gegenseitige die Abgrenzung, die sich beide zum Teil selbst nicht erlauben konnten, weil sie bzw. er durch Verschmelzungsängste und Verschmelzungswünsche in einem Ambivalenzkonflikt gefangen waren. Die Trennung ermöglichte eine Differenz ohne Schuld und eine Trennungserfahrung auf Zeit, die durch den vorgegebenen Rahmen in sicheren Bahnen gehalten wurde. Beide konnten die Differenz unbelasteter wahrnehmen, tolerieren und vielleicht sogar akzeptieren und sich später wieder auf neue Weise begegnen. Die Trennung des aktuellen Paars und die Konzentration auf die alten Systeme war nur möglich, weil sowohl Frau Laupe als auch Herr Hauser ertragen konnten, bei den Einzelgesprächen der Partnerin bzw. des Partners ausgeschlossen zu sein, ohne daß paranoide Ängste überhand nahmen. Beiden stand eine relativ verläßliche Struktur internalisierter Beziehungen zur Verfügung, wobei deutlich war, daß Herr Hauser sich mit dem Ausgeschlossen-Sein schlechter abfinden konnte als Frau Laupe. Im folgenden sollen nun die Beziehung von Herrn Hauser und Frau Laupe zur Beraterin getrennt und im Hinblick auf ihren Umgang mit Differenz betrachtet werden. Zur Analyse dieser Einzelbeziehungen ziehe ich die Einzelsitzungen und auch die Paarsitzungen heran. 4.2.2 Wahrnehmungen zu Herrn Hausers Umgang mit Differenz In den Einzelgesprächen erlebte die Beraterin Herrn Hauser distanzierter als in den Paargesprächen. Am einfachsten schien es für ihn zu sein, ihr sein Leid zu klagen und sie als gute Mutter oder als eine bessere Mutter als die eigene zu betrachten. Die Beraterin äußerte Verständnis und Sympathie dafür, daß er sich zurückgesetzt und benachteiligt fühlte, weil er sein Aquarium abgeschafft hatte, während die Kinder von Frau Laupe Tiere halten durften. Auch in seiner Angst, daß Frau Laupe heimlich Liebesbriefe an ihren ExPartner schreiben könnte und daß es ihr leichter fallen könnte, eine Beziehung aufzugeben, konnte sich die Beraterin einfühlen. Zunächst schien Herr Hauser derjenige zu sein, der Angst vor einer möglichen Trennung von Frau 176
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Laupe hatte. Er schien auch derjenige zu sein, der um Nähe, sexuelle Beziehung und Präsenz in der Partnerschaft kämpfte. Neben den eindeutigen Beziehungsangeboten als gute Mutter und verständnisvolle Freundin war die Beraterin von anderen Äußerungen Herrn Hausers irritiert. Als er seine nahezu „thriumphalistische Lebendigkeit“ zu der Zeit schilderte, als er sich zwischen seiner damaligen Frau und Frau Laupe (noch) nicht entschieden hatte, war die Beraterin verwundert, verärgert und nahezu abgestoßen. Er sprach von jener Zeit mit einem begeisterten Unterton als von „der schrecklichsten und schönsten Zeit seines Lebens“, in der er „stundenlang mit Frau Laupe telephonierte und nächtelang mit seiner damaligen Frau diskutierte“. Er erinnerte dies als eine sehr intensive Zeit, von der er jetzt noch viel profitieren würde. Er erzählte auch, daß Frau Laupe ihm seine Entscheidungsunfähigkeit jetzt noch übelnahm, vor allem die Episode, als er ihr die Trennung von seiner damaligen Frau schon zugesagt hatte, es aber dann doch nicht übers Herz brachte, mit dieser darüber zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt merkte die Beraterin, daß es ihr schwer fiel, die nötige Allparteilichkeit zu wahren. Sie identifizierte sich zunehmend mit Frau Laupe und spürte die Tendenz, eine Über-Ich-Funktion gegenüber Herrn Hauser wahrzunehmen und ihn zurechtzuweisen: „So geht das aber nicht. Als erwachsener Mensch müssen Sie konsequent und entschieden handeln!“ Er kam der Beraterin wie ein kleiner Junge vor, der endlich etwas erleben wollte und der froh war, wenn etwas passierte und die Reaktionen bei sich und den anderen laut und heftig waren. Die Verletzungen, die er durch Unentschiedenheit ausgelöst hatte, nahm er zwar wahr, aber sein schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Er beharrte ein wenig trotzig darauf, auch einmal Spaß haben zu dürfen. Auch er wollte einmal wild, gefährlich und intensiv leben, so wie er es bei anderen, z.B. auch bei Frau Laupe und ihrem Leben im „wilden Osten“, vermutete. Dennoch hatte Herr Hauser auch Angst vor der Rache. Immer wieder und fast beschwörend betonte er, wie anständig sich seine Ex-Frau verhalten hätte und immer noch verhielte. Und auch bei Frau Laupe vermutete er, daß sie sich von ihm trennen wollte, weil sie ihm sein Hin- und Her-Pendeln noch übel nahm. Die Angst, quasi ein externalisiertes Über-Ich, daß seine Frau ihn verlassen würde, hing eng mit der Angst vor der Bestrafung zusammen: der Bestrafung dafür, daß er sich jenes Abenteuer, so intensiv zu leben und zwei Frauen gleichzeitig zu haben, so lange gegönnt hatte. In der Einzelberatung war Herr Hauser sehr vorsichtig und distanziert. Er konnte den Raum, den dieses Setting bot, nicht nutzen, um seine ambivalenten Gefühle im Hinblick auf die Trennung auszuloten. Über seine Schuld177
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gefühle, aber auch über seinen Genuß der Macht wollte und konnte er nicht sprechen. An dieser Stelle wich er darauf aus, daß es Frau Laupe leichter damit hätte, Beziehungen einzugehen und sich zu trennen. Ebenso ungeklärt und letztlich ich-fremd blieb für Herrn Hauser die Tatsache, daß er sich in Frau Laupe verliebt hatte, obwohl er – so sagte er – in seiner vorherigen Beziehung ganz zufrieden gewesen sei und gerade einen Sohn bekommen hatte. Das Gefühl des Sich-Verliebens trat quasi als Macht von außen auf, für die er keine Verantwortung zu übernehmen brauchte, die ihm aber fremd blieb und ihm letztlich auch Angst machte. Die widerstrebenden Gefühle von Schuld und Lust und die Frage, ob er sich nicht vielleicht falsch entschieden hatte, durften nicht angesprochen werden. Herr Hauser bestand der Beraterin gegenüber auf großer Distanz, auch als Abwehr gegenüber seiner Verführbarkeit, die er bei Frau Laupe erlebt hatte. Wahrscheinlich erschien ihm schon die Nähe, die zwischen ihm und der Beraterin entstehen würde, wenn er über Gefühle wie Schuld und Reue, Angst und Macht sprechen würde, als zu gefährlich. Ihre Initiative, über Frau Laupe und ihre Vergangenheit zu sprechen und anzusprechen, was diese für Frau Laupe bedeutete, entlastete Herrn Hauser von der Situation, mit der Beraterin allein zu sein. Er konnte sich so von seinen eigenen Gefühlen abwenden und sich den Problemen von Frau Laupe zuwenden. Indem er dieser und ihrer Situation Rechnung trug, hatte er zudem die Möglichkeit, etwas an ihr wiedergutzumachen, was er ihr in seinem Hochgefühl und seinem Rausch von intensivem Leben zugefügt hatte. Das Angebot der Beraterin, etwas für Frau Laupe zu tun, indem er Verständnis für ihre Situation entwickelte, eröffnete ihm die Möglichkeit, in eine andere Form der Beziehung zu seiner Frau zu treten. Dies schien Herrn Hauser soweit zu entlasten und seine Angst vor Rache zu mildern, daß er in dem letzten gemeinsamen Gespräch aus völlig heiterem Himmel sagen konnte: „Nun brauche ich mich ja gar nicht zu trennen!“ – obwohl in den meisten Gesprächen vorher nur von seiner Angst die Rede war, daß Frau Laupe sich von ihm trennen wollte. An dieser Stelle wurde deutlich, daß Herr Hauser das Gefühl getrennt zu sein ebensowenig aushalten konnte wie die reale Nähe der Anderen. Das Gefühl getrennt, unterschieden und in Differenz zu sein, stürzte ihn in das Gefühl tiefer Verlassenheit und Wut. Die Erfahrung von Nähe machte ihm Angst, vom Anderen bedroht und ihm ausgeliefert zu sein. Da er offenbar in seinen Primärbeziehungen nicht die Erfahrung von verläßlicher Nähe gemacht hatte und sich nicht als Subjekt neben anderen Subjekten sehen konnte, war für ihn die Beziehung zu einer von ihm getrennten, selbständigen Person ebenso schwer zu ertragen wie das Alleinsein. 178
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4.2.3 Wahrnehmungen zu Frau Laupes Umgang mit Differenz In den gemeinsamen Gesprächen mit dem Paar hatte die Beraterin den Eindruck, daß Frau Laupe zwar von Gefühlen redete, daß aber davon nichts zu spüren war: Sie sprach sehr mechanisch über ihre Gefühle und wie sie sein sollten: „Was soll ich tun, um toleranter gegenüber Herrn Hausers Sohn zu sein?“ oder „Ich habe einfach weniger sexuelle Bedürfnisse.“ In der Beraterin stieg immer mehr das Gefühl auf, daß Frau Laupe eine abwehrende Wand von „Ich bin halt so“ vor sich her trug. Sie schien keine wirklichen Fragen und auch kein Interesse daran zu haben, zu verstehen, warum sie z.B. ihrem Mann so oft einen Korb gab, wenn er sexuelles Interesse an ihr zeigte. Gleichzeitig schien Frau Laupe sehr darauf bedacht, das Richtige zu tun. Damit stellte sie auch die Beraterin und deren Arbeit unter einen hohen Erwartungsdruck. Im dritten Gespräch erzählte Frau Laupe die Geschichte ihrer Partnerschaft, die zunächst als aussichtsloses Unternehmen begann. Sie präsentierte ihre Erkenntnisse aus der Ratgeberliteratur. Dort wurde ein System der sexuellen Kommunikation vorgestellt, das aus biologischer Sicht den körperlichen Bedürfnissen von Mann und Frau Rechnung tragen wollte, bei dem jedoch die emotionale und affektive Ebene völlig ausgeblendet blieb. Herrn Hausers ärgerliche Reaktion quittierte Frau Laupe mit völligem Unverständnis. Auf den Hinweis der Beraterin, daß die Sitzung jetzt zu Ende sei, reagierte sie wütend und traurig und verließ fluchtartig den Raum. Die Beraterin bekam Angst, daß Frau Laupe die Beziehung zu ihr und damit die Beratung abbrechen könnte. Sie fühlte sich entwertet und abgewehrt und verstand, daß sich in ihren Gefühlen Frau Laupes Gefühle der Entwertung und Verzweiflung widerspiegelten. Auf der anderen Seite, als komplementäre Gegenübertragung, verstand sie die Angst von Herrn Hauser, daß Frau Laupe eines Tages voller Wut alles hinwerfen würde, ihre Kinder mitnehmen und einfach gehen könnte, wie sie es auch bei einem Urlaub gemacht hatte. Als Frau Laupe in der nächsten Stunde wiederkam und sich auf ein Gespräch einließ, war die Beraterin erleichtert. Sie war dazu geneigt, ihr entgegenzugehen, und fast dazu verleitet, sich auf ihre Seite zu schlagen – z.B. als ihr Mann sich über offenstehende Schranktüren und andere schlechte Gewohnheiten von ihr beschwerte. Am Ende des fünften (Paar-) Gesprächs hatte die Beraterin das Gefühl, daß sich auf diese Weise nichts ändern würde. Daher schlug sie Einzelgespräche vor. Dieser Vorschlag wurde zwar von Frau Laupe unterstützt, dennoch hielt sie im ersten Einzelgespräch große Distanz zur Beraterin. Sie spulte ihre Berufs- und Beziehungsbiographie ab wie ein Automat und machte sich damit unangreifbar. Die Beraterin hatte das Gefühl, keinen Zugang zu ihr zu finden. 179
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Erst im zweiten Einzelgespräch, als die Beraterin nach Unterschieden zwischen den verschiedenen Beziehungen bzw. Partnern fragte, brachte Frau Laupe ihre Biographie emotional gefüllt ein und erzählte lebendig von den Orten ihrer Kindheit, von dem Vater für den Alltag und dem Vater für die Weltrevolution. Erst dann wurden ihre Ängste und Freuden, ihre Privilegien und ihre Einschränkungen als Kind, als Jugendliche und als junge Erwachsene im System der DDR deutlich. Von da an konnte die Beraterin eine lebendige Beziehung zu Frau Laupe knüpfen, zumal die Erfahrungen der Geborgenheit, die diese als Kind mit dem Leben im sozialistischen Kollektiv verknüpfte, ebenso wie die Repressionen und Einschränkungen, die gerade junge Erwachsene in der DDR erlebten, wenn sie sich nicht systemgemäß verhielten, der Beraterin vertraut waren.50 Zu den Erfahrungen aus DDR-Zeiten gehörten für Frau Laupe auch die Beziehungen zu ihren ersten beiden Partnern. Es wurde deutlich, daß die Trennungen von diesen Männern ihr keineswegs leicht gefallen waren. Sie zeigte, daß sie um die beiden vorherigen Beziehungen trauerte und sich fragte, ob sie es sich mit den Trennungen nicht zu leicht gemacht hatte. Mit den Erinnerungen an die schönen und an die schwierigen Zeiten ihres Lebens in der DDR fand Frau Laupe Stück für Stück ihre Wurzeln wieder, so daß sie für ihr jetziges Leben mehr Sicherheit und Standfestigkeit gewann.51 In dieser und den nächsten Einzelgesprächen untersuchte Frau Laupe, inwieweit sie mit ihrer Arbeit und ihrem Leben immer noch den phantasierten Ansprüchen ihres Vaters und ihrer Mutter gerecht werden wollte. Indem sie ihre Mutter als perfekte Lehrerin und Hausfrau beschrieb, wurde ihr bewußt, wie viele ihrer Ansprüche an sich selbst damit zusammenhingen. Die Beraterin spürte den Druck von sich weichen, in der Beratung „etwas Besonderes“ leisten zu müssen. Zunehmend entstand zwischen Frau Laupe und ihr ein angstfreier, entspannter Raum. 50
Die Beraterin konnte ihre Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf die DDR nutzen, ohne die Schwierigkeit zu haben, in diesen Kontext emotional so verwickelt zu sein, daß sie z.B. Frau Laupes privilegierte Kindheit in der DDR mit Neid oder Feindseligkeit betrachten müßte, wie dies vielleicht bei einer Beraterin der Fall gewesen wäre, die die Härten des DDR-Systems am eigenen Leib erfahren hatte. 51 Vgl. Irmhild Kohle-Meyer: „Ich bin fremd – so wie ich bin.“ Migrationserleben, IchIdentität und Neurose. In: Ulrich Streeck (Hg.): Das Fremde in der Psychoanalyse. Erkundungen über das „Andere“ in Seele, Körper und Kultur. Gießen 2000, 119–132, bes. 127. Kohle-Meyer berichtet von einem Fall, in dem analog wie bei Frau Laupe die Erinnerung an die Kindheit und die familiären Wurzeln dazu führten, daß die Patientin sich in ihrem gegenwärtigen Dasein in der Fremde selbstbewußter behaupten und verorten konnte.
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Gleichzeitig wurde deutlich, daß sich die Beziehung zu Herrn Hauser in positiver Weise veränderte. Dazu gehörte, daß es – so erzählte Frau Laupe – im sexuellen Bereich schon lange wieder gut lief. Selbst die Beziehung zwischen Frau Laupe und ihrem Stiefsohn entspannte sich. Sie hatte den Anspruch aufgeben, ihn zu erziehen und ihm vielleicht sogar die bessere Mutter sein zu müssen. Sie konnte die Differenz zwischen sich und ihrem Stiefsohn und das Getrenntsein von ihm besser aushalten, weil beide Partner akzeptierten, daß es eine Differenz zwischen ihrer Biographie mit ihren Kindern und seiner Biographie mit seinem Kind gab. 4.3 Der neue Umgang mit Differenz und die veränderte Paarbeziehung In der abschließenden gemeinsamen Sitzung wurde deutlich, daß sich die Paarbeziehung verändert hatte. Die Vorstellung einer idealen Beziehung und einer neuen, heilen Familie, in die die Kinder aus den vorhergehenden Beziehungen integriert sind, waren realistischeren Betrachtungen gewichen. Der Weg dahin war durch die bewußte und unbewußte Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Differenz bestimmt und war für jeden der beiden anders verlaufen. Herr Hauser hatte versucht, alles richtig zu machen. Er blieb mit seinen Überlegungen jedoch im formalen Bereich. Er genoß gefühlsmäßige Turbulenzen nur, solange er sie kontrollieren und eventuell sogar beenden konnte. Ansonsten grenzte er die Turbulenzen und Differenzen aus und lokalisierte sie bei seiner Frau. Dann konnte er aus der Ferne, halb wohlwollend, halb kritisch daran partizipieren. Herrn Hausers Umgang mit Differenz steht für eine rigide Form, mit Berührungen an den Grenzen umzugehen.52 Dieses korrekte, an formalen Normen orientierte Verhalten wurde jedoch an bedeutsamen Stellen durch den unkontrollierten Ausbruch von Gefühlen unterbrochen. Dies geschah zum einen, als er sich in Frau Laupe verliebte, obwohl offiziell in seiner Beziehung alles in Ordnung war; zum anderen geschah es in der Beratung, als er sich gegen ihre Beschreibung von männlicher Sexualität wehrte. In beiden Fällen wurden die Gefühle als überwältigend und nahezu ich-fremd erlebt. In der Beratung wurde deutlich, daß Herr Hauser mit seinem emotionalen Ausbruch zwar den Beginn des intensiven Gesprächs einleitete, der – wie sich später herausstellte – auch die sexuelle Beziehung wieder zum Leben erweckte. Dennoch blieb dieser Ausbruch isoliert und wurde nicht durch „emotionales Verstehen“ integriert. Dies kann als wesentliches Konfliktmu52 Vgl. dazu Devereux’ Verständnis von Subjektivität als bestimmtem Modus, mit Berührungen an den eigenen Grenzen umzugehen unter III.1.6 dieser Arbeit.
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ster von Herrn Hauser verstanden werden: Letztlich blieb ihm in der Beratung – wie im Hinblick auf den Beginn seiner Liebesbeziehung – verborgen, was ihm „passiert“ war und warum. Da er sich nicht mit seinen Gefühlen von Schuld, Angst und Trauer auseinandersetzte, konnte er kein Gefühl des Ausgesöhntseins mit sich, seiner Geschichte und den anderen daran Beteiligten erleben. Er blieb durch Schuldgefühle an seine Mutter, seine Ex-Frau und seine jetzige Frau gebunden. Charakteristisch für Herrn Hausers Umgang mit Differenz war, daß er sich nur am Rande berühren ließ, daß er das Fremde und die Bedrohung, die es für ihn darstellte, nicht bewußt an sich heran ließ und sich nicht mit den Gefühlen, die dabei entstehen könnten, auseinandersetzen wollte. Die Gefühle, die mit der Wahrnehmung von Differenz zusammenhingen, die Wut auf die offensivere Art von Frau Laupe, mit dem Leben umzugehen, die Angst, von ihr verlassen zu werden, und seine eigene Angst vor Nähe wagte er nicht, genauer in den Blick zu nehmen. Daraus resultierte, daß er selbst sich immer wieder ausgrenzte bzw. sich ausgegrenzt und allein fühlte. Bei Frau Laupe zeigte sich ein anderes Konfliktmuster. Sie hatte ihre Herkunft und ihre emotionale Verbundenheit mit dem Osten, d.h. die Realität ihrer Differenz, verleugnet, um sich im Westen einzugliedern. Weiterhin hatte sie auch den Schmerz, die Trauer und die Wut, die noch aus den Anfangszeiten ihren Beziehung resultierten, ignoriert und nur die freundliche, harmonische Seite gezeigt. Von diesen harmonischen Gefühlen abweichende Emotionen bewältigte Frau Laupe in der Beziehung durch Rückzug und körperliche Aktivität. Der Beraterin zeigte sie zunächst die offizielle, angepaßte Seite. Erst als diese weiter nach emotionalen Zusammenhängen fragte, kam bei ihr eine innere Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ins Rollen. Sie ließ zu, daß ihre Gefühle und die damit verknüpften Ambivalenzen sie in Verwirrung stürzten und zum Nachdenken brachten. Durch die Reflexion ihrer Entscheidungen und durch die Trauer über Verlorenes konnte sie Gefühle der Rache und der Vergeltung gegenüber ihrem Mann aufgeben. Durch die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunftsfamilie, die in diesem Fall auch die kulturelle Differenz zu ihrem jetzigen Leben symbolisierte, war sie zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Beziehung zwischen Identität und Differenz fähig. Frau Laupe lernte, zwischen dem eigenen Druck, eine gute Hausfrau, Mutter und eine gesellschaftlich aktive Frau zu sein, und dem Druck, den ihr Partner ausübte, zu unterscheiden und damit souveräner zu entscheiden, was sie wollte. Sie brauchte die Kränkung durch die lange Unentschiedenheit ihres Partners nicht mehr durch innere Emigration, sexuelle Verweigerung und die Wiederbelebung von vergangenen Beziehungen zu
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kompensieren, sondern war in der Lage, Trauer, Kränkung und Schuldgefühle bewußt zu erleben und ihrem Partner mitzuteilen. Weil das Paar im Laufe der Beratung die realen Differenzen anerkannte, daß sie z.B. aus verschiedenen gesellschaftlichen Systemen stammten, war es möglich, die Bedeutung der Unterschiede neu zu verhandeln. Sie konnten zu ihren eigenen Erfahrungen stehen, ohne daß sie sich in ihrer jeweiligen Subjektivität bedroht fühlten. Beide konnten sowohl ihre Wünsche nach Nähe, als auch nach Distanz äußern und relativ angstfrei leben, ohne die Beziehung zu gefährden. Ein besonders augenfälliges Beispiel für die Entwicklung der Beziehung war der Umgang mit der Zusatzwohnung. Während Herr Hauser die Wohnung zunächst als Anfang vom Ende sah, weil dadurch die Möglichkeit der Trennung gegeben wäre, war die Wohnung am Ende ein Ort, an dem Differenz und Trennung, aber auch Gemeinsamkeit und Lust auf verschiedene Art gelebt werden konnten. Die Wohnung bot die Möglichkeit, Verschmelzungstendenzen und Ängsten entgegenzuwirken, aber auch die Gelegenheit für das Paar, Sexualität und Nähe ohne die Kinder zu leben. 4.4 Analyse der Verknüpfung von Subjekt und Kultur Nachdem ich in der Analyse der Paar- und Einzelgespräche untersucht habe, wie die Einzelnen Differenz wahrnehmen und verarbeiten und wie sie ihre Paarbeziehung verstehen, stelle ich im folgenden Überlegungen an zum Zusammenspiel zwischen individuellen Strukturen und Umgangsweisen mit Differenz und den jeweiligen gesellschaftlichen und geschichtlichen Strukturen, in denen Frau Laupe und Herr Hauser aufgewachsen waren. 4.4.1 Gesellschaftlicher Kontext und individuelle Struktur bei Herrn Hauser Herr Hauser, geboren Mitte der 50er Jahre, erlebte seine Kindheit und Jugend in der Bundesrepublik zur Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die wenigen verfügbaren Informationen lassen vermuten, daß er eher im kleinbürgerlichen Milieu aufgewachsen war. Dieses Milieu ist im besonderen Maße von der Ideologie des ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstiegs gekennzeichnet. Auch Herrn Hausers berufliche Laufbahn, die Weiterbildung vom Handwerker zum Techniker, ist von diesem Aufstiegsgedanken geprägt. Andererseits ist seine individuelle Biographie von Anfang an von tiefer Verunsicherung bestimmt. Seine Mutter hatte ihm, so sagte er, nie viel Wärme entgegengebracht und hatte ihn als Kind viel geschlagen. Er entschuldigte sie damit, daß sie dies aus Überforderung getan hätte. Herr Hauser 183
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erwähnte seinen Vater nicht, so daß man davon ausgehen kann, daß er keine positive Rolle für ihn spielte. Eine weitergehende Vermutung wäre, daß die Mutter den Sohn alleine aufzog, weil sie verwitwet oder geschieden war oder weil Herr Hauser aus keiner festen Beziehung hervorgegangen war. Falls Herr Hauser ohne Vater und mit einer überforderten Mutter aufgewachsen war, wären seine Bedürfnisse nach Sicherheit, Objektkonstanz und Bestätigung in besonderer Weise verständlich. Diese Bedürfnisse waren auch in seiner ersten Ehe sehr deutlich, wenn Herr Hauser sagte, daß er sehr unsicher war und Angst hatte, seine Frau an andere Männer zu verlieren. Seine berufliche Rolle und vor allem seine Gewerkschaftsposition gaben ihm ein Gefühl von Sicherheit und stärkten sein Identitätsgefühl, während seine Frau durch eine neue Chefin an beruflicher Anerkennung und damit auch an Sicherheit verlor. Die Gewerkschaftsarbeit gab Herrn Hauser die Gelegenheit, aus seinem sozialen Kontext auszubrechen und seinen Bewegungsradius zu erweitern. Die gesellschaftliche Situation der Wiedervereinigung ermöglichte den Gewerkschaften der Bundesrepublik zudem eine besondere Rolle bei der „Initiation“ der Neuen Länder in das kapitalistische Wirtschaftssystem der Bundesrepublik. An dieser Stelle wird deutlich, daß Herrn Hausers Bedürfnis nach Sicherheit und Objektkonstanz mit der Suche nach Bestätigung und sozialem Aufstieg in Konflikt kam. Die Beziehung zu seiner Frau garantierte Sicherheit und das Eingebettetsein in ein soziales Netz, während die Beziehung zu Frau Laupe Bestätigung – auch im sexuellen Bereich –, sozialen Aufstieg und eine Horizonterweiterung versprach. Seine lange Unentschiedenheit bzw. der Versuch, beide Beziehungen aufrecht zu erhalten, zeugte von der Bedeutung beider Wünsche, einerseits nach Sicherheit, andererseits nach Bestätigung und sozialem Aufstieg. Der herrschende Zeitgeist in der Bundesrepublik in den 90er Jahren drängte zur Selbstverwirklichung und zur Ausschöpfung der angebotenen Möglichkeiten, so daß Herr Hauser sich ermutigt fühlen konnte, seine Triebbedürfnisse durchzusetzen und die wahrscheinlich sehr ambivalente Beziehung zur ersten Ehefrau, die als sehr ordentlich und zwanghaft, aber auch gefühlskalt beschrieben wurde, aufzugeben und sich Frau Laupe zuzuwenden. Die ambivalenten Gefühle von Herrn Hauser waren damit nicht gelöst. Zum einen fühlte er sich seiner Ex-Frau immer noch im hohen Maß verpflichtet und in ihrer Schuld, zum anderen bekämpfte er seine eigene Triebhaftigkeit, indem er sie auf Frau Laupe projizierte und dort bekämpfte – ähnlich wie am Anfang der Beziehung zu seiner ersten Frau. Die Intervention der Beraterin, daß Frau Laupes Herkunft aus der DDR in der Beziehungsdiskussion mitbedacht werden müßte, ermöglichte Herrn Hauser den 184
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Kompromiß, auch die Verletzlichkeit seiner Partnerin und ihr Bedürfnis nach Verständnis zu sehen. Dadurch konnte er seine Projektionen weitgehend aufgeben und eine Rolle als fürsorglicher und starker Mann und Partner einnehmen. 4.4.2 Gesellschaftlicher Kontext und individuelle Struktur bei Frau Laupe Während Herr Hauser sich ausschließlich im gesellschaftlichen Kontext der BRD, bzw. der alten Bundesländer bewegte, muß bei Frau Laupe die Verknüpfung ihrer subjektiven Struktur mit drei verschiedenen gesellschaftlichen Systemen untersucht werden. Frau Laupe, geboren Anfang der 60er Jahre, verbrachte die ersten 27 Jahre ihres Lebens in der DDR. Nach der Wende lebte sie noch weitere fünf Jahre in den Neuen Ländern und zog dann mit ihren Kindern nach Westdeutschland zu Herrn Hauser. Das politische System der DDR wollte die Vorstellungen des Sozialismus real verwirklichen und verfolgte dies durch die Ideologisierung aller Lebensbereiche. Die Bürgerinnen und Bürger sollten durch Disziplin und Disziplinierung in dieses System eingepaßt werden. Um der höheren Ziele willen wurden das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Freizügigkeit zu reisen und die Wahl von Schule, Studium und Beruf stark eingeschränkt. Alle Einschränkungen, auch die, daß der Bedarf der DDR-Bürgerinnen und -Bürger an Konsumgütern, besonders an Importwaren, bei weitem nicht gedeckt war, wurden ideologisch verbrämt. Dies konnte jedoch je länger es dauerte, desto weniger verschleiern, daß Theorie und Praxis des Sozialismus auseinanderdrifteten und von den Bürgerinnen und Bürgern ein nahezu schizophrenes Bewußtsein zur Lebensbewältigung gefordert war. Sie sollten sich mit sozialistischen Idealen und Zielen identifizieren, obwohl deutlich war, daß die Realität mit der Propaganda nicht übereinstimmte.53 Auf der anderen Seite versorgte der Staat seine Bürgerinnen und Bürger und sicherte die Existenz im Alter und im Fall von Krankheit oder Mutterschaft – sofern sie sich anpaßten. Für Jugendliche und junge Erwachsene, die nach einem eigenen Weg im Beruf und in der Lebensgestaltung suchten, verhinderten die vorgegebenen Normen und der Anpassungsdruck weitgehend, daß die in dieser Lebensphase nötigen Entwicklungsschritte vom Experimentieren, probeweisem Identi53
Vgl. Gerhard Schleinitz: Nachdenken und Vorausschauen aus der Nahdistanz. Die Krise der frühen Jahre in Ostdeutschland. In: Richard Riess/Kirsten Fiedler (Hg.): Die verletzlichen Jahre: Handbuch zur Beratung und Seelsorge an Kindern und Jugendlichen. Gütersloh 1993, 532–547, 537: „Realitätsbewußtsein war eher ein Hindernis zur alltäglichen Lebensbewältigung – denn Wahrheit war nicht an der Realität, sondern an der Ideologie zu prüfen.“
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fizieren und dem Entwickeln von Visionen und eigenen Idealen einen Raum hatten. Auflehnung als wichtiges Element der Jugendkultur war von vornherein zwecklos und hatte schwere Sanktionen zur Folge. Allen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, aber vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene war selbstverständlich: Es galt zu vermeiden, was zu Auseinandersetzungen hätte führen können. Die Aussichtslosigkeit, Auseinandersetzungen unbeschadet zu überstehen, hat es von vornherein als wenig sinnvoll erscheinen lassen, eine Kultur des Streitens zu entwickeln und allzuviel psychische und andere Energie dorthin zu investieren. Und es galt, alle Experimente an disziplinarischen Gegebenheiten vorbei zu unterlassen. Spielerische Prolepsis von Lösungsmöglichkeiten bzw. das Durchspielen von Verhaltensmodellen gehörten nicht zum Instrumentarium auf dem Wege des Erwachsenwerdens.54 Als Tochter eines staatlichen Funktionärs genoß Frau Laupe die Privilegien des Systems der DDR und erlebte nur wenig von den Einschränkungen. Die Position ihres Vaters bot ihr einen besonderen Schutzraum, der sie von den Härten des DDR-Systems (wie z.B. Versorgungsengpässen, der staatlichen Bevormundung oder auch dem Abgeschnittensein von der westlichen Welt), die sonst zum Alltag der DDR-Bürgerinnen und -Bürger gehörten, entlastete. Obwohl ihr Vater zur „Intelligenz“ gehörte, durfte sie studieren – und bekam sogar die Möglichkeit, ein Auslandsjahr in der Ukraine zu verbringen. Die Idealisierung ihres Vaters und ihre Identifizierung mit ihm ermöglichten Frau Laupe zunächst, volles Vertrauen in das DDR-System zu haben, und gaben ihr die Hoffnung, in die Fußstapfen ihres Vaters treten zu können. Ihrem meist abwesenden Vater, aber auch dem System der DDR gegenüber verhielt sie sich einerseits wie ein gehorsames und angepaßtes Kind. Andererseits fühlte sie sich sicher genug, um ihren Gefühlen der Sehnsucht zu folgen und die Normen des Systems zu verletzen, indem sie den gewährten Studienaufenthalt in der Ukraine abbrach. Dennoch blieb sie dem System treu. Durch den Abbruch ihres Studienaufenthalts hatte sie dieses nicht inhaltlich kritisiert, sondern „nur“ ein Privileg zurückgewiesen. Frau Laupe akzeptierte die Vorgaben des DDR-Systems, paßte sich an und nutzte es zu ihren Gunsten. Durch die gesicherte Kinderbetreuung war es ihr möglich, Kind und Studium bzw. Beruf zu verbinden. Die ökonomische Unabhängigkeit war die Voraussetzung, sich von ihrem Partner trennen zu können, ohne sich um ihre Existenz sorgen zu müssen. Ihr zweiter Partner war „ernster“, aber auch ein Künstler. Wie ihr Vater war er völlig von seinen Zielen und Idealen absorbiert. Er war unkonven54
Schleinitz: Nachdenken und Vorausschauen. 540.
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tionell, aber doch systemkonform, so daß er mit seiner Kunst in der DDR erfolgreich war. Für ihren gemeinsamen Traum, das Leben auf dem Land, gab Frau Laupe ihre Stelle auf und versorgte Kind, Haushalt und Mann, während dieser sich seiner Kunst widmete. „Die Wende“ und der Umbruch des Systems ließen die individuellen Anpassungsmechanismen und ihre Funktionalität in unterschiedlicher Weise hervortreten. Frau Laupe sah diese als Möglichkeit, sich neu zu orientieren, zumal sie eine Ausbildung besaß, die auch nach der Wiedervereinigung gefragt war. Ihr Partner verlor den Boden unter den Füßen, weil er keine Aufträge mehr bekam. Er versank in Arbeitslosigkeit und Depression. Frau Laupe gab die Beziehung auf, weil sie daß Gefühl hatte, daß sie sich bis dahin völlig daran ausgerichtet, d.h. an die Bedürfnisse ihres Mannes angepaßt hatte. Diese Überangepaßtheit wollte sie überwinden und unabhängiger werden. Ihr Partner war jedoch nicht dazu bereit, sie zu einer Paarberatung zu begleiten, als sie das wollte. Als er schließlich mitkommen wollte, war es für Frau Laupe zu spät. Bei ihr fällt auf, daß sie eine enorme Anpassungsfähigkeit in den wechselnden Situationen ihres Lebens bewies. Diese ist sicher im Zusammenhang mit ihrem Pragmatismus und der Fähigkeit, mit Einschränkungen souverän und konstruktiv umzugehen, zu verstehen. Trotz der äußerlich angepaßten Lebensweise verfügte sie über ein inneres Refugium der Eigenständigkeit, das sich weniger in offenem Streit und Diskussion als vielmehr in passivem, schweigendem Widerstand äußerte. Von ihren Beziehungen berichtete Frau Laupe, daß sie sich in den ersten beiden Beziehungen ausgenutzt fühlte und daß sie beide Male das Gefühl hatte, sich übermäßig an die Erfordernisse ihrer Partner angepaßt und ihre Eigenständigkeit verloren zu haben. Diese fand sie nur wieder, indem sie die Partner verließ. Frau Laupe berichtete, daß es ihr schwer fiel zu streiten und ihren Standpunkt zu vertreten. Statt dessen ging sie in die innere oder äußere Emigration. An dieser Stelle wird deutlich, wie sich das DDR-Klima mit seinem hohen Anpassungsdruck, der offene Diskussion und Widerspruch zu einer existenzgefährdenden Verhaltensweise machte, bei Frau Laupe mit dem inneren Streben nach Anpassung und Harmonie verband, weil sie als Kind die Streitigkeiten der Eltern als gefährlich und zerstörerisch erlebt hatte. Die Lösung des schweigenden Widerstands führte zum Ausweichen in Nischen, zu Fluchttendenzen und letztlich zum Abbruch von emotionalen Beziehungen, selbst wenn sie pragmatisch nach außen hin aufrechterhalten wurden. Der Anpassungsmechanismus vieler DDR-Bürgerinnen und -Bürger, sich dem staatlichen Druck durch den Rückzug in das Refugium der Privatsphäre 187
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zu entziehen, überlebte bei Frau Laupe auch in der neuen Beziehung und im anderen Gesellschaftssystem in ihrer Tendenz, Streitigkeiten auszuweichen und Konflikte mit sich alleine auszuhandeln. Diese war auch deutlich, wenn Frau Laupe sich bei Differenzen auf ihre engsten Bezugspersonen, auf die Beziehung mit ihren Kinder zurückzog. Der Vorfall, als sie allein mit ihren Kindern vorzeitig Herrn Hauser und dessen Sohn am Urlaubsort verließ, war daher ein exemplarischer Konflikt und nicht umsonst zum Auslöser für die Suche nach Beratung geworden. 4.4.3 Gemeinsame und divergierende Muster von Frau Laupe und Herrn Hauser Obwohl Frau Laupe und Herr Hauser aus völlig verschiedenen politischen und sozialen Kontexten stammten, verband sie doch das Muster der Konfliktvermeidung, was besonders bei den ersten Gesprächen sehr deutlich war. Herr Hauser vermied den Konflikt, weil er eine Trennung und damit den Verlust von Sicherheit und Geborgenheit befürchtete. Frau Laupe hatte eher Angst vor den aufbrechenden Aggressionen bei einer Auseinandersetzung und vor den Verletzungen, die daraus resultieren könnten. Der Rückzug in Autonomie und Alleinsein mit ihren Kindern barg dagegen für sie weniger Schrecken. Divergent waren Herrn Hausers und Frau Laupes Vorstellungen von „Gemeinschaft“: Diese waren stark durch die Systeme, in denen sie aufgewachsen waren, bestimmt. Während Herr Hauser Gemeinschaft als Gegenbild zum Alleinsein ausschließlich auf Partnerschaft und Familie bezog, verband Frau Laupe Gemeinschaft auch mit dem Leben in einem Kollektiv, jedoch in einem privilegierten, von staatlichen Reglementierungen und Bespitzelungen weitgehend geschützten Kollektiv. Die Entdeckung von Herrn Hauser, daß es nicht genügt, Nähe und Gemeinschaft einzufordern, sondern daß auch die Realität der Anderen und damit ihre Differenz wahrgenommen und anerkannt werden müssen, eröffnete ihm einen neuen, eher von Verständnis als von Forderung geprägten Weg. Frau Laupe fand in der Wiederaneignung ihrer Wurzeln und ihrer Geschichte und im Rückbezug darauf ein neues Selbstverständnis, das ihr half, Differenzen auszuhalten und Konflikten nicht auszuweichen, standzuhalten statt zu flüchten.
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5. Ertrag der diskursanalytischen und ethnopsychoanalytischen Perspektiven Wie in den vorherigen Analysen deutlich wurde, bieten die Diskursanalyse und die Ethnopsychoanalyse sehr unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven und -instrumente für die Analyse eines Beratungsgesprächs. Die Diskursanalyse zeigt die verborgenen und doch allgegenwärtigen Regelmechanismen unserer Gesellschaft. Sie beschreibt den sozialen Raum und analysiert die unsichtbaren und doch hochsignifikanten Regeln für das individuelle Handeln, in die jede Person eingebettet ist wie in „soziale Luft“. Die Diskursanalyse beschreibt die sozialen Praktiken in ihrer Pluralität in der Gegenwart und ihre Verwurzelung in der Vergangenheit. Sie macht Konflikte verständlich und erklärt den Mechanismus der Verfestigung von Diskursen zu diskursiven Praktiken, die dann über Normalität, Wissen und Macht entscheiden. Die Kategorie der Differenz tritt auf der diskurstheoretischen Ebene in Erscheinung, wenn abweichende Diskurse ausgeschlossen und zum Verstummen gebracht werden. Durch die Normativität von Diskursen kann Differenz nur ausgegrenzt und/oder ignoriert werden. Aber sowohl Irigaray als auch Butler weisen darauf hin, wie dieses Ausgeschlossene sich innerhalb des Herrschaftsdiskurses Raum verschafft und subversiv agiert, indem es den Herrschaftsdiskurs wiederholt und dabei gleichzeitig parodiert, karikiert und seine Schwächen zu Tage bringt. In der vorliegenden Gesprächsanalyse konnte mit Hilfe der Diskursanalyse herausgearbeitet werden, in welchen diskursiven Praktiken sich Frau Laupe und Herr Hauser bewegten. Es wurde deutlich, daß Frau Laupes Begründungszusammenhänge, die sie zum Teil nicht einmal als Argumente anführte, weniger Relevanz zugebilligt wurden, weil die diskursive Praxis des DDR-Diskurses gegenüber den BRD-Diskursen an Plausibilität verloren hatte. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß gemäß der Diskurstheorie zwischen den Diskursen respektive den diskursiven Praktiken immer ein Machtgefälle, ein Herrschaftszusammenhang besteht. Diskurse können sich zwar verschränken, aber sie können nicht kooperieren, weil sie aus anonymen Strukturen bestehen. Damit geht einher, daß sie in ihrer Subjektlosigkeit zwar historische Wurzeln haben, dennoch eine gewisse a-historische Struktur und Statik besitzen. Sie bestimmen die Realität und üben Macht aus, aber sie haben keine Subjektstruktur. Die Diskurstheorie kann demnach die Strukturen und Praktiken beschreiben, in denen sich Herr Hauser und Frau Laupe bewegten, aber sie hat nicht die Möglichkeit, eine Entwicklung und Veränderung zu beschreiben. Dies gilt besonders, wenn es sich nicht um die 189
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Neustrukturierung von Machtgefügen handelt, sondern um die Entwicklung von Individuen und ihren Beziehungen. Die Ethnopsychoanalyse besitzt dagegen ein Instrumentarium, um innere Strukturen und Ambivalenzen darzustellen, mit denen sich Subjekte in ihrem gesellschaftlichen Rahmen und diskursiven Praktiken bewegen. Sie zeigt nicht nur Strukturen auf, sondern ist in der Lage, auch vielschichtige Beziehungen und Abhängigkeiten aufzuschlüsseln, z.B. die Dynamik von Nähe und Distanz, von Verschmelzungsängsten und Verschmelzungswünschen, wie sie sich in einer Partnerschaft, aber auch zwischen einer Beraterin oder einem Beraterin und einem Paar abspielen. Weiterhin zeigt sie, wie individuelle Verhaltensweisen und Strukturen nicht nur in der individuellen biographischen Entwicklung, sondern auch in kulturellen Erfahrungen und den Anpassungsmechanismen daran wurzeln. Um die Unterschiede zwischen Diskursanalyse und ethnopsychoanalytischer Analyse deutlich zu machen, will ich exemplarisch die unterschiedlichen Fragen und Vorgehensweisen der Methoden am Thema Sexualität aufzeigen. Zunächst ist schon die Erhebungsmethode unterschiedlich. Während die Diskursanalyse gesellschaftliche Strukturen als Niederschläge von Diskursen betrachtet und als solche untersucht, stehen bei der Ethnopsychoanalyse Beziehungswahrnehmungen und Entwicklungsvorgänge im Vordergrund. Erst in einem zweiten Schritt vergleicht die Ethnopsychoanalyse, inwieweit die psychischen Strukturen durch Anpassungsmechanismen mit den gesellschaftlichen Strukturen vernetzt sind. Die Diskursanalyse beschreibt, wie sich zum Thema Sexualität verschiedene Diskurse zum Thema Körper, Geschlecht und Familie zu einer bestimmten Zeit verknüpfen und Subjekte sich in diese Diskurse zumeist passiv einordnen und damit Herrschaftsverhältnisse und Plausibilitätsstränge hergestellt werden. So stehen bei dem Paar Laupe/Hauser unter anderem der Diskurs von Sexualität als pragmatische Bedürfnisbefriedigung und der Diskurs Sexualität als Selbstverwirklichungsmöglichkeit gegeneinander. Die ethnopsychoanalytische Analyse untersucht zum Thema Sexualität dagegen zunächst die Genese des Sexualverhaltens eines Subjekts. Sie verfolgt insbesondere die Entwicklung der Triebdynamik an Hand von Lust und Unlusterfahrungen und weiterhin die Entwicklung der (Objekt-)Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen in der Kindheit, der Jugend und der Adoleszenz. Des weiteren untersucht sie das gegenwärtige Beziehungs- und Sexualverhalten in seiner psychodynamischen Funktion. Bei dem Paar Laupe/Hauser wurden sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit Sexualität deutlich. Während Herr Hauser seinen sexuellen Wün190
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schen auf der einen Seite eine wichtige Rolle zubilligte, hatte er andererseits starke Angst vor Triebdurchbrüchen. Frau Laupes Verhältnis zur Sexualität war einerseits pragmatisch und bedürfnisorientiert. Andererseits hatte die Sexualität für sie eine wichtige Signal- und Regelfunktion. Als sie sich in der Beziehung zu Herrn Hauser nicht verstanden, sondern bedrängt und gekränkt fühlte, ohne dies in Worte fassen zu können, entzog sie sich dem sexuellen Kontakt. Dieses Beispiel zeigt, daß Diskursanalyse und Ethnopsychoanalyse von kategorial verschiedenen Voraussetzungen ausgehen. Während die Diskurstheorie die Bedeutung des Subjekts im Geflecht der Diskurse minimiert, um die Regelhaftigkeiten und sozialen Bedingungen aufzuzeigen – mit dem Ziel, das Subjekt von Zwängen zu befreien –, geht die Ethnopsychoanalyse den umgekehrten Weg und zeigt in der Begegnung von Subjekten Regelhaftigkeiten und Strukturen auf, die sowohl biographisch als auch kulturell geprägt sind. Da Seelsorge und Beratung nicht nur der Analyse der sozialen Wirklichkeit dienen, sondern darunter therapeutische und seelsorgliche Begegnungen zu verstehen sind, die auf Veränderung zielen, braucht eine Theorie von Seelsorge und Beratung beides: ein Instrumentarium zur Analyse sozialer Wirklichkeit und ein Instrumentarium zur Wahrnehmung von intersubjektiven Beziehungen, ihren Regeln und ihren Veränderungsmöglichkeiten.
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V. Fiktives Gespräch mit Klaus Winkler über Seelsorge und Differenz Eine Untersuchung, die ungestört fortschreitet wie ein Monolog, ist nicht ganz ungefährlich. Man gibt zu leicht der Versuchung nach, Gedanken zur Seite zu schieben, die sie unterbrechen wollen, und tauscht dafür ein Gefühl von Unsicherheit ein, das man am Ende durch allzu große Entschiedenheit übertönen will. Ich stelle mir also einen Gegner [oder ein Gegenüber] vor, der meine Ausführungen mit Mißtrauen [Interesse oder gar Wohlwollen] verfolgt und lasse ihn von Stelle zu Stelle zu Wort kommen.1
1. Vorbemerkungen: Zum Genre des fiktiven Gesprächs Für eine theologische und pastoralpsychologische Diskussion der erweiterten Wahrnehmungsperspektiven für Seelsorge und Beratung habe ich Klaus Winkler als Gesprächspartner gewählt. Klaus Winkler2 arbeitete als Theologe, Pastoralpsychologe und Psychoanalytiker und war in diesen Feldern in Theorie und Praxis zu Hause. Ich schätzte ihn als kenntnisreichen, interessanten und scharfsinnigen Gesprächspartner, der für neue Wendungen offen und noch dazu mit Humor begabt war. Ich habe die Auseinandersetzung mit Winkler in Form eines Gesprächs konzipiert. Das ist bei Veröffentlichungen im Bereich der Seelsorge nichts Außergewöhnliches. Schon Joachim Scharfenberg und Horst Kämpfer behandelten die Frage nach dem Umgang mit Symbolen in Dialogform.3 Auch 1
Sigmund Freud (1927): Die Zukunft einer Illusion. StA Bd. IX, 139–189, 155. Zusätze in eckiger Klammer von der Verfasserin. 2 Prof. Dr. Klaus Winkler (1935–2000) war Lehranalytiker in Hannover und Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Bethel/Bielefeld. Zur Biographie von Klaus Winkler vgl. auch Dietrich Stollberg: Das persönlichkeitsspezifische Credo. Aspekte künftiger Seelsorge nach Klaus Winkler. WuD 27/2003, 397–406, bes. 397. Vgl. auch Elisabeth Hölscher/Michael Klessmann: Vorwort der Herausgeber. In: Klaus Winkler: Grundmuster der Seele. Pastoralpsychologische Perspektiven. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Elisabeth Hölscher und Michael Klessmann. Göttingen 2003, 7–9. 3 Joachim Scharfenberg/Horst Kämpfer: Mit Symbolen leben. Soziologische, psychologische und religiöse Konfliktbearbeitung. Olten 1980.
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Klaus Winkler und das Team des Seelsorgeinstituts Bethel veröffentlichten mehrmals Artikel in Gesprächsform.4 Bei dem vorliegenden Dialog handelt es sich jedoch um ein fiktives Gespräch, d.h. ein Gespräch, das ich als Autorin allein konstruiere, indem ich Argumente und Zitate von Klaus Winkler verwende, um seine Position darzustellen, aber auch, indem ich Szenen, Reibungspunkte und Auseinandersetzungen entwerfe, die so nie stattgefunden haben.5 Diese Form hat – wie ich zeigen werde – eine lange Tradition und auch aktuelle Anknüpfungspunkte. Darüber hinaus stellt dieses Kapitel und seine Form ein ästhetisches Gegengewicht zu den vorausgegangenen Kapiteln dar, indem die Auseinandersetzung mit einem Thema spielerisch inszeniert wird. Das fiktive Gespräch mit konstruierten Positionen und Szenen zur Erörterung eines Sachverhalts hat durchaus seine Vorläufer. Im Mittelalter war das erdichtete Streitgespräch (débat oder altercatio) eine beliebte Darstellungsform.6 Ein besonders eindrückliches Beispiel ist Der Spiegel der einfachen Seelen, den die Begine Margareta Porete am Ende des 13. Jahrhunderts schrieb und für dessen Veröffentlichung sie 1310 auf dem Scheiterhaufen in Paris starb.7 In ihrem Buch beschreibt sie den inneren Weg der Seele in den Gnadenstand in szenischen Auseinandersetzungen zwischen allegorischen Personifikationen von Liebe, Seele, Vernunft, großer und kleiner Kirche und anderen. Weitere Parallelen der szenischen Darstellungsform von Abhandlungen finden sich auch bei Sigmund Freud, der im Monolog eher die Gefahr sieht, daß unliebsame Gedanken beiseite geschoben und ignoriert werden. In seinen Abhandlungen Die Zukunft einer Illusion8 und in Die Frage der Laien4 Vgl. z.B. Team des Seelsorgeinstituts an der kirchlichen Hochschule Bethel: Abwehr in der Seelsorge. Eine Teamdiskussion. WzM 34/1984, 1–11 oder Team des Seelsorgeinstituts im Gespräch mit Professor Dr. Dietrich Stollberg. In: Michael Klessmann/Klaus Winkler (Hg.): Spielarten der Seelsorge. Beiträge aus dem Seelsorgeinstitut an der Kirchlichen Hochschule Bethel. Bethel 1991, 164–173. 5 Um die Unterscheidung zwischen fiktiven und originalen Elementen des Dialogs zu gewährleisten, stelle ich fiktive Rede von Winkler kursiv, die Originalzitate dagegen aufrecht dar. 6 Vgl. Louise Gnädiger: Nachwort. In: Margareta Porete: Der Spiegel der einfachen Seelen. Aus dem Altfranzösischen übertragen und mit einem Nachwort und Anmerkungen von Louise Gnädiger. Zürich 1987, 215–236, bes. 227: „Solche frei erfundenen und künstlich gestellten Dialoge spielen sich meist zwischen zwei fingierten Gesprächspartnern ab, oft zwischen personifizierten Sachen (etwa Wasser und Wein) oder personifizierten geistigen und seelischen Kräften.“ 7 Vgl. Margareta Porete: Der Spiegel der einfachen Seelen. Zürich 1987. 8 Vgl. Freud: Die Zukunft einer Illusion.
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analyse9 verwendet er das Stilmittel des Gesprächs mit einem fiktiven Gegenüber, um seine Thesen vorzustellen, zu entwickeln und zu diskutieren. In den USA wurde der fiktive Dialog und seine literarischen und therapeutischen Möglichkeiten durch Ira Progoff neu entdeckt. Er entwickelt seine Methode in der Dialogue Dimension innerhalb seines Intensive Journal Workshop. Die Methode des fiktiven Dialogs wird dabei zur Befragung von realen oder fiktiven Personen, von Arbeit, Körper, Situationen und Gesellschaft eingesetzt.10 Für mein Anliegen, eine fachliche und lebendige Diskussion mit einem renommierten Vertreter der Pastoralpsychologie zu führen, bietet sich die Methode des fiktiven Dialogs als literarische Form geradezu an. Dadurch entfallen extensive indirekte Reden und langatmige Darstellungen von Winklers Argumenten zu Gunsten von direkter Rede und direkter Reaktion auf Gesprächsbeiträge. Weiterhin sehe ich in der literarischen Form des fiktiven Dialogs eine formale Entsprechung zu meinem inhaltlichen Anliegen. Ebenso wie ich die Begegnung mit der Differenz nicht nur theoretisch und vom subjektiven Erleben getrennt abhandele, sondern mich ihr auch persönlich, offen und damit verletzlich auseinandersetze, inszeniere ich auch mit Winkler eine persönliche Begegnung mit Harmonie und Differenz, mit Kritik und Zustimmung, mit Aggression und Humor. Manchmal gewann ich dabei den Eindruck, daß sich der Dialog verselbständigte und seine eigene Dynamik entwickelte. Dennoch bin ich mir darüber im Klaren, daß es sich bei meinem Diskussionspartner um eine fiktive Person handelt, die von mir mit Originalzitaten und -argumenten, aber auch mit meinen Übertragungen und Projektionen ausgestattet wird. Diese beruhen zwar weitgehend auf Eindrücken aus persönlichen Begegnungen und Leseerfahrungen, sind jedoch mit subjektiven Einfärbungen versehen. In den realen Gesprächen mit Klaus Winkler duzten wir uns. Diese Anrede behalte ich auch bei der Konstruktion des fiktiven Gesprächs bei, obwohl dies für eine seriöse wissenschaftliche Diskussion ungewöhnlich erscheinen mag. Das Gespräch in die distanziertere Form des Siezens umzuschreiben, hätte aber zu Unstimmigkeiten und Brüchen geführt, so daß ich es in seiner ursprünglichen Form belasse. Um den Text zu gliedern und damit auch lesefreundlicher zu gestalten, streue ich gerahmte Thesen, Leitsätze und Überschriften in den laufenden Text ein, die auch dazu dienen sollen, die Metaebene der Diskussion deut9
Sigmund Freud (1926): Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen. StA Ergänzungsband. 271–349. 10 Vgl. Ira Progoff: At a Journal Workshop. Writing to Access the Power of the Unconscious and Evoke Creative Ability. Los Angeles 1992, bes. 123–194.
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lich zu machen. Das Gespräch als Ganzes gliedert sich in einen ersten Teil, der der theoretischen Diskussion gewidmet ist und in einen zweiten Teil, in dem die Theorie an Hand eines konkreten Fallbeispiels in ihrer praktischen Relevanz erprobt und diskutiert wird. Daran schließt ein dritter Teil mit der Diskussion poimenischer und praktisch-theologischer Fragen an. Ein freies Gespräch und sein (Rede-)Fluß wird nicht nur von logischen Abfolgen, sondern auch von Assoziationen und spontanen Einfällen bestimmt, die immer wieder die Logik des Aufbaus und auch die Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem in Frage stellen. Auch dieser typischen Dynamik gebe ich im folgenden Gespräch (Spiel-)Raum.
2. Winklers Seelsorgeansatz und das Thema ‚Differenz‘ Thierfelder: Vielen Dank, Klaus, daß Du Dich zu diesem Gespräch bereit erklärt hast. Ich habe den Eindruck, Du kannst zu meinem Thema der Wahrnehmung von Differenz in Seelsorge und Beratung vieles beitragen. Deswegen finde ich es besonders bedauerlich, daß ich nur ein fiktives Gespräch mit Dir führen kann. Ich hätte mir noch viele anregende Gespräche mit Dir in persona gewünscht. Doch bevor wir zu meinem Thema kommen, möchte ich mich bei Dir für Deinen Befreiungsschlag bedanken – den ich in seiner ganzen Tragweite erst in letzter Zeit verstanden habe. Seit Thurneysen gab es unzählige Versuche in der Seelsorge, Theologie und Humanwissenschaften einander zuzuordnen, speziell in der Psychologie: Thurneysen verstand die Psychologie als Hilfswissenschaft für die Theologie, anderen wurde vorgeworfen, die Theologie psychologisch als Theorie einer Projektion zu verstehen. Wieder andere gehen davon aus, daß die Theologie bzw. die Religion an Hand ihrer psychologischen Funktionen erklärt und damit der Vernunft zugänglich gemacht werden kann. Andere Seelsorgetheoretiker – meist waren es Männer – wollten psychologische und theologische Erkenntnisse verbinden, indem sie z.B. menschliche Nähe in der Seelsorgebeziehung als Offenbarung Gottes verstanden. Wahrnehmen und Annehmen sind damit sowohl Anforderungen an die Seelsorgerin oder den Seelsorger als auch Qualitäten Gottes.11 Obwohl dieser Ansatz bestechend einfach und plausibel zu sein scheint, ist doch verdächtig, daß damit zunächst alle Fragen beantwortet scheinen. Nichts bleibt offen. Es fällt unter den Tisch, daß es sehr verschiedene theologische Grundannahmen und damit Seelsorgekonzeptionen gibt und geben muß, ebenso wie es auch verschiedene psychologische Ansätze gibt. 11
Vgl. Stollberg: Wahrnehmen und Annehmen. Dazu auch Winkler: Seelsorge. 56f.
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Winklers Spezifikum: Die Unterscheidung zwischen theologischer und psychologisch-psychoanalytischer Perspektive Um es pointiert zu sagen: Während sich bei Stollberg eine Tendenz zur Verquickung von Psychologie und Theologie zeigt, bestehst Du auf der Trennung und der Distanz. Diese Differenz machst Du an impliziten Leitsätzen der Disziplinen deutlich: Während die Theologie davon ausgeht, daß Gott den Menschen erschaffen hat, geht die Psychologie davon aus, daß der Mensch Gott erschaffen hat.12 Diese Trennung zwischen dem theologischen Bekenntnis zu Gott und dem methodischen Atheismus der Psychologie bedeutet eine Freisetzung – auch ein Lieblingswort von Dir – beider Disziplinen zu dem jeweils eigenen Wissenschaftsverständnis, zu ihren eigenen Diskussionen und zu einer mehrperspektivischen, kritischen und differenzierten Wahrnehmung der jeweils anderen Disziplin. Mit dieser Befreiung beider Disziplinen hast Du einen wesentlichen Beitrag zu meinem Vorhaben geleistet. Die Mehrperspektivität wird auch eines der wesentlichen Anliegen bei meinen Überlegungen zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Kulturund Geschlechterdifferenz sein. Winkler: Zunächst: Danke für die Blumen! Dann: Kultur- und Geschlechterdifferenz? Damit hast Du dir eine Menge vorgenommen. Wie kommst Du darauf? Thierfelder: Nun, wie bei allem gibt es dafür eine Vielzahl von Gründen – „überdeterminiert“ würden das die Psychoanalytiker nennen. Zum einen ist die Auseinandersetzung mit Fremdheit und Differenz ein wesentliches Thema der Theologie, das sich durch alle theologischen Disziplinen zieht. Das Alte Testament, die hebräische Bibel, berichtet von den Auseinandersetzungen des auserwählten Volkes mit den Fremdvölkern; im Neuen Testament dreht sich sowohl in den Briefen wie auch in den Evangelien und der Offenbarung vieles um die Auseinandersetzung der christlichen Gemeinden in einem jüdischen, hellenistischen und römischen Kontext. Auch in der weiteren Kirchengeschichte geht es um das Fremde und das Eigene, die Differenz zur weltlichen Macht oder den Umgang mit Ketzern und Schismatikern. In der Systematik fordert das Leiden, die Gottesferne und Gottes Fremdheit trotz der Offenbarung den denkenden Glauben heraus und hält damit wesentliche Fragen offen. 12 Vgl. Klaus Winkler: Die dunklen Seiten Gottes überschlagen? Zum Umgang mit schwierigen Bibeltexten aus tiefenpsychologischer Sicht. In: Ders.: Grundmuster. 39– 51, 45.
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Das kirchliche Ideal von Einheit und Nähe verleugnet die Realitäten von Fremdheit und Differenz Als Praktische Theologin ist mir zum anderen aufgefallen, daß es in der Kirche, aber auch in der Praktischen Theologie13 und besonders in der Seelsorge den impliziten Leitgedanken gibt, daß Nähe hergestellt werden müsse, daß Distanz und Fremdheit aufgehoben werden müßten – sprich, daß wir alle „Schwestern und Brüder“ seien.14 Diesem Diktat der Nähe und der Harmonie fallen auch Diskurse um die Geschlechterdifferenz zum Opfer. Feministische Diskussionen werden dann als überflüssiges Beiwerk betrachtet, so daß die Machtfrage, die dabei im Spiel ist, nicht gestellt zu werden braucht und nicht gestellt werden kann. Deswegen ist vielerorts die Kirche als Vaterwelt15 noch intakt. Dort wird der Pfarrkonvent noch „Brüdertreff“ genannt, und Gemeinden suchen sich ihren Pfarrer danach aus, ob er eine nicht-berufstätige Pfarrfrau in die Gemeinde einbringt. Auch „von außen“ drängt sich der Kirche das Thema Fremdheit und Distanz auf: So lösen in vielen Gemeinden zugewanderte Rußlanddeutsche oder andere Aussiedler eine Auseinandersetzung damit aus, weil sie evangelisch-konservatives Christentum auf das Engste mit ihren ethnischen Wurzeln verknüpft haben, was in volkskirchlichen Gemeinden in Deutschland eher als fremd empfunden wird. Aber auch die Neuankömmlinge sind befremdet. Für viele sind Pfarrerinnen als Amtsträgerinnen oder die Vorstellung, daß der Pfarrdienst geteilt werden kann, Steine des Anstoßes, die dazu führen, daß sie sich ihre eigenen Prediger suchen und Gemeinden gründen, in denen sie unter sich bleiben können. 13
Natürlich gab und gibt es auch Ausnahmen von dieser Regel, wenn z.B. Manfred Josuttis behauptet: „Der Pfarrer ist anders“ (so der Titel seines Buches von 1982) und damit zum einen auf die Rollenzuschreibungen durch die Gemeindeglieder, zum anderen auf die eigenen Ideale der AmtsträgerInnen verweist. Dies kann ich nur unterstreichen. Ich behaupte aber zusätzlich, daß nicht nur der Pfarrer, sondern auch die Gemeindeglieder „anders“, sehr verschieden und sich zum Teil untereinander fremd sind und daß dies im Bereich von Seelsorge und Beratung eine wichtige Rolle spielt. Gleichzeitig verweise ich darauf, daß die Religionspädagogik innerhalb der Praktischen Theologie in Bezug auf dieses Thema eine Ausnahme darstellt, weil sie sich – sowohl von ihrem schulischen Kontext als auch von ihrem Klientel her – schon früh mit dem Phänomen der Differenz auseinandersetzen mußte. 14 Vgl. Michael Klessmann: Ärger und Aggression in der Kirche. Göttingen 1992. 15 Zum Selbstverständnis von weiblichen Amtsträgerinnen in diesem Spannungsfeld vgl. die immer noch aktuelle Studie von Ulrike Wagner-Rau: Zwischen Vaterwelt und Feminismus. Eine Studie zur pastoralen Identität von Frauen. Gütersloh 1992.
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Andererseits wird die Kirche in Deutschland von vielen Menschen zunehmend als fremd empfunden. Fremde Heimat Kirche lautete der Titel und damit auch die pointierte Zusammenfassung der dritten Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft.16 Und spätestens hier wird deutlich, daß „die Fremden“ weder ignoriert, als Hilfsbedürftige vereinnahmt noch als in ihrem Christentum defizitär betrachtet und missioniert werden können. Sie bleiben in anstößiger Distanz, sie bleiben fremd. Die ambivalenten Erlebensstrukturen von Fremdheit und Differenz: Angst und Neugier, Bedrohung und Bereicherung, Vereinnahmung und Abgrenzung Winkler: Das ist ja ein großer Rundumschlag! Ich kann dazu nur begrenzt etwas beisteuern. Du kennst sicher meine Publikation zu dem Thema: „Umgang mit Fremden“, in der ich nach Ringlebens biblisch-systematischen Überlegungen die pastoralpsychologischen Aspekte des Themas bearbeite und zeige, daß der Umgang mit Fremdheit ambivalente Gefühle auslöst. Fremde können Angst und Neugier hervorrufen und als Bedrohung oder Bereicherung wahrgenommen werden. Fremdheit kann ängstigen, die Identität destabilisieren und Regressionen hervorrufen. „Jeder praktische Umgang mit dem Fremden macht der Seele Arbeit. Es ist aber eine Arbeit, die sich lohnt.“17 In eine ähnliche Richtung geht auch mein Aufsatz zu Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Toleranz,18 in dem ich zeige, daß fundamentalistische Überzeugungen auf der Regression auf einfache Erlebnisstrukturen basieren. Thierfelder: Ja, hier sehe ich durchaus Parallelen zu dem, was ich als die ethnopsychoanalytische Perspektive bezeichne: Um es mit Devereux zu sagen: Die Wahrnehmung, speziell die Wahrnehmung von Differenz geschieht nicht „draußen“, im leeren Raum, sondern sie geschieht an der Grenze des Subjekts, sie betrifft das Subjekt und sein Unbewußtes – bis dahin, daß ein Ausgesetztsein in der Fremde zu einer Bedrohung für die Ich-Strukturen des Subjekts werden kann.19 16
Vgl. Klaus Engelhardt: Fremde Heimat Kirche: Die dritte Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1997. 17 Klaus Winkler: Umgang mit Fremden. Pastoralpsychologische Reflexionen. In: Joachim Ringleben/Klaus Winkler: Umgang mit Fremden. Vorlagen. Neue Folge 21. Hannover 1984, 38–53, 49. Auch veröffentlicht in: Winkler: Grundmuster. 215–224. 18 Vgl. Klaus Winkler: Vom Glauben wider die Toleranz. Fundamentalismus pastoralpsychologisch gesehen. In: Ders.: Grundmuster. 225–241. 19 Vgl. Erdheim/Nadig: Größenphantasien.
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Winkler: An dieser Stelle muß ich natürlich noch einmal betonen, daß solche Wahrnehmungen ambivalente Gefühle hervorrufen: Angst und Neugier, Bedrohung und Bereicherung. Ambivalenzen, die es zunächst auszuhalten gilt. Die Gefahr besteht darin, daß diese Ambivalenzen nach einer Seite aufgelöst werden, so daß die Gefühle von Angst und Bedrohung Aggressionen auslösen, zumal die verstärkte Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz auch dazu einlädt, bedrohliche Ich-Anteile auf „den Fremden“ zu projizieren und dort zu bekämpfen.20 Wenn dagegen die Ambivalenz in Richtung von Nähe und Freundschaft aufgelöst wird, wird zunächst das Gefühl der Bedrohlichkeit des Fremden ignoriert bzw. in die Latenz geschickt. Statt dessen wird die Illusion gepflegt, daß die Fremdheit des Anderen ausschließlich bereichernd und beglückend erlebt wird. Diese Illusion bzw. diese Idealvorstellung von einer Beziehung ist höchst brüchig und störungsanfällig. Bei jeder Krise kann die Idealvorstellung „kippen“ und in das Gegenteil umschlagen – so ist das schon bei „ganz normalen“ Ehen zu beobachten, wo die Eigenschaften, die die Partnerin oder der Partner am jeweils anderen schätzte, oft die sind, die später am meisten ablehnt werden. Ambivalente Gefühle bei der Erfahrung von Differenz gilt es ernst zu nehmen und auszuhalten Von daher denke ich, daß der Umgang mit Fremdheit die Ambivalenz der Gefühle ernstnehmen muß und auf dieser Basis und unter Einbeziehung beider Gefühlsseiten zu einer Lösung kommen muß. Deswegen sehe ich auch C. G. Jungs Vorstellung von der letztgültigen Vereinigung der Gegensätze – z.B. im Symbol – als eine Idealvorstellung an, die eher auf einer narzißtischen Größenvorstellung als auf einer realistischen Wahrnehmung der menschlichen Gefühle beruht, die nun einmal ambivalent sind. Nein, für mich kann ein reifer Umgang mit Fremdheit nur im Offenhalten und Aushalten der ambivalenten Gefühle bestehen, für die es dann bewußt nach Konfliktlösungsmustern zu suchen gilt, die beide Seiten der Ambivalenz berücksichtigen. Die Lösungen sind dabei niemals endgültig, sondern nur vorläufig, denn „[d]er aufgehobene Ambivalenzzustand von heute birgt bereits denjenigen von morgen in sich“21 . Thierfelder: Du erwartest ganz schön viel. Ist das nicht eine Überforderung? Winkler: Natürlich: „Erwachsenwerden strengt an, weil es kräftezehrend ist, die mit ihm unweigerlich verbundenen Ambivalenzspannungen auszu20 21
Vgl. Winkler: Umgang mit Fremden. 46f. Winkler: Umgang mit Fremden. 42.
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halten. Dabei kann es aus subjektiven oder objektiven Gründen leicht zur Überanstrengung, zur Überforderung kommen. Ein Mensch ist unter gewissen Umständen den Entscheidungsaufgaben im Spannungsfeld des Lebens nicht mehr (voll) gewachsen. Ein psychischer Selbstschutzmechanismus setzt ein. Der Mensch zieht sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich aus (über-)anstrengenden Situationen zurück: Er regrediert.“22 Wie ich in meinem Buch Werden wie die Kinder23 beschrieben habe, kann Regression eine Abschalte- und Erholungsphase sein, die dazu dient, wieder zu Kräften zu kommen und sich den Konflikten des Lebens gestärkt zu stellen. Oder die Regression wird zum dauerhaften Rückzug von der harten Realität, die vielleicht wie in einem Zerrspiegel als viel bedrohlicher und als weniger bewältigbar angesehen wird als sie – realistisch betrachtet – ist.24 Kurz, es muß zwischen benigner und maligner Regression unterschieden werden. Aber zurück zum Thema der Ambivalenz. Ich bin nicht der Ansicht, daß das Ziel immer im Aushalten der Ambivalenzspannung liegt. Natürlich gilt es auch immer wieder, begründet und in Kenntnis der ambivalenten Grundstruktur, Position zu beziehen und zu tragfähigen Konfliktlösungen zu kommen!25 Thierfelder: Das ist typisch für Dich! Du vertrittst alle Seiten und gibst allen recht. Du sagst, daß es wichtig ist, Ambivalenz auszuhalten; Du verstehst aber auch die, die sie nicht aushalten und auf einfachere Verarbeitungsmuster rekurrieren bzw. regredieren. Du kannst es aber auch verstehen, wenn andere wiederum Ambivalenzkonflikte zeitweise lösen. Winklers eigener Umgang mit der Realität von Differenz in seiner Seelsorgetheorie In der Arbeit mit verschiedenen theologischen und poimenischen Ansätzen verstehst Du auch diese Theorieansätze als Ambivalenzen und treibst damit das allumfassende Verstehen auf die Spitze. Du stellst verschiedene Seelsorgekonzeptionen, die sich gegenseitig nicht nur bis aufs Messer bekämpfen, sondern auch noch diametral entgegengesetzt ausgerichtete Anthropologien vertreten, als verschiedene Desiderate schiedlich-friedlich nebeneinander und siehst sie in ihrer Gesamtheit als ein Verbundsystem!26 Kein Wunder, 22
Winkler: Umgang mit Fremden. 42f. Vgl. Klaus Winkler: Werden wie die Kinder. Christlicher Glaube und Regression. Mainz 1992. 24 Vgl. Winkler: Werden wie die Kinder. 45–52. 25 Vgl. Winkler: Umgang mit Fremden. 42. 26 Vgl. Winkler: Seelsorge. 247. 23
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daß Dir Christoph Morgenthaler in seiner Rezension Deines Seelsorgebuchs den Vorwurf macht, Du hättest die konfliktreiche Geschichte der Seelsorge auf eine irenische Darstellung von verschiedenen Besorgtheiten reduziert.27 Mir ist dabei vor allem wichtig, wie Du mit Differenz umgehst. In Deinem Seelsorgebuch gibst Du vor, alle Meinungen gleichwertig nebeneinanderzustellen und keine Wertungen zu haben, weil Du in allen Ansätzen wichtige Anliegen verborgen siehst. Winkler: Aber das ist doch auch mein Anliegen, Differenzen möglichst unvoreingenommen darzustellen, um gerade im Fall des Seelsorgebuchs Studenten und natürlich auch Studentinnen die Möglichkeit zur Probeidentifikation und zur eigenen Schwerpunktbildung zu geben. 1965, in einem meiner ersten Aufsätze, habe ich dieser Darstellungsmethode, die mehr als eine Methode ist, weil sie inhaltliche Implikationen hat, einen Namen gegeben: „Unter der ‚kompensierenden Methode‘ ist hierbei ein theologisch-methodischer Denkansatz verstanden, der die aufgezeigte Aspektvereinzelung als grundsätzliches Problem ernst nimmt, mit ihrer Unausweichlichkeit auch für die eigene Stellungnahme rechnet, gleichzeitig aber die bleibende Bezogenheit auf den mit dieser Stellungnahme ausgeschlossenen Aspekt methodisch ‚in Gebrauch‘ nehmen kann.“28 Kritische Einwürfe zu Winklers Seelsorgebuch und seiner poimenischen Theoriebildung Thierfelder: So ein Quatsch! Winkler: Jetzt kommen Emotionen ans Licht! Thierfelder: Natürlich! Ich kann diese Aussage aber auch noch weiter aufschlüsseln, obwohl sie dadurch etwas von ihrer Prägnanz verliert. Winkler betont die Rationalität unter Ausblendung von aggressiv-getönten Affekten „So ein Quatsch!“ repräsentiert einen affektiv aufgeladenen Einwurf – etwas, was mir in den ausführlichen und kenntnisreichen Ausführungen Deines Seelsorgebuchs besonders fehlt – Morgenthaler übrigens auch.29 Aber 27 Vgl. Christoph Morgenthaler: Rezension zu Klaus Winkler: Seelsorge. WzM 51/1999, 303–310, bes. 308. 28 Klaus Winkler: Die Verwirklichung des heutigen Menschen im Glauben. WzM 17/1965, 129–139, 137. 29 Morgenthaler: Rezension. 307.
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gerade beim Umgang mit Differenz und mit differenten Positionen dürfen die Affekte nicht fehlen, sonst wird es zwanghaft ausgeglichen oder depressiv friedlich – und der Ärger und die Lebendigkeit verschaffen sich auf andere Weise Luft. Also, wo bleibt in dem Seelsorgebuch und im Umgang mit differenten Seelsorgeansätzen Deine Aggression aber auch Dein Humor? Winkler hält an Objektivität fest und blendet die eigene Position aus „So ein Quatsch!“ beinhaltet weiterhin eine dezidierte Positionalität, d.h., ich rede nicht nur von verschiedenen Positionen und reihe sie nebeneinander auf, sondern ich beziehe Position und lege damit meine Differenz zu anderen Positionen offen. Danach suche ich in Deinem Buch auch vergebens. Selbst bei Ansätzen, die Deiner Position diametral entgegenstehen, wie z.B. Jay Adams oder Isolde Karle, enthältst Du Dich jeglichen Kommentars. Dies ist um so absurder, als Deine Position und Dein Engagement in der Seelsorgebewegung hinreichend bekannt sind. Indem Du Deine Position nicht offenlegst, willst Du den Leserinnen und Lesern verschiedene Möglichkeiten der Identifikation geben. Ist das nicht eine Illusion – zum einen, weil Informationen weder objektiv gegeben noch als objektive Informationen aufgenommen werden, sondern gerade im Bereich von Glauben und Psyche mit Affekten versehen wahrgenommen werden? Zum anderen kannst Du bei den Leserinnen und Lesern keine poimenische „tabula rasa“ voraussetzen. Keine und keiner kommt ohne praktische, theologische und affektive (Vor-)Erfahrungen im Seelsorgebereich zur Lektüre Deines Buchs. Um es noch pointierter zu sagen: Kaum eine oder kaum einer liest unvoreingenommen das Seelsorgebuch von Klaus Winkler, vor allem, wenn er aus fundamentalistisch oder biblizistisch geprägten Kreisen kommt. Winkler: Hier fühle ich mich nicht richtig wahrgenommen. Ich stelle die verschiedenen Seelsorgeansätze ja nicht friedlich-schiedlich nebeneinander, um eine Vollständigkeit in der Darstellung zu erreichen, sondern ich will zeigen, welche Motivationen und auch berechtigten Anliegen den verschiedenen Ansätzen zugrunde liegen. Thierfelder: Aber das tust Du gerade nicht! Du nivellierst die Unterschiede, z.B. wenn Du Josuttis und Rössler in eine Reihe mit charismatisch-fundamentalistischen Ansätzen stellst.30 Und was die verschiedenen Motivationen zur Seelsorge bzw. die berechtigten Anliegen betrifft: Ich habe das Gefühl, Du verwechselst an dieser Stelle Deine Rolle als Seelsorger mit der als theologischer Lehrer und Autor. Als Vertreter eines Seelsorgeansatzes – und 30
Vgl. z.B. Morgenthaler: Rezension. 307.
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der bist Du auch beim Abfassen eines theologischen Lehrbuchs – mußt Du nicht alles und alle verstehen, sondern Orientierung nicht nur über Identifikationen, sondern auch über Abgrenzungen vermitteln. Und hiermit komme ich zu einer inhaltlichen Begründung meines emotionalen Ausrufs „So ein Quatsch!“ im Hinblick auf mein Thema: Winkler reduziert Differenz auf unterschiedliche Anliegen, die er als komplementäre Ergänzungen betrachtet (letztendlich auf eine Vorstellung von Ganzheitlichkeit hin?) Sowohl in Deinem Seelsorgebuch als auch in anderen Veröffentlichungen von Dir sehe ich eine Tendenz zum Umgang mit Differenzen, die dahin geht, daß Du sie nicht in ihrer Widersprüchlichkeit wahrnimmst, sondern – um es mit Irigaray zu sagen – als komplementäre Ergänzungen, die sich zu einem Verbundsystem oder zu einem Ganzen von höherer Komplexität zusammenfinden wie in einem Kaleidoskop.31 Kommt da nicht – hinter einem wohlbegründeten Ruf zur „Aufhebung drohender Vereinseitigungstendenzen durch die Eröffnung theologie- und traditionsgeschichtlicher Vergleichsmöglichkeiten“32 – die von Dir selbst als illusionäre Regression kritisierte Vorstellung von Ganzheit zum Vorschein,33 statt daß die unterschiedlichen Ansätze als miteinander konkurrierende Systeme oder Diskurse begriffen werden, die einander gegenüberstehen? Winkler: Ich glaube, Du hast mich erwischt. Gewisse Jungianische Tendenzen sind bei mir durchaus noch vorhanden, auch wenn ich dachte, ich habe mich ausreichend damit auseinandergesetzt34 und mich auch schreibend davon distanziert.35 Ich danke dir für Deine Kritik. Doch jetzt haben wir lange genug meinen Ansatz diskutiert. Was ist nun Dein Anliegen im Be31 Vgl. dazu die Einschätzung von Michael Klessmann: Freiheit in der Ambivalenz. In: Michael Klessmann/Kurt Lückel (Hg.): Zwischenbilanz: Pastoralpsychologische Herausforderungen. Zum Dialog zwischen Theologie und Humanwissenschaften. Klaus Winkler zum 60. Geburtstag. Bielefeld 1994, 12–14. 32 Klaus Winkler: Art.: Seelsorge. In: TRT 5. Göttingen 4 1983, 28–33, 31 (kursiv im Original). 33 Vgl. Klaus Winkler: Die ernüchterte Phantasie vom ganzen Menschen. Anmerkungen zum notwendigen Gespräch zwischen den Humanwissenschaften. WuD 21/1991, 305–322. 34 Vgl. das Thema der unveröffentlichten, in Berlin von Otto Haendler betreuten Dissertation von Klaus Winkler: Dogmatische Aussagen in der neueren Theologie im Verhältnis zu den Grundbegriffen der Komplexen Psychologie C. G. Jungs. 35 Vgl. die Aufsätze von Klaus Winkler Ambivalenz als Grundmuster der Seele und Symbolgebrauch zwischen Partizipation und Regression. C. G. Jung und die Folgen für die Seelsorge. Neu veröffentlicht in: Grundmuster. 95–100 bzw. 169–185.
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reich der Wahrnehmung von Differenz in Seelsorge und Beratung? Wie gehst Du dabei vor und was habe ich damit zu tun? Der Beitrag von Geschlechterdifferenz- und Diskurstheorie: Kritik an der Etablierung von Normalisierungsachsen durch den Ausschluß von Differenz – eine Frage der Macht Thierfelder: Vieles von meinem Anliegen klang schon in meiner Kritik Deines Ansatzes an. Mein Anliegen ist es, die Sensibilität von Seelsorgetheorien im Blick auf die Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz zu schärfen, indem ich das psychoanalytische Paradigma beispielsweise in Deiner Seelsorgekonzeption um die Perspektive der Diskurstheorie erweitere. Dazu habe ich das feministische Konzept von Irigaray hinzugezogen, weil sie, anders als Lacan, nicht nur den gesellschaftlichen Diskurs analysiert, sondern auch noch den patriarchalen Diskurs einer Kritik unterzieht, was Lacan nicht gelingen kann, weil er selbst darin eingebunden ist. – Daß Du in Deinem Seelsorgebuch die feministischen Ansätze unter den Tisch fallen läßt, obwohl Du sonst sehr umfassend Seelsorgekonzeptionen referierst, ist übrigens auch ein diskursives Phänomen, das von einer gewissen Ignoranz zeugt, die ich sonst nicht mit Dir in Verbindung bringe. Wenn es nicht meinen selbstgewählten Rahmen sprengte, würde ich hier eine Diskursanalyse Deines Seelsorgebuches unternehmen und fragen: Welche Ansätze wurden in welchem Zusammenhang von dir aufgenommen? Welche wurden paradigmatisch und ausführlich dargestellt? Und welche fallen – außer den feministischen – noch unter den Tisch?36 Winkler: Im Hinblick auf die theoretische Reflexion ist das für mich einsichtig. Aber wo liegt der entscheidende Mehrwert einer um die diskursanalytische Perspektive erweiterten Praxis der Seelsorge? Thierfelder: Wie ich schon im Blick auf Dein Seelsorgebuch angedeutet habe, läßt sich damit offenlegen, wie in bestimmten „Räumen“ selbstverständliche Plausibilitätszusammenhänge funktionieren. Diese Diskurse können mit souveräner Autorität Bestimmtes zur Norm und Anderes zur AbNorm erklären bzw. manches einfach ignorieren und negieren. Dadurch entsteht ein anderes Bild der Postmoderne, als Du es vor Augen hast. Wenn in der Postmoderne die großen Meta-Erzählungen der Moderne nicht mehr funktionieren, so heißt es nicht, daß damit ein friedliches Nebeneinander und sportliches Konkurrieren von Diskursen und Normen gegeben ist. Auch bei dem Schlagwort der Multikulturalität oder in internationalen Gremien und 36
Vgl. die Beobachtungen von Morgenthaler: Rezension. 309f.
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Strukturen geht es nur zu einem Teil um das Aushalten der Andersheit des Anderen. Im Vordergrund steht dagegen oft die Frage der Macht. Dies gilt es im Auge zu behalten, denn sonst wird das Bild der Postmoderne verzerrt und illusionär. Der Unterschied zwischen der Moderne und der Postmoderne besteht nicht einfach in einer neuen Pluralität, sondern darin, daß in der Postmoderne die Illusion von kulturell homogenen Diskursen wenigstens zum Teil aufgegeben werden mußte und gewisse vormals als „ab-norm“ diskreditierte diskursive Welten nicht mehr ausgeblendet werden können, weil sie sich gestärkt und selbstbewußt zu Wort melden. Aber es wäre eine Illusion zu glauben, daß damit der Kampf um die Macht der Diskurse ad acta gelegt sei. Weiterhin wird bei der Rezeption von postmodernen und diskursiven Modellen oft nicht beachtet, daß Diskurse nicht von Subjekten bestimmt werden. Diskurse haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und können von Subjekten nicht gesteuert werden. Die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit von Diskursen war von Foucault und anderen als ein Befreiungsschlag gedacht. Endlich konnte das Subjekt soziale Gegebenheiten nicht als universelle Naturgewalten, sondern als geschichtlich bedingte, diskursiv verankerte und durch Institutionen abgesicherte Normen und (Macht-)Strukturen verstehen. Hier sehe ich einen wichtigen Kritikpunkt bei der Neueren Seelsorgebewegung und auch bei Deinem Ansatz. Es sieht alles so harmonisch aus. Gesellschaftliche Machtfragen bzw. diskursive Ausschlüsse etc. werden unter „Konkurrenz belebt das Geschäft“37 wahrgenommen und damit bagatellisiert, zum Teil ignoriert und in die Verantwortung des oder der Einzelnen gestellt. Winkler: Dazu kann ich nur sagen, daß ich Deine zum Teil sehr treffende Kritik begrüße, weil nur mit solcher Kritik das Anliegen der Seelsorgebewegung weitergetragen wird. Denn: „Zum einen gilt, daß bei flexiblem wissenschaftlich-theoretischem und dabei praktisch handelndem Vorgehen die eine Einstellungsphase von der nächsten abgelöst wird. Sonst würden sich am Ende lediglich Wiederholungsmechanismen durchsetzen. Zum andern gilt der Satz, daß Totgesagte länger leben. Wer die Seelsorgebewegung am Ende wähnt und ihre Tage gezählt sieht, wird sich auf eine gründliche Auseinandersetzung einstellen müssen.“38
37
Klaus Winkler: „Heile mich, denn ich habe gesündigt“. Theologische Überlegungen. In: Grundmuster. 28–51. 36f. 38 Klaus Winkler: Die Seelsorge zwischen Spezialisierung und Globalisierung. In: Christoph Schneider-Harpprecht (Hg.): Zukunftsperspektiven für Seelsorge und Beratung. Neukirchen-Vluyn 2000, 3–11, 11.
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Thierfelder: Da kann ich nur sagen: Danke für die Blumen! Aber wenn Du mit diesen Sätzen die Diskussion beenden willst, bin ich nicht einverstanden. Ich habe noch mehr, was ich einbringen will, nämlich das, was mir bei meiner Beschäftigung mit der Ethnopsychoanalyse aufgefallen ist. Beiträge der Ethnopsychoanalyse zum Umgang mit Differenz: Die Subjektivität der Forscherin und des Forschers als Wahrnehmungsinstrumentarium und die Verflechtung von idiosynkratischer und ethnischer Identität Bei Devereux und Nadig wird deutlich, wie wichtig die Analyse der Verflechtung von individuellen und gesellschaftlichen Strukturen ist, aber auch die Wahrnehmung und Rechenschaft über die eigenen Gefühle in der jeweiligen Situation. Beide legen dar, daß die Reflexion der Gegenübertragungsgefühle im Kontext der ethnologischen Forschung, aber auch in Therapie, Beratung und Seelsorge zu neuen Erkenntnissen führt. Es geht eben nicht nur darum, das Phänomen der Übertragung zu kennen und damit umgehen zu können, sondern auch darum, sich Rechenschaft über die eigenen Gegenübertragungsgefühle zu geben. Mit der Wahrnehmung der eigenen Reaktionen und Interventionen wird es möglich, die Andere oder den Anderen auf einer anderen Ebene, nämlich an Hand der eigenen Reaktionen zu verstehen. Freud ging davon aus, daß Personen nicht nur auf der bewußten Ebene kommunizieren, sondern daß auch ihr Unbewußtes miteinander im Dialog ist, so daß die Beratenden vieles erst durch die Befragung ihres eigenen Unbewußten wahrnehmen können. Das ist in der Psychoanalyse inzwischen ja fast common sense – wobei das Verständnis der Gegenübertragung auch stark diskutiert wird.39 In jedem Fall erfordert der Umgang mit den eigenen Gegenübertragungsgefühlen bei der Wahrnehmung einer Situation – besonders wenn man sich der Situation relativ hilflos ausgesetzt sieht 39 Die Diskussion dreht sich um die Frage: Gibt es überhaupt „die Gegenübertragung“ oder ist die Gegenübertragung nichts anderes als die Übertragung des Analytikers? Wenn inzwischen nahezu allseits feststeht, daß Übertragungsvorgänge an sich nichts pathologisches, sondern allgegenwärtig sind, wenn akzeptiert wird, daß auch in der psychoanalytischen Situation Übertragungen nicht nur von Erinnerungen, sondern auch von gegenwärtigen Wahrnehmungen beeinflußt sind, worin unterscheidet sich dann noch die Gegenübertragung der Analytikerin oder des Analytikers von der Übertragung der Patientin oder des Patienten? Vgl. dazu das Sonderheft Psyche 53/1999 zum Thema: Therapeutischer Prozeß als schöpferische Beziehung. Übertragung – Gegenübertragung – Intersubjektivität. Vgl. auch Constanze Thierfelder: Das Textverständnis im Bibliodrama und das Konzept der Gegenübertragung in der Psychoanalyse. In: Dies./Dietrich Hannes Eibach (Hg.): Resonanzen. Schwingungsräume Praktischer Theologie. Gerhard Marcel Martin zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2002, 96–111.
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– das Aufgeben vieler Bilder, Mythen und Selbstrechtfertigungen, die sonst fraglos die Beziehungen bestimmen. Gerade in dieser Hinsicht hat die neuere Seelsorgebewegung mit Hilfe von psychoanalytischen Erkenntnissen in der Seelsorge mit vielen Mythen, zumindest was den (Er-)Kenntnisstand angeht, aufgeräumt, z.B. im Hinblick auf die Motivation von Helfenden, die ja keineswegs einlinig altruistisch ist.40 Winkler: Diese Aufnahme von Erkenntnissen der Psychoanalyse im theologischen Bereich war uns wichtig, aber was ist nun Dein Anliegen in diesem Bereich? Thierfelder: Mir fiel auf, daß die Seelsorgebewegung vieles aus der psychoanalytischen Theorie und Praxis rezipiert hat, aber daß manche Übernahmen eher halbherzig geschahen und Bestimmtes ausgeblendet wurde. In diesem Fall beziehe ich mich vor allem darauf, daß auch in der Neueren Seelsorgebewegung über die Gegenübertragungsgefühle der Beraterin oder des Seelsorgers noch weitgehend ein Mantel des Schweigens gebreitet bleibt. Die Realität und Bedeutung irritierender Gefühle auf Seiten des Seelsorgers oder der Seelsorgerin Auffällig war mir dies bei Deinem Fallbeispiel in Deinem Aufsatz Pastoralpsychologische Aspekte der Rede von Gott.41 Dort stellst Du die Begegnung von einer Frau mit einem Psychoanalytiker dar, der gleichzeitig eine kirchliche Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle leitete. Diese Frau hatte einen Sohn, der Patient bei dem Psychoanalytiker gewesen war. Nach seinem Tod hatte sie in seinem Nachlaß die Adresse von der Ehe-, Familienund Lebensberatungsstelle gefunden und war ganz konsterniert: „Herr Doktor, stand es denn wirklich so schlimm um ihn, daß er sogar fromm geworden ist?“42 Der Psychoanalytiker erklärte ihr, daß er auch Leiter der Beratungsstelle sei und daß er dem Patienten die Adresse gegeben habe, um erreichbar zu sein. Du verhandelst diese Vignette als ein Beispiel für das Glaubensverständnis dieser Frau, die Religion und Glauben als den letzten Notnagel versteht. Zunächst wird also die Erwartungshaltung der Mutter gedeutet. Mich würde aber auch interessieren, wie es dem Psychoanalytiker und Leiter der kirch40
Vgl. Wolfgang Schmidbauer: Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek 1977. Zur Rezeption in der Theologie vgl. auch Dietrich Stollberg: Helfen heißt herrschen. WuD 15/1979, 167–173. 41 Klaus Winkler: Pastoralpsychologische Aspekte der Rede von Gott. In: Ders.: Grundmuster. 13–27. 42 Vgl. Winkler: Pastoralpsychologische Aspekte. 18.
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lichen Beratungsstelle mit dieser Anfrage erging. Wie ging er mit der Differenz um, daß jemand den Glauben nur als letzte Möglichkeit verstand? Oder war er einfach nur erleichtert, daß er die Verbindung zur Kirche so leicht „der Sache nach“ klären konnte, so daß er keine weitere Stellungnahme zu seinem Verhältnis zu Kirche und Religion abgeben mußte? Damit blieb die Differenz zwischen ihm und der Mutter, möglicherweise auch zwischen der Mutter und ihrem Sohn verdeckt. Auch wenn es für dieses Gespräch vielleicht keine Bedeutung hatte, weil die Mutter eben keine Patientin war, frage ich: Könnten Überlegungen zum Umgang mit Differenz und zu den Gegenübertragungsgefühlen des Psychoanalytikers und Leiters der kirchlichen Beratungsstelle in diesem oder in anderen Fällen nicht sehr aufschlußreich sein, gerade wenn es um die Verknüpfungen und Differenzierungen von Glaube und Psychotherapie geht? Winkler: In diesem Fall war mein Thema ein anderes. Es ging um die Vielfältigkeit der menschlichen Vorstellungen von Frömmigkeit. Ich finde die Kritik, daß ich die Gefühle und Reaktionen der Seelsorgenden völlig ausblende, nicht angemessen. In meinem Seelsorgebuch beschreibe ich öfter auch die Reaktionen der Seelsorgenden, z.B. die Gefühle einer Seelsorgerin nach der Erzählung eines Ratsuchenden: „Die Seelsorgerin ist zunächst irritiert und betroffen von soviel augenscheinlichem Illusionismus.“43 Thierfelder: Aber gerade hieran wird deutlich, daß Irritation und Betroffenheit nicht als Gegenübertragungsgefühl reflektiert, sondern sehr schnell durch die Suche nach Verstehen aufgelöst werden. Die von dir angeführte Falldarstellung geht weiter mit: „Erst allmählich durchschaut sie die Hintergründe der realitätsfremden Erwartungshaltung des jungen Mannes an Gott und die Welt. Unbefriedigend gelebtes Dasein mit wahrscheinlich hoher Abhängigkeit von den (möglicherweise ebenso unbezogenen wie verwöhnenden) Eltern soll und muß ohne eigentliche Eigenleistung von Gott (bzw. von den Schicksalskräften hinter dem eigenen Lebenslauf) ausgeglichen werden.“44 Natürlich evozieren Abhängigkeit und Ansprüchlichkeit Irritationen und moralische Empörung – gerade im kirchlichen Milieu, wo Selbstlosigkeit und Verzicht als Tugenden hochgehalten werden. Aber andererseits konfrontiert die Ansprüchlichkeit eines Anderen auch mit den eigenen, vielleicht maßlosen Wünschen, die die Seelsorgerin im Zaum zu halten versucht! Dann ist so ein junger Mann, der diese Seite offen lebt, doppelt irritierend. Deswegen noch einmal: Bei Deiner Art von Psychoanalyse, die
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Winkler: Seelsorge. 334. Winkler: Seelsorge. 334.
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sicher stark von Schulz-Hencke,45 aber natürlich auch von Deinen eigenen Charakterstrukturen geprägt ist, fehlen mir die Emotionen und die Triebwünsche, die es sicher nicht nur bei dem Ratsuchenden, sondern auch bei der Beratenden gibt. Vielversprechender erscheint mir dagegen Dein Fallbeispiel von dem Gespräch eines Ehepaars mit einem Seelsorger, in dem es um einen Seitensprung der Ehepartnerin geht. Du schreibst zunächst recht vage: „Den Seelsorger engagiert die Situation sehr deutlich“46 und schilderst, wie er den Konflikt mit der christlichen Rede von der Vergebung entschärfen wollte. Bei der Interpretation des Gesprächs überlegst Du auch, was den Seelsorger dazu bewogen haben könnte, von der Vergebung zu reden. Dabei wird deutlich, daß er diesen theologischen Topos einbrachte, obwohl eine offensichtliche Beziehungsstörung vorlag. Es wird deutlich, daß seine Intention, damit Ausgleich und Harmonie wieder herzustellen, Ausdruck einer Reaktion auf den Konflikt und das Unbehagen war, das ihm dadurch verursacht wurde: „So erscheint ihm die Möglichkeit, Vergebung zu gewähren oder zu empfangen als ein unmittelbar erleichterndes Faktum.“47 Daß dies eine Reaktion war, die der spezifischen Psychogenese des Seelsorgers zu verdanken war und nicht der Einfühlung in die Erlebensweisen des Paars, wurde in dem Gespräch dadurch deutlich, daß mit der Erwähnung des Worts Vergebung der Konflikt verschärft wurde und das Gespräch zu keiner weiteren Annäherung der Eheleute führte. Zu reflektieren, was auf Seiten der Seelsorgerin oder des Seelsorgers vorgeht, und wie mit Differenz und Konflikt umgegangen wird, finde ich besonders wichtig. Leider sind sie bei dir nur sporadisch zu finden – wenigstens nicht dort, wo ich sie erwarten würde. Winkler: Nein, da fühle ich mich nicht umfassend wahrgenommen. Ich habe mir durchaus Gedanken gemacht über die Gefühle, Neurosen und Charaktereigenschaften von Seelsorgern und auch darüber, mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert sind. Nur habe ich dies jeweils in den Abschnitten über „Seelsorge an Seelsorgern“ abgehandelt. Thierfelder: Ja, das ist mir aufgefallen, daß Du diese Fragestellung ausgelagert hast. Warum eigentlich? Reaktionen der Seelsorgerinnen und Seelsorger sind doch nicht nur allgemeiner Art, wie Burn-out-Syndrome und die Organisation und Trennung von Berufs- und Privatleben. Das Spannende ist 45 Zur Neo-Psychoanalyse von Harald Schulz-Hencke vgl. die Zusammenfassung von Esther und Wolfgang Zander: Die Neo-Psychoanalyse von Harald Schulz-Hencke. In: Psychologie des 20. Jahrhunderts Bd. III. Zürich 1977, 426–474. 46 Klaus Winkler: Vergebung konkret. Eine pastoralpsychologische Reflexion. Berliner Hefte für Evangelische Krankenhausseelsorge 55/1989, 15. 47 Winkler: Vergebung. 19.
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doch, welche konkreten Reaktionen und Gefühle in der jeweiligen Situation, mit den jeweiligen Gesprächspartnern auftauchen und was diese bedeuten! Individualisierung und Pluralisierung als Kennzeichen gesellschaftlicher und kirchlicher Realität Weiterhin ist mir aufgefallen, daß Du nirgends so konkret und spezifisch von der Situation von Kirche und den Herausforderungen an die Praktische Theologie sprichst wie in den Abschnitten über die Seelsorge an Seelsorgern. Dies gilt auch für Dein Plädoyer für eine Seelsorge an Seelsorgern und Seelsorgerinnen in Deinem Seelsorgebuch.48 Dort untersuchst Du die besondere Charakterstruktur von Seelsorgenden, die es ihnen erschwert, selbst Hilfe und Seelsorge anzunehmen. Die besondere Notwendigkeit der Seelsorge an Seelsorgenden siehst Du in den neuen Entwicklungen durch die Pluralisierung der Lebensentwürfe und der religiösen Selbstentwürfe, die zu zunehmender Vereinzelung führen. Weiterhin benennst Du den Fundamentalismus als ein Problem, das besondere Gespräche und Hilfen zur Entwicklung eines persönlichkeitsspezifischen Credos erfordert.49 Die Pluralisierung von Lebensentwürfen und der Fundamentalismus sind jedoch Phänomene, die ich als Kennzeichen der Postmoderne verstehe. Beides sind Themen, die nicht nur als Begründung für die Seelsorge an Seelsorgenden angeführt werden können, sondern die zu den allgemeinen Herausforderungen an die Seelsorge unter den Bedingungen der Postmoderne zählen. Mehr noch, es sind Themen, die sich mit Kontexten beschäftigen, in denen sich Seelsorgende und Ratsuchende bewegen. Ähnliches gilt auch für Deinen Aufsatz zur zukünftigen Religionskritik:50 Mein erster Eindruck war: Hier wird endlich etwas von Winklers Gedanken zur Gegenwart und Zukunft von Seelsorge in unserer Gesellschaft deutlich! Aber ich fragte mich: Warum hier? Und warum nur hier? Winkler: Weil ich kein Soziologe bin und damit keine Statements über „die Lage der Nation“ abgeben kann und will. Das ist nicht mein Metier. Thierfelder: Aber Du mußt Dich dazu verhalten! Das tust Du ja auch, nur an für mich etwas abwegigen Orten. Und damit komme ich zu einer zweiten Perspektive, zur erweiterten Wahrnehmung von Differenz. Während die Diskurstheorie auf die Machtfrage verweist, macht die Ethnopsychoanalyse 48
Vgl. Winkler: Seelsorge. 502–507. Vgl. Winkler: Seelsorge. 506f, und Klaus Winkler: Das persönlichkeitsspezifische Credo. WzM 34/1982, 159–163. 50 Klaus Winkler: „Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben. . . “ – Exakte Phantasien bezüglich einer zukünftigen Religionskritik. In: Ders.: Grundmuster. 153–165. 49
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darauf aufmerksam, daß individuelle Wahrnehmung und theoretische Verstehensmodelle nicht nur durch persönlichkeitsspezifische Strukturen, sondern auch durch kulturspezifische Wahrnehmungen und die daran anschließenden Bewältigungsmechanismen geprägt sind. Winkler: Ähnliches habe ich ja schon in meiner Kritik des Ödipuskomplexes51 gezeigt. Gerade bei diesem Urmythos der Psychoanalyse droht die Ideologisierung. Ein Konstrukt, das zur Erfahrungsbeschreibung dient, muß jedoch notwendigerweise mit dem Auftauchen neuer empirischer Daten revidiert werden – auch in Bezug auf seine zeitliche Begrenzung auf die kindliche Entwicklung und damit auf seine Einmaligkeit. Es muß weiter hinterfragt werden, ob es sich ausschließlich um ein intrapsychisches Geschehen handelt, oder ob auch externe Traumata, z.B. eine subtile Verführung durch die Eltern, eine Rolle spielen. Und weiterhin muß bedacht werden: „Freud hat sein Konstrukt ‚Ödipus‘ in eindeutiger Weise unter einem dominierend männlichen Vorzeichen konzipiert. Das mußte (mit der Zeit und besonders in der Gegenwart) den Protest von engagierten Frauen hervorrufen. War solch eine Nachricht aus der ‚Männerwelt‘ geschlechtsunabhängig für alle gültig?“52 Die historische, kulturelle und soziale Verortung von Persönlichkeitstheorien und ihre therapeutischen Konsequenzen Thierfelder: Die Ethnopsychoanalyse geht noch darüber hinaus. Sie fragt nicht nur, ob der Ödipuskomplex eine Nachricht aus der Männerwelt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist, sondern auch, inwiefern er durch ein Wiener Lokalkolorit geprägt ist, das sich vielleicht noch im restlichen Westeuropa wiederfinden läßt, aber nicht in anderen Kontinenten mit anderen Gesellschaftsformen und unter anderen Entwicklungsbedingungen. Die ethnopsychoanalytische Wahrnehmungsperspektive geht vielmehr davon aus, daß jedes Individuum nicht nur durch seine individuell und biographisch spezifischen Entwicklungsbedingungen geprägt wird, sondern auch jede soziale Wirklichkeit eine spezifische Vielfalt von Wahrnehmungs- und Bewältigungsmechanismen hervorbringt – so daß es keine kulturneutrale Seelsorge, Beratung oder Therapie geben kann. Konsequent verfolgt deswegen z.B. Tobie Nathan53 das Ziel, die Ethnopsychiatrie Georges Deve51
Klaus Winkler: Der Ödipuskomplex. Ein Konstrukt zwischen Ideologie und Wirklichkeit. In: Winkler: Grundmuster. 101–113. 52 Winkler: Ödipuskomplex. 107. 53 Vgl. Tobie Nathan: La Folie des Autres. Traitée d’Ethnopsychiatrie clinique. Paris 1986. Ders.: L’influence qui guérit. Paris 1994. Vgl. auch Vera Saller: Tobie Nathan: ge-
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reux’ zu einer interkulturellen Therapie weiterzuentwickeln. Er übernimmt auch spezifische Interventionen aus anderen Kulturen, um mit Patienten zu arbeiten, die in verschiedenen sozialen Wirklichkeiten leben, und er läßt zudem die Therapie von einem interkulturellen Team planen, diskutieren und durchführen. Winkler: Ich finde das einen sehr interessanten Ansatz, obwohl ich mir auch die Nachfrage gestatte, ob nicht ein Stück Hybris, psychoanalytisch gesprochen narzißtische Größenphantasie, mitschwingt, wenn man glaubt, in jeder Kultur denken zu können bzw. sich in die verschiedensten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster einfühlen zu können. Thierfelder: Ja, so ein Gefühl beschlich mich auch, aber ich habe mich damit zu wenig beschäftigt, um mir ein Urteil erlauben zu können. Was ich in diesem Zusammenhang nur betonen will, ist vielmehr folgendes: So wichtig und unverzichtbar ich Kenntnisse über Kulturen, mit deren Menschen ich zusammentreffe, halte, so wichtig finde ich es, mit den Gefühlen der Verunsicherung durch eine andere Kultur oder durch Kontakte zu deren Mitgliedern umgehen zu können, d.h. mit den eigenen Gegenübertragungen umgehen, sie erkennen und bearbeiten zu können. Das weitverbreitete Stichwort Interkulturelle Kompetenz kann deswegen nicht einfach ein einseitiges Wissen oder Können bezeichnen. Die Ethnopsychoanalytikerin Elisabeth Rohr geht vielmehr davon aus: „Interkulturelle Kompetenz bedeutet daher, auf einen einfachen Nenner gebracht, mit eigenen wie fremden, individuellen wie kulturellen Schwächen, mit regressiven wie aggressiven Impulsen umgehen zu können, Ohnmachtsgefühle, Versagensängste, Insuffizienzgefühle bei sich und anderen auszuhalten und die erlebte Krise produktiv und kreativ zu wenden.“54 Dazu gehört meines Erachtens auch, die Vielfältigkeit in unserer Gesellschaft wahrzunehmen und für neue Perspektiven offen zu sein. Dies gelingt jedoch nur, so paradox das klingt, wenn jede und jeder die eigenen Grenzen in Bezug auf Offenheit und integrative Kraft anerkennt und auch darüber kommunizieren kann. Winkler: Was bedeutet all dies für die pastoralpsychologische Perspektive in der Praktischen Theologie? Thierfelder: Nun, eigentlich habe ich bis jetzt nur eine erweiterte Wahrnehmungsperspektive für den Bereich von Seelsorge und Beratung im Blick gehabt. Aber diese Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz hat durchnialer Theoretiker, orientalischer Geschichtenerzähler oder Scharlatan? In: Peter Möhring/ Roland Apsel (Hg.): Interkulturelle psychoanalytische Therapie. Frankfurt/M. 1995, 209– 221. 54 Elisabeth Rohr: Interkulturelle Kompetenz. Ein gemeinsamer und gegenseitiger Lernprozeß in einer sich globalisierenden Welt. WzM 55/2003, 507–520, 517 (kursiv im Original).
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aus Auswirkungen auf den gesamten Bereich der Pastoralpsychologie bzw. der Praktischen Theologie. Die Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz hat ihre Konsequenzen für die Gottesvorstellungen, für Sünde und Vergebung – wie Du selbst gezeigt hast55 –, für das Verständnis von Kasualien – wie Ulrike Wagner-Rau beschreibt.56 Ich bringe in Bezug auf die Differenz durch die Diskursanalyse die Machtfrage ins Spiel und betone mit der Ethnopsychoanalyse die subjektiven und die kulturspezifischen Faktoren bei der Wahrnehmung von Fremdem und Eigenem. Einschlüsse und Ausschlüsse durch Normalisierungsachsen: Für eine kritische Betrachtung volkskirchlicher Realitäten Die Diskursanalyse zeigt, wie der Machtfaktor über Normierungen und damit über festgesetzte Normen und Perspektiven Gemeinschaft schafft oder über den Ausschluß aus der Gemeinschaft entscheidet. Dabei muß man – wie Du sagst – realistisch bleiben: Christliche Gemeinden wollen zwar einladend sein, sie konstituieren sich jedoch wie alle anderen Gemeinschaften auch durch Abgrenzungen. Interessant ist es also, welche Normen und Diskurse zu welchen Ein- und Ausschlüssen führen. Diese Diskussion wurde schon im Neuen Testament geführt.57 Heute geht es in der deutschen Volkskirche vor allem um die Zugänge zum christlichen Glauben, zu christlichen Symbolen und den Umgang mit Sprache. All dies ist weiterhin sehr milieuspezifisch und bedeutet vielfach den Ausschluß von Gruppen außerhalb des Bildungsbürgertums, von Alleinstehenden oder sozialen Randgruppen.58 Wie Du siehst, sehe ich in der Frage nach der Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz wichtige Impulse nicht nur für Seelsorge und Beratung, sondern auch für die anderen Bereiche der praktisch-theologischen Arbeit. Aber nun noch eine Frage an Dich, die Gretchenfrage: Wo verortest Du Dich theologisch?
55
Vgl. Winkler: Vergebung konkret. Vgl. Wagner-Rau: Segensraum. 57 Vgl. Zur Gastfreundschaft und zur Wahrnehmung von Fremden Letty M. Russell: Postkoloniale Subjekte und eine Feministische Hermeneutik der Gastfreundschaft. In: Heike Walz/Christine Lienemann-Perrin/Doris Strahm (Hg.): „Als hätten sie uns neu erfunden“ – Beobachtungen zur Fremdheit und Geschlecht. Luzern 2003, 99–112. 58 Vgl. Vögele/Bremer/Vester: Soziale Milieus und Kirche. Uta Pohl-Patalong (Hg.): Kirchliche Strukturen im Plural. Analysen, Visionen und Modelle aus der Praxis. Schenefeld 2004. 56
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Winkler: Habe ich das nicht deutlich gemacht? Daß bei meiner Theologie Martin Luther Pate gestanden hat, ist doch nicht zu übersehen.59 Und auch die Zuordnung von Theologie und Psychologie erscheint mir, wenn ich sie im Rückblick einordne, vieles mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre gemeinsam zu haben. Auch hier werden (Be-)Reiche hinsichtlich ihrer Zuständigkeit unterschieden und doch auch wieder aufeinander bezogen. Thierfelder: Trotzdem habe ich den Eindruck, daß Du manchmal mehr Theologie implizierst, als Du explizit darlegst. Mir scheint es, als ob Du auf einer Insel theologischer Selbstverständlichkeiten lebst, die selbst kirchentreuen Christinnen und Christen nicht mehr vertraut ist und die für volkskirchlichen Christinnen und Christen eine fast fremde Welt ist. Zum Beispiel scheint es für Dich nahezu selbstverständlich zu sein, daß Menschen beten. Du überlegst nicht, warum einige beten und andere nicht, sondern nur, welche Formen zu beten es gibt und welche Funktionen die verschiedenen Gebetsformen haben.60 Winkler: Ich denke, hier wird schon deutlich, daß wir verschiedenen Generationen angehören und zu verschiedenen Zeiten studiert und im Pfarramt gearbeitet haben. Thierfelder: Vielleicht auch, daß wir aus verschiedenen Milieus stammen. Du stammst aus einem Pfarrhaus, wo Frömmigkeit und Gebet eine tägliche Selbstverständlichkeit waren. Ich komme aus einer naturwissenschaftlich-kaufmännisch orientierten Familie, in der das Tischgebet selten und der Kirchgang keine Pflicht, sondern ins eigene Belieben gestellt war. Glaube als anthropologische Selbstverständlichkeit? Eine positive Zumutung und/oder eine religiöse Vereinnahmung? Und wie verhält sich diese zum Christentum? Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen finde ich Deine Idee faszinierend, Glauben als eine anthropologische Grundkonstante zu verstehen, indem Du ihn als „vitale Erwartung an das Dasein“61 definierst und der Angst entgegenstellst. Andererseits fordert mich diese Idee zum Widerspruch heraus. So schön die Anschlußfähigkeit der Theologie an die Psychologie und die Philosophie ist – geschieht hier nicht still und heimlich eine Vereinnahmung aller in den großen Bauch des Christentums, da doch auch Atheisten und 59 Vgl. Klaus Winkler: Die Zumutung im Konfliktfall. Luther als Seelsorger in heutiger Sicht. Hannover 1984. 60 Vgl. Klaus Winkler: Das Gebet – pastoralpsychologisch gesehen. WuD 22/1993. 245– 257. 61 Winkler: Seelsorge. 307.
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Areligiöse eine ganz anders gegründete „vitale Erwartung an das Dasein“ haben können? Ist das nicht eine Einebnung von Differenz? Diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit Religiosität und Frömmigkeit, die Du auch für andere voraussetzt, fiel mir auch an anderer Stelle auf: Wenn jemand nicht wüßte, daß Du Theologe bist und aus einem Pfarrhaus stammst, könnte man bei der Lektüre Deiner Artikel zu religionspsychologischen, aber auch zu pastoralpsychologischen Themen zunächst auf die Idee kommen, Dein Herz schlüge allein für die Psychoanalyse, und der Bereich der Theologie wäre von untergeordneter Bedeutung. Wenn ich dagegen Dein Seelsorgebuch und andere Artikel zu dem Thema lese, habe ich vielmehr den Eindruck, daß Dir die Erfahrung mit Kirche, Glaube und Religion als so selbstverständlich und für alle präsent erscheint, daß Du Glauben zu einer anthropologischen Konstante erklären kannst. Deswegen brauchst Du Dir auch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, warum manche beten, andere nicht, warum manche religiösen Symbolen und biblischen Texten lebensdeutend einen Sinn abgewinnen können und andere nicht. Und ob es sinnvoll sein könnte, Menschen ein Verständnis für christliche Symbole in der Seelsorge oder in der Beratung zu eröffnen, scheint Dir keine diskussionswürdige Frage. Vielmehr geht es Dir immer wieder und ausschließlich darum, ein ‚persönlichkeitsspezifisches Credo‘ zu finden, es zu formulieren und darüber mit anderen in Kontakt zu treten. Wie gehst Du damit um, daß die unhinterfragte Selbstverständlichkeit der deutschen Volkskirche immer mehr in Frage gestellt wird? Winkler: Wenn Du mich so fragst, geht mir zum einen auf, daß ich wirklich nie etwas über Symbole bzw. Symbole in der Seelsorge oder der Pastoralpsychologie veröffentlicht habe; das sollte mir doch zu denken geben!62 Ansonsten verweise ich dafür natürlich gerne auf das umfassende Symbolbuch von Heribert Wahl. Interessanterweise siedelt er den Verlust des Symbolischen auch am Verlust der Differenz an!63 Winklers Beitrag zur Frage nach der Pluralisierung des religiösen Selbstverständnisses: Religionspsychologische Kritik an regressiven Formen von Religiosität. Plädoyer für eine christliche Nüchternheit statt schwärmerischer Illusionen
62
Vgl. die Liste der Veröffentlichungen von Klaus Winkler. In: Ders: Grundmuster. 255–
264. 63 Vgl. Heribert Wahl: Glaube und symbolische Erfahrung. Eine praktisch-theologische Symboltheorie. Freiburg/Brsg. 1994, 16.
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In Bezug auf das Bröckeln von volkskirchlichen Selbstverständlichkeiten in der Postmoderne besteht meine Reaktion – wenn ich mich selbst recht verstehe – eher in vermehrter kritischer Reflexion, d.h. in einer detaillierten religionspsychologischen Kritik der neuen Vielfalt der religiösen Formen und Themen. Ich bin der Überzeugung, daß es nicht weniger Religion, sondern vielleicht nur weniger christlich-bürgerliche Religionsausübung gibt. Dafür treten jedoch eine Vielfalt von religiösen Überzeugungen auf den Plan, die es kritisch zu begleiten gilt. Neben den fundamentalistischen Überzeugungen erscheint es mir besonders wichtig, Formen von Religiosität – auch im therapeutischen Milieu – zu kritisieren, die sich darin erschöpfen, ein befriedigendes Weltgefühl und ein „ganzheitliches Wohlgefühl“ zu vermitteln. Diese Religiosität „entspricht einer religiösen Befindlichkeit, die ebenso faszinierend wie unchristlich ist. Fördert sie doch eine Art symbiotischer Religiosität, die weniger Sinnfragen stellt und beantwortet, als einer sublimen Bedürfnisbefriedigung entspricht.“64 Damit wird der Blick auf die Realität und ihre Härten und ihre fordernden Fragen verstellt. Die Religiosität bleibt in einem kindlich illusionären Stadium stehen – und kann in den Krisen des Lebens keine Hilfe, sondern nur eine Krücke sein. An dieser Stelle werde ich ganz theologisch und halte an der Bedeutung des „extra nos“ fest. „Christliche Religiosität braucht ein Gegenüber zur Welt jenseits aller symbolfrei erfahrbaren Zugänglichkeit. Sonst fallen Schöpfer und Schöpfung in eines. Wir würden, wenn wir die Schöpfung bewahren, letztlich Gott bewahren, und davor bewahre uns Gott! [. . .] Zuzumuten ist zukünftig eine christologisch begründete Gegensätzlichkeit im zwischenmenschlichen Bereich. Sonst verkommt die unabdingbare christliche Nächstenliebe leicht zur Vereinnahmung bzw. zur religiös motivierten Einebnung der individuellen Eigentümlichkeit sowie des höchstpersönlichen Eigensinns.“65 Thierfelder: Ich weiß nicht, ob man für die Betonung der Differenz eine christologische Begründung (welche eigentlich?) hinzuziehen muß. Trotz alledem helfen mir Deine kritischen religionspsychologischen Stellungnahmen besser als vieles andere, Deine Theologie zu verstehen – vor allem, wenn ich Deine Kritik in positive Aussagen wende: Für Dich dient Religion nicht zur Bedürfnisbefriedigung, sondern als Möglichkeit, in kritischer und doch gelassener Nähe und Distanz mit dem Leben und seinen Krisen umzugehen. Das Christentum stellt Orte zum Feiern und zum Klagen, zur Bearbeitung von Krisensituationen und zur Trauer bereit. Christliche Religion verbindet die Wertschätzung des immanenten Lebens mit dem Festhalten an einem „extra nos“, das die Einzelnen 64 65
Winkler: Der Mensch kann nicht ewig Kind sein. 164. Winkler: Der Mensch kann nicht ewig Kind sein. 164.
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und ihr Leben von Allmachtswünschen und -zwängen entlastet. Christliches Denken, das durch das Festhalten eines „extra nos“ gekennzeichnet ist, hat eine besondere Möglichkeit, die Unterschiedlichkeit und Unverfügbarkeit von anderen Menschen anzuerkennen und kann statt nach gleichem Erleben nach analogen Erlebnisweisen suchen,66 um Kontakte aufzubauen, die nicht von vereinnahmender Nächstenliebe geprägt sind. Nur so kann es Menschen unterschiedlicher Herkunft gelingen, ein biographisch sinnvolles, persönlichkeitsspezifisches Credo innerhalb einer tragenden Gemeinschaft zu entwickeln. Winkler: Ich möchte hinzufügen, daß ich bei der Arbeit am persönlichkeitsspezifischen Credo auch die Möglichkeit zu einer Zusammenarbeit und zum Kompetenzstreit mit ganz verschiedenen Menschen, die sich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen, sehe: „Christenglaube lebt davon, immer neu als ‚frohe Botschaft‘ mitgeteilt zu werden. Mitteilungen können wie Reklame aufgedrängt werden. Dann erscheinen sie unausweichlich, lassen jedoch auch abstumpfen. Mitteilungen können aber auch gefragt sein, wenn sie von einer Informations- oder Erlebnislücke her neugierig erwartet werden. Es ist vorstellbar, daß der eine Zeitgenosse einen anderen auf die bedrohlichen Umstände, unter denen wir alle leben müssen, anspricht und dann erstaunt feststellt und fragt: ‚Mich wundert, daß Du so fröhlich bist! Wie ist so etwas heutzutage möglich?‘ Der andere könnte daraufhin von seinem Christenglauben erzählen. Er wird es um so überzeugender tun, je mehr er sich um ihn gekümmert hat.“67 Thierfelder: Diese Leichtigkeit, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und die kritische Distanz, die Du mit dem Christentum verbindest, gefallen mir. Aber interessant wird es ja immer, wenn es konkret wird. Was hältst Du von der gemeinsamen Diskussion eines Fallbeispiels? Winkler: Nur zu!
3. Fallbeispiel einer Beratung 3.1 Das Gespräch Vorspiel: Weil Frau Engel68 sagte, daß sie zu einem früheren Termin nicht könnte, hatte die Sekretärin ihr einen Termin gegeben, der eigentlich außerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens lag. Die Beraterin überlegte noch, ob sie 66
Vgl. Winkler: Der Mensch kann nicht ewig Kind sein. 164. Vgl. Winkler: Werden wie die Kinder. 155f. 68 Der Name der Klientin und andere Einzelheiten wurden von der Verfasserin geändert. Die Darstellung beruht auf einem Gedächtnisprotokoll. 67
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sich darauf einlassen sollte, da stellte sich heraus, daß ein früherer Termin für die Klientin doch möglich war. Als Frau Engel zur Beratung erschien, war die Beraterin erstaunt, wie jugendlich Frau Engel mit ihren 58 Jahren aussah. Sie wirkte energisch, hatte eine glatte, nahezu faltenfreie Gesichtshaut und trug eine auffallend modische Brille. Nur die schütteren, grauen Haare deuteten auf ihr reales Alter hin. Bei der Aufnahme der biographischen Daten hatte sie angegeben, daß sie mit 22 Jahren geheiratet hatte, daß aus dieser Ehe zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, hervorgegangen waren und daß sie sich nach 21 Ehejahren scheiden ließ. Von Beruf war sie Krankenschwester gewesen, inzwischen war sie berentet. Frau Engel betrat das Beratungszimmer und zögerte, welchen der beiden Stühle, die zur Wahl standen, sie nehmen sollte. Sie setzte sich schließlich auf den Stuhl, der näher bei der Beraterin stand, aber nur auf die vordere Kante. Damit kam sie dieser so nahe, daß sich diese bedrängt fühlte und mit ihrem Stuhl nach hinten auswich. Frau Engel (beginnt das Gespräch mit einer Klage): Mir geht es schlecht, sehr schlecht, ich habe keinen Lebensmut mehr, keine Kraft mehr, keinen Spaß. Ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll. Alles ist sinnlos. (Pause) Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll. Ich bin ja schon seit langer Zeit geschieden, und ich hatte jetzt acht Jahre einen Lebensgefährten, und jetzt haben wir uns getrennt. (Pause) Mein geschiedener Mann tauchte aus Kanada wieder auf und sagte, wir hätten jetzt genug Geld. Und er wollte mit mir zusammen etwas aufbauen. Und es stellte sich heraus, daß alles nicht stimmt und er auch noch krank ist. Aber inzwischen hat sich mein Freund zurückgezogen. Ich wollte ihm noch alles erklären, aber er hatte schon eine neue Freundin. (Pause) Und jetzt bin ich wieder allein, und ich habe das alles schon einmal gehabt. Beim letzten Mal war es so schlimm, daß ich nicht mehr beten konnte. Und ich weiß nicht, wie ich alleine alt werden soll, und deswegen brauche ich Rat. (Lange Pause). Beraterin (mit etwas Ironie): Rezepte haben wir hier leider nicht. Frau Engel: Aber wie machen das andere Frauen, das Alleinsein im Alter zu ertragen? Beraterin: Das macht jede Frau auf ihre Weise. Sie kennen ja vielleicht auch Frauen, die das auf die eine oder andere Weise bewältigen. Frau Engel: Nein, die sind nicht in so einer Situation wie ich. Wissen Sie, ich bin nicht immer so, eigentlich habe ich viel Energie. Aber jetzt liegt alles herum in meinem Haus, und das Obst fällt von den Bäumen, und ich bin so schlapp und müde. Und immer wieder muß ich mir sagen, daß ich es selbst
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alles vermasselt habe. Warum habe ich mich nur wieder auf ihn eingelassen! (Pause) Beraterin: Warum haben Sie sich denn von ihm getrennt? Frau Engel: Ja, das war wegen sexueller Schwierigkeiten. Er sagte, wegen des schlechten Einflusses seiner Freunde. Er hat mich sogar einmal vergewaltigt in der Ehe. Er war ein Sexualneurotiker. Beraterin: Was bedeutet ‚Sexualneurotiker‘? Frau Engel: Sie kennen diesen Begriff nicht? Beraterin: Nein. Frau Engel: Nun, er wollte dauernd etwas von mir, und es war sehr unangenehm. Er ging auch auf Sexparties und Gruppenorgien. Wissen Sie, das war in den 70er Jahren, aber ich konnte da nicht mit. Das ging über meine Grenzen. Beraterin: Und die Freunde? Frau Engel: Ja, die nahmen ihn eben zu solchen Parties mit und hatten einen schlechten Einfluß auf ihn. Und dann habe ich ihn rausgeschmissen. Und ich konnte den Kindern ja nicht erklären, warum ich mich scheiden lassen wollte. Die waren ja erst 12 und 15 Jahre alt. Beraterin: Und da haben Sie die Schuld auf sich genommen? Frau Engel: Ja, die Kinder haben es nicht verstanden, und ich war mir zum Teil ja auch unsicher, ob ich das Richtige gemacht habe. Denn es ist schwierig, als geschiedene Frau zu leben, und manchmal fragte ich mich, ob es richtig war. Es ist schwierig im Beruf, mit den Handwerkern, an jeder Ecke. Da merkt man doch, daß man in einer patriarchalen Gesellschaft lebt. Beraterin: Ja, als Frau allein oder geschieden ist es sicherlich nicht immer einfach. Frau Engel: Ja, und mit meinem Freund gab es auch immer wieder Situationen, da war es nicht leicht. Wenn er meine Kinder angriff, das konnte ich nicht haben, aber das ist wohl häufig. Und als mein geschiedener Mann wieder auftauchte, dachte ich, jetzt ist alles wieder in Ordnung. Mann, Opa, Vater, alles ist wieder da. Beraterin: Die heile Welt ist wieder hergestellt. Frau Engel: Ja, und dann ging alles zu Bruch, denn eigentlich war das Leben mit meinem Partner sehr schön. Wir lebten zwar nicht zusammen, aber an den Wochenenden und in den Ferien waren wir zusammen. Und er ist auch Pate für eines meiner Enkelkinder. Und jetzt ist alles zu Bruch. Und ich träume manchmal noch von der Landschaft, wo er wohnt, dem schönen Land. Wenn ich dort nur wohnen würde! Beraterin: Wo wohnt er denn?
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Frau Engel: Am Bodensee. Und hier erscheint mir alles ganz klein, mies, häßlich und schmutzig dagegen. Und ich weiß gar nicht, wie ich das weiter aushalten soll, diese Einsamkeit und das Einsamsein im Alter. Und ich muß mir noch selbst die Schuld geben. Beraterin: Das ist auch viel auf einmal: Die Trauer, daß Ihr früherer Mann Sie erneut betrogen hat, die Trauer um die Beziehung und die Trauer um die Zukunft. Frau Engel: Ja, das stimmt. Das sind ja drei Dinge auf einmal. Ja, und das ist ja auch Trauer, auch wenn niemand gestorben ist, denn sie sind ja weg! Ich weiß gar nicht, was Trauer ist. Ich habe das nie erlebt, außer wenn Eltern alt sterben, aber dann ist man auch erleichtert. Aber das stimmt, das ist ja auch Trauer! Beraterin: Was Sie berichten, daß Sie nicht schlafen können, sich auf nichts konzentrieren können, an nichts Spaß haben können, das sind Symptome von Trauer. Frau Engel: Das heißt, ich muß Geduld haben. Ja, vielleicht nehme ich mich selbst auch zu wichtig. Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen und Ihnen Ihren Feierabend lassen. Mir kann ja doch niemand helfen. Beraterin: Wir haben noch Zeit. Raten kann ich Ihnen nicht, begleiten kann ich Sie schon. Frau Engel: Leiten? Beraterin: Begleiten. Frau Engel: Begleiten – oh, da habe ich Sie mißverstanden. Aber es gibt sicher Leute, die Ihre Zeit dringender brauchen als ich. Und irgendwie muß ich ja letztendlich doch alleine damit fertig werden. Beraterin: Es gibt keine Skala, wie schlecht es jemand gehen muß, damit er oder sie hierher kommen kann. Wesentlich ist, ob Sie Hilfe suchen. Frau Engel: Ja, das verstehe ich schon. Und ich weiß ja wirklich nicht mehr ein noch aus. Und ich habe Angst, weil es so schrecklich war bei der letzten Trennung, und ich schäme mich so. Wenn mir jemand erzählen würde, daß sie so etwas gemacht hat, würde ich sagen, die ist ja völlig verrückt, warum macht die so etwas? Und doch ist es mir passiert, und ich verstehe es nicht. Warum war ich so dumm? Beraterin: Sie haben nicht nur die schlimme Erfahrung der Trennung weggepackt, sondern auch noch die Gründe, warum Sie sich getrennt haben. Frau Engel: Ja, das stimmt. Ich bin wirklich zu dumm. Ja, jetzt will ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Beraterin: Sie melden sich, ob Sie nächste Woche wiederkommen wollen. Bitte sagen Sie bis Mittwoch Bescheid.
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Frau Engel: Ja sicher. Sie müssen ja auch disponieren. (Sie gibt der Beraterin noch in der Ecke, wo die Stühle stehen, die Hand. Auf dem Weg zur Tür dreht sie sich um und fragt die Beraterin:) Sind Sie Psychologin und Psychotherapeutin? Beraterin: Ja, auch. Frau Engel: Ja, was denn noch? Beraterin: Theologin. Frau Engel: Das ist eine schöne Kombination. Das ist ja auch wichtig. Mir ist das wichtig. Ich brauche das Gebet: Beim letzten Mal habe ich auch das Gebet verloren. So weit will ich es dieses Mal nicht kommen lassen. So, jetzt verabschiede ich mich aber wirklich. Vielen Dank und auf Wiedersehen. Das Gespräch endete nach 30 Minuten. Frau Engel fragte in den nächsten Tagen nicht nach einem neuen Termin. Zwei Wochen später rief sie jedoch in der Beratungsstelle an und erkundigte sich bei der Sekretärin, ob die Beratungsstelle auch Adressen von kirchlichen Kommunitäten und Schwesternschaften hätte. Als die Sekretärin dies verneinte, verabschiedete sich Frau Engel. 3.2 Beziehungs- und Konfliktdynamik Durch das Gerangel um den Termin war die Beraterin schon vor dem Gespräch etwas genervt, aber auch neugierig. Zunächst wechselten ihre Gefühle zwischen „Dieser Frau geht es sehr schlecht, sie braucht dringend Hilfe, wie kann ich ihr helfen?“ und dem Gefühl, genervt und überfordert zu sein durch die theatralische Darstellung von deren Zustand und die dramatischen Pausen: „Übertreibt diese Frau nicht ein wenig? So tragisch kann das Alter und das Alleinsein doch nicht sein!“ Im zweiten Teil des Gesprächs fühlte sich die Beraterin plötzlich in die Rolle gedrängt, daß sie die Klientin bei der Stange halten und diese vom Nutzen der Beratung überzeugen sollte. Sie hatte den Eindruck, ihre Kompetenz als Beraterin verteidigen und ihre Bereitschaft zu helfen aufdrängen zu müssen. Die Klientin entzog sich dagegen immer mehr, bagatellisierte ihre Probleme und verabschiedete sich in mehreren Etappen. Nach der Beratung fühlte sich die Beraterin hin- und hergerissen zwischen Versagens- und Schuldgefühlen und dem Ärger, von der Klientin in die Enge getrieben worden zu sein, indem diese dringlich um Rat und Hilfe gebeten hatte und sich andererseits in die Unerreichbarkeit zurückzog. Die Bestätigung der Klientin, daß die Kombination der Berufsrollen von Theologin und pastoralpsychologische Beraterin „sehr schön“ sei, empfand die Beraterin als seltsam und deplaziert.
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4. Fiktive Fallbesprechung mit Klaus Winkler Winkler: Sehr interessant dieses Gespräch und auch die Gegenübertragungen der Beraterin. Was fällt dir als erstes auf? Thierfelder: Nun, auch wenn ich dieses Wort in einem Gespräch mit dir kaum noch in den Mund nehmen mag: Am auffälligsten finde ich die Häufigkeit und Intensität der Ambivalenzen in diesem Gespräch. Schon der Vorlauf zum Gespräch war davon bestimmt. Kommt sie, kommt sie nicht? Wie wichtig ist dieses Gespräch für sie? Zu welchem Termin kommt sie? Noch deutlicher wurde ihre ambivalente Haltung im Gespräch: Erst kam sie ganz zögerlich herein, dann setzte sie sich ganz nah und rückte der Beraterin auf die Pelle. Aber auch thematisch war das Gespräch von Ambivalenzen bestimmt. Frau Engel signalisierte auf der einen Seite höchste Bedürftigkeit und drängte auf Rezepte zur Lösung ihres Problems, auf der anderen Seite nahm sie sich zurück, ging davon aus, daß andere bedürftiger wären als sie und distanzierte sich von der Beratung. Die Beraterin spürte den Impuls, dringend helfen zu müssen, auf der anderen Seite hatte sie das Gefühl, Frau Engel die Hilfe aufdrängen zu müssen, weil diese ihre Not bagatellisierte. Weiterhin zeigte sich Frau Engel einerseits als Opfer, in der Beziehung zu ihrem ersten Mann und seinen sexuellen Übergriffen, aber auch in Beziehung zu ihrem zweiten Mann, der sehr schnell eine andere Frau fand. Andererseits war sie Täterin, die ihren ersten Mann hinauswarf und den Kindern keine Gründe dafür angab und die auch ihren zweiten Mann verließ, weil der erste wieder aufgetaucht war. Erste Diagnose: Hysterische Charakterstruktur Winkler: Was mir ins Auge springt, ist die ausgesprochen hysterische Struktur69 dieser Frau: Die theatralische Darstellung gibt dem Leiden ein unermeßliches Ausmaß und macht es gleichzeitig unglaubwürdig. Deutlich ist auch, daß Frau Engel Grenzen nicht anerkennt und z.B. mit Terminen recht willkürlich umgeht. Für sie scheinen keine Grenzen von Zeit und Raum zu existieren und die Gesetze von Ursache und Folge keine Gültigkeit zu haben. 69
Für einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Hysteriekonzeptes und weitere Literatur dazu vgl. André Green: Die Hysterie. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts Bd. II. Zürich 1976, 623–651. Für eine Neubewertung der Hysterie und der gesellschaftlichen Relevanz vgl. Lucien Israël (1976): Die unerhörte Botschaft der Hysterie. München/Basel 1983. Für eine anschauliche Darstellung von Fallmaterial vgl. Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. München/Basel 1975, 156–199.
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Der Mangel an Realitätsgefühl zeigt sich auch, wenn sie einen Mann verläßt, um zu einem anderen zu gehen, und im Grunde erwartet, daß sie den Vorgang jederzeit rückgängig machen kann. Genauso vergißt sie selbst alle Gründe, warum sie sich von ihrem ersten Mann getrennt hat,70 so daß sie ohne weiteres zu ihm zurückkehren kann. Frau Engel lebt in einer Wirklichkeit, in der nichts Gründe und Konsequenzen hat, so daß die neuen Versprechungen des geschiedenen Mannes vollkommen glaubhaft schienen, und er damit wieder begehrenswert war. Am deutlichsten wird diese hysterische Struktur im Angesicht der unerbittlichen biologischen Gegebenheiten und Reifungsprozesse, wie z.B. der Realität des Älterwerdens. Durch den Verlust des ersten und dann des zweiten Mannes wird Frau Engel der Illusion beraubt, daß die Liebe und Bewunderung der Männer die Gesetze der Zeit und der Biologie aufheben könnten. D.h., sie wird sich mit einem Schlag ihres Älterwerdens bewußt. In ihrem Aussehen, das durch den Kontrast zwischen ihrem jugendlich-straffen Gesicht und den schütteren, grauen Haaren einer älteren Frau bestimmt ist, findet sich etwas wieder von der Geschichte des Dorian Gray,71 der gleichfalls seinen Alterungsprozeß abspaltete, das Alter auf ein Bild von sich projizierte und an einem späteren Punkt in seinem Leben vom Alter überfallen wurde. Auch Frau Engel hatte plötzlich Angst, ihre weibliche Attraktivität zu verlieren und alt, häßlich und einsam zu werden. Hier wird auch deutlich, wie nötig sie Männer brauchte, um sich ihrer eigenen Weiblichkeit und Lebendigkeit zu versichern, obwohl sie die Männer gleichzeitig abwertete. Hysterie als Reaktion auf reale Traumata oder als Ausdruck neurotischer Wunschphantasien? Thierfelder: Hier muß ich mich doch einschalten und mit dem Lacanschen Psychoanalytiker Lucien Israël konstatieren, daß die Hysterie aus dem Zwang geboren ist und daß sie aus dem Widerstand gegen die Normen, Zwänge und Rollen lebt. „Die Hysterie ist ein Kampf“72 schreibt Israel. Hier kommt diskursanalytisches Denken zum Tragen. Hysterie war schon zu Freuds Zeiten eine Krankheit der Frauen, die in enge Rollenvorgaben gezwungen waren. Mit Hilfe dieser Krankheit konnten sie sich gegen die auf das Haus und die Mutterrolle beschränkte Geschlechterrolle wehren, die 70
Riemann: Grundformen. 160, zitiert zu diesem Symptom Friedrich Nietzsche: „‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis, ‚das kann ich nicht getan haben‘, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ 71 Vgl. Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. London/Philadelphia 1890. 72 Israel: Unerhörte Botschaft. 118.
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Frauen in Europa um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorgeschrieben war. Aber auch in den 60er Jahren, als Frauen in der Nachkriegszeit wieder ihre alten Vorkriegsrollen übernehmen sollten,73 waren hysterische Krankheitsformen häufig. Kurz, auch Hysterie ist Ausdruck eines Widerspruchs und eines Diskurskonflikts, ohne daß damit der Diskurs des Mainstreams verlassen würde. Vielmehr entspricht Frau Engel immer noch den Normen der Nachkriegsgesellschaft, indem sie sich über die Zugehörigkeit zu einem (Ehe-)Mann definiert. Mit ihrer Abhängigkeit und Suggestibilität, d.h. mit dem ganzen Formenkreis der hysterischen Merkmale, fügt sie sich zudem nahtlos in das Weiblichkeitsideal der Nachkriegsgesellschaft ein. Außerdem wird Frau Engels Ehe durch einen weiteren Diskurskonflikt bestimmt: Die sexuelle Revolution stellt Ende der 60er bis in die 70er Jahre nahezu alle Normen in Frage, die im Bereich der Sexualität bis dahin Geltung hatten. Bis dahin wurde Sexualität mehr oder weniger verschämt im Privatbereich der Ehe oder anderen Beziehungen praktiziert und war weitgehend mit dem Mantel des Schweigens bedeckt. Nun wurde diese in die Öffentlichkeit gebracht, öffentlich diskutiert, zum Teil auch öffentlich praktiziert und vieler bisherigen Normen entkleidet. Wenn Sexualität bis dahin zumindest der Konvention nach mit romantischen Gefühlen verknüpft war, so galt dies im neuen Zeitalter als spießig und reaktionär: „Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“ war ein Motto des neuen Diskurses. Wie aber der Slogan schon zeigt, bedeutete die sexuelle Revolution für Frauen und Männer nicht dasselbe. Frauen waren zwar jetzt nicht mehr Objekte, die „man“ umwerben und denen „man“ das Lied der romantischen Liebe vorspielen mußte, um zum Ziel zu kommen; vielmehr konnte „man“ dieses romantische Beiwerk abwerfen und hinter sich lassen, denn es ging ja um das Ausleben und die Befriedigung der Sexualtriebe. Von neuem sollten sich die Frauen einem Diskurs unterwerfen, der nicht unbedingt der ihre war. Erneut wurden sie in die Rolle von Statistinnen gedrängt. Winkler: Ich weiß nicht, was zu der Trennung der Ehe von Frau Engel führte, aber ich denke, es ist zu einfach, wenn Du Dir die Wahrnehmungen von Frau Engel zu eigen machst und sie durch feministische Argumentationen abfederst. Es ist doch fast eine Persiflage, wie sie sich als sexuell unschuldige Frau, eigentlich eher als ein Mädchen schildert, die den groben 73 Stanislaw Dick: Der Geist der Zeit. In den Gesellschaften schwindet der Zusammenhalt, dem Einzelnen wird mehr zugemutet – doch das Selbstvertrauen steigt. Frankfurter Rundschau vom 6.Januar 2004. Stanislaw Dick zitiert eine Tabelle der Persönlichkeitstrends von Jean Twenge. Hinsichtlich der Durchsetzungsfähigkeit von Frauen schreibt Twenge, daß sie von 1930–1945 anstieg, von 1946–1967 abfiel und von 1968–1993 wiederum anstieg. Über die Zeit danach macht er keine Angaben.
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Übergriffen ihres Mannes und seiner satyrhaften Freunde, die wilde Orgien feierten, ausgeliefert war. Muß diese Schilderung von Frau Engel nicht auch im Kontext ihrer hysterischen Struktur verstanden werden, nach der sie das Spiel mit der Sexualität zwar genießen konnte, aber an einer unromantischen oder gar groben Umsetzung in die Tat nicht interessiert war, sondern sich durch die Ansprüche der Männer eher überfordert und mit sexuellen Reizen überschwemmt sah? Thierfelder: Nun, hier machen wir ein altes Faß auf. Dies ist ein Konflikt, mit dem schon Freud beschäftigt war: Liegt hier ein reales Trauma vor oder handelt es sich um verdrängte Wunschphantasien, die sich auf diese Weise zu Wort melden? Dies nach nur einer Sitzung zu entscheiden, finde ich schwierig, eigentlich unmöglich. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit – wie so oft – dazwischen. Frau Engels Umgang mit Objektbeziehungen und -verlusten und narzißtischen Erlebensweisen Was mir jedoch in Bezug auf diese Trennung auffällt, sind Frau Engels mangelhafte Fähigkeiten, Objektbeziehungen zu halten. Als sie ihren Mann wegschickt, verschwindet auch die Objektbeziehung und in Verbindung damit auch ihre Fähigkeit zu beten. Wenn nach Rizzuto die Gottesbeziehung aus einer modifizierten Objektrepräsentanz der Eltern und anderer naher Bezugspersonen erwächst, so heißt das für den Fall von Frau Engel, daß ihre Gottesrepräsentanz eng mit der Repräsentanz ihres Mannes verknüpft war.74 Als er weg war, war auch die Gottesbeziehung nicht mehr haltbar. Zum anderen wird deutlich, daß die Gottesrepräsentanz so stark mit dem Realobjekt verknüpft war, daß sie mit ihm verlorenging. Weiterhin wird deutlich, daß Frau Engel den Verlust ihres Mannes nicht wirklich betrauerte und damit auch keinen Abschied von ihm genommen hatte. Letztlich hatte sie die Beziehung zu ihm nicht aufgegeben. Deswegen konnte sie sie auch nahtlos wieder aufnehmen, als er sich ihr wieder näherte. Sie war den Wunschvorstellungen, die sie mit dieser Beziehung verknüpft hatte, noch immer verhaftet, so daß sie seinen illusionären Versprechungen kritiklos Glauben schenkte. 74 Vermutlich trat die Beziehung zum Ehemann die Nachfolge einer engen Beziehung zu ihrem Vater an, so daß der Verlust des ersten Mannes auch den Verlust des Vaters aufleben ließ. Vgl. die ähnliche Familienkonstellation in der Geschichte von „Fiorella Domenico“ in Ana-Maria Rizzutos The Birth of the Living God. A Psychoanalytic Study. Chicago 1979. Auch dort ist der Verlust der Gottesbeziehung eine Folge des (drohenden) Verlusts des Ehemannes, der die Funktion des Vaters übernommen hatte.
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Winkler: Hier muß ich noch auf die narzißtischen Strukturmerkmale hinweisen, die sich bei Frau Engel an mehreren Stellen der Beratungsbeziehung zeigten. Die Liebesobjekte von Frau Engel dienten ganz offensichtlich der einer narzißtischen Erweiterung bzw. Komplementierung ihres Ichs und wurden kaum als personale Gegenüber verstanden. Der Verlust der Objektbeziehungen konnte deswegen nicht betrauert werden, sondern hinterließ gähnende Leere, Verzweiflung und Sinnlosigkeit. Deutlich wird dies auch, wenn Frau Engel beschreibt, daß ihr vor allem die Landschaft fehle und daß in ihrer Heimat jetzt alles klein, mies und häßlich sei. Mit dem Objektverlust schien alles verloren – obwohl Frau Engel objektiv weiterhin ein Haus, zwei Kinder und mehrere Enkelkinder hat. Während Frau Engel vorwiegend die Seite der Depression und Selbstanklage zeigte, spürte die Beraterin die Wut, die mit dem narzißtischen Verlusterleben verknüpft ist. Frau Engel konnte weder ihre Freiheit genießen, noch konnte sie die Beziehung halten oder das, was sie von der ersten und zweiten Beziehung an Gutem erhalten hatte, behalten. Sie hatte wirklich alles verloren. Thierfelder: Sie war auch nicht in der Lage, eine Beziehung zur Beraterin einzugehen, in der sowohl Anerkennung als auch Kritik zugelassen war. Vielmehr erwartete sie auch von dieser vor allem die Erfüllung ihrer Wünsche. Da die Beraterin ihre Wünsche nicht erfüllen konnte und zudem noch ihre dramatischen Gefühle als „normale Trauer“ einordnete, fühlte sich Frau Engel zurückgewiesen und gekränkt. Um nicht noch weiter gekränkt und kritisiert zu werden, brach sie die Beziehung zu dem als böse und kritisch wahrgenommenen Objekt ab, ohne dies sofort zu zeigen. Im Hinblick auf ihre Gottesbeziehung wurde die narzißtische Tönung der Beziehung dadurch deutlich, daß sie nicht mehr beten konnte, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt wurden. Religionspsychologische Konsequenzen Winkler: Das ist für mich nicht mehr als die logische Konsequenz einer entwicklungs- und charakterbezogenen Religionspsychologie. Es gibt eben nicht nur die Grundformen der Angst und deren spezifische Bewältigung: „In weiterer Analogie zur Angst fassen wir Glaube als ein auf die Entwicklung des Menschen bezogenes Erleben auf. Der genannten Staffelung des Angsterlebens entsprechen unter dem gleichen Aspekt ‚Schichten des Glau-
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bens‘.75 Wenn ‚Grundformen der Angst‘76 in konstitutiver Form an der Charakterbildung beteiligt sind, so ist das sicher ebenso von ‚Grundformen des Glaubens‘ anzunehmen: Im Charakter setzt sich den typisch anspannenden Angstmomenten ebenso typisch entspannende Daseinsfreude (als Glaubensmoment) entgegen. Dabei sind Anspannung und Entspannung als komplementäre Modalitäten des Erlebens zu verstehen. Umgekehrt ist der jeweilige Modus des Glaubens in seiner individuellen Prägung vom Charaktertyp des Einzelnen abhängig.“77 Hier liegt ja auch die Begründung für das immer wieder von mir betonte „persönlichkeitsspezifische Credo“.78 Thierfelder: Bei Frau Engel und ihrer psychischen Struktur war es deswegen typisch, daß Gott eigentlich weder eine moralische Instanz noch ein Ordnungshüter war,79 sondern ein Selbstobjekt, das für das eigene Wohlbefinden notwendig war.80 Vor allem war Gottes Existenz jenseits von Zeit und Raum wichtig. Damit verknüpfte Frau Engel eine Vorstellung von Rechtfertigung, die alle Schuld nicht nur vergab, sondern sie tilgte, sie ganz und gar ungeschehen machte, so wie sie dies im Grunde auch von der Seelsorgerin erwartete. Winkler: Das Tragische war, daß diese hysterisch strukturierte Gottesvorstellung bzw. ihre Vorstellung von Vergebung in Konflikt mit den narzißtischen Lebensweisen von Frau Engel geriet. Objekte existierten für sie nicht unabhängig von ihr. Wenn also ein Objekt nicht mehr für Frau Engel da war, war es überhaupt nicht mehr da, es hatte aufgehört zu existieren und hinterließ nur eine gähnende Leere. Und dieser Objektverlust betraf dann nicht nur dieses eine Objekt, sondern alle. Wenn Frau Engel also von ihrer Partnerbeziehung enttäuscht wurde, verloren zugleich alle Objektbeziehungen und auch ihre Gottesbeziehung an Realität.
75
Hier verweist Winkler auf Otto Haendler: Angst und Glaube. Berlin 1950. In seinem Buch Grundformen der Angst, beschäftigt sich Riemann mit den charakterspezifischen Umgangs- und Abwehrformen zur Abwehr von Angst in ihrer existentiellen Bedrohlichkeit. 77 Winkler: Seelsorge. 307. 78 Zur Entwicklung von der Vorstellung des persönlichkeitsspezifischen Credo, vgl. Winkler: Das persönlichkeitsspezifische Credo, aber auch schon früher in Klaus Winkler: Die Funktion der Pastoralpsychologie in der Theologie. In: Richard Riess (Hg.): Perspektiven der Pastoralpsychologie. Göttingen 1974, 105–121; vgl. auch Winkler: Seelsorge. 267– 269. 79 Vgl. Winkler: Vergebung konkret. 17–19. 80 Dies läßt sich m.E. an der Art, wie Frau Engel über das Gebet bzw. über ihr Unvermögen zu beten spricht, ablesen. 76
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Triangulierung und Differenztoleranz Thierfelder: Es wurde auch deutlich, daß Frau Engel Objektbeziehungen – sowohl Partner- als auch Gottesbeziehungen – in einer zweidimensionalen Weise wahrnahm. Es fehlte ihr die Fähigkeit zur Triangulierung,81 d.h. die Fähigkeit, die Verbindung zu einem Objekt in einen Beziehungsraum zu verwandeln, der auch Objektverluste überdauert. Diese Fähigkeit, einen Beziehungsraum zu schaffen, sehe ich in Verbindung mit dem Vermögen, Differenz wahrzunehmen und auszuhalten, ohne einerseits die Beziehung aufzugeben oder andererseits an der Sehnsucht nach Verschmelzung festzuhalten.82 Ich wollte Frau Engel einen Raum bieten, in dem sie über ihre Erfahrungen – so fremdartig sie ihr selbst vielleicht erschienen – reden, diese bedenken und mit den Erfahrungen umgehen konnte. Es war ihr jedoch nur ansatzweise möglich, dieses Angebot wahrzunehmen, wahrscheinlich, weil ihre Scham überwog und die Wut darüber, daß ich ihr keinen Rat und damit Heilung von ihrem Schmerz versprechen konnte und wollte. Vielleicht hätten andere Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie christliche Beraterinnen und Berater die Suche und die Fragen von Frau Engel zur christlichen Verkündigung genutzt oder Trost in diesem Bereich versprochen. Damit wäre jedoch die Achtung vor der anderen Person und ihrer Subjektivität, vor allem vor ihrer Fähigkeit, ihr Leben selbst zu deuten, relativiert worden. Ich als Seelsorgerin oder Beraterin kann Ratsuchenden zwar Hilfestellung verschiedenster Art zum Verständnis des eigenen Lebens anbieten, aber nur in Anknüpfung an eigene Deutungsversuche und nicht in pauschaler Weise, wie Frau Engel das erwartete. Die wichtigste Hilfestellung bleibt das ZurVerfügung-Stellen eines Raums zur eigenen Exploration des Selbstverständnisses und des eigenen Lebens. Dieser darf nicht vorschnell durch Deutungen gefüllt werden und damit die Eigenartigkeit und Differenz zudecken. 81
Zum Konzept der Triangulierung vgl. Ernst. L. Abelin: The Role of the Father in the Separation-Individuation-Process. In: John B. McDavitt/Calvin E. Settlage (Hg.): Separation – Individuation. Essays in Honor of Margaret Mahler. New York 1971, 229–253. Vgl. auch Ernst L. Abelin: Some further Observations and Comments on the Earliest Role of the Father. International Journal for Psycho-Analysis 56/1975, 293–302. Zu einem erweiterten Verständnis des Triangulierungskonzepts vgl. Michael Ermann: Das Dreieck als Beziehungsform. Zur Entwicklungsdynamik der Triangulierungsprozesse. Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik. 34/1989, 261–269. 82 Vgl. Wahl: Glaube und symbolische Erfahrung. 242–247, bes. 242. Dort beschreibt Wahl Differenz-Erfahrung und Differenz-Toleranz als Möglichkeitsbedingung symbolischer Erfahrung und Praxis.
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Winkler: Hier stimme ich mit dir überein, „daß es sich in diesem Gesprächsgeschehen gerade nicht um eine ‚missionarische Gelegenheit‘ im Dienste der Perspektive des Seelsorgers/der Seelsorgerin handelt! Vielmehr geht es bleibend um die Begegnung zwischen verschiedenen Menschen mit deren ganzem Anderssein und Fremdsein. Es ist ein Anderssein, das in seiner individuellen Nuancierung auch individuelle Religionskritik einschließen und verarbeiten kann. Verbindend wirkt über diese bleibende Unterschiedenheit hinweg nämlich nicht nur eine (möglichst deckungs-)gleiche Glaubenseinstellung! Verbindend wirkt vor allem eine analoge Flexibilität im Umgang mit der jeweils eigenen (Glaubens-)Perspektive. Diese anzustreben und sich gegenseitig zu dieser Flexibilität zu verhelfen, gehört zu den unverzichtbaren Zwischenschritten im seelsorgerlichen Gespräch.“83 Thierfelder: Ich stimme dir voll zu. Mir fällt jedoch auf, daß wir die Fallbesprechung hinter uns lassen und wieder in eine allgemeinere Diskussion über Seelsorge und Beratung einsteigen und überlegen, was Differenz für die Methoden und Ziele der Seelsorge bedeutet. Doch auch in eine allgemeinere Diskussion möchte ich manches, was mir beim Nachdenken über das Gespräch mit Frau Engel wichtig geworden ist, noch einbeziehen.
5. Das persönlichkeitsspezifische Credo in der Postmoderne Thierfelder: Bei Frau Engel wurde deutlich, daß sie nicht selbstbewußt zu ihrem Leben und ihren Entscheidungen stehen konnte. Vielmehr schämte sie sich und sah sich als Person, die sich durch eigene Schuld vom Leben ausgeschlossen hatte. Ich vermute, die Scham war auch ein Grund, warum Frau Engel sich an eine Beratungsstelle und nicht an eine Gemeindepfarrerin oder einen Gemeindepfarrer wandte. Sie fühlte sich dem antizipierten moralischen Urteil nicht gewachsen. Sie sah sich als anders, als fremd und schuldig, als nicht akzeptabel und zudem als nicht hilfsberechtigt an, weil sie ihre Ausgeschlossenheit selbst verschuldet hatte, indem sie sich erst von dem einen, dann von dem anderen Mann getrennt hatte. Frau Engel repräsentiert damit den depressiven, von Scham und Minderwertigkeit gekennzeichneten Umgang mit Differenz. Differenz anders zu verstehen, fiel ihr schwer. Um zu einem veränderten Verständnis zu gelangen, müßte sie sich von Vergangenem trennen und es betrauern können. Eine andere Art des Umgangs mit Differenz läßt sich aus Fritz Morgenthalers Satz ablesen: „Look, I am a foreigner!“84 Auf den ersten Blick beinhaltet dieser Ausruf eine dezidierte Selbstausgrenzung: „Schaut her, ich bin ein 83 84
Winkler: Seelsorge. 265. Morgenthaler: Das Fremde verstehen. 9.
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Fremder, ich bin anders als ihr!“ Andererseits kennzeichnet er auch eine Selbstpositionierung und eine aggressiv getönte Offenlegung von Differenz. In diesem Sinn verwendete Morgenthaler diesen Satz, weil er mit seinen andersartigen Bedürfnissen gesehen werden wollte. Damit eröffnete er jedoch auch die Möglichkeit zu Kontakten. Die Menschen um ihn herum konnten sich auf ihn beziehen, ihn fragen, wo er herkomme, und warum er hier sei. Das persönlichkeitsspezifische Credo als Ausdruck von Individualität und Differenz Winkler: Dies sind in analoger Weise auch meine Anliegen, wenn ich für die Ermöglichung eines persönlichkeitsspezifischen Credos plädiere. Es geht mir nicht darum, die Wahrheit zu finden, sondern ein eigenes, höchst persönliches Verhältnis zum Glauben bzw. zur Praxis des Glaubens zu finden. Dies ist für den einzelnen (und auch die einzelne) zum einen ein „Entlastungsakt“: „Er kann aussprechen, was ihn ‚zutiefst‘ bewegt! Er erfährt im seelsorgerlichen Gespräch, daß der christliche Glaube nicht nur mit allgemeinen Vorstellungen und Einstellungen gleichgesetzt werden muß oder Gestalt gewinnen darf, weil ‚man‘ sonst nicht ‚richtig‘, nicht ‚wie die anderen‘ glaubt und deshalb bange sein muß, vielleicht ‚eigentlich‘ gar nicht dazuzugehören. [. . .] Zum zweiten bedeutet die Ermöglichung eines persönlichkeitsspezifischen Credos die Herausforderung zu einer erweiterten Kommunikationsform, die emotionale Befindlichkeiten mitteilbar machen möchte und durch gegenseitige Mitteilung immer weitergehend zu erschließen vermag. Es kommt also darauf an, die individuell ausgeprägten Erlebensformen im Glaubensbereich und die damit verbundene persönlichkeitsspezifische Ausbildung eines tragfähigen Bekenntnisses im seelsorgerlichen Gespräch je länger desto mehr kommunikabel zu machen.“85 Weiterhin bietet die Formulierung eines persönlichkeitsspezifischen Credos oder auch nur der Versuch einer Formulierung die Basis dafür, daß überhaupt individuell verständlich und mit Bezug auf die jeweiligen Lebens- und Glaubensvorstellungen Trost vermittelt werden kann.86 Thierfelder: Das war auch eins der Probleme im Gespräch mit Frau Engel. Sie sprach zwar an einer Stelle über ihre Gebetspraxis und ließ einen positiven Zugang zu Kirche und Religion erkennen, aber im Grunde war kein Gespräch darüber möglich. Sie warf etwas Persönliches von sich und ihrer Frömmigkeit ins Gespräch, aber gleichzeitig entzog sie sich – selbst als sie noch anwesend war. 85 86
Winkler: Seelsorge. 267. Vgl. Winkler: Seelsorge. 269.
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Winkler: Die Beraterin erwartet aber auch ganz schön viel von den Leuten. Frau Engel kommt in die Beratungsstelle, sie kennt die Beraterin nicht, sie sucht nach Rat (in einer Be-Rat-ungsstelle) und diese weist ihre Erwartungen brüsk zurück: „Rezepte haben wir leider nicht.“ Hat die Beraterin sich damit nicht auch dem Gespräch entzogen? Thierfelder: Ich denke auch, das war ziemlich schroff – auch wenn es vielleicht eher ironisch gemeint war. Vielleicht hätte die Beraterin etwas „entgegenkommender“ sein sollen. Aber andererseits war ihr gerade bei Frau Engels bedrängender Ratsuche wichtig, die Beziehung nicht in eine Abhängigkeit zwischen ratsuchender Klientin und ratgebender Beraterin abgleiten zu lassen, sondern der Klientin ihre Souveränität zu belassen bzw. zurückzugeben. Dies ist umso nötiger, wenn sich jemand wie Frau Engel als ein vom Schicksal und den Menschen geschlagenes Opfer darstellt und der Beraterin die Rolle der allwissenden Mutter zuschiebt. Frau Engel arbeitet hier mit einem Verständnis von (Rollen-)Differenz, das von Über- und Unterordnung ausgeht, das jedoch auch jederzeit kippen kann, z.B. wenn sie die Ratschläge der Beraterin ablehnt. Andererseits muß bedacht werden, daß Frau Engel in ihrem Leben mit Strukturen und Normen konfrontiert war, die ihr das Leben als geschiedene alleinerziehende Frau durchaus nicht leicht machten. Dafür möchte ich auch weiterhin den Blick schärfen: daß es inhärente Machtstukturen in der Gesellschaft – und dazu gehört auch die Kirche – gibt, die mehr oder weniger subtil über Normen und Selbstverständlichkeiten entscheiden. Dies wirkt sich wesentlich auf Seelsorge und Beratung aus, weil diese Gespräche nicht im luftleeren, herrschaftsfreien Raum stattfinden.87 Die Begegnung mit Fremdheit und Differenz: Ein innerpsychisches Drama . . . Winkler: Trotzdem finde ich in diesem Gespräch faszinierend, daß die Klientin, obwohl sie deutlich hysterische Züge hat, sich lieber auf das vertraute Elend zurückzieht, statt sich auf unbekanntes Terrain zu begeben und in Beziehung zu einer fremden Person zu treten. Dies untermauert eine These von 87 Auch Annemarie Pieper plädiert zwar einerseits für die „Differenz als Störenfried“ und für die Bewußtmachung von Aus- und Einschließungsverfahren, hält es jedoch andererseits für wichtig, daß Frauen sich diesem Bereich nicht ausschließlich widmen, sondern „nach Einstellungen Ausschau [. . .] halten, die die Fremdheit des bisher nur negativ markierten Weiblichen positiv einzufangen vermögen.“; Annemarie Pieper: Die fremde Frau. Philosophierende Strategien zur Aufhebung von Unterschieden am Beispiel der Geschlechterdifferenz. In: Walz/Lienemann-Perrin/Strahm: „Als hätten sie uns neu erfunden“. 27–40, 40
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mir: Die innere und äußere Begegnung mit dem Fremden ist unausweichlich und bringt eine lebenslange Spannung mit sich. Aber nur, wenn das Drama der Begegnung zwischen „Known and Unknown“,88 „Bekannt und Unbekannt“ nicht in den Ambivalenzen „sicher“ versus „gefährlich“ oder „Alltag“ versus „Versuchung“ oder „Mangel“ versus „notwendige Ergänzung“ verstanden wird, sondern das Unbekannte als eine Herausforderung angenommen wird, ohne es mit übergroßen Sehnsüchten zu überfrachten, könnten solche Begegnungen neue Möglichkeiten mit sich bringen, sich und sein Leben neu zu verstehen und es kreativ zu gestalten. „It is therefore better for the health of the soul when an active, yet sober curiosity is displayed towards the unknown. Good curiosity enables the individual to penetrate into unknown terrain without loosing himself in illusionary wishful thinking. In relation to the unknown future however, something like an “exact fantasy”89 is developed. In this way the daily routine activities will not be openly or secretly relativised by the fascinating unknown.“90 . . . und/oder ein interpersonales Drama? Thierfelder: Aber verkommt damit nicht das äußere Drama der Begegnung mit dem Fremden, dem noch Unbekannten zu einem Stimulus für die eigene Entwicklung? Werden damit nicht die reale Begegnung, d.h. das interpersonale Drama und sein spezielles Setting vernachlässigt? Selbst bei innerspychischen Dramen gibt es ein Machtgefälle. Das Unbewußte hat seinen eigenen Diskurs und seine eigenen Diskursformen und läßt sich nicht ohne weiteres in den bewußten Dialog einbinden. In gleicher Weise ist es illusionär, daß Begegnungen mit dem Fremden und Andersartigen in einem herrschaftsfreien Raum stattfinden, zumal ja schon die Zuschreibung der Kategorie Fremdheit ein Faktor von Machtausübung ist. 88
Vgl. Klaus Winkler: Intrapsychic Drama of the Known and Unknown. Vortrag bei der International Society for Pastoral Care and Counceling, Debrecin/Ungarn 1993 (unveröffentlichtes Manuskript). 89 Dieser Begriff stammt von Harald Schulz-Hencke: Lehrbuch der Psychotherapie. Berlin 1965, 132. 90 Winkler: Known and Unknown. 5; Übersetzung der Verfasserin: „Deswegen ist es besser für die seelische Gesundheit, wenn eine aktive, aber nüchterne Neugierde gegenüber dem Unbekannten entwickelt wird. Gute Neugierde versetzt das Individuum in die Lage, in unbekanntes Terrain vorzudringen, ohne sich selbst in illusionärem Wunschdenken zu verlieren. Hinsichtlich der unbekannten Zukunft kann andererseits so etwas wie eine exakte Phantasie entwickelt werden. Dadurch werden die alltäglichen Tätigkeiten nicht direkt oder indirekt durch das faszinierende Unbekannte relativiert.“
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Winkler: Damit habe ich kein Problem. Ich betone ja immer, daß der Mensch ein ‚zoon politikon‘ ist, aber ich beschränke mich im Wesentlichen auf die innerpsychischen Dramen, zumal in der Pastoralpsychologie noch der Faktor Glaube hinzu kommt – ein Gebiet, wo höchste Individualität und Sensibilität zusammentreffen. Über persönlichen Glauben und die tiefsten inneren Überzeugungen zu sprechen, ist für viele Menschen inzwischen weitaus schwieriger als ihr Sexualleben offenzulegen. Innerpsychische und interpersonale Dramen und ihre Konsequenzen für Christinnen und Christen im kirchlichen Raum Thierfelder: Diese innerpsychischen Glaubensüberzeugungen und die Schwierigkeiten ihrer Artikulation stehen doch auch nicht ohne Kontext im Raum! Im immer noch christlich geprägten Abendland, in der Volkskirche und bei christlichen Gemeindegliedern stehen diese Überzeugungen vielmehr in Beziehung und oft auch in Spannung zu theologischen und kirchlichen Ansprüchen,91 die nicht nur Nächstenliebe, sondern auch „Fremdenliebe“ verkündigen. Wie können diese Ansprüche mit den inneren Vorstellungen, daß das Unbekannte und Fremde, gefährlich, faszinierend und auch beneidenswert ist, vermittelt werden?92 Welche Rolle spielt die biblische Kernaussage, daß das Leiden und die Leidenden auch in ihrer Andersartigkeit nicht von Gott abgewertet und ausgegrenzt werden, sondern einen wesentlichen und oft nicht vermeidbaren Bestandteil des menschlichen Lebens repräsentieren? Diese theologischen und kirchlichen Ansprüche sind nicht nur im Kontext ihrer psychischen Gegebenheiten, wie z.B. der entwicklungspsychologischen Gegebenheiten von Angst und Neugier gegenüber dem Fremden zu sehen, sondern sie müssen weiterhin mit dem Kontext der real existierenden kirchlichen Wirklichkeit vermittelt werden. Inwieweit bietet der kirchliche Raum die Möglichkeit, innere Überzeugungen und Ideale, persönlichkeitsspezifisches Credo und konflikthaftes Erleben zur Sprache zu bringen? Oder ist es ein Ort, an dem nur Normen gepredigt werden oder an anderem Ort nur Ansprüche nach grenzenloser Gastlichkeit und Harmonie vertreten und praktiziert werden?93 Wie kann Kirche zu einem Raum werden, wo Differenz sowohl als religiöse Differenz im Großen, als auch im Kleinen geachtet 91
Vgl. Ringleben: Fremd Sein. Vgl. Michael Klessmann: Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch. Neukirchen-Vluyn 2004, 254. 93 Vgl. das Beispiel einer Kirchengemeinde, in der die offiziell verordnete Gastlichkeit auch Widerspruch auslöst. Fermor: Gemeinde I. 81–90. 92
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wird. Wie kann Kirche zu einem „Dritten Raum“ werden, wo Differentes auf konfessioneller, ökumenischer und interreligiöser Ebene und auf binnenreligiöser Ebene, im Sinne von verschiedenen religiösen Erfahrungen und Frömmigkeitsstilen, ins Gespräch kommen kann? Das Verständnis von Seelsorge und Beratung zwischen (Identitäts-)Idealen und den Realitäten der Postmoderne Winkler: Das sind wichtige pastoralpsychologische Fragen. Sie gehen aber über den Bereich von Seelsorge und Beratung weit hinaus. Vielleicht sollten wir statt dessen zu Deinem Beitrag zum Verständnis von Seelsorge und Beratung zurückkehren. Thierfelder: In der Beratungsarbeit mache ich die Erfahrung, daß bestimmte Ideale von Identität, aber auch von Seelsorge und Beratung relativ weit von der Realität entfernt sind. Dann sind die Vorstellungen von sinnvoller Seelsorge, aber auch von gelungenem Leben nicht vereinbar mit den Verhältnissen von sich überlappenden Diskursen und in sich gebrochenen Identitäten. Dennoch möchte ich auch nicht die postmoderne Unbehaustheit mit ihren pluriformen Sinnsystemen zum Ideal erwählen. Winkler: Sowohl das Festhalten an ganzheitlichen Identitäts- und Glaubensvorstellungen als auch das Festhalten am ‚Nicht-Identischen‘ kann den angemessenen Umgang mit der Realität hemmen. Die Gefahr ist folgende: „An der Stelle einer realitätsbezogenen Glaubensflexibilität bekommt Glaubensstabilität sozusagen einen Wert an sich.“94 Ebenso ist zu bedenken, daß postmodernes Denken, strenges Festhalten am Fragmentarischen, am Unvollkommenen „sich mit einem Gefühl von ‚innerer Überlegenheit‘ verbinden [kann], das sich häufig hinter einer betonten Bescheidenheits- oder auch Demutshaltung versteckt.“95 Diese innere Überlegenheit könnte man z.B. gewinnen, indem man leugnet, sich nach Ganzheit, Kontinuität und Harmonie zu sehnen. Mir liegt nichts daran, die fragmentarische Realität des Hier und Jetzt zu leugnen,96 sondern vielmehr an einer „exakten Phantasie“ von gelingendem Leben festzuhalten, auch und gerade wenn sie in spannungsvoller Differenz zur Erfahrung steht. Thierfelder: Mir wird deutlich, daß ich weder im romantischen Ideal von Ganzheit noch in der postmodernen Idealisierung von Pluralität einen Fluchtpunkt finden kann. Gerade im Angesicht dieser Differenz wird mir 94
Winkler: Seelsorge. 320. Winkler: Seelsorge. 333. 96 Vgl. Henning Luther: Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit. WzM 43/1991, 262–273. 95
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Dein sehr persönlichkeitsspezifisches Credo wichtig. Es ist die Zuversicht, daß die Begegnung zwischen Bekanntem und Unbekanntem nicht zerstörerisch sein muß. Die Spannung zwischen Bekanntem und Unbekanntem sowie Differenz, Zweifel und Streit sind zwar unvermeidbar, aber in Gott werden sie eine Lösung finden und haben sie dort schon gefunden. Diese Zuversicht sehe ich auch in der Glaubensdefinition Deines Seelsorgebuchs: Dort beschreibst Du Glauben als eine vitale Erwartung an das Dasein.97 Dieses Glaubens- und Lebensverständnis macht es möglich, dem Leben und der Zukunft getrost und neugierig entgegenzugehen, mit allem Unbekannten und Fremden, dem wir begegnen werden. Rückblick – Fazit – Ausblick Winkler: Soll dies das in der Theologie notwendige „fromme Schlußwort“ sein? Ich würde lieber mit den Klassikern „Rückblick, Fazit und Ausblick“ enden: Wir sind einen weiten Kreis abgeschritten. Du hast zunächst gezeigt, daß in den gegenwärtigen Seelsorgeentwürfen Fremdheit und Differenz als Kategorien kaum vorkommen und wenn, dann ausschließlich auf einer Seite, auf der Seite der Anderen. Mit Irigarays Theorie stelltest Du einen Ansatz vor, der die absolute und unüberbrückbare Differenz – auch aus strategischen Erwägungen heraus – betont. Es wurde deutlich, in welchen Diskurszusammenhängen – z.B. mit Lacan – Irigaray ihre Ideen entwickelt und inwiefern ihr Denken über sich hinausweist in Richtung auf eine allgemeine Diskurstheorie, die sich von Foucaults Theorie an wichtigen Punkten noch einmal unterscheidet. Die Ethnopsychoanalyse geht dagegen davon aus, daß jede Person sowohl von der Kultur, in der sie lebt, als auch von ihrer jeweiligen Biographie in ihrer Subjektivität bestimmt ist. Die ethnopsychoanalytische Methode hat zum Ziel, diese ethnisch und idiosynkratisch geprägten Subjekte in und durch die Beziehung zu den Forschenden zu verstehen. Dazu stellt die Gegenübertragungsanalyse in all ihren Facetten ein wichtiges Forschungsinstrument dar. Im vierten Kapitel hast Du zum einen Irigarays Diskurstheorie mit Ansätzen der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse verbunden und zum anderen die ethnopsychoanalytische Methode zu einer Analysemethode für Gespräche in der eigenen Kultur weiterentwickelt. Es wurde diskutiert, was diese beiden Analysemethoden zur Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in der vorgestellten Beratungssequenz beitragen konnten. Unser Gespräch im fünften Kapitel ist nahezu ein Kurzdurchlauf durch die Themen der ganzen Arbeit: Bei meinem Seelsorgeansatz kritisierst Du, daß 97
Winkler: Seelsorge. 307.
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die Themen Fremdheit und Differenz wenig Beachtung finden. Den Vorwurf, daß Kultur- und Geschlechterdifferenzen als Themen auch in Bezug auf die Machtfrage in meinen Ausführungen keine Erwähnung finden, muß ich mir wohl zu Herzen nehmen. In der gemeinsamen und zum Teil kontroversen Fallbesprechung fand ich interessant, wie die Frage nach Fremdheit und Differenz und die verschiedenen Perspektiven der Diskursanalyse und der Ethnopsychoanalyse den Horizont der Analyse erweiterten, sowohl in Bezug auf das Glaubensverständnis als auch im Hinblick auf die Hysterietheorie. Die Diskursanalyse ist eine Wahrnehmungsperspektive, die einen völlig anderen Denkansatz als die Psychoanalyse repräsentiert, gerade weil sie die Subjektivität von Personen nahezu ausklammert und von unpersönlichen Regelstrukturen ausgeht. Damit repräsentiert sie jedoch einen Blickwinkel, der ganz anderes ans Licht bringt! Insgesamt sehe ich in Deiner Arbeit vor allem einen Beitrag zu einem Seelsorgeverständnis, das die Erkenntnisse der Psychoanalyse und der Seelsorgebewegung mit einer kritischen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Zusammenhänge in der Postmoderne verknüpft. Damit einher geht ein verändertes Verständnis von Identität, wie sich schon an den Begrifflichkeiten zeigt, die weniger von Geschlossenheit und angesammelten Besitzständen als von Flexibilität, Unabgeschlossenheit und Brüchigkeit gekennzeichnet sind. Mir war jedoch wichtig, daß Du die postmodernen Theorien und Methoden wie z.B. die Diskursanalyse nicht gegen die Psychoanalyse ausspielst und zeigst, daß die Psychoanalyse keine starre, in sich geschlossene Identität „hat“, sondern in sich selbst vielfältig ist – was gerade von ihren Kritikerinnen und Kritikern oft nicht wahrgenommen wird. Interessant fand ich an Deinem Beitrag weiterhin, daß Du nicht mit einer „Definition“ von Seelsorge arbeitest, sondern die Wahrnehmung in den Vordergrund stellst und zeigst, wie diese die Situation verändern, neu strukturieren und neu bewerten, mit einem Machtgefälle versehen oder zur Verständigung öffnen kann. Wesentliches Kriterium für diese umfassendere Wahrnehmung ist die Aufmerksamkeit für Fremdheit und Differenz. Mit dieser Perspektive und diesen Analyseinstrumenten wäre es natürlich höchst interessant, über das Gebiet der Seelsorge hinauszugehen. Welche Erkenntnisse und Perspektiven könnten mit diskursanalytischen und ethnopsychoanalytischen Methoden und mit der spezifischen Aufmerksamkeit für Fremdheit und Differenz in anderen Bereichen der Praktischen Theologie gewonnen werden? Auch in unserem Gespräch warst Du mehrmals versucht, schon diesbezügliche Überlegungen zu beginnen. Was kann diese Perspekti237
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ve zum Beispiel für die Wahrnehmung von Gemeindestrukturen und für die Analyse der Beziehung zwischen Pfarrerin bzw. Pfarrer und den verschiedenen Gruppen und Milieus in der Gemeinde beitragen? Weiterhin würde mich interessieren, wie die Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz mit ethischen Fragen verknüpft werden könnte. Dies ist gerade in zunehmend multikulturellen Kontexten eine Frage, die nicht ausgeklammert werden darf. Wahrscheinlich wäre in diesem Zusammenhang auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit den „postcolonial studies“ wichtig, auf die Du Dich schon mehrfach bezogen hast. In jedem Fall habe ich Deinen Beitrag zu einer erweiterten Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz als sehr anregend und weiterführend empfunden und bin gespannt, wie der Diskurs in der Praktischen Theologie damit weitergeführt wird.
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