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German Pages [288] Year 1998
Hans Günter Hockerts
Drei
(Hrsg.)
Wege deutscher Sozialstaatlichkeit
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Band 76
Im
Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte Herausgegeben von
Karl Dietrich Bracher, Hans-Peter Schwarz, Horst Möller Redaktion: Jürgen
Zarusky
R.Oldenbourg Verlag München
1998
Drei
Wege deutscher Sozialstaatlichkeit NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im
Vergleich
Herausgegeben von
Hans Günter Hockerts
R.Oldenbourg Verlag München 1998
CIP-Einheitsaufnahme
Die Deutsche Bibliothek -
[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte / Schriftenreihe] Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte / im Auftr. des Instituts für Zeitgeschichte hrsg. München : Oldenbourg Früher Schriftenreihe Schriftenreihe zu: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte -
Bd. 76. Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit.
1998 -
Drei
Wege deutscher Sozialstaatlichkeit : NS-Diktatur,
Bundesrepublik und DDR im Vergleich / hrsg. von Hans Günter Hockerts. München : Oldenbourg, 1998 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ; Bd. 76) -
ISBN 3-486-64576-5
Verlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München © 1998 R. Oldenbourg Internet:
http://www.oldenbourg.de
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Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Appl, Wemding ISBN 3-486-64576-5 ISSN 0506-9408
Inhalt Hans Günter Hockerts
Einführung. Rüdiger Hachtmann Arbeitsverfassung. Winfried Süß Gesundheitspolitik Christoph Conrad Alterssicherung. .
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55 101
Günther Schulz Soziale Sicherung von Frauen und Familien. 117 Axel Schildt
Wohnungspolitik. Wilfried Rudioff Öffentliche Fürsorge.
Raphael Experten im Sozialstaat. Quellen- und Literaturverzeichnis. Abkürzungsverzeichnis. Personenregister.
151 191
Lutz
231 259 291 293
Hans Günter Hockerts
Einführung In der international
vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung1
ist
häufig
vom
„deutschen Weg" die Rede. In der Tat: Von Bismarck bis Blüm haben sich einige Grundformen sozialer Sicherung erhalten oder sukzessive ausgebildet, die das deutsche Beispiel von anderen Typen moderner Sozialstaatlichkeit in Europa unterscheiden. Der vorliegende Band verändert indessen den Blickwinkel, so daß die Kontinuitätslinien in den Hintergrund treten und die Vorstellung, es habe „den" deutschen Weg gegeben, modifiziert wird. Die Grundthese des Bandes ist vielmehr diese: Das Weimarer Deutschland hat in einer spannungsreichen Gemengelage verschiedene Optionen und Ordnungsideen bereitgehalten, die dann vom „Dritten Reich", der Bundesrepublik und der DDR in jeweils spezifischer Auswahl aufgegriffen und in besonderen Bahnen fortgeführt worden sind. Daher sind die Verzweigungen der deutschen Sozialstaatsgeschichte nach 1933 zwar mit Weimarer Traditionsbeständen teilidentisch; sie ergeben aber eine deutlich unterscheidbare historia tripartita. Der „völkische Wohlfahrtsstaat" nationalsozialistischer Prägung, der Bonner Sozialstaat, der Demokratie und Kapitalismus in Balance brachte, der planwirtschaftliche Versorgungsstaat der SED-Diktatur so unterschiedlich, ja gegensätzlich haben die Deutschen in ihrer jüngsten Geschichte mit Elementen moderner Sozialstaatlichkeit experimentiert! Daraus folgern die Autoren dieses Bandes, daß es sich lohnt, die internationale Vergleichsperspektive, welche die Komplexität des „deutschen Falls" reduziert, um einen intranationalen Vergleich zu erweitern, der die Differenzierungschancen stärker nutzen kann. Die Beiträge sind aus einer Sektion des 41. Deutschen Historikertages (München 1996) hervorgegangen. Dabei war durchaus jener „Impuls der Gegenwart" wirksam, der einem Diktum Rankes zufolge das Interesse an der Vergangenheit bestimmt. Dies gilt für die Wahl des Sozialstaatsthemas, das die Beiträge mit einem der großen Krisenszenarien unserer Gegenwart verbindet; das gilt auch für die Grundanlage des Dreiervergleichs. Denn somit kommt ein Ensemble in den Blick, das seit der Epochenwende von 1989/90 die gemeinsame Geschichte des vereinigten Deutschlands bildet. Es zählt zweifellos zu den dringlichen Aufgaben der zeithistorischen Forschung, die verschiedenen deutschen Vorgeschichten im Horizont der Vereinigung aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüp-
1
Gang und Stand dieser Forschung bilanzieren Ritter, Sozialstaat; Conrad, Wohlfahrtsstaaten.
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Hans Günter Hockerts
fen, wobei vieles dafür spricht, in der „Weimarer Republik und ihrer Zerstörung"
die „Ausgangskonstellation der Geschichte des vereinigten Deutschlands" zu sehen2. Die unterschiedlichen Stränge der älteren und jüngeren deutschen Zeitgeschichte stärker als bisher miteinander zu verbinden, das darf nun freilich nicht heißen, sie auf unzulässige Weise zusammenzuschieben. Vielmehr kommt es darauf an, neben gemeinsamen Traditionen und Verflechtungen gerade auch spezifische Differenzen herauszuarbeiten. Dazu bedarf es komparatistischer Verfahren, insbesondere des West-Ost-Vergleichs und des Diktaturenvergleichs. Der vorliegende Band versucht, beide Vorgehensweisen miteinander zu kombinieren. Der innerdeutsche
Vergleich im internationalen Zusammenhang
„Demokratie, Faschismus und Kommunismus":
Dieses
„Dreieck",
so
schrieb
Hans Rothfels im Jahre 1953, sei
„in mannigfachem Gegen- und Zusammenspiel" für die internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts konstitutiv geworden3. Auch von seinem Ende her betrachtet zeigt unser Jahrhundert Züge dieses epochalen Konflikts zwischen der liberalen Demokratie und ihren beiden stärksten Gegenbewegungen, wobei der Sozialstaat sich als „reformistische Reaktion auf die Defizite des Liberalismus"4 begreifen läßt. Die deutsche Geschichte spiegelt diese antagonistische Trias in ganz besonderer Weise: Der Nationalsozialismus hat die faschistische Variante ins Extrem des Völkermords und des Zusammenbruchs menschlicher Zivilisation getrieben; in der Bundesrepublik und der DDR sind die beiden anderen Ordnungsentwürfe um den Preis der Spaltung der Nation gewissermaßen territorialisiert und in Kontrastbezug gesetzt worden. Die drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit entsprechen ganz offensichtlich den Grundbedingungen, die sich aus der wechselnden Lagerung deutscher Staatlichkeit im Gefüge des epochalen „Dreiecks" ergeben haben. Schon deshalb tut jede Analyse gut daran, sowohl die besonderen Voraussetzungen der deutschen Geschichte als auch internationale Einflüsse und übergreifende Zusammenhänge zu beachten. Die Lektüre der folgenden Beiträge wird zeigen, daß die Autoren aufs Ganze gesehen den innerdeutschen Faktoren zumeist größeres Gewicht beimessen als den externen Einflüssen. Das ergab sich zum Teil aus der Art der Fragestellung, zum Teil aber auch aus einigen Annahmen und Befunden, die vorab kurz zu erläutern sind. -
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M. Rainer Lepsius, Das Legat zweier Diktaturen, in: Holtmann/Sahner, Aufhebung, S. 25-39, hier S. 30. Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: VfZ 1 (1953), S. 1-8. Vgl. auch Bracher, Krise Europas, wo „Marxismus-Kommunismus; liberale Demokratie; Faschismus-Nationalsozialismus" als epochale Antworten auf den Ersten Weltkrieg dargestellt werden. Zur strittigen Frage, ob und wie der Sonderfall des Nationalsozialismus einem allgemeinen Faschismusbegriff zugeordnet werden kann, vgl. Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontrover-
München 1980. Dieter Grimm, Die sozialgeschichtliche und verfassungsrechtliche Entwicklung Koslowski u. a., Chancen, S. 40-64, hier S. 57. se,
zum
Sozialstaat, in:
Einführung
9
Typenwechsel des Sozialstaats dürfte die ohne weiteres es plausibel sein, endogenen Faktoren stärker zu gewichten als die exogenen. Dieses Extrem im Spektrum möglicher Entwicklungspfade war hausgemacht jedenfalls in erster Linie. Das gilt unbeschadet der in mehreren Beiträgen aufgegriffenen Debatte über die Frage, inwieweit die Konzepte und Entwicklungen des NS-Regimes als Varianten zeittypischer Modelle und Dispute verstanden werden können ob es sich nun um die „Verwissenschaftlichung der Betriebsführung" und die Verheißungen einer technokratischen Lösung sozialer Konflikte handelt, um den Eugenik-Diskurs der Zwischenkriegszeit oder die angloamerikanische social-security-Bewegung im Zweiten Weltkrieg. So ist es zwar strittig, aber durchaus möglich, in den von der „Deutschen Arbeitsfront" (DAF) entwickelten Plänen für ein „Sozialwerk des Deutschen Volkes" einen NS-spezifischen Seitenstrang dieser social-security-Programme zu sehen5. Was die DDR betrifft, so scheint der Begriff der „Sowjetisierung" auf weite Bereiche der sozialstaatlichen Prägung weniger zuzutreffen als auf andere Bauformen und Handlungsfelder der SED-Diktatur. Gewiß war es die conditio sine qua non, daß das Sowjetimperium sich das Gebiet zwischen Elbe und Oder einverleibt hat. Aber das hieß nicht primär: Export oder Oktroi sowjetischer Sozialstaatselemente. Die Bedeutung der Moskauer Oberherrschaft ist in unserem Zusammenhang eher darin zu sehen, daß sie die SED in die Lage versetzte, deutsche Traditionsbestände neu zu sortieren. Dabei hat die DDR, wie die Beiträge zeigen, auf ältere Vorstellungen und Vorbilder im Traditionsstrom der Arbeiterbewegung zurückgegriffen, auf alternative Ideen, die in den Weimarer Jahren nicht oder nur ansatzweise zur Geltung gekommen waren: vom Ambulatorium über die Einheitsversicherung bis zur Sozialhygiene. Zugleich hat die SED-Diktatur paternalistisch-obrigkeitsstaatliche Traditionslinien des deutschen Sozialstaats fortgeführt. Im einzelnen findet man recht unterschiedliche Mischungsverhältnisse von Elementen deutscher Eigenprägung und Tendenzen zur Reorganisation nach sowjetischem Vorbild. Mitunter kann man geradezu von einem „Re-Import" von Regelungen sprechen, welche die Sowjetunion ursprünglich deutschen Einflüssen verdankt hatte6. Für das „Konsummodell der leistungsunabhängigen Bedürfnisbefriedigung", welches das Sozial- und Arbeitsrecht der DDR mehr und mehr durchdrungen hat, ist neuerdings der Begriff „Sowjetisierung des Konsums" vorgeschlagen worden. Dieser Begriff erscheint wenig glücklich, weil er einseitige Zurechnungen begünstigt7. Treffender ließe sich von einem „sozialistischen KonIm Blick auf den nationalsozialistischen
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Recker, Sozialpolitik; Roth, Intelligenz.
Entwicklungslinien, S. 109. Stephan Merl, Sowjetisierung in der Welt des Konsums, in: Jarausch/Siegrist, Amerikanisierung und Sowjetisierung, S. 167-194. Angesichts einschlägiger deutscher Traditionen greift z. B. die Aussage zu kurz, daß die Einführung von Mindestrenten in der DDR das sowjetische Vorbild „kopiert" Manow,
habe (S. 179).
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Hans Günter Hockerts
summodell" sprechen, bei dessen Ausgestaltung die SED über erhebliche Traditionsbezüge und Handlungsspielräume verfügte. Betrachtet man den westdeutschen Sozialstaatsweg nach 1945, so mag ein primär innerdeutscher Erklärungshorizont zunächst nicht recht einleuchten wenn man bedenkt, wie viele Bereiche des westdeutschen Lebens von der westernization" bis ins Mark erfaßt und verwandelt worden sind8. Aber die Sozialstaatsfunktion blieb davon lange relativ wenig berührt. Schon die steile Karriere, die das Wort „Sozialstaat" nach 1945 im westdeutschen Sprachgebrauch nahm, ist aufschlußreich genug. Dieses Wort wehrte die Eindeutschung von „welfare state" ab und somit auch das Eindringen wohlfahrtsstaatlicher Reformideen britischskandinavischer Herkunft (mit allgemeiner Staatsbürger-Grundrente und einem überwiegend steuerfinanzierten nationalen Gesundheitsdienst). Die Westmächte haben bekanntlich die entscheidenden Rahmenbedingungen für die „historische Achsendrehung der Bundesrepublik nach Westen" (R. Morsey) durchgesetzt. Aber die sozialstaatliche Formung der Bonner Republik war in allen wesentlichen Punkten ein Produkt innerdeutscher Debatten und Entscheidungen9. Generell ist ja hervorzuheben, daß die westintegrierten Staaten sich bei der Kontrolle ihrer sozialstaatlichen Komponenten eine viel größere Handlungsautonomie bewahrt haben als in anderen Bereichen. „Sozialpolitik ist heute", so hat Hans F. Zacher 1978 diesen Befund formuliert, „fast überall der größte Schatz der nationalen Politik."10 Freilich haben die Wirkungen der Westorientierung sich seit der Mitte der 1960 er Jahre auch in der sozialpolitischen Sphäre der Bonner Republik bemerkbar gemacht. Das läßt sich z. B. am Übergang zur keynesianisch inspirierten Vollbeschäftigungspolitik oder am wachsenden Ideentransfer in der Sozialarbeit erkennen; auch die bildungspolitische Diskussion bezog damals dezidiert europäische Vergleichsmaßstäbe ein. Und neuerdings wird die sozialpolitische Autonomie des Nationalstaats von verschiedenen Seiten her nachhaltig eingeschränkt. Denn einerseits gewinnt die europäische Dimension der Sozialpolitik im Rahmen der EU an praktischer Bedeutung, und andererseits unterläuft die weltweit wachsende Verflechtung der Finanzmärkte und der Produktionsnetze die Spielräume nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik11. Beide Entwicklungen werden voraussichtlich nicht verhindern, daß die Sozialpolitik weiterhin eine vornehmlich nationale Domäne bleibt, wenn auch unter erschwerten Bedingungen und mit eingeschränkter Geltung12. In den formativen Jahren des westdeutschen Sozialstaats, denen die Aufmerksamkeit dieses Bandes vor allem gilt, lagen die wesentlichen Entscheidungen jedenfalls noch so gut wie ganz in deutscher Hand. -
„
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11 12
Schwarz, Gründerjahre; Schwarz, Epochenwechsel; Doering-Manteuffel, Dimensionen. Hockerts, Entscheidungen. Hans F. Zacher, Horizontaler und vertikaler Sozialrechtsvergleich, in: Ders., Abhandlungen,
S. 376^30, hier S. 380. Vgl. z. B. Schmähl/Rische, Europäische Sozialpolitik; Schmähl/Rische, Internationalisierung. Vgl. die Argumentation bei Kaufmann, Herausforderungen, S. 114-140.
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Einführung Chancen und Probleme des innerdeutschen
Vergleichs
richtig ist, daß die in der „formlosen Gärung der Weimarer Zeit"13 spannungsvoll konfigurierten Elemente auf drei verschiedenen Wegen auseinandergelegt und entfaltet worden sind, dann bietet die deutsche Geschichte eine hervorragende Versuchsanordnung für systematisches Vergleichen: Man lasse den gemeinsamen Ursprung als eine Art ceteris-paribus-Klausel gelten und überprüfe sodann, inwieweit politische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen den
"Wenn
es
Gehalt und die Gestalt des Sozialstaats verwandelt haben. Die Autoren dieses Bandes begeben sich mit einer solchen Problemfassung auf sieben ausgewählte Untersuchungsfelder. Der Blick richtet sich zunächst auf die Regulierung unselbständiger Arbeit durch die Arbeitsverfassung. Es folgen Studien zu zwei großen Kernbereichen des Sozialleistungssystems: zur Gesundheitspolitik und zur Alterssicherung. Weitere Beiträge untersuchen die soziale Sicherung von Frauen und Familien, die Wohnungspolitik sowie die Fürsorge bzw. Sozialhilfe, gewissermaßen das unterste Netz des Sozialstaats, mit besonderer Beachtung der Jugendfürsorge. Die abschließende Studie läßt eine besondere Kategorie von Akteuren hervortreten, die bisher zwar bei der Erforschung des Nationalsozialismus, aber sonst nur wenig oder gar nicht ins Blickfeld der Zeithistorie geraten sind: die „Experten" im Sozialstaat. Das Untersuchungsprogramm sah vor, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit erst einmal möglichst genau zu bestimmen. Solche klassifizierenden Schritte führen dann zu der zentralen Frage: In welchen Kausalzusammenhängen sind die beobachteten Unterschiede zu sehen? In welchem Verhältnis stand die dreifache Umformung zum Wandel der politischen Ordnung, der wirtschaftlichen Verfassung und der kulturellen Wertbezüge? Der Vergleich soll vor allem der Kontrastierung dienen, aber durchaus auch die Frage umschließen, inwieweit etablierte Traditionsbestände über politische Brüche hinweg wirksam blieben. Die Autoren fragen in erster Linie nach dem Sozialstaat als Produkt von Verhältnissen und weniger danach, inwieweit er seinerseits Produzent von Verhältnissen gewesen ist. Der Leser darf also füglich mehr Antworten auf die erste als auf die zweite Version der Frage erwarten. Es liegt nicht in der Absicht dieses Bandes, „die Zubereitung der Speise statt der Speise" zu bieten (J. G. Droysen). Fragen der Theorie und Methode werden daher nicht in den Mittelpunkt gerückt14. Aber ein paar Vorbemerkungen methodologischer Art erscheinen doch ratsam, um auf einige besondere Voraussetzun13
14
Richard Löwenthal, Prolog: Dauer und Verwandlung, in: Löwenthal/Schwarz, Die zweite Republik, S. 9-24, hier S. 11; vgl. auch Joseph Alois Schumpeter, Business Cycles, New York/London 1939, S. 701 f.: Die Weimarer Republik habe damit experimentiert, ob man gleichzeitig eine „kapitalistische" und eine „sozialistische" Politik treiben könne. Hierzu generell Haupt/Kocka, Geschichte und Vergleich; zum Diktaturenvergleich Heydemann/ Beckmann, Diktaturen.
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Hans Günter Hockerts
Dreiervergleichs aufmerksam zu machen. So läßt sich zugleich eine Reihe von Dispositionsproblemen beleuchten, vor die sich die Autoren gestellt sahen. Zunächst ist zu beachten, daß es sich nicht um drei völlig distinkte Vergleichsfälle handelt, sondern um solche, die beziehungs- und wirkungsgeschichtlich miteinander verflochten waren. Daher muß die vergleichende Betrachtung im jeweils gebotenen Maße beziehungsgeschichtlich erweitert und „abgefedert"15 werden. Außerdem haben wir es mit einer Konstellation zu tun, die sich über zwei verschiedene Zeitachsen erstreckt: diachron im Vergleich der beiden deutschen Nachkriegsordnungen mit der NS-Zeit und synchron im Blick auf den Ost-West-Vergleich nach 1945. Daraus ergibt sich eine Mischung aus Nacheinander, Neben- und Gegeneinander, die eine gleichmäßige Erfassung der drei Fälle einschränkt. So setzt z. B. die Frage nach wechselseitigen Einflüssen die Synchronie voraus, hingegen die Frage nach historischer Lernfähigkeit politischer Ordnungen die epochenübergreifende Diachronie. Auch die ungleiche „Lebensdauer" der drei Vergleichsfälle wirkt sich auf die Vergleichsmöglichkeiten aus. Bestimmte Fragen, darunter höchst aufschlußreiche, setzen einen langfristigen Untersuchungszeitraum voraus. Was geschieht, wenn die Sozialpolitik sich in den Konsequenzen der von ihr eingegangenen Ververhält sich die verstrickt? Wie sozialstaatliche Intervention zu den pflichtungen Folgeproblemen, die sie selber schafft? Derartige Fragen lassen sich sinnvoller an die Bundesrepublik und die DDR stellen als an die ebenso katastrophale wie kurze Eruption des „Dritten Reiches". Da der westdeutsche Sozialstaat mehr und mehr unter den Druck solcher Folgeprobleme geraten ist, hat sich längst eine „Sozialpolitik zweiter Ordnung" (F. X. Kaufmann) in den Vordergrund geschoben, die versucht, bereits bestehende Leistungssysteme funktionsfähig zu halten und die von ihnen ausgelösten Wechselwirkungen und Interferenzen zu bewältigen. Noch dramatischer wirkten die langfristig akkumulierten Nebenfolgen der von der SED betriebenen Sozialpolitik, denn es ist offensichtlich, daß „spezifische Eigenschaften der Sozialpolitik der DDR den Zusammenbruch gefördert haben"16. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen „Lebensdauer" weisen alle drei Vergleichsfälle erhebliche Wandlungen und Binnenzäsuren auf. So markiert das Kriegsjahr 1939 für die nationalsozialistische Sozialpolitik in vielfacher Hinsicht einen Einschnitt. Im Blick auf die DDR treten die Ära Ulbricht und die Ära Honecker auseinander gerade auch wegen deutlicher Umgewichtungen im Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der Bonner Sozialstaat durchlief im dritten Nachkriegsjahrzehnt eine Bewegungs- und Gestaltungsphase, die ihn in einigen Sektoren tiefgreifend verändert hat. Solche Binnendifferenzierungen im Zeitvergen dieses
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Jürgen Osterhammel, Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich. Zu künftigen Möglichkeiten komparativer Geschichtswissenschaft, in: GuG 22 (1996), S. 143-164, hier S. 155. Lepsius, Soziale Symmetrie, S. 6.
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Einführung
lauf sind nicht für alle Untersuchungsbereiche gleichermaßen bedeutsam; aber sie sind grundsätzlich zu berücksichtigen und erhöhen die Komplexität des Ver-
gleichs.
Was hat der Dreiervergleich erbracht? Die folgenden Seiten beschränken die resümierende Betrachtung auf einige große Linien und nehmen daher eine recht hohe Verallgemeinerungsstufe in Kauf. Der vielfältig nuancierte Ertrag, verbunden mit der „Wonne, Konkretes zu erfahren"17, bleibt der Lektüre der sieben Beiträge überlassen.
Demokratie und Diktatur Verbindet sich der Sozialstaat mit dem demokratischen Verfassungsstaat, oder löst er sich aus dieser Bindung? Diese Alternative ist im Netz der Interdependenzen so zentral gelagert, daß viele Strukturmerkmale von ihr abhängig sind. Die beiden deutschen Diktaturen haben die demokratischen Komponenten des Sozialstaats zerstört und die Selbstregulierung sozialer Kräfte als Element der Sozialstaatlichkeit ganz oder weithin ausgeschaltet. Das betraf vor allem die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen, wo die Diktaturen so fundamentale Rechte wie die Koalitionsfreiheit und die Autonomie der Tarifparteien verwehrten. Sie ersetzten oder beschnitten aber auch die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung18, die Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege und die eigenverantwortliche Sozialpolitik auf der Ebene der Gemeinden. Während das westliche Deutschland die Austragung sozialstruktureller Konflikte auf eine verfahrensmäßig gesicherte Grundlage stellte, also institutionalisierte, haben NS-Staat und SED-Staat solche Konflikte im Grundsatz geleugnet, also entinstitutionalisiert. Es ist klar, daß sich das sozialstaatliche Institutionengefüge somit nachhaltig veränderte. Ernst Fraenkel hat das NS-Regime bekanntlich als einen „Doppelstaat" charakterisiert19. Seine grundlegende Unterscheidung zwischen „Normenstaat" und „Maßnahmenstaat" meinte vor allem den Dualismus von Staat und Partei. Die Forschung hat seither freilich deutlicher herausgearbeitet, daß das Neben- und Durcheinander von Maßnahmen und Normen mit zwei Prozessen verbunden war, die quer zu den Trennlinien von Partei und Staat verliefen: einem fortschreitenden Antagonismus von Machtgruppen und einem zunehmenden „Wirrwarr der Kompetenzen" (K. D. Bracher)20. Solche polykrati17
18
19 20
Marc
1949).
Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, München 1985, S.
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(E. A.
NS-Regime ersetzte die Selbstverwaltung durch das „Führerprinzip". Daß die Verwaltung der Sozialversicherung durch den FDGB in der DDR „schon bald kaum mehr etwas mit einer tatsächlichen Selbstverwaltung durch die Versicherten" zu tun hatte, zeigen Frerich/Frey, Handbuch, Das
Bd. 2, S. 278.
Fraenkel, The Dual State: A Contribution to the Theory of Dictatorship, London 1941. Zum Gang und Stand der einschlägigen Forschung vgl. Hildebrand, Drittes Reich; v. Hehl, Nationalsozialistische Herrschaft. Ernst
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sehen Tendenzen kamen auch in der Sozialpolitik zum Ausdruck. Neben überkommene Strukturen traten neue Formen und Träger nationalsozialistischer Sozialpolitik, deren unersättlich wuchernde Ausdehnungstendenz sich vor allem am Beispiel von DAF und NSV zeigen läßt. Hingegen durchdrang das Machtmonopol der SED den ostdeutschen Staat so systematisch, daß man grundlegende Struktureigentümlichkeiten der DDR in der „Entdifferenzierung von Funktionen" und „Fusionierung von Institutionen" sehen kann21. So war auch die Sozialpolitik weithin zentralistisch geprägt und hierarchisch gestuft, wenngleich sie zu erheblichen Teilen auf der Ebene und in der Trägerschaft der Betriebe umgesetzt wurde. Auch die SED-Diktatur war insofern ein „Doppelstaat" im Sinne Ernst Fraenkels, als sie die Normen rechtlich gesicherter Verhältnisse unter den Vorbehalt des politisch opportunen Eingriffs und insbesondere der Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit stellte22. Wie die Institutionen änderten sich auch die Funktionen der Sozialpolitik nicht in allen, aber in einigen wichtigen Punkten. Das tritt am Beispiel ihrer veränderten Legitimationsbedeutung besonders klar zutage. Anders als der demokratisch verfaßte Staat konnten die beiden Diktaturen ihre politische Ordnung nicht über demokratische Teilhaberechte legitimieren; sie mußten das um so stärker auf andere Weise kompensatorisch tun. Dabei haben beide Diktaturen mit Bedacht in die Tastatur der Sozialpolitik gegriffen. Beide versprachen soziale Sicherheit um den Preis der Vorenthaltung politischer Freiheit, Sekurität um den Preis des Verlusts von Konfliktfähigkeit. Beide Diktaturen suchten mittels „sozialer Sicherheit" politische Partizipationsansprüche stillzustellen23. Um das Gefühl „Es wird gesorgt" zu vermitteln, dehnten beide Diktaturen vor allem solche Programme aus, die Sozialpolitik im Stil der Betreuung betrieben. So kam es beide Male zu einer auffälligen „Allgegenwart fürsorglicher' Programme und Organisationen"24. Es steht außer Zweifel, daß diese fürsorgliche Belagerung sich im Erfahrungshaushalt vieler Bürger, sah man von der Funktionsbedeutung im Rahmen der Diktatur ab, auch positiv niederschlagen konnte. In der DDR war dieser Zusammenhang stärker ausgeprägt, im NS-Regime schwächer. Denn dieses Regime verfügte über mehr Mittel, um Zustimmung zu mobilisieren. Man denke an die Ausbeutung nationalistischer Gefühle, an den alles überragenden Führer-Mythos oder an jene Konsens-Elemente, die man mit -
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Lepsius, Institutionenordnung. Vgl. das Resümee zum „Doppelstaat" Ulbricht, Berlin 1995, S. 395-404.
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DDR bei Falco
Werkentin, Politsche Strafjustiz
in der
Ära
Bezeichnend ist eine Diagnose in den Deutschland-Berichten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 3 (1936), hrsg. von Klaus Behnken, Frankfurt a. M. 1980, S. 149: „Große Teile der Arbeiterschaft haben geglaubt, durch die Hinnahme des Systems Freiheit gegen Sicherheit eintauschen zu können." Die beiden Zitate treffen beide Regime, obgleich die zitierten Autoren allein den NS vor Augen haben. Das erste Zitat aus Weisbrod, Schein, S. 241; das zweite Zitat aus Timothy W. Mason, Die Bändigung der Arbeiterklasse im nationalsozialistischen Deutschland, in: Sachse u. a., Angst, S. 11-53, hier S. 40.
15
Einführung
dem Modell der charismatischen Herrschaft25 erfassen kann. Aber grundsätzlich gilt der genannte Zusammenhang auch dort, wie der „permanente sozialpolitische Aktionismus"26 und insbesondere der jährliche Propagandawirbel um das
„Winterhilfswerk" zeigt.
Die SED-Diktatur suchte die Zustimmung der Bevölkerung in steigendem, zuletzt ganz entscheidendem Maße über sozialpolitisch vermittelte Leistungen zu erreichen. Die Legitimation des Machtmonopols war am Ende so weitgehend auf die Gewährleistung „sozialer Sicherheit und Geborgenheit" angewiesen, daß die SED sich gezwungen sah, daran auch um den Preis einer beschleunigten Talfahrt in den wirtschaftlichen Ruin festzuhalten27. Mit dem Gegensatzpaar Demokratie/Diktatur läßt sich vieles von dem verbinden, was in den drei Vergleichsfällen jeweils möglich, nötig oder blockiert war. So verhindern die Grundrechte und Verfahrensnormen im demokratischen Staat jene tiefe Spaltung des Sicherheitsbegriffs, die die beiden Diktaturen betrieben, indem sie die Sozialpolitik geheimpolizeilich flankierten. Sie verhießen soziale Sicherheit, bauten aber zugleich auch „Sicherheitsapparate" aus, die Willkür walten ließen, einschüchterten und somit freilich in unterschiedlichem Maße Unsicherheit produzierten. In der Bonner Republik war auch jenes Maß an staatlichherrschaftlicher Aufladung des Gesundheitsbegriffs undenkbar, jene „Gesundheitspflicht", welche die beiden Diktaturen der Bevölkerung auferlegten. Damit war jeweils ein kräftiger Ausbau der Präventivmedizin verbunden. Zu den Merkmalen der beiden Diktaturen zählt ferner die sozialpolitische Fixierung auf das Ziel der Lenkung und der möglichst extensiven Ausschöpfung der verfügbaren Arbeitskräfte. Eine genauere Argumentation würde freilich einige Zwischenschritte erfordern. Der Globus wird ja dutzendweise von Diktaturen bevölkert, denen Fragen der Gesundheitspolitik vollkommen gleichgültig sind und die auch keine besonderen Anstrengungen zur Arbeitskräftelenkung unternehmen. Es kommt also durchaus auf den Charakter der Projekte an, deren Realisierung die beiden deutschen Diktaturen sich jeweils vorgenommen haben. Beide nahmen in totalitärer Absicht gesellschaftliche Umbauprogramme ins Visier; beide überlasteten und überforderten wenn auch in sehr verschiedenen Zusammenhängen die Leistungskraft der Ökonomie, wozu u. a. auch Autarkisierungstendenzen beitrugen. Im Kontrastbezug zur Demokratie läßt sich wohl immer die Funktionsbedeutung, aber durchaus nicht immer die Wahl der Mittel erschließen. So finden wir z. B. eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens nicht nur in der DDR, sondern auch in Großbritannien und in Italien. An Großbritannien erinnert außerdem das Prinzip des „national minimum", auf das die DDR die Rentenversicherung um-
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M. Rainer
Lepsius,
Das Modell der charismatischen Herrschaft und seine S. 95-118.
„Führerstaat" Adolf Hitlers, in: Ders., Demokratie, Frei, Nationalsozialismus, S. 382. Vgl. Hockerts, Errungenschaften.
Anwendung
auf den
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Hans Günter Hockerts
gesteuert hat ganz im Gegensatz zur westdeutschen Rentenreform von 1957, die der Idee der Sicherung des individuell erarbeiteten Lebensstandards zum Durchbruch verhalf. Ein allein auf die deutsche Arena zentrierter Blickwinkel hat also auch Tücken. Denn er hält nach 1933 nur die westdeutsche Meßlatte als eine demokratische bereit. Aber nicht alles, was von der westdeutschen Norm abweicht, ist diktaturspezifisch, wie umgekehrt auch nicht alles Westdeutsche demokratiespezifisch ist. -
Unterschiede im
Diktaturenvergleich
Bisher sind Ähnlichkeiten betont worden, die sich im Vergleich der Diktaturen daraus ergeben, daß beide den Sozialstaat in den Dienst einer Zwangshomogenisierung der Gesellschaft gestellt haben. Aber es fallen auch gravierende Unterschiede ins Auge, und diese wurzeln vor allem in der Divergenz der Ideologien und der kulturellen Wertbezüge. Gerade auch bei der Ausprägung des Sozialstaats hing viel davon ab, ob er mit Ordnungsideen erbbiologisch-rassistischer oder marxistisch-leninistischer Art verbunden wurde. Die rassenbiologische Ausdeutung der „sozialen Frage" hat die sozialpolitische Sphäre nicht nur berührt, sondern tiefgreifend erfaßt. Wie stark Erblichkeitstheorien, Rassenideologie sowie die damit nicht ganz deckungsgleiche völkische Ideologie der „Gemeinschaftsfähigkeit" die Priorität, die Art und den Umfang sozialpolitischer Maßnahmen bestimmt haben: Das hat die historische Forschung eigentlich erst im Laufe der 1980 er Jahre nachdrücklich herausgearbeitet28. Zuvor hatte man sich oft allzu eng im Zirkel konflikttheoretischer Diskussionen über die „Bändigung der Arbeiterklasse" gedreht. Beklemmend deutlich geworden sind die spezifischen Wert- und Unwertkategorien, denen zufolge Teile der Bevölkerung mit expansiver Sozialpolitik zu fördern, andere Teile nicht nur zu vernachlässigen, sondern auszusondern und in letzter Konsequenz „auszumerzen" waren. Um diese Ambivalenz am Beispiel der Geburtenpolitik zu verdeutlichen: Seit langem gilt „Pronatalismus" als ein Kennzeichen des NS-Familienpolitik; bei genauerer Prüfung tritt aber als das eigentliche Unikum der „Antinatalismus" hervor, die Politik der Zwangs- und Massensterilisation29. Die Eindringtiefe der völkisch-gesellschaftssanitären Utopie war dort, wo das Versicherungsprinzip eine eigene, sperrige Funktionslogik ausgeprägt hatte, geringer in anderen Bereichen wie Fürsorge, Gesundheits- oder Bevölkerungspolitik aber um so tiefer. So hat das NS-Regime sowohl die Kategorie der staatsbürgerlichen Gleichheit -
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Wichtige Impulse gab Peukert, Volksgenossen;
als Standardwerk vgl. nunmehr Sachße/Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 278. Vgl. Bock, Gleichheit. Die Bezeichnung „Unikum" bezieht sich auf den innerdeutschen, aber nicht
ohne weiteres auf den internationalen Vergleich; vgl. z. B. Philip R. Reilly, The Surgical Solution. A History of Involuntary Sterilization in the United States, Baltimore/London 1991; Gunnar Broberg/Mattias Tyden, Oönskade i folkhemmet. Rashygien och sterlisering i Sverige, Stockholm 1990.
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Einführung
als auch die allgemeine Geltung des Prinzips der Inklusion außer Kraft gesetzt, dem für die Entwicklung moderner Sozialstaatlichkeit grundlegende Bedeutung zukommt30. Es mehren sich daher die Stimmen, die fragen, ob der Begriff des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats überhaupt sinnvoll auf das NS-Regime anwendbar sei. Manche verneinen das und geben zu bedenken, daß „die Rassenpolitik Vorrang hatte vor der Sozialpolitik, der Massenmord vor der Wohlfahrt"31. Gleichwohl spricht mehr für eine Kategorienbildung, in der der „völkische Wohlfahrtsstaat" als ein „terroristisches Extrem in einem breiten Gesamtspektrum möglicher Entwicklungspfade industriegesellschaftlicher Moderne" erscheint und „nicht als gänzlich aus ihm herausfallender Strukturtyp"32. Neben der Bedeutung völkisch-rassistischer Kriterien sind auch Rolle und Reichweite der technokratischen Intelligenz stärker als früher zu betonen; deren herausragendes Zeugnis ist in den Sozialwerk-Plänen der DAF zu sehen. Es ist hier nicht der Ort, um die totalitären Großideologien des Nationalsozialismus und des Kommunismus sowie die Praktiken ihrer Umsetzung genauer zu vergleichen, zumal sich das Augenmerk dann viel mehr auf Stalins Sowjetunion als auf die DDR richten müßte. Für den innerdeutsch begrenzten und auf das Sozialstaatskonzept beschränkten Vergleich mag die folgende Gegenüberstellung genügen. Die nationalsozialistischen Wert- und Unwertkategorien haben das Prinzip der Ungleichheit radikalisiert. Im Blick auf die positiv „ausgelesenen" und daher „volksgemeinschaftlich" zu integrierenden Teile der Bevölkerung strebte der Nationalsozialismus dann allerdings durchaus nicht nur propagandistisch eine stärkere Egalisierung an33. Hingegen proklamierte die DDR das generelle Ziel der wachsenden Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Aus diesem Programm zur Aufhebung sozialer Unterschiede folgten stark egalitäre Grundzüge bei der Ausformung der Sozialpolitik. Die DDR war nach dem Modell eines Versorgungsstaates konzipiert, der die Grundversorgung der Bevölkerung umfassend und gleichmäßig garantiert. Dazu dienten die Garantie eines Arbeitsplatzes und ein niedrig gehaltenes Preisniveau ebenso wie der kostenlose Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem oder ein weitgehend nivelliertes allgemeines Rentensystem. Allerdings wurde der offiziell verkündete Gleichheitsgrundsatz vielfach durchbrochen. So gab es bei den Renten (halb im verborgenen) vier Sonder- und 27 Zusatzsysteme, und es hoben sich vom allgemeinen Gesundheitswesen 14 privilegierte Systeme ab. Die Kehrseite der „Protektion für besonders Umworbene" lag im „Vorbehalt des Politischen"34, den z. B. Ausreisewillige in Form arbeitsrechthcher Sanktionen zu spü-
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30 31
32 33 34
Marshall, Bürgerrechte. Bericht über die 39.
Versammlung deutscher Historiker in
Stuttgart u. a. 1994, S. 203 (Gisela Bock). Sachße/Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 278. Vgl. z. B. Prinz, Mittelstand. Schmidt, Sozialpolitik, S.
134.
Hannover 23. bis 26.
September 1992,
18
Hans Günter Hockerts
Insgesamt wird man die Kluft zwischen Proklamation und RealiSozialpolitik der DDR relativ hoch veranschlagen müssen, insbesondere auch dort, wo die chronische Knappheit der ökonomischen Mittel bei der Umsetzung sozialpolitischer Vorhaben enge Grenzen setzte. Eine wahre ren
bekamen35.
tät im Falle der
Flut von Ausnahmegenehmigungen, die in der Ära Honecker von Arbeitsschutzvorschriften dispensierte, mag als Beispiel dafür stehen. Demokratisch
verfaßter Sozialstaat
Verbindung von Sozialstaat und Demokratie hat im westdeutschen Vergleichsfall eine Reihe von Eigentümlichkeiten hervorgebracht, von denen hier eine besonders hervorgehoben sei: die Vielfalt eigenständiger Institutionen, die zwischen der Sozialstruktur und der politischen Ordnung vermitteln, also der
Die
weite Bereich der intermediären Institutionen. Dazu zählen nicht nur Parteien und Wahlen, sondern auch Kirchen und Verbände, Assoziationen und Aushandlungssysteme verschiedener Art, insbesondere auch die freien Medien der Kom-
munikation, die jene „Öffentlichkeit" gewährleisten,
von der man sagen kann, daß sie für die politische Sphäre eine ähnliche Funktion übernimmt wie der Markt für das Wirtschaftssystem36. Von den drei Vergleichsfällen hat allein die Bundesrepublik „durch intermediäre Strukturen Interessenpluralität und öffentliche Konfliktaustragung ermöglicht" und damit zugleich die Anpassungselastizität des Sozialstaats gesteigert37. Daher haben sich auch nur in diesem Vergleichsfall Professionen und Experten als wichtige Akteure gesellschaftlicher Interessengruppen und sozialstaatlicher Klientel profilieren können. Die intermediären Instanzen spielten im Vorfeld der Gesetzgebung eine bedeutende Rolle; vieles blieb aber auch ohne direkte Beteiligung des Staates der sektoralen Selbstregelung der Gesellschaft überlassen38. Hier ist vor allem an die außerordentliche Bedeutung der Tarifautonomie zu erinnern. Wie groß die zu Lasten Dritter gehenden Schattenseiten solcher Selbstverwaltungsdomänen sein können, läßt sich am Beispiel des Gesundheitswesens studieren. Auf diesem Regelungsfeld haben mächtige korporative Akteure über Jahrzehnte hinweg derart vorgeherrscht, daß man um es milde auszudrücken von einer asymmetrischen Interessenrepräsentation sprechen muß. Die demokratische Verfassung hat sich als ein Regelwerk zur „Kontrolle der Sozialpolitik" und zugleich als „Antriebskraft" erwiesen. Das gilt insbesondere für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Diese institutionelle Neuschöpfung der Bundesrepublik ist seit Ende der fünfziger Jahre als ein be-
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36 37 38
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Hans-Hermann Lochen/Christian Meyer-Seitz, Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Inneren, Köln 1992. So Luhmann, Wirtschaft, S. 107. Lepsius, Demokratie, S. 7.
Mayntz/Scharpf, Selbstregelung.
Einführung
19
deutender Faktor der Sozialpolitik hervorgetreten39. Zu den Merkmalen der parlamentarischen Demokratie, die sich auch auf die Prioritäten des sozialpolitischen Handelns ausgewirkt haben, zählt nicht zuletzt die Parteienkonkurrenz. So spricht im Blick auf die Alters- und Gesundheitssicherung einiges für die Annahme, daß die Rentnergeneration dank des Gewichts ihrer Wählerstimmen zu den relativen Gewinnern zählt. Die ältere Generation kann offenbar eine Demokratie-Prämie einstreichen40. Dagegen haben die beiden Diktaturen mehr Gewicht auf Programme der Geburtenförderung und der Arbeitskräftegewinnung gelegt, also die jüngere und die mittlere Generation zu Lasten der älteren (und noch mehr zu Lasten z. B. des Schutzes für Behinderte) bevorzugt. Bezieht man die im Diktaturenvergleich erörterte Leitdifferenz von Gleichheit und Ungleichheit nun auch auf den westdeutschen Vergleichsfall, so findet man ein Mischungsverhältnis eigener Art41. Bekanntlich kann sich jeder Bürger der Bundesrepublik auf eine existenzminimale Grundsicherung in Form der Sozialhilfe verlassen. Darüber aber erhebt sich (soweit es sich um Transfereinkommen handelt; im Bereich der Dienst- und Sachleistungen ist das anders) ein ausgesprochen nicht-nivellierendes System, das auf den lebenslang voll erwerbstätigen Arbeitnehmer zugeschnitten ist. Dieses System prämiert mit Hilfe des Äquivalenzprinzips die Dauer und die Höhe des Erwerbserfolgs. Es ist im Kern darauf angelegt, den im Erwerbsleben erreichten relativen sozialen Status zu sichern, und wirkt insofern auch als eine Sicherung gegen die Gleichheit. Wenn man handliche Formeln bevorzugt, könnte man mithin sagen: Typisch für das NS-Regime war die Ambivalenz von Inklusion und Exklusion, für die DDR die nivellierende Inklusion, für die Bundesrepublik die sozial differenzierende Inklusion. -
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Markt und Plan Es ist noch nicht
lange her, da herrschte in einem Teil Deutschlands das folgende Geschichtsbild: Der Hitlerfaschismus repräsentiert den „Klassenkampf von oben", die DDR den „Klassenkampf von unten" und die Bundesrepublik die „Fortsetzung des Klassenkampfes mit anderen Mitteln". Auch eine historia tripartita! Aber sie führt in wichtigen Punkten in die Irre. Rassismus als Gesellschaftspolitik lag nicht primär in der Räson des Klassenkonflikts. Die DDR war Zacher, Vierzig Jahre Sozialrecht Schwerpunkte der rechtlichen Ordnung, in: Blüm/Zacher, Sozialstaat, S. 19-129, Zitat S. 92. Hans-Jürgen Papier, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch, S. 73-124. Zur föderalen Komponente des Bonner Sozialstaats, die ein Spezifikum der Bundesrepublik in unserem Dreiervergleich bildet, vgl. neuerdings Münch, Sozialpolitik. Conrad, Gewinner; vgl. auch Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz. Die Rentenreform 1972 ein Lehrstück, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.), Hans F.
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Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 903-934. Hans F. Zacher, Soziale Gleichheit. Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Gleichheitssatz und Sozialstaatsprinzip, in: Ders., Abhandlungen, S. 129-165. -
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Hans Günter Hockerts
keine Diktatur des Proletariats, sondern eine Parteidiktatur im Namen einer ideologisch konstruierten Arbeiterklasse. Und was die Bundesrepublik betrifft, so gibt es angemessenere Problemfassungen, z. B. die folgende42. Es kennzeichnet marktwirtschaftliche Verfassungen, daß sie den privatautonom dezentral konkurrierenden Unternehmen erlauben, sich strikt an Kriterien der Rentabilität zu orientieren. Eine solche Freisetzung der Unternehmen von der Verpflichtung auf zahlreiche andere Kriterien, die gesamtgesellschaftlich sinnvoll sein mögen, steigert ihre ökonomischen Effizienzchancen ganz wesentlich. Damit wird aber zugleich bewirkt, daß die Unternehmen eine Reihe von Voraussetzungen und Folgen ihrer Wirtschaftstätigkeit nach außen verlagern, d. h. „externalisieren" können. Der Sozialstaat erscheint dann insoweit als eine Veranstaltung zum Auffangen solcher Externalisierungen43. Diametral anders war das verstaatlichte Produktionssystem der DDR aufgebaut. Hier waren zahlreiche Versorgungs- und Betreuungsfunktionen in die Betriebe hineinverlagert, d.h. „internalisiert". Das in unserer Gegenwart aufregendste Beispiel bezieht sich auf das Risiko des Ungleichgewichts von Angebot und Bedarf an Arbeitskräften. Dieses Risiko wird von den marktwirtschaftlich konkurrierenden Unternehmen „externalisiert" und dann sozialstaatlich in Form einer besonderen Arbeitslosenversicherung aufgefangen. Dagegen hat die DDR dieses Risiko mit planwirtschaftlicher Lenkung der Arbeitskräfte in Schach zu halten versucht und im übrigen in die Unternehmen hineinverlagert, wo es dann in der Form ineffizienter Beschäftigungsverhältnisse geregelt wurde44. Umgekehrt formuliert hat die SED aus der Not ineffizienter Beschäftigungsverhältnisse die Tugend eines „Rechts auf Arbeit" gemacht45. In ganz anderem Zusammenhang hat auch das NS-Regime die Arbeitskräfte, als sie im Rüstungsboom knapp wurden, mehr und mehr aus den Marktbeziehungen herausgenommen, um sie hoheitlich zu erfassen und einzusetzen. Der westdeutsche Sozialstaat fing aber nicht nur die von den Unternehmen externalisierten Kosten in der einen oder anderen Weise auf, sozusagen als bloß abhängige Variable des „Marktes". Er setzte dem dort vorherrschenden Rentabilitätsprinzip auch Prinzipien eigener Art gegenüber, womöglich auch entgegen,
Anlehnung an Lepsius, Interessen; Ders., Institutionenanalyse; Hans F. Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Ders., Abhandlungen, S. 257-278. Damit ist ein wesentlicher Teil, aber keineswegs der gesamte Radius des Sozialstaats bzw. der Ausweitung der sozialen Komponente im Recht erfaßt. Für einen Gesamtüberblick über die Wohlfahrtssektoren vgl. Ritter, Sozialstaat; Schmidt, Sozialpolitik; Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof, Staatsrecht, S. 1045-1111; oder aufs knappste zusammenfassend FranzXaver Kaufmann, Sozialpolitik, in: Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg i. Br. 1993, Sp. 998-1005. Kurt Vogler-Ludwig, Verdeckte Arbeitslosigkeit in der DDR, in: Ifo-Schnelldienst 43 (1990), In
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Nr. 24, S. 3-10, schätzte die verdeckte Arbeitslosigkeit auf etwa 15 % der Beschäftigten. Mit den Worten von Jürgen Kuczinsky, Probleme der Selbstkritik. Sowie von flacher Landschaft und vom Zickzack der Geschichte, Köln 1991, S. 37: Die Vollbeschäftigung sei keine „Leistung der Partei" gewesen, sondern Folge des Umstands, daß „wir" im Vergleich zum Westen „etwa doppelt so viele Arbeiter brauchten, um die gleiche Menge Waren und oft noch in niedrigerer Qualität herzustellen". -
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Einführung
insbesondere das Prinzip der sozialen Sicherung. Daraus entstand ein weitgespanntes arbeitsrechtliches Kontrollsystem gegenüber der Vertragsfreiheit und ein weitverzweigtes Regelwerk zur sozialpolitischen Umverteilung der am Markt erzielten Einkommen. Zugleich hat der Sozialstaat einen großen Teil der Nebenund Folgekosten des Faktors Arbeit wieder in die Betriebe zurückverlagert, was man leicht daran erkennt, daß die Unternehmer über zu hohe Lohnnebenkosten
klagen.
komparatistischen Zusammenhang ist es entscheidend, daß die Geltungskraft der Prinzipien der Rentabilität und der sozialen Sicherung im westdeutschen Vergleichsfall auf verschiedene, jeweils spezialisierte Institutionen verteilt ist, die in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander stehen. Daher lag und liegt eines der Hauptprobleme bundesrepublikanischer SozialpoliIn
unserem
tik darin, in diesem Zustand der Dauerspannung immer aufs neue zu vermitteln. Solche Balanceakte fielen in den verflossenen Zeiten der großen Prosperität leichter, denn damals galt: „Auch die relativen Verlierer haben im Zusammenhang mit dem gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß absolut viel gewinnen können."46 Die Suche nach Gleichgewichtspunkten ist viel schwieriger geworden, seit günstigenfalls nur mit einem mäßig wachsenden Sozialprodukt zu rechnen ist und die Wirtschaft, selbst wenn sie wächst, eher Arbeitsplätze als Arbeitslosigkeit abbaut. Die SED hat es als ihre größte Errungenschaft gewertet, daß sie mit dem Übergang zur Zentralplanwirtschaft eine derartige Dauerspannung grundsätzlich beseitigt hat. Damit hat sie aber zugleich die Geltungskraft von Kriterien der wirtschaftlichen Effizienz entscheidend vermindert47. So entstand eine neue Konfiguration, die sich auf Gehalt und Gestalt der Sozialpolitik in vielfacher Hinsicht gravierend ausgewirkt hat, wie im folgenden etwas näher verdeutlicht werden soll. Die Hauptquelle des Wirtschaftswachstums der DDR war immer „extensiver", nie „intensiver" Art. Das heißt: Sie speiste sich weniger aus der flexiblen Nutzung als vielmehr aus der Vermehrung der im Produktionsprozeß eingesetzten Produktionsfaktoren, und das bedeutete nach Lage der Dinge vor allem eine ständige Erhöhung des Arbeitskräftevolumens. So erklärt sich eine eigentümliche „Doppelstruktur" der DDR-Sozialstaatlichkeit, die man als eine Mischung aus „welfare state" und „workfare state" kennzeichnen kann48. Einerseits war die Bevölkerung in ein umfassendes Netz leistungsunabhängiger Grundversorgung einbezogen. Damit nahm die DDR Tendenzen des „welfare state" auf, trieb sie freilich ins Extrem, da sie den Bürgern nicht nur weitgehenden, sondern vollständigen Schutz gegenüber Marktkräften zusicherte. Andererseits waren weite Teile des Sozial- und Arbeitsrechts anfangs stärker mit Elementen des Drucks und -
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Knut
Borchardt, Die Bundesrepublik in den säkularen Trends der wirtschaftlichen Entwicklung, in:
Conze/Lepsius, Sozialgeschichte, S. 20-45, hier S. 21. Das wird besonders eindrucksvoll Schmidt, Sozialpolitik, S. 134.
herausgearbeitet von Pirker u. a., Plan als Befehl.
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Zwangs, später mehr mit Mitteln des Anreizes so angelegt, daß möglichst alle Bürger mit einem möglichst großen Teil ihrer Tages-, Wochen-, Jahres- und Lebenszeit in die Sphäre der Erwerbsarbeit überführt und dort gebunden wurden. Hier liegt auch der Hauptgrund für die so stark hervorstechende Frauen- und Familiensozialpolitik in der Ära Honecker. Sie zielte darauf, die Frauenerwerbsquote maximal zu steigern, praktisch auf 100 Prozent, aber so, daß die Geburtenhäufigkeit nicht sank, sondern ebenfalls stieg, weil die SED aus bevölkerungspolitischen letztlich auch wieder arbeitspolitischen Gründen die Norm der -
Drei-Kinder-Familie durchzusetzen trachtete. Die „Enteignung der Kapitalisten" scheint weil damit der vollständige Schutz gegenüber Marktkräften verbunden war in der DDR-Bevölkerung durchaus nicht unpopulär gewesen zu sein. Aber das verstaatlichte Produktionssystem geriet dann seinerseits wegen seiner notorisch schwachen Effizienz unter steigenden Legitimationsdruck. Somit senkte sich auf die sozialpolitischen Stützpfeiler eine doppelte Kompensationslast. Sie hatten nicht nur die mangelnde demokratische Fundierung des politischen Systems legitimatorisch auszugleichen, sondern mehr und mehr auch die Effizienzschwäche des ökonomischen Systems. Denn die offenkundigen Mängel der Wirtschaftsverfassung konnten, verrechnete man sie mit den staatlichen Versorgungsgarantien, in einem günstigeren Licht erscheinen. Tatsächlich entwickelte sich die Gewährung und Erwartung „sozialer Sicherheit und Geborgenheit" so lautete die Standardformulierung seit der Mitte der 1970 er Jahre zu einer der wenigen tragfähigen Brücken des Einverständnisses zwischen der Parteiführung und größeren Kreisen der Bevölkerung49. Daher blieb der SED in der Ära Honecker nicht viel anderes übrig, als die Sozialpolitik streckenweise immer weiter von der ökonomischen Rationalität abzukoppeln und an den „sozialen Errungenschaften" auch um den Preis schrumpfender Investitionen und wachsender Auslandsverschuldung festzuhalten. Insofern lebte die SED-Diktatur zunehmend von der Substanz, auf Pump und auf Kosten der Zukunft. Ob und inwieweit der Sozialstaat mit dem Gegenüber des „Marktes" zu rechnen hat, zählt zu den wichtigsten Leitdifferenzen jeder Sozialstaatstypologie50. Der West-Ost-Vergleich kommt hier zu eindeutigen Ergebnissen. Der nationalsozialistische Vergleichsfall ist damit aber weniger deutlich zu erfassen. Denn das privatwirtschaftliche Eigentum blieb zwar weithin unangetastet, die Lenkungsfunktionen des Marktes wurden aber mehr und mehr rüstungs- und kriegswirtschaftlich überformt und außer Kraft gesetzt. Neben der Biologisierung des politischen Denkens haben daher vor allem Funktionsimperative, die sich aus der Vorbereitung und Durchführung des Hegemonialkriegs ergaben, das Gesicht der NS-Sozialpolitik bestimmt. -
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zeigt, daß die Bürger der neuen Bundesländer, soweit sie zu verkläneigen, nahezu ausschließlich das „sozialistische Modell der Sozialpolitik" vor Augen haben; vgl. Gabriel, Orientierungen. So auch bei Esping-Andersen, Worlds, der den Grad des Schutzes vor Marktkräften zu einer Differenzierungsdominante der „three worlds of welfare capitalism" erhebt. Was sich im nachhinein daran
renden Rückblicken
Einführung
Kontinuitäten, Die drei
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Wechselwirkungen, Wiedervereinigung
Wege deutscher Sozialstaatlichkeit verliefen nicht völlig separat; sie wa-
vielmehr durch Elemente der Kontinuität, der Beziehungs- und Wirkungsgeschichte auf komplizierte Weise miteinander verbunden. Dabei bestätigt sich in einigen Blickwinkeln der Sozialstaatsgeschichte, was Hans-Peter Schwarz gewissermaßen in Weitwinkelperspektive formuliert hat: daß „die Kontinuitäten zwischen dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik doch sehr ausgeprägt" waren, während „im kommunistischen Herrschaftsbereich ein sehr viel radikalerer Traditionsbruch als im deutschen Westen" erfolgte51. Insbesondere der Beitrag über die Alterssicherung betont die „Pfadabhängigkeit" institutioneller Entwicklungen vom Kaiserreich bis zur Bonner Republik stark, wobei freilich zu beachten ist, daß mitunter der Austausch weniger Elemente genügte, um größere Funktionszusammenhänge zu verändern. Auch die DDR führte einige Traditionslinien fort, teils kontinuierlich, teils in Form des Rückgriffs auf alternative Muster der Weimarer Zeit. So lebte z. B. in den Wirkungsmöglichkeiten von Caritas und Diakonie, die in der DDR trotz aller Einschränkungen ungleich größer waren als irgendwo sonst in Osteuropa, die deutsche Tradition der Freien Wohlfahrtspflege weiter. In den Beiträgen werden neben institutionellen Kontinuitätslinien auch solche personeller Art sichtbar. Dabei gilt das Augenmerk nicht der Jagd nach Fällen, die man irgendwie skandalisieren kann, sondern der Frage, inwieweit, warum und mit welcher Wirkung die drei Wege von personellen Kontiren
nuitäten abhängig waren. Die beziehungsgeschichtliche Erweiterung des Vergleichs schließt die Frage ein, wie die Erfahrung des „Dritten Reiches" in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten verarbeitet worden ist. Da fallen große Unterschiede und Gegensätze auf. So war z. B. Sozialpolitik als Bevölkerungspolitik in der Bundesrepublik lange diskreditiert, in der DDR nicht. Die ärztlichen Standesorganisationen waren in der DDR diskreditiert, in der Bundesrepublik nicht. Bei der Gabelung der Sozialstaatswege nach 1945 ist beiderseits ziemlich kräftig und selektiv mit Geschichte argumentiert worden, und es ist nicht immer leicht zu unterscheiden, wo es sich um eine authentische Aufarbeitung von Geschichte als Argument handelt und wo man es mit etwas durchaus anderem zu tun hat, nämlich mit dem taktischen Gebrauch von Geschichte als Instrument. Indessen geriet nicht nur die „Bewältigung der Vergangenheit" in das Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts; die deutschen Polarisierungszwillinge haben sich vielmehr in allen Grundfragen der inneren Ordnung und äußeren Orientierung heftig voneinander abgegrenzt. Welche spezifischen Wirkungen dem Konkurrenzverhältnis und gegenseitiger Einflußnahme auf dem Gebiet der Sozialstaatsentwicklung zuzurechnen sind, dies ist eine noch weitgehend offene Frage. Schwarz, Bundesrepublik, S. 51.
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Hans Günter Hockerts
Einzelforschung zu leisten52; außerdem stellen sich hier besonschwierige Fragen der Gewichtung von Wirkungsanteilen in komplexen Wirkungszusammenhängen. Bilden, um nur ein Beispiel zu geben, die „Verbürgerlichung" der Gesundheitsberufe im Westen und ihre „Entbürgerlichung" im Osten so etwas wie eine dialektische Einheit? Wäre der standespolitische „Traum" der westdeutschen Ärzteschaft in den fünfziger und sechziger Jahren weniger weit in Erfüllung gegangen, hätte man nicht auf den „Alptraum" östlich der Elbe verweisen können? Das ist kenntnisreich und zugespitzt so dargestellt worden53, wird in diesem Band aber gehörig relativiert. Insgesamt ist man gut beraten, als Grundtatsache eine starke Asymmetrie zu beachten: Das höhere Eigengewicht, die größere Vielfalt an Optionschancen und internationalen Bezugskreisen, die stärkere Wirtschaftskraft, all das lag nun einmal und zwar mehr und mehr auf der westdeutschen Seite. Die neuerdings häufig behauptete, bisher aber nur punktuell nachgewiesene Bedeutung der Systemkonkurrenz für die Ausgestaltung des Bonner Sozialstaats54 hat sich wohl im wesentlichen in den fünfziger Jahren erschöpft. Dagegen hat die DDR sich niemals essentiell aus der Sogwirkung der westdeutschen Vergleichsgesellschaft lösen können, und das gilt sowohl für die Volkserfahrung als auch für das ElitenHier ist noch viel
ders
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handeln. „Auf uns drückt der Wettbewerb mit Westdeutschland", hielt Ulbricht in einer internen Besprechung 1965 fest, und er fügte hinzu: „Das, was wir vor zehn Jahren noch sagten, daß wir überlegen sind, Renten, Krankenversicherung, hat sich jetzt umgekehrt. Westdeutschland ist besser; auch in der Krankenversi-
cherung."55
Die drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit sind, wie erinnerlich, in übergreifenden Zusammenhängen eines epochalen „Dreiecks" zu sehen. Daher bezeich1945 und 1989/90 zunen zwei große Epochenzäsuren dieses Jahrhunderts das Ende der dieser zweier Wege. Somit ließe gleich spezifischen Ausprägung sich sagen, daß der westdeutsche Weg sich als der Königsweg der deutschen Sozialstaatsgeschichte erwiesen hat. Aber ebensowenig wie mit dem Überraschungssieg der liberalen Demokratie über die kommunistischen Diktaturen „das Ende der Geschichte" gekommen ist, hat jene Dauerspannung an Schärfe verloren, die oben als Strukturmerkmal des demokratisch-marktwirtschaftlichen Sozialstaats-
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zeigt z. B. Lutz Wienhold (Köln) in einer noch unveröffentlichten Studie, daß ArbeitsschutzStrategien, die in den 1950er Jahren in der DDR entwickelt wurden, auch in der Bundesrepublik aufgegriffen worden sind. Zu den in Ost und West geführten Auseinandersetzungen um Beibehaltung oder Abschaffung, Ausdehnung oder Einschränkung des „Hausarbeitstages", der 1943 für erwerbstätige Frauen eingeführt worden war, vgl. Carola Sachße, Ein „heißes Eisen". Ost- und westdeutsche Debatten um den Hausarbeitstag, in: Gunilla-Friederike Budde (Hrsg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997. In diesen Debatten spielte das „Argument der Systemkonkurrenz" nur „eine geringe Rolle". Manow, Entwicklungslinien. Vgl. z. B. Dietrich Mühlberg, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der DDR, in: Kaelble u. a., Sozialgeschichte, S. 62-94, hier S. 90, Anm. 54. Niederschrift über eine Beratung zwischen Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR am 18. 9. 1965, zit. nach Schmidt, Dialog, S. 124f. So
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Einführung
typs hervorgehoben worden ist. Im Gegenteil: Wenn nicht alles täuscht, so steckt der bundesrepublikanische Sozialstaat inmitten seiner bisher schwersten Bewährungsprobe. Schon die Vereinigung selbst stellt ungewöhnlich große Anforderungen an das sozialstaatliche Leistungsvermögen. Außerdem treffen grundlegende Herausforderungen verschiedener Art zeitgleich zusammen. Man denke an Symptome wie die steigende Sockelarbeitslosigkeit und die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses56: Solche Umbrüche im Arbeitsmarkt machen es schwieriger, die Erwerbstätigkeit weiterhin als zentrale Kategorie für die Rentenversicherung zu verwenden. Man denke an die demographischen Verschiebungen, die da imdie mer mehr Menschen alt und immer mehr alte Menschen sehr alt werden Kosten der Alters- und der Gesundheitssicherung in neue Dimensionen treiben. Man könnte sogar so weit gehen, alarmierende Parallelen zur Lage um 1930 zu konstruieren. Auch damals drückte das Problem der Massenarbeitslosigkeit auf das Gefüge des Sozialstaats. Und vor allem: Das Kriterium der internationalen Konkurrenzfähigkeit beherrscht heute, da die Standortkonkurrenz gewissermaßen die Systemkonkurrenz abgelöst hat, die sozialpolitische Debatte so stark wie zuletzt um 1930. Besorgt ließe sich daher fragen, ob der deutsche Sozialstaat am Ende seiner historia tripartita wieder bei einer Weimarer Problemlage angelangt, gewissermaßen zum Ausgangspunkt zurückgekehrt sei. „Bonn ist nicht Weimar", aber wird „Berlin wieder Weimar"? Solche Parallelen würden aber, alles in allem, sehr in die Irre führen. Die Unterschiede wiegen weit schwerer als manche Ähnlichkeit zwischen damals und heute. Nicht nur, weil das Sozialprodukt (pro Kopf) heute auf einem fünf- oder sechsmal höheren Niveau liegt57, sondern vor allem auch wegen eines tiefgreifenden Wandels der politischen Kultur und dank der festen Integration Deutschlands in die vielfältigen Verbundsysteme des Westens. -
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Von 1970 bis 1996 hat sich der Anteil abhängig Beschäftigter ohne dauerhaften Vollzeitarbeitsplatz von einem Sechstel auf ein Drittel erhöht mit weiter steigender Tendenz. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Vorschläge der Kommission „Fortentwicklung der Rentenversicherung", Bonn 1997, S. 44. Albrecht Ritschl/Mark Spoerer: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktstatistiken (1901-1995), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/2, S. 27-54. -
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Rüdiger Hachtmann
Arbeitsverfassung Regeln, nach denen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber als soziale Kontrahenten formieren und ihre Interessen zur Geltung bringen, und ebenso die Modalitäten, nach denen die Arbeitsbeziehungen einem realen oder fiktiven gesamtgesellschaftlichen Interesse zu- und untergeordnet werden, berühren in allen hochindustrialisierten Gesellschaften immer auch den Kern des politischen Gesamtsystems. Zugleich spiegeln die jeweiligen Arbeitsverfassungen das Selbstverständnis der herrschenden Eliten wie die allgemein-politischen Konstellationen. Dies gilt nicht zuletzt für die drei deutschen Gesellschaftssysteme, die hier zur Debatte stehen1. Folgende Aspekte sollen vergleichend diskutiert werden: das Koalitionsrecht (also Formen und Funktionen von Gewerkschaften/Arbeitgeberverbänden); die überbetrieblichen, in die Sphäre unmittelbarer staatlicher Einflußnahme fallenden Rechte der Arbeitnehmer bzw. Restriktionen, denen sie ausgesetzt waren; Tarifrecht und Tarifpolitik, eingeschlossen einige knappe Ausführungen zur Arbeitsgerichtsbarkeit; die Stellung der innerbetrieblichen Vertretungsorgane der Arbeitnehmer sowie das Arbeitskampfrecht. Einleitend wird auf den Gemeinschaftsbegriff im kollektiven Arbeitsrecht und die ihm zugrundeliegenden Bedeutungsinhalte ausführlicher eingegangen. Denn ohne den Gemeinschaftsbegriff sind die je nach System spezifischen Ausformungen der Arbeitsverfassungen nicht zu verstehen.
Die
Gemeinschaftsbegriff Grundgesetz des „Dritten Reiches", dem sogenannten Geder nationalen Arbeit (kurz: AOG) vom Januar 1934, wurde Ordnung die „Betriebsgemeinschaft" zu einem rechtlichen wie politischen Kernbegriff. InIm arbeitsrechtlichen setz zur
Auf die Veränderungen der Arbeitsverfassungen während der zwölf Jahre, die das sozialökonomisch und politisch besonders dynamische „Dritte Reich" überdauerte, während der vierzig Jahre DDR und der (bisher) 48 Jahre Bundesrepublik kann ich nur am Rande eingehen. Verzichtet wird außerdem darauf, die Arbeitsverfassung anderer hochindustrialisierter (westeuropäischer) Staaten auch nur kursorisch zum Vergleich heranzuziehen. Wichtig wäre diese Vergleichsebene, weil sich so herausfiltern ließe, ob allen Brüchen und Unterschieden zum Trotz vor allem in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, vielleicht auch in der DDR, bei der Konzipierung und Ausformung der Arbeitsverfassungen spezifisch deutsche Wege beschritten wurden. Peter Hübner danke ich für zahlreiche Anregungen. -
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Rüdiger Hachtmann
„Betriebsgemeinschaft" entschied gemäß Artikel 2 des AOG der „Betriebsführer", also im Regelfall der Unternehmer, „der Gefolgschaft gegen-
nerhalb der
über [wie die Arbeitnehmer fortan bezeichnet wurden] in allen betrieblichen Angelegenheiten". Diese wiederum hatte „ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten"2. Deutlicher ließ sich kaum formulieren, daß den Arbeitnehmern keinerlei Mitwirkungsrechte eingeräumt werden sollten, der Unternehmer dagegen wieder „Herr im Hause" sein sollte. Allerdings blieb die „Betriebsgemeinschaft" und damit der Unternehmer als „Betriebsführer" immer der „Volksgemeinschaft", d. h. den vom NS-Regime vorgegebenen politischen Zwekken, untergeordnet. Die „Volksgemeinschaft" galt als „Ganzgemeinschaft", die „Betriebsgemeinschaft" als Teilgemeinschaft. Die von NS-Ideologen und NS-Arbeitsrechtlern auf die Spitze getriebene Gemeinschaftsideologie war gegen das Vertragsdenken als Ausdruck des verhaßten bürgerlich-liberalen Individualismus gerichtet3. Mit dem Gemeinschaftsbegriff, so wie er während der Herrschaft des Nationalsozialismus Anwendung fand, wurden soziale Unterschiede und Gegensätze freilich nicht völlig negiert. „Volks-" und ebenso „Betriebsgemeinschaft" wurden als hierarchische Gemeinschaften begriffen. Die bestehenden innerbetrieblichen Macht- und Entscheidungsstrukturen wurden nicht etwa ignoriert, sondern sollten mit dem AOG eindeutig und einseitig entschieden werden zugunsten des „Betriebsführers". „Betriebsführer" und „Betriebsgemeinschaft" waren wiederum der „Volksgemeinschaft", d. h. den Interessen des Regimes, untergeordnet. Jeder „Volksgenosse" besaß nur als Glied der „Volks-" und einer Teilgemeinschaft Daseinsberechtigung. Nicht nur der ideologische, auch der arbeitsrechtliche Gemeinschaftsbegriff bezog sich auf „Volk" und „Rasse"4. Dies wiederum -
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RGBl. 1934, S. 45. Auch mit Blick auf das AOG bleibt freilich einzuschränken: Das NS-Herrschaftssystem war polykratisch. Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit war ein Kompromiß der Herrschaftsträger des NS. 1934 war die Stellung der Industrie als Bündnispartner stärker als in späteren Phasen der NS-Herrschaft. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß nicht NS-Ideologen, sondern Ministerialbeamte, die traditionellen Vorstellungen der Schwerindustrie nahestanden, diesem Gesetz weitgehend ihren Stempel aufdrücken konnten. Formal bewegte sich das AOG noch im Rahmen des überkommenen Arbeitsrechts, in den Kategorien von Ernst Fraenkel: des Normenstaats, auch wenn die im Vergleich zum vorherigen Arbeitsrecht weit größere Zahl an Generalklauseln bereits anzeigte, wohin die Reise gehen sollte. In späteren Jahren des NS-Regimes hätte ein arbeitsrechtliches Grundgesetz, wenn es denn überhaupt geschaffen worden wäre, vermutlich deutlich anders ausgesehen. Allen Anstrengungen zum Trotz ließ sich das „Vertragsdenken" freilich nicht gänzlich „ausmerzen". Zwar suchte man den Stellenwert des Einzelarbeitsvertrages zu mindern; es kam jedoch zu keiner Neuformulierung des Individualarbeitsrechts. Vgl. ausführlich Kranig, Lockung, S. 95-107. In materieller sozialpolitischer bzw. sozialökonomischer Hinsicht erhöhte sich sogar der Stellenwert des Einzelarbeitsvertrags: Da Tarifverträge nicht mehr existierten, Tarifordnungen nicht mehr regelmäßig an die konjunkturellen und Arbeitsmarkt-Entwicklungen angepaßt wurden und damit an Bedeutung verloren, substituierte der Einzelarbeitsvertrag im „Dritten Reich" bestimmte Elemente des tariflichen Kollektivrechts. Im Konkreten erhöhte sich seine Bedeutung vor allem mit Blick auf die Fixierung der effektiven Lohn- und sonstigen Arbeitsbedingungen. Die zeitgenössische Arbeitsrecht-Literatur läßt hieran keine Zweifel; vgl. exemplarisch Günther Küchenhoff, Volksgemeinschaft und Reich, in: Erich Volkmar/Alexander Elster/Günther Küchenhoff (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. VIII: Der Umbruch 1933/36, Berlin/ -
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Arbeitsverfassung
hieß, daß
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Volksgenosse" in den Genuß der arbeits- und tarifSchutzregelungen kam, die das NS-Regime noch ließ. Für sogenannte „Fremdrassige" galten jeweils abgestufte Sonderrechte, bis hin zur gänzlichen Schutzlosigkeit vor allem für „Ostarbeiter" und Juden. Der arbeitsrechtliche Gemeinschaftsbegriff war so restriktiv definiert, daß außerdem politische Gegner, nur
der „deutsche
rechtlichen
allem Kommunisten und Sozialdemokraten, aus der „Volks-" und „Betriebsgemeinschaft" ausgeschlossen werden konnten. Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, vor allem an industriellen Facharbeitern, führte allerdings dazu, daß die meisten politischen Gegner des NS-Regimes aus den Reihen der Arbeiterbewegung spätestens ab 1935/36 wieder einen Arbeitsplatz erhielten. Die Jahre 1933 und 1945/49 markieren mit Blick auf das Arbeitsrecht keine so scharfe Lücke, wie man gemeinhin anzunehmen geneigt ist. Viele der vor 1933 maßgeblichen Arbeitsrechtler prägten das nationalsozialistische Arbeitsrecht und kamen in der Bundesrepublik erneut zu Ehren5. Es gab nicht nur ausgeprägte personelle Kontinuitäten. Darüber hinaus sind strukturelle Kontinuitäten unübersehbar. Die Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs steht hierfür beispielhaft. „Gemeinschaft" und davon abgeleitete Termini wie „Volksgemeinschaft" oder „Werksgemeinschaft" waren schon während der Weimarer Republik zentrale Ideologeme. Die erstaunliche Wirkungskraft des Gemeinschaftsbegriffs während der zwanziger Jahre erklärt sich wesentlich aus der Konstruktion und breiten Resonanz eines Mythos von Frontgemeinschaft, die (so die Fiktion) erst durch den „Dolchstoß" vom November 1918 zum Scheitern gebracht worden sei. Um die positiv besetzte „wesenhafte", „natürliche" Gemeinschaft herauszuheben, wurde der durch die politischen und sozialökonomischen Krisen der Weimarer Republik diskreditierte Gesellschaftshtgrlii, als angeblich künstliche, zweckhafte Konstruktion, zur Negativfolie. Die dominierenden Schulen des deutschen Staatsund ebenso des deutschen Arbeitsrechts verbanden auf nationaler Ebene den Gemeinschaftsbegriff mit einem veränderten, „neuen" Volksbegriff, den man der liberaldemokratischen Kategorie des „Staatsbürgervolks" gegenüberstellte. Im „neuen" Volksbegriff wurde „Volk" mit spezifisch sozialen, kulturellen und politischen Bedeutungen assoziiert, die auf eine rechtlich nicht präzise faßbare „Volksnatur" insistieren6. Beide Begriffe wurden bereits in den zwanziger Jahren
vor
Leipzig 1937, S. 773-794, insbesondere S. 781 ff. Je nach politischer Opportunität konnte das Scherassistischer Diskriminierung und Stigmatisierung auch durchbrochen bzw. umgestellt werden. Deutlich wird dies besonders am Beispiel der italienischen Fremdarbeiter und der „Italienischen ma
Militärinternierten", deren rassistische Herabstufung
5 6
1943 einer kollektiv-politischen Bestrafung gleichkam. In der DDR wie der Bundesrepublik galten und gelten dagegen alle arbeitsrechtlichen Regelungen im Grundsatz auch für ausländische Arbeitskräfte. Vgl. hierzu vor allem Washner, Arbeitsrechtskartell, insbesondere S. 373-380. Der „alte", auf liberaldemokratischen Traditionen fußende Volks-Begriff lag als Kern zentralen republikanischen Schlagworten wie „Volkssouveränität", „Volkswille" oder „Volksstaat" zugrunde; er geriet deshalb parallel zur wirtschaftlichen und politischen Krise der Weimarer Republik in nega-
tiven Geruch, um nach 1933 dann zugunsten des „neuen", mit „Volksnatur" assoziierbaren und relativ beliebig instrumentalisierbaren Volksbegriffs zu verschwinden. Zur Zweiteilung des Volksbegriffes vgl. ausführlich Lepsius, Begriffsbildung, insbesondere S. 14-18 und S. 29-37.
30
Rüdiger Hachtmann
zu dem der „Volksgemeinschaft" zusammengezogen7 und ließen sich dann von den Nationalsozialisten leicht für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Auf der Ebene des einzelnen Unternehmens verschmolz der Gemeinschaftsbegriff mit einem für zahlreiche Konnotationen und Interpretationen offenen Werksbegriff zur „Werksgemeinschaft"8. Die breite (in sich heterogene) „Werksgemeinschafts-Bewegung" war eine Reaktion auf den angeblichen Gemeinschzitsverlust der nach Meinung vieler, auf die patriarchalischen Vorkriegsverhältnisse fixierter Konservativer von Klassendenken und Klassenkämpfen geprägten Weimarer Gesellschaft. Die „organische Werksgemeinschaft" wurde in den zwanziger Jahren als betriebliche Organisationsform oder im zeitgenössischen Jargon: „wesensmäßige Daseinsform" propagiert, die der „Selbstsucht" und dem „schlimmsten Egoismus" einen Riegel vorschieben, d. h. auf einzelbetrieblicher Ebene die Gegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern harmonisieren und eine überbetriebliche Organisierung von „Kapital" und „Arbeit" überflüssig machen sollte. So irrational und antiquiert der Gemeinschaftsbegriff auf der betrieblichen Ebene wirkt in der Perspektive der Zeitgenossen war er dies nicht. Denn die in den zwanziger Jahren entwickelten Konzepte „Werksgemeinschaft" und „Betriebsgemeinschaft" basierten zum Teil auf modernen betriebssoziologischen Forschungen, lehnten sich an US-amerikanische, tayloristische und fordistische Vorbilder an9 und ließen sich relativ komplikationslos mit „Rationalisierung" vereinbaren10. Das Reichsgericht und das 1927 gegründete Reichsarbeitsgericht machten den Gemeinschaftsbegriff juristisch salonfähig und zu einer zentralen Rechtskategorie, indem sie einzelne, auslegbare Bestimmungen des Betriebsrätegesetzes, das 1920 als politischer Kompromiß entstanden war11, einseitig interpretierten. Der -
7
Begriffsdualismus Gemeinschaft/Gesellschaft ist mit ähnlichen Bedeutungsinhalten terminologisch getrennt, was im Terminus „Volk" noch in einem Begriff angelegt ist; vgl. ebenda, S. 49-53, Im
-
s
-
9 10
11
-
S. 58-62 und S. 66-69. „Werk" und später ebenso „Betrieb" wurde ähnlich wie auf nationaler Ebene „Volk" nicht mehr nur als nach rationalen Kriterien organisierte („künstliche") Einheit aufgefaßt, sondern zusätzlich mit Attributen wie „organisch", „wesensmäßig" etc. aufgeladen und für unterschiedliche Interpretationen offengehalten. Die „Werksgemeinschaftsidee" verband sich nicht zufällig mit vehementer Kritik am „einseitigen Materialismus". Gefordert wurde ferner (da scheint der spätere „Betriebsführer" durch) statt eines anonymen Betriebsmanagements eine „echte" persönliche, möglichst charismatische „Führung"; vgl. hierzu ausführlich Haacke, Betriebsführung, S. 9-23. Vgl. Krell, Personalpolitik, S. 85 ff., S. 114 und S. 118 ff.; Frese, Betriebspolitik, S. 449 f. Vereinbaren ließen sich „Rationalisierung" und „Gemeinschaft" auch deshalb, weil der Rationalisierungsbegriff für höchst unterschiedliche Interpretationen offen war und sich bis zum Einbruch der Weltwirtschaftskrise vorzüglich als „Zauberformel" und „Nebelkerze" verwenden ließ; vgl. als Uberblick hierzu Hachtmann, Industriearbeiterschaft, insbesondere S. 214-220. Allerdings blieb die Stellung zur „Rationalisierung" ein wesentlicher Dissenspunkt der „Werksgemeinschaftsbewegung". Manche, eher gewerkschaftlich orientierte Anhänger der „Werksgemeinschaft" wollten eine Abkehr von der Rationalisierung; für den starken Unternehmerflügel der Bewegung war die „Werksgemeinschaft" umgekehrt überhaupt erst Voraussetzung für „echte Rationalisierung"; vgl. Haacke, Betriebsführung, S. 24 f. Anknüpfungspunkte waren §§ 1, 66 und 68 des Betriebsrätegesetzes vom 4. 2. 1920. Die genannten Artikel gingen von prinzipiell gemeinsamen Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus und -
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Arbeitsverfassung
Arbeiter sei, so formulierte das Reichsarbeitsgericht in einem Urteil unmittelbar Einbruch der Weltwirtschaftskrise, „organisches Mitglied des Betriebes", „nicht mehr bloßes Werkzeug des Unternehmers, sondern ein lebendiges Glied der zwischen diesem und der Arbeitnehmerschaft bestehenden Arbeitsgemeinschaft"12. NS-Ideologen, NS-Arbeitsrechtler und NS-Betriebspraktiker brauchten im Grunde nur aufzunehmen und weiter zuzuspitzen, was Betriebssoziologen und Arbeitsrechtler in der Zeit der Weimarer Republik vorbereitet hatten. Bemerkenswert ist, daß die Kategorie „Gemeinschaft" bzw. die ihr zugrundeliegenden Bedeutungsinhalte auch in der DDR einen beträchtlichen Stellenwert besaßen. In den Verfassungen der DDR von 1968 und 1974 heißt es im Artikel 41, „die sozialistischen Betriebe" seien „eigenverantwortliche Gemeinschaften, in denen die Bürger arbeiten und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten"13. Im „Gesetzbuch der Arbeit" (GdA) von 1961 wurde der Gemeinschaftsbegriff gleich in zwei Paragraphen verankert: Der § 16 steht unter dem Titel „sozialistische Gemeinschaftsarbeit", und im § 106 wird „die sozialistische Arbeitsdisziplin" zur Vorbedingung der „Durchsetzung der gemeinschaftlichen Interessen aller Werktätigen in der sozialistischen Gesellschaft" erklärt. Die Gesellschaft der DDR basiere nämlich, heißt es im § 106 des GdA weiter, „auf der grundsätzlichen Übereinstimmung der Interessen der Gesellschaft und des einzelnen und umschließt die kameradschaftliche Zusammenarbeit, die gegenseitige Hilfe und Achtung sowie die gewissenhafte Erfüllung aller Arbeitsaufgaben zur Verwirklichung der Betriebspläne"14. Auch höchste staatliche Funktionsträger des SEDRegimes zeigten wenig Scheu, den durch den Nationalsozialismus wie man annehmen möchte eigentlich diskreditierten Gemeinschaftsbegriff zu verwenden: Ulbrichts Diktum von der „sozialistischen Menschengemeinschaft", das er auf dem VII. Parteitag der SED im September 1967 zum offiziösen Motto machte, steht hierfür beispielhaft15. Schlagworte wie dieses und die zitierten Artikel aus dem „Gesetzbuch der Arbeit" von 1961 machen deutlich, daß auch die ostdeutsche Arbeitsverfassung auf einem Konzept von Gemeinschaft basierte. Das sei et-
vor
-
-
verpflichteten den Betriebsrat, den Betriebsfrieden zu wahren und alles zu unterlassen, was das Ge12
13
14
15
meininteresse verletzen könne. RAG-Urteil vom 20. 6. 1928, in: Reichsarbeitsgericht, Arbeitsrechtssammlung, Bd. 3, S. 116ff., hier: S. 120. Ähnlich bereits das Reichsgericht am 6. 2. 1923. Vgl. vor allem Otto Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts. Eine kritische Untersuchung zur Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, in: Abhandlungen zum Arbeitsrecht, 7. Heft, Mannheim/Berlin/Leipzig 1931, zit. nach: Blanke u. a., Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 247-276, hier insbesondere S. 259 ff.; ferner Johannes Bähr, Entstehung und Folgen des Arbeitsgerichtsgesetzes von 1926, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 523; Winkler, Schein, S. 509 und S. 714. In der ersten DDR-Verfassung von 1949 kam der Gemeinschaftsbegriff auch in der Präambel explizit vor. Ziel des „deutschen Volkes", das sich die DDR-Verfassung gegeben habe, sei es, „das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten". Vgl. Roggemann, DDR-Verfassungen, S. 154, S. 175 f. und S. 200. Gesetzbuch der Arbeit, S. 34 bzw. S. 87. Das Schlagwort „sozialistische Menschengemeinschaft" wurde bereits seit 1964 verwandt und verschwand dann seit 1971 aus dem offiziellen Sprachgebrauch; vgl. Kiessmann, Staaten, S. 340. Zum folgenden vor allem Lepsius, Institutionenordnung, S. 25 ff.
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näher erläutert. Zunächst zu den Rahmenbedingungen: In der DDR waren die meisten Wirtschaftsunternehmen bekanntlich verstaatlicht. Im Unterschied zum polykratischen, also auf mehreren Herrschaftssäulen basierenden NS-System war das politische System der DDR monolithisch-hierarchisch organisiert und zentralistisch strukturiert. Der einzelne Betrieb war bürokratisch in die Volkswirtschaft eingegliedert, die Funktion des Unternehmers (von einem marginalen, stetig schrumpfenden Privatsektor abgesehen) abgeschafft. Es bestand eine hierarchisierte Gesellschaft von Staatsangestellten. „Die Deutsche Demokratische Republik", heißt es im Artikel 1 der Verfassungen von 1968 und 1974, „ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."16 Der politische und soziale Wille der „Arbeiterklasse" als der nominellen Miteigentümerin des „Volkseigentums" wurde mit der Politik der SED gleichgesetzt, mit diesem politisch-verfassungsrechtlichen Trick eine Art proletarischer Volksgemeinschaft konstruiert. Behauptet wurde eine grundsätzliche Interessenidentität von Partei, Staat, Betriebsleitungen, Belegschaften und letztlich auch dem einzelnen Arbeitnehmer. Den Belegschaften und Individuen war dieses bekanntlich nicht unbedingt bewußt. Sie verfolgten vielmehr störrisch eigene Interessen, wie vielfältige Widerspenstigkeiten unmißverständlich zeigten. Die SED-Führung praktizierte deshalb eine autoritär-paternalistische Politik, nach dem Motto: Die „Vorhut der Arbeiterklasse" weiß, was für letztere richtig ist, und setzt sich gegebenenfalls über den subjektiven Willen der einzelnen Glieder der „Arbeiterklasse" hinweg. Die dieser Denkhaltung zugrundeliegende Logik weist, worauf der sozialdemokratische Arbeitsrechtler Franz L. Neumann bereits Anfang der fünfziger Jahre hingewiesen hat, gewisse Ähnlichkeiten mit der Konstruktion des nationalsozialistischen Gemeinschaftsbegriffes auf17: „Wenn das Eigentum Gemeineigentum wird, dann hört es auf, fremdes Eigentum zu sein; die Gewalt des Eigentums ist dann nicht mehr fremde Gewalt, der Arbeitnehmer beherrscht sich dann selbst, es besteht eine volle Identität von Herrschern und Beherrschten [. .]. Der Faschismus, der Nationalsozialismus, der Bolschewismus" argumentierten so. Die „Interessen und Rechte der Arbeitnehmer" würden einem „Gemeinschaftsinteresse" untergeordnet, „das in der Regel von denen bestimmt wird, die die Macht im Betriebe ausüben, gleichgültig, ob es kapitalistische oder sozialistische Machthaber sind". Neumann forderte deshalb: Den „Begriff der ,Gemeinschaft', so schön er klingt", solle man „aus Deutschland austreiben". Gemeinschaft könne „nur existieren, wo Interessenidentität existiert: in der Familie, vielleicht in der
was
.
16
17
Der Begriff „Arbeiterklasse" war in der DDR im allgemeinen ziemlich weit gefaßt und schloß (mindestens) auch die Angestellten ein. Letzteres war zwar im Marxschen Sinne nicht „korrekt", aber im
Hinblick auf das DDR-Wirtschafts- und Sozialsystem, das die Statusunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten einzuebnen bemüht war, konsequent. Der gleichfalls häufig (auch im Arbeitsrecht) benutzte Begriff „Werktätige" wurde noch weiter gefaßt und bezog alle unselbständig Erwerbstätigen ein. Zum ideologischen Charakter dieser DDR-Sozialkategorien vgl. Hübner, Arbeiterklasse, S. 206. Neumann, Arbeitsrecht, S. 1 ff.
Arbeitsverfassung
33
Gewerkschaft". Ansonsten könne „der Gemeinschaftsbegriff sehr leicht zu einem ideologischen Instrument der autoritären Herrschaft werden", zu dem er im Nationalsozialismus und mit anderer Terminologie in der DDR geworden ist. Zumindest in den ersten Jahrzehnten blieb der Gemeinschaftsbegriff auch in der Bundesrepublik eine arbeitsrechtliche Zentralkategorie; auch hier wurde mit der Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs18 der ursprüngliche Sinn des Arbeitsrechtes als ArbeitnehmeocÄ^fzrecht, als Sonderrecht für die Arbeitnehmer, partiell unterlaufen: Das bis in die sechziger Jahre hinein einflußreichste Lehrbuch des Arbeitsrechts betonte, auch das bundesdeutsche Arbeitsrecht fuße auf der Prämisse, daß der Betrieb eine „organisierte Gemeinschaft" sei und der „entwickelte Gemeinschaftsgedanke" eine „tiefere, auch ethische [und] soziale Bedeutung" besitze19. Daß der Gemeinschaftsbegriff, also die innige Zusammenbindung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu Werks-, Betriebs-, Arbeits- und Organisationsgemeinschaften, die sozialen Gegensätze und profanen Machtverhältnisse im Betrieb terminologisch kaschiert, ignorierten die führenden Arbeitsrechtler in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Beruflich und politisch in der Weimarer Republik sozialisiert, konnten oder wollten sie nicht sehen, daß mit „Gemeinschaft" assoziierte soziale Harmonie und Klassenlosigkeit utopisch sind und auch der Gemeinschafts-Begriff einer Gesellschaft, die auf Pluralität und der Anerkennung sozialer Gegensätze basiert, nicht angemessen sein kann20. Da18
nicht nur im bundesdeutschen Arbeitsrecht zu einer Renaissondern auch in der betrieblichen Sozial- und Personalpolitik und den „normativen Personallehren". Zum Teil wurden (das kann hier nicht ausgeführt werden) zentrale Elemente der „Werksgemeinschafts"- und Betriebsführungskonzepte, wie sie in Deutschland in den zwanziger Jahren entwickelt wurden (vor allem von Nicklisch und Fischer), über den Umweg „Japan" (und USA) in jüngster Zeit als neue „Unternehmenskultur" wieder in die Bundesrepublik reimportiert. Der neuen Begrifflichkeit ist dies aufgrund sprachlicher Verfremdung, vor allem der Eindeutschung US-amerikanischer Termini, freilich kaum mehr anzusehen; vgl. im einzelnen Krell, Personalpolitik, insbesondere S. 168 ff. und S. 212 ff.; Haacke, Betriebsführung, S. 94 ff. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, S. 4 bzw. S. 25 f.; ähnlich auch dies., Grundriß, S. 17. Neben dem Gemeinschaftsbegriff taucht an anderer Stelle auch die „Treuepflicht" des Arbeitnehmers, gleichfalls ein Kernbegriff des AOG, als arbeitsrechtliche Kategorie wieder auf; vgl. ebenda, S. 20; dies., Lehrbuch des Arbeitsrechts, S. 216, sowie (besonders nachdrücklich) Hueck, Treuegedanke (mit Blick auf das Arbeitsrecht), S. 13. „Im Vordergrund" des Einzelarbeitsverhältnisses stünden gleichfalls „personenrechtliche Beziehungen, die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Gemeinschaftsverhältnis begründen. Wie jedes Gemeinschaftsverhältnis wird deshalb das Arbeitsverhältnis von dem Grundsatz beiderseitiger Treue beherrscht"; Hueck/Nipperdey, Grundriß, S. 21. Zugleich freilich betonen Hueck und Nipperdey ausdrücklich die Schutzfunktion des Arbeitsrechts; vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, S. 3 bzw. S. 20; dies., Grundriß, S. 19. Die Kommentare von Hueck/Nipperdey sind hier nicht nur deshalb angeführt, weil sie bis weit in die sechziger Jahre maßgeblich blieben. Hueck und Nipperdey verfaßten außerdem bereits vor 1933 und ebenso nach 1933 einflußreiche Kommentare zum jeweils geltenden Arbeitsrecht. Sie repräsentieren insofern besonders eindrucksvoll personelle wie inhaltliche Kontinuitäten. Vgl. Dahrendorf, Sozialstruktur, S. 45. Dahrendorf betont dort in seiner Analyse des „Betriebes als Zwangsverband" „in aller Schärfe" und implizit gegen das Gemeinschafts-Ideal vieler Arbeitsrechtler und Soziologen gerichtet, „daß Konflikt und Wandel keineswegs eine ,Krankheit' der sozialen Institutionen, eine Abweichung von ihrem Normalzustand sind, sondern diesen erst Leben und Zukunft verleihen". Der
Gemeinschaftsbegriff gelangte
sance,
19
20
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Rüdiger Hachtmann
hinter standen weit zurückreichende Traditionen und tiefverwurzelte Abneigungen: In der Perspektive der Arbeitsrechtler der frühen Bundesrepublik suggerierte der liberal verfaßten, modernen Industriegesellschaften und Unternehmen angemessenere Terminus „Vertragsgesellschaft" im Unterschied zum Gemeinschaftsbegriff emotionale Kälte21. Daß die „Vertragsgesellschaft" indes den Vorteil hat, nicht realitätsfernes Ideal zu sein, sondern den konkreten sozialen Konstellationen, dem betrieblichen „Zwangsverband als einem höchst explosiven Gebilde gegensätzlicher Interessen" (Dahrendorf)22 Rechnung zu tragen und den divergierenden Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in immer wieder erneuerten Kompromissen gerecht zu werden sucht, wurde und wird auch heute noch gern verdrängt. Im Unterschied zum „Dritten Reich", zur DDR und stärker auch als jedenfalls die herrschende Arbeitsrechtslehre der Weimarer Republik war die westdeutsche Arbeitsverfassung von Anbeginn allerdings durch Elemente demokratischer Konfliktregulierung und Kompromißbildung entscheidend geprägt. Die weitere Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs in Teilbereichen des bundesdeutschen Arbeitsrechts wurde von vertragsgesellschaftlichen Elementen durchbrochen und wesentlich abgeschwächt. Bereits die Existenz verschiedener Säulen, auf denen die bundesdeutsche Arbeitsverfassung ruht, nämlich erstens der Betriebsverfassung mit dem Betriebsrat, zweitens den von autonomen Tarifparteien ausgehandelten Tarifverträgen sowie drittens dem vom Gesetzgeber fixierten Arbeitsrecht23, ließ ein ungehindertes und fatales Wirken des Gemeinschafts-Ideologems nicht zu. Eingerahmt und abgesichert werden Tarifautonomie und demokratische Arbeitsverfassung durch eine über das Grundgesetz verankerte Konfliktstruktur, vor allem durch das Streik- und das Koalitionsrecht.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Das
„Volks-" und „Betriebsgemeinschafts"-Konzept der Nationalsozialisten, in
Abgrenzung zum angeblichen Klassenkampf-Konzept der Gewerkschaften und Arbeiterparteien der Weimarer Republik entwickelt, schloß eigenständige Arbeitnehmerorganisationen aus. Folgerichtig gab es im „Dritten Reich" seit dem 2. Mai 1933 keine „Tarifparteien" mehr. Die Deutsche Arbeitsfront (DAF) war keine Gewerkschaft. Ihr sollten vielmehr „alle schaffenden Deutschen" angehören. Formaliter gehörte auch die Unternehmerschaft der Arbeitsfront an. Allerdings wurden ihre Organisationen als korporative Mitglieder aufgenommen. Tat21
Vgl. ders., Gesellschaft,
S. 154 f. Dahrendorf spricht dort von einer regelrechten (weit in das zurückreichenden) „deutschen Ideologie", die die „schöne Gemeinschaft" mit der „herzlosen Vertragsgesellschaft der Gegenwart" wertend konfrontiere. 19. Jahrhundert
22 23
Ders., Sozialstruktur, S.
13 und S. 47. Die Arbeitnehmer-Mitbestimmung im Unternehmensbereich als vierte Säule spielt für die bundesdeutsche Arbeitsverfassung nur eine untergeordnete Rolle und bleibt hier ausgeblendet.
35
Arbeitsverfassung
sächlich behielten sie ihre Eigenständigkeit und entwickelten sich zu einem Hauptkontrahenten der Arbeitsfront, die innerhalb des Herrschaftssystems des NS ihre Kompetenzen stetig auszudehnen trachtete. Im politisch-wirtschaftlichen System fungierten Reichswirtschaftskammer, Reichsgruppe Industrie etc. ähnlich wie vordem der Reichsverband der Deutschen Industrie und andere Unternehmervereinigungen in erster Linie als Lobby der Arbeitgeber. Zwar verloren RWK und RGI ihre Funktion als Tarifpartei, nachdem die Gewerkschaften zerstört worden waren und die DAF nicht deren tarifpolitische Befugnisse erhielt. Dafür gewannen sie wirtschaftspolitisch, durch ihren Einbau in die staatlichen, rüstungswirtschaftlichen Lenkungsorgane an Gewicht insbesondere seit 1942, im Rahmen der Speerschen „Wirtschaftlichen Selbstverwaltung". Während die Unternehmer faktisch weitgehend autonome Verbände behielten, verfügten die Arbeitnehmer seit 1933 nicht mehr über gewerkschaftliche oder gewerkschaftsähnliche Organisationen. Nicht zufällig wurde die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO), 1930 als nationalsozialistische Konkurrenzorganisation zu den anderen Richtungsgewerkschaften gegründet, bis 1934/ 35 entmachtet und aufgelöst. Die DAF wiederum trat entsprechend den politischen und arbeitsrechtlichen Prämissen, die das NS-Regime von Anbeginn setzte, nicht in die traditionellen Rechte der Gewerkschaften ein. Sie war keine Interessenvertretung der Arbeitnehmer, weder formal noch substantiell. „Hohes Ziel der Arbeitsfront" war laut einem im November 1933 ergangenen gemeinsamen Aufruf ihres Leiters Ley, von Reichsarbeitsminister Seldte, Reichswirtschaftsminister Schmitt und Hitlers Beauftragtem für Wirtschaftsfragen Keppler „die Erziehung aller im Arbeitsleben stehenden Deutschen zum nationalsozialistischen Staat und zur nationalsozialistischen Gesinnung" und, wie Hitler in einer Verordnung vom 24. Oktober 1934 ergänzte, „die Bildung einer wirklichen Volksund Leistungsgemeinschaft aller Deutschen"24. Gemeint war mit diesen wolkigen Formulierungen, daß die Hauptaufgabe der DAF darin bestehen sollte, die Arbeiter und Angestellten in das NS-System zu integrieren und für dessen Ziele einzuspannen. Dazu mußte sie wenigstens begrenzt positive Resonanz innerhalb der Arbeitnehmerschaft finden. In diesem Kontext und nur in diesem suchten in den ersten Jahren des NS-Regimes Funktionäre der Arbeitsfront verschiedentlich auch Interessen der Arbeitnehmer gegenüber den „Betriebsführern" wahrzuneh-
Spätestens seit 1938 war von einem pseudo-gewerkschaftlichen Engagement zu spüren, wenngleich die Tätigkeit der NS-Gemeinschaft durch Freude" als Suborganisation der Arbeitsfront bedeutend blieb. An„Kraft dere Ziele, die mit den Schlagworten „Rationalisierung" und „Disziplinierung" hier lediglich angedeutet werden können, traten an die Stelle des anfänglichen scheingewerkschaftlichen Engagements der Arbeitsfront25. men.
der DAF nichts mehr
Zit. nach: Blanke u. a., Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 45 bzw. S. 67. hierzu (als Uberblick) Hachtmann, Industriearbeiterschaft, S. 226 f. und S. 246-255, sowie ders., Arbeitsfront. Die Integrationsleistungen der DAF, also die Frage nach ihrem „Erfolg" oder
Vgl.
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Rüdiger Hachtmann
In der Bundesrepublik konstituierten sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nach ähnlichem Muster wie vor 1933 allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Der alte Traum der sozialdemokratischen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften von einer pluralistischen Einheitsgewerkschaft wurde Wirklichkeit. Richtungsgewerkschaften wie vor 1933 und heute noch in vielen europäischen Staaten existieren in der Bundesrepublik nicht mehr. Gegenüber Staat und gesellschaftlichen Institutionen sind die bundesdeutschen Gewerkschaften grundsätzlich autonom. Politisch sind sie pluralistischen Prinzipien verpflichtet, auch wenn innerhalb des DGB die Dominanz der Sozialdemokratie unübersehbar ist und zeitweilig erhebliche Restriktionen gegenüber linksoppositionellen Strömungen praktiziert wurden. In der DDR wiederum besaßen die Gewerkschaften infolge der Verstaatlichung der meisten Wirtschaftsunternehmen eine ganz andere Funktion. Da die von der SED-Führung behauptete grundsätzliche Identität von Staats- und Arbeitnehmerinteressen nach deren eigenen Vorstellungen erst auf längere Sicht hergestellt werden konnte, hatte der nicht nur personell, sondern auch institutionell hierin durchaus der Arbeitsfront vergleichbar an die SED gebundene FDGB26 vor allem eine Art Erziehungsfunktion wahrzunehmen. Die Gewerkschaften der DDR sollten „Schulen des Sozialismus" sein, also gleichsam zu pädagogischen Abteilungen der SED degenerieren. Weil die Interessenidentität von „Arbeiter- und Bauern-Staat" sowie „Arbeiterklasse" nach dem Selbstverständnis der Herrschaftsträger nur langfristig herstellbar war, räumte das SED-Regime die Existenz konkreter Interessenunterschiede durchaus ein, wenn auch widerwillig. Vor dem Hintergrund des 17. Juni 1953, des Ungarnaufstandes und der Konflikte in Polen 1956 wurde nicht mehr jeder innerbetriebliche Konflikt verschwörungstheoretisch gedeutet, als vom -
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„Mißerfolg", können hier nicht thematisiert werden. Nur soviel: Entgegen manchen Tendenzen der historischen Forschung, die die teilweise positive und insgesamt zumindest „negative Integration" der deutschen Arbeitnehmerschaft wesentlich oder gar entscheidend den sozialpolitischen Aktivitäten der DAF bzw. des NS-Regimes zuschreiben, sei hier ausdrücklich auf die repressive bzw. terroristische Seite des NS-Regimes, auf den „Maßnahmenstaat", verwiesen: Ohne den unkalkulierbaren, in der deutschen Geschichte einzigartigen Terror des NS-Regimes und die Einschüchterungseffekte, die davon ausgingen, ist die Haltung der Arbeiterschaft während der NS-Zeit Apathie, Rückzug ins Private und auch Kooperationsbereitschaft nicht zu erklären. Dieser Faktor ist m. E. höher zu gewichten als alle Aktivitäten der DAF (auch KdF, Reichsberufswettkampf u. a. partiell erfolgreiche Aktionen) sowie die seit 1935/36 wachsenden Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg, die Identifikation mit den vermeintlichen außenpolitischen Erfolgen des NS-Regimes, der Hitler-Mythos usw. Institutionell war der FDGB auf dreierlei Weise an die SED und die DDR-Führung gebunden: Erstens waren nach der Satzung des FDGB seit 1956 Beschlüsse der SED verbindliche Grundlage auch der Gewerkschaftsarbeit. Zweitens besaßen die jeweiligen Parteileitungen der SED Abteilungen für Gewerkschaften und Sozialpolitik, in denen die Richtlinien der Gewerkschaftspolitik für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich fixiert wurden und die Auswahl der Kandidaten für die Gewerkschaftsleitungen maßgeblich beeinflußt wurde. Drittens schließlich waren die Vorsitzenden der FDGB-Vorstände gleichzeitig Mitglieder der Sekretariate der SED-Leitungen. Auch die BGLVorsitzenden gehörten in der Regel der Betriebsparteileitung an. neueren
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Arbeitsverfassung
„Klassenfeind" ausgeheckt interpretiert. Die Gewerkschaften und ihre betrieblichen Organe erhielten Kompetenzen, die ihnen theoretisch die Vertretung konkreter Arbeitnehmerinteressen erlaubten. In der Praxis freilich wurde der FDGB kaum als Interessenvertretung der Arbeitnehmer oder gar als eigene Organisation verstanden, die vom einzelnen Arbeitnehmer durch persönliches Engagement gestützt und getragen werden müsse. Die DDR-Gewerkschaften wurden vielmehr vornehmlich als Serviceeinrichtung wahrgenommen, derer man sich möglichst pragmatisch bediente. Populär scheint der FDGB in diesem Kontext weniger als Träger der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten, sondern vor allem als Urlaubsorganisation gewesen zu sein, als eine Art staatliches Reisebüro, das die vorhandenen Ferienplätze verteilte27. Ähnlichkeiten mit der Deutschen Arbeitsfront sind nicht zu übersehen: Auch die DAF fand vor allem über die bedeutendste ihrer Suborganisationen, die für Freizeit und Massentourismus zuständige NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude", positive Resonanz in der Arbeitnehmerschaft. Diese Parallele zwischen Arbeitsfront und FDGB ist nicht zufällig: Der großen Bedeutung des Freizeit- und Urlaubsbereichs korrespondierte die weitgehende Machtlosigkeit beider Organisationen im jeweiligen politischen Gesamtsystem. Der Aktivismus in solchen Bereichen wie dem Massentourismus hatte nicht zuletzt die Funktion, diese relative Ein-
flußlosigkeit zu kompensieren28. Die
in denen sich der FDGB bewegte, ähnelten Weise denen der DAF: Wie die Arbeitsfront auf die Vorga-
Konfliktkonstellationen,
gleichfalls
in
gewisser
ben des „Führers" und der freilich sehr heterogenen NS-Bewegung reagierte, so war auch der FDGB einerseits auf die allerdings ganz andersgearteten gesellschaftspolitischen Zielsetzungen des Staates und der SED verpflichtet. Beide, FDGB und Arbeitsfront, nahmen in sehr unterschiedlicher Qualität und Intensität Kontroll- und Disziplinierungsfunktionen wahr29. Andererseits mußten -
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1989 besaß der FDGB etwa 700 Eigenheime und ungefähr hundert Betriebserholungsheime mit mehr als 62000 Betten. Darüber hinaus verfügte der Reisedienst des FDGB über ca. 71 500 Betten in Hotels, Vertragshäusern und Privatquartieren. Die Aufwendungen für den Reisedienst machten ungefähr ein Drittel des Gesamthaushalts des FDGB aus. Zu den Reiseaktivitäten im weiteren Sinne sind außerdem die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre etwa 360000 Kuren zu rechnen, über deren Verteilung der FDGB ebenfalls entschied; vgl. Gill, FDGB, S. 358 ff.; Schwarzer, Arbeitsbeziehungen, S. 276. Daß die „Werktätigen" der DDR zu den Gewerkschaften überwiegend lediglich ein distanziert-instrumentelles Verhältnis entwickelten und sie vor allem als Serviceeinrichtung wahrnahmen, betonen etwa Gut u. a., Regulierung, S. 50. Wenn die Aufgabenpalette des FDGB erheblich breiter war als bei Gewerkschaften in westlichen Industrieländern, dann lag dies freilich auch daran, daß der Betrieb als sozialer Raum im Leben des einzelnen eine viel größere Rolle spielte und an den Betrieb, und damit auch die Gewerkschaften, Aufgaben delegiert waren, die in westlich-kapitalistischen Industrieländern säuberlich von der betrieblichen Sphäre separiert (und zudem kommerzialisiert) sind. Eine größere Zahl von Kreisvorständen des FDGB und Betriebsgewerkschaftsleitungen war „direktberichterstattungspflichtig" und hatte monatlich schriftliche Berichte über mögliche Konflikte sowie politische Diskussionen in den Betrieben und Kreisen zu erstellen. Mitunter ist der FDGB deshalb auch als „Stasi der Arbeitswelt" bezeichnet worden; vgl. Schwarzer, Arbeitsbeziehungen, S. 273 f. Die DAF wiederum verfaßte nicht nur (ähnlich wie SD und Gestapo) Lage- und Stim-
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die DDR-Gewerkschaften und ähnlich die DAF, schon allein um ihren „Erziehungsauftrag" zu erfüllen, also die Integration der Arbeitnehmer in das poli-
tisch-gesellschaftliche System
zu
bewerkstelligen, überzeugend gewisse
Interes-
der „Basis" vertreten. Dieser letztlich unlösbare Konflikt wurde von der DAF und dem FDGB allerdings auf unterschiedliche Weise zu bewältigen versucht: Quasi-gewerkschaftliche Tendenzen und Positionen waren innerhalb der Arbeitsfront nur während der Jahre 1933 bis 1936 stärker ausgeprägt. Danach verstummten sie rasch. Propaganda, Terror und Einschüchterung gewannen zusammen mit materiellen Zugeständnissen der Unternehmer an bestimmte Arbeitnehmergruppen und einigen sozialpolitischen Konzessionen an Gewicht. Hinzu kam das Versprechen des NS-Regimes und der DAF, deutsche, „erbgesunde" Arbeitnehmer gegenüber „rassisch minderwertigen" Arbeitskräften zu privilegieren ein Versprechen, das im Zuge des massenhaften „Fremdarbeitereinsatzes" seit 1941/42 und des Aufstiegs zahlreicher deutscher Arbeiter zu Kontrolleuren bzw. Vorarbeitern partiell auch eingelöst wurde. In der DDR verlief die Entwicklung im Vergleich zur NS-Zeit tendenziell umgekehrt: Hier standen seit 1949 bis Ende der fünfziger Jahre propagandistische Tätigkeit und Erziehungsfunktion im Vordergrund. Nach dem 17. Juni 1953 gewannen gewerkschaftliche Funktionen an Gewicht. „Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die Vertrauensleute der Arbeiterklasse, sie sind nicht die Assistenten der Werkleiter", brachte der damalige FDGB-Vorsitzende Herbert Warnke auf dem 7. FDGB-Kongreß 1968 diese Funktionszuweisung auf den Begriff30. Ob solch markigen Sprüchen auch eine entsprechende Politik im betrieblichen Alltag folgte, muß hier offenbleiben31. Wichtig ist es, die bleibenden strukturellen Grenzen zu betonen: Der FDGB konnte sich nicht zu einer echten Gewerkschaft entwickeln, weil ihm vor allem eine entscheidende Kompetenz fehlte: die Befugnis, unabhängig von staatlichen Vorgaben Tarifverträge abzuschließen. Neben diesen und anderen Parallelen gab es natürlich auch eine Reihe von Differenzen, die die DDR-Arbeitsverfassung von den Konstellationen während der NS-Zeit abhob: Ein gravierender Unterschied zum „Dritten Reich" und ebenso resultierte aus dem politisch-ideologischen Bezug auf die zur Bundesrepublik „Arbeiterklasse", der keineswegs nur äußerlich war, sondern das Handeln von SED und FDGB prägte. Zwar ließ sich der einzelne Arbeitnehmer in der DDR sen
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mungsberichte, sondern wurde darüber hinaus während des Zweiten Weltkrieges unmittelbar an Disziplinierungen „bummelnder" und sonstwie unbotmäßiger Arbeitnehmer beteiligt, u. a. an Entscheidungen über die umgehende Einweisung in Arbeits- und ggf. Konzentrationslager; vgl. Hachtmann, Arbeitsfront. Zit. nach: DDR-Handbuch, S. 462. Mit den Wirtschaftsreformen von 1963, dem VIII. Parteitag der SED von 1971 und dem Arbeitsgesetzbuch von 1978 wurden dem FDGB und seinen Suborganisationen eine Reihe konkreter Mitbestimmungs-, Mitgestaltungs- und Mitwirkungsrechte in den Betrieben übertragen. Allem Anschein nach blieben die Gewerkschaften überbetriebliche Gewerkschaftsführungen wie BGL auch in der Folgezeit „für die Generaldirektoren kein wichtiger Faktor"; vgl. Lepsius, Hanscharfen
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delsräume, S. 358 f. -
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jederzeit als „Klassenfeind" oder ähnliches brandmarken und strafrechtlich kaltstellen, kaum jedoch ganze Belegschaften. Uberhaupt schirmte das Werkstor die innerbetrieblichen Vorgänge in bestimmten Grenzen gegen die Zumutungen des Regimes ab. Alle Planvorgaben und Wettbewerbsziele änderten nichts daran, daß sich jedenfalls in der Ära Honecker der einzelne oder ganze Belegschaftsteile innerhalb des Betriebes eine eigenmächtige Ausdehnung von Pausen, Vortäuschung von Geschäftigkeit und Kritik an den unmittelbaren Vorgesetzten in -
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einem anscheinend recht beträchtlichen Ausmaß erlauben konnten. Trotz des
Prinzips der Einzelverantwortung und aller formalen disziplinarischen Möglichkeiten waren die Betriebsleitungen stärker auf das Wohlwollen der Belegschaften angewiesen als umgekehrt, denn die „Betriebskollektive" konnten den Arbeitsund Produktionsprozeß bis hin zur faktischen Verweigerung blockieren und damit die Stellung des Betriebsleiters unmittelbar gefährden, ohne ihrerseits echte Sanktionen befürchten zu müssen32. Die Folge war eine Kluft zwischen Rechtsnormen und Rechtswirklichkeit, die weit tiefer ging als die im „Dritten Reich"
und auch in der Bundesrepublik33. In der marktwirtschaftlich-privatkapitalistisch strukturierten Wirtschaft der Bundesrepublik war und ist das Unternehmen kein solcher relativer Freiraum, ließen und lassen die ganz andersgearteten Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse „Bummelei" und „Meckerei" in den Dimensionen, wie sie für die DDR charakteristisch waren, nicht zu. Die sich daraus ergebene Differenz zwischen „damals" und „heute" prägt aktuell wesentlich eine für viele Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern typische Wahrnehmung des Innenraumes „Betrieb". „Früher", in der DDR, so faßte der IG Metall-Vorsitzende von Finsterwalde im heutigen Bundesland Brandenburg im Juni 1992 seine Eindrücke zusammen, „durfte ich im Betrieb den Direktor und alles kritisieren nur nicht den Honecker. Jetzt kann ich den Kohl und alle Politiker kritisieren, aber wehe, ich wage meinen Abteilungsleiter zu kritisieren."34 Dieser Bruch zwischen „früher" und „jetzt", der nicht nur in der Wahrnehmung stattfand, sondern sich auch de facto seit 1989/90 vollzog, hätte in der Tat kaum schärfer sein können. Die tiefgreifenden Veränderungen der innerbetrieblichen Machtstrukturen entwerteten schlagartig über viele Jahrzehnte eingeübte und verinnerlichte Verhaltensmuster und Arbeitsstile. Der fundamentale Wandel sowohl der Machtstrukturen in den Betrieben als auch der Einstellungen und Handlungsformen der betroffenen Arbeitnehmer erklärt sich freilich keineswegs allein aus den völlig neuen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen nach dem Untergang der DDR, sondern wesentlich auch aus den grundlegenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Für die Bevölkerung der DDR waren Ar-
Allerdings war diese „Stärke" der DDR-Belegschaften nur eine passive, lediglich die Fähigkeit zur ökonomischen Blockade. Aktive Gestaltungsmacht konnten sie aufgrund der eingefahrenen, verkrusteten politischen Strukturen nicht entwickeln. Vgl. Gut u. a., Regulierung, insbesondere S. 34 ff. Zit. nach: Rosier, Brigadier, S. 256.
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beitslosigkeit und Angst vor Entlassung bis zum Untergang dieses Staates etwas, was man in der Regel nur vom Hörensagen kannte, am eigenen Leibe jedoch nie erfahren hatte. Für etwa zwei Generationen, mehr als sechzig Jahre lang seit 1935/36 gab es auf dem Gebiet der neuen Bundesländer de facto keine Erwerbslosigkeit. Beide deutschen Diktaturen betrieben eine Politik der Vollbeschäftigung aus freilich ganz unterschiedlichen Motiven. —
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Freizügigkeit und Restriktion „Recht auf Arbeit", Beschränkungen des Arbeitsplatzwechsels und Arbeitskräftelenkung -
In den
Verfassungen der DDR war das „Recht auf Arbeit" und damit eine Beschäftigungsgarantie festgeschrieben35. Aufgrund ihrer Tradition und ihres Selbstverständnisses sah sich die DDR-Führung zu einer Politik der Vollbeschäftigung verpflichtet. Zugleich war das „Recht auf Arbeit", das eine Art „Ehrenpflicht zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit" einschloß36, ein zentrales sozialpolitisches Aushängeschild, mit dem sich die SED-Führung die Loyalität der zum zentralen gesellschaftlichen Subjekt hypostasierten „Werktätigen"37 und politische Systemstabilität zu erkaufen suchte. Ein Arbeitsmarkt in dem für westliche Gesellschaften üblichen Sinne existierte nicht. Planung und Lenkung des Arbeitskräftepotentials war die Aufgabe staatlicher Institutionen38. Tatsächlich blieb die Vollbeschäftigungspolitik der DDR nur auf dem Papier erfolgreich. Es existierte eine versteckte Erwerbslosigkeit, die in ihren quantitativen Dimensionen nur schwer abzuschätzen ist: Zahlreiche Personen galten als beschäftigt, obwohl sie vom Arbeitsprozeß her entbehrlich waren. Die im Vergleich zu westlichen InduVgl. Schwarzer, Arbeitsbeziehungen, S. 71-75. Sie weist darauf hin, daß das „Recht auf Arbeit" kein subjektives, also einklagbares Recht im Sinne eines echten Individualrechtes gewesen sei, sondern „eher als programmatische Zielerklärung" zu interpretieren ist. In der „Ära Ulbricht" wurde der Vollzug dieser „Ehrenpflicht" über zum Teil scharfe strafrechtliche Sanktionen durchgesetzt, auch noch in den sechziger Jahren: Aufgrund einer „Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung", die von 1961 bis 1974 in Kraft war, wurden offenbar Tausende vor allem jugendlicher „Arbeitsbummelanten" in Arbeitserziehungslager eingewiesen. „Ergänzt" wurde diese Maßnahme durch eine Verordnung zum DDR-Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1968, nach der „Arbeitsscheue", die sich einer geregelten Arbeit hartnäckig widersetzten, zu längerer Haftstrafe bzw. „Arbeitserziehung" verurteilt werden konnten; vgl. den Beitrag von Wilfried Rudioff im vorliegenden Band. Zur „theoriekonformen Inszenierung" von Arbeiterklasse vgl. Hübner, Arbeiterklasse, insbesondere S. 205 und S. 212. Wenn diese wiederum Ähnlichkeiten zu NSTnszenierungen aufwies (vgl. Heuel, Stand, insbesondere S. 121 ff. und S. 381 ff.; Lüdtke, „Rote Glut", S. 234f.), dann lag dies daran, daß sich beide wiederum an älteren Mustern orientierten, vor allem den suggestiven arbeitsmilitaristischen Inszenierungen sowjetisch-bolschewistischer Provenienz. Die zuständigen Institutionen waren seit 1961 die mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten „Ämter für Arbeit und Berufsberatung", seit 1973 dann die „Ämter für Arbeit und Löhne" (bis 1951: Arbeitsämter; 1951 bis 1961: „Abteilungen für Arbeit"). Den Betrieben und Kombinaten wurde ein Maximum an Arbeitskräften vorgegeben, die sie beschäftigten durften. Die Planungsbürokratie konnte Auflagen zur Abgabe von Beschäftigten machen und, wenn diese nicht eingehalten wurden, Sanktionen verhängen. Trotzdem gab es eine gewisse Fluktuation. In den achtziger Jahren lag die jährliche Fluktuationsquote bei etwa sieben bis acht Prozent.
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striestaaten allgemein niedrige Arbeitsproduktivität kann gleichfalls als Ausdruck nicht sichtbarer Massenerwerbslosigkeit bewertet werden. Darüber hinaus ließen ein übermäßig aufgeblähter Verwaltungs- und Sicherheitsapparat sowie bis 1961 die Abwanderung von Arbeitskräften nach Westen die Entstehung sichtbarer Erwerbslosigkeit nicht zu39. In der politisch fast gewaltsamen Leugnung von Arbeitslosigkeit durch die SED- und DDR-Führung spiegelt sich der soziale Paternalismus eines autoritären Staates, der sich in den Traditionen der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung befand, für die das „Recht auf Arbeit", also die Sicherung gegenüber den Unwägbarkeiten proletarischer Existenz, ein fundamentales Menschenrecht war. Da ein vom Arbeitsmarkt ausgehender Druck, die Angst vor Entlassung, in der DDR fehlte, dauerhaft scharfe Repression sich angesichts des ideologischen Bezugs der SED auf die „Arbeiterklasse" verbot und, wie die Erfahrungen vom Juni 1953 gezeigt hatten, zudem mit unwägbaren Risiken für die Stabilität des Regimes verbunden war, konnten Arbeitnehmer in der DDR relativ gemächlich ihrer Erwerbsarbeit nachgehen40. Ein ähnlich hilfloses Agieren der Staatsführung gegenüber einem auch nur ansatzweise vergleichbaren „Trödeln" und „Meckern", einer massenhaften „stillen Opposition"41 seitens der Arbeitnehmerschaft, wie dies für die DDR vor allem der siebziger und achtziger Jahre typisch war, wäre in der NS-Zeit undenkbar gewesen. Weniger über ökonomischen Druck als vielmehr über offene, unkalkulierbare Repression und Einschüchterung, die sich nicht gegen einzelne Gruppen, sondern tendenziell gegen die gesamte Arbeitnehmerschaft richteten, wurde allem „Bummelantentum" systematisch ein Riegel vorgeschoben. Vollbeschäftigung und das Wohl der „Arbeiterklasse" waren im „Dritten Reich" auch kein politisch-ideologisches Ziel, sondern Resultat der Rüstungskonjunktur seit etwa 1935/36. Ein „Recht auf Arbeit" existierte im „Dritten Reich" nicht. Das heißt -
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Weitere Aspekte kommen hinzu. Wichtig war etwa die geringe distributive Elastizität der bürokratisch-zentralistischen Planwirtschaft, also die Schwierigkeit, Angebot und Nachfrage nach Waren in Ubereinklang zu bringen, die ihren Ausdruck in immer neuen Knappheiten zahlloser Konsumgüter und in dem für die realsozialistische Kommandowirtschaft typischen „ewigen" Schlangestehen fand. Sie forderte umfangreiche Lagerbestände und band gleichfalls größere Arbeitskräftepotentiale. Die für den Betriebsalltag in der DDR typischen, im System angelegten häufigen Arbeitsunterbrechungen wie überhaupt das geruhsame Arbeitstempo entfremdeten über Jahrzehnte verinnerlicht die Arbeitnehmer tendenziell strikter Zeitökonomie wie überhaupt einem bürgerlichen Arbeitsund Leistungsethos. Nach Schätzungen von Arbeitswissenschaftlern wurde in vielen Bereichen der DDR-Wirtschaft ein knappes Drittel der nominellen Arbeitszeit überhaupt nicht gearbeitet; vgl. Schwarzer, Arbeitsbeziehungen, S. 158 ff.; Gut u. a., Regulierung, S. 35 ff. Gewiß boten langsames Arbeiten, eigenmächtige Verkürzung der Arbeitszeiten usw. „die Möglichkeit einer stillen Opposition, eines passiven Widerstandes gegenüber den Zumutungen des [SED-] Regimes", Schwarzer, Arbeitsbeziehungen, S. 150. Man sollte diesen Aspekt jedoch nicht überbewerten. Die „Verlernung" von Selbstdisziplin, Pünktlichkeit und Ordnung keineswegs bloß „typisch deutsche Traditionswerte", „deutsche Sekundärtugenden", wie Gut u. a., Regulierung, S. 37, meinen, sondern Eigenschaften, die Arbeitnehmern im Zuge der Industrialisierung seit dem frühen 19. Jahrhundert in allen entwickelten westlichen Gesellschaften generell zunächst durch äußeren Druck antrainiert und von diesen schließlich verinnerlicht wurden war in erster Linie Resultat des Fehlens eines wirkungsvollen äußeren ökonomischen Druckes, wie er in privatkapitalistisch verfaßten Volkswirtschaften besteht. -
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keineswegs, daß die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit zu vernachlässigen wäre. Im Gegenteil: Ohne erfolgreiche „Arbeitsschlacht" hätte sich das NS-Regime nicht in so kurzer Zeit stabilisieren und eine breite Massenloyalität verschaffen können. Aber ein irgendwie geartetes „Recht auf Arbeit" obzwar als Propagandafloskel gern benutzt stand nicht im Zentrum der NS-Arbeitsmarktpolitik, auch nicht als Bestandteil, als „eine Form der Sozialpolitik"42. „Arbeitspflicht" wurde dagegen weniger durch formalisierte arbeitsrechtliche Regelungen als vielmehr durch eine sich rasch brutalisierende Praxis durch unklare Erlasse etc. nur oberflächlich legalisiert seit 1935/36 konsequent durchgesetzt. Wie wenig der NS-Staat an einer sozialen Besserstellung der Arbeitnehmerschaft interessiert war, machte Göring mit seinem Schlagwort „Kanonen statt Butter" natürlich
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waren keine leeren Worte. Die Formel „KanoButter" war handlungsleitende Maxime. Die für eine Hochkonjunktur nach 1936 weiterhin außerordentlich niedrigen Realeinkommen großer Teile der
unmißverständlich deutlich. Das nen statt
Arbeiterschaft bringen dies unübersehbar zu Ausdruck43. Die Arbeitnehmer waren für die Funktionsträger des NS-Regimes im Grunde nur Manövriermasse im Rahmen einer Politik, die ganz andere Ziele verfolgte, nämlich ganz Europa der nationalsozialistischen Willkür zu unterwerfen und dann womöglich nach der Weltherrschaft zu greifen. Die im „Dritten Reich" seit 1934 sukzessive vorgenommenen arbeitsmarktpolitischen Restriktionen folgten freilich keinem konsistenten wirtschaftstheoretischen oder arbeitsmarktpolitischen Konzept, sondern wurden ad hoc, vor dem Hintergrund jeweils akuter Arbeitskräfteknappheiten, eingeführt. Im Konkreten dienten sie erstens dazu, Wanderungen der Arbeitskräfte zu steuern, vor allem die Flucht von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft, dem Baugewerbe und dem Bergbau einzudämmen und zugleich der rüstungswichtigen Metallindustrie benötigte Arbeitskräfte zuzuführen44. Zweitens waren die arbeitsmarktpolitiHierfür fehlten bereits die Voraussetzungen: konsistente wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitische Strategien. Dagegen Geyer, Sicherheit, insbesondere S. 390 f. Daß „Arbeitspflicht" als zentrales Ideologem der Arbeitsideologie unmittelbar handlungsleitend war, ist demgegenüber unbestritten. „Unproduktive" Menschen wurden „mit staatlich sanktionierter Gewalt ,zur Arbeit erzogen1" (oder rassistisch als „minderleistungsfähig", „minderwertig", „asozial" stigmatisiert mit Einlieferung in ein KZ und physischer Vernichtung bedroht, im Extremfall auch tatsächlich vernichtet). Die NS-Strafrechtsreformer planten, die Verletzung der Arbeitsdienstpflicht, Selbstverstümmelung, Arbeitsverweigerung, Betteln, Landstreicherei und Trunkenheit zu einem strafrechtlichen Tatbestand zu machen, der „die Entziehung der eigenen Verfügung über die Arbeitskraft", mithin also die Überführung in sklavenarbeitsähnliche Verhältnisse, auch auf der juristischen Ebene möglich gemacht hätte; vgl. ebenda, S. 391 f. Der Krieg und die durch ihn bewirkte Entrechtlichung der Gesellschaft einschließlich vieler Aspekte der Arbeits- und Sozialpolitik sowie die Entgrenzung der Gewalt machten die Schaffung eines förmlichen neuen Rechts dann überflüssig. Vgl. Hachtmann, Lebenshaltungskosten, insbesondere S. 68-73; ders., Industriearbeit, S. 154-160. Eine ganze Reihe von Verordnungen und Gesetzen seit 1934/35 machten den Arbeitsstellenwechsel in einer wachsenden Zahl von Branchen (zunächst vor allem der metallverarbeitenden Industrie, des Baugewerbes und der Landwirtschaft) vom Einverständnis der Arbeitsämter abhängig. Eine Verordnung vom 20. 5. 1942 legte schließlich fest, daß jeder Arbeitsstellenwechsel der Zustimmung des Arbeitsamtes bedurfte; fortan war auch eine zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber einver-
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sehen Restriktionen vom Juni 1938 bis zur sogenannten Lohngestaltungsverordnung, die Höchstgrenzen auch für die Effektivverdienste vorsah, das wichtigste Instrument staatlicher Lohnpolitik. Denn nach der Zerschlagung der Gewerkschaften und Betriebsräte, der unnachsichtigen Verfolgung aller kollektiven Formen, Arbeitnehmerinteressen zu artikulieren und durchzusetzen, blieb der individuelle Arbeitsplatzwechsel die einzige Möglichkeit, Einkommensverbesserungen zu erreichen. Obwohl das NS-Regime kein langfristig angelegtes arbeitsmarktpolitisches Konzept verfolgte, sondern auch hier eine Politik der Improvisationen praktizierte, kennzeichnet der Terminus „Arbeitseinsatz", der im „Dritten Reich" an die Stelle des Begriffes „Arbeitsmarkt" trat, das Selbstverständnis des NS-Regimes: In Anlehnung an militärisches Vokabular bringt er zum Ausdruck, daß der Zweck aller arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen darin bestand, die Arbeitnehmer vollständig für die wirtschaftlichen und politischen Ziele des Regimes verfügbar zu machen. Aus Arbeitern und Angestellten sollten „Soldaten der Arbeit" (Robert Ley) werden. Fraglich ist freilich, ob die „Arbeitseinsatz"-Politik des Regimes als originär nationalsozialistisch bewertet werden kann. Nach meinem Eindruck war sie vielmehr zentraler Bestandteil eines ganzen Bündels vorgezogener, allerdings von Anbeginn rassistisch aufgeladener kriegswirtschaftlicher Maßnahmen wie überhaupt die NS-Politik im Bereich von Wirtschaft und Arbeit/ Arbeitsmarkt wesentlich aus Kriegsvorbereitung und Aufarbeitung der Erfahrungen des 1. Weltkrieges zu erklären ist45. Reglementierung und Bürokratisierung des Arbeitsmarktes in der DDR und während der NS-Zeit hatten zwar gänzlich unterschiedliche Ursachen. Manche Erscheinungsformen und Folgen der Arbeitskräftepolitik beider Regimes weisen freilich frappierende Ähnlichkeiten auf: Typisch für die DDR-Wirtschaft wie für die deutsche Industrie vor allem während des Zweiten Weltkrieges war das -
nehmliche Lösung eines Arbeitsverhältnisses nicht mehr möglich. Anfang 1935 wurde das Arbeitsbuch eingeführt, um der zunehmend unübersichtlichen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt Herr werden und noch vorhandene Arbeitskraftreserven statistisch erfassen zu können. Ende 1935 wurde das Monopol der Anstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung festgeschrieben, diese Anstalt damit zu einer „Arbeitseinsatz"-Behörde (bzw. dessen personeller Unterbau); seit 1938 war sie auch nominell in das Reichsarbeitsministerium eingegliedert. Am 22. 6. 1938 wurde die zeitlich begrenzte, am 13. 2. 1939 dann die zeitlich un-
begrenzte Dienstpflicht eingeführt. In dieser Hinsicht gibt es gewisse Parallelen zur DDR. Denn auch die DDR-Arbeitsverfassung wie überhaupt das politisch-wirtschaftliche System der DDR besaß kriegswirtschaftlichen Charakter insofern, als sie auf dem sowjetischen Vorbild fußte. Die Bolschewiki wiederum waren nicht nur vom deutschen Staatskapitalismus und „Monopolismus", sondern auch von der vermeintlich effektiven deutschen Kriegswirtschaft 1914-1918 fasziniert. Wichtiger für das sowjetische „Sozialismus"-Modell war die Phase des „Kriegskommunismus" während des Bürgerkrieges 1918-1920 (inkl. Militarisierung der Arbeit etc.), die allen späteren Reformen zum Trotz der UdSSR nachhaltig und dauerhaft ihren Stempel aufdrückte. Nach meinem Eindruck war die DDR-Arbeitsverfassung überhaupt stark vom Vorbild der UdSSR geprägt (Rolle der Gewerkschaften, Betriebskollektivverträge usw.), während die DDR-Sozialpolitik im engeren Sinne mehr Elemente „deutscher" Tradi-
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tionen aufnahm.
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Arbeitskräften seitens der Betriebe, um Planaufgaben bzw. kurzfristige Aufträge erfüllen zu können. Das war nicht die einzige Parallele: Ein weiteres Resultat der Vollbeschäftigung, die das NS-Regime als Folge der Aufrüstung politisch-propagandistisch ausbeutete, von der DDR-Führung dagegen von Anbeginn erstrebt wurde, war ein Funktionsverlust der Arbeitslosenversicherung. Im „Dritten Reich" wurden die wachsenden Uberschüsse der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" großenteils zur Finanzierung der Aufrüstung verwandt. In der DDR wiederum wurde die sogenannte „Unterstützung bei vorübergehendem unverschuldetem Verlust des Arbeitsplatzes" bis 1977 von der Sozialversicherung gezahlt, danach durch Unterstützungs-Verpflichtungen der Betriebe ersetzt. Auch nur ansatzweise vergleichbare staatliche Interventionen in den Arbeitsmarkt wie in der DDR bzw. im „Dritten Reich" kennt die Bundesrepublik nicht. Angesichts der aktuellen Massenerwerbslosigkeit sowie zunehmender wirtschaftlicher und sozialpolitischer Spannungen wächst allerdings nicht nur der Stellenwert der Bundesanstalt für Arbeit, sondern drohen außerdem eingespielte tarifpolitische Regelungen ihre Funktionsfähigkeit einzubüßen. Horten
von
Tarifrecht und Tarifpolitik In dieser Hinsicht unterscheiden sich die drei Systeme gravierend. Im „Dritten Reich" wurde eine offen autoritäre Lösung eingeführt; Verhandlungen der Tarif-
partner und Tarifverträge wurden ersetzt durch die neue Institution des „Treuhänders der Arbeit", die einseitig „Tarifordnungen" festlegte. Der „Treuhänder der Arbeit" knüpfte an die Institution des staatlichen Schlichters und die Praxis der Zwangsschlichtung der Weimarer Republik an46. Dessen schon recht weitgehende Befugnisse wurden noch erheblich ausgeweitet hin zu einer staatlichautoritären Regulierung der Arbeitsverhältnisse und sonstigen Tarifangelegenheiten. Allerdings entsprach den weitreichenden Kompetenzen der Treuhänder kein personeller Apparat, der ihnen die Durchsetzung ihrer Befugnisse auch tatsächlich erlaubt hätte. Außerdem wurden die Kompetenzen des Treuhänders in den entscheidenden Gesetzen 1933/34 (Treuhänder-Gesetz und AOG) sowie in den einflußreichen arbeitsrechtlichen Kommentaren als vorläufig gekennzeichnet, der Treuhänder selbst als sozial- und arbeitsmarktpolitische Letztinstanz charakterisiert. Nationalsozialistisches Ideal war die Regelung aller Tarifangelegenheiten im einzelnen Betrieb. Dieses Ideal trat freilich in dem Maße in den Hintergrund, wie die forcierten Kriegsvorbereitungen seit 1936 eine zentralistische Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik verlangten. -
Zum Ausbau der Zwangsschlichtung in den letzten Jahren der Weimarer Republik vgl. Preller, Sozialpolitik, S. 403 ff. und S. 411 ff. Es ist kein Zufall, daß viele der 1933/34 eingesetzten „Treuhänder der Arbeit" in den Jahren vor 1933 als Schlichter Erfahrung gesammelt hatten. Hierzu und zum folgenden vgl. Kranig, Lockung, S. 168-184; Spohn, Betriebsgemeinschaft, S. 274-351; Hachtmann, Industriearbeit, S. 32 ff., S. 116-121 und S. 349ff.; ders., Krise, S. 283 ff.
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Da die Entscheidungen der „Treuhänder der Arbeit" nicht zuletzt der Erlaß der Tarifordnungen Legislativcharakter besaßen, ist für die Zeit des „Dritten Reiches" im Vergleich zur Weimarer Republik ein erheblicher Funktionsverlust der Arbeitsgerichtsbarkeit zu konstatieren. Rechtsstreitigkeiten zwischen den Tarifparteien entfielen. Durch das AOG wurde die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte weitgehend auf individuelle Streitfälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beschränkt; zugleich verschlechterten materielle Veränderungen des Arbeitsrechtes (Gemeinschaftsbegriff und Treuepflicht des Arbeitnehmers, ausgeweitete Weisungsbefugnis des Arbeitgebers etc.) die Chancen des rechtsschutzsuchenden Arbeitnehmers, vor den Arbeitsgerichten Recht zu bekommen. Darüber hinaus waren den Arbeitsgerichten die Rechtsberatungsstellen der DAF vorgeschaltet. Die in diesen Beratungsstellen tätigen „Rechtsberater" der Arbeitsfront sollten arbeitsrechtliche Streitfälle schlichten, bevor diese vor einem Arbeitsgericht ausgetragen wurden. Maßgeblich für die Tätigkeit der Rechtsberater hatten „nicht der Streit bzw. die Interessenslage des Einzelnen, sondern die Gemeinschaftssicherung", also die im Ideologem der „Volksgemeinschaft" gebündelten Ziele des NS-Regimes zu sein47. Auch in der DDR spielten der Arbeitsgerichtsbarkeit vergleichbare Institutionen gemessen an demokratisch verfaßten, westlichen Gesellschaften nur eine untergeordnete Rolle. Separate Arbeitsgerichte auf Kreis- und Bezirksebene wurden im April 1961 aufgehoben und als „Kammern für Arbeitsrechtssachen" den Kreis- und Bezirksgerichten angegliedert. Wenn schon zuvor nur ein Bruchteil der Arbeitsstreitfälle vor die Arbeitsgerichte kam, dann deshalb, weil mit den „betrieblichen Konfliktkommissionen" seit April 1953 eine einzelbetriebliche Schlichtungsinstanz existierte, die über das Gros der Streitfälle entschied. Der Bedeutungsverlust der Arbeitsgerichtsbarkeit in der DDR und der hohe Stellenwert außergerichtlicher Schlichtungsinstanzen erklären sich aus der Leugnung sozialer Gegensätze und unterschiedlicher Interessen von Arbeitnehmern und staatlichen Arbeitgebern anders formuliert: aus der Konstruktion der „proletarischen Volksgemeinschaft". So hieß es in der Präambel der Arbeitsgerichtsordnung der DDR vom 29. Juni 1961: „Arbeitsstreitigkeiten sind in der Deutschen Demokratischen Republik kein Ausdruck von Klassengegensätzen, sondern vor allem eine Folge von Uberresten bürgerlicher Denk- und Lebensgewohnhei-
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den von der SED gesetzten politischen und sozialen Prämissen kannte die DDR keine autonomen Tarifparteien, keine frei vereinbarten Tarifverträge wie die Weimarer Republik und die Bundesrepublik und ebensowenig Ta-
Entsprechend
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Zitat: Werner Helfwig (Reichsleiter des Amtes für Rechtsberatungsstellen in der DAF), Die Stellung der Rechtsberatungsstellen der Deutschen Arbeitsfront im Arbeitsleben, in: Soziale Praxis 1939, Sp. 770. Vgl. Spohn, Betriebsgemeinschaft, S. 258-273; außerdem Kranig, Lockung, S. 205 f.; Hachtmann, Industriearbeit, S. 33 f. Zit. nach: Mampel, Arbeitsverfassung, S. 474; ausführlich zur DDR-Arbeitsgerichtsbarkeit: ebenda, S. 473-526.
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rifordnungen und Treuhänder der Arbeit wie das „Dritte Reich". An die Stelle der Tarifverträge und Tarifordnungen traten in der DDR mit gewissen Einschränkungen die sogenannten Rahmenkollektivverträge49. Sie wurden zwischen den Zentralvorständen der Einzelgewerkschaften und den zuständigen staatlichen Funktionsträgern ausgehandelt50. Zwar wurde die DDR-typische, zentralistische Form der Tarifpolitik in Laufe der Jahre zunehmend durch verschiedenartige Lohnanreizsysteme ausgehöhlt. Infolge von Prämien, Zuschlägen u. ä., die auf der betrieblichen Ebene fixiert wurden, sank der tarifliche Anteil der Löhne zum Teil auf bis zu 50 Prozent ab. Aber das ändert nichts daran, daß sich die Verhandlungen zwischen beiden Seiten grundsätzlich in dem staatlicherseits, also von der SED vorgegebenen Rahmen bewegten. Das bundesdeutsche Tarifrecht mit seinen autonom agierenden Tarifparteien und dem Prinzip frei ausgehandelter, regelmäßig erneuerter Tarifverträge erlaubt nicht nur eine elastische Anpassung an veränderte wirtschaftliche und politische Konstellationen. Es entlastet darüber hinaus im Unterschied zum „Dritten Reich", zur DDR und übrigens ebenso zur Zwangsschlichtung der Weimarer Republik auch den Staat. In der Bundesrepublik ist der Staat nicht gezwungen, selbst einen Ausgleich oder eine wie auch immer geartete Lösung der betrieblichen Interessendivergenzen zu finden. Dies macht wesentlich auch die politische Elastizität des parlamentarisch-demokratischen Systems der Bundesrepublik aus. Denn das auf autonomen Tarifparteien basierende Tarifsystem entlastet den Staat von weitergehenden politisch-sozialen Ansprüchen und Erwartungen, indem es diese auf die Tarifparteien lenkt. Die konkreten Formen des bundesdeutschen Tarifrechts sind nicht zuletzt Resultat eines Lernprozesses, der Erfahrung, daß eine autoritäre Reglementierung in modernen, privatkapitalistisch organisierten Indu-
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striegesellschaften dysfunktional ist51.
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einigen Wirtschaftsbereichen im selbständigen Handwerk und in sonstigen „Einrichtungen nichtsozialistischer Eigentumsformen" wurden pro forma weiterhin Tarifverträge geschlossen. Richtschnur waren die Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs (AGB) über die Rahmenkollektivverträge (RKV), Tarifpartner die jeweiligen Einzelgewerkschaften des FDGB sowie die Handwerkskammern der Bezirke bzw. vergleichbare Institutionen. Da im „Gesetzbuch der Arbeit" bzw. im AGB stärker als in den entsprechenden arbeitsrechtlichen Gesetzen und Verordnungen des Dritten Reiches und der Bundesrepublik bestimmte (Mindest-)Regelungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen bereits fixiert waren, war der Gestaltungsspielraum der am Abschluß der RKV beteiligten Akteure wie überhaupt die kollektivrechtliche Bedeutung der RKV geringer. Ergänzt wurden die RKV durch jährlich zwischen dem Direktor eines Betriebes und der jeweiligen BGL ausgehandelten Betriebskollektivverträge (siehe unten, Anm. 61). Vergleichbare Regelungen auf der Ebene des einzelnen Unternehmens kannte auch das „Dritte Reich" mit den Betriebsordnungen (die die Bestimmungen der Tarifordnungen nicht verletzen durften und im übrigen von den Unternehmern nur ungern erlassen wurden, vor allem weil sie rechtlich verbindlich waren) und kennt auch die Bundesrepublik mit den Betriebsvereinbarungen zwischen Betriebsrat und einzelnem Unternehmer. In einem vor gut zehn Jahren im Auftrag des Bundesministers für Arbeit erstellten Rechtsgutachten z. B. wurde ausdrücklich betont, daß die „Tätigkeit der Sachnahen", also der autonomen Tarifparteien, nicht nur aus demokratie-theoretischen Gründen zu fördern sei. Mit ihr erfolge außerdem „in erheblichem Ausmaß eine Staatsentlastung". Andernfalls wäre der Staat für alle Details des „Lebenstatbestandes der abhängigen Arbeit" zuständig, bis hin zu den diffizilen Fragen der EntgeltreIn
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Zwar hat sich das in der Bundesrepublik praktizierte Prinzip der Tarifautonomie bewährt und gegenüber den beiden anderen Systemen als eindeutig überlegen erwiesen. In Phasen der wirtschaftlichen Krise läuft allerdings auch eine auf
demokratischen Regelungen basierende Tarifpolitik Gefahr, an Bindekraft zu verlieren und durch staatliche Eingriffe überformt zu werden. Die seit 1949 in Westdeutschland institutionalisierten tarifrechtlichen Regelungen haben ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden; sie steht ihnen noch bevor. Ein aktuelles Stichwort in diesem Zusammenhang lautet: Krise des Repräsentationsprinzips. Die Krise des Repräsentationsprinzips52 und darüber hinausgehend der Tarifautonomie besitzt mehrere Dimensionen: (a) Den Tarifpartnern, also den Arbeitgeberverbänden wie den Gewerkschaften, laufen die Mitglieder davon53. Je niedriger der Organisationsgrad, desto zweifelhafter ist, ob die Arbeitgeberverbände noch für die Gesamtheit der Unternehmer, die Gewerkschaften noch für die Gesamtheit der Arbeitnehmer sprechen54, (b) Eine Reihe aktueller Gesetzesvorschläge schränkt implizit die Tarifautonomie ein (z.B. gesetzliche Regelungen der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle) bzw. läuft letztlich auf die Außerkraftsetzung der in der Bundesrepublik bisher üblichen Tarifpolitik hinaus (gesetzliche Öffnungsklauseln55, Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifnach Branchen, Regionen etc. Dies sei nicht sinnvoll. „Die Tätigkeit des Treuhänders der Arbeit in der nationalsozialistischen Zeit hat hinlänglich gezeigt, daß der Staat damit überfordert ist, und das Beispiel jedenfalls der zentralistischen Verwaltungswirtschaft zeigt dies heute [1985] noch"; Gerhard Müller, Arbeitskampf und Arbeitskampfrecht, insbesondere die Neutralität des Staates und verfahrensrechtliche Fragen. Gutachten im Auftrag des Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bonn o. J. [1985], S. 50. Vgl. allgemein außerdem vor allem Lepsius, Soziale Symmetrie, S. 3-7. Vgl. die Skizze der aktuellen Krise der bundesdeutschen Tarifpolitik bei Mückenberger, Herausforderungen, S. 26-44. In den Jahren nach der „Wende", von 1991 bis 1993, verlor der DGB 12,8% seiner Mitglieder. Während der Mitgliederschwund sich in den alten Bundesländern in einem vergleichsweise gemäßigten Rahmen hielt (-3,4%), war er in den östlichen Landesbezirken mit -30,1% dramatisch; nach: Schwarzer, Arbeitsbeziehungen, S. 332. Wenn auf dem Gebiet der ehem. DDR der Mitgliederverlust derart gravierend war (und seit 1993 geblieben ist), dann ist dies nicht allein mit hoher Erwerbslosigkeit und mit durch den Verbalradikalismus mancher DGB-Funktionäre zusätzlich genährten überhöhten Erwartungen zu erklären. In den Massenaustritten drückt sich auch ein instrumentelles Verhältnis der ehem. DDR-Arbeitnehmer gegenüber den Gewerkschaften aus. Sie hatten den FDGB in erster Linie als Serviceeinrichtung des DDR-Staates wahrgenommen und zogen sich aus den „West"-Gewerkschaften enttäuscht zurück, nachdem sie deren andere Funktionen und deren anderes Selbstverständnis zur Kenntnis nehmen mußten; vgl. Gut u. a., Regulierung, S. 50 f. In anderen westeuropäischen Ländern oder den USA ist der Organisationsgrad von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zwar noch deutlich niedriger als in der Bundesrepublik. Aber in der Bundesrepublik sind die Akzeptanz und die Legitimität des Tarifwesens stärker an den Organi-
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sationsgrad gebunden. Derzeit werden gesetzliche (im Unterschied ist
zu tariflichen) Öffnungsklauseln diskutiert. Gemeint damit, daß für bestimmte Personengruppen und Konstellationen von den Tarifpartnern ausge-
handelte und in Tarifverträgen fixierte Regelungen durch Einzelverträge unterschritten werden können. Damit würde die zwingende Wirkung der Rechtsnormen des Tarifvertrages (§ 4, Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes) unterlaufen und aufgehoben. Das Tarifvertragsgesetz datiert auf den 9.4. 1949; es galt zunächst nur für die Bizone, wurde später jedoch auf die französische Zone
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vertragen56), (c) In seiner Substanz wird das Tarifwesen und damit die Arbeitsverfassung der Bundesrepublik außerdem getroffen, wenn Drohungen von Arbeitgeberverbänden (z. B. Gesamtmetall), Tarifverträge außerordentlich (vorfristig) zu kündigen, aus Flächentarifverträgen auszusteigen etc., Wirklichkeit werden sollten. Der Krise des bisherigen Tarifvertragswesens und des Repräsentationsprinzips parallel läuft eine Infragestellung und Aushöhlung des Prinzips der Tarifautonomie, ausgelöst durch die Neigung des Staates, Befugnisse, die eigentlich in die Kompetenzen der Tarifpartner gehören, an sich zu ziehen. Daraus kann ein Circulus vitiosus werden. Denn je stärker das Prinzip der Tarifautonomie in die Krise gerät und durch Eingriffe von außen zusätzlich relativiert wird, desto mehr wird der Staat gedrängt, regulierend einzugreifen, desto größer ist die Neigung zu autoritär-zentralistischen Interventionen und Regelungen57. Trotz oder gerade wegen der aktuellen Krise des durch die Vereinigung mit der DDR zusätzlich strapazierten demokratischen Tarifwesens der Bundesrepublik58 bleibt jedoch festzuhalten: Die verschiedenen Versuche einer autoritären Regulierung von Tarifpolitik und Tarifkonflikten sind gescheitert. Auch die unbedingte Verpflichtung der innerbetrieblichen Mitbestimmungsorgane auf NS-„Volks-" und „Betriebsgemeinschaft" bzw. das politische System der DDR hat sich letztlich als dysfunktional für moderne Industriegesellschaften erwiesen. bzw. die gesamte Bundesrepublik ausgeweitet. Der Tarifvertrag wird zwar nicht im Grundgesetz, aber in einzelnen Landesverfassungen (Bremen, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz) als Grundrecht ausdrücklich garantiert. Nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes sind auch für nicht organisierte Unternehmen die von den autonomen Tarifpartnern ausgehandelten Tarifregelungen verbindlich. Wichtig war dies vor allem für (von Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite) schwer organisierbare sowie kleingewerblich dominierte Wirtschaftszweige. Würde die Allgemeinverbindlichkeitsklausel außer Kraft gesetzt werden, würde die Austrittsbewegung der Unternehmer aus ihren Verbänden (weiter) beschleunigt und der Rechtsgültigkeit von Tarifverträgen grundsätzlich ein empfindlicher Stoß versetzt werden. Hierzu sowie zu weiteren „Flexibilisierungsforderungen" vgl. den Überblick bei Mückenberger, Herausforderungen, S. 37f. Zum Teil kann (und soll) dies auch in die entgegengesetzte Richtung laufen: Einzelbetriebliche Vereinbarungen gewinnen an Gewicht, während gleichzeitig die Tarifvereinbarungen entwertet werden. Dies schwebte übrigens bereits den Verfassern des AOG von 1934 als Prämisse der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung vor; vgl. Mansfeld u. a., Ordnung, S. 10, S. 17, S. 26 ff. und S. 74 u. ö. (Mansfeld und Pohl gelten als die „Väter" des AOG.) Beide aus der Beseitigung bzw. Entwertung der Tarif autonomie resultierende Tendenzen, staatliche Interventionen und einzelbetriebliche Regelungen, müssen sich also keineswegs ausschließen. Wenn Tarifpolitik und -gestaltung in der Bundesrepublik bisher so gut funktionierten und eine breite Akzeptanz besitzen, dann ist das nicht nur Resultat der formalen tarifrechtlichen Regelungen, sondern mindestens ebenso Folge einer über Jahrzehnte im Rahmen einer (überwiegend) prosperierenden marktwirtschaftlichen Ordnung eingespielten und erprobten Praxis. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern hatten vor dem Hintergrund der Erfahrungen der alten Bundesrepublik offenbar die Illusion, daß allein die Übernahme der alt-bundesdeutschen arbeits- und tarifrechtlichen Regelungen ein ähnlich weitgehend reibungsfreies Funktionieren der Tarifpolitik wie in Westdeutschland bis 1989 möglich machen würde. Es fehlte in der ehem. DDR jedoch an Erfahrung und „Übung". Hinzu trat die fundamentale ökonomische Krise („Deindustrialisierung"), die die überspannten Erwartungen an die übernommenen arbeitsrechtlichen Regelungsmechanismen in Frustration umschlagen ließen. Es waren nicht zufällig Arbeitgeber in den neuen Bundesländern, die als erste mit dem Ausstieg aus Flächentarifverträgen etc. drohten; vgl. Gut u. a., Regulierung, S. 47 f.
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Arbeitsverfassung Innerbetriebliche
Mitbestimmungsorgane
zur Ordnung der nationalen Arbeit" geschaffenen „Vertrauensräte" knüpften dem Namen nach an die alten Betriebsräte der Weimarer Republik an. Tatsächlich jedoch hatten die Vertrauensräte sämtliche substantiellen Mitbestimmungsrechte der alten Betriebsräte verloren. Sie hatten (so sahen die §§ 6 und 10 des AOG vor) das „gegenseitige Vertrauen innerhalb der Betriebsgemeinschaft zu vertiefen", „der Stärkung der Verbundenheit aller Betriebsangehörigen [also Arbeitnehmer und Arbeitgeber] untereinander und mit dem Betrieb und dem Wohle aller Glieder der Gemeinschaft", der „Gemeinschaft aller Volksgenossen unter Zurückstellung eigennütziger Interessen" zu dienen und die „Verbesserung der Arbeitsleistung" zu fördern. In der Praxis fungierten sie weder als Sprachrohr der Belegschaften, noch übten sie maßgeblichen Einfluß auf innerbetriebliche Entscheidungen des „Betriebsführers" aus. Wahlen zu den Vertrauensräten, deren Mitglieder der DAF angehören mußten und auf ihren Vorschlag auf Einheitslisten kandidierten, wurden lediglich 1934 und 1935 durchgeführt. Die Betriebsräte in der Bundesrepublik knüpfen relativ eng an ihre historischen Vorläufer, die Betriebsräte der Weimarer Republik 1920 bis 1933, an. Sie müssen erstens rechtzeitig und umfassend über alle die Belegschaften betreffenden Fragen informiert werden. Zweitens ist der Betriebsrat über die Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumfang zu unterrichten, ohne daß ihm in diesen Fragen allerdings ein grundsätzliches Recht auf Mitentscheidung zusteht. In personalpolitischen Angelegenheiten, vor allem bei Einstellungen, Kündigungen, Umsetzungen und Umgruppierungen, ist der Betriebsrat zu unterrichten und anzuhören. Sein Widerspruch kann in gesetzlich begründbaren Fällen etwa bei Kündigungen zur Weiterbeschäftigung auch gegen den Willen des Unternehmers führen (§ 102). Substantielle Mitbestimmungsrechte besitzt der Betriebsrat in allen Fragen der Lohngestaltung und Arbeitszeitregelung. Wie bei ihren Weimarer Vorläufern finden die Kompetenzen der Betriebsräte eine entscheidende Grenze in der Verpflichtung auf das Betriebswohl und den Betriebsfrieden. Arbeitskämpfe dürfen sie nicht führen59. In der DDR fungierten seit 1950 vor allem die sogenannten Betriebsgewerkschaftsleitungen (kurz: BGL) als innerbetriebliche Mitbestimmungsorgane der Belegschaften. Sie traten de jure mit der Verabschiedung des „Gesetzes der Arbeit" vom 19. April 1950 an die Stelle der im April 1946 durch das Kontrollratsgesetz Nr. 22 für alle Besatzungszonen verbindlich eingeführten Betriebsräte60.
Die im Januar 1934 mit dem „Gesetz
Vgl. Betriebsverfassungsgesetz vom 15. 1. 1972, vor allem § 2, Abs. 1, und § 74, Abs. 2. Daß die Betriebsräte im Unterschied zu den (klassischen) „Shop Stewards" zwischen drei Stühlen, nämlich den Belegschaften, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, sitzen und ihre Stellung deshalb strukturell „prekär" ist, ist bereits bei Dahrendorf, Sozialstruktur, S. 34 f., prägnant skizziert. Dies gelang nur gegen den zum Teil erbitterten Widerstand der Belegschaften; vgl. Bust-Bartels, -
Herrschaft, S. 26 f. und S. 42 ff.
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Auf dem Papier waren die Rechte der BGL ziemlich weitgehend61. Entwertet wurden die Rechte der BGL jedoch grundsätzlich dadurch, daß auch die BGL auf den Kurs der SED verpflichtet und in das politisch-ökonomische Gesamtsystem der DDR eingebunden waren. Die BGL waren nicht nur, wie die Betriebsräte, auf das Wohl des Betriebes, sondern zugleich (in dieser Hinsicht in gewisser Weise den Vertrauensräten der NS-Zeit vergleichbar) auf das Wohl des Gesamtsystems eingeschworen62. Eigentliches Machtzentrum im Betrieb waren die SED-Betriebsparteiorganisation und -leitung. Sie fungierten als Überwachungsund Kontrollorgan sowohl des Betriebsleiters als auch der BGL, mit der sie personell eng verwoben waren. Auf einen wesentlichen Punkt, in dem sich die DDR von der Bundesrepublik wie (mit gewissen Einschränkungen) vom „Dritten Reich" unterschied, kann hier nur kurz hingewiesen werden: Der Stellenwert der Betriebe war im Leben des einzelnen Arbeitnehmers in der DDR weit größer. Staatswirtschaft und Einbindung der Betriebe in den Plan und die im allgemeinen langfristige Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zum jeweiligen Betrieb erlaubten es, wichtige soziale und kulturelle Funktionen von staatlichen und sonstigen außerbetrieblichen Institutionen in die Betriebe zu verlagern. Durch institutionalisierte Servicefunktionen wie Betriebsgesundheitswesen, Werksverpflegung, Kinderbetreuung, Einkaufs61
62
Abschluß, Änderung und Auflösung von Einzelarbeitsverträgen der Belegschaftsmitglieder bedurften der Zustimmung der BGL. Seit 1978 besaß der Leiter der BGL das Recht, in die Personalakten
Einsicht zu nehmen. Außerdem durfte er an den Sitzungen der Betriebsleitungen teilnehmen. Theoretisch konnte sich die BGL über die Betriebsleitung bei den jeweils übergeordneten Wirtschaftsorganen beschweren, ein Recht, von dem anscheinend allerdings kaum Gebrauch gemacht wurde. Neben weiteren Mitbestimmungsrechten in den Bereichen der betrieblichen Sozialpolitik, des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, der Qualifizierung und Weiterbildung, kulturellen Betreuung, der Versorgung mit Dienstleistungen, Konsumgütern und Wohnraum nahm die BGL dadurch wesentlichen Einfluß auf das Betriebsgeschehen, daß sie jährlich mit der Betriebsleitung den sogenannten Betriebskollektivvertrag abschloß. Enthalten waren in dem sogenannten Betriebskollektivvertrag detaillierte Bestimmungen über die einzelbetriebliche Umsetzung des sozialistischen Wettbewerbs (einem zentralen Element der DDR-Planwirtschaft), über die Verwendung des betrieblichen Lohnfonds und damit über die Ausschüttung von Prämien. Der Betriebskollektivvertrag enthielt außerdem Regelungen über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Belegschaft sowie die konkreten Formen der Arbeits- und Produktionsorganisation, ferner zur Freizeit- und Feriengestaltung. Einfluß nahm die BGL auf das innerbetriebliche Geschehen außerdem über die Bildung von Kommissionen. Von Bedeutung waren vor allem die Kommissionen „Arbeit und Löhne", die sich mit ökonomischen Fragen beschäftigten (Plandiskussion, Plandurchführung, Organisation des Wettbewerbs, Anwendung der Methoden der sogenannten wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und sonstiger Formen der Rationalisierung), außerdem mit Fragen der Lohnformen und Leistungsanreize befaßten und darüber die Verhandlungspositionen der BGL für den Abschluß der Betriebskollektivverträge vorbereiteten. Den skizzierten Rechten der BGL und ihrer Suborganisationen stand die Pflicht gegenüber, gegenüber den Gewerkschafts- und Belegschaftsmitgliedern die vorgegebenen bzw. ausgehandelten Arbeitsnormen, Lohnformen etc. zu rechtfertigen und durchzusetzen. Eine Sonderrolle spielten die 1949 entstandenen Arbeitsbrigaden bzw. seit Ende 1958 die wiedergegründeten Produktionsbrigaden oder „sozialistischen Brigaden", die an der Wende zu den sechziger Jahren mehr als eine Million Arbeitnehmer in ihren Reihen zählten. Sie praktizierten in den fünfziger Jahren vielfach offenbar recht wirkungsvoll eine Art informeller Interessenvertretung auf betrieblicher Ebene, was ihnen den Vorwurf des „Syndikalismus" eintrug; vgl. Hübner, Konsens, S. 223 ff.; Rosier, Brigadier, insbesondere S. 279; ferner Gut u. a., Regulierung, S. 35.
Arbeitsverfassung
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möglichkeiten und sonstige Dienstleistungen im Betrieb sowie überhaupt die betriebliche Förderung des „geistig-kulturellen Lebens, der Körperkultur und des Sports" schlüpfte der Betrieb mitunter in die Rolle einer Ersatzfamilie63. Darüber hinaus wurde der Betrieb zum wichtigsten Raum, in dem sich informelle soziale Netzwerke entwickelten, die unter anderem notwendig waren, um knappe Dinge des Alltags zu organisieren. Man könnte zuspitzen und behaupten: Im Unterschied zum „Dritten Reich", wo die „Betriebsgemeinschaft" abgesehen von den letzten Kriegsjahren äußerlich blieb64, rückte in der DDR der Betrieb tatsächlich stärker ins gesellschaftliche Zentrum. Es kam unter ganz anderen politischen Vorzeichen als im NS-Staat zu einer Art innerbetrieblicher Vergemeinschaftung. Streikrecht
jeweilige Arbeitskampfrecht läßt besonders gut Rückschlüsse auf den Charakter der jeweiligen Arbeitsverfassungen sowie den jeweiligen Grad der politischen Freiheiten zu. Im „Dritten Reich" wurde das Arbeitskampfrecht nicht formalisiert, d. h. es gab kein gesetzliches oder auf dem Verordnungswege fixiertes Streikverbot65. Die Nationalsozialisten verzichteten bewußt auf eine Kodifizierung des Streikrechts. Sie vertrauten auf den rechtsstaatlich nicht begrenzten, willkürlichen Zugriff von Organen wie der Gestapo. Denn fehlende rechtliche Normen ermöglichten ein höchst flexibles, situationsangepaßtes Handeln der staatsterroristischen Institutionen66. Etwas komplizierter gestaltete sich die Entwicklung des Streikrechts in der DDR. Die Verfassung von 1949 garantierte das Streikrecht. Der von KPD und SED dominierte FDGB lehnte allerdings von Anfang an Arbeitskämpfe in den verstaatlichten, dem Namen nach „volkseigenen" Betrieben ab, da jeder Streik der Arbeiter sich gegen sie selbst, als die angeblichen Eigentümer der Betriebe, Das
Der hohe Stellenwert der Betriebe in der DDR war allerdings nicht nur politisch-ideologisch gewollt, sondern auch Folge einer quantitativ im Vergleich zu den vorausgegangenen Zeiten geradezu dramatischen Einbeziehung von Frauen in die industrielle Erwerbstätigkeit. Sie legte eine Verlagerung von Kindergärten, Verkaufsstellen etc. in den Betrieb nahe. Vgl. auch den Beitrag von Günther Schulz in diesem Band. Typisch für das „Dritte Reich" war trotz der Ausdehnung der Arbeitszeiten eher ein Bedeutungsverlust des Betriebes im Leben des einzelnen. Nach 1933, d. h. u. a. nach der gewaltsamen Zerstörung gewachsener Sozialbeziehungen auch in den Betrieben, zogen sich die meisten Arbeitnehmer, so sie nicht mit der NS-Bewegung sympathisierten, in das von der NS-Bewegung samt Suborganisationen wie der DAF nicht kontrollierte Familienleben zurück, griffen auf ältere außerbetriebliche Sozialkontakte zurück oder vereinzelten. Das änderte sich in den letzten Kriegsjahren in dem Maß, wie die allgemeine Infrastruktur zusammenbrach und die Betriebe hier ersatzweise
Versorgungsfunktionen übernahmen.
Im AOG (§ 36, Abs. 1,2) wurde zwar derjenige, der den Arbeitsfrieden durch „böswillige Verhetzung der Belegschaft" gefährdete, mit einer „Ehrenstrafe" bedroht. Die sah allerdings schlimmstenfalls Entlassung vor. Erfaßt wurden mit dem Artikel außerdem nicht diejenigen, die sich lediglich an einem Streik beteiligt hatten, ohne dazu „aufgehetzt" zu haben. Vgl. vor allem Morsch, Streik, insbesondere S. 667-672; ders., Arbeitsniederlegungen, S. 3 ff.
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richte. Obwohl diese politisch-rechtliche Fiktion mit dem 17. Juni 1953 gründlich widerlegt wurde, kannten weder das Gesetzbuch der Arbeit von 1961 noch die Verfassung von 1968 und das Arbeitsgesetzbuch von 1978 ein Streikrecht. Dieses fundamentale Defizit an politischer und sozialer Demokratie resultierte aus der behaupteten Identität von Staats- und Parteipolitik mit den Interessen der Arbeiterklasse. Für die SED bestand in dieser Hinsicht ein politisches Dilemma: Arbeitsniederlegungen waren nicht nur ein ökonomisches und soziales Problem. Sie trafen die SED und die DDR immer auch in ihrer politischen Substanz. In dieser Hinsicht sind gewisse Parallelen zum NS-Regime nicht zu übersehen. Denn auch im „Dritten Reich" wurden Arbeitskämpfe nicht als vornehmlich sozial und ökonomisch motiviert, sondern als Kampfansage an das Regime begriffen und von den staatsterroristischen Organen entsprechend hart verfolgt. Anders dagegen berühren Arbeitsniederlegungen in der Bundesrepublik in aller Regel nicht unmittelbar die politische Sphäre. Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes garantiert grundsätzlich das Recht auf Streik. Ein Gesetz, in dem Regeln für Arbeitskämpfe aufgestellt werden, existiert allerdings nicht. Deshalb bilden die Urteile des Bundesarbeitsgerichts einen wesentlichen Orientierungsrahmen. Infolgedessen hat sich ein relativ komplexes Schlichtungssystem und die Ansicht durchgesetzt, daß Streiks nur dann legal sind, wenn sie von den Gewerkschaften organisiert werden und zuvor alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind67. Zum bundesdeutschen Arbeitskampfrecht gehört auch das Recht der Unternehmer auf Aussperrung. Obwohl das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 10. Juni 1980 ausdrücklich die prinzipielle Ungleichheit von Streik und Aussperrung betonte, blieben bisher Aussperrungen erlaubt, konnten sich die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach einem grundsätzlichen Verbot der Aussperrung nicht durchsetzen. Im Unterschied zu den meisten anderen westeuropäischen Staaten ist das Recht der Unternehmer auf Aussperrung in der Bundesrepublik vielmehr ziemlich weit gefaßt vor allem mit der Änderung des Arbeitsförderungsgesetz § 116 seit 1984, die den Anspruch ausgesperrter Arbeitnehmer auf Arbeitslosengeld drastisch reduziert hat. Die tarifpolitischen Gewichte sind insofern deutlich zu Ungunsten der Gewerkschaften verschoben; denn für sie ist das Streikrecht letztlich das einzige Mittel, einen Tarifabschluß zu erzwingen, wenn eine friedliche Einigung nicht möglich ist. Hinzu kommt, daß das Recht auf Streik in seiner Substanz immer jeweils durch die allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen und besonders durch die Situation auf dem Arbeitsmarkt berührt wird. Der Blick auf die Weltwirtschaftskrise 1930 bis 1933 zeigt nachdrücklich, was dies heißt: In Zeiten hoher Erwerbslosigkeit wird die Drohung mit Streik stumpf, verfügen die Gewerkschaften nicht mehr über wirk-
Nicht von den Gewerkschaften getragene, sogenannte wilde Streiks sind ebenso illegal wie politisch motivierte Arbeitsniederlegungen. Vgl. ausführlich Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, S. 628ff. Kurzzeitige Warnstreiks während laufender Tarifverhandlungen gelten dagegen heute als
legal.
Arbeitsverfassung
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Instrumente, den Forderungen der Arbeitnehmer Nachdruck zu verleihen. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise gelang es in vielen Unternehmen nicht einmal, Kandidaten für den Betriebsrat zu finden, bzw. waren gewählte Betriebsräte nicht bereit, ihre Wahl auch anzunehmen, „aus Furcht vor persönlichen Schäden, die sich aus der Ausübung des Amtes ergeben konnten", wie es im Jahrbuch der Gewerbeaufsichtsbeamten für 1931/32 lakonisch hieß68. same
Zusammenfassung Vergleich von Systemen hat den Zweck, Gemeinsamkeiten zu konstatieren aber nicht nur: Er soll außerdem den Blick für die Besonderheiten der einzelnen Systeme schärfen. Das gilt auch für die hier diskutierten Arbeitsverfassungen. Einerseits fallen eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten namentlich zwischen den Arbeitsverfassungen des „Dritten Reiches" und der DDR ins Auge: die Fiktion einer Interessensidentität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern bzw. dem Staat, das Fehlen echter Tarifautonomie, die Aufhebung des Streikrechts, ähnliche Rollenzuweisungen an DAF und FDGB etc. Parallelen, die aus einem beiden Regimen gemeinsamen Defizit an Verfassungsund Rechtsstaatlichkeit resultieren. Trotz solcher und weiterer Analogien ist es jedoch nicht sinnvoll, gleichsam zwei Lager, zwei Grund typen von Arbeitsverfassungen zu konstruieren auf der einen Seite NS-System und DDR als gleichsam deutsche „Spielarten" einer diktatorischen bzw. totalitären Variante und auf der anderen Seite die Bundesrepublik als das deutsche Beispiel einer westlich-demokratischen Arbeitsverfassung. Geringer wiegt, daß es schwierig werden dürfte, die Weimarer Arbeitsverfassung und hier insbesondere den Zustand, wie er sich 1930 bis 1932 herausbildete, in ein solches Raster einzuordnen. Vor allem verbieten der Rassismus, die Stigmatisierung ganzer Bevölkerungs- und Arbeitnehmergruppen, ihre Ausgrenzung aus „Betriebs-" und „Volksgemeinschaft" und damit aus der menschlichen Gesellschaft als grundlegende Charakteristika der Arbeitsverfassung des „Dritten Reiches" eine Gleichsetzung mit den kollektivrechtlichen Regelungen des gescheiterten deutschen Kommandosozialismus. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Einschränkungen steht freilich außer Zweifel, daß die bundesdeutsche Arbeitsverfassung den beiden, bzw. rechnet man die Weimarer Verfassung hinzu, den drei anderen überlegen war und ist, weil sie die sozialen Gegensätze und Interessenskonflikte nicht durch eine Gemeinschaftsideologie zu unterdrücken sucht, sondern ihnen Rechnung trägt, vor allem indem sie die Tarifparteien weitgehend autonom agieren läßt und ihnen elastische Mechanismen zur selbständigen Konfliktregulierung zur Verfügung stellt. Arbeitsverfassungen sind freilich keine unveränderlichen statischen Systeme. Sie können vielmehr je nach der Dynamik des gesellschaftlichen Gesamtsystems Ein
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Jahrbuch der Gewerbeaufsichtsbeamten für 1931/32, Berlin 1933, S. 34.
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erheblichen Wandlungen unterliegen. Besonders die Änderungen der Arbeitsverfassung während der NS-Zeit waren gravierend; sie lassen sich vielleicht am besten mit zwei Schlagworten umreißen: mit „kumulative Radikalisierung" und „Militarisierung der Arbeit". Abgestuft je nach „rassischer Wertigkeit" der Arbeitnehmer wurden das kollektive Arbeitsrecht als Schutzrecht der Arbeitnehmerschaft sowie überhaupt die anfangs vorhandenen Reste rechtsstaatlicher Normen sukzessive außer Kraft gesetzt, um das im deutschen Herrschaftsbereich existierende Arbeitskräftepotential möglichst uneingeschränkt für die sich gleichfalls radikalisierenden Ziele des NS-Regimes disponibel zu machen. Die Arbeitsverfassung, wie sie 1933/34 ausgeformt wurde, konnte darüber hinaus an eine seit 1930 fundamental gewandelte, ursprünglich in zentralen Elementen demokratische, in der Phase der Präsidialkabinette jedoch autoritär überformte Arbeitsverfassung fast bruchlos anknüpfen. Für die DDR wiederum gilt im Gegensatz zum „Dritten Reich" eher die Tendenz einer allmählichen faktischen (weniger formalrechtlichen) Lockerung der restriktiven Arbeitsverfassung, einer Lockerung jedenfalls der innerbetrieblichen Kontrolle. Um politisch zu überleben, glaubte das SED-Regime in der Honecker-Ära, die Zügel nicht mehr so scharf anziehen zu dürfen wie noch in der Ulbricht-Ära. In der Bundesrepublik schließlich wurden die oben im Zusammenhang mit der Diskussion der Rolle des Gemeinschaftsbegriffes angedeuteten, aus der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich" überkommenen „Altlasten" des deutschen Arbeitsrechts eine Folge auch der Elitenkontinuitäten in diesem Rechtsbereich allmählich abgebaut, die demokratischen Elemente der Arbeitsverfassung ausgeweitet und in jahrzehntelanger tarifpolitischer Praxis zur Routine. Allerdings drohen demokratische Arbeitsverfassungen in Zeiten wirtschaftlicher Krise und hoher Arbeitslosigkeit ausgehöhlt zu werden, droht der entscheidende Vorteil einer demokratischen Arbeitsverfassung, nämlich die institutionalisierte Konfliktaustragung durch autonome Tarifparteien statt GemeinschaftsIdeologie und autoritärer Reglementierung der Arbeitsverhältnisse, verlorenzugehen bzw. an Legitimation und politischer Bindekraft zu verlieren mit unübersehbaren Konsequenzen auch für das politische Gesamtsystem. -
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Gesundheitspolitik Für die meisten Einwohner der
Bundesrepublik beginnt das Leben in einer Kran-
kenanstalt, und für beinahe die Hälfte von ihnen endet es auch dort.
In der Spandazwischen begibt sich im statistischen Durchschnitt jährlich rund ein Sechstel der Bundesbürger in stationäre Behandlung1. Versteht man das Krankenhaus als Sinnbild für die Bedeutung des Gesundheitswesens in modernen Gesellschaften, so tritt seine besondere Stellung im System der sozialen Sicherung deutlich hervor. Das Risiko, krank zu werden, ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts zwar erheblich geringer geworden, jedoch bis heute allgegenwärtig geblieben. Das Gesundheitswesen betrifft daher nicht nur einzelne Lebensabschnitte wie die Alterssicherung, es zielt auch nicht auf eine spezifische, durch besondere Eigenschaften vom Rest der Bevölkerung deutlich geschiedene Gruppe, wie etwa die Familienpolitik. Indem es Menschen gegen gesundheitliche Beeinträchtigungen und ihre Folgen sichert, umgreift das Gesundheitssystem alle Lebensphasen, betrifft potentiell jeden und berührt beinahe alle Bereiche des sozialen Lebens. Inzwischen beansprucht es mehr als ein Drittel des Sozialbudgets und gehört somit auch finanziell zu den wichtigsten sozialpolitischen Handlungsfeldern2. Die Notwendigkeit einer besonderen Sicherung gegen Krankheit und ihre Folgen ist in funktional differenzierten Industriegesellschaften weithin unbestritten. Dagegen differieren die Vorstellungen über Organisationsformen, Zielgruppen und den Umfang dieser Sicherung zum Teil erheblich voneinander. Ihre konkrete Ausgestaltung erlaubt Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Wertbezüge, die gesellschaftliche Machtverteilung und die mit dem Gesundheitswesen verbundenen Interessenkonstellationen. Im deutschen Fall sind neben der Stabilität einiger Organisationsprinzipien über politische Systemwechsel hinweg vor allem charakteristische systemspezifische Besonderheiten der Gesundheitspolitik zu erklären. Der Beitrag strebt eine Betrachtungsweise an, die Ähnlichkeiten und Unterschiede des Gesundheitswesens im nationalsozialistischen Deutschland, der DDR und der Bundesrepublik konturiert und vor dem Hintergrund der vorherrschenden politischen, ökonomischen und sozialen Ordnungsideen analysiert. Ein solches ne
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1992 kamen im Bundesgebiet 99,6% der Neugeborenen in Kliniken zur Welt. 49,3% der Toten dieses Jahres starben in Krankenhäusern. Auf je 10000 Einwohner entfielen im gleichen Jahr 1768 Krankenhausaufcnthalte; Statistisches Informationssystem des Bundes, Krankenhausstatistik, Todesursachenstatistik. Für 1992 berechnet nach Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Ubersicht, S. 740.
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Verfahren erscheint in mehrfacher Hinsicht aussichtsreich: In systemvergleichender Perspektive läßt sich zunächst danach fragen, in welcher Weise die drei bestimmenden Ordnungsentwürfe des 20. Jahrhunderts (NS-Diktatur, kommunistische Diktatur, liberale Demokratie) gesundheitspolitische Prägekraft entfalteten. In gesellschaftstheoretischer Perspektive ermöglicht der innerdeutsche Vergleich eine Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen handlungsleitende Kriterien ohne unmittelbaren Bezug zur Gesundheit die des Gesundheitswesens überlagerten, und unter welchen Umständen es als funktional differenziertes gesellschaftliches Teilsystem autonom gegenüber externen Zielvorgaben war3. In sozialgeschichtlicher Perspektive gerät der Sozialstaat als Produzent von Lebensverhältnissen in den Blick, denn dort, wo gesundheitspolitische Richtungsentscheidungen die Verteilung von Lebenschancen beeinflussen, wirkt er unmittelbar auf das Gefüge der Gesellschaft. Eine Besonderheit des innerdeutschen Vergleichs besteht darin, daß die Untersuchungseinheiten gleichsam Entwicklungspfade bilden, die vom Ausgangspunkt eines gemeinsamen Traditionsbestandes abzweigten und sich seither in spezifischen Kontexten weiterentwickelten. Das „Dritte Reich", die Bundesrepublik und die DDR entwarfen ihre Gesundheitssysteme in Abgrenzung zur gesundheitspolitischen Ordnung ihrer jeweiligen Vorgängerstaaten und griffen dabei in unterschiedlicher Weise auf Entwicklungen der Weimarer Republik zurück4. In institutionengeschichtlicher Perspektive erlaubt der Vergleich daher Antworten auf die Frage, in welcher Weise etablierte Traditionsbestände Ausmaß und Richtung künftiger Veränderungen im System der sozialen Sicherung auch über politische Brüche hinweg determinierten. Vergleiche zwingen zur genauen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes. Dies gilt in besonderer Weise für das Gesundheitswesen, das sich als „Querschnittsaspekt nahezu aller Politikbereiche"5 nur schwer durch eindeutige Ressortkompetenzen und klar definierte Handlungsfelder beschreiben läßt. Ich beschränke mich daher auf vier Gesichtspunkte: Einleitend sollen anhand der gesundheitspolitischen Ordnungsideen einige Leitdifferenzen konturiert werden, die auf unterschiedlichen Wertbezügen der drei Herrschaftsordnungen basieren. Der nächste Fragenkomplex nimmt die regimespezifischen Funktionszuweisungen an das Gesundheitssystem in den Blick. Welche Aufgaben wurden ihm über die reine Krankheitsbekämpfung hinaus zur Lösung überwiesen? Wo und mit welchen Begründungen wurden gesundheitspolitische Schwerpunkte gesetzt, und welche Bereiche wurden dabei vernachlässigt? Daran knüpft ein weiteres Fragenbündel an: Wer erhielt privilegierten Zugang zur Gesundheitsversorgung, und welche Personenkreise wurden dabei benachteiligt? Bildeten sich regimespe3
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Die Autonomie funktional differenzierter Teilsysteme wird mit universellem Gültigkeitsanspruch postuliert von Luhmann, Anspruchsinflation, S. 29 f. und S. 37. Für die beiden deutschen Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches" trat als zweiter, gleichwohl weniger bedeutsamer Konstrastbezug das Gesundheitssystem ihres innerdeutschen „Polarisierungszwillings" (H. G. Hockerts) hinzu. Rosenbrock, Gesundheitspolitik, S. 57.
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Gesundheitspolitik
„Versorgungsklassen"6 heraus, oder ähnelten sich die differierenden poliOrdnungen bei der medizinischen Privilegierung/Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsteile? Abschließend wird am Beispiel der ambulanten Versorgung nach der Stellung der Ärzte im Gesundheitssystem zu fragen sein.
zifische tischen
Ordnungsideen Einige der wichtigsten Ideenkerne nationalsozialistischer Gesundheitspolitik sind in einem Beitrag des „Reichsgesundheitsführers" Leonardo Conti zum zehnten Jahrestag der „Machtergreifung" enthalten: „Die Gesundheit des Volkes" sei „mehr als nur das Freisein des einzelnen Volksgenossen von Krankheiten. Gesundheit des Volkes bedeutet Leistungskraft und Wiedererneuerungsfähigkeit zu höherem Wert in jeder kommenden Generation."7 Zuvorderst machen die Darlegungen Contis eine Perspektivenverschiebung deutlich, die die traditionelle Orientierung ärztlichen Handelns geradezu auf den Kopf stellte: Nicht mehr das Wohl des einzelnen Kranken, sondern der Zustand der übergeordneten biologischen Einheit, die gesundheitliche Beschaffenheit eines imaginären „Volkskörpers", bildete den entscheidenden Bezugspunkt gesundheitspolitischen Handelns. Aus dieser Orientierung resultierte die enge Vernetzung der Gesundheits- mit der Bevölkerungspolitik, die der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik ihren sozialutopistischen Charakter gab. Stärker als traditionelle, primär an der Bekämpfung aktueller Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgerichtete medizinische Strategien war die Erbgesundheitspolitik des „Dritten Reiches" neben der Gegenauf die Zukunft hin orientiert und kombinierte im engeren Sinne medizinische mit gesellschaftssanitären Zielsetzungen. Damit war ein Wechsel in der Theorie der Krankheitsverursachung verbunden, der den Zuschnitt der gesundheitspolitischen Instrumente in entscheidender Weise prägte: Die Sozialhygiene als Leitwissenschaft des öffentlichen Gesundheitswesens in der Weimarer Republik hatte die pathogenen Lebensverhältnisse industnekapitalistisch verfaßter Gesellschaften als Hauptursache differenzierter Morbiditätsstrukturen identifiziert und daraus eine öffentliche Eingriffspflicht in die sozialen Verhältnisse abgeleitet. Die nationalsozialistische Rassenhygiene stellte statt des Zusammenhangs von Gesundheit und sozialer Lage die Bedeutung der Erbanlagen als Krankheitsursache in den Vordergrund. Während der Sozialpolitik der Weimarer Republik ein egalitäres Menschenbild zugrunde lag und sie spezielle Programme zur Förderung gesundheitsgefährdeter Gruppen entwickelte, ging die NS-Medizin von der qualitativen Ungleichheit der Menschen aus. Sie klassifizierte die Kranken nach ihrem Erbgut und politischen Opportunitätserwägungen (hierzu zählte z. B. die „Leistungskraft" des Begutachteten) und leitete daraus spezifische Behandlungsformen ab, wart
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Lepsius, Ungleichheit, S. 179.
Leonardo Conti, Nationalsozialismus und S. 29-31, S. 30.
Volksgesundheit,
in:
Gesundheitsführung
4
(1943),
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die sich nun auch gegen den Kranken und seine Familie richteten. „Zu höherem Wert" das konnte bessere medizinische Betreuung für den einen und verschlechterte Gesundheitsfürsorge für einen anderen Patienten bedeuten, vor allem aber Fortpflanzungsförderung für den einen Teil und gewaltsame Fortpflanzungsverhinderung für den anderen Teil der Bevölkerung. Bei dem Versuch, die hypertrophe Vision einer durch genetische Homogenisierung krankheitsfreien Gesellschaft zu verwirklichen, wurden mehr als 400000 Personen zwangsweise sterilisiert, über 5000 Personen, die meisten davon Frauen, verloren dabei ihr Leben8. Dieser destruktiven Utopie einer „inneren Reinigung" durch den Fortpflanzungsaus-
schluß aller potentiellen Träger von sozial oder medizinisch für deviant erklärten Erbanlagen entsprach, nach außen gewendet, das Ziel der gewaltsamen Ausscheidung „Fremdrassiger" aus dem genetischen Bestand des deutschen Volkes9. Durch die Bereitstellung solcher hierarchisierend-selektierenden Handlungsmuster prägte die Gesundheitspolitik nicht nur den Stil der NS-Sozialpolitik. Indem sie soziale Fragen in medizinische Probleme übersetzte und scheinbar wissenschaftlich begründete Radikal„lösungen" anbot, wirkte sie weit über die Grenzen des Gesundheitssektors hinaus, so daß man in gewisser Weise von einer Medizinierung der Politik sprechen kann, die das komplementäre Element zur politisierten Medizin des nationalsozialistischen Deutschlands bildete. Der nationalsozialistische Diktator hielt sich für den „Robert Koch in der Politik"10 und glaubte Juden als die „Rassetuberkulose der Völker"11 entdeckt zu haben. Auch Werner Bests Diktum von der Gestapo als „Arzt am deutschen Volkskörper"12 steht exemplarisch für diese Entwicklung. Eine derartig gewaltsame, gegen Teile der Kranken gerichtete Komponente fehlte der Gesundheitspolitik der DDR. Darin unterschied sie sich grundlegend von der ersten deutschen Diktatur. Die SED orientierte sich zunächst eng an den Vorbildern der deutschen Arbeiterbewegung, deren Repräsentanten als wichtigste Ziele den allgemeinen und unentgeltlichen Zugang zur Gesundheitsversorgung, den Ausgleich ungleicher Gesundheitsverhältnisse (z. B. zwischen Stadt und Land) und die Entkommerzialisierung des Gesundheitswesens formuliert hatten. Dem Abbau bestehender „Ungleichheit vor Krankheit und Tod" (R. Spree) kam in der Errungenschaftsrhetorik des SED-Staates ein hoher Stellenwert zu. Während das nationalsozialistische Deutschland erklärtermaßen eine Medizin der Ungleichheit praktizierte, erhob es der SED-Staat zum offiziellen Ziel, „allen Bürgern unabhängig von ihren Einkünften die gleichen Voraussetzungen für den Schutz ihrer Ge8
10
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 159. Vgl. Peukert, Rassismus, S. 71. Neuere Arbeiten zur Geschichte der „Euthanasie", z. B. Friedlander, Origins, betonen den engen Zusammenhang der Krankenmorde mit der Ermordung rassisch
Verfolgter.
Aufzeichnung Werner Koeppens vom 10. 7. S. 58.
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Hitler
12
Werner S. 163.
1941, IfZ,
Sammlung Irving, zit. nach Broszat, Hitler,
Hierl, 3. 7. 1920, zit. nach Blasius, Tuberkulose, S. 327. Best, Die Geheime Staatspolizei, in: Deutsches Recht 6 (1936), zit. nach Herbert, Best,
an
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schaffen. Gerade in diesem Punkt galt das Gesundheitssystem als Vorzeigebereich der DDR-Sozialpolitik, sowohl in der Konkurrenz zum westdeutschen Nachbarn, dem man sich hierin deutlich überlegen wähnte, als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung14. Im Gesundheitswesen, so der Minister Ludwig Mecklinger gegenüber Mitarbeitern des öffentlichen Gesundheitsdienstes, habe das Gesellschaftssystem der DDR für den Bürger „Name, Gesicht und Adresse"15. In der Praxis wurde Gesundheitspolitik als Teilgebiet realsozialistischer Sozialpolitik freilich vor allem durch zwei „Hauptfragen" bestimmt, die die Diktion der SED-Bürokratie mit den Begriffen „Reproduktion der Gesamtbevölkerung und Reproduktion der Arbeitskraft"16 umschrieb. Besonders in den fünfziger Jahren lassen sich in mehrfacher Hinsicht frappierende Analogien zwischen der national- und der staatssozialistischen Gesundheitspolitik aufzeigen, zum Beispiel in ihrer gleichermaßen gesellschaftsgestaltenden Konzeption. Beide Regime versuchten, mit Hilfe des Gesundheitswesens einen neuen „gesünderen" Menschentyp als Teil einer leistungsfähigeren „neuen Gesellschaft" zu formen, die medizinischer Maßnahmen zunehmend weniger bedurft hätte17. Auch in der bevölkerungspolitischen Orientierung der Gesundheitspolitik sind Analogien zwischen beiden Diktaturen erkennbar, während dieses Thema aus dem gesundheitspolitischen Diskurs der Bundesrepublik nahezu verdrängt war. Die Sorge des sächsischen Gesundheitsministers Otto Rühle, der eine „biologische Schwächung der Nation"18 durch einen angeblich drohenden Geburtenrückgang und die damit verbundene Gefahr des ,,Zurückbleiben[s] gegenüber kinderreicheren Völkern" befürchtete, greift klassenkämpferisch gewendet kompetitive Degenerationsszenarien auf, die bereits in der gesundheitspolitischen Diskussion der Weimarer Republik zu finden waren, bevor sie die nationalsozialistische Gesundheitspolitik bestimmten. Gegenüber voreiligen Gleichsetzungen bleibt trotzdem Zurückhaltung angebracht, da sich viele scheinbare Gemeinsamkeiten bei genauerer Betrachtung auflösen. Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik war, um nur ein Beispiel zu nennen, in erster Linie qualitativ orientiert. Sie zielte nicht nur auf die Vermehrung der deutschen Bevölkerung, sondern vor allem auf die „Hebung" ihrer kollektiven Erbanlagen und betrieb daher eine extrem selektionistische Form der Geburtenförderung. Die arbeitspolitisch motivierte Peuplierungspolitik der DDR wirkte dagegen unselektiv pronatalistisch19.
sundheit"13
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17 18 19
zu
Mette u. a., Arzt, S. 29. Das Gesundheitswesen galt seit den sechziger Jahren als einer jener Gesellschaftssektoren, in denen die DDR „das imperialistische Westdeutschland seit langem eindeutig überholt hatte" (so Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED), zit. nach Hockerts, Errungenschaften, S. 797. Humanitas 24/1981, S. 1, zit. nach Müller, Ärzte, S. 341. Kurzprotokoll über die Beratung der Arbeitsgruppe Sozialpolitik am 19. 12. 1966; Stiftung Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BA), J IV 2/202/448. Für die SBZ/DDR: Hahn, Tendenzen, S. 47 f. Rühle, Arzt, S. 26. In diesem Punkt bewirkte die Erfahrung der NS-Zeit in der DDR den Abbruch einer Traditionslinie. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten selektionistische Varianten der Eugenik, die auch Eingriffe in die
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In vergleichender Sicht ist weiterhin bedeutsam, daß auch im SED-Staat ein herrschaftlich stark aufgeladener Gesundheitsbegriff dominierte, der analog zu dem des „Dritten Reiches" Gesundheit und Leistungsfähigkeit sozialutilitaristisch miteinander verknüpfte und Krankheit als Belastung der Volkswirtschaft und Hemmschuh der gesellschaftlichen Entwicklung moralisch inkriminierte20. Bis in die sechziger Jahre hinein begriff die DDR-Führung Gesundheitspolitik primär als Mittel, Arbeitskraft und Arbeitsbereitschaft ihrer Bevölkerung zu steigern21. Ähnlich wie das „Dritte Reich" faßte der SED-Staat Krankheit nicht als individuelles, sondern als gesellschaftlich bedeutsames Phänomen auf und leitete daraus eine „Bürgerpflicht"22 zur Gesundheit ab, die er von seinen Werktätigen einforderte. Während jedoch die Propagandisten völkischer Gesundheitspolitik „die Pflicht, gesund zu sein"23 an die Stelle des hergebrachten Rechtes auf medizinische Versorgung setzten, bildeten der Gesundheitsschutz und die Gesundheitspflicht in der DDR zwei aufeinander bezogene Bestandteile der Gesund-
heitspolitik. Im Gegensatz zur DDR und zum nationalsozialistischen Deutschland, wo die Bedeutung von Gesundheit vor allem aus ihrem Bezug auf eine übergeordnete Gruppe (das „Volk" bzw. die „sozialistische Gesellschaft") erwuchs, ist Gesundheit in der Bundesrepublik in erster Linie ein auf den einzelnen bezogener Wert, der seine Bedeutung als Voraussetzung individueller Teilhabe an den Errungenschaften der Wohlstandsgesellschaft erhält24. Auch der vorherrschende Gesundheitsbegriff unterscheidet sich von den Gesundheitsbegriffen der beiden Diktaturen, die aus staatlichen Zielvorgaben abgeleitet und stark von sozialen Leitbildern durchdrungen waren, durch seinen geringeren normativen Gehalt. Da die politische Ordnung der Bundesrepublik dem Vermögen einzelner Institutionen, einen Gesundheitsbegriff verbindlich und dauerhaft zu formulieren, enge Grenzen setzt, wird sein Inhalt zwischen den Akteuren des politischen Systems, des Gesundheitssystems und der Sozialrechtsprechung stets neu bestimmt, so daß nur wenig Spielraum für stabile normative Aufladungen bleibt25.
20
21
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menschliche Fortpflanzung bis hin zur Zwangssterilisation befürworteten, als komplementärer Teil sozialhygienischer Reformansätze innerhalb der gesundheitspolitischen Expertenzirkel der Sozialdemokratie erheblich an Einfluß gewonnen; Schwanz, Proletarier, S. 555 und S. 565 f., ebenso Hahn, Tendenzen, S. 46 f., mit eindrucksvollen Quellenbelegen aus dem Verein sozialistischer Arzte. K. Merten, Funktionen und Dysfunktionen unseres Arzneiwesens und deren Weiterwirken im sozialistischen Aufbau, Rede des Ministers für Gesundheitswesen am 27. 2. 1959 vor Ärzten, Zahnärzten und Apothekern eines FDGB-Lehrgangs in Lychen, in: Pharmazeutische Praxis 1959, Heft 7, S. 100-102, S. 100. Rudolf Weber, Thesen zu einer Grundkonzeption für die Festigung der sozialistischen Umgestaltung des Gesundheitsschutzes in der DDR [Entwurf], 23. 7. 1958, S. 3; SAPMO-BA, DY 30/IV 2/19/99. Kurt Geiger, Zur wachsenden Bedeutung des militärischen Gesundheitsschutzes, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene 27 (1981), S. 317-319, zit. nach Hahn, Tendenzen, S. 48. Kötschau, Umbruch, S. 29. Scheuch, Gesundheitswesen, S. 79. Die Bedeutung des Richterrechts für die Entwicklung des Gesundheitswesens der Bundesrepublik ist kaum zu überschätzen. Dies gilt sowohl für die Erweiterung des Leistungsrechts der gesetzli-
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übergreifende Wertvorstellungen in totalitären Systemen unmittelbar gesundheitspolitische Wirkung entfalten konnten, treten sie im Gesundheitssystem der Bundesrepublik weniger offenkundig zutage. Hier finden sich solche Wertbezüge vor allem in institutionell verfestigter Form als Organisationsprinzipien und Verfahrensregeln der Gesundheitsversorgung, insbesondere in den Konstruktionsmerkmalen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Diese geWährend
hen im Kern auf die sozialstaatliche Gründerzeit des späten 19. Jahrhunderts zurück. In ihrer heutigen Gestalt basieren sie auf Richtungsentscheidungen in der gesundheitspolitischen Rekonstruktionsphase der Jahre 1949-1955. Ordnungspolitisch ist das Gesundheitswesen der Bundesrepublik durch die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft charakterisiert. Sie kommt z. B. in der herausgehobenen Bedeutung intermediärer Instanzen zur Geltung, die spezifisch für das gesundheitspolitische Institutionengefüge der Bundesrepublik ist26. Zwar regulieren staatliche Stellen die Verteilung gesundheitsbezogener Güter und Dienstleistungen, jedoch tragen die sich selbst organisierenden sozialen Kräfte der Leistungsanbieter und Kostenträger des Gesundheitswesens die Hauptverantwortung für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Der Staat tritt nur dort subsidiär in Erscheinung, wo diese nicht selbst dazu in der Lage sind, z. B. indem er kostenintensive medizinische Infrastruktureinrichtungen bereitstellt. Das nationalsozialistische Deutschland und die DDR versuchten dagegen, die Verfügung über das Gesundheitswesen zu monopolisieren. Während beide Diktaturen gesundheitspolitische Entscheidungsstrukturen zentralisierten, kennzeichnen fragmentierte Entscheidungsstrukturen, schwach ausgebildete Zentralinstanzen und die korporative Einbindung von Leistungsanbietern und Kostenträgern in den Steuerungsprozeß das Gesundheitssystem der Bundesrepublik27. Auch wenn die Verteilung von Gesundheitsressourcen dem Markt weitgehend entzogen ist, so formt die liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik doch auch das Gesundheitswesen, z. B. dadurch, daß die Produktion gesundheitsbezogener Güter und Dienstleistungen großenteils nach privatwirtschaftlichen Regeln erfolgt und damit auch dem individuellen Erwerbsstreben unterliegt. Sowohl die Freiberuflichkeit des niedergelassenen Arztes als auch die strikte Trennung zwischen Finanzierungs- und Versorgungsstrukturen im ambulanten Bereich sind Ausfluß dieses Prinzips. Das Gesundheitswesen der DDR war dagegen durch die Ausschaltung marktwirtschaftlicher Elemente gekennzeichnet und in die Steuerungsmechanismen der Planwirtschaft eingebunden. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung basiert in der Bundesrepublik im wesentlichen auf vier Wertbezügen, von denen die drei erstgenannten eng mit der chen
Krankenversicherung als
auch für die
Tennstedt, Sozialgeschichte, S. 416 f. Vgl. Zacher, Staatsziel, S. 1061 f. Zur
Organisationsprinzipien
des Gesundheitswesens;
Organisationsstruktur des Gesundheitswesens vgl. Alber, Gesundheitswesen, S. 17-21.
vgl.
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wohlfahrtsstaatlichen Fundamentalnorm der sozialen Gerechtigkeit verbunden sind28. Dem Wertbezug des sozialen Ausgleichs (1) liegt z. B. die Universalisierung des Schutzbereichs der Gesetzlichen Krankenversicherung zugrunde, der heute rund 90 Prozent der Bevölkerung umfaßt. Dieser Wertbezug bestimmt auch die versicherungsförmige Konstruktion der GKV, die die Kosten des individuellen Krankheitsrisikos auf eine größere Solidargemeinschaft verteilt. Da hierbei einkommensdifferenzierte Beiträge in gleiche, lebenslagenspezifisch nachgefragte Versicherungsleistungen umgewandelt werden, folgt daraus eine erhebliche Umverteilungswirkung zwischen den Versicherten29. Der Wertbezug der Gleichheit (2) findet z. B. im Prinzip einheitlicher Zugangschancen aller Versicherten zur medizinischen Behandlung seine gesundheitspolitische Konkretisierung. Der Wertbezug der Verteilungsgerechtigkeit (3) gewährleistet die Zuteilung von gesundheitswirksamen Ressourcen nach dem individuellen Bedarf. Das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit ist im Gesundheitswesen stärker realisiert als in anderen Bereichen des sozialen Sicherungssystems30. Durch die Teilhabe am wachsenden Wohlstand haben die Leistungen der GKV ähnliche Veränderungen erfahren, wie sie die Dynamisierung der Renten im Bereich der Alterssicherung bewirkte. Bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik wurde die Reichweite des Bedarfsprinzips gerade bei kostenintensiven Behandlungsformen vielfach durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Krankenkassen eingeschränkt. Seit dem Ende der fünfziger Jahre hat sich jedoch zunehmend das Prinzip optimaler medizinischer Versorgung unabhängig vom entstehenden Kostenaufwand durchgesetzt. Auf den Wertbezug der Sicherheit (4) läßt sich z. B. die Versicherungspflicht in der GKV zurückführen, ebenso die starke Verrechtlichung der Anspruchsgrundlagen, die dem Kranken im Bedarfsfall genau vorhersehbare Leistungen zusichert. Auch das Gesundheitswesen der DDR war wohl stärker noch als das der Bundesrepublik von den Wertbezügen der Gleichheit und Sicherheit bestimmt. Jedoch stärkte der SED-Staat Sicherheit und Gleichheit zu Lasten der Freiheit31. In der Bundesrepublik stehen diese Werte dagegen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das charakteristisch für die Wertekonkurrenz in pluralistischen Gesellschaften ist. So schränkt das Prinzip der Zwangsversicherung die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit großer Teile der Bevölkerung im Interesse einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft nicht unerheblich ein. Dagegen rechtfertigt das Ziel der Gesundheitssicherung nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen Eingriffe in die körperliche Integrität von Personen. -
-
28
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31
Folgende z. T. in Anlehnung an Schulenburg, Grundlagen, S. 314-322; zu den Wertbezügen im sozialen Sicherungssystem der Bundesrepublik vgl. auch Zacher, Staatsziel, insbes. S. 1062-1083. Hierzu Andel, Verteilungswirkungen. Die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung orientieren sich dagegen stärker am Prinzip der Leistungs- und Besitzstandsgerechtigkeit. Mit Bezug auf die Gesamtheit der DDR-Sozialpolitik: Hockerts, Errungenschaften, S. 798-800. Das
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Gesundheitspolitische Schwerpunkte und Funktionszuweisungen an das Gesundheitssystem Mit der
politischen Ordnung variierten die Funktionszuweisungen an das Gesundheitssystem. Dies hatte erheblichen Einfluß auf die Entwicklung einzelner Teilbereiche. Bei insgesamt rückläufigen Ausgaben für die Krankenbehandlung errichtete das nationalsozialistische Deutschland parallel zum bestehenden System der medizinischen Betreuung neue Versorgungsstrukturen, vor allem solche mit bevölkerungspolitischer Ausrichtung und im Bereich der Jugendgesundheitspflege. Ein wachsender Teil davon wurde durch parastaatliche Träger wie die NSV und die HJ finanziert. Am stärksten expandierte jedoch der öffentliche Gesundheitsdienst, der aufgrund des im April 1935 in Kraft getretenen Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (GVG) neu geordnet und mit erweiterten Zuständigkeiten ausgestattet wurde. Dieses Gesetz, das der ehemalige preußische Kreisarzt Arthur Gütt gegen erhebliche Widerstände von Teilen der NSDAP und der Kommunen auf den Weg gebracht hatte, setzte an Stelle der in den Teilstaaten des Deutschen Reiches zum Teil erheblich voneinander abweichenden Regelungen eine flächendeckende, standardisierte Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die der Befehlsgewalt des Reichsinnenministeriums unterstand und sich vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges auf ein Netz von rund 740 Gesundheitsämtern stützen konnte32. Deren Aufgabenspektrum vereinigte die bislang von den staatlichen Medizinalverwaltungen betreuten Arbeitsgebiete Gesundheitsaufsicht und Seuchenpolizei mit der kommunalen Gesundheitspflege und erweiterte sie um erb- und rassenhygienische Tätigkeitsfelder. Zum Teil konnte das nationalsozialistische Deutschland beim Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens auf Institutionen, Personen und Programme der Weimarer Zeit zurückgreifen, insgesamt jedoch überwogen Elemente der Diskontinuität. So beendete das GVG die für die Weimarer Gesundheitsfürsorge charakteristische Verbindung von wirtschaftlicher und gesundheitlicher Fürsorge. Die Hauptbedeutung des öffentlichen Gesundheitsdienstes lag nunmehr in seiner Funktion als Exekutivorgan der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik. In der SBZ/DDR wurde der öffentliche Gesundheitsdienst von Anhängern der NSDAP konsequent gesäubert und in seinem Einflußbereich vergrößert33. Indem sie die Gesundheitsaufsicht mit den Systemen der Krankenversorgung und der sozialmedizinischen Betreuung verschmolz und die leitenden Ärzte des öffentli-
Vgl. Labisch/Tennstedt, Gesetz. Während die Entnazifizierung im ambulanten und stationären Bereich des SBZ-Gesundheitswesens aufgrund des vorherrschenden Ärztemangels sehr pragmatisch gehandhabt wurde, wurden nationalsozialistisch belastete Arzte aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst auch dann entfernt, keine fachlich geeigneten Ersatzkräfte zur Verfügung standen; Ernst, Prophylaxe, S. 216 und S. 248f. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt eine Regionalstudie für Mecklenburg und Vorpommern; Moser, Gesundheitswesen, S. 139f.
wenn
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chen Gesundheitswesens in die politischen Entscheidungsgremien der Bezirksund Kreisebene einbezog, knüpfte die SBZ/DDR einerseits an gesundheitspolitische Reformvorstellungen an, die bereits in den zwanziger Jahren von Vertretern des kommunalen Gesundheitswesens formuliert worden waren, andererseits aber auch an die nach 1933 eingeleitete „Verreichlichung" des öffentlichen Gesundheitsdienstes34. Ein Teil dieser Entwicklung kann auf die Politik der SMAD zurückgeführt werden, deren Repräsentanten im östlichen Teil Deutschlands nachhaltig auf die Verstaatlichung und prophylaktische Orientierung des Gesundheitswesens drangen. Da sie dabei nur eine generelle Richtung vorgaben und die Durchführung deutschen Dienststellen überließen, ist deren Spielraum bei der Ausgestaltung des Gesundheitssystems nicht gering zu veranschlagen35. Zum Verständnis des ostdeutschen Weges ist daher bedeutsam, daß die Handlungsspielräume, die die SMAD geschaffen hatte, von Akteuren genutzt wurden, die der Tradition der Weimarer Sozialhygiene nahestanden und in ihrer beruflichen Entwicklung durch Tätigkeiten im staatlichen oder kommunalen Gesundheitswesen geprägt waren. Paul Konitzer, der erste Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen, war vor der nationalsozialistischen Machtergreifung sozialdemokratischer Stadtarzt in Magdeburg und gesundheitspolitischer Referent des Deutschen Städtetags. Hermann Redetzky, der bis zu seiner Amtsenthebung im Preußischen Wohlfahrtsministerium an der Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes gearbeitet hatte, gründete als Leiter des Landesgesundheitsamts die erste Poliklinik in Mecklenburg. Zu nennen sind auch Remigranten, wie der aus der Sowjetunion zurückgekehrte Erwin Marcusson, und Exponenten der Kassenverwaltungen, für die exemplarisch der Vizepräsident der Zentralverwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge und vormalige sozialdemokratische „Ortskrankenkassenkönig" Helmut Lehmann steht36. Deren Argumente für Zum administrativen Aufbau des DDR-Gesundheitswesens vgl. Pritzel, Gesundheitswesen, S. 33 f. Die wesentlichen Punkte der gesundheitspolitischen Reformdebatte der Weimarer Zeit sind dargestellt bei Redetzky, Entwicklung, S. 35-48. Dies zeigt z. B. die Entstehungsgeschichte der Polikliniken, auf die an anderer Stelle noch einzugehen sein wird. Die Entscheidung, das System der ambulanten Versorgung neu zu strukturieren, ging vom Leiter der Gesundheitsabteilung der SMAD, Oberst Sokolow, aus, der zur Vorbereitung des SMAD-Befehls Nr. 272 vom Dezember 1947 Vorschläge der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen (DZG) anforderte. Diese Vorschläge beeinflußten die Inhalte des Befehls und die ergänzende Ausführungsverordnung in entscheidender Weise; Aktennotiz Linsers für Dr. Fräser, 15. 11. 1947; DZG an Major Sazepin, 24. 7. 1947; Bundesarchiv Berlin (BAB), DQ 1/369, Bl. 65, 82; der von Linser und Maxim Zetkin gezeichnete Entwurf der Durchführungsbestimmungen vom 3. 10. 1947 ebenda, Bl. 50-54. Ähnliche Handlungsspielräume arbeitet Hoffmann, Neuordnung, S. 89, für den Bereich der Sozialversicherung heraus. Exemplarisch für die Reformvorstellungen dieser Gruppe ist die in Anm. 34 zitierte Habilitationsschrift von Hermann Redetzky, der sich in den zentralen Punkten (Kommunalisierung der Gesundheitsämter, Einbau der Leiter des örtlichen Gesundheitswesens in die politischen Entscheidungsgremien, Zentralisierung und Verreichlichung der Gesundheitsverwaltung) eng an die Reformdiskussion der zwanziger und dreißiger Jahre anlehnte. Bezüge zum Gesundheitswesen der Sowjetunion fehlen dagegen. Sie finden erst in den fünfziger Jahren, zu einem Zeitpunkt, als die wesentlichen Richtungsentscheidungen bereits gefallen waren, Eingang in das gesundheitspolitische Grundlagenschrifttum; vgl. z. B. Marcusson, Sozialhygiene, S. 412-486. Parallel dazu werden
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ein verstaatlichtes, zentral gelenktes und prophylaktisch orientiertes Gesundheitswesen gewannen auch deshalb an Gewicht, weil ein solches System angesichts der explosionsartig gestiegenen Seuchensterblichkeit in den Jahren 1945-47 und des grassierenden Ärztemangels eine wirkungsvollere Allokation der knappen medizinischen Ressourcen zu gewährleisten schien37. Die Bundesrepublik beschritt in vieler Hinsicht einen entgegengesetzten Weg38. Anders als in der DDR verlor der öffentliche Gesundheitsdienst gegenüber dem Bereich der Krankenversorgung an Bedeutung. Bis heute prägen die organisatorische Zersplitterung und ein stetiger Funktionsverlust seine Stellung innerhalb des Gesundheitswesens39. Während das Gesundheitssystem der DDR gerade durch die Integration von öffentlichem Gesundheitswesen, ambulanter und stationärer Versorgung gekennzeichnet war, ist der öffentliche Gesundheitsdienst in der Bundesrepublik im wesentlichen auf seine traditionellen Aufgabenfelder Gesundheitsschutz und Gesundheitsaufsicht beschränkt. Sein Aufgabenbereich wurde gerade dort zurückgeschnitten, wo sich Berührungspunkte zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung ergaben, so daß ihm aus der breiten Palette gesundheitsfürsorgerischer Aufgaben einzig die Schulgesundheitspflege als unangefochtenes Tätigkeitsfeld verblieb40. Vor allem niedergelassene Ärzte konnten von dieser Entwicklung profitieren. Sie übernahmen nunmehr auch Aufgaben, die bislang als genuine Handlungsfelder des öffentlichen Gesundheitsdienstes gegolten hatten, z. B. in der Krankheitsvorbeugung41. Beide Entwicklungen, der auch in der Reformdiskussion der Bundesrepublik kaum positive Bezüge zur internationalen Entsichtbar. So griff der Leiter der Medizinalabteilung im Bundesinnenministerium, Wilhelm Hagen, bei seinen Vorschlägen zur Neuordnung der kommunalen Gesundheitsfürsorge auf spezifisch deutsche Traditionsstränge zurück und begründete dies damit, daß die deutschen Organisationsformen im internationalen Vergleich vorbildlich seien; Vorbeugende Gesundheitsfürsorge (1953), in: Ders., Gesundheitsfürsorge, S. 158f. Erst die Anfang der 1970er Jahre eingesetzte Psychiatrie-Enquete bezog bei der Ausarbeitung von Reformvorschlägen für einen Bereich, der als hochgradig reformbedürftig galt und im Vergleich mit der westlichen Welt offenkundig unter Modernisierungsdefiziten litt, die internationale Entwicklung systematisch mit ein und bewirkte z. B. eine stärkere Dezentralisierung der in Deutschland traditionell stark zentralisierten Psychiatrie; Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik, Bd. 1, S. 163-188, S. 163; die zusammenfassenden Reformempfchlungen der Kommission ebenda, S. 16-36. Zur Entwicklung der Infektionskrankheiten in der SBZ vgl. Tab. 1. Zur Geschichte des Gesundheitswesens der Bundesrepublik liegen mehrere politologische und soziologische Untersuchungen vor, insbesondere die Arbeiten von Alber, Manow und Döhlen Dagegen wurde die Epochenzäsur 1945 von Historikern bislang nur zögerlich überschritten. Eine Ausnahme bildet Wolfgang Woelk, der in seinem Dissertationsprojekt die Gesundheitspolitik der nordrhein-westfälischen Landesregierungen mit der Bundesebene vergleicht; Labisch/Woelk, Gesundheit. Die Anzahl der im öffentlichen Gesundheitswesen der Bundesrepublik beschäftigten Ärzte verminderte sich von 4818 im Jahr 1953 auf 3879 im Jahr 1983, ihr relativer Anteil an der Gesamtzahl der Ärzte verringerte sich im gleichen Zeitraum von 7,4 % auf 2,6 %; berechnet nach Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1955, S. 79 f.; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 12, Reihe 1, 1993, S. 51 und S. 57.
wicklung
37 38
39
40 41
Labisch, Entwicklungslinien,
S. 44.
sind hier in erster Linie der Jugendarbeitsschutz (1961), die (1965) und die Vorsorgeuntersuchungen (1970). Zu
nennen
Schwangerenberatung
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Bedeutungsverlust
des öffentlichen Gesundheitswesens und der
Bedeutungsge-
winn der niedergelassenen Arzte in der Bundesrepublik, sind erklärungsbedürftig. Der Ausbau des Schutzbereiches der GKV, der die traditionelle Klientel des
öffentlichen Gesundheitswesens reduzierte, erklärt diesen Vorgang nicht hinreichend, ebensowenig der Verweis auf ein gewandeltes Morbiditätspanorama und Fortschritte der Medizin, die endemische Infektionskrankheiten, die bislang nur präventiv bekämpft werden konnten, einer individuellen Therapie zugänglich machten und so ebenfalls dazu beitrugen, Patienten vom öffentlichen Gesundheitswesen in den kurativen Sektor umzuleiten. Diese Faktoren betrafen die DDR in ähnlicher Weise. Eine mögliche Antwort könnte darin bestehen, daß der in Ostdeutschland wiederaufgenommene sozialhygienische Traditionsstrang in der Bundesrepublik kaum eine Fortsetzung fand. Hier waren große Teile der nationalsozialistischen Funktionseliten im öffentlichen Gesundheitsdienst verblieben und nur wenige der 1933 verdrängten Vertreter der Weimarer Sozialhygiene in gesundheitspolitische Schlüsselstellungen zurückgekehrt42. Die einen suchten ihr Heil im Rückzug auf eine dezidiert unpolitische Medizinalverwaltung43, den anderen gelang es aufgrund fehlender politischer Unterstützung nur in sehr begrenztem Umfang, Einfluß auf gesundheitspolitische Entscheidungen zu nehmen. Beispielhaft hierfür steht das Scheitern des Leiters der Gesundheitsabteilung im Bundesinnenministerium, Wilhelm Hagen, der Anfang der fünfziger Jahre versuchte, die Kompetenzen des öffentlichen Gesundheitsdienstes auf dem Gebiet der Schwangeren- und der Jugendgesundheitsfürsorge zu stärken. Ein von ihm initiierter Gesetzentwurf, der an integrierte Konzepte kommunaler Gesundheitspolitik aus den zwanziger Jahren anknüpfte, versandete im Zuge der Diskussion um die Reform des Fürsorgerechts44. Die Politikberatung in Fragen der Gesundheitsversorgung ging in Westdeutschland zunehmend vom öffentlichen Gesundheitsdienst in die Hände der ärztlichen Standesorganisationen über, so daß deren Interessen und Sichtweisen fortan die Agenda der gesundheitspolitischen Diskussion bestimmten. Bis in die jüngste Zeit wird die gesundheitspolitische Debatte in der Bundesrepublik daher primär als Debatte um die Stellung der Ärzte im Gesundheitssystem geführt, während sozialmedizimsche Themen außerhalb von Expertenzirkeln nur wenig Gehör finden. Auch die verfassungssystematische Einordnung des Gesundheitswesens als Teil der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG) trug erheblich zur Schwächung des öffentlichen Gesundheitsdienstes bei. Anders als in der DDR, die beinahe Sons, Gesundheitspolitik, S. 35 und S. 56-60. für das unpolitische Selbstbild des öffentlichen Gesundheitsdienstes: Franz Redecker, „Magister in Physica". Wo kommen wir her? Wo stehen wir? Wohin geht der Weg?, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 11 (1949), S. 146-157 und S. 185-195. Labisch/Tennstedt, Prävention in der Bundesrepublik, S. 137f. Die wesentlichen Teile der Reformvorstellungen Hagens sind in seiner Denkschrift „Vorbeugende Gesundheitsfürsorge" aus dem Jahr 1953 enthalten; ders., Gesundheitsfürsorge, S. 103-162, insbes. S. 153-158. Für die britische Zone:
Exemplarisch
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nahtlos an die vom NS-Staat eingeleitete Zentralisierung anknüpfen konnte, setzten die Länder der Bundesrepublik die Reföderalisierung gesundheitspolitischer Kompetenzen durch und verhielten sich gegenüber Versuchen, den öffentlichen Gesundheitsdienst durch die Erweiterung seiner gesundheitsfürsorgerischen Aufgabengebiete zu stärken, sehr reserviert. Die Verweigerungshaltung der Länder, für die beispielhaft das Scheitern des vom Bundestag einstimmig verabschiedeten Jugendzahnpflegegesetzes durch den Bundesrat im Jahr 1964 steht, ist mitursächlich für die Übertragung der Krankheitsprävention an die niedergelassenen Ärzte45. Da mehrere Reformvorhaben am „Blockadefaktor Föderalismus"46 scheiterten, institutionalisierte der Bundesgesetzgeber krankheitsvorbeugende Maßnahmen seit der Mitte der 1960 er Jahre vor allem dadurch, daß er das Leistungsrecht der GKV fortentwickelte, das ausschließlich seiner Regelungskompetenz unterlag. Auch dies kam den Kassenärzten zugute. Ein Vergleich der systemspezifischen Medikalisierungsstrategien macht deutlich, daß das Gesundheitssystem der Bundesrepublik auf die Behandlung einzelner Kranker ausgerichtet ist, während sozialmedizinische Aspekte, insbesondere krankheitsverhütende Programme, nur eine geringe Rolle spielen. Der NS-Staat und die DDR können dagegen als präventionsorientierte Gesundheitsregimes charakterisiert werden. Der klassifikatorische Biologismus des „Dritten Reiches" machte insbesondere die Erbanlagen zum Gegenstand der Vorbeugung. Die sozialhygienisch geprägte Medizin der DDR bemühte sich um die Vermeidung gruppenspezifischer Gesundheitsrisiken, indem sie lenkend, maßregelnd und gestaltend in das Verhalten und die Umwelt ihrer Bürger eingriff. Beide Regimes ergänzten die traditionellen Instrumente vorbeugender Gesundheitspflege (Beratung, wirtschaftliche Fürsorge, Besserung gesundheitsschädlicher Lebensverhältnisse) durch Verfahren, die mit Hilfe einfacher, standardisierter Diagnoseinstrumente große Populationen gezielt auf einzelne Krankheitsbilder hin durchleuchteten. Die DAF ließ in den Jahren 1937-39 rund 650000 Industriearbeiter nach dem Vorbild militärärztlicher Musterungen untersuchen, um das Ausmaß arbeitsbedingter Verschleißerkrankungen zu ermitteln47. Die DDR installierte seit der Mitte der fünfziger Jahre ein dichtes Netz krankheitsspezifischer Vorsorgeuntersuchungen, die in enger Verbindung mit sogenannten Dispensaires durchgeführt wurden. Dies waren Einrichtungen, die den auf diagnostische und fürsorgerische Hierzu Ludwig von Manger-Koenig, Der öffentliche Gesundheitsdienst zwischen gestern und morgen, in: Öffentliches Gesundheitswesen 37 (1975), S. 433-448, S. 438f. Mayntz, Steuerbarkeit, S. 296 f. Die starke Stellung der Länder in der Gesundheitspolitik ist bislang ausschließlich unter diesem Aspekt untersucht worden. Uber die Nutzung föderaler Gestaltungsspielräume im Bereich der gesundheitspolitischen Gesetzgebung und bei der Errichtung gesundheitsbezogener Infrastrukturen ist dagegen wenig bekannt. Die z. T. erschreckenden Ergebnisse dieser Untersuchungen dienten der DAF als Argument für die geplante Umgestaltung des Gesundheitswesens unter ihrer Federführung. Sie sind ausgewertet in der Begründung des Entwurfs eines Führer-Erlasses über die Errichtung des Gesundheitswerkes des Deutschen Volkes [1942], S. 25-32; Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Köln, ohne Signatur.
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Tätigkeiten konzentrierten Aufgabenkreis der speziellen Gesundheitsfürsorge in der Weimarer Republik erweiterten, indem sie prophylaktische, diagnostische, therapeutische und rehabilitative Maßnahmen krankheitsspezifisch bündelten48. Schätzungen gehen davon aus, daß im letzten Jahrzehnt der DDR rund zwei Drittel der Bevölkerung unter regelmäßiger prophylaktischer Beobachtung standen49. Wie ambivalent und kontextabhängig die Wirkung solcher Instrumente sein konnte, zeigt die Geschichte der Röntgen-Reihenuntersuchungen, die vom nationalsozialistischen Deutschland seit dem Herbst 1938 erprobt und in der DDR in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre eingeführt wurden50. Mit Hilfe des Röntgenschirmbildverfahrens gelang es, die Reichweite der Tuberkulosefürsorge erheblich zu vergrößern. Vor allem aber ermöglichte die Vorverlegung des Behandlungszeitpunktes die wirksamere und kostengünstigere Behandlung einer Krankheit, die bis zur Jahrhundertmitte den Problemhorizont des öffentlichen Gesundheitswesens wesentlich prägte. Im Bezugsrahmen der nationalsozialistischen Gesundheits- und Rassenpolitik konnten verbesserte Diagnosemöglichkeiten jedoch auch in der entgegengesetzten Richtung wirksam werden. Nur wenige Jahre nach der Erprobung des Röntgenschirmbildverfahrens im „Altreich" plante der Reichsstatthalter des Warthegaus, Arthur Greiser, mit Hilfe der neuen Technologie die etwa 35 000 „Fälle der offenen Tbc. innerhalb des polnischen Volkstums ausmerzen zu lassen"51, um auf diese Weise die Ansteckungsgefahr für die deutsche Bevölkerung zu mindern. Lediglich die Sorge um die mangelnde Geheimhaltung verhinderte die Durchführung des von Himmler bereits genehmigVorhabens. Beide Diktaturen erfaßten vor allem Säuglinge, Kinder und Jugendliche durch ein dichtes Netz krankheitsvorbeugender Maßnahmen. Neben periodischen Reihenuntersuchungen war für die DDR ein umfangreiches, zentral gelenktes und straff organisiertes Impfprogramm spezifisch, das einen im internationalen Vergleich hohen Immunisierungsgrad der Bevölkerung bewirkte52. Gerade dort, wo Präventionsmaßnahmen an die Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens angebunden waren und Menschen mit ihrer Hilfe kollektiv erfaßt und kontrolliert werden konnten, lagen die Stärken der DDR-Gesundheitspolitik53. Zwei der gefährlichsten Kinderkrankheiten, die übertragbare Kinderlähmung und die Diphten
als selbständige Einrichtungen der Kreise, zum Teil in Verbindung mit Polikliniken arbeiteten, standen für eine Reihe besonders behandlungsaufwendiger Krankheiten zur Verfügung, z. B. für Tuberkulose, rheumatische Erkrankungen und Diabetes. Ewert, Organisation, S. 118. Hierzu Franz Redecker, Zentrale Lenkung der Röntgen-Reihen-Untersuchung, in: Gesundheits-
Dispensaires, die z. T.
führung 1 (1939/40), S. 90-98.
Greiser an Himmler, i. 5. 1942; Greiser an Himmler, 21. IL 1942; BAB, SS-HO 1-217. Die Impfpflicht hatte ihren Ursprung in den 1945-49 durchgeführten Pflichtimpfungen gegen Typhus und Paratyphus. Sie umfaßte Schutzimpfungen gegen Pocken, Tuberkulose, Kinderlähmung, Diphtherie und Tetanus; Adolf Beyer/Karl Heinz Walter/Kurt Winter, Seuchenbekämpfung, in: Beyer/Winter, Sozialhygiene, S. 379-422, S. 401; Henning, Care, S. 476. Vgl. Strutz, Gesundheitswesen, S. 191.
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therie, konnten 1962 bzw. 1973 aus dem Spektrum der Krankheiten verdrängt wer-
Ergebnisse wurden von westlichen Beobachtern nicht ohne Grund als „beneidenswert"55 bezeichnet, denn weder das nationalsozialistische Deutschland noch die Bundesrepublik hatten hier eine ähnliche Bilanz aufzuweisen. Möglich waren solche Resultate, weil die Präventionspolitik der DDR ihre Verhaltenserwartungen, z. B. die Teilnahme an Impfungen, mit Hilfe organisatorischer Maßnahmen und der Androhung empfindlicher Ordnungsstrafen (Zwangsgelder bis zu 1000 Mark bzw. Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr) durchsetzte. Die Krankheitsschutzgesetzgebung der DDR leitete aus dem Interesse der Allgemeinheit umfangreiche Eingriffsrechte des Staates in die körperliche Integrität ihrer Bürger ab, die von der Untersuchungs- und Behandlungspflicht bis zur Möglichkeit der Zwangshospitalisierung reichten56. Dieser ebenso fürsorgliche wie zum Teil repressive Interventionismus kontrastiert stark mit der Praxis der Bundesrepublik, in der das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2, Abs. 2 GG) gesundheitsbezogenen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte enge Grenzen setzt57. Der gerne zur Erklärung von Besonderheiten des DDR-Gesundheitswesens herangezogene Einfluß des sowjetischen Gesundheitswesens könnte wohl die von der deutschen Traditionslinie abweichende Zentralisierung der Präventionspolitik erklären, nicht jedoch das Ausmaß des dabei ausgeübten Zwangs. Zwar griff die SMAD bei der Bekämpfung von Infektions- und Geschlechtskrankheiten zum Teil auf massive Zwangsmittel zurück, jedoch unterschied sie sich darin nicht sonderlich von der Praxis der westlichen Besatzungsmächte, die primär um die Geden54. Solche
Ewert, Organisation, S. 113. Harmsen, Gesundheitswesen, S. 76. Der Grotjahn-Schülcr Harmsen war als
Gesundheitsfürsorge-
referent des Centraiausschusses der Inneren Mission seit den zwanziger Jahren einer der führenden evangelischen Eugeniker und in dieser Position an der reibungslosen Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in den Anstalten der Inneren Mission beteiligt. Seit 1945 als Leiter der Staatsmedizinischen Akademie Hamburg mit der Ausbildung von Amtsärzten betraut, rief er die Sankelmark-Tagungen ins Leben, auf denen sich Angehörige des öffentlichen Gesundheitswesens mit der Entwicklung des Gesundheitswesens in Osteuropa und der DDR beschäftigten. Zu Harmsen vgl. Schleiermacher, Innere Mission. Verordnung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten unter der deutschen Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, §§ 1, 5, 22 (Anlage zum Befehl Nr. 273 der SMAD vom 11. 12. 1947); Befehl Nr. 297 der SMAD vom 3. 10. 1946 über Maßnahmen zur Tuberkulosebekämpfung; Verordnung zum Schutze gegen übertragbare Krankheiten vom 18. 5. 1955, §§ 6, 9, 22, alle zit. nach Weiß, Gesundheitswesen, Bd. 2, S. 100f., S. 104f., S. 109f. und S. 131 f.; zu den Pflichtuntersuchungen auf Tuberkulose vgl. Reinecke, Röntgenschirmbilduntersuchungen, S. 11 f. Das hier zugespitzt entworfene Bild der Krankheitsvorbeugung in der DDR bedarf noch einer genaueren zeitlichen Aufgliederung. In den Westen geflüchtete Praktiker des DDR-Gesundheitswesens berichteten z. B., daß die Durchimpfungsraten bei der Pockenschutzimpfung am Ende der 1950 er Jahre teils infolge organisatorischer Defizite, teils aber auch, weil aus Gründen der politischen Opportunität auf die Durchführung von Zwangsmaßnahmen verzichtet wurde, zwischen 40% und 90% schwankten; Richter, Seuchenbekämpfung, S. 23. So waren Zwangsimpfungen erst dann gestattet, wenn die Krankheit gemeingefährlich und nur mit Hilfe von Schutzimpfungen zu verhindern war. Dies traf nur auf die Pockenschutzimpfung zu. Nur wenige Bundesländer führten verpflichtende Röntgen-Reihenuntersuchungen durch. Im Gegensatz zur DDR blieb die Nichtteilnahme straffrei; Richter, Seuchenbekämpfung, S. 4 f.; Rei-
necke, Röntgenschirmbilduntersuchungen, S. 85.
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sundheit ihrer Truppen besorgt waren58. Zudem zeigt die gescheiterte Pawlow-Rezeption in der DDR, daß medizinische Konzepte ohne die Mitwirkung der gesundheitspolitischen Funktionseliten nicht wirksam übertragen werden konnten59. Für die Entwicklung in der DDR dürfte vielmehr die Kombination der preußischdeutschen Tradition intervenierender Gesundheitsfürsorge, in der der Staat Verantwortung für die Gesundheit seiner Bürger übernahm und im Gegenzug deren Verfügung über ihre körperliche Integrität beschränkte60, mit einer für den östlichen Teil Deutschlands spezifischen Erfahrung förderlich gewesen sein: Anders als in den westlichen Besatzungszonen, in denen die gesundheitlichen Folgen des Zusammenbruchs vergleichsweise rasch bewältigt werden konnten, wurde der Problemhorizont des durch Kriegszerstörungen und sowjetische Beschlagnahmungen in seiner Infrastruktur stark geschädigten SBZ-Gesundheitswesens bis zum Anfang der fünfziger Jahre von Seuchen und endemischen Infektionskrankheiten beherrscht, die vor allem in den Jahren 1945/46 die physische Existenz großer Bevölkerungsteile akut bedrohten61. Zur Bewältigung dieser Krise reichte die gewohnte „Feinarbeit" nicht mehr aus, statt dessen waren plötzlich wieder Maßnahmen nötig geworden, „wie sie vor 100 Jahren üblich waren"62. In dieser Situation schien vielen Angehörigen des öffentlichen Gesundheitsdienstes die zu einer Leitmaxime des Gesundheitswesens in der SBZ/DDR erhobene Ansicht, „daß die Gesellschaft den Vorrang vor dem Einzelnen haben muß und diesem Recht bei Uneinsichtigkeit des Kranken mit Gewalt Gültigkeit verschaffen kann"63, trotz ihrer Diskreditierung durch die Erfahrung der nationalsozialistischen Zeit akzeptabel. Da derartige Praktiken, wenn auch in abgeschwächter Form, bis zum Ende der DDR überdauerten, kann angenommen werden, daß die Überforderung während der gesundheitlichen Gründungskrise der SBZ/DDR die Problemwahrnehmung ihrer gesundheitspolitischen Funktionseliten nachhaltig geprägt hat64. -
58 59
60
61 62
63 64
-
Für die britische Zone vgl. Sons, Gesundheitspolitik, S. 120-133. Die Rezeption der neurophysiologischen Theorien Pawlows scheiterte nicht zuletzt
an
der
man-
gelnden Kooperationsbereitschaft deutscher Hochschullehrer, bei der weniger die mangelnde empirische Bewährung dieser Theorie, als vielmehr Ressentiments gegenüber der Besatzungsmacht und die Überlegung, daß deren Einführung die traditionelle West-Ost-Richtung des medizinischen Wissenstransfers umgekehrt hätte, den Ausschlag gaben; Ernst, Prophylaxe, S. 405, S. 424 und S. 426 f. Am Beispiel der Cholerabekämpfung: Evans, Tod, S. 332-338; mit Verweis auf das Reichsimpfgesetz von 1874: Labisch/Tennstedt, Prophylaxe im Deutschen Reich, S 14. Neu und spezifisch für die DDR war nicht die Tatsache des Eingriffs in die körperliche Integrität an sich, den es in eng umrissenen Fällen bereits seit dem Kaiserreich gegeben hatte (bei der Trachomkrankheit und bei Geschlechtskrankheiten als Behandlungs-, bei der Bekämpfung der Pocken als Impfzwang), sondern das Ausmaß der ausgeübten Zwangsmaßnahmen auch bei nicht unmittelbar lebensbedrohenden Krankheiten. Zur Seuchengesetzgebung im Kaiserreich und der Weimarer Republik vgl. Schmedding/Engels, Gesetze, S. 165, S. 322 und S. 409-422.
Seidel u. a., Dienst, S. 7; Tab. 1. Referat Dr. Bermann, Protokoll der 2. Tagung der Leiter der Landes- und Provinzialgesundheitsämter in der sowjetischen Okkupationszone am 2./3. 10. 1945; BAB, DQ 1/1338, Bl. 9. Kurt Winter, Tuberkulosebekämpfung, in: Beyer/Winter, Sozialhygiene, S. 423-444, S. 441. Prägend konnte diese Erfahrung nicht zuletzt auch deshalb wirken, weil ein Großteil der in den 50 er und 60 er Jahren in der mittleren Führungsebene des öffentlichen Gesundheitswesens tätigen Ärzte also derjenigen Gruppe, die die Umsetzung der Gesundheitspolitik vor Ort bestimmte -
-
Gesundheitspolitik
71
Die Erfolge bei der Bekämpfung der Infektionskrankheiten und der Säuglingssterblichkeit bezeichnen die Grenzen eines Präventionskonzepts, das Gesundheitsförderung primär mit den Methoden der staatlichen Eingriffsverwaltung betrieb. Der DDR gelang es nur in sehr begrenztem Umfang, ihre Präventionsstrategien den Veränderungen im Morbiditätspanorama anzupassen65. Sie blieben im Kern bis weit in die siebziger Jahre am gesundheitspolitischen Problembestand der ersten Jahrhunderthälfte orientiert. Jedoch verloren einige der Instrumente, die sich bei der Bewältigung der gesundheitlichen Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit bewährt hatten, mit der rückläufigen Bedeutung der Infektionskrankheiten an Wirksamkeit. Neue Aufgaben für funktionsentleerte gesundheitsbezogene Infrastruktureinrichtungen ließen sich, dies zeigt die Entwicklung der Tuberkuloseprophylaxe, nur schwer finden66. Vor allem aber gelang es der DDR nicht, wirksame Vorbeugemaßnahmen gegen verhaltensbedingte chronisch-degenerative Leiden zu entwickeln, die das Krankheitsspektrum zunehmend bestimmten. Propagandakampagnen zur Durchsetzung gesundheitskonformer Lebensweisen stießen in der Bevölkerung auf wenig Resonanz, nicht zuletzt aufgrund der seit den siebziger Jahren wachsenden Diskrepanz zwischen der gesundheitspolitischen Theorie und der täglichen Praxis des sozialistischen Konsums. So waren Appelle an die Bevölkerung, sich gesundheitsbewußt zu ernähren, auch wegen des Mangels an geeigneten Lebensmitteln nur von geringer Wirkung67. Hinzu kommt, daß die Vorbeugung gegen solche Erkrankungen langfri-
stiger Verhaltensänderungen bedarf. Ernährungsgewohnheiten, Alkohol- und Tabakkonsum entzogen sich im Gegensatz zur Teilnahme an einer Reihenuntersuchung der staatlichen Kontrolle. Resultate wären hier nur durch die mitgestaltende Einbeziehung der Patienten zu erreichen gewesen. Jedoch wurden Präventionsmaßnahmen, die, z. B. in Form von Selbsthilfegruppen, auf die Eigenverant-
wortung der Kranken für ihre Gesundheit zielten, in der DDR mehr behindert als gefördert, denn Patienten, die sich selbst organisierten, hatten in einem betreuungsorientierten Verständnis von Präventionspolitik, das gesundheitspolitische Maßnahmen als Leistungen des Staates an einen passiven Kranken herantrug, keinen Ort68. In der Bundesrepublik dagegen erlangten medizinische Beseine berufliche Laufbahn in der Kriegs- und Nachkriegszeit begann und während der Seuchenkrise erste Berufserfahrungen sammelte. Von elf 1953 amtierenden Bezirksärzten hatten sechs ihre Bestallung in den Jahren 1945-47, vier weitere in den Jahren 1937-40 erhalten. Die Bezirksärzte der DDR waren bei ihrer Einstellung im Schnitt erheblich jünger als das zumeist noch im Kaiserreich und der Weimarer Republik ausgebildete medizinische Personal der DZG. Zu den Biographien der Bezirksärzte vgl. die Aufstellung der Personalabteilung des Ministeriums für Gesundheitswesen vom 30. 3. 1953, BAB, DQ 1/1743, Bl. 81 f., für das Personal der DZG siehe: Broszat/Weber, SBZ-Handbuch, S. 251 f., nebst den Biographien im Anhang des Bandes. Zum Wandel des Morbiditätspanoramas, in dem chronisch-degenerative Krankheiten übertragbare Krankheiten zunehmend verdrängten, vgl. Spree, Rückzug. Berndt, Verhältnis, S. 190 und S. 198. Frerich/Frey, Handbuch, Bd. 2, S. 259; Baum, Rubble, S. 251 f.; Ewert, Organisation, S. 121. Berndt, Verhältnis, S. 190.
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treuungsformen, die auf die Aktivierung der Patienten abheben, zunehmend Bedeutung69. Beleuchtet man die regimespezifischen Funktionszuweisungen anhand der Zusammenhänge zwischen Gesundheitssystem und Arbeitswelt, zeigen sich weitere signifikante Unterschiede und Übereinstimmungen. In Westdeutschland führten betriebliche Formen der Gesundheitspflege lange Zeit ein Schattendasein. Mitte der sechziger Jahre waren lediglich 3500 Mediziner, das heißt rund vier Prozent aller Ärzte, betriebsärztlich tätig, die Mehrzahl davon nebenamtlich70. Auch an den Universitäten spielte die Arbeitsmedizin kaum eine Rolle71. Ihr Stellenwert begann sich erst mit dem Inkrafttreten des Arbeitssicherheitsgesetzes langsam
verändern. Dieses Gesetz, das von der sozialliberalen Koalition 1973 als Teil eines Maßnahmenbündels zur Humanisierung des Arbeitslebens verabschiedet wurde, verpflichtete Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten, Betriebsärzte anzustellen. Sie erhielten jedoch lediglich beratende Aufgaben und besitzen bis heute in Fragen des Arbeitsschutzes wenig Entscheidungsrechte72. Die schwache Position der Betriebsärzte ist charakteristisch für die Beziehungen zwischen dem Gesundheitswesen und der Sphäre der industriellen Produktion in der Bundesrepublik. Sie sind zwar sozialstaatlich überformt, im Kern jedoch privat, das heißt auf Interaktionen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern beschränkt. Dem Arzt kommt dabei als professionellem Experten, mit der Befugnis, über die Arbeitsfähigkeit zu entscheiden, eine wichtige Vermittlerposition zu. Verbindliche öffentliche Funktionszuweisungen an dieses Akteursdreieck bestehen zu
nicht. In den auf extensives Wachstum angewiesenen Ökonomien des nationalsozialistischen Deutschlands und der DDR zählte die Gewährleistung eines möglichst großen Arbeitskräftepotentials hingegen zu den vordringlichen Funktionszuweisungen an das Gesundheitssystem. Vor allem in den fünfziger Jahren finden sich in der DDR-Literatur Formulierungen, die deutliche Parallelen zur produktionsorientierten Gesundheitspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands erkennen lassen. Analog zum NS-Regime, das der Medizin die Aufgabe zuwies, „für eine vom gesundheitlichen Standpunkt aus möglichst restlose Ausnutzung der Arbeitskraft"73 Sorge zu tragen, betrachteten die Autoren eines in der DDR erschienenen Standardwerkes zur ärztlichen Standeslehre medizinisches Handeln primär unter dem Gesichtspunkt seiner Auswirkung auf das Arbeitskräftepotential. Die Behandlung müsse in erster Linie darauf abzielen, Erkrankte in das Be69 70
Vgl. Badura/Ferber, Selbsthilfe. Berechnet nach Erhard
Lange,
Ein
gesetzlicher Zwang
Diensten?, in: Arbeit und Sozialpolitik
71
72 73
19
(1965),
zur
Einrichtung
von
betriebsärztlichen
S. 283-286, S. 283; Statistisches
Bundesamt,
Be-
völkerung. Vernachlässigte Arbeitsmedizin, in: Sozialer Fortschritt 11 (1962), S. 94; Arbeitsmedizin verlangt nach Anerkennung, in: Sozialer Fortschritt 18 (1968), S. 51. Vgl. Deppe, Bundesrepublik, S. 47; Rosenbrock, Gesundheitspolitik, S. 24-26. Karl Lötz, Der ärztliche Dienst bei den Westbefestigungsarbeiten, in: Deutsches Ärzteblatt 68 (1938),
S. 859.
Gesundheitspolitik
73
rufsieben zurückzuführen, die Zahl der dauerhaft Arbeitsunfähigen zu minimieren und das „Leistungsalter"74 zu erhöhen, da der Sinn des menschlichen Daseins nicht durch das „Leben als solches", sondern durch „Tätigkeit und Leistung" bestimmt werde. Während in der Bundesrepublik das Risiko des Arbeitsplatzverlustes als indirekte Hemmung gegen unberechtigtes „Krankfeiern" wirkte, reagierten NSund SED-Staat direkt auf den ihrer Ansicht nach überhöhten Krankenstand. Der parallel zur Umsetzung des nationalsozialistischen Vierjahresplans ausgebaute Vertrauensärztliche Dienst der Landesversicherungsanstalten zielte in erster Linie auf Arbeitnehmer, die im Verdacht standen, ihre Arbeitskraft zu hinterziehen, in zweiter Linie auf freiberufliche Ärzte, deren Testatvollmacht zugunsten staatlich alimentierter Mediziner beschnitten wurde75. Hatte die nationalsozialistische Variante der Kontrollmedizin zuerst den Patienten im Visier, mißtraute der SED-Staat besonders den als „bürgerlich" geltenden Ärzten. Diese standen im Verdacht, weiterhin „falschen Vorstellungen aus der kapitalistischen Zeit"76 anzuhängen, in der sie ihren Patienten mit Hilfe einer Arbeitsbefreiung zu einigen freien Tagen verholfen hatten. Die DDR setzte daher beim „Kampf gegen das Bummelantentum"77 auf die Kollektivierung der medizinischen Definitionsgewalt über die Arbeitsfähigkeit und übertrug das Recht, Arbeitsbefreiungen vorzunehmen, sogenannten „Ärzteberatungskommissionen". Gleichzeitig versuchte sie, die Tradition genossenschaftlicher Selbstkontrolle der Versicherten unter Federführung des FDGB neu zu beleben und so einen Teil des Kontrollaufwandes in die Arbeitswelt zurückzuverlagern78. Aufs Ganze gesehen waren Versuche, den Krankenstand mit Hilfe von Zwangsmaßnahmen zu regulieren, wenig erfolgreich. Außerhalb des Gesundheitssystems angesiedelte Faktoren lassen sich mit medizinischen Mitteln zwar beeinflussen, nicht aber dauerhaft steuern. Die hohen Morbiditätsraten seit 1942 hatten ihre Ursache vor allem in den verschlechterten Lebensbedingungen der Kriegsgesellschaft. Daß der Krankenstand in der DDR seit den fünfziger Jahren zwischen fünf und sechs Prozent pendelte und damit das Niveau der mit ungleich geringerem Kontrollaufwand agierenden Bundesrepublik übertraf, hing weniger mit Defiziten der medizinischen Versorgung zusammen als mit den Bedingungen der sozialistischen Planökonomie, die den erbrachten Arbeitsleistungen nur selten ein angemessenes Äquivalent in der Form von Konsumangeboten gegenüberstellen konnte79. Die vom SED-Regime gerne als Erklärung der hohen Fehlstände bemühte „mateMette u. a., Arzt, S. 75 und S. 89, Zitate S. 91. Zur Entwicklung des vertrauensärztlichen Dienstes im NS-Deutschland vgl. Knödler, Reform, S. 125-136. H. Kuhn, Maßnahmen zur Normalisierung des Krankenstandes, in: Arbeit und Sozialfürsorge 7 (1952), S. 566 f. A. Apel, Kampf dem Bummelantentum, in: Arbeit und Sozialfürsorge 7 (1952), S. 510. Hoffmann, Zentralisierung, S. 425 f.
Vgl. Tab. 3.
74
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riell-kapitalistische Denkweise der Arbeiter"80 besaß insofern einen wahren Kern,
als der erzwungene Konsumverzicht nicht dauerhaft durch den Verweis auf besondere Umstände wie den „Aufbau des Sozialismus" und andere ideologische Surrogate gerechtfertigt werden konnte, ohne daß Arbeitnehmer ihrerseits nach Kompensationen für den vorenthaltenen Gegenwert der geleisteten Arbeit suchten. Zudem ermunterten aus zeitgenössischer Sicht komfortable Lohnersatzregelungen die Betriebe, ihr Arbeitskräftepotential durch geduldetes „Krankfeiern" zur Überbrückung von Produktionsstillständen an die unregelmäßigen Produktionsrhythmen der sozialistischen Wirtschaft anzupassen. Die eingesparten Lohnkosten konnten später als Überstundenzuschläge wieder ausgeworfen werden. Der NS-Staat und die DDR entwickelten über die Krankenstandskontrolle hinaus neue Formen der Gesundheitsbetreuung, die ebenfalls auf eine intensivierte Verwertung der menschlichen Arbeitskraft abzielten. Ausgangspunkt für das im „Dritten Reich" erprobte Konzept der betrieblichen Gesundheitsführung war ein Krisenszenario, das man mit dem Bild einer „demographischen Zange" beschreiben kann: Der steigenden Lebenserwartung, so fürchteten vor allem Sozialpolitiker aus dem Umfeld des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, stünde das „vorzeitige Absinken des Schaffens- und Leistungsalters"81 gegenüber, so daß langfristig mit einer Verringerung der Arbeitsbevölkerung zugunsten „unproduktiver" Bevölkerungsteile zu rechnen sei. Aus der Perspektive des NS-Regimes war jedoch ein stabiles Arbeitskräftepotential unentbehrlich: zur Sicherung der rüstungswirtschaftlichen Basis außenpolitischer Aggression und als Voraussetzung wirtschaftlichen Wachstums, das nach dem gewonnenen Krieg die materielle Integration der Bevölkerung in die NS-Herrschaft sicherstellen sollte82. Nahezu gleiche Überlegungen finden sich, allerdings ohne das Element der militärischen Aggression, auch in der sozialpolitischen Zukunftsplanung des SED-Staates83. :0
Diskussionsbeitrag Jenny Materns, Protokoll über die Arbeitsbesprechung am 15. 4. 1953 mit den Leitern der Wirtschaftsabteilung und den Instrukteuren für Gesundheitswesen der Bezirksleitun-
gen der SED sowie Vertretern des Staatsapparates und der Massenorganisationen, S. 8; SAPMOBA, DY 30/IV 2/19/40. Zum Mißbrauch des „Krankfeierns" durch die Betriebe vgl. auch den Ent-
wurf [der Abt. Gesundheitspolitik] einer Vorlage für das Politbüro zur Entwicklung des Krankenstands und Maßnahmen zur Senkung des Krankenstands, 13. 4. 1961, S. 6; SAPMO-BA, DY 30/IV 2/19/96. 1
Erläuterungen zum Entwurf eines Führer-Erlasses über die Errichtung des Gesundheitswerkes des Deutschen Volkes [dritte Fassung, Juli 1941]; Hepp/Roth, Sozialstrategien, Abt. B/2, Fiche 94, Bl. 983.
2
3
Fritz Bartels, Gesundheitsführung des deutschen Volkes, in: Ziel und Weg 6 (1936), S. 516-527, S. 524 f. Aufgabe des Gesundheitswesens sei es, so eine Ausarbeitung der Abt. Gesundheitspolitik beim ZK der SED, die „Schaffenskraft der Millionen Werktätigen zu steigern", damit „das ununterbrochene Wachstum und die stetige Vervollkommnung der sozialistischen Produktion verwirklicht und so die Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft garantiert" werden könne; Argumentation für die Durchführung einer politischen Kampagne unter den Genossen Ärzten, 23.4. 1953; SAPMO-BA, DY 30/IV 2/19/40. .
.
.
Gesundheitspolitik
75
Bei dem zu
Versuch, die Auswirkungen berufsbedingter Verschleißerkrankungen vermindern, um so die Lebensarbeitszeit der Industriearbeiter zu verlängern,
experimentierte das NS-Regime mit der Verlagerung medizinischer Betreuung an den Arbeitsplatz. Das Konzept der betrieblichen Gesundheitsführung kombinierte präventivmedizinische Strategien, wie Kampagnen zur Unfallverhütung und Initiativen zur ergonomischen Gestaltung der Arbeitsplätze, die vor allem in Großbetrieben durchaus arbeitsbedingte Gesundheitsschäden verringern konnten, mit der Suche nach Möglichkeiten individueller Leistungssteigerung84. All das war weder neu noch spezifisch nationalsozialistisch, sondern griff Gedanken auf, die in der arbeitsphysiologischen Forschung bereits seit der Jahrhundertwende diskutiert worden waren85. Wirksam wurde vor allem die nationalsozialistische Akzentverschiebung zugunsten der Arbeitskraftverwertung. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges nahm die Anzahl der Betriebsärzte sprunghaft zu, von weniger als 500 im Februar 1939 auf rund 8000 in der Jahresmitte 194486. Ihr ursprünglich präventiv gedachtes Aufgabenprofil verschob sich dabei immer mehr in Richtung kurativer und kontrollierender Tätigkeiten. Um „dem Mangel an Ärzten in der praktischen Versorgung wenigstens dort abzuhelfen, wo er sich am brennendsten bemerkbar machte"87, übernahmen Betriebsärzte seit der Jahreswende 1942/43 in wachsendem Umfang die ambulante Versorgung der Rüstungsarbeiter. Da der Schwerpunkt der medizinischen Versorgung hierdurch zunehmend von der Privat- in die Arbeitssphäre verlagert wurde, änderten sich die Bezugspunkte des Krankseins von Grund auf. Der kranke Mensch galt nicht mehr nur als hilfsbedürftiger homo patiens, sondern, so das renommierte Zentralblatt für Gewerbehygiene, als „Störfaktor im geordneten Ablauf der Produktion"88. Diese Verschmelzung des Gesundheitssystems mit dem der industriellen Produktion stellt eine gesundheitspolitische Kurskorrektur dar, die der erbbiologischen Wende des Jahres 1933 nur wenig nachsteht, denn zum bislang dominierenden Rationalitätskriterium, der rassenbiologischen Gesellschaftsformung, trat mit der kriegswirtschaftlichen Ausrichtung der Gesundheitspolitik ein zweites hinzu. Am Funktionswandel der Amtsärzte läßt sich diese Entwicklung verdeutlichen: Sie wurden im Krieg zunehmend aus ihren alten Tätigkeitsfeldern abgezogen und übernahmen statt dessen Aufgaben in der betriebsmedizinischen BetreuZur Präventionsorientierung der DAF-Gesundheitspolitik vgl. exemplarisch für eine Reihe ähnlicher Formulierungen die Erläuterungen zum Entwurf eines Führer-Erlasses über die Errichtung des Gesundheitswerkes des deutschen Volkes [dritte Fassung vom Juli 1941]; Hepp/Roth, Sozialstrategien, Abt. B/2, Fiche 94, Bl. 987, in denen Prävention als „das Allheilmittel gegen jede Art von Krankheiten und Gebrechen" angepriesen wurde. Am Beispiel des Dortmunder Kaiser-Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie zeigt dies Reeg, Ehre, S. 198 f. Zur quantitativen Dimension des Betriebsarztwesens: Nationalsozialistische Korrespondenz, Nr. 48 vom 25. 2. 1939; BAB, 62.03/4502, Bl. 5; Die Innere Front, Nr. 49 vom 4. 9. 1944; BAB, 62.03/5597, Bl. 3. P. G. Böttcher, Betriebsarzt und Kriegseinsatz, in: Gesundheitsführung 4 (1943), S. 150-156, S. 150. A. Marcus, Die Wirtschaftlichkeit betrieblicher Gesundheitsführung, in: Zentralblatt für Gewerbehygiene und Unfallverhütung N. F. 18 (1941), S. 113-119, S. 116 f.
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Rüstungsarbeiter89. Die große Mehrheit der dort eingesetzten Mediziner stammte jedoch aus dem Kontingent der praktischen Arzte, so daß der Ausbau des Betriebsarztsystems die knapp gewordene ärztliche Arbeitskraft von der Gesamtheit der Bevölkerung abzog und sie bei ihrem produzierenden Teil konzen-
ung der
trierte.
Vergleicht man Kontextbedingungen (knappe Gesundheitsressourcen), Instrumente (bevorzugte Zuteilung medizinischer Versorgung an die Arbeitskräfte einiger Schlüsselindustrien, Kombination prophylaktischer Gesundheitspflege mit verschärfter Krankenstandskontrolle) und Zielsetzungen (Produktionssteigerung), so weist das von der Sowjetischen Militäradministration installierte Betriebsarztsystem deutliche Parallelen zu entsprechenden Programmen der NSDiktatur auf. Der Befehl Nr. 234 vom 9. 10. 1947, mit dem die SMAD den Ausbau des betrieblichen Gesundheitswesens in der SBZ einleitete, steht ganz im Zeichen zu steigernder Arbeitsproduktivität. Dies gilt in noch stärkerem Maß für die als Anlage zum Befehl Nr. 234 verbreitete „Verordnung über die Verbesserung der ärztlichen Betreuung der Arbeiter und Angestellten und über Maßnahmen zur Regelung der Arbeitsbefreiung im Krankheitsfalle", die nicht nur detaillierte Richtlinien für die Einrichtung der Betriebsgesundheitsstationen enthielt, sondern auch zahlreiche Maßnahmen zur Eindämmung der Krankenstände90. Teile dieser Maßnahmen konnten von den Betroffenen durchaus als Fortsetzung nationalsozialistischer Praktiken gedeutet werden91. Jedoch erreichte der medizinisch vermittelte Zugriff auf die Arbeitskraft nie die gleiche Intensität wie im nationalsozialistischen Deutschland. Dies zeigt sich z. B. an der Strafbewehrung „unberechtigter" Krankschreibungen: Im „Dritten Reich" hatten Ärzte, die dem wachsenden Druck standhielten und weiterhin im Sinne ihrer Patienten testierten, nicht nur mit Sanktionen der Standesgerichtsbarkeit, sondern auch mit der Geheimen Staatspolizei zu rechnen92. In der SBZ/DDR fielen die Ärzten angedrohten Maßnahmen vergleichsweise gelinde aus: Eine Rundverfügung des Sächsischen Ministeriums für Arbeit und Sozialfürsorge vom 31. 12. 1948 sah im Falle nachweislich fahrlässiger Arbeitsbefreiungen als Höchststrafe ein (angesichts des vorherrschenden Ärztemangels kaum realisierbares) Verbot der Praxisausübung für längstens sechs Monate vor93. Zudem entwickelten sich die Ge-
geht z. B. aus Einkommensaufstellungen hervor, die die ärztlichen Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitswesens im Rahmen ihrer Entnazifizierungsverfahren vorlegten. Sie enthalten in den Kriegsjahren z. T. erhebliche Nebeneinkünfte aus betriebsmedizinischer Tätigkeit. Beide abgedr. in Weiß, Gesundheitswesen, Bd. 2, S. 45-5E So z. B. von Arbeitern der Rostocker Neptunwerft; Bericht über die bis zum Ende des Jahres 1948 geleistete Arbeit auf dem Gebiete der Betriebsgesundheitsfürsorge in Durchführung des Befehls 234, Ziffer 11 [Entwurf v. Februar 1949]; BAB, DQ 1/394, Bl. 83. Schreiben des Gauamtes für Volksgesundheit Bayerische Ostmark, I. Vierteljahr 1943, zit. nach der Abschrift im Bericht des SD-Abschnitts Bayreuth vom 27. 4. 1943; Staatsarchiv Bamberg, M 30/ 1043; Direktion der Kurmärkischen Zellwolle und Zellulose-AG Wittenberge an die Gestapo Potsdam, 4. 2. 1942; Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 75/317; vgl. Tennstedt, Dies
Sozialgeschichte, S. 408.
BAB, DQ 1/509, Bl.
209.
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beider Diktaturen in diesem Punkt geradezu gegenläufig. Mit der Fortdauer des „Dritten Reiches" gewann die Arbeitsorientierung als gesundheitspolitisches Leitbild an Gewicht, in der DDR verlor diese Funktionszuweisung seit den siebziger Jahren an Bedeutung. Der NS-Staat baute im Verlauf seiner Herrschaft vor allem die repressiven und kontrollierenden Elemente des Betriebsarztsystems aus. In der DDR dagegen trat dieser Aspekt mit der Ausdifferenzierung eigener kontrollmedizinischer Dienste allmählich hinter die ambulante Versorgung zurück, so daß sich das Betriebsgesundheitswesen im Verlauf der 1950 er Jahre neben den niedergelassenen Ärzten und den staatlichen Polikliniken als dritte Säule der ambulanten Versorgung etablieren konnte94. Dieser Umbau geschah allerdings zu Lasten seiner präventivmedizinischen Komponente, die entgegen der offiziellen Rhetorik nur zurückhaltend in die Praxis umgesetzt wurde. Noch in der Mitte der sechziger Jahre ging das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR lediglich von einem geplanten (!) Verhältnis zwischen Therapie und Prophylaxe von 80 zu 20 aus95. Dem Ausbau der vorbeugenden Betriebsgesundheitsfürsorge standen nicht nur die vor dem Mauerbau extrem beengten medizinischen Ressourcen der SBZ/DDR entgegen, die das Regime immer wieder dazu zwangen, freie Kapazitäten in die ambulante Versorgung umzuleiten, sondern auch die ökonomischen Eigeninteressen der Betriebe, die wenig Eifer entwickelten, dem Gesundheitswesen ihre knappen Investitionsmittel zuzuführen96.
sundheitssysteme
Soziale
Wirkungen gesundheitspolitischer Schwerpunktsetzungen: Privilegierung von Patienten durch das Gesundheitssystem
und Diskriminierung
Die Frage nach regimespezifischen Funktionszuweisungen enthält auch die Frage nach der Begünstigung und Benachteiligung einzelner Bevölkerungsteile durch das Gesundheitssystem. Jede der hier untersuchten Ordnungen kennt Gruppen, die einen privilegierten Zugang zur medizinischen Versorgung genießen. Zum Teil spiegelt sich darin die Position in der gesellschaftlichen Hierarchie. So ersetzten in der DDR medizinische Sonderversorgungssysteme für Angehörige der Nomenklatura den vormals durch die individuelle Verfügbarkeit finanzieller Mittel hierarchisierten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Neben Vorteilen für Patienten aus dem Staatsapparat spielten auch informelle Vergünstigungen eine Der Anteil des Betriebsgesundheitswesens an den Arztkontakten der staatlichen ambulanten Versorgung betrug Mitte der fünfziger Jahre ca. 21 %, sank aber bis 1985 auf ca. 13 %, da das Betriebsgesundheitswesen nach der Expansionsphase der 1950 er Jahre langsamer wuchs als andere Bereiche der ambulanten Versorgung; Frerich/Frey, Handbuch, Bd. 2, S. 235. Protokoll der Kollegiumssitzung vom 15. 11. 1965, S. 3; BAB, DQ 1/5055. Exemplarisch für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist die Klage des Chefarztes einer Betriebspoliklinik darüber, daß die Betriebsleitung zwar „große Verpflichtungen zur Verbesserung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes übernehmen [würde], aber eine Realisierung erfolgt nicht"; Weber, Bericht über die Überprüfung des Aufbaues und der Tätigkeit der Ärzteberatungskommissionen in den Bezirken Magdeburg und Halle, 9. 10. 1953; SAPMO-BA, DY 30/IV 2/19/40.
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wichtige Rolle. Begehrt als Patienten waren z. B. Angehörige von Handwerksberufen, die im Gegenzug bei der Instandhaltung der medizinischen Infrastruktur eingesetzt werden konnten97. Ein anderer Teil der Privilegierungen beruht auf politisch gesetzten Prioritäten. Hierzu zählt die in allen drei Gesundheitssystemen vorhandene, jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägte Gesundheitspflege für Mutter und Kind, die nicht nur ein lebenslagenspezifisches Risiko sozialstaatlich abfederte, sondern auch der Sorge um die Reproduktion des Staatsvolks entsprang. Der DDR, die bereits in den fünfziger Jahren über ein dichtes Netz öffentlicher Betreuungseinrichtungen für Mutter und Kind verfügte, gelang es mit ihrem ebenso fürsorglichen wie vormundschaftlichen System der Schwangerenhilfe rascher als der Bundesrepublik, die Säuglingssterblichkeit zu senken und dabei sozial bedingte Differenzen in der Mortalität auszugleichen, obwohl ihre Ausgangsbedingungen ungleich schlechter waren98. Die signifikanten Unterschiede in der Sterblichkeit der nichtehelich Geborenen bilden einen guten Indikator für die unterschiedlichen Problemdefinitioder drei Gesundheitssysteme. Während der Sterblichkeitsüberhang unehelich Geborener im „Dritten Reich" leicht zunahm und in der Bundesrepublik bis 1965 in etwa konstant blieb, sank die Sterblichkeit der unehelichen Säuglinge in der SBZ/DDR bedeutend schneller als die der ehelich Geborenen. Ein Teil der zeitweise günstigeren Sterblichkeitsentwicklung Neugeborener im östlichen Teil Deutschlands kann auf diesen Effekt zurückgeführt werden. In der DDR besaß die Gleichberechtigung der nichtehelich Geborenen aus ideologischen Gründen einen hohen Stellenwert. Die rechtliche Gleichstellung mit den ehelich Geborenen erfolgte daher früher und umfassender als in Westdeutschland. Zudem erreichte das mit erheblichen finanziellen Anreizen verbundene System der Schwangerenfürsorge einen weit größeren Personenkreis als in der Bundesrepublik und so auch zahlreiche, meist aus unteren und ländlichen Bevölkerungsschichten stammende Schwangere, die bislang von der Möglichkeit medizinischer Betreuung während der Schwangerschaft wenig Gebrauch gemacht hatten99. Die Familienpolitik des „Dritten Reiches" und der Adenauer-Zeit orientierte sich dagegen (trotz teilweise gegenläufiger Strömungen im NS-Deutschland) weiterhin an der Vollfamilie und maß den unehelich Geborenen vergleichsweise geringe Bedeutung bei. Bis zur Einführung schwangerschaftsbegleitender Vor- und Nachsorgeuntersuchungen als Regelleistungen der GKV im Jahr 1965 hatte das Gesundheitssystem der DDR im Hinblick auf die flächendeckende Verfügbarkeit entsprechender Innen
Arbeitsgruppe Ethik, Studie zu Stand und Entwicklungstendenzen moralischer Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitarbeiter des Gesundheitswesens, insbesondere der Ärzte im Betreuungsprozeß, 15. 11. 1979, S. 19; SAPMO-BA, vorl. SED/21929. Vgl. Tab. 2, generell zur Problematik der Säuglingssterblichkeit: Müller, Säuglingssterblichkeit. In der DDR, die die Auszahlung der Schwangerschaftsbeihilfen an den zeitgerechten Besuch von Vorsorgeuntersuchungen gebunden hatte, suchten seit der Mitte der 1960 er Jahre mehr als 85% der Schwangeren während der ersten drei Schwangerschaftsmonate eine Beratungsstelle auf, in der Bundesrepublik dagegen nur 41 %; Müller, Säuglingssterblichkeit, S. 88 und S. 100.
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frastruktureinrichtungen und die Universalität des Zugangs einen deutlichen Vorsprung gegenüber dem westdeutschen Konkurrenten aufzuweisen. Seit 1965 differierte das System der Schwangerenfürsorge auf der Angebotsebene jedoch nur un-
wesentlich von dem der DDR. Der entscheidende Unterschied bestand nun darin, daß es den Schwangeren selbst überlassen blieb, inwieweit sie den grundgesetzlich garantierten Anspruch auf den „Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft" (Art. 6 GG) in Anspruch nehmen wollten. Während die DDR versuchte, auch das Gesundheitsverhalten zu beeinflussen, regulierte der Staat in der Bundesrepublik lediglich die Zugangsmöglichkeit zur Gesundheitsversorgung100. Der Autonomieanspruch des einzelnen setzt hier verhaltensbeeinflussenden (und damit verhaltensvereinheitlichenden) Maßnahmen auch dann enge Grenzen, wenn staatliche Interventionen medizinisch gut begründbar sind. Daher neigt die Schwangerenfürsorge in der Bundesrepublik dazu, schichtspezifisches Gesundheitsverhalten, das eine wesentliche Basis sozial differenzierter Säuglingssterblichkeit bildet, zu perpetuieren, denn gesundheitsfördernde Beratungsangebote werden von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht in stärkerem Umfang wahrgenommen als von Unterschichtangehörigen101. Zugespitzt könnte man sagen, daß das Fortbestehen dieser Unterschiede in der Bundesrepublik ebenso eine Folge ihrer freiheitlichen Gesellschaftsverfassung war wie die zeitweise höhere Säuglingssterblichkeit. Die medizinische Versorgung älterer Patienten markiert einen weiteren Unterschied zwischen beiden Gesundheitssystemen. Als Gesundheitssystem, das auf die jungen und die produzierenden Teile der Bevölkerung ausgerichtet war, tendierte das der DDR offenbar dazu, ältere Patienten zumindest indirekt zu benachteiligen102. Die umfangreichen Präventionsprogramme wirkten vor allem gegen Kinder- und Jugendkrankheiten. Dagegen waren Vorbeugemaßnahmen gegen chronisch-degenerative Krankheitsbilder, die das Morbiditätsspektrum älterer Menschen bestimmen, vergleichsweise wenig entwickelt. Der Anteil der Kreislauferkrankungen an der Gesamtzahl der Todesfälle lag in der DDR (die diese Zahlen allerdings erst seit den siebziger Jahren ausweist) rund 40 Prozentpunkte über den entsprechenden Werten der Bundesrepublik103. Auch wenn die formale Zugangsberechtigung zum Gesundheitssystem unverändert bestehenblieb, verengten sich mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wichtige betriebsgebundene Zugangswege. So wurden neun Zehntel der Kurplätze durch die Betriebe vergeben. In deren Genuß kamen bevorzugt Produktionsarbeiter sowie Mütter Henning, Care, S. 479f. und S. 482. Siegrist, Steps, S. 357-359. Allerdings lassen sich die Effekte dieser Prioritätssetzung, anders als im Fall der Säuglingssterblichkeit, empirisch nur schwer fassen, da epidemiologisch gesicherte Daten über die Gesundheitsverhältnisse älterer Bürger in der DDR, sieht man von vereinzelten Hinweisen auf eine seit dem Ende der 1970 er Jahre größer werdende Kluft zwischen Ost und West einmal ab (so z. B. Niehoff/Schrader, Gesundheitsleitbilder, S. 55), nicht vorliegen. Dagegen deutet die Analyse der Sterblichkcitsuntcrschiede darauf hin, daß die Auseinanderentwicklung der Gesundheitsverhältnisse nicht auf altersspezifische Effekte zurückführbar ist; Dinkel, Kohortensterbetafeln, S. 112. Rytlewsky/Opp de Hipt, Bundesrepublik in Zahlen, S. 199; dies., DDR in Zahlen, S. 150.
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mit mehreren Kindern, kaum jedoch Rentner104. Defizite bestanden ferner bei den notorisch knappen und zudem oft qualitativ unzureichenden Heil- und Hilfsmitteln (z. B. Hörgeräten), auf die ältere Menschen besonders angewiesen waren, ebenso bei hochwertiger Medizintechnik, die größtenteils aus dem westlichen Ausland importiert werden mußte, wofür aber nicht genügend Devisen zur Verfügung standen105. In Erinnerungsinterviews, die Klaus-Dieter Müller nach der Wiedervereinigung mit Ärzten aus der ehemaligen DDR geführt hat, finden sich Hinweise auf Zugangsbehinderungen für ältere Patienten. Dies betraf vor allem aufwendige Behandlungen, z. B. Herzoperationen und Nierendialysen106. Das Drängen der behandelnden Ärzte auf die Bereitstellung von „Kriterien für die Rang- und Reihenfolge der Behandlung bei begrenzter Behandlungskapazität"107 durch die Gesundheitsbehörden deutet allerdings darauf, daß es sich dabei um informelle, nicht systematisch betriebene Praktiken gehandelt hat. In der Bundesrepublik waren und sind ältere Patienten dagegen vergleichsweise gut gestellt. Aufgrund der individualrechtlichen Konstruktion der Krankenversicherung folgen aus dem Ruhestand keine Zugangsbeschränkungen zur medizinischen Versorgung. Ähnlich wie die kinderreichen Familien gehören ältere Patienten zu den Begünstigten des solidarischen Finanzierungsverfahrens der GKV Zudem profitiert die wachsende Anzahl der Hochbetagten in besonderer Weise von den Fortschritten der Intensivmedizin. Die Praxis, allen Erkrankten potentiell hilfreiche Gesundheitsleistungen unabhängig von den jeweiligen Kosten zukommen zu lassen, ist in der Bundesrepublik bislang kaum umstritten108, obwohl die steigenden Ausgaben für die Krankenversicherung der Rentner erheblich zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen beitragen109. Hier hat die Erfahrung der NS-Zeit sozialutilitaristischen Gedankenspielen, die versteckt oder offen auf eine Schmälerung der Gesundheitsversorgung älterer Bürger zu Gunsten jüngerer .
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Patientengruppen hinarbeiten, lange entgegengewirkt110.
Gemeinsamer Beschluß des Politbüros der SED, des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften sowie zu Fragen der Kuren, Neues Deutschland v. 8. 3.1972, zit. nach Harmsen, Gesundheitsvorsorge, S. 30f. So konnte die DDR 1988 nicht einmal zwei Fünftel ihres Bedarfs an Dialysebehandlungen decken; Frcrich/Frey, Handbuch, Bd. 2, S. 255. Müller, Hippokrates, S. 207f. und S. 376. Zusammenfassung der Stellungnahmen medizinisch-wissenschaftlicher Gesellschaften der DDR zum Problemkatalog, der vom Generalsekretariat der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften beim Ministerium für Gesundheitswesen der DDR im November 1977 versandt wurde [November 1979], S. 8; SAPMO-BA, vorl. SED/21929. Sachße, Freiheit, S. 21 f. Da die Leistungsaufwendungen in der Krankenversicherung der Rentner rascher wuchsen als das Beitragsauf kommen, vergrößerte sich allein im Zeitraum zwischen 1960 und 1975 der Anteil der von Rentnern verursachten Kosten an den Leistungsausgaben der GKV von 14,8% auf 31 %. Die bewußt nicht kostendeckend gestalteten Beiträge zur Rentnerkrankenversicherung haben seit den 1970 er Jahren zu beträchtlichen generationellen Ungleichgewichten geführt. 1970 betrugen die durchschnittlichen Ausgaben für einen Rentner ca. 107,6% eines erwerbstätigen Versicherten, 1986 waren es bereits 163,7%; Sachße, Freiheit, S. 20. So z. B. Callahan, Limits.
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Ein Blick auf das Vereinigte Königreich zeigt, daß sich die unterschiedliche Behandlung älterer Patienten nicht allein aus der Leitdifferenz Demokratie-Diktatur erklären läßt. Auch im staatlichen Gesundheitsdienst Großbritanniens wird der informelle Ausschluß älterer Patienten von kostenintensiven lebensverlängernden Maßnahmen bereits seit mehreren Jahren praktiziert111. Im innerdeutschen Systemvergleich macht das Beispiel der technisierten Intensivmedizin freilich einen Hauptunterschied deutlich, der die sozialpolitischen Handlungsspielräume der beiden Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches" in entscheidender Weise prägte. Beide Gesundheitssysteme waren in Ökonomien eingebunden, die sich hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft signifikant voneinander unterschieden. Die Produktivität der DDR-Wirtschaft lag um wenigstens ein, wohl eher zwei Drittel unter dem Stand der Bundesrepublik, wobei sich die Kluft zwischen beiden Staaten zunehmend vergrößerte112. Obwohl die DDR dem Gesundheitswesen einen ähnlichen Anteil ihres Nationaleinkommens zur Verfügung stellte wie die Bundesrepublik, waren die medizinisch wirksamen Ressourcen aufgrund der insgesamt niedrigeren Leistungsfähigkeit der DDR-Volkswirtschaft dort um ein Vielfaches geringer113. Die Folgen dieser Unterausstattung ließen sich bis zum Ende der sechziger Jahre durch organisatorische Maßnahmen teilweise ausgleichen. Seitdem jedoch die investitions- und technikintensive Apparatemedizin den Charakter der Heilkunde bestimmte, verlor das Gesundheitswesen der DDR zunehmend den Anschluß an die internationale Entwicklung114. Dieser Effekt wurde durch die unterschiedliche Finanzierungsweise beider Gesundheitssysteme noch verstärkt. In der Bundesrepublik ermöglicht das beitragsgestützte Finanzierungsverfahren der Krankenversicherung gerade in Zeiten wirtschaftlichen Wachseine flexible Reaktion auf steigende Gesundheitskosten. Da die DDR tums den Beitrag zur Sozialversicherung aus politischen Gründen auf einem sehr niedrigen, nicht kostendeckenden Niveau festschrieb, belasteten Mehraufwendungen im Gesundheitswesen deren Staatshaushalt. Der in den siebziger und achtziger Jahren zunehmende Investitionsdruck auf den Gesundheitssektor fiel daher mit extrem verengten wirtschaftlichen Gestaltungsspielräumen zusammen, die eine Folge abnehmender Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, vermehrter Auslandsverschuldung und einer wachsenden Festlegung des Sozialbudgets durch -
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112
beträgt die Quote der über 65 jährigen Hämodialysepatienten nur ein Zehntel des Wertes vergleichbarer europäischer Staaten, während sie bei bis zu 45jährigen dem europäischen Durchschnitt entspricht; Alber, Steuerung, S. 282. Diessenbacher, Generationenvertrag, S. 261 f., spricht angesichts der inzwischen fest etablierten Praxis, ältere Patienten vom lebensrettenden Zugang zur Blutwäsche auszuschließen, vom „technologischen Gerontozid". Vgl. hierzu die Gegenüberstellung einschlägiger Produktivitätsschätzungen bei Ritsehl, Aufstieg, Z. B.
S. 16.
113
114
Vgl. Tab. 6.
z. B. die Einschätzung der Abt. Gesundheitspolitik, Information zu politisch-ideologischen Problemen im Gesundheitswesen, 27. 7. 1977, S. 7 f.; [Abt. Gesundheitspolitik,] Entwicklung des Gesundheits- und Sozialwesens seit dem VIII. Parteitag und Grundorientierung für die Jahre 1976 bis 1980, o. D. [1975], S. 11; SAPMO-BA, vorl. SED/21929.
So
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Preissubventionen waren115. Die Frage nach der Allokation gesundheitsbezogeRessourcen stellte sich daher in der DDR mit ungleich schärferen Konsequenzen als in der Bundesrepublik, deren Ökonomie über genügend Anpassungselastizität und Wirtschaftskraft verfügte, um auf die finanziellen Folgen medizintechnischer und demographischer Veränderungen zu reagieren. Abseits solcher Unterschiede ähnelten sich die Gesundheitssysteme der DDR und der Bundesrepublik in einem entscheidenden Punkt: Beide zielen auf die Integration möglichst aller Bevölkerungsgruppen in die medizinische Grundversorgung und auf die Ausweitung der Absicherung von Gesundheitsrisiken116. Die DDR vereinheitlichte bereits 1947 das Leistungsrecht und die Trägerstruktur der Krankenversicherung und dehnte den Schutz der neugeschaffenen Einheitsversicherung auf die gesamte Bevölkerung aus. In der Bundesrepublik blieb das berufsständisch gegliederte System der Krankenkassen zwar im Prinzip erhalten, in den Jahren 1965-1975 wurde jedoch das Leistungsrecht der allgemeinen Ortskrankenkassen, in denen die Mehrheit der sozial schwächeren Bevölkerungsteile versichert war, zunehmend an das der Angestellten-Ersatzkassen angeglichen117. Im Gegensatz zu den inklusiv orientierten Gesundheitssystemen der deutschen Nachkriegsgesellschaften, die, bei allen Unterschieden, letztendlich beide auf die soziale Integration der Kranken abzielten, beruhte die gesundheitspolitische Ordnung des „Dritten Reiches" wesentlich auf der Ambivalenz von Inklusion und systematischer Exklusion. Der NS-Staat differenzierte die Zuteilung von Gesundheitschancen nicht mehr nur nach medizinischer Bedürftigkeit, sondern auch nach politischen, kriegswirtschaftlichen und rassistischen Vorgaben. Ein Großteil der neuen Angebote in der Gesundheitspflege, die staatliche und parteinahe Dienststellen im Bereich der Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind, der Jugendgesundheitspflege und der Tuberkulosebekämpfung anboten, stand immer nur für Teilgruppen der Bevölkerung offen und war vielfach an erbbiologische Begutachtungen geknüpft, so daß sich der Verrechtlichungsgrad und die Universalität medizinischer Versorgung insgesamt zurückentwickelten. Für manche Patientengruppen konnte daraus durchaus eine Verbesserung ihrer bisherigen Situation erwachsen, z. B. für die Körperbehinderten, deren Chancen auf berufliche und gesellschaftliche Integration im „Dritten Reich" eher zunahmen. Ausschlaggebend für diesen überraschend anmutenden Befund, der auf der sprachlichen Ebene auch in der Ablösung des diskreditierenden „Krüppels" durch den „Körperbehinderten" deutlich wird, waren in erster Linie arbeitsmarktpolitische Erwägungen118. ner
115 116
Vgl. Hockerts, Grundlinien, S. 524 f. In der Bundesrepublik und der DDR war praktisch niemandem der Zugang zur Gesundheitsversorgung aus ökonomischen Gründen verwehrt. 1983
117
118
waren
in der BRD rund 98 % der Wohnbevöl-
kerung durch die gesetzliche Krankenversicherung oder privat versichert, in der DDR (1988) betrug der entsprechende Wert 90,2%; Siegrist, Steps, S. 355; Frerich/Frey, Handbuch, Bd. 2, S. 271. Manow-Borgwardt, Sozialversicherung, S. 52 und S. 55. Thomann, Krüppel, S. 213-216. Daß andererseits einzelne „Krüppelheime" prospektiv in die Erfassungen zur „Euthanasie" miteinbezogen wurden, macht deutlich, wie ambivalent sich die Situation der Körperbehinderten während des „Dritten Reiches" entwickelte; Vernehmung Otto He-
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Der verbesserten Versorgung eines Teils der Bevölkerung standen jedoch erhebliche Einschnitte in anderen Bereichen gegenüber. Dies betraf zum einen die gesetzliche Krankenversicherung, deren Ausgaben durch Einschränkungen im Leistungsrecht deutlich unter das Niveau der späten zwanziger Jahre gesenkt wurden, insbesondere aber einzelne, vom NS-Regime verfemte Patientengruppen. Die bis dahin beispiellose Kampagne gegen die als „unnütze Esser" denunzierten Insassen der Heil- und Pflegeanstalten mündete schließlich in den Massenmord an mehr als 100000 Psychiatriepatienten. Ihre Geschichte gehört inzwischen zu den am besten erforschten Teilbereichen nationalsozialistischer Gesundheitspolitik. Weitaus geringer sind unsere Kenntnisse über das Ausgreifen selektiver Medikalisierungsstrategien auf körperlich Kranke. In der extremen Form des gesundheitsgefährdenden Ausschlusses aus der medizinischen Versorgung war die Umverteilung der Gesundheitsressourcen zwischen einzelnen Patientengruppen eine Besonderheit der Kriegsjahre. Die Entscheidung, angesichts knapper werdender medizinischer Ressourcen die arbeitende Bevölkerung vordringlich, „gegebenenfalls auf Kosten der Bevölkerungsschichten, die nicht mehr in den Arbeitsprozeß eingeschaltet sind"119, zu behandeln, lief de facto auf den Tausch einer erhöhten Lebenserwartung der arbeitsfähigen Teilpopulation zu Lasten der verringerten Lebenserwartung der nicht mehr Arbeitsfähigen hinaus. Das Einfallstor für diese Praxis bildeten behandlungsintensive Krankheiten mit ungünstiger Prognose wie Tuberkulose und Diabetes120. Auch bei einem Teil der chronisch kranken alten Patienten läßt sich der Prozeß der Verdrängung somatisch Kranker aus dem System der medizinischen Versorgung beobachten. In den ersten Jahren des „Dritten Reiches" bildeten Alte und ihre gesundheitliche Versorgung ein eher randständiges Thema, das primär unter dem Aspekt ihrer Integration in den Arbeitsmarkt diskutiert wurde121. Dies änderte sich radikal, als die nationalsozialistische Medizinalverwaltung im Zweiten Weltkrieg verstärkt auf Räumlichkeiten der Altenpflege zurückgriff, um darin Einrichtungen der allgemeinen Gesundheitspflege unterzubringen. Bereits Ende 1941 waren in Sachsen mehr als 25 Prozent der 1939 erfaßten Einrichtungen der Alten- und Gebrechlichenpflege einer anderen Verwendung zugeführt worden122. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurden Alterskranke auch aus den Hospitälern verdrängt. Der knappe Krankenhausraum, so empfahl ein Merkblatt der Reichsgesundheitsführung für den „Arzt im Luftkrieg", sei primär „für die jungen leistungsfähigen Menschen sicherzustel3.-8. 8. 1964, zit. nach Joachim S. Hohmann/Günter Wieland, MfS-Vorgang „Teufel". „Euthanasie"-Arzt Otto Hebold vor Gericht, Berlin 1996, S. 228. So in bezug auf die Insulinversorgung der Sachbearbeiter für Arzneimittelfragen im Stab des Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Lüpke, Schreiben an das Regierungspräsidium Düsseldorf, 8. 3. 1944; Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf/54363-I, Bl. 240. Vgl. Knödler, Insulinproblem; Blasius, Tuberkulose, S. 331. Hahn, Aiternsforschung, S. 221 f. Ebenda, S. 223 f.
bold,
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120 121 122
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len"123. In dieser Argumentation schwingt der Gedanke mit, daß das Mangelgut Gesundheit nach der gesellschaftlichen „Nützlichkeit" verteilt werden sollte. Alterskranke fielen dabei durch das dreifache Raster nationalsozialistischer Kriegssozialpolitik: Ihre militärische Bedeutung tendierte in den Augen des Regimes gegen Null, ihr Arbeitskraftpotential schien gering, und auch ihr bevölkerungspolitischer Stellenwert schlug kaum zu Buche. Seit dem Frühjahr 1942 gingen luftkriegsbedrohte Städte dazu über, Alte und Sieche in die Süd- und Ostgebiete des Deutschen Reiches abzuschieben. Je weiter sich die Alterskranken im Verlauf solcher Evakuierungen von ihren Heimatorten entfernten, desto mehr verblaßte die Scheidelinie zu den Psychiatriepatienten. Vielfach gelangten sie auf diesem Weg in kurz zuvor freigemordete Heil- und Pflegeanstalten, oder sie wurden in eines der neuerrichteten Evakuierungssiechenheime verlegt und damit in eine Unterkunft, die sich nicht mehr unter die Rubrik Krankenhaus subsumieren läßt. Die Unterbringung der bettlägerigen Alten auf Strohsäcken, ohne ausreichende medizinische Betreuung, war dort eher die Regel als die Ausnahme124. Ob sich die Unterversorgung wie bei den Psychiatriepatienten ebenfalls zur aktiven Tötung steigerte, kann nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden, auch wenn Indizien dafür sprechen. Allerdings lassen sich Fälle gezielter NichtVersorgung älterer Patienten belegen, die auf ein großes Maß an Eigeninitiative lokaler Dienststellen schließen lassen125. Sicher ist auch, daß die Mortalität auf den behelfsmäßigen Siechenstationen extrem hoch war und die Annahme systematisch reduzierter medizinischer Betreuung erlaubt, die auch das Sterben der Patienten billigend in Kauf nahm. In der mit Alterssiechen belegten Anstalt Uchtspringe betrug die Sterberate Ende 1944 mehr als 60 Prozent innerhalb eines halben Jahres126. Die aus Nützlichkeitskalkülen systematisch betriebene Schmälerung der Lebenschancen älterer Kranker war ebenso integraler Bestandteil der Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung der „Normalpatienten" während des Krieges wie der Mord an den Geisteskranken. Zur Stellung der Ante im
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Die Stellung der Ärzte im Gesundheitssystem wird in erster Linie durch ihr Verhältnis zum Staat und zu den Kostenträgern der Gesundheitsversorgung bestimmt. Untersucht man diese Beziehungen, werden Kontinuitätslinien sichtbar, Der Arzt im
Luftkrieg [1943], die korrigierte Druckvorlage des Merkblattes als Anlage zum Schreiben des Reichszahnärzteführers Stuck an Conti, 30. 7. 1943; BAB, R 18/3791. Stadtarchiv Köln, Acc. 673/12, Schreiben des Gesundheitsamtes Köln an das Gauamt für Volkswohlfahrt Niederschlesien, 6. 10. 1943 mit Beschwerdeschreiben von Evakuierten und deren An-
gehörigen.
Bericht des SD-Leitabschnitts Düsseldorf an das RSHA/Amt III, 19. 6. 1944; Ehlich an Conti, 1. 9. 1944; Zentrum für die Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen Moskau, 500/4/ 330.
Roer, Psychiatrie, S. 34.
Gesundheitspolitik
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die von der Endphase der Weimarer Republik über die NS-Zeit in die Bundesrepublik führen. Das Krankenversicherungsgesetz des Jahres 1883 hatte den Kassenverwaltungen die Sicherstellung der ambulanten Versorgung übertragen, jedoch die Rechtsverhältnisse zwischen ihnen und den niedergelassenen Ärzten ungeklärt gelassen. In der Folge war es zu erbitterten, auch von Streiks begleiteten Konflikten zwischen beiden Parteien gekommen, die besonders um drei Punkte kreisten: die Zulassung zur Kassenpraxis, die Ausgestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen und die Höhe der ärztlichen Vergütung. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen konnten Ärzte wachsende Mitspracherechte bei der Praxiszulassung und die allmähliche Umwandlung ihrer Individual- in Kollektivverträge durchsetzen. Ein weiteres, aus der Sicht der Standesvertretungen höchst unwillkommenes Ergebnis der Ärztestreiks waren Ambulatorien, die einige größere Kassen errichtet hatten, um die Versorgung ihrer Patienten durch angestellte Ärzte sicherzustellen127. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise gestand die Regierung Brüning den niedergelassenen Ärzten im Tausch gegen Einkommensverzichte weitgehende Selbstverwaltungsrechte zu und übertrug den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung regional gegliederten Kassenärztlichen Vereinigungen, die als staatlich privilegierte Zwangsorganisation der niedergelassenen Ärzte neu
errichtet wurden, um die ärztliche Honorarsumme zu verteilen. Diese hafteten im Gegenzug für die Stabilität des Gesundheitsbudgets128. Auch wenn damit ein zentraler Funktionsbereich des Gesundheitssystems aus der Verantwortlichkeit der Kostenträger in die Verfügung der Ärzteschaft überging, strebte die Notverordnung Brünings weniger eine Neugestaltung des Verhältnisses von Ärzten und Krankenkassen an, sondern vor allem Einsparungen im Haushalt der Sozialversicherung. Mit ihrer Strategie der Kostendämpfung durch Korporatisierung bewegte sie sich in den von vorangegangenen Kabinetten vorgezeichneten Bahnen, die darauf zielten, beide Vertragsparteien durch staatliche Interventionsdrohungen stärker an das Gemeinwohl zu binden und das konfliktreiche Verhältnis zwischen Ärzten und Krankenkassen durch die Zentralisierung und Korporatisierung der Verbandsbeziehungen aus der Ebene des wirtschaftlichen Interessenkonflikts herauszuführen129.
Ereignisgeschichte und Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen inzwischen mehrfach dargestellt wurden, fehlen Untersuchungen, die die Entscheidungsbildungsprozesse im Hinblick auf Interaktionen zwischen dem politisch-administrativen System und den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen empirisch fundiert rekonstruieren. Einen Überblick über die rechtlichen Veränderungen bietet Tennstedt, Sozialgeschichte, S. 392-417. 4. Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des Inneren Friedens vom 9. 12. 1931, RGBl. I, S. 699-745, 718 f. sowie die Ausführungs- und Während
Überleitungsbestimmungen über das
kassenärztliche Dienstverhältnis vom 30. 12. 1931, RGBl. I S. 2-13. Zu dieser bis heute folgenreichen Notverordnung vgl. Thomsen, Ärzte, 5. 133-139, allerdings mit z. T. problematischen Wertungen. Wichtig ist hier v. a. die Verordnung über die Krankenhilfe bei den Krankenkassen vom 30. 10. 1923, RGBl. I, S. 1054-62, die eine Phase erbittert geführter Ärztestreiks beendete und für künftige
(1932),
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Dort, wo sie die Verbandsbeziehungen zentralisierten und die Aufsichtsrechte des Reiches über die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens stärkten, knüpften die nationalsozialistischen Machthaber an die Politik der zwanziger und frühen dreißiger Jahre an. Freilich erhielten die seitdem herausgebildeten gesundheitspolitischen Instrumente einen radikal veränderten Kontext, denn mit der Schließung der kasseneigenen Ambulatorien und der gewaltsamen Gleichschaltung der Krankenkassen und ihrer Spitzenverbände waren nicht nur innovative gesundheitspolitische Akteure verdrängt, sondern auch die wichtigsten Widerlager der ärztlichen Interessenpolitik beseitigt worden130. Indem das NS-Regime die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen zur Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) zusammenschloß und den Sicherstellungsauftrag sowie das Recht, Ärzte zur Kassenpraxis zuzulassen, an diese Institution übertrug, stellte es die Weichen in Richtung auf ein scheinkorporatistisch reguliertes Gesundheitssystem, in dem freiberuflich praktizierende Ärzte den ambulanten Sektor dominierten, ihr Handeln aber durch nationalsozialistisch penetrierte Standesorganisationen, die ebenso als Vertreter beruflicher Sonderinteressen wirkten wie als Instrumente professionsinterner Disziplinierung, eng an staatliche Vorgaben gebunden war131. In den Augen vieler Ärzte fiel die enge Einbindung in den nationalsozialistischen Staat jedoch kaum ins Gewicht, denn die beiden ökonomischen Kerne des ärztlichen Berufsverständnisses, die Freiberuflichkeit und das in der Weimarer Zeit hart umkämpfte ambulante Behandlungsmonopol, gingen gestärkt aus der Umgestaltung des Gesundheitswesens hervor. In deren Windschatten konnten Ärzte zudem beträchtliche ökonomische Positionsgewinne verbuchen, vor allem durch die Verdrängung ihrer jüdischen Kollegen132. Auch in anderer Hinsicht kam der nationalsozialistische Staat den Medizinern entgegen. Viele Bestimmungen der Reichsärzteordnung vom Dezember 1935, so etwa die Übertragung der berufsständischen Gerichtsbarkeit an die neuerrichtete Reichsärztekammer, erfüllten langjährige Forderungen der Ärzteschaft133. Im Ganzen gesehen, trugen diese Maßnahmen dazu bei, das in den zwanziger Jahren distanzierte Verhältnis zur staatlichen Ordnung bei einer Mehrheit der Mediziner in ein enges Bindungsverhältnis zu den neuen Machthabern umzuwandeln. Ganz anders entwickelte sich die Situation im ostdeutschen Nachfolgestaat des „Dritten Reiches". Während das Verhältnis von Staat, Leistungsanbietern und Kostenträgern nur einen Nebenschauplatz nationalsozialistischer GesundheitsVertragsstreitigkeiten Konsensverfahren unter staatlicher Oberaufsicht vorsah; Göckenjan, Lohn0 1
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sklaven, S. 29f.; Thomsen, Arzte, S. 116. Hierzu Hansen, Alternativen.
Verordnung über die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands vom 2. 8. 1933, RGBl. I, S. 156f.; Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen vom 17.5.
1934, RGBl. I, S. 399-409. Zur Einkommenssituation der Ärzte siehe Kater, Doctors, S. 260, S. 242. Zwischen April 1933 und Juli 1938 fielen acht- bis neuntausend Ärzte, das entsprach rund 15 bis 17% aller deutschen Ärzte, rassistisch oder politisch motivierten Berufsverboten zum Opfer; dazu Kümmel, Ausschaltung, S. 62. RGBl. I, S. 1433-1444.
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politik bildete, stellte die Reorganisation der ambulanten Versorgung in der sowjetischen Besatzungszone ein Leitmotiv dar, das die Gesundheitspolitik der SBZ/DDR bis zu ihrem Ende prägte. Im Gegensatz zum NS-Regime, das den staatlichen Zugriff auf das Gesundheitswesen verdichtete, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Arzte jedoch im Kern unangetastet ließ, setzte die SMAD ein Organisationsmodell durch, das die wirtschaftliche und soziale Stellung der Ärzte von Grund auf veränderte. „Die werktätige Bevölkerung", hob der Leiter der Gesundheitsabteilung der SMAD hervor, müsse „von der Abhängigkeit durch das privatkapitalistische System im Gesundheitswesen befreit werden, dessen und anderen Vertreter freipraktizierende Ärzte, Besitzer von Krankenhäusern .
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medizinischen Anstalten sind"134. Ähnlich wie in den Kassenambulatorien der Weimarer Republik sollten daher in staatlichen Gesundheitszentren angestellte Mediziner an die Stelle der freiberuflich praktizierenden Ärzte treten. Seit dem Herbst 1947 flössen erhebliche Investitionsmittel in die Neuerrichtung von Polikliniken und Ambulatorien, deren Zahl sich bis 1952 auf rund 900 vermehrte135. Um sie zum Übertritt in diese Einrichtungen zu bewegen, übte die Medizinalverwaltung durch die selektive Zuteilung von medizinischen Verbrauchsgütern und steuerrechtliche Maßnahmen erheblichen Druck auf die niedergelassenen Ärzte aus. Außerdem verhinderte eine restriktive Zulassungsordnung neue Niederlassungen freiberuflicher Mediziner136. Deren Standesorganisationen, die als Vertreter ärztlicher Sonderinteressen nicht länger erwünscht waren, hatte die SMAD bereits im Sommer 1945 verboten. Ihre professionspolitischen Regulierungskompetenzen gingen auf die staatliche Medizinalverwaltung über; die Honorarverteilung wurde dem FDGB zugeschlagen, in dessen Reihen sich mit den ehemaligen Kassenvorständen die Gegner von einst befanden, so daß es kaum überraschen kann, daß die meisten Ärzte ihre wirtschaftlichen Interessen hier nur unzureichend vertreten sahen137. Von der Gründung der DDR bis zu ihrem Ende hat sich die Anzahl der staatlichen Polikliniken mehr als verdreifacht. Der Anteil der niedergelassenen Ärzte ging dagegen von über 50 Prozent auf weniger als zwei Prozent zurück, wobei der Mauerbau den entscheidenden Wendepunkt dieser Entwicklung markiert138. Kann man für die Zeit bis 1960 noch von einem Mischungsverhältnis selbständiger und staatlich alimentierter Mediziner sprechen, so entwickelten sich freiberufliche Ärzte nach 1961 zu einer Randerscheinung des DDR-Gesundheitswesens. Der Umbau der ambulanten medizinischen Versorgung war Teil einer Poli134
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aus der Eröffnungsansprache Oberst Sokolows anläßlich einer Arbeitsbesprechung zwischen leitenden Mitarbeitern der DZG, den Leitern der Landesgesundheitsämter und Angehörigen der Gesundheitsabteilung der SMAD am 9. 3. 1948; BAB, DQ 1/1554, Bl. 86. Tab. 5. Anordnung der Deutschen Wirtschaftskommission über die Niederlassung der Arzte vom 23. 2. 1949, zit. nach Rühle, Arzt, S. 108-114. Vgl. Ernst, Profession, S. 33-36. Zur Entwicklung der Polikliniken und Ambulatorien vgl. Tab. 5; zum Anteil der niedergelassenen Ärzte an der Gesamtzahl der Ärzte: Ernst, Prophylaxe, Tab. 2.4.
Auszug
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tik, die mit der Neuordnung der Eigentumsverhältnisse die Verfügungsgewalt
über die gesellschaftlichen Schlüsselsektoren zu erlangen suchte139. Für das Gesundheitswesen lassen sich dabei mehrere Zielebenen unterscheiden: unmittelbar die Definitionsgewalt über die Scheidelinie zwischen „krank" und „gesund" aus der professionellen Autonomie herauszulösen, mittelfristig das Gesundheitswesen zu verstaatlichen und strategisch die akademischen Berufe zu entbürgerlichen. Daß das verstaatlichte System der ambulanten Krankenbetreuung erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre als Regelversorgung durchgesetzt werden konnte, hängt vor allem mit der gesamtdeutschen Verflechtung des medizinischen Arbeitsmarktes zusammen. Deutsch-deutsche Berufungsverfahren waren für den Bereich der Medizin bis zur Mitte der fünfziger Jahre nicht selten140. DDR-Mediziner informierten sich weiterhin in den zumeist im Westen erscheinenden Fachzeitschriften, waren Mitglied in den traditionellen medizinischen Fachvereinigungen, die ihren Sitz in der Bundesrepublik hatten, und versuchten, an Kongressen teilzunehmen, die ihre Kollegen in Westdeutschland veranstalteten141. Vor allem aber stellte der ärztliche Arbeitsmarkt der Bundesrepublik trotz seiner Überfüllung eine attraktive Alternative für Mediziner aus der SBZ/DDR dar. Die von den Ärzten überproportional genutzte Möglichkeit der Westmigration und der daraus folgende Ärztemangel bildeten bis zum Bau der Berliner Mauer eine wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Bestimmungsgröße der DDR-Gesundheitspolitik142. Da die SED, anders als beim Schnellkursverfahren im Schulund Justizwesen, abgewanderte Ärzte nicht durch eilig ausgebildete systemloyale Gegeneliten ersetzen konnte, war sie mittelfristig auf die Kooperationsbereitschaft der medizinischen Funktionseliten angewiesen. Dies aber begrenzte den Handlungsspielraum der DDR-Regierung erheblich und nötigte ihr immer wieder materielle und symbolische Zugeständnisse ab, so daß Ärzte sowohl im Vergleich zu anderen akademisch gebildeten Berufsgruppen in der DDR als auch im Vergleich mit ihren Berufskollegen in den Ostblockstaaten eine privilegierte Position einnahmen143. Summa summarum konnte die zwischen Lockung und Die SM AD betonte den engen Zusammenhang zwischen der „Demokratisierung des Gesundheitswelche in der Sowjetzone durchwesens" und der „allgemeinen demokratischen Reorganisation geführt worden ist, wie z.B.: die Liquidierung der großen Monopolunternehmungen, die Verstaatlichung von Fabriken und Werken, die den Kriegsverbrechern und höheren Faschisten gehörten und ihre Überführung in den Besitz des Volkes, die Bodenreform, die Schulreform, die Demokratisierung des Apparats der staatlichen Verwaltung usw."; Eröffnungsansprache Oberst Sokolows anlaßlich einer Arbeitsbesprechung zwischen Mitarbeitern der DZG, den Leitern der Landesgesundheitsämter und Angehörigen der Gesundheitsabteilung der SMAD am 9. 3. 1948; BAB, DQ 1/1554, Bl. 86. Ernst, Prophylaxe, S. 368-373. Aktenvermerk der Abt. Gesundheitswesen beim ZK der SED [1957]; SAPMO-BA, DY 30/IV 2/ 19/58. Obwohl die DDR erheblich über den alterungsbedingten Bedarf hinaus Ärzte ausbildete, erreichte die Ärztedichte dort erst in den siebziger Jahren das Niveau der Bundesrepublik. Zur Entwicklung der ärztlichen Versorgung vgl. Tab. 4. 1956 erzielten die selbständig mit der Sozialversicherung abrechnenden Ärzte ein durchschnittliches Jahreseinkommen von rd. 33 000 M, staatlich besoldete Mediziner im Schnitt wenigstens ein Drittel weniger (18-24 000 M). Rund ein Fünftel der angestellten Ärzte wurde allerdings aufgrund .
.
.
Gesundheitspolitik
89
Bedrängung oszillierende „Intelligenzpolitik" der SED unter den Ärzten nur wenig Bindungskraft entfalten. Nach dem Erlaß des Paßgesetzes im Herbst 1957 kam es zu einer regelrechten Fluchtwelle, in deren Verlauf rund 1500 Ärzte der DDR den Rücken kehrten. Insgesamt verließen in den Jahren 1946-1961 rund 7500 Mediziner, darunter überdurchschnittlich viele jüngere Ärzte, die DDR144. Das entsprach mehr als der Hälfte des Gesamtbestandes im Jahr 1960. Der Westwanderung vieler Ärzte liegt ein komplexes Geflecht von Motiven zugrunde. Der entscheidende Beweggrund dürfte in der Unvereinbarkeit des staatlich gelenkten DDR-Gesundheitswesens mit einem immer noch stark ausge-
prägten berufsständischen Sonderbewußtsein
zu suchen sein. Ein Großteil der den überkommenen bürgerlichen Lebensformen fest145. Hierzu gehörte ein ausgeprägtes materielles Statusbewußtsein, vor allem aber der „Wunsch nach selbstverantwortlicher Tätigkeit"146 in freier Niederlassung. Als Angehörige einer Gruppe, die sich über Werte wie Selbstverantwortung und Unabhängigkeit definierte, blieben Ärzte ein Fremdkörper in der sozialistischen Gesellschaft. Nur sieben Prozent der in der DDR ansässigen Mediziner wurden Mitglied der SED, während beinahe die Hälfte aller deutschen Ärzte (ca. 45 Prozent) der NSDAP beigetreten war Zieht man am Ende der sechziger Jahre Bilanz, so wird deutlich, daß westdeutsche Ärzte im Gegensatz zu ihren ostdeutschen Kollegen vielfach standespolitische Maximalpositionen realisieren konnten. Dies gilt vor allem für die in freier Niederlassung tätigen Ärzte, deren Stellung als organisatorisches Leitbild der ambulanten Gesundheitsversorgung wiederhergestellt wurde148. Auch die starke
Ärzte hielt distinktiv
an
.
eines men,
Einzelvertrages besoldet, der nicht nur ein erheblich über dem Tarifgehalt liegendes Einkomsondern v. a. zahlreiche Privilegien (etwa einen Studienplatz nach Wahl für die Kinder) ga-
rantierte. Nach dem Mauerbau schliffen sich die Einkommensdifferenzen zwischen Ärzten und anderen Berufsgruppen wieder ab, da die außertariflichen Verdienstmöglichkeiten abgebaut und die Grundgehälter bis zur Mitte der siebziger Jahre nicht mehr erhöht wurden; Stellungnahme [der Abt. Gesundheitspolitik] zu den Einkommensverhältnissen der Ärzte unter gleichzeitiger Auswertung der von Stefan Hayn übersandten Materialien, Juni 1956; SAPMO-BA, DY 30/IV 21 19/58; Abt. Gesundheitspolitik, Informationen zu politisch-ideologischen Problemen im Gesundheitswesen, 27. 7. 1977, S. 10; SAPMO-BA, vorl. SED/21929. Zur quantitativen Dimension der Abwanderung aus der SBZ/DDR vgl. Ernst, Prophylaxe, Tab. 2.6. In diesem Sinne monierte z. B. der Leiter der Gesundheitsabteilung beim ZK der SED, daß ein großer Teil der Ärzte „noch in einer Ideologie befangen [sei], die die Ärzteschaft als einen besonderen Stand innerhalb der Gesellschaft ansieht. Mit der Standesideologie ist eng verbunden ein Festhalten an bürgerlichen Traditionen, an Privilegien, die der Arzt in der kapitalistischen Gesellschaft hatte, und die Vorstellung von einer besonderen gesellschaftlichen Stellung des Arztes, .
.
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Schätzung von Titeln, eigene Berufsordnung und spezielle Standesgerichtsbarkeit"; Weber, unter der medizinischen Intelligenz, 21. 6. 1958, S. 1 f.; SAPMO-BA, DY 30/IV, 2/19/ 55. Zu den spezifischen Wertorientierungen des Bürgertums vgl. Lepsius, Soziologie, S. 96. Weber, Vorlage für das Sekretariat des Zentralkomitees der SED, betr. Durchführung einer Aussprache mit Angehörigen der medizinischen Intelligenz, 10. 11. 1956, S. 4; SAPMO-BA, DY 30/ z.
B.:
Die
Lage
IV 2/19/58.
Weber, Die Lage unter der medizinischen Intelligenz, 21. 6. 1958, S. 2; SAPMO-BA, DY 30/IV 21 19/55 (die Prozentangabe bezieht sich auf das Jahr 1957); Kater, Doctors, S. 248. Dies wird z. B. in den parlamentarischen Beratungen des Gesetzes zur Neuordnung des Kassenarztrechtes (GKAR) deutlich, in denen sich die Abgeordneten parteiübergreifend zum „freie[n]
90
Winfried Süß
Position intermediärer Instanzen in der gesundheitspolitischen Institutionenordnung steht im Kontrast zu den hierarchisch regulierten Gesundheitssystemen der deutschen Diktaturen. In der Bundesrepublik werden wesentliche Teile der ambulanten Versorgung gemeinsam von Leistungsanbietern und Kostenträgern gesteuert. Neben Formen professioneller Selbstregulierung (z. B. bei der Honorarverteilung) herrschen vielstufig differenzierte Verhandlungssysteme zwischen verbandsförmig organisierten Interessengruppen vor. Seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre bildete sich auf der Basis dieses korporativen Regulierungsmodells ein ambulantes Versorgungssystem heraus, das über ein hohes Maß an Eigenständigkeit gegenüber staatlichen Interventionen verfügte149. Die Machtressourcen innerhalb dieses Systems waren jedoch höchst ungleich zugunsten der Arzte verteilt, so daß dem staatsorientierten Gesundheitswesen der DDR das professionsorientierte Gesundheitswesen der alten Bundesrepublik gegenüberstand. Aufgrund der markanten Kontrastbezüge mutet der Versuch, die Ausbildung zweier distinkter gesundheitspolitischer Ordnungen aus dem gegenseitigen Abgrenzungsbedürfnis der deutschen Nachkriegsgesellschaften zu erklären, auf den ersten Blick plausibel an150. Empirisch läßt sich diese These jedoch nicht hinreichend bekräftigen. In der DDR gewannen derartige Konturierungsbedürfnisse erst nach der Staatsgründung an Bedeutung. Zu diesem Zeitpunkt waren wesentliche Elemente ihrer gesundheitspolitischen Ordnung, z. B. die Einheitssozialversicherung, bereits entstanden, oder, wie das poliklinische Versorgungsmodell und das Betriebsarztsystem, im Entstehen begriffen. Auch für die Bundesrepublik scheint ein Erklärungsmodell, das aus der Binnenperspektive argumentiert, besser geeignet151. Der Machtzugewinn der organisierten Ärzteinteressen in der Bonner Republik läßt sich als zweidimensionaler Prozeß beschreiben, der zum einen durch die Freisetzung ärztlicher Handlungsautonomie vorangetrieben wurde, die eine Folge schrittweise gelockerter institutioneller Sicherungsmechanismen gegen die Verfolgung von Professionsegoismen war, zum anderen dadurch, daß es den ärztlichen Berufsverbänden zunehmend gelang, ihre und
unabhängige[n] Arzt"
als einem der
,,wichtige[n] Elemente unserer freiheitlichen Lebensord-
nung" bekannten; Siegfried Barsch (SPD), Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 82. Sitzung, 25. 5. 1955, S. 4521. Die Verabschiedung des GKAR erfolgte gegen wenige Gegenstimmen und einige Enthaltungen; ebenda, S. 4522. Vgl. Alber, Gesundheitswesen, S. 89-109 und S. 157-175 mit Hinweisen auf die Entwicklung seit der Mitte der siebziger Jahre. So Manow, Entwicklungslinien, S. 102 f. Eine Analyse der parlamentarischen Debatte um das wichtige Gesetz über das Kassenarztrecht macht z. B. deutlich, daß nicht das Gesundheitswesen der DDR, sondern die Entwicklungen des ersten Jahrhundertdrittels den Bezugsrahmen des Gesetzgebungsprozesses bildeten. So stellte die Konstruktion der Schlichtungsinstanzen sowohl eine Reaktion auf die Ärztestreiks der Jahre 1913/23 als auch auf die Überlastung staatlicher Institutionen durch deren Involvierung in gesellschaftliche Verteilungskonflikte im Rahmen der Tarifauseinandersetzungen während der Weimarer Republik dar; vgl. z. B. den Redebeitrag des Bundesarbeitsministers Storch, Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 82. Sitzung, 25. 5. 1955, S. 4503.
91
Gesundheitspolitik
Vetopositionen gegenüber chern152.
Interventionen
professionsfremder
Akteure abzusi-
Beginn dieser Entwicklung stand als Endglied einer Kette dilatorischer Rekonstruktionsgesetze, die die nationalsozialistisch verformte Sozialversicherung an die Nachkriegsverhältnisse der Bundesrepublik anpaßten, das Gesetz über Kassenarztrecht vom August 1955153. Es beendete eine Dekade der Unsicherheit über die Stellung der ärztlichen Berufe in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die von den Alliierten mit der Auflösung der nationalsozialistischen Standesorganisationen eingeleitet worden war und während der Diskussion um die Vereinheitlichung der Sozialversicherung am Ende der vierziger Jahre ihren Höhepunkt erreicht hatte. Indem es die Kassenärztliche Bundesvereinigung als öffentlich-rechtliche Zwangsorganisation der niedergelassenen Ärzte neu errichtete und wiederum mit dem Monopol auf den Abschluß kollektiver Vergütungsverträge und dem Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung ausstattete, knüpfte das GKAR in wesentlichen Punkten an die Politik der Regierung Brünings an. Die Überführung ihrer praktisch kaum erprobten Am
Strukturreformen aus einem autoritären in einen demokratischen Kontext geschah vor allem mit der Absicht, die Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen dauerhaft zu befrieden. Dabei nahm der Bundestag drei Änderungen vor, über deren Wirkungen bei den Verantwortlichen nur unklare Vorstellungen bestanden154, die aber das fragile strategische Machtgleichgewicht zwischen Ärzten und Krankenkassen in entscheidenden Punkten veränderten. Indem es die Neuerrichtung von Eigenbetrieben der Krankenversicherung künftig vom Einverständnis der ärztlichen Verbandsvertreter abhängig machte, führte das GKAR die 1933 gewaltsam unterbrochene Tradition medizinischer Leistungserbringung durch Einrichtungen der Krankenkassen definitiv ihrem Ende entgegen. Ferner wurde mit der Möglichkeit, ärztliche Leistungen statt wie bisher pauschal per Einzelleistung zu vergüten, ein Leck in die bestehenden Sicherungen gegen eine Ausdehnung der Honorarsumme geschlagen. Schließlich stärkte das GKAR Instrumente der Konsensbildung unter den Vertragsparteien und beschränkte zugleich die vor 1945 bestehenden Eingriffsmöglichkeiten der politisch-administrativen Institutionen auf die Verhandlungen von Ärzteverbänden -
-
Vetopositionen handelt es sich v. a. um das ambulante Behandlungsmonopol, die Niederlassungsfreiheit, die ärztliche Therapiefreiheit, die freie Arztwahl und das System der Einzelleistungsvergütung; Rosenbrock, Gesundheitspolitik, S. 50 f. BGBl. I, S. 513-523; die entscheidenden Änderungen im zweiten Buch der RVO (§§ 368 u. 369) Bei den
werden im Art. 1 des Gesetzes formuliert. So bezeichnete der sozialpolitische Sprecher der SPD, Ludwig Preller, die Einführung der Einzelleistungsvergütung namens seiner Fraktion als „Experiment", dessen Auswirkungen man abwarten müsse; Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 82. Sitzung, 25. 5. 1955, S. 4514. In diesem Sinne auch Döhler/Manow, Formierung, S. 46, die auf das in den fünfziger Jahren nur „schwach entwickelte Verständnis von den Wirkungsmechanismen und Funktionszusammenhängen in der GKV" hingewiesen haben. Eine überarbeitete Fassung ihres Beitrags ist unter dem Titel: Strukturbildung von Politikfeldern. Das Beispiel bundesdeutscher Gesundheitspolitik seit den fünfziger Jahren, Opladen 1997, erschienen.
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und Krankenkassen155. Die Konkretisierung der Beziehung zwischen beiden Parteien sollte nach dem Willen des Gesetzgebers künftig „im Grunde gleichberechtigten"156 und formal gleichstarken Vertragspartnern überlassen bleiben, die bei der Aushandlung ihrer Interessen auch Gemeinwohlaspekte im Auge behalten sollten. Gemeinwohlaspekte, zum Beispiel die Frage der Wirtschaftlichkeit der Krankenbehandlung, waren in den Honorarverhandlungen jedoch kontinuierlich unterrepräsentiert, zumal sich bald zeigte, daß die Machtverhältnisse dieser Verhandlungssysteme asymmetrisch konstruiert waren, da dem Anbieterkartell der ärztlichen Verbandsvertreter fragmentierte, aufgrund ihrer teilidentischen Interessenlagen nur bedingt koordinierbare Kassenvertreter gegenüberstanden. So konnten Ärzte im Verlauf der sechziger Jahre sukzessive den Ubergang von der Pauschal- zur Einzelleistungsvergütung durchsetzen, die die Übersetzung privatwirtschaftlicher Rationalitätskriterien in medizinisches Handeln entscheidend begünstigte. Diese Entwicklung wurde durch die wachsenden sozialpolitischen Verteilungsspielräume zusätzlich gefördert. Bis zur Mitte der siebziger Jahre war die von den Ärzten verursachte Leistungsexpansion im Gesundheitswesen in ein Klima staatlich initiierter Leistungsvermehrung eingebunden, in dem gesundheitspolitische Probleme vor allem als Probleme der Unterversorgung diskutiert wurden. Zudem koppelte der beitragsgestützte Finanzierungsmodus der GKV das Gesundheitsbudget an die prosperierende Wirtschaftsentwicklung, so daß die finanziellen Folgen der Leistungsvermehrung gegenüber dem Ziel verbesserter medizinischer Versorgung zunächst als nachrangig erschienen. Die 1960 vor dem Bundesverfassungsgericht erstrittene Freigabe der ärztlichen Niederlassung beseitigte das Mitspracherecht der Krankenkassen bei der Steuerung des ambulanten Versorgungsangebots und damit einen weiteren Sicherungsanker gegen die unkontrollierte Vermehrung medizinischer Dienstleistungen. Letztendlich bewirkte das Zusammenspiel von Gesetzgebung, Verhandlungsmacht und Verfassungsinterpretation eine weitgehende Freisetzung ärztlicher Handlungsautonomie im wirtschaftlichen Bereich, die eine Wachstumsdynamik der Gesundheitsausgaben in Gang setzte, deren Nebenwirkungen bis heute als Begriffspaar Kostenexplosion/Kostendämpfung den gesundheitspolitischen Problemhorizont bestimmen157. Für die Befestigung der ärztlichen Vetopositionen ist das gescheiterte Krankenversicherungsneuordnungsgesetz von 1958/60, das u. a. auf eine stärkere Zu den konsensfördernden Institutionen zählen in erster Linie die paritätisch besetzten Zulassungs- und Vertragsausschüsse. Zwar waren weiterhin bindende Schlichtungsverfahren zwischen beiden Parteien vorgesehen, deren Durchführung oblag jedoch Gremien der Selbstverwaltung. Die im Konfliktfall stimmentscheidenden Vorsitzenden der Schiedsämter wurden nicht wie bisher durch die Aufsichtsbehörden der Sozialversicherung, sondern per Los aus einer Vorschlagsliste der Verhandlungspartner bestimmt (RVO, § 368i). Gleichzeitig beseitigte die Neufassung des § 368h RVO die Möglichkeit eines vertragslosen Zustands und damit die Streikoption der Ärzte. So Ludwig Preller in der Berichterstattung zum Antrag der Regierungsfraktionen; Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 82. Sitzung, 25. 5. 1955, S. 4497. Zum Problem der anbieterinduzierten Leistungsexpansion vgl. Alber, Gesundheitswesen, S. 89-91.
Gesundheitspolitik
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Reglementierung der Beziehungen von Ärzten und Krankenkassen abgezielt hatte, von herausragender Bedeutung. Obwohl das Gesetzgebungsvorhaben weniger aufgrund ärztlicher Interventionen scheiterte als vielmehr an Problemen der parteiinternen Kompromißbildung innerhalb der Unionsfraktion, entstand als Folge der Koinzidenz einer aggressiven ärztlichen Polemik gegen das Gesetz mit seinem parlamentarischen Scheitern der ebenso nachhaltige wie zunächst unzutreffende Eindruck ärztlicher Verbandsmacht. Hierauf reagierten die politischen Akteure antizipatorisch, indem sie die ärztlichen Interessenvertreter künftig frühzeitig in gesundheitspolitische Reformvorhaben einbanden und potentiell konfliktträchtige Bereiche von vorneherein aussparten158. Seitdem Ärzteverbände bereits bei der Formulierung politischer Ziele darüber mitentstaatliche
schieden, was Inhalt der Politik sein sollte (und was nicht), waren der autonomen
Definition gesundheitspolitischer Ziele durch das politisch-administrative System enge Grenzen gesetzt159. Gerade die von schrumpfenden sozialpolitischen Verteilungsspielräumen geprägte Gesundheitspolitik der siebziger und achtziger Jahre, stand, trotz teilweiser Kostendämpfungserfolge, im Zeichen solcher Reformblockaden. Im Prozeß der deutschen Einigung dominierte das Leitbild des in freier Niederlassung tätigen Kassenarztes erneut über das poliklinische Versorgungsmodell, ohne daß dessen Integration in das ambulante System der Bundesrepublik ernsthaft geprüft worden wäre. Die „nahezu vollständige west-östliche Institutionenübertragung"160 wurde durch Randbedingungen begünstigt, die aus den Besonderheiten des Einigungsprozesses resultierten (etwa der Bevorzugung von Komplettlösungen als Folge des außerordentlich kurzen Verhandlungszeitraums). Vor diesem Hintergrund kamen interessengeleitete Argumente der Kassenärztlichen Vereinigungen, die um ihr Sicherstellungsmonopol fürchteten und in der Pluralisierung der ambulanten Versorgungsstrukturen ein Einfallstor für weitreichendere Reformansätze im Gesundheitswesen vermuteten, gegenüber den Kräften zur Geltung, die auf eine Integration der ostdeutschen Strukturen in das Gesundheitssystem der Bundesrepublik drängten (insbesondere die Regierung de Maiziere)161. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, daß der einigungsbedingte Kostendruck auf die Sozialversicherung letztlich dazu beitrug, das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) des Jahres 1992 auf den Weg zu bringen, mit dem einige der entscheidenden gesundheitspolitischen Entwicklungsfehler der Nachkriegszeit korrigiert und so ein beinahe achtzig Jahre währender Trend wachsender ärztlicher Verbandsmacht umgebogen wurde162. I5S
Meine 39.
159 160 161 162
Darstellung folgt
hier Döhler/Manow,
Vgl. Murswieck, Steuerung, S. 173. Manow, Entwicklungslinien, S. 121.
Formierung,
insbes. S. 13-15, S. 20-29 und S. 37-
Offe, Kosten, insbes. S. 68-72 und S. 80; Manow, Entwicklungslinien, S. 118-123. Das GSG unterwarf die wichtigsten Ausgabenposten der GKV (u. a. die Arzneimittelausgaben und die kassenärztliche Honorarsumme) einer strikten Budgetierung und stärkte die Kassen-
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Zusammenfassung Spitzt man die Unterschiede zwischen den drei Gesundheitssystemen typisierend zu, so ist für die Bundesrepublik besonders die Autonomie des Gesundheitswesens gegenüber externen Zielvorgaben und der vergleichsweise große Einfluß ärztlicher Interessenvertreter auf die Gesundheitspolitik charakteristisch, während die Gesundheitssysteme der beiden Diktaturen gerade durch die Unterordnung des medizinischen unter das politische System gekennzeichnet waren. Im Dreiervergleich verweist besonders der Fokus Arbeitsorientierung auf diesen grundlegenden Unterschied. Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik ist funktional differenziert, d. h. auf die Bewältigung gesundheitsbezogener Probleme im engeren Sinn beschränkt und mit eigenen Entscheidungsstrukturen ausgestattet. So konnte es gegenüber dem Einfluß nicht gesundheitsbezogener Rationalitätskriterien eine vergleichsweise große Selbständigkeit bewahren. Die Gesundheitssysteme der DDR und des „Dritten Reiches" lassen sich dagegen als funktionell entdifferenzierte, d. h. in hohem Ausmaß durch nicht gesundheitsbezogene Zielvorgaben überladene Systeme beschreiben, deren Entscheidungsstrukturen mit denen des politischen Systems fusioniert waren. Jede dieser Möglichkeiten zog charakteristische Folgeprobleme nach sich. Die Gesundheitssysteme der beiden Diktaturen tendierten dazu, externe Funktionsvorgaben zu Lasten ihrer spezifischen Systemaufgaben zu erfüllen. Im Falle der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik reichte dies bis zur Verkehrung der ursprünglichen Funktionsanforderungen in ihr Gegenteil: an die Stelle der Lebenserhaltung konnte die Lebensvernichtung mit Hilfe des Gesundheitswesens treten. Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik neigt hingegen dazu, seine eigene Funktion zu verabsolutieren und anderen Gesellschaftssektoren die eigenen Rationalitätskriterien aufzuzwingen163. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen läßt sich zum Teil auf diese Weise erklären. Moderne, funktional differenzierte Gesellschaften benötigen Institutionen, die die konfligierenden Zielsetzungen einzelner Teilsysteme untereinander und mit den Interessen der Gesamtgesellschaft vermitteln. Die Konstruktion solcher Institutionen gelang im Gesundheitssystem der
der Anbieterseite, indem es deren fragmentierte Risiko-, Interessen- und Verbandshomogenisierte, die Kompetenz gemeinsamer Schiedsinstanzen ausbaute und korporativ-kollektivvertragliche Regulterungsmodelle auch außerhalb des ambulanten Sektors installierte. Zudem griff die Bundesregierung durch die Beschränkung der freien Niederlassung in ein (aus der Sicht der Ärzteverbände) konstitutives Element des ambulanten Versorgungssystems ein. Stärker noch als die Inhalte des GSG weist dessen Entstehungsprozeß auf die abnehmende Bedeutung ärztlicher Partikularinteressen hin. An die Stelle der frühzeitigen Einbeziehung der Ärzteverbände in die legislativen Vorberatungen der Ministerialebene trat die Entscheidungsbildung in den Koalitionsfraktionen unter weitgehendem Ausschluß der ärztlichen Standesorganisationen; Döhler/Manow, Formierung, S. 19 und S. 65 f.; zur Bewertung vgl. Ritter, Probleme, S. 402. Vgl. Luhmann, Anspruchsinflation, S. 29f., der jedoch die Chancen institutioneller Steuerbarkeit des Gesundheitssystems wohl zu gering einschätzt; dazu die Kritik bei Alber, Steuerung.
gegenüber
strukturen
95
Gesundheitspolitik
Bundesrepublik jedoch weniger, als dies m anderen Bereichen ihrer Institutionenordnung der Fall war. Das große Ausmaß gewollter Ungleichheit in der medizinischen Versorgung, das in enger Verbindung mit der gesellschaftssanitären Konzeption der Gesundheitspolitik stand, bildet eine Besonderheit der NS-Diktatur. Ihr stehen die Gesundheitssysteme der deutschen Nachkriegsstaaten gegenüber, die beide mit unterschiedlichen Schwerpunkten an den Rändern des Altersspektrums die Universalisierung des Zugangs zur medizinischen Versorgung betrieben haben. Neben der weitgehenden Verstaatlichung der medizinischen Infrastruktur ist für die DDR ein ebenso vormundschaftlicher wie fürsorglicher Stil der Gesundheitspolitik kennzeichnend, der sowohl im Gegensatz zum repressiven Interventionismus der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik steht als auch im Kontrast zum Gesundheitssystem der Bundesrepublik, das die Selbstverantwortung der Patienten für ihre Gesundheit stärker in den Vordergrund stellt. -
-
Über diese charakteristischen Merkmalskombinationen hinaus macht der Vergleich eine Reihe von Ähnlichkeiten deutlich, die z. B. zwischen dem „Dritten
Reich" und der DDR in bezug auf die Arbeitszentrierung der Gesundheitspolitik bestehen. Dort, wo Analogien zwischen den Gesundheitssystemen sichtbar werden, beruhen diese zum Teil auf ähnlichen Leitbildern, z. B. einem beiden Diktaturen inhärenten illiberalen Gesundheitsbegriff, der nicht vom Interesse des einzelnen Kranken, sondern vom staatlich formulierten Interesse der Gesamtgesellschaft her gedacht wurde. Zum anderen Teil waren diese funktionellen und die davon abgeleiteten instrumentellen Analogien gemeinsamen Problemlagen geschuldet, etwa dem für Weltanschauungsdiktaturen charakteristischen Mißverhältnis von benötigter und verfügbarer Arbeitskraft, das entscheidend zur Überlagerung gesundheitsbezogener Funktionszuweisungen durch Zielvorgaben der staatlich penetrierten Ökonomien beitrug. Der Fokus Arbeitsorientierung läßt nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Diktaturen hervortreten: Während das nationalsozialistische Deutschland seine Gesundheitspolitik in mehreren Schüben radikalisierte, schwächte die DDR deren repressive Elemente zunehmend ab, bis schließlich Angehörige der Betriebsbrigaden ihren „Krankenkassen-Urlaub"164 unter den Augen derjenigen Betriebsärzte antreten konnten, die gerade zur Verhinderung eines solchen Verhaltens angestellt worden waren. Spätestens seit den siebziger Jahren markiert die Betriebsebene auch im Gesundheitswesen eine der „Grenzen der Diktatur"165, die vom SED-Staat nur zögernd überschritten wurde. Für dessen Führung hatte die Pazifizierung des Gesundheitswesens indes zweischneidige Folgen: Einerseits fügte sich diese Entwicklung in eine Phase der sozialpolitischen Befriedung ein, die mit dem Übergang von Ulbricht zu Honecker einsetzte Der Begriff nach Günter Thude, dem ehemaligen Direktor der Hauptverwaltung der DDR-Sozialversicherung; Spree, Sozialstaat, S. 26. So der Titel des Sammelbandes von Besscl/Jcssen.
96
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und es vielen DDR-Bürgern erleichterte, sich innerhalb der durch den Mauerbau fixierten Zustände einzurichten. Anders als im funktional differenzierten Gesundheitswesen der Bundesrepublik, wo Defizite zuerst auf dessen Akteure (insbesondere die Ärzte) zurückfielen, wirkte das Erscheinungsbild des verstaatlichten DDR-Gesundheitswesens unmittelbar auf die Legitimation der politischökonomischen Ordnung. Und je mehr die Funktion der Systemlegitimation gegenüber dem Ziel der Arbeitskräftemobilisierung an Bedeutung gewann und das Gesundheitswesen sich vom Herrschaftsinstrument in einen Teil der „sozialistischen Errungenschaften"166 verwandelte, desto stärker fielen auch seine Defizite auf die DDR als Ganzes zurück. Insofern geriet deren Gesundheitswesen seit den siebziger Jahren zunehmend in eine Legitimitätsfalle, denn seine Legitimationsbedeutung nahm just in dem Moment zu, als seine Mängel in wachsendem Umfang zutage traten. Trotz der Einbindung in unterschiedliche politische Ordnungen löste sich keines der hier untersuchten Gesundheitssysteme vollständig aus seinen Traditionszusammenhängen. Die Gesundheitspolitik aller drei Nachfolgestaaten der Weimarer Republik blieb in vielfältiger Weise auf Strukturen und Programme bezogen, die dort bereits erprobt, zumindest aber theoretisch erörtert worden waren. Am entschiedensten knüpfte die Bundesrepublik an diese Traditionslinien an. Das gilt für die Reföderalisierung der Gesundheitspolitik, ebenso für den Trend zur Korporatisierung bei gleichzeitiger Stärkung der ärztlichen Verbandsmacht. Im „Dritten Reich" stand institutionellen Kontinuitäten ein radikaler Austausch der Ordnungsideen gegenüber, der gesundheitspolitische Instrumente mit einem neuen Wirkungskontext versah. In der DDR war das Ausmaß institutioneller Veränderungen am größten. Vieles, was auf den ersten Blick als Neuerung erscheint, griff jedoch auf ältere Vorbilder zurück. So standen die Polikliniken in der Tradition der Behandlungszentren, die von den Ortskrankenkassen mehrerer sozialdemokratisch regierter Großstädte in den zwanziger Jahren errichtet worden waren. Auch der paternalistische Grundton der DDR-Gesundheitspolitik knüpfte an ein älteres Leitmotiv deutscher Sozialpolitik an. Ob die in Ost und West gleichermaßen vorgetragene These der „Sowjetisierung"167 den Umbau des DDR-Gesundheitswesens angemessen beschreibt, ist daher zweifelhaft. Da viele Veränderungen auf bislang in Deutschland nicht dominante, sondern gewissermaßen auf alternative Traditionslinien zurückgriffen, die zudem ihrerseits das Gesundheitssystem der UdSSR beeinflußt hatten, lassen sich die von der SMAD 166
Vgl. etwa: Entwicklung des Gesundheits- und Sozialwesens seit dem VIII. Parteitag und Grundorientierung für die Jahre 1976 bis 1980 [1975], S. 2; SAPMO-BA, vorl. SED/21929. Die Ausarbeitung der ZK-Abt. Gesundheitspolitik hebt die Bedeutung des Gesundheitswesens als „wesentliche Errungenschaft unserer sozialistischen Ordnung" und Teil der staatlichen Fürsorge für die Bürger
167
Weiß, Gesundheitswesen, Bd. 1, S. 5; ähnl. Pritzel, Gesundheitswesen, S. 9; zum traditionsstiftenden Gebrauch dieses Konzepts seitens der DDR-Medizingeschichte vgl. z. B. die Einführung zu Seidel u. a., Dienst, S. 6f.
der DDR hervor.
Gesundheitspolitik initiierten
Veränderungen
zum
Teil als
„Re-Import"168, überwiegend jedoch
97
als
„selektive Fortführung" deutscher Traditionsstränge charakterisieren.
Läßt man abschließend die ärztlichen Leitbilder Revue passieren, werden nochmals einige der grundlegenden Differenzen deutlich: In der Bundesrepublik dominieren freiberufliche Mediziner einen Gesundheitssektor, der funktional differenziert und durch intermediäre Instanzen gegenüber direkten Zugriffen des politischen Systems abgepuffert ist. Für die DDR stand der staatlich alimentierte Arzt einer Betriebspoliklinik als Vertreter eines arbeitsorientierten, paternalistischen Gesundheitsregimes, das umfassende staatliche Fürsorge an feste Verhaltenserwartungen knüpfte. Der Amtsarzt des nationalsozialistischen Staates repräsentierte ein biologistisch durchsetztes Gesundheitssystem, das durch den signifikanten Bedeutungszuwachs der Medizin gekennzeichnet war, aber auch durch staatlich initiierte Massenverbrechen, an deren Planung und Durchführung Ärzte in vielfältiger Weise beteiligt waren. Jede dieser Optionen bildet einen distinkten, eng mit der jeweiligen Gesellschaftsverfassung verknüpften Entwicklungspfad aus dem spannungsreichen Nebeneinander unterschiedlicher gesundheitspolitischer Ordnungsentwürfe in der Weimarer Republik.
Entwicklungslinien, S. 109; ähnl. auch Light, Introduction, S. 20. Zum Einfluß deutscher Sozialhygieniker auf das Gesundheitswesen der Sowjetunion vgl. Solomon, Limits, S. 413-415. Manow,
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