NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit: Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR 9783666369216, 9783525369210, 9783647369211


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NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit: Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR
 9783666369216, 9783525369210, 9783647369211

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 45

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NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR

Herausgegeben von Jörg Osterloh und Clemens Vollnhals

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 1 Schaubild Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36921-0 ISBN 978-3-647-36921-1 (E-Book) Umschlagabbildung Quelle: SZ-Photo © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Für Miro

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Inhalt

Einleitung Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals

11

NS - Prozesse und Öffentlichkeit. Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen durch die deutsche Justiz in den westlichen Besatzungszonen 1945–1949 Edith Raim

33

Die strafrechtliche Verfolgung von NS - Verbrechen und die Öffentlichkeit in der frühen Bundesrepublik Deutschland 1949–1958 Andreas Eichmüller

53

Der erste Bergen - Belsen - Prozess 1945 und seine Rezeption durch die deutsche Öffentlichkeit John Cramer

75

Abseits der Vergangenheit. Das Interesse der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit am Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 Heike Krösche

93

„Diese Angeklagten sind die Hauptkriegsverbrecher.“ Die KPD / SED und die Nürnberger Industriellen - Prozesse 1947/48 Jörg Osterloh

107

Die Dachauer Prozesse 1945–1948 in der Öffentlichkeit : Prozesskritik, Kampagne, politischer Druck Robert Sigel

131

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ? Zur Verfolgung von NS - Verbrechen durch die sowjetische Sonderjustiz Mike Schmeitzner

149

Der Dresdner Juristenprozess 1947 im Spannungsfeld der politischen und medialen Auseinandersetzung Gerald Hacke

167

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8

Inhalt

„Wir fordern schwerste Bestrafung.“ Der Dresdner „Euthanasie“ - Prozess 1947 und die Öffentlichkeit Boris Böhm / Julius Scharnetzky

189

„Milde gegen die Verbrecher wäre Verbrechen gegen die Opfer.“ Die Hohnstein - Prozesse 1949 Carina Baganz

207

Die Waldheimer Prozesse 1950 in den DDR - Medien Falco Werkentin

221

Der „Ulmer Einsatzgruppen - Prozess“ 1958. Wahrnehmung und Wirkung des ersten großen Holocaust - Prozesses Claudia Fröhlich

233

„Bleiben die Mörder unter uns ?“ Öffentliche Reaktionen auf die Gründung und Tätigkeit der Zentralen Stelle Ludwigsburg Annette Weinke

263

„Eichmann und wir“. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit und der Jerusalemer Eichmann - Prozess 1961 Peter Krause

283

Die ehemaligen NS - Verfolgten – Zeugen, Kläger, Berichterstatter Katharina Stengel

307

„Das ‚einwandfreie‘ Leben des Waffen - SS - Generals Karl Wolff“. Der Münchner Prozess gegen Himmlers Adjutanten 1964 Marcus Riverein

323

Der 1. Frankfurter Auschwitz - Prozess 1963–1965 und die deutsche Öffentlichkeit. Anmerkungen zur Entmythologisierung eines NSG - Verfahrens Werner Renz

349

„Vergangenheitsbewältigung“ in der DDR. Zur Rezeption des Prozesses gegen den KZ - Arzt Dr. Horst Fischer 1966 in Ost - Berlin Christian Dirks

363

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Inhalt

9

„Über Auschwitz aber wächst kein Gras.“ Die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag Clemens Vollnhals

375

Die Rezeption von NS - Prozessen in Österreich durch Medien, Politik und Gesellschaft im ersten Nachkriegsjahrzehnt Claudia Kuretsidis - Haider

403

Anhang

431

Auswahlbibliographie Abkürzungsverzeichnis Personenregister Autorinnen und Autoren

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433 440 443 451

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Einleitung Strafverfahren zur Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen hatten von Anfang an auch zum Ziel, die deutsche – wie die internationale – Öffentlichkeit über den Charakter und die Verbrechen des NS - Regimes unmissverständlich aufzuklären. Bereits der Lüneburger Bergen - Belsen - Prozess ( September bis November 1945) war von der britischen Besatzungsmacht als „Schocktherapie“ ( John Cramer ) gedacht. „Nürnberg“ – gemeint sind das von den USA, der UdSSR, Großbritannien und Frankreich gemeinsam gebildete Internationale Militärtribunal ( IMT ), vor dem sich die deutschen „Hauptkriegsverbrecher“ verantworten mussten, sowie die zwölf von den Amerikanern in alleiniger Regie durchgeführten Nachfolgeprozesse gegen repräsentative Vertreter der Eliten des „Dritten Reiches“ – sollte erklärtermaßen auch ein „Lernprozess“1 sein. Frühe, nach heutigen Maßstäben aber wohl kaum repräsentative Erhebungen zum Nürnberger Militärtribunal zeigen, dass eine Mehrheit der Befragten das Verfahren als „fair, lehrreich und notwendig“ betrachtete und die Strafen als angemessenen bewertete. Rund die Hälfte von ihnen wollte, so die Schlussfolgerung, zumindest einige Verantwortung für die Verbrechen des NS Regimes übernehmen. Nur vier Jahre später, nach Abschluss der amerikanischen Nachfolgeprozesse, hatte sich das Bild aber deutlich gewandelt. Nun erklärte nur noch ein Drittel der Angesprochenen, die Nürnberger Prozesse seien gerecht gewesen. Dies lag wohl daran, dass sich in den Nachfolgeprozessen auch Angehörige der traditionellen deutschen Funktionseliten vor Gericht hatten verantworten müssen, wo deren Komplizenschaft mit dem NS - Regime offen zu Tage trat. Die Prozesse wurden nun zunehmend als „Siegerjustiz“, die Urteile als Kollektivbestrafung betrachtet.2 In Zahlen ausgedrückt bedeutete dies, dass bei Abschluss des IMT im Oktober 1946 lediglich sechs Prozent der Befragten die Urteile als unfair bezeichnet hatten, in einer Erhebung der amerikanischen Militärregierung vier Jahre später waren bereits 30 Prozent dieser Ansicht. Und während 1946 nur neun Prozent die Urteile für zu streng hielten, waren dies 1949 bereits 40 Prozent. Vergleichbare Erhebungen wurden im sowjetischen Besatzungsgebiet nicht durchgeführt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die 1 2

Steffen Radlmaier ( Hg.), Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern, Frankfurt a. M. 2001. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS - Diktatur in Politik und Justiz, München 2007, S. 69 f. Vgl. auch Richard L. Merritt, Digesting the Past. Views of National Socialism in semi - sovereign Germany. In : Societas, 7 (1977), S. 93–119.

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12

Einleitung

Einstellung der ostdeutschen Bevölkerung sich nicht signifikant von der Stimmung in den Westzonen unterschieden hat.3 Diese Einschätzung der NS - Prozesse spiegelt freilich den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland insgesamt wider. Zwischen 1945 und 1948/49 dominierten Säuberungsinitiativen der Besatzungsmächte, die sich in der Praxis jedoch auf kein gemeinsames Vorgehen einigen konnten. In den Westzonen fand eine bürokratische, im sowjetischen Besatzungsgebiet eine instrumentalisierte politische Säuberung statt, die ganz im Dienste der angestrebten sozialistischen Umwälzung von Staat und Gesellschaft stand.4 Das Jahr 1948 markierte in der Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit eine Zäsur, da nun die Blockkonfrontation zunehmend den Diskurs prägte. Mit der Staatsgründung der Bundesrepublik und der DDR endete in West wie Ost die Entnazifizierung. In Bonn, aber auch in Ost - Berlin waren die neuen deutschen Regierungen bemüht, die Masse der Mitläufer und Minderbelasteten sozial und politisch in das jeweilige neue System zu integrieren. Die Maßnahmen ähnelten sich : Während die Provisorische Volkskammer der DDR im November 1949 ein Gesetz verabschiedete, das ehemaligen Mitgliedern und Anhängern der NSDAP wie auch Offizieren der Wehrmacht Straffreiheit und staatsbürgerliche Rechte gewährte, erließ der Bundestag nur einen Monat später ein „Straffreiheitsgesetz“, das zahlreiche kleinere NS - Täter begnadigte. Norbert Frei bilanziert zutreffend : „Das Bedürfnis, die Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit abzuschließen, scheint in den fünfziger Jahren ein Kennzeichen beider deutschen Gesellschaften – und ihrer Politik – gewesen zu sein.“5 In Westdeutschland unterschieden in den 50er Jahren bei einer Erhebung rund die Hälfte der Befragten zwischen dem terroristischen NS - Regime und der an sich „guten nationalsozialistischen Idee“. Die Friedensjahre des „Dritten Reiches“ zwischen 1933 und 1939 galten als die Zeit, in der es Deutschland „am besten gegangen“ sei6 – also jene Jahre, in denen die demokratischen Parteien und die Gewerkschaften zerschlagen, die Konzentrationslager in Deutschland eingerichtet, zahlreiche Gegner des NS - Regimes inhaftiert, viele von ihnen ermordet und insbesondere die systematischen Verfolgungsmaßnahmen und der Terror gegen die Juden immer weiter radikalisiert worden waren. In der Bundesrepublik gab es schließlich ab Ende der 50er Jahre – nicht zuletzt evoziert 3

4 5

6

Jürgen Wilke / Birgit Schenk / Aniba A. Cohen / Tamar Zemach, Holocaust und NS - Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr, Köln 1995, S. 129; Anna Merritt / Richard Merritt ( Hg. ), Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1945–1955, Urbana ( Ill.) 1980, S. 11; Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS - Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, S. 243 ff. Vgl. als Überblick Clemens Vollnhals, Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1991. Norbert Frei, NS - Vergangenheit unter Ulbricht und Adenauer. Gesichtspunkte einer „vergleichenden Bewältigungsforschung“. In : Jürgen Danyel ( Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 125–132, hier 127. Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 69.

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Einleitung

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durch die ständigen Attacken aus der DDR – eine Debatte über die NS - Vergangenheit, die bald auch von den Medien aufgegriffen wurde.7 Aber noch 1963 konstatierte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer eine auffällige „Gleichgültigkeit gegenüber dem Thema ‚Naziverbrecher - Prozesse‘“.8 So ver wundert es nicht, dass Bauer, als er den ersten Auschwitz - Prozess in Frankfurt am Main auf den Weg brachte, erklärte, es sei an der Zeit „Gerichtstag [...] über uns selbst“ zu halten, „über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte“.9 Natürlich war es kritischen Beobachtern seit langem bewusst, dass es erhebliche Defizite in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gab. So erklärte beispielsweise der Frankfurter Oberbürgermeister Willi Brundert ( SPD ) bei der Eröffnung einer den Auschwitz - Prozess begleitenden Ausstellung in Anwesenheit von Holocaust - Überlebenden in der Paulskirche im November 1964, dass nun im Gerichtssaal vieles nachgeholt werden müsse, „was seit 1945 versäumt worden sei“.10 In der Rückschau gelten tatsächlich zwei Prozesse als Wendepunkte in der öffentlichen Debatte in der Bundesrepublik um die NS - Vergangenheit : Der Ulmer Einsatzgruppen - Prozess (1958) und der erste Frankfurter Auschwitz - Prozess (1963–1965). Der Politologe Hans Buchheim, Anfang der 60er Jahre als Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte Gutachter im ersten Frankfurter Auschwitz - Prozess, konstatierte 1999, dass der Ulmer Prozess die Öffentlichkeit mit den weithin unbekannten Massenerschießungen durch die Einsatzkommandos konfrontiert und der Auschwitz - Prozess das „Gesamtgeschehen der ‚Endlösung‘ gerichts - und geschichtsnotorisch“ gemacht habe.11 7 Vgl. Norbert Frei, NS - Vergangenheit, S. 126 ff.; Detlef Siegfried, Zwischen Aufarbeitung und Schlussstrich. Der Umgang mit der NS - Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958–1969. In : Axel Schildt / Detlev Siegfried / Karl - Christian Lammers ( Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Staaten, Hamburg 2000, S. 77–113. Vgl. allg. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS - Vergangenheit, München 1997; zu den Attacken aus der DDR Michael Lemke, Kampagnen gegen Bonn. Die Systemkrise der DDR und die Westpropaganda der SED 1960–1963. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 41 (1993), S. 153–174. Ein Höhepunkt der Angriffe aus der DDR war 1965 die Veröffentlichung des „Braunbuchs“, in dem zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik mit ihrer NS - Vergangenheit konfrontiert wurden. Vgl. Braunbuch. Kriegs - und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin. Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft, Berlin ( Ost ) 1965. 8 Zit. nach Irmtrud Wojak, Der erste Frankfurter Auschwitz - Prozess und die „Bewältigung“ der NS - Vergangenheit. In : dies. ( Hg.), Auschwitz - Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main, Köln 2004, S. 53–70, hier 57. 9 Zit. nach Irmtrud Wojak / Susanne Meinl, Einleitung. In : Irmtrud Wojak ( Hg.), „Gerichtstag halten über uns selbst ...“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz - Prozesses, Frankfurt a. M., 2001, S. 7–19, hier 7. 10 Zit. nach Wojak, Frankfurter Auschwitz - Prozess, S. 58. Zur Ausstellungseröffnung in der Paulskirche vgl. auch Devon O. Pendas, The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965. History, Genocide and the Limits of the Law, Cambridge 2006, S. 182–187; Cornelia Brink, „Auschwitz in der Paulskirche“. Erinnerungspolitik in Fotoausstellungen der sechziger Jahre, Marburg 2000. 11 Zit. nach Wojak, Frankfurter Auschwitz - Prozess, S. 64.

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Einleitung

Das Frankfurter Verfahren hatte den Dramatiker Peter Weiss etwa zu seinem dokumentarischen Theaterstück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ inspiriert. Es wurde im Oktober 1965 an 17 Bühnen gleichzeitig zur Uraufführung gebracht und löste – wie Rolf Hochhuths Werk „Der Stellvertreter“ zwei Jahre zuvor – eine heftige öffentliche Kontroverse aus.12 Mitte der 60er Jahre war die Judenvernichtung als das zentrale Verbrechen des Nationalsozialismus durchaus im öffentlichen Bewusstsein verankert, gleichwohl sprachen sich etwa im Januar 1965 nur 38 Prozent der befragten Westdeutschen für die weitere Strafverfolgung von NS - Tätern aus, während 52 Prozent für einen Schlussstrich plädierten.13 Die Ablehnung weiterer Strafverfolgung bedeutete allerdings nicht zwangsläufig eine Rechtfertigung der Täter, sondern ist vielmehr als Ausdruck sozialpsychologischer Verdrängungs - und Abwehrmechanismen zu verstehen. Klaus Harpprecht beschrieb diese Reaktion 1965 unter Bezug auf den Auschwitz - Prozess : „So tief ist die Betroffenheit, die bohrende Qual, ist das Leiden an dem Entsetzen, das der Prozess vor uns ausbreitet, dass ein erschreckend hoher Prozentsatz der Bevölkerung keinen anderen Rat weiß, als sich in die Forderung zu flüchten, nun müsse ‚endlich Schluss‘ sein. [...] Sie billigen die Scheußlichkeiten nicht, sie rechtfertigen nicht die Verbrechen, und es wäre ungerecht, sie einer heimlichen Sympathie mit den Mördern zu verdächtigen. Es ist die eigene Betroffenheit, die sie zu defensiven Gesten herausfordert, es ist die Furcht vor dem eigenen Anteil an der kollektiven Verantwortlichkeit [...], die sie mit Trotz, Misstrauen und vielleicht sogar einem neuen Hass erfüllt.“14 Wenngleich weite Teile der Bevölkerung die Vergangenheit lieber vergessen wollten, da die Erinnerung schmerzliche Fragen nach dem eigenen Verhalten und der persönlichen Mitverantwortung hervorrufen musste, so blieben die vielfältigen Aufklärungsbemühungen doch nicht wirkungslos. Sie führten bereits Anfang der 60er Jahre zu einem deutlich konstatierbaren Einstellungswandel. Er kam besonders in der Jugend zum Tragen, die ohne persönliche Belastung aufwuchs und sich unbefangener mit der NS - Vergangenheit auseinandersetzen konnte. Sie begriff den Nationalsozialismus, entsprechend der offiziellen Überlieferung im Schulunterricht und der öffentlichen Geschichtsvermittlung in den Massenmedien, zunehmend als Synonym für Krieg, Terror und beispiellose Verbrechen.15 Bei der älteren Generation dagegen stieß die Konfrontation auch in 12 Vgl. Alfons Söllner, Peter Weiss’ Die Ermittlung in zeitgeschichtlicher Perspektive. In : Stephan Braese ( Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a. M. 1998, S. 99–128; allg. Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München 2004. 13 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965–1967, Allensbach 1967, S. 165. 14 Klaus Harpprecht, Die Deutschen und die Juden. In : Die Neue Gesellschaft, 12 (1965), S. 703–710, hier 709. 15 Vgl. z. B. Walter Jaide, Das Verhältnis der Jugend zur Politik. Empirische Untersuchungen zur politischen Anteilnahme und Meinungsbildung junger Menschen der Geburtsjahrgänge 1940–1946, Berlin 1963, S. 96 ff. Weitere Nachweise bei Clemens Vollnhals, Zwischen Verdrängung und Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. In : Ursula Büttner ( Hg.), Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 381–422.

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Einleitung

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späteren Jahren auf vielfältige Abwehrhaltungen und führte eher zu Schweigen oder Selbstrechtfertigungen.

Öffentlichkeit in Nachkriegsdeutschland : Rahmenbedingungen in West und Ost Grundsätzlich ist zwischen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung zu unterscheiden. Die öffentliche Meinung wird in der Regel über repräsentative Befragungen erhoben. Es liegt auf der Hand, dass sich die politischen Rahmenbedingungen für eine freie Meinungsäußerung schon während der Besatzungszeit deutlich unterschieden. In den Westzonen machte vor allem die amerikanische Militärregierung regen Gebrauch von Meinungsumfragen,16 während dies von der Sowjetischen Militäradministration ( SMAD ) nicht bekannt ist. Bereits 1947 erfolgte die Gründung des Allensbacher Instituts für Demoskopie, eine vergleichbare Forschungsstelle gab es auch in der späteren DDR nicht. Die freie Erhebung der öffentlichen Meinung durch staatlich unabhängige, konkurrierende Institute war nur in der Bundesrepublik möglich, weshalb keine gesicherten Umfragedaten zur Einstellung der ostdeutschen Bevölkerung hinsichtlich der gemeinsamen NS - Vergangenheit vorliegen. Jedoch wird man wohl davon ausgehen können, dass sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt die Verhaltensmuster und Ansichten in West - und Ostdeutschland noch nicht gravierend unterschieden haben. Die veröffentlichte Meinung – also die Berichte, Stellungnahmen und Kommentare von Journalisten, Personen des öffentlichen Lebens, Parteien und Verbänden – war ebenfalls sich wandelnden Bedingungen unter worfen. Das traf insbesondere auf die Hauptquellen zu, die Tages - und Wochenzeitungen. Die sofort nach dem Einmarsch der alliierten Armeen verbotene deutsche Presse ersetzten die Siegermächte schon nach kurzer Zeit durch eigene Blätter für die deutsche Bevölkerung : Bereits ab dem 15. Mai 1945 erschien die „Tägliche Rundschau“ in der sowjetischen Besatzungszone, wenig später folgten die „Neue Zeitung“ in der amerikanischen, „Die Welt“ in der britischen und „Nouvelles de France“ ( als einziges zweisprachiges Blatt ) in der französischen Zone. Ab Sommer 1945 erschienen die ersten deutschen, von den Besatzungsmächten lizenzierten Zeitungen, die sogenannte Lizenzpresse.17 Eine Direktive des Alliierten Kontrollrats setzte am 12. Oktober 1946 der Vorzensur in allen Besatzungszonen ein Ende; zudem wurden 1946 deutsche Nachrichtenagenturen

16 Vgl. Anna Merritt / Richard L. Merritt ( Hg.), Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS - Surveys 1945–1949, Urbana ( Ill.) 1970. 17 Vgl. hierzu die Pionierstudie von Norbert Frei, Amerikanische Lizenzpolitik und deutsche Pressetradition. Die Geschichte der Nachkriegszeitung Südost - Kurier, München 1986.

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Einleitung

zugelassen. Die Lizenzpflicht für Zeitungen hoben die Hohen Kommissare in Westdeutschland am 21. September 1949 auf.18 Ganz anders entwickelte sich die Presselandschaft im Osten. In der sowjetischen Besatzungszone war die Öffentlichkeit von Anfang an stark eingeschränkt. Zwar hatte die SMAD bereits mit ihrem Befehl Nr. 2 überraschend früh deutsche politische Parteien zugelassen : Am 11. Juni lizenzierte sie die KPD, vier Tage darauf die SPD, am 23. Juni die CDU und am 5. Juli schließlich die Liberal - Demokratische Partei Deutschlands ( LDPD ). Die SMAD knüpfte die Vergabe von Zeitungslizenzen an die zugelassenen Parteien, Gewerkschaften usw., wobei sie die KPD eindeutig bevorzugte, nicht zuletzt bei der Zuteilung von Papier und anderen Mangelwaren für die Parteiblätter. Die bürgerlichen Parteien – CDU und LDPD – blieben hingegen auf ein „Zentralorgan“ und jeweils ein Blatt in den fünf Ländern bzw. Provinzen der SBZ beschränkt.19 Das „Neue Deutschland“ erschien erstmals am 23. April 1946, einen Tag nach dem Vereinigungsparteitag von SPD und KPD im Berliner Admiralspalast, als Nachfolgeorgan der bisherigen Parteizeitungen „Das Volk“ ( SPD ) und „Deutsche Volkszeitung“ ( KPD ).20 In der DDR blieb die Lizenzpflicht im Gegensatz zum Westen weiter bestehen, ging aber zunächst auf die Sowjetische Kontrollkommission und am 1. März 1950 auf das Amt für Information bei der Regierung der DDR über.21 Kurzum : Im Osten blieb die veröffentlichte Meinung dauerhaft gelenkt und der politischen Zensur unter worfen, während sich im Westen bereits nach kurzer Zeit auch kritische Stimmen zu Wort melden konnten – auch wenn sich diese oftmals gegen die Strafverfolgungs - und Aufklärungsbemühungen der Besatzungsmächte richteten. Dies lässt sich etwa am Beispiel der ( in ihren Gründerjahren noch keineswegs linksliberalen ) Wochenzeitschrift „Die Zeit“ verdeutlichen. Ihr Chefredakteur Richard Tüngel warb nicht nur zunehmend NS - belastete Journalisten an (unter ihnen Paul Carl Schmidt, ehedem Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes im „Dritten Reich“, sowie Hans Georg von Studnitz, ebenfalls früherer Mitarbeiter der Propagandaabteilung Joachim von Ribbentrops ), sondern 18 Vgl. Martin Schuster, Presse. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55. Ein Handbuch, Berlin 1999, S. 158–161; Wolfgang Benz, Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die Entstehung der DDR 1945–1949, Berlin 2009, S. 147–150. Vgl. auch Peter Rzeznitzeck, Von der Rigorosität in den Pragmatismus. Aspekte britischer Presse - und Informationspolitik im Nachkriegsdeutschland 1945–1949, Düsseldorf 1989. 19 Vgl. SBZ - Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945– 1949. Im Auftrag des Arbeitsbereiches Geschichte und Politik der DDR an der Universität Mannheim und des Instituts für Zeitgeschichte, München, hg. von Martin Broszat und Hermann Weber, München 1990, S. 36, 61; Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland ( SMAD ) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 198 f.; Schuster, Presse, S. 158–161. 20 SBZ - Handbuch, S. 512. 21 Schuster, Presse, S. 158–161.

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griff auch selbst vehement die Nürnberger Prozesse an, wobei er seine – auch antisemitisch konnotierte – Kritik an den Verfahren immer wieder auf den Anklagevertreter Robert M. W. Kempner konzentrierte, einem aus Deutschland in die USA emigrierten Juristen jüdischer Abstammung.22 Auch in zahlreichen anderen Redaktionen bezogen NS - belastete Journalisten schon bald wieder die Schreibtische – oftmals gar in leitender Funktion. Indes entsprachen Form und Umfang der Berichterstattung über das NS Regime und dessen Verbrechen auch dem Bedürfnis des Publikums. In den 50er Jahren riefen – neben Verstößen gegen die vorherrschende rigide Sexualnorm – insbesondere Beiträge über NS - Verbrechen zahlreiche Proteste her vor, wie Christina von Hodenberg anhand der Zuschriften an das Bundespresseamt nachweisen konnte. Allerdings blieben die frühzeitig lizenzierten Presseorgane sowie die bislang kaum untersuchten Rundfunkanstalten23 immer auch ein Hort der kritischen Aufklärung und Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit. Engagierte Journalisten und Kommentatoren wie beispielsweise Karl - Heinz Krumm („Frankfurter Rundschau“), Ernst Müller - Meiningen jr. („Süddeutsche Zeitung“), Gerhard Mauz („Der Spiegel“), Hans Schueler („Die Zeit“), Dietrich Strothmann („Die Zeit“), Albert Wucher („Süddeutsche Zeitung“) oder Axel Eggebrecht ( Norddeutscher Rundfunk ) und Heiner Lichtenstein ( Westdeutscher Rundfunk ) schrieben über Jahre gegen die allgemeine Tendenz an und griffen immer wieder Fälle NS - belasteter Juristen, täterfreundliche Urteile in NSG - Verfahren oder fragwürdige Wiedergutmachungsentscheidungen auf. Und nicht zuletzt erlebten zahlreiche Medien ab Mitte der 60er Jahre eine Phase der Politisierung, als eine jüngere Journalistengeneration in das Berufsleben eintrat.24

Forschungsstand Die historische Forschung interessierte sich zunächst kaum für die Prozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, die sogenannten NSG - Verfahren. Lediglich das Internationale Militärtribunal und bereits mit Abstrichen die sogenannten Nachfolgeprozesse erfuhren nennenswerte Aufmerksamkeit, auch angestoßen von frühzeitig vorliegenden Quelleneditionen und zahlreichen Publikationen am Verfahren beteiligter Richter, Ankläger und Verteidiger wie auch 22 Vgl. Dirk Pöppmann, Robert Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßenprozess. Zur Diskussion über die Beteiligung der deutschen Funktionselite an den NSVerbrechen. In : Irmtrud Wojak / Susanne Meinl ( Hg.), Im Labyrinth der Schuld. Täter, Opfer, Ankläger, Frankfurt a. M. 2003, S. 163–197, insbes. 183–189. Zum „Rechtsdrall“ der „Zeit“ und der Rückkehr zahlreicher NS - belasteter Journalisten in die Redaktionsstuben vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945 bis 1973, Göttingen 2006, S. 128–131. 23 Vgl. Christof Schneider, Nationalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks 1945–1948, Potsdam 1999. 24 Vgl. von Hodenberg, Konsens, S. 189 f., 194, sowie allg. 245–292.

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Prozessbeobachter.25 Die vor deutschen Gerichten verhandelten Verfahren standen hingegen weitgehend im Abseits des Interesses. Daher ver wundert es auch nicht, dass die Wirkungs - und Rezeptionsgeschichte der Prozesse lange Zeit ein weitgehend unbeschriebenes Blatt der Historiographie blieb. Zwar schlugen die Dissertationen von Ullrich Kröger26 und Hans Meiser27 bereits in den 70er Jahren erste Schneisen durch das Dickicht der zahlreichen Verfahren, doch blieben diese Arbeiten unveröffentlicht. Anstöße erhielten die Historiker schließlich nicht zuletzt aus der Justiz selbst: Adalbert Rückerl, seit 1961 zur Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg abgeordneter Staatsanwalt und von 1966 bis 1984 deren Leiter, befasste sich 1971 in einem Aufsatz mit den Fragen : „NS - Prozesse : Warum erst heute ? – Warum noch heute? – Wie lange noch ?“ Auch in den folgenden Jahren trugen er und andere Staatsanwälte erheblich zur Diskussion über die Entwicklung der Strafverfolgung von NS - Tätern bei.28 Die enorme öffentliche Resonanz, die die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ 1979 in der Bundesrepublik her vorrief,29 und die in demselben Jahr vom Deutschen Bundestag beschlossene Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord führten auch historiographisch zu einem erneuten Interesse an der justitiellen Strafverfolgung der NS - Verbrechen als Mittel und Medium der öffentlichen Aufklärung. So publizierte Peter Steinbach 1981 eine erste skizzenhafte Darstellung der Diskussion der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in der westdeutschen Öffentlichkeit nach 1945,30 drei Jahre später erschien ein Sammelband, der bereits im Titel die eher rheto-

25 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947; die Dokumentenbände zu den „Nachfolgeprozessen“ erschienen unter dem Titel : Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law no. 10, Nuernberg October 1946–April 1949, Vol. 1–15, Washington 1949–1953. Vgl. beispielsweise auch Margret Boveri, Der Diplomat vor Gericht, Berlin 1948; Otto Kranzbühler, Rückblick auf Nürnberg, Hamburg 1949; Tilo von Wilmowsky, Warum wurde Krupp verurteilt ? Legende und Justizirrtum, Stuttgart 1950; August von Knieriem, Nürnberg. Rechtliche und menschliche Probleme, Stuttgart 1953. 26 Ullrich Kröger, Die Ahndung von NS - Verbrechen vor westdeutschen Gerichten und ihre Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit 1958–1965, unter besonderer Berücksichtigung von „Spiegel“, „Stern“, „Zeit“, „Welt“, „Bild“, „Hamburger Abendblatt“, „NZ“ und „Neuem Deutschland“, Diss. phil. Hamburg 1973. 27 Hans Meiser, Der Nationalsozialismus und seine Bewältigung im Spiegel der Lizenzpresse der britischen Besatzungszone von 1946–1949, Diss. phil. Osnabrück 1980. 28 Adalbert Rückerl ( Hg.), NS - Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung : Möglichkeiten – Grenzen – Ergebnisse, Karlsruhe 1971, S. 13–34. Vgl. ders., Die Strafverfolgung von NS- Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Karlsruhe 1979; ders., NS - Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Karlsruhe 1982. 29 Vgl. Peter Märthesheimer / Ivo Frenzel, Im Kreuzfeuer : Der Fernsehfilm Holocaust. Eine Nation ist betroffen, Frankfurt a. M. 1979. 30 Peter Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, Berlin 1981.

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risch gemeinte Frage stellte, ob „Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren“ möglich sei.31 Mit der deutschen Wieder vereinigung und der damit verbundenen Neudefinition der Rolle Deutschlands in der internationalen Politik sowie dem gemeinhin großen Entsetzen über die Verbrechen des Bürgerkriegs auf dem Balkan und dem Genozid in Ruanda – was in beiden Fällen zur Einsetzung von internationalen Strafgerichtshöfen führte –, nahm das Interesse der historischen Forschung an der Strafverfolgung von Massenverbrechen allgemein und insbesondere an den NS - Prozessen deutlich zu.32 Seitdem stehen die Nürnberger Prozesse verstärkt im Fokus der zeithistorischen Forschung33 – und ebenso die NSG - Verfahren vor deutschen Gerichten. Wegweisende Studien zu den justizpolitischen Debatten der 60er Jahre und zur Entwicklung der Rechtsprechung in NSG - Verfahren legten Michael Greve und Marc von Miquel vor,34 während sich Annette Weinke in vergleichender Perspektive mit der Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland befasste.35 Mittler weile gibt es zudem eine ganze Reihe von Detailstudien und Quelleneditionen zur Rezeption einzelner Prozesse. So untersuchte Heike Krösche im Rahmen ihrer Dissertation die öffentlichen Reaktionen auf den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.36 Der Journalist Steffen Radlmaier edierte aus31 32

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Jürgen Weber / Peter Steinbach ( Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS - Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München 1984. Vgl. exemplarisch Helge Grabitz / Klaus Bästlein / Johannes Tuchel ( Hg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Berlin 1994; Gerd Hankel / Gerhard Stuby ( Hg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg 1995; Gerhard Werle / Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des AuschwitzUrteils, München 1995; Claudia Kuretsidis - Haider / Winfried R. Garscha ( Hg.) : Keine „Abrechnung“. NS - Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig 1998; Wolfram Wette / Gerd R. Ueberschär ( Hg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Volkhard Knigge / Norbert Frei ( Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005; Gerd Hankel, Die Macht und das Recht. Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2008. Gerd R. Ueberschär ( Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt a. M. 1999; Donald Bloxham, Genocide on Trial. War Crimes Trials and the Formation of the Holocaust History and Memory, Oxford 2001; Hellmut Butterweck, Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung, Wien 2005; Hilary Earl, The Nuremberg SS - Einsatzgruppen Trial, 1945–1958. Atrocity, Law, and History, Cambridge 2009. Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS - Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001; Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004. Annette Weinke, Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949–1969 oder : eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002. Heike Krösche, Zwischen Vergangenheitsdiskurs und Wiederaufbau. Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

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gewählte Presseberichte, ferner liegt eine Dokumentation ausgewählter Rundfunksendungen zum IMT vor.37 Das enorme Medienecho, das der Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in der bundesdeutschen Öffentlichkeit her vorrief, analysierte Peter Krause.38 Irmtrud Wojak befasste sich in zahlreichen Studien mit dem ersten Frankfurter Auschwitz - Prozess und beschäftigte sich zuletzt biographisch mit dem Initiator des Prozesses, dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.39 Weitere Untersuchungen zum Frankfurter Auschwitz - Prozess stammen von Devin O. Pendas und Rebecca Wittmann, die in ihren Darstellungen jeweils auch auf die öffentlichen Reaktionen auf das Verfahren eingehen. Wittmann kommt zu der drastischen Bewertung der Berichterstattung als „almost a pornography of the Holocaust, that both sold papers and distanced the general public from the monsters on the stand whose actions where reported in graphic detail“.40 Auch Pendas gelangt zu dem kritischen Urteil, dass der Prozess in dem Ansinnen gescheitert sei, dem Publikum ein kohärentes Bild von Auschwitz zu zeichnen.41 Ebenso thematisiert der Begleitkatalog des Fritz Bauer Instituts zur Ausstellung „Auschwitz - Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main“ die Widerspiegelung des Prozesses in Literatur, Philosophie und Publizistik.42 Das ostdeutsche Pendant, einen propagandistisch aufgeladenen Prozess gegen einen früheren KZ - Arzt in Auschwitz, analysierte in exemplarischer Weise Christian Dirks.43 Die Düsseldorfer NSG - Verfahren – darunter der Prozess gegen Franz Stangl, den Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka (1969/70), und der große Majdanek - Prozess (1975–1981) – untersuchte Volker Zimmermann,44 während Sabine Horn die Fernsehberichterstattung über den Frankfurter

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1945/46, den Ulmer Einsatzgruppenprozess und den Sommer - Prozess 1958, Diss. phil. Oldenburg 2009. Radlmaier ( Hg.), Lernprozess; Ansgar Diller / Wolfgang Mühl - Benninghaus ( Hg.), Berichterstattung über den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Edition und Dokumentation ausgewählter Rundfunkquellen, Potsdam 1998. Peter Krause, Der Eichmann - Prozess in der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 2002. Wojak, Frankfurter Auschwitz - Prozess; Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009. Vgl. auch Werner Renz, Der erste Frankfurter AuschwitzProzess. Völkermord als Strafsache. In : 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 15 (2000) 2, S. 11–48. Rebecca Wittmann, Beyond Justice. The Auschwitz Trail, Cambridge / Mass. 2005, S. 176. Pendas, Trial, S. 252–287. Wojak, Frankfurter Auschwitz - Prozess, S. 53–70. Christian Dirks, „Die Verbrechen der anderen“. Auschwitz und der Auschwitz - Prozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZ - Arzt Dr. Horst Fischer, Paderborn 2006. Volker Zimmermann, NS - Täter vor Gericht. Düsseldorf und die Strafprozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Hg. vom Justizministerium des Landes Nordrhein - Westfalen in Verbindung mit der Mahn - und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf, Düsseldorf 2001. Vgl. auch Martin Ross / Helen Quandt, „... und hinter den Gesichtern ...“ Biographische Notizen zu den Beteiligten am Majdanek - Prozess 1975– 1981. Hg. von der Mahn - und Gedenkstätte Düsseldorf für die Opfer nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, Düsseldorf 1996.

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Auschwitz- Prozess und den Düsseldorfer Majdanek - Prozess analysierte.45 Zu den NSG - Verfahren vor dem Landgericht Bielefeld in den Jahren 1958 bis 1967 liegt ein Sammelband vor, der u. a. den akribisch geführten, aber wenig beachteten Bialystok - Prozess (1966/67) dokumentiert.46 Die meisten Darstellungen konzentrieren sich auf die Analyse eines Verfahren, während Vergleichsperspektiven, wie sie die Studien von Zimmermann, Horn und die sozial - und medienwissenschaftlichen Analyse eines deutsch - israelischen Autorenteams47 bieten, eher selten sind. In diesem Kontext ist auch die Arbeit von Regina Maier zu nennen, die die Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Kassel im ersten Nachkriegsjahrzehnt untersuchte.48 Einen Schritt weiter gehen jüngst erschienene bzw. derzeit in Druckvorbereitung befindliche Sammelwerke : Der auf eine Tagung zurückgehende Band „Das Gericht als Tribunal“ behandelt auch die Rezeption von NS - Prozessen, der „Aufführung der Aufklärung in den NSG - Verfahren“.49 Mit der Rolle der journalistischen Prozessbeobachter und der Übertragung von Täterbildern aus dem Gerichtssaal in die Öffentlichkeit befasste sich insbesondere Cord Arendes.50 Eine von Kim C. Priemel und Alexa Stiller in Frankfurt an der Oder organisierte Tagung nahm 2009 amerikanische und deutsche Perspektiven auf die Nürnberger Prozesse und dabei auch ihre Rezeption in der Öffentlichkeit in den Blick.51

Fragestellungen und Ergebnisse Dieser Sammelband setzt sich zum Ziel, die Öffentlichkeitswirksamkeit ausgewählter wichtiger Prozesse genauer unter die Lupe zu nehmen. Im Mittelpunkt stehen nicht die Strafverfahren und ihre juristischen Probleme im engeren Sin45 Sabine Horn, Erinnerungsbilder. Auschwitz - Prozess und Majdanek - Prozess im westdeutschen Fernsehen, Essen 2009. Vgl. allg. Christoph Classen, Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955–1965, Köln 1999; Christiane Fritsche, Vergangenheitsbewältigung im Fernsehen. Westdeutsche Filme über den Nationalsozialismus in den 1950er und 60er Jahren, München 2003. 46 Freia Anders / Hauke - Hendrik Kutscher / Katrin Stoll ( Hg.), Bialystok in Bielefeld. Nationalsozialistische Verbrechen vor dem Landgericht Bielefeld 1958 bis 1967, Bielefeld 2003. 47 Wilke / Schenk / Cohen / Zemach, Holocaust. 48 Regina Maier, NS - Kriminalität vor Gericht. Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Kassel 1945–1955, Darmstadt 2009. 49 Georg Wamhof ( Hg.), Das Gericht als Tribunal. Oder : Wie der NS - Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009, S. 20. 50 Cord Arendes, Teilnehmende Beobachter. Prozessberichterstatter als Vermittler von NS- Täterbildern. In : ebd., S. 78–97. 51 Verhandelte Gerechtigkeit. Deutsche und amerikanische Perspektiven in den Nuremberg Military Tribunals 1946–1949. Auf dieser Tagung (23.–25. 4. 2009) schilderten Laura Jockusch die Wahrnehmung der Nürnberger Nachfolgeprozesse durch Holocaust- Überlebende und Markus Urban die zeitgenössische Wahrnehmung der Nachfolgeprozesse in der deutschen Öffentlichkeit 1946–1949.

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ne, sondern die Rezeption in der Berichterstattung der Medien und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dabei nimmt der Band die Entwicklung in beiden deutschen Staaten in den Blick. Die vergleichende Perspektive eröffnet interessante Querbezüge und zeigt zugleich die fundamentale Differenz zwischen einer freien und einer staatlich gelenkten Öffentlichkeit auf. Am Beispiel ausgewählter NSG - Verfahren sollen die öffentlichen Reaktionen und – dies vor allem mit Bezug auf die Entwicklung in der Bundesrepublik – auch der gesellschaftliche Wandlungsprozess in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten, also von 1945 bis Mitte der 60er Jahre, analysiert werden. Aus diesem Grund sind die Beiträge nicht nach West und Ost, sondern im Wesentlichen chronologisch geordnet. Im Kern befasst sich dieser Band mit der medialen Öffentlichkeit, mit anderen Worten mit der Berichterstattung in der Tages - und Wochenpresse sowie in den Magazinen. Die Pressejournalisten besaßen in den 50er und 60er Jahren, als das Fernsehen noch nicht diese Bedeutung erlangt hatte und ausschließlich öffentlich - rechtlich organisiert war, einen wesentlich größeren „Einfluss auf die Definition und Hierarchie ‚diskussionswürdiger‘ Themen“ als heute.52 Die Tendenzen und Debatten der veröffentlichten Meinung lassen sich damit gut nachzeichnen, während sich die Wirkung der publizierten Beiträge auf die Leserschaft nur bedingt nachvollziehen lässt. Zu vermuten ist allerdings, dass die unterschiedlich intensive Berichterstattung über einzelne NSG - Verfahren in Westdeutschland nicht zuletzt auch den Erwartungen der Leser geschuldet war. Eröffnet wird der Band mit zwei Beiträgen zum Verlauf und Umfang der Strafverfolgung von NS - Verbrechen in den Westzonen bzw. in der Bundesrepublik, abgeschlossen wird er mit einer Studie zu den Verjährungsdebatten im Bundestag und einer Darstellung der NSG - Verfahren in Österreich, einem weiteren Nachfolgestaat des „Großdeutschen Reiches“. 70 Prozent aller Verurteilungen in NSG - Verfahren fielen in den Zeitraum zwischen 1945 und 1949, wobei das Jahr 1948 den Höhepunkt darstellte, anschließend nahm die Zahl der Verfahren und Verurteilungen ab. Deutsche Gerichte waren in der Besatzungszeit für die Ahndung von Verbrechen zuständig, die Deutsche an Deutschen oder an Staatenlosen begangen hatten. Edith Raim hebt in ihrem Beitrag her vor, dass die meisten Verfahren nur von regionaler Bedeutung waren, da zu den verhandelten Delikten vor allem Denunziationen, Misshandlungen von politischen Gegnern und die Zerstörung von Synagogen gehörten, die überall im Reich vorgekommen waren. Zwar herrschte anfangs eine relativ breite Übereinstimmung, NS - Täter zur Verantwortung ziehen zu wollen. Dies galt besonders bei Denunziationen und den Euthanasieverbrechen, während die Strafverfolgung von Verbrechen, die während der Novemberpogrome 1938 und im Zuge der Deportationen begangen worden waren, in der Bevölkerung auf geringere Zustimmung stieß. Grundsätzlich aber gilt : Allen

52 Von Hodenberg, Konsens, S. 25.

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Mängeln und allem Wider willen zum Trotz wurden nie wieder so viele Ermittlungsverfahren eingeleitet wie in der Besatzungszeit. Die Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 änderte die Zuständigkeiten auch in der Justiz, die Strafverfolgung war nun Ländersache. Zudem fielen am 1. Januar 1950 alliierte Vorbehalte in der Gerichtsbarkeit weg; deutsche Gerichte konnten fortan auch uneingeschränkt NS - Verbrechen an Nicht - Deutschen verfolgen. Andreas Eichmüller zeigt, dass das her vorstechende Merkmal der Strafverfolgung von NS - Verbrechen in dieser Zeit die deutliche und rasche Abnahme der Zahl der Verfahren war. Für die Bevölkerung stand die Über windung der Kriegsfolgen im Mittelpunkt des Interesses. 1952 erklärten rund 60 Prozent der Befragten, dass sie den alliierten Umgang mit den Kriegsverbrechern ablehnten ( die Zustimmung lag bei nur zehn Prozent ). Angesichts von Millionen ehemaliger Parteigenossen gab es zur Integrationspolitik der Regierung Adenauer wohl auch keine Alternative. Damit erlahmte aber auch der Eifer der Justiz; gleichwohl gab es in 50er Jahren auch weiterhin bedeutende Verfahren. Eine gewisse Trendwende leitete 1955 die Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion ein, da sich unter ihnen auch Personen befanden, die schwerer Verbrechen beschuldigt wurden. Ein Wendepunkt war schließlich der Ulmer Einsatzgruppen - Prozess 1958. Während die Justiz noch kaum aktive Öffentlichkeitsarbeit betrieb, war das Interesse der Presse an den Prozessen allgemein recht groß. Aber wie in den Jahren zuvor berichtete zumeist nur die lokale Presse der jeweiligen Gerichtsorte, während nur wenige Prozesse überregionales Aufsehen erregten. Bereits das erste alliierte Strafverfahren gegen Angehörige des SS - Personals, Aufseher und Funktionshäftlinge in den Konzentrations - und Vernichtungslagern, das ein britisches Militärtribunal Mitte September 1945 in Lüneburg unter der Bezeichnung „First Belsen Trial“ eröffnete, sollte nach Vorstellung der britischen Besatzungsbehörden mit der juristischen Aufarbeitung auch zur moralischen Läuterung der Deutschen beitragen. Um die gewünschte Wirkung erzielen zu können, nutzten die Briten die ihnen zur Verfügung stehenden Medien wie Wochenschau, Rundfunk und vor allem die Presse. Indes scheiterten diese Pläne, wie John Cramer eindrucksvoll belegt, vor allem an der weitgehenden Gleichgültigkeit der Deutschen, die weder die Kraft noch den Willen aufbrachten, sich mit der Frage nach der individuellen und kollektiven Schuld auseinander zu setzen. Zudem war offenbar das Gefühl weit verbreitet, die Besatzungsmächte hätten sich nicht damit begnügt, Deutschland militärisch zu besiegen und zu besetzen, sondern wollten den Deutschen nun auch noch die nationale Ehre rauben. Als sich in Nürnberg 22 führende Politiker, Beamte, Generale und Funktionäre der NSDAP als „Hauptkriegsverbrecher“ vor einem von den USA, Großbritannien, der Sowjetunion und Frankreich gebildeten Internationalen Militärtribunal verantworten mussten, inszenierten die Alliierten dieses bewusst auch als internationales „Medienspektakel“. Die als Beitrag zur demokratischen Umerziehung der Deutschen geplante Informationskampagane konnte jedoch

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dem Aufkommen einer breiten Abwehrhaltung nicht entgegenwirken. Die sehr umfangreiche Berichterstattung in der deutschen Lizenzpresse unter Aufsicht der Alliierten sah sich mit Lesern konfrontiert, die sich mehr oder weniger vollständig ins Private zurückgezogen hatten. Als kontraproduktiv erwies sich auch, dass die Alliierten die deutsche Allgemeinbevölkerung gar nicht und deutsche Journalisten nur zurückhaltend zum Prozess zuließen. Wie Heike Krösche zeigt, erkannten die Amerikaner erst allmählich, dass letztlich der deutschen Presse bei der Vermittlung des Prozesses eine Schlüsselfunktion zukam. Durch die Berichterstattung erhielten die Deutschen die Möglichkeit, sich zu informieren. Auch wenn es Hinweise gibt, dass ein Teil der Bevölkerung den Prozessverlauf durchaus interessiert verfolgte, lassen die vorliegenden Quellen keinen Zweifel daran, dass die Anteilnahme am IMT eher gering war. Für die KPD - Führung stand das „Großkapital“ als Drahtzieher hinter Hitler und der NSDAP fest. Dementsprechend hatte die Partei die deutschen Großindustriellen bereits im Sommer 1945 als Kriegsverbrecher gebrandmarkt. Wie Jörg Osterloh anhand der Presse der KPD / SED belegen kann, widmete die Partei daher neben dem Hauptkriegsverbrecherprozess nicht zuletzt den sogenannten Industriellen - Prozessen, die 1947/48 gegen Friedrich Flick, Alfried Krupp und die Konzernspitze der IG Farben vor einem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg stattfanden, besondere Aufmerksamkeit. Gleichwohl lassen sich deutliche Unterschiede in der Berichterstattung ausmachen. Dem Verfahren gegen Flick, dessen Enteignung für die Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse in der SBZ besondere Bedeutung zukam, schenkte man erheblich mehr Beachtung als etwa dem Krupp - Prozess, da dieser Konzern kaum über nennenswerte Produktionsstätten in der SBZ verfügte. Die Industriellen - Prozesse nutzte die SED in zweifacher Hinsicht : Zum einen rechtfertigte sie hiermit die Enteignungen im sowjetischen Besatzungsgebiet, zum anderen dienten sie ihr als weiterer Beleg für die Wiedererrichtung des alten Systems und des Militarismus in den Westzonen mit Hilfe der amerikanischen Militärregierung. In Dachau urteilte die amerikanische Besatzungsmacht zahlreiche NS - Straftäter ab. Militärgerichte verhandelten in den Jahren 1945 bis 1948 gegen mehr als 1600 Angeklagte, von denen 426 zum Tode verurteilt und 268 dieser Todesurteile auch vollstreckt wurden. Über die Hälfte der Verfahren betrafen „Massengrausamkeiten“, so die offizielle Bezeichnung der Konzentrationslager - Prozesse. Hinzu kamen die „Flieger - Prozesse“, in denen es um die Ermordung alliierter Flugzeugbesatzungen ging, die sich in Kriegsgefangenschaft begeben hatten. Bedeutende Einzelverfahren waren der Hadamar - Prozess, der Skorzeny - Prozess und der Malmedy - Prozess. Robert Sigel schildert die öffentliche Kritik, nicht zuletzt von Vertretern der Kirchen. Bemerkenswert ist, dass sowohl der protestantische Pastor Martin Niemöller als auch der katholische Weihbischof Johannes Neuhäusler, die beide in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren, sich an den Angriffen beteiligten. Die Vorbehalte waren fundamental, so wurden unter anderem die Rechtmäßigkeit der Urteile im Malmedy Prozess, die Qualifikation der Richter, die Chancengleichheit von Anklagebe-

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hörde und Verteidigung und die rechtlichen Grundlagen der Prozesse überhaupt in Zweifel gezogen. Nach Abschluss der Prozessserie wurde die Kritik systematischer vorgetragen und der Protest gegen die Urteile noch stärker organisiert. Die intensive Gnadenlobby für verurteilte „Kriegsverbrecher“, wie der zeitgenössische Sprachgebrauch lautete, stützte sich auf ein breites gesellschaftliches Umfeld, während sich Gegenstimmen zu jener Zeit nicht in nennenswertem Umfang artikulierten. Die Alliierten begnadigten in der Folgezeit zahlreiche NSTäter. Davon profitierten selbst überführte Massenmörder; 1958 sollten als letzte auch drei Führer der berüchtigten SD - Einsatzgruppen, die den Massenmord an den Juden vor Ort organisiert hatten, aus dem Gefängnis in Landsberg entlassen werden. Unter ganz anderen Vorzeichen fand die Strafverfolgung von NS - Verbrechen im sowjetischen Herrschaftsgebiet statt. Sondergerichte hatten noch vor Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht mit der Aburteilung von NS - Tätern begonnen; in ihrem Fokus standen sowohl deutsche Militärs als auch deutsche Zivilisten, denen Verbrechen in der besetzten Sowjetunion oder in der späteren Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands zur Last gelegt wurden. Zwischen 1945 und 1955 fällten die Sowjetischen Militärtribunale (SMT ) Tausende von Urteilen, darunter eine hohe Anzahl von Todesurteilen. Wie Mike Schmeitzner ausführt, entsprach das sowjetische Vorgehen gleichwohl keiner besonderen Abrechnungsmentalität nach Kriegsende, sondern vielmehr der seit langem gängigen stalinistischen Rechtspraxis. Allerdings wäre es verfehlt, der sowjetischen Seite bei ihrem Vorgehen jegliche Legitimität abzusprechen, da sich ein großer Teil der Verfahren in der SBZ gegen Personen richtete, die zweifellos als NS - Täter anzusehen sind. Die große Mehrzahl der Prozesse war dabei nichtöffentlich – in der SBZ wie in der UdSSR. Nur einige Hundert Kriegs - und NS - Verbrecher wurden in propagandistisch nutzbaren Verfahren abgeurteilt, die letztlich nichts anderes als Schauprozesse waren. Bemerkenswert ist, dass sich lediglich 19 NS - Juristen in der SBZ / DDR wegen ihrer Beteiligung an der NS - Straf justiz vor Gericht verantworten mussten. Der Dresdner Juristenprozess von 1947 mit sechs Angeklagten war der größte derartige Prozess in der SBZ / DDR. Die Sowjetische Militäradministration in Sachsen hatte das Verfahren 1946 gestoppt und erst im Februar 1947 an die deutsche Justiz zurückgegeben. Gerald Hacke geht davon aus, dass die zeitliche Nähe zum Nürnberger Juristen - Prozess („Fall 3“), der Mitte Februar eröffnet wurde, hierfür ausschlaggebend war. Besondere Bedeutung erlangte das Verfahren, weil es mit dem Neuaufbau der Justiz in der SBZ einherging : Zu diesem Zeitpunkt waren die Justizministerien in den Landesver waltungen zumeist in der Hand von CDU bzw. LDPD, und damit den bürgerlichen Parteien. Die ausführliche Presseberichterstattung fiel in den politischen Lagern ausgesprochen ambivalent aus : Insbesondere die LDPD - Presse lobte die „humanen Urteile“, während die SED - Blätter hiergegen einen Sturm gegen die als zu milde verunglimpften Urteile losbrachen und die Partei einen „simulierten Volkszorn“ entfachte.

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Einen ähnlichen Hintergrund hatte der ebenfalls 1947 in Dresden durchgeführte „Euthanasie“ - Prozess gegen Ärzte und Pflegepersonal der Euthanasie Tötungsanstalt Sonnenstein im sächsischen Pirna. Boris Böhm und Julius Scharnetzky zeigen, dass es im Interesse der Sowjetischen Militärregierung gelegen hatte, nach dem Nürnberger Ärzteprozess („Fall 1“) vor einem amerikanischen Militärtribunal und dem Hadamar - Prozess in Frankfurt am Main, auch in der eigenen Zone einen Prozess gegen Täter der nationalsozialistischen Krankenmorde durchzuführen. Zwar ist aus den Gerichtsakten nicht ersichtlich, dass die SMAD direkten Einfluss auf das Verfahren genommen hätte. Jedoch versuchte sie durch eine Instrumentalisierung der Öffentlichkeit, Druck auf das Gericht und die Verteidigung auszuüben. Dabei setzten die SED - Kampagnen bereits vor Prozessbeginn ein und nicht – wie zuvor üblich – erst nach Abschluss des Verfahrens. Die Berichterstattung über den Prozess rief ein gesteigertes Interesse an der Aufklärung der Krankenmorde her vor; dieses blieb jedoch nicht von Dauer, da es weder ein vergleichbares verbreitetes öffentliches Interesse an einer Aufarbeitung der NS - Verbrechen generell, noch eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit der „Euthanasie“ gab. Die von SA - Männern im frühen sächsischen Konzentrationslager Hohenstein verübten brutalen Misshandlungen und Morde waren bereits 1934 Gegenstand eines Gerichtsverfahrens gewesen. Die schließlich zu geringfügigen Strafen verurteilten Täter hatte Hitler jedoch persönlich begnadigt. Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ standen die Verantwortlichen erneut vor Gericht. Die Verfahren waren als Schauprozesse angelegt, die den Nachweis erbringen sollten, dass die Haupttäter in den Westzonen saßen und trotz aller Bemühungen der ostdeutschen Justiz nicht in die SBZ ausgeliefert wurden. Kostenlose Eintrittskarten sollten viele Besucher in den Gerichtssaal bringen, der Rundfunk berichtete umfangreich über die Verfahren. Carina Baganz kommt zu dem Schluss, dass im ersten Prozess 1947 noch das Bemühen der Justiz zu erkennen war, die NSVerbrechen rechtsstaatlich ahnden zu wollen, während in den drei Folgeprozessen 1949 eindeutig die ideologischen und politischen Interessen der Machthaber in der SBZ über wogen. Mit Auf lösung der letzten Speziallager Anfang 1950 hatte die sowjetische Besatzungsmacht knapp 3400 internierte Deutsche den DDR - Behörden zur Aburteilung übergeben. Bereits ab April tagten im sächsischen Waldheim zunächst unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit Sondergerichte, die nach dem Drehbuch der SED Regelstrafen zwischen 15 und 25 Jahren verhängten. Falco Werkentin vertritt die These, dass die von der Sowjetunion aufgedrängten Gerichtsverfahren die auf die Integration ehemaliger Nationalsozialisten zielende Politik des SED - Regimes konterkarierte, da auch in der DDR bei der Bevölkerung eine Schlussstrich - Mentalität vorherrschte. Nach einigen Monaten kam die SED indes nicht umhin, die Öffentlichkeit über die Waldheimer Prozesse in Kenntnis zu setzen, da deren Durchführung mittlerweile durchgesickert war und auch die West - Berliner Presse spätestens seit Mai 1950 hierüber berichtete. Daraufhin versuchte die SED die Prozesse propagandistisch zu nutzen und

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ließ zehn von ihnen öffentlich durchführen. Die gelenkte Berichterstattung in Presse und Rundfunk sollte dabei den Eindruck vermitteln, dass es sich um faire Verfahren gegen NS - Verbrecher handele. Als Zäsur der justitiellen Strafverfolgung in Westdeutschland gilt vielfach der Ulmer Prozess von 1958 gegen Angehörige des Tilsiter Einsatzkommandos. Die breite publizistische Berichterstattung habe der Öffentlichkeit das ganze Ausmaß der ungesühnten Massenverbrechen vor Augen geführt und damit unmittelbar zur Gründung der „Zentralen Stelle“ in Ludwigsburg beigetragen. Mit diesem Topos setzt sich der Beitrag von Claudia Fröhlich kritisch auseinander. Denn tatsächlich verblieb die Berichterstattung über wiegend den überlieferten Klischees verhaftet, die auf Abwehr und Verdrängung der unliebsamen Vergangenheit abzielten. Es waren nur wenige Journalisten und Justizpolitiker, die im Sommer 1958 die Versäumnisse der justitiellen Aufarbeitung anprangerten und eine systematische Strafverfolgung einforderten; während sich gleichzeitig eine breite Lobby für die Begnadigung der Verurteilten einsetzte. Dennoch beschlossen die Justizminister der Länder im Herbst 1958 die Gründung einer gemeinsamen Vorermittlungsbehörde : der „Zentralen Stelle der Landesjustizver waltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg. Sie war ursprünglich nur als zeitlich befristetes Provisorium gedacht und sollte, so die trügerische Hoffnung, innerhalb weniger Jahre die KZ - und Einsatzgruppenverbrechen jenseits der alten Reichsgrenzen systematisch aufklären. Auch wenn Funktion und Wirkungsweise der Zentralen Stelle kaum öffentlich diskutiert wurden, so markierte ihre Gründung doch den Beginn eines qualitativen Wandels im Umgang mit der NS - Vergangenheit, wie Annette Weinke in ihrem Beitrag ausführt. Die konsequentere Strafverfolgung ging Hand in Hand mit den Bemühungen engagierter Juristen und Journalisten, eine mehrheitlich verstockte Bevölkerung davon zu überzeugen, dass eine rechtstaatliche Bestrafung der Täter im Interesse einer freiheitlichen, westlich orientierten Bundesrepublik lag. Von größter Bedeutung für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des NS - Regimes, insbesondere mit dem Holocaust, war der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem. Die deutsche Presse berichtete nahezu täglich über den Fortgang des Verfahrens, Rundfunk und Fernsehen brachten Sondersendungen, weshalb die öffentliche Resonanz auf diesen Prozess in die Konzeption des Sammelbandes einbezogen wurde. Im Fokus der Debatte stand nicht allein die Person Eichmanns, der vornehmlich als seelenloser Bürokrat und Prototyp des NS - Schreibtischtäters wahrgenommen wurde. Vielmehr stellte sich auch die drängende Frage nach der Mitverantwortung der vielen anderen „kleinen Eichmänner“ und ihre weiteren Karriere nach 1945. So wurde der Prozess von Jerusalem, wie Peter Krause darlegt, zu einer Initialzündung für eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des NS - Regimes und trug – lange vor „68“ – mit dazu bei, das kommunikative Beschweigen der 50er Jahre zu beenden.

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Mit der Rolle der ehemaligen Verfolgten des NS - Regime, die bekanntlich eine sehr heterogene Gruppe darstellen, befasst sich Katharina Stengel am Beispiel der Berichterstattung der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ und den Aktivitäten des Internationalen Auschwitz - Komitees. In den 50er Jahren erschienen in der „Allgemeinen Wochenzeitung“ kaum mehr Berichte über die Judenverfolgung im „Dritten Reich“; auch jüdische Organisationen und andere Verfolgtenverbände erhoben in dieser Zeit nur selten konkrete Forderungen hinsichtlich der Strafverfolgung von NS - Tätern. Dies änderte sich ab etwa 1958, als auch in deutschen Öffentlichkeit die Defizite der „Vergangenheitsbewältigung“ zunehmend kritischer thematisiert wurden. Außerordentliche Aktivitäten zur Verfolgung der NS - Täter entwickelte jedoch das Internationale Auschwitz - Komitee, das seit Mitte der 50er Jahren Beweismittel und Zeugenaussagen sammelte, eine intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieb und zahlreiche Strafanzeigen stellte. Mit seinem grenzüberschreitenden Engagement in NSG - Verfahren nahm das Komitee allerdings während des Kalten Krieges eine Sonderstellung unter den Verfolgtenverbänden ein. Die zunehmend kritischere Berichterstattung in der Bundesrepublik belegt Marcus Riverein am Beispiel des Prozesses gegen Karl Wolff, den Adjuntanten des Reichsführers - SS Heinrich Himmler. Wolff stand 1964 in München vor Gericht und musste sich wegen seiner Anwesenheit bei der Erschießung von mindestens 120 Juden durch Angehörige eines Einsatzkommandos und wegen seiner Beteiligung an der Vernichtung der Juden im „Generalgouvernement“ verantworten. Schließlich verurteilte ihn das Gericht wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu 15 Jahren Zuchthaus – ein Urteil, das in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert wurde. Bemerkenswert ist, dass der Wolff - Prozess für die „Süddeutsche Zeitung“ dennoch vor allem ein regionales Ereignis war; fast alle Artikel fanden sich im Lokalteil des Blattes. Für eine linke, vornehmlich studentische Öffentlichkeit kritisierte Ulrike Meinhof in der Zeitschrift „konkret“ scharf, dass man vor Gericht den Angeklagten durch die Bagatellisierung des NS - Regimes entlastet habe. Der Prozess steht aber auch noch für eine zweite Debatte : Wolff, der vor Gericht den Elitecharakter der SS betonte und deren Verbrechen schmälerte, rief den heftigen Protest ehemaliger Offiziere der Waffen - SS her vor; ihre Abgrenzung von der „Allgemeinen SS“ gehörte zu den gängigen Entlastungsstrategien. Neben dem Eichmann - Prozess war es vor allem der 1. Frankfurter AuschwitzProzess (1963–1965), der als Komplexverfahren mit umfangreicher Beweisaufnahme und Aussagen zahlreicher Zeugen in den frühen 60er Jahren die Berichterstattung dominierte. Allein die vier Tageszeitungen „Die Welt“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichten insgesamt über 900 Beiträge. Werner Renz beleuchtet den tatsächlichen Anteil des hessischen Generalstaatsanwalts bei diesem Prozess sowie den Widerspruch zwischen der juristischen Konzeption eines kurzen Verfahrens in NS - Prozessen und den pädagogischen Intentionen Fritz Bauers, mittels groß angelegter Komplexverfahren einen Beitrag zur Aufklärung über die NS - Verbre-

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chen sowie zur Verankerung demokratischer Normen und Menschenrechte zu leisten. Wie bereits mehrfach in den 40er und 50er Jahren reagierte Ost - Berlin auch im Fall des Frankfurter Auschwitz - Prozesses und der in der Bundesrepublik geführten Diskussionen über die Verjährungsfrist für Mord mit einem „Gegenverfahren“ gegen den früheren Lagerarzt im KZ Auschwitz Horst Fischer. Fischer hatte seit Ende der 40er Jahre als Landarzt im ostbrandenburgischen Spreenhagen gearbeitet. Der Prozess wurde 1966 als Schauprozess in nur zehn Verhandlungstagen vor dem Obersten Gericht der DDR in Ost - Berlin geführt. Er sollte nach der Vorstellung des SED - Regimes eine direkte Linie von Auschwitz nach Bonn ziehen und die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des NSStaates desavouieren. Die Reaktionen der Bevölkerung hierauf lassen sich unter anderem anhand von Zuschriften an verschiedene staatlichen Organe sowie von Stimmungsberichten an das Ministerium für Staatssicherheit rekonstruieren. Sie zeigen, wie Christian Dirks ausführt, dass auch in der DDR die Schlussstrich Mentalität sehr ausgeprägt war. Die weitere Strafverfolgung der NS - Verbrechen hing in der Bundesrepublik maßgeblich vom Eintreten der im Strafgesetzbuch vorgesehenen Verjährungsfristen für Totschlag (15 Jahre ) und Mord (20 Jahre ) ab. Bereits 1960 waren mit Zustimmung des Deutschen Bundestages alle Totschlagsdelikte verjährt, so dass nur mehr Mordtaten juristisch belangt werden konnten. Erst 1979 beschloss der Bundestag die endgültige Aufhebung der Verjährung für Mord, was bereits der Antrag der SPD - Fraktion und der Gruppenantrag Ernst Bendas aus Reihen der CDU 1965 zum Ziel gehabt hatten. Im parlamentarischen Raum waren jedoch in den Verjährungsdebatten 1965 und 1969, wie Clemens Vollnhals darlegt, jeweils nur die kleinstmögliche Lösung durchsetzbar. Insofern spiegelten die eingegangenen Kompromisse der 60er Jahre auch das gesellschaftliche Klima wider, das in der großzügigen Gehilfenrechtsprechung und den ständigen Vorstößen der Amnestielobby zugunsten der „kleineren“ NS - Täter seinen Ausdruck fand. Bei aller Kritik darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich der Bundestag auch mit seinen halbherzigen Entscheidungen gegen die vorherrschende Stimmung der bundesdeutschen Gesellschaft stellte. Anders als in Deutschland lief die Strafverfolgung von NS - Verbrechen in Österreich ab, wo zwischen 1945 und 1955 österreichische „Volksgerichte“ zuständig waren, die nicht nach alliierten, sondern nach österreichischen Gesetzen Recht sprachen. Nach Abschluss des Staatsvertrages 1955 und dem Abzug der Alliierten wurde die Volksgerichtsbarkeit wieder abgeschafft, was einen massiven Rückgang der Verurteilungen wegen NS - Verbrechen nach sich zog : Fällten Volksgerichte bis 1955 mehr als 23 000 Urteile, so folgten anschließend nur noch 35. Die Prozesse vor den Volksgerichten waren öffentlich und die Tagespresse berichtete über sie; wie in Deutschland konzentrierte sich das Interesse der Bevölkerung aber vor allem auf Fragen des Alltags. Zudem überlagerten immer wieder andere Ereignisse die Berichterstattung über die österreichischen Prozesse. Ein großes Medienecho erfuhr das Internationale Militärtribunal in

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Nürnberg. Aber auch einzelne Volksgerichtsprozesse erzielten große Aufmerksamkeit, darunter das Verfahren gegen den Sachbearbeiter für „Kommissionierungen“ in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, Anton Brunner, im Mai 1946. Indes stellte das Ende des Nürnberger Prozesses eine Zäsur in der Berichterstattung der Presse dar : In der Folge gab es nur noch wenige Prozesse, die ein breiteres Echo her vorriefen. Claudia Kuretsidis - Haider bilanziert, dass die Pressemeldungen über die NS - Prozesse im ersten Nachkriegsjahrzehnt den Stellenwert und den politischen Willen zur Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen widerspiegelten. Nach einigen großen Prozessen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und vor allem nach Abschluss des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses wurde auch in Österreich der Ruf nach einem Schlussstrich immer lauter. Der Band bietet keinen alles umfassenden Überblick. Vielmehr schlagen die Beiträge des Bandes weitere Schneisen durch das immer noch weithin offene Forschungsfeld der NSG - Verfahren. Die Autoren machen die Unterschiede und die Wechselwirkungen zwischen Ost und West deutlich; sie zeigen am Beispiel bedeutender NS - Prozesse, wie sich die öffentliche Wahrnehmung in den Westzonen und später in der Bundesrepublik in all ihren Widersprüchen entwickelte. Zwar gab es anfangs auch in der SBZ noch einen gewissen Freiraum für abweichende Meinungen, doch dominierte bald die SED die gelenkte Öffentlichkeit und eine politisch instrumentalisierte Justiz. Mit ihrer Propaganda hatte die SED durchaus Erfolg. Gelang es ihr à la longue doch, die kollektive Mitverantwortung und Mithaftung für die NS - Verbrechen zu externalisieren; die NS Täter trieben diesem Geschichtsverständnis zufolge in der Bundesrepublik ihr Unwesen, während man selbst alle Wurzeln des Faschismus in der ostdeutschen Gesellschaft konsequent beseitigt habe.53 Die Beiträge verdeutlichen zugleich, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik nicht so geradlinig verlief, wie es von manchen Historikern und Politikwissenschaftlern in der Rückschau angenommen wird. Es war ein langer, steiniger und schmerzhafter Weg, bis die populäre Schlussstrich - Mentalität weithin über wunden war und die Mehrheit der Bevölkerung der Einsicht zustimmte, dass die moralische Verdammung der ungeheuren NS - Verbrechen ohne die konkrete Strafverfolgung der Täter unglaubwürdig bleiben müsse. Im historischen Rückblick wird man die von der Justiz geleistete Arbeit und über die Medien transportierte Aufklärung über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus kaum unterschätzen können, so unbefriedigend die aus vielerlei Gründen erst spät einsetzende konsequente Verfolgung von NS - Verbrechen und das oft kritisierte Strafmaß unter moralischen Gesichtspunkten auch bleiben sollten. 1964 stimmten beispielsweise nur 54 Pro53 Die Frage nach den „gesellschaftlichen Tiefenwirkungen der politisch überformten Vergangenheitsdeutungen“ stellt etwa Christoph Classen, Faschismus und Antifaschismus. Die nationalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Rundfunk (1945–1953), Köln 2004, S. 35. Vgl. auch die Beiträge in : Silke Satjukow / Rainer Gries ( Hg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004.

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zent der Befragten der Ansicht zu, das „Dritte Reich“ sei ein „Unrechtsstaat, ein Verbrecherregime“ gewesen; 1979 waren es 71 Prozent.54 Wie eine Umfragereihe des Emnid - Instituts belegt, sprachen sich noch 1978 mehr als zwei Drittel der 65 - Jährigen und älteren Jahrgänge dafür aus, „einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen“, während fast 40 Prozent der bis 40- Jährigen für eine Weiterverfolgung von NS - Verbrechen votierten. Ein Jahr später stimmte jedoch, unter dem Eindruck starker Betroffenheit durch die Fernsehserie „Holocaust“, erstmals die Hälfte der Befragten für eine Weiter verfolgung der NS - Verbrechen. In allen Umfragen lag der Prozentsatz der Befür worter bei den Jüngeren deutlich höher als bei den Älteren, was im Kontext einer generell kritischeren Sicht auf die NS - Vergangenheit im Zuge des Generationenwechsels zu sehen ist.55 Es war ein langwieriger, schmerzvoller Prozess gesellschaftlicher Selbstvergewisserung von bemerkenswerter Dauer und Intensität.

Dank Der Sammelband geht auf einen vom Hannah - Arendt - Instituts für Totalitarismusforschung e. V. gemeinsam mit dem Fritz Bauer Institut konzipierten und am 30./31. Oktober 2009 in Dresden veranstalteten Workshop zurück. Den Teilnehmern des Workshops und allen Autoren ist ein herzlicher Dank für ihre Mitwirkung und die Bereitschaft zur intensiven Diskussion der Referate und Texte zu sagen; Werner Renz danken wir zudem für hilfreiche Anregungen. Dank gebührt auch Elisabeth Schönfeld, Ronny Noak und vor allem Michael Thoß, die Korrektur gelesen und bei der Anfertigung des Personenregisters sowie des Literatur verzeichnisses mitgeholfen haben. Dem bewährten Publikationsteam des HAIT, Walter Heidenreich und Christine Lehmann, gilt schließlich unser Dank für die Erstellung des druckreifen Manuskripts. Frankfurt am Main / Dresden im Februar 2011

Jörg Osterloh Clemens Vollnhals

54 Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978–1983, München 1983, S. 191. 55 Emnid - Info, Nr. 11–12/1978, S. 9 ff., und Nr. 2/1979, S. 11 ff. Angaben nach Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung als Problem unserer politischen Kultur. Einstellungen zum Dritten Reich und seine Folgen. In : Weber / Steinbach ( Hg.), Vergangenheitsbewältigung, S. 145–163, hier 158.

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NS - Prozesse und Öffentlichkeit. Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen durch die deutsche Justiz in den westlichen Besatzungszonen 1945–1949 Edith Raim

1.

Bedingungen der Strafverfolgung : Wiederaufbau der Justizver waltung, Entnazifizierung der Richter und Staatsanwälte, Justizkontrolle durch die Alliierten

Nach ihrem Einmarsch in Deutschland ordneten die Alliierten auch die Schließung der Gerichte an, erklärten nationalsozialistische Gesetze für ungültig und verkündeten die Rückkehr zum Reichsstrafgesetzbuch mit dem Stand vom 30. Januar 1933. Reichsgericht, Volksgerichtshof, Sondergerichte und Parteigerichte wurden abgeschafft. Bereits im Sommer 1945 nahmen die ersten deutschen Amts - und Landgerichte ihren Betrieb wieder auf. In einer zweiten Phase ab 1945/1946 wurden die Oberlandesgerichte ( OLG ) als vorläufig höchste Instanz deutscher Justiz wiedereröffnet. Die Strukturen der deutschen Justizver waltung blieben damit im Wesentlichen erhalten. Die Briten eröffneten in ihrer Zone sämtliche früheren OLG an ihren alten Standorten wieder, lediglich das OLG Kiel wurde nach Schleswig verlegt. Zugleich erweiterten sie die Kompetenzen der OLG - Präsidenten beträchtlich, denn diese konnten – mit Genehmigung der Militärregierung – selbst Vorschriften für Gerichte erlassen und Gesetzesvorschläge machen. In der amerikanischen Zone behielt Bayern seine traditionellen OLG in München, Nürnberg und Bamberg, verlor allerdings Zweibrücken durch die Abtrennung der Pfalz. In Hessen wurde lediglich ein OLG in Frankfurt wiedereröffnet, Kassel und Darmstadt fungierten fortan nur als Zweigstellen. Bremen, die amerikanische Enklave in der britischen Zone, erhielt ein eigenes OLG. Die größten Neuregelungen gab es in der französischen Zone: Das OLG für die Pfalz in Zweibrücken wurde aufgrund starker Bombenschäden nach Neustadt an der Haardt verlegt. Das OLG Stuttgart mit einem Zweigsenat in Karlsruhe befand sich in der amerikanischen Zone, so dass in der französischen Zone zwei völlig neue OLG geschaffen wurden, nämlich in Tübingen und Freiburg. Zudem war das OLG Koblenz eine Neuschöpfung aus bisherigen Zuständigkeitsbereichen der Gerichte in Köln, Hamm, Frankfurt und Darmstadt. In Lindau, dem bayerischen Teil der französischen Zone, entstanden eine neue Staatsanwaltschaft und ein neues Landgericht.

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Die materiellen Bedingungen des Neubeginns spotteten jeder Beschreibung. Die Justizgebäude waren vielfach völlig zerstört, so dass die Justizverwaltungen buchstäblich in den Trümmern arbeiten mussten. Intakte Gebäude wurden häufig von alliierten Truppen beschlagnahmt und konnten über Monate und Jahre nicht von der Justiz genutzt werden. Akten waren dem Krieg zum Opfer gefallen oder wegen der Bombengefahr ausgelagert und teils aufgrund der Zonengrenzen nicht mehr verfügbar. Andere Akten wurden in der Not der Nachkriegsjahre vernichtet : Der britische Dichter Stephen Spender, der im Auftrag der Militärbehörden Deutschland bereiste, berichtete, dass in den Ruinen des Gerichtsgebäudes von Köln mehrere Familien lebten, wo sie zum Kochen ein Feuer mit Scheckbüchern und alten Akten des Justizpalastes anschürten.1 Den Gerichten mangelte es an allem : Gesetzestexten und Kommentaren, Papier, Schreibmaschinen, Akten, Registern und Räumlichkeiten. Das größte Problem aber stellte das Justizpersonal dar, von dem zahlreiche Angehörige als frühere NSDAP - Mitglieder und durch die Beteiligung an der Willkürjustiz jenseits jeglicher Rehabilitierung kompromittiert waren. Artikel IV des alliierten Kontrollratsgesetzes ( KRG ) Nr. 4 vom 20. Oktober 1945 bestimmte, dass alle ehemaligen aktiven NSDAP - Mitglieder sowie diejenigen, die an der Straf justiz des NS - Regimes direkten Anteil gehabt hatten, nicht mehr als Richter und Staatsanwälte verwendet werden durften. Doch wie definierte man die aktive Unterstützung der NSDAP ? Was genau verstand man unter dem „direkten Anteil“ an der NS - Straf justiz ? Obwohl Amerikaner, Briten und Franzosen einer mehr oder weniger identischen Personalsituation gegenüberstanden, war ihr Umgang mit der deutschen Justizver waltung doch sehr unterschiedlich.2 Die Amerikaner waren zumindest anfangs am unerbittlichsten, was die Säuberung anging. Sie griffen vor allem auf Richter zurück, die schon 1933 pensioniert worden waren, was allerdings dazu führte, dass die Justizverwaltung in der amerikanischen Zone in weiten Teilen einem Seniorenheim glich. 70 - und 80 - jährige Amtsrichter waren keine Seltenheit, wie ein amerikanischer Rechtsoffizier feststellte. Einen der Amtsinhaber beschrieb er als „totteringly senile, but nice“.3 Die strenge amerikanische Entnazifizierungspolitik stieß allerdings an ihre Grenzen, als kaum mehr unbelastete Staatsanwälte und Richter gefunden werden konnten, gleichzeitig aber eine Vielzahl von Fällen abgeurteilt werden sollte. Die britische und die französische Militärregierung waren hier 1 2

3

Stephen Spender, Deutschland in Ruinen. Ein Bericht, Frankfurt a. M. 1998, S. 184 (ursprünglich : European Witness, London 1946). Da die Überlieferung bei deutschen Behörden wie Länderjustizministerien, Oberlandesgerichten und Generalstaatsanwaltschaften für die Besatzungszeit sehr schlecht ist, wird im vorliegenden Aufsatz vor allem auf den einschlägigen Aktenbestand der westlichen Alliierten zurückgegriffen : National Archives and Records Administration (NARA ), RG 260, OMGUS Records of the Administration of Justice Branch, OMGBR, OMGBY, OMGH und OMGWB für die Länder; The National Archives ( TNA ), Foreign Office (FO ) 1060, Legal Division und Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche ( AOFAA ), Affaires Judiciaires ( AJ ), Division de la Justice. Inspektion AG Neukirchen vom 16. 9. 1947 ( NARA, OMGH 17/209 – 1/2).

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NS-Prozesse und Öffentlichkeit

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deutlich weniger restriktiv. Die Briten beschränkten sich darauf, zuverlässige Personen in die Schlüsselpositionen zu befördern – zu Präsidenten der Oberlandesgerichte, Generalstaatsanwälten und in die Justizministerien. Die französische Besatzungsmacht besaß – vielleicht vor dem Hintergrund der Erfahrung instabiler politischer Systeme und der Existenz einer faschistischen Bewegung in Frankreich, der sich auch namhafte Intellektuelle angeschlossen hatten – von Anfang an weniger Hemmungen, frühere NSDAP - Mitglieder wieder zum deutschen Justizdienst zuzulassen. Vielleicht war es aber auch schlichter Pragmatismus : um den Preis eines funktionierenden Rechtswesen wurden belastete Juristen akzeptiert. Der Directeur Général de la Justice in der französischen Besatzungszone, Charles Furby, sagte : „Il faut une dizaine d’années pour faire un juge.“4 Soviel Zeit hatten die Alliierten schlicht und einfach nicht. Mehrfach sammelten die Franzosen auch das Personal auf, das die Amerikaner verschmäht hatten. Das neu gegründete Landgericht Lindau in der französischen Zone wurde mit Justizbeamten besetzt, die die Amerikaner am Landgericht Kempten entfernt hatten, was diese wiederum echauffierte. Zeitgenössische französische und amerikanische Untersuchungen ergaben, dass die am stärksten mit einer NSDAP - Mitgliedschaft belasteten Justizjuristen nicht die Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte, sondern die Notare waren. Die von den Franzosen und Briten praktizierte liberalere Personalpolitik wurde konterkariert durch die stärkere Kontrolle der eigentlichen Rechtsprechung. Britische und insbesondere französische Eingriffe in laufende deutsche Verfahren waren deutlich häufiger als in der amerikanischen Besatzungszone. Erst nach der Entnazifizierung konnten die höheren Justizbeamten auf eine vorläufige Wiederzulassung hoffen. Auch Juristen füllten die Fragebögen nicht stets wahrheitsgemäß aus, verschwiegen ihre NSDAP - Mitgliedschaften entweder ganz oder datierten den Eintrittszeitpunkt später. Mit Entsetzen dürften viele Juristen von der Auffindung von Personalakten des Reichsjustizministeriums durch amerikanische Truppen in Kassel erfahren haben, die die Überprüfung ihrer eigenen Angaben in den Fragebögen ermöglichte. Hinzu kam die Auffindung der NSDAP - Mitgliederkartei ebenfalls in der amerikanischen Zone. In der Folge wurden höhere Justizangehörige durch alliierte Militärgerichte und später deutsche Gerichte wegen Fragebogenfälschung verurteilt. Ironisch kommentierte ein amerikanischer Rechtsoffizier : „The wrath of the Berlin Document Center is continuing to hit right and left also in the Administration of Justice.“5 Gleichwohl wurden nicht alle falschen Angaben entdeckt : So räumte ein junger Freiburger Rechtsanwalt in seinem Fragebogen 1948 zwar seinen Dienstrang als „Marine - Stabsrichter“ ein, hielt es aber dann doch für tunlich, eine Tätigkeit bei Sondergerichten, Standgerichten und Kriegsgerichten kategorisch

4 5

Presseerklärung Charles Furby vom 4. 3. 1947 ( AOFAA, AJ 805, p. 605, Dossier 17). Tätigkeitsbericht der Rechtsabteilung der amerikanischen Militärregierung für Hessen vom 8. 10. 1948 ( NARA, OMGH 17/209 – 1/2).

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zu verneinen, um seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nicht zu gefährden : Dr. Hans Filbinger. 6 Die westlichen Alliierten sahen sich einerseits nach der Willkürjustiz des Dritten Reichs zur Kontrolle der Justizbehörden gezwungen, wollten aber andererseits zum Aufbau einer stabilen Demokratie und eines funktionierenden deutschen Rechtswesens die Unabhängigkeit der Justiz respektieren. Die Herausforderung hätte größer nicht sein können, denn abgesehen von der anstehenden Ahndung der NS - Verbrechen sollte eine überbordende Nachkriegskriminalität die alliierte und deutsche Justiz beschäftigen. Dazu kamen zahlreiche unbearbeitete Zivilsachen aus der Kriegszeit ebenso wie neu anfallende Angelegenheiten, z. B. die Scheidungen von Kriegsehen oder die Todeserklärungen Vermisster. Bei jeder westlichen Militärregierung bestand eine Rechtsabteilung ( Legal Division bzw. Division de la Justice ) und bei jeder dieser Rechtsabteilungen gab es ein Referat, das sich nur mit der deutschen Justiz befasste : bei den Amerikanern German Courts Branch, bei den Briten German Courts Inspectorate, bei den Franzosen Contrôle de la Justice Allemande genannt. Die Rechtsoffiziere dieser Referate überprüften Fragebogen von Staatsanwälten und Richtern, berieten mit den Justizministerien der Länder über Stellenbesetzungen, übermittelten Befehle der Militärregierung und führten Inspektionsreisen zu Staatsanwaltschaften und Gerichten durch, wo sie sich Akten und Register zeigen ließen oder auch Hauptverhandlungen besuchten. Ihre Eindrücke legten die Angehörigen der Rechtsabteilung in teils detaillierten Berichten nieder, die es ermöglichen, die Ausgangssituation der deutschen Justiz zu skizzieren. Neben Statistiken, Notizen von Pressekonferenzen, Protokollen von Besprechungen mit OLG - Präsidenten oder Generalstaatsanwälten sind auch Beobachtungen aus Prozessen zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen enthalten. Diese Reportagen sind spannende Momentaufnahmen der Situation in den Amts - , Land - und Oberlandesgerichten vor Ort, die auf vielen verschiedenen Ebenen genutzt werden können, sei es zur Rekonstruktion der Justizverwaltung, sei es als Dokumente interkultureller Kommunikation.

2.

Die Ahndung von NS - Verbrechen durch die westdeutsche Justiz in der Besatzungszeit

Das Internationale Militärtribunal in Nürnberg und die Militärgerichte der Besatzungsmächte verhandelten vor allem die völkerrechtlich relevanten Straftaten, die von Deutschen an alliierten Opfern begangen worden waren, also insbesondere während des Krieges. Damit wurde zunächst zwar der größere, aber eben doch nur ein Teil der NS - Verbrechen geahndet. Für die kriminellen Handlungen, die von Deutschen an anderen Deutschen bzw. Staatenlosen verübt worden waren, sollten deutsche Gerichte zuständig sein. 6

Fragebogen vom 9. 1. 1948 ( AOFAA, AJ 3681, p. 37, Dossier Hans Filbinger ).

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So erhob bereits am 5. September 1945 die Staatsanwaltschaft Limburg Anklage gegen sechs Personen wegen Landfriedensbruchs und Freiheitsberaubung während der Pogromnacht in Villmar in Hessen. Schon am 12. September 1945 erging das Urteil gegen die Täter vor dem Amtsgericht Weilburg. Den Angeklagten wurde „moralische Ver wahrlosung“ vorgeworfen. „Es mag auch sein, dass sie, wie die meisten Deutschen, unter dem Einfluss einer jahrelangen Propaganda an moralischer Urteilsfähigkeit eingebüßt hatten, so dass ihr Blick für die Ver werf lichkeit des Vorgangs getrübt war. Es ist bekannt, dass der November 1938 der Beginn von Untaten war, die ohnegleichen in der Geschichte sind und für die es überhaupt keine menschliche Sühne gibt. Jedoch geschähe den Angeklagten Unrecht, wenn man ihr Tun unter dem Eindruck dieser späteren Missetaten beurteilen würde, wie schwer es auch heute ist, sich einer solchen Beurteilung zu enthalten.“7 Am 20. Dezember 1945 erließ der Alliierte Kontrollrat das Gesetz Nr. 10, in dem u. a. der Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit festgelegt war. Ziel war es, eine „einheitliche Rechtsgrundlage“ zu schaffen, die die „Strafverfolgung von Kriegsverbrechern und anderen Missetätern dieser Art“ ermöglichen sollte. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 gab den Alliierten auch die Möglichkeit, deutsche Gerichte für bestimmte Verbrechen für zuständig zu erklären. Entsprechende Ermächtigungen sprachen Briten und Franzosen kurz darauf aus. Insbesondere Denunziationen, die durch herkömmliche deutsche Gesetze nicht zu fassen waren, wurden so geahndet. Allerdings quälten sich die deutschen Juristen in der britischen und französischen Zone mit der Füllung der vagen Kategorien des KRG Nr. 10 wie „Ausrottung“ oder „Versklavung“, die im deutschen Strafrecht keine Entsprechung hatten. In der Folge behalfen sich Richter meist damit, dass sie sowohl nach deutschem als auch nach alliiertem Recht Urteile fällten ( Idealkonkurrenz ). Die amerikanische Militärregierung beschloss hingegen, den deutschen Strafkammern in ihrer Zone keine Erlaubnis zur Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 zu geben. Sie verwendete es lediglich im völkerrechtlichen Kontext vor ihren eigenen Militärgerichten. Die deutschen Gerichte in der amerikanischen Besatzungszone urteilten dagegen nur nach dem Strafgesetzbuch. Denunziationen mussten entweder mit existierenden Straftatbeständen wie mittelbare Freiheitsberaubung oder falsche Anschuldigung abgehandelt werden oder wurden an die Spruchkammern verwiesen. Eine Ausnahme stellte der – nicht zur amerikanischen Zone gehörige – amerikanische Sektor Berlins dar, wo das Kontrollratsgesetz Nr. 10 Verwendung fand. Die Briten hatten über mehrere Monate hinweg versucht, die Amerikaner dazu zu bewegen, den deutschen Gerichten die Anwendung des Kontrollratsgesetzes zu erlauben bzw. eine Verordnung analog der britischen Verordnung Nr. 47 für die eigene Zone zu erlassen. Anfänglich waren die Briten dabei durch7

Limburg 2 Js 641/45 = AG Weilburg DLs 3–8/45 = Limburg 5 KLs 2/52 ( HStA Wiesbaden, Abt. 463, Nr. 1201).

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aus optimistisch gewesen, doch die Amerikaner zeigten sich zurückhaltend. Der Chef der britischen Rechtsabteilung tat daraufhin seinem amerikanischen Kollegen kund, die deutsche Justizverwaltung in der britischen Zone sei besorgt, weil es keine ähnliche Ermächtigung für die deutschen Gerichte in der amerikanischen Zone gegeben habe : „The German legal profession in this Zone has for some time been seriously concerned because there has been no similar delegation to German courts in your Zone and since March of this year we have been trying, without much success, to persuade OMGUS Legal Division to adopt our policy on this question.“8 Ungewohnt skrupellos empfahlen die Briten sogar, hierbei die Standpunkte der deutschen Ressortchefs in der amerikanischen Zone zu ignorieren („regardless of the views of the Land Ministers of Justice“).9 Der Vizepräsident und spätere Präsident des OLG Hamburg, Dr. Herbert Ruscheweyh, wies andernorts darauf hin, dass nach der Aufteilung des deutschen Staates in Besatzungszonen Recht und Sprache die letzten Klammern seien, die die deutsche Nation zusammenhielten.10 Mit der Anwendung unterschiedlicher Rechtsnormen drohe nun auch noch die Rechtseinheit zu zerbrechen. Enttäuscht stellten die Briten schließlich fest, dass alle Vorstöße bei den Amerikanern erfolglos blieben : „Our efforts have been in vain and the American Legal Division will not agree to promulgate legislation or to issue a general authority to the German Courts to try these crimes.“11 Zuvor hatten die Amerikaner die Briten knapp – und nicht wahrheitsgemäß – beschieden, die deutschen Gerichte in der amerikanischen Zone hätten noch keinen Bedarf an einer selbstständigen Anwendung des Kontrollratsgesetzes angemeldet : „Germans have not yet made any request for authority to try any cases under Law No. 10.“12 Tatsächlich hatte es in den deutschen Justizministerien in der amerikanischen Zone Überlegungen gegeben, bei denen auch die Forderung nach der Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 in Einzelfällen durch deutsche Gerichte erwogen worden war. Dessen allgemeine und uneingeschränkte Verwendung lehnten die Justizminister der Länder in der amerikanischen Zone allerdings ab : „In principle a general and unlimited application of this law cannot be recommended because of the experiences in other Zones. The reason of this recommendation lies not only in the difficult and doubtful legal and politi8 J. F. W. Rathbone, Ministry of Justice Branch, Legal Division, ZECO, Herford, an David I. Lippert, Judge Advocate Division, HQ EUCOM, vom 11. 8. 1948 ( TNA, FO 1060/148). 9 J. F. W. Rathbone, Ministry of Justice Branch, Legal Division, ZECO, Herford, an HQ Legal Division, Berlin vom 11. 3. 1948 ( TNA, FO 1060/924). 10 Rede Herbert Ruscheweyhs im deutschen Presseclub in Hamburg am 13. 3. 1947 ( TNA, FO 1060/1075). 11 Zonal Office of the Legal Adviser, Herford, an British Liaison Officer, ZJA, vom 6. 9. 1948 ( TNA, FO 1060/148). 12 John M. Raymond, OMGUS, an Office of the Legal Adviser vom 24. 8. 1948 ( TNA, FO 1060/148).

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cal principles involved in Law No. 10, but also in its contravention of the democratic principle of ‚nulla poena, nullum crimen sine lege‘.“13 Gleichwohl wurde überlegt, dass die Länderregierungen den Länderrat ersuchen sollten, die Militärregierung um die Anwendungsmöglichkeit des Kontrollratsgesetzes in Einzelfällen zu bitten, etwa bei Denunziationen mit Todesfolge. Gewünscht wurde ausdrücklich keine generelle Zulassung, sondern eine auf konkrete Fälle begrenzte Einzelerlaubnis, die die Justizverwaltung bei der Militärregierung beantragen wollte. Das wichtigste Argument der Amerikaner gegenüber den Briten bezüglich der Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch deutsche Gerichte war in zweierlei Hinsicht die Zeit. Erstens hatten die Amerikaner deutschen Gerichten in ihrer Zone bereits ab Herbst 1945 ermöglicht, NS - Straftaten nach deutschem Recht abzuurteilen. Die Einführung einer neuen Rechtsnorm in die bereits laufende Ahndung von NS - Verbrechen schien ihnen wohl nicht sinnvoll. Zweitens standen sowohl Amerikaner als auch Briten 1948 vor der Abwicklung ihrer eigenen Kriegsverbrecherprozesse. Die amerikanische Legal Division erklärte, die Militärregierungsprozesse sowohl der Amerikaner als auch der Briten würden schließlich gerade beendet : „Our war crimes program and, we understand, your war crimes program, are drawing to a close.“14 Angesichts dieser Situation erschien es der amerikanischen Seite unsinnig, den Deutschen ein Gesetz anzuvertrauen, das explizit auf die Bearbeitung von Kriegs - und NS - Verbrechen zugeschnitten war, als das Ende der amerikanischen und britischen Kriegsverbrecherprozesse unmittelbar bevorstand und ein Ende der deutschen Verfahren ebenfalls immer wieder avisiert wurde. Auch die oben skizzierte Trennlinie – „alliierte Opfer : alliierte Verfahren“, „deutsche ( oder staatenlose ) Opfer : deutsche Verfahren“ – war in der Praxis keineswegs problemlos anwendbar, wie die Briten bei der Vorbereitung eines geplanten Musterprozesses zum Ghetto Riga schmerzlich erfuhren. Die britische Rechtsabteilung zog bei ihrer Rechtsberatungseinheit Erkundigungen ein, ob der Fall vor einem Gericht der Kontrollkommission oder vor einem deutschen Gericht zu verhandeln sei. Diese gab zu bedenken, dass die Opfer der Massaker in der Umgebung des Ghettos Riga aus vier Nationen stammten; es handelte sich um deutsche Juden, die aus dem Reich nach Lettland deportiert worden waren, sowie um lettische, russische und polnische Juden. Endgültig unwohl wäre den Briten geworden, hätten sie sich bewusst gemacht, dass zu den aus dem Deutschen Reich einschließlich dem Protektorat Böhmen und Mähren verschleppten Juden natürlich auch österreichische und tschechische Staatsangehörige zählten. Um ein Verfahren vor einem Gericht der britischen Militärregierung zu initiieren, war der Beweis nötig, dass die Opfer Alliierte gewesen waren. Da die britische Regierung die Einverleibung des baltischen Staates als 13 Resolution der Justizminister der amerikanischen Zone vom 13. 2. 1948 ( TNA, FO 1060/924). 14 John M. Raymond, OMGUS, an Office of the Legal Adviser vom 24. 8. 1948 ( TNA, FO 1060/148).

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lettische Sowjetrepublik in das Staatsgebiet der UdSSR nicht anerkannt hatte, würden nur die russischen und polnischen Opfer als Angehörige der alliierten Nationen eingestuft werden können. Für die deutschen Opfer wäre ein deutsches Gericht zuständig. Die lettischen Opfer würden als Staatenlose betrachtet und die Ahndung des Mordes an ihnen könnte dadurch ebenfalls vor einem deutschen Gericht stattfinden.15 Die War Crimes Group – die zentrale Koordinierungsstelle für die Ahndung von Kriegsverbrechen –empfahl jedoch wegen der diffizilen Situation einen Prozess vor einem Control Commission Court, bei dem die Briten auch die Morde an deutschen und lettischen ( staatenlosen ) Opfern bearbeiten sollten. Zu dem Gerichtsverfahren sollte es aber nicht mehr kommen, ein Politikwechsel brachte das endgültige Aus für einen britischen Riga- Prozess. Im Oktober 1948 ordnete der Director of Prosecution of War Crimes Group im Foreign Office an, dass keine Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit mehr von Gerichten der Kontrollkommission angenommen werden sollten. Am 27. Mai 1949 übertrugen die Briten die weiteren Ermittlungen den deutschen Strafverfolgungsbehörden in Hamburg, wo der Prozess gegen vier Angeklagte Ende 1951 stattfand.16 Die unterschiedliche Handhabung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch die westlichen Alliierten führte zu großen Diskrepanzen in der Strafverfolgung und Rechtsprechung zwischen den Zonen. Da es außer dem Obersten Gerichtshof für die britische Zone keine höheren Instanzen als die Oberlandesgerichte gab, blieben viele juristische Probleme während der Besatzungszeit ungeklärt und konnten erst durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in den 50er Jahren gelöst werden. Die Anwendung des Kontrollratsgesetzes war Anlass zahlreicher innerdeutscher juristischer Kontroversen. Kurz gesagt : War es wichtiger, Unrecht zu sühnen, das im bisherigen Strafrecht nicht oder nur unzureichend erfasst worden war, oder galt ein absolutes Rückwirkungsverbot ? Die strafrechtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus stellte die Justiz vor bislang unbekannte Fragen. Konnte die Beteiligung am Völkermord unter den gleichen Voraussetzungen abgeurteilt werden wie Mord an einer einzelnen Person ? Oder war dies nicht doch ein Verbrechen einer neuen Dimension, das die Alliierten folgerichtig als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ charakterisiert hatten ? Anders gefragt : Konnte das Unrecht des Dritten Reiches mit den herkömmlichen Mitteln des Rechtsstaates geahndet werden ? Deutsche Juristen kritisierten die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 wegen des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot. Gleichzeitig wurden aber vehemente Forderungen innerhalb der deutschen Bevölkerung zur Verwendung des Kontrollratsgesetzes erhoben. So konstatierten beispielsweise die Briten : „Meanwhile a section of the German press

15 War Crimes Group ( North West Europe ) an Deputy Chief, Legal Division, ZECO, CCG ( BE ), Herford, vom 2. 4. 1948 ( TNA, FO 1060/199). 16 Hamburg 14 Js 210/49 = Hamburg (50) 14/51 = Hamburg 14 Ks 1007/51 ( StA Hamburg ).

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demands ever more vehemently the trial and punishment of persons accused of denunciations of a political character.“17 Nach der Denunziation und dem Mord an der Schwanenkirchener Hauptlehrerin Amalie Nothaft am 27. April 1945 schrieb ihre Schwester Maria Nothaft im September 1947 an einen Rechtsoffizier der amerikanischen Legal Division, ihr sei vom Generalstaatsanwalt in München die Durchführung des Prozesses gegen die Mörder nun für Oktober 1947 angekündigt worden. Aber : „Weiter hörte ich, dass wohl der Nazibürgermeister D. und der von ihm hier aufgestellte Gestapo - Spion G. mitangeklagt sind, für sie aber die Möglichkeit eines Freispruches nicht ganz ausgeschlossen ist, da das Gesetz Nr. 10, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hier in Bayern noch nicht gültig ist. Aus diesem Grunde können auch die Denunzianten H. und H. nicht gerichtlich gefasst werden. D., G. und H. und H. aber sind die ersten Hauptschuldigen, denn sie haben meine Schwester den Henkern überliefert, bewusst und gewollt, denn damals war sich jeder darüber klar, dass die gemachten Aussagen das Todesurteil bedeuten. Soll das Verbrechen dieser indirekten Mörder nur mit einer geringen Strafe, wie sie eine Spruchkammer nur fällen kann, gesühnt werden ? Durch ihre Schuld musste meine Schwester sterben, tragen wir zeitlebens das namenlose Leid ! Sie, verehrter Herr Doktor [ Weigert ], gaben mir mit Ihrem Wort die Versicherung, dass alle an dem furchtbaren Verbrechen Beteiligten auf das schwerste gestraft würden. Ich vertraue auf Ihr Wort, dass uns Gerechtigkeit wird – wie sehnsüchtig hat darum auch meine Schwester auf den Einmarsch der Amerikaner gewartet – und komme darum mit der Bitte : ist es nicht möglich, fragliches Gesetz Nr. 10 auch für Bayern als maßgebend zuzulassen, so dass auch wirklich alle Schuldigen gerichtlich erfasst werden können ? Nachdem gerade bei uns in Bayern viele ähnliche Verbrechen von den Nazis und ihren Helfershelfern, den Denunzianten, begangen wurden, wären nicht nur ich, sondern mit mir noch viele andere für die Zulassung dieses Gesetzes von Herzen dankbar.“18 In den meisten Fällen waren Anzeigen die Auslöser der Verfahren. Überlebende von Deportationen oder ehemalige Häftlinge aus Konzentrationslagern, Opfer von Denunziationen oder Angehörige von Hingerichteten wandten sich an die Staatsanwaltschaften. Überdies wiesen die Generalstaatsanwälte die untergeordneten Strafverfolgungsbehörden an, Nachforschungen zu NS - Verbrechen anzustellen. Die überlieferten Register der Sondergerichtsverfahren waren hierbei wichtige Quellen : Die etwa in Heimtückeverfahren aufgetretenen Belastungszeugen standen nun als Beschuldigte in Denunziationsverfahren vor Gericht. Auch Verfahren, die 1933/1934 auf Weisungen von Generalstaatsanwälten und Justizministerien niedergeschlagen worden waren, wurden wieder aufgegriffen. Wegen des alliierten Vorbehalts gegenüber vielen Verbrechenskomplexen waren die Ermittlungen vielfach auf die Verbrechen vor Ort beschränkt, umfang17 Memorandum „Crimes Against Humanity“, 14. 8. 1947 ( TNA, FO 1060/1075). 18 Maria Nothaft an Hans Weigert vom 6. 9. 1947 ( NARA, OMGUS 17/217 – 1/15).

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reiche ( und kostspielige ) Rechtshilfeersuchen ins Ausland wären zu diesem Zeitpunkt unmöglich gewesen. Hinzu kam, dass zahlreiche Beschuldigte vermisst, verstorben oder auch unter falschem Namen im In - und Ausland untergetaucht waren. Etwa 95 Prozent der Verfahren im Zeitraum 1945 bis 1949 betrafen daher Straftaten innerhalb des Reiches.19 Eine zahlenmäßige Auswertung der NSG - Verfahren anhand eines Datenbankprojekts zu den westdeutschen NSG - Verfahren20 ergab, dass 70 Prozent aller Verurteilungen in NSG - Verfahren in den Zeitraum von 1945 bis 1949 fallen.21 Schon 1945 wurden 382 Verfahren eingeleitet, 120 Anklagen erhoben und 25 Urteile gefällt. 1946 stieg die Zahl der eingeleiteten Verfahren auf 2 023 und 1947 wurden 4135 Ermittlungen aufgenommen. Dabei kam es 1946 zu 257 Verurteilungen und 94 Freisprüchen und 1947 zu genau 900 Verurteilungen und 554 Freisprüchen. Das Jahr mit den meisten Urteilen stellt dabei das Jahr 1948 dar : 4160 eingeleitete Verfahren, 5 362 erhobene Anklagen und 2 011 Verurteilungen, außerdem 1627 Freisprüche und 137 Verfahrenseinstellungen. Ab 1949 (3 346 eingeleitete Verfahren, 3 975 Anklagen, 1474 Verurteilungen, 1426 Freisprüche und 326 Einstellungen ) gingen die Zahlen stetig bergab.22 Die behandelten Delikte betrafen in der Besatzungszeit vor allem Verbrechen an politischen Gegnern, Denunziationen, Taten in Zusammenhang mit den Novemberpogromen sowie Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Eine fundierte Analyse der Pressereaktionen auf Tausende von Prozessen ist nicht möglich. Hinzu kommt, dass die Vielfalt der Zeitungen, die von den westlichen Alliierten lizenziert ( und anfänglich zensiert ) wurden, immens war. Allein in Bayern erschienen 1946 bereits folgende Blätter : die „Süddeutsche Zeitung“ ( München ), der „Hochland - Bote“ ( Garmisch ), die „Nürnberger Nachrichten“ ( Zirndorf ), die „Frankenpost“ ( Hof ), die „Mittelbayerische Zeitung“ ( Regensburg ), das „Oberbayerische Volksblatt“ ( Rosenheim ), die „Schwäbische Landeszeitung“ ( Augsburg ), die „Main - Post“ ( Würzburg ), das „Main - Echo“ ( Aschaffenburg ), der „Donau - Kurier“ ( Ingolstadt ), die „Fränkische Presse“ ( Bayreuth), der „Allgäuer“ ( Kempten ), der „Fränkische Tag“ ( Bamberg ), die „Isar - Post“ (Landshut ), die „Neue Presse“ ( Coburg ), die „Passauer Neue Presse“, die „Fränkische Landeszeitung“ ( Ansbach ), der „Südost - Kurier“ ( Bad Reichenhall ) und der „Neue Tag“ ( Weiden ). Über die Jahre wuchs die Zahl der Zeitungen weiter, hinzu kamen die Nachrichtensendungen des Rundfunks. Gleichzeitig waren Zeitungsumfang und Publikationsfrequenz nicht zuletzt wegen der Papierrationierungen gering, so dass viele Blätter nur zwei bis dreimal wöchentlich erschie19 Vgl. Andreas Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen seit 1945. Eine Zahlenbilanz In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 56 (2008), S. 621–640, hier 629. 20 Die Verfolgung von NS - Verbrechen durch deutsche Justizbehörden seit 1945. Datenbank aller Strafverfahren und Inventar der Verfahrensakten. Bearb. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin von Andreas Eichmüller und Edith Raim, München 2008 ( abgekürzt : NSG - Datenbank ). 21 Eichmüller, Strafverfolgung, S. 635. 22 Ebd., S. 626.

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nen und das auch nur in einem Umfang von zwei bis vier Seiten. Aus Platzmangel musste meistens auf eine umfangreiche Kommentierung und Analyse der Prozesse verzichtet werden, so dass oft nur Tatumstände, Angeklagte und Urteil Erwähnung finden. Die meisten der Verfahren waren von örtlich beschränkter Wirkungsmacht : Delikte wie Denunziationen, Misshandlungen der politischen Gegner, Zerstörungen von Synagogen wie auch Wohnungen und Geschäfte von Juden hatten sich an so vielen Orten im Reich ereignet und hatten so stark den Alltag der Willkürherrschaft geprägt, dass sie kein überregionales mediales Interesse generierten. Die Angeklagten – bei einigen Prozessen ein Dutzend und mehr Personen – waren nur selten über die Ortsgrenzen hinaus bekannt. So berichteten zwar die Lokalzeitungen über die Prozesse, eine überregionale oder gar deutschlandweite Berichterstattung und Kommentierung gab es hingegen kaum. Überdies existierten wichtige meinungsbildende überregionale Zeitungen und Zeitschriften, die für diesen Untersuchungsgegenstand herangezogen werden könnten, noch nicht : Der „Spiegel“ erschien ab Anfang 1947, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gar erst ab November 1949. Deutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren dagegen die alliierten Militärgerichtsprozesse oder auch die Spruchkammer verfahren, in denen oft prominente Personen vor Gericht standen. Bei den deutschen Gerichten stießen nur einige wenige Fälle auf ein überregionales Interesse. Dazu zählt z. B. der Prozess gegen die Denunziantin Carl Goerdelers, Helene Schwärzel.23 Sie wurde von der Presse mehr oder weniger einhellig als Hysterikerin von sehr geringer Intelligenz beschrieben. Schon der Prozess gegen ihre Mittäter, der 1948 in Lübeck stattfand, fand nur geringe Resonanz in der Öffentlichkeit.24 Das Verfahren25 gegen den Regisseur Veit Harlan in Hamburg war ebenfalls ein frühes Medienereignis.26 Ihm wurde Beihilfe zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Film „Jud Süß“ vorgeworfen, nachdem er von der Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ) angezeigt worden war. Zwischen 1940 und 1945 hatten den Film 19 Millionen Menschen gesehen. Zu einer Ver23 Berlin 11 Js 1768/46 = 11 Ks 48/46 ( IfZ, NSG - Datenbank ); Berichterstattung u. a. in : Berliner Zeitung vom 13. 11. 1946 und 18. 5. 1947; Der Sozialdemokrat vom 15. 11. 1946; Telegraf vom 15. 11. 1946; Kurier vom 15 11. 1946 und 1. 11. 1947; Tägliche Rundschau vom 15. 11. 1946; Neue Zeit vom 14. 11. 1946; Tagesspiegel vom 13., 15. und 16. 11. 1946, 18. 5. 1947, 31.10., 1. und 2. 11. 1947, 12. 8. 1948; Neues Deutschland vom 27. 9. 1947; Der Morgen vom 14. 11. 1946, 15. 11. 1946, 17. 4. 1947, 21. und 31. 10. 1947, 1. und 2. 11. 1947, 21. 4. 1948. 24 Lübeck 4a Js 36/47 = 4a KLs 7/47 ( LA Schleswig - Holstein, Abt. 352 Lübeck, Nr. 523, Bände 1–7); Berichterstattung beispielsweise in : Die Welt vom 6. 12. 1948. 25 Hamburg 1 Js 4/48 = 14 Ks 8/49 ( StA Hamburg, Bestand 213–11, Nr. 21249/50, Bände 1–6). 26 Berichterstattung in : Die Welt vom 22. und 31. 1. 1948; Hamburger Echo vom 23. und 27. 1. 1948, Hamburger Volkszeitung vom 24. und 31. 1. 1948, 9. 8. 1948; Hamburger Abendblatt vom 15., 18., 20., 24. und 25. 4. 1950 sowie vom 2. 5. 1950.

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urteilung nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 kam es nicht, weil laut Urteil nicht nachweisbar war, dass der Film „Jud Süß“ unmenschliche Folgen gehabt habe. Eine Verleumdung ( § 187 StGB ) sah das Gericht ebenfalls nicht als gegeben an, weil der Film nur ein abfälliges Werturteil, nicht aber eine beweisbare Tatsachenbehauptung darstelle. Während der Urteilsverkündung kam es zu Unruhen; der Hamburger Bürgermeister Max Brauer erklärte gegenüber der Presse, die vermeintlichen antisemitischen Beschimpfungen würden auf das Konto der KPD in Hamburg gehen. Dass die Filmvorführungen von „Jud Süß“ im Dritten Reich so folgenlos geblieben waren, wie es das Hamburger Urteil annahm, entsprach nicht den Tatsachen. In Buchau in Württemberg etwa war es am 16./17. November 1940 nach der Filmvorführung zu Ausschreitungen gegen die ortsansässigen Juden gekommen. Ein Mob hatte Fensterscheiben eingeworfen und einen Galgen mit einer überlebensgroßen Puppe, die einen Juden darstellen sollte, aufgestellt.27 Aufsehenerregend waren auch die Prozesse zu „Euthanasie“ - Verbrechen in den Heil - und Pflegestätten Hadamar und Grafeneck sowie zu Tötungen in den Anstalten Meseritz - Obrawalde, Eichberg, Idstein, Eglfing - Haar, Andernach, Scheuern oder Kaufbeuren - Irsee, um nur einige zu nennen. Hier ergingen auch Todesstrafen, die teils vollstreckt wurden. Auch Prozesse gegen Gestapo - Angehörige durften auf ein gewisses öffentliches Interesse zählen. Weniger bekannt ist, dass neben den oben erwähnten Themenkomplexen auch Straftaten der Massenvernichtung verhandelt wurden, die bis heute unser Bild von NS - Verbrechen prägen, tatsächlich aber weder in der damaligen Wahrnehmung noch in der heutigen Rezeption eine große Rolle spielten : Prozesse zu Misshandlungen im KZ Riga - Kaiserwald und seinen Außenlagern28, Tötungsverbrechen im Ghetto Minsk29, Massenerschießungen in Ponary bei Wilna30 oder in Tarnopol31 und Umgebung32 oder die Beteiligung an Deportationen in das Vernichtungslager Belzec.33 Diverse Prozesse betrafen auch Misshandlungen und Tötungen von Juden in Zwangsarbeitslagern.34 Ermittlungen zu den Morden in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor nahmen die Staatsanwaltschaften erst 1948 auf, schließlich kam es 1950/1951 zu insgesamt drei

27 Ravensburg Js 4470–78/46 = KLs 153–155/47 ( StA Sigmaringen, Wü 29/1 Nr. 7019). 28 Köln 24 Js 34/47 = 24 KMs 10/48 ( HStA Düsseldorf – Zweigarchiv Schloß Kalkum, Gerichte Rep. 231/146; Bonn 6 Js 237/48 = 6 KLs 7/48 ( ebd., Gerichte Rep. 145/468). 29 Karlsruhe 1 Js 24/48 = 3a KLs 2/49 ( IfZ, NSG - Datenbank ). 30 Würzburg 1 Js 80/49 = Ks 15/49 ( ebd.). 31 Traunstein 2 Js 125/48 = Ks 8/49 ( ebd.; Akten vermutlich vernichtet ). 32 München I 1 Js 609/48 = 1 KLs 64/48 ( StA München, Staatsanwaltschaften 19025). 33 München I 1c Js 761/48 = 1 Ks 15/49 ( ebd., Staatsanwaltschaften 17425). 34 Amberg 5 Js 10405/48 = KLs 29/49 ( IfZ, NSG - Datenbank ); Augsburg 4 Js 347/48 = 4 KLs 37/48; Augsburg 4 Js 325/48 = Ks 6/49 ( StA Augsburg ); Kiel 2 Js 739/48 = Kiel 2 Ks 2/50 ( LA Schleswig - Holstein, Abt. 352 Kiel; Nr. 2694); Kassel 2a Js 146/48 = 3 Ks 16/48 ( IfZ, NSG - Datenbank ).

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Prozessen35, was angesichts der Gesamtzahl deutscher Prozesse zu den Vernichtungslagern eine durchaus beeindruckende Zahl darstellt. Drei der vier Angeklagten erhielten lebenslange Haftstrafen. Der Frankfurter Sobibor - Prozess war durch eine Anzeige in den USA auf den Weg gebracht worden : Der Überlebende Kurt M. Thomas hatte im März 1949 die deutschsprachige jüdische Emigrantenzeitschrift „Aufbau“ in New York auf das Vernichtungslager Sobibor aufmerksam gemacht, über Dr. Robert Kempner von der Special Projects Division des Office of Chief of Counsel for War Crimes in Nürnberg gelangte die Anzeige an die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main.36 Der erste westdeutsche Auschwitz - Prozess fand 1948 in Berlin statt. Der Angeklagte Bruno F., ein Kapo, war bereits im November 1947 angeklagt und schließlich am 1. März 1948 wegen fortgesetztem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden.37 Schon die „Berliner Zeitung“ schrieb : „Man hätte gewünscht, dass dieser erste KZ - Prozess vor einem deutschen Gericht in Berlin von der Öffentlichkeit gleich stark beachtet worden wäre wie gewisse andere Prozesse, die allerdings offenbar den Vorzug hatten, in ein anderes Milieu zu führen als in eine düsteres Konzentrationslager.“38 Immerhin wurde der Prozess von Zeitungen stark beachtet.39 Ein weiteres Urteil in Sachen Auschwitz erging 1949 in München. Der „Südost - Kurier“ notierte erstaunt den Prozess unter der Überschrift „Ein weiblicher Kapo“, die „Abendzeitung“ titelte „Ein weiblicher KZ - Kapo“. Die aus Cham stammende Philomena M. war Funktionshäftling in Auschwitz - Birkenau und Ravensbrück gewesen und wurde im Juli 1949 wegen gefährlicher Körperverletzung in sechs Fällen und vorsätzlicher leichter Körperverletzung zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.40 Vorausgegangen war eine Verurteilung durch die Spruchkammer Straubing zu zehn Jahren Arbeitslager am 7. August 1948. Gegen den Geschäftsführer Dr. Gerhard Peters der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung („Degesch“), die das Giftgas Zyklon B an das Vernichtungslager Auschwitz geliefert hatte, kam es im März 1949 zu einem ersten Urteil, das auf fünf Jahre Zuchthaus lautete. Nach mehreren Revisionen wurde

35 Frankfurt 53/6 Js 3942/48 = 53 Ks 1/50 ( HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 35253– 35257); Berlin 1 P Js 137/49 = 1 P Ks 3/50 ( IfZ, NSG - Datenbank ); Frankfurt 8 Js 1055/49 = 52 Ks 3/50 ( HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 36346/1–130). 36 Frankfurt 8 Js 1055/49 = 52 Ks 3/50 ( HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 36346/1). 37 Berlin 12 Js 195/46 = 1 P Ks 6/47 ( IfZ, NSG - Datenbank ). 38 Berliner Zeitung vom 2. 3. 1948. 39 Berichterstattung in : Tagesspiegel vom 2. 3. 1948 und 10. 8. 1948; Telegraf vom 2. 3. 1948; Der Sozialdemokrat vom 2. 3. 1948; auch in der Sowjetischen Besatzungszone berichtete die Presse ausführlich über das Verfahren, so etwa in : Neue Zeit vom 2. 3. 1948; Tägliche Rundschau vom 2. 3. 1948; Neues Deutschland vom 2. 3. 1948; Der Morgen vom 2. 3. 1948. 40 München I 1 Js 1565/48 = 1 Ks 5/49 ( StA München, Staatsanwaltschaften 17417); Berichterstattung in : Südost - Kurier vom 11. 7. 1949; Abendzeitung vom 9. 7. 1949.

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der Angeklagte 1955 allerdings freigesprochen.41 In Ansbach war 1948 ein Verfahren eingeleitet worden, das den früheren Lagerältesten des Auschwitzer Außenlagers Fürstengrube betraf : Ihm wurde gefährliche Körperverletzung und die Beteiligung an der Tötung jüdischer Häftlinge 1944 vorgeworfen. Der Angeklagte Hermann Joseph, nach 1945 Regierungsdirektor in Ansbach, war als „Halbjude“ 1940 aus der Wehrmacht entlassen worden. Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo Linz im Dezember 1942 wies diese ihn als politischen Häftling in das KZ Natzweiler - Struthof ein, von wo aus man ihn 1943 ins KZ Auschwitz überstellte. Im April 1944 wurde er Lagerältester im Außenlager Fürstengrube. Das Gericht warf ihm vor, den Fluchtplan eines aus Leipzig stammenden Juden an die SS verraten zu haben, was zur Erhängung von insgesamt acht jüdischen Häftlingen führte. 1953 erfolgte die Einstellung des Verfahrens gemäß Straffreiheitsgesetz. Laut Urteil handelte es sich bei den Häftlingen im Außenlager Fürstengrube um „schwer erziehbare polnische Juden, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, die keine Konzentrationslager erfahren hatten, denen der im Lager geübte deutsche Drill fremd, deren Begriff von Ordnung und Sauberkeit grundverschieden von dem westlicher Menschen war“. Der Angeklagte sei als Lagerältester für die Disziplin der „buntzusammengewürfelten Menschenmasse“ ( so im Urteil ) zuständig gewesen und habe sich für Verbesserungen in der Hygiene und der Krankenpflege eingesetzt, ebenso auf Sauberkeit und Ordnung geachtet, so dass sich im Lager keine Epidemien entwickelt hätten. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung habe der Angeklagte auch Häftlinge schlagen müssen.42 In Bochum wiederum wurden 1950 acht Personen – darunter ein früherer Lagerältester, ein Blockältester und ein Kapo – wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung im Auschwitzer Außenlager Jawischowitz zu Freiheitsstrafen bis zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.43 Dutzende von Ermittlungsverfahren zu Auschwitz wurden bereits in den späten 40er und frühen 50er Jahren eingeleitet, darunter auch eines in Hamburg gegen Robert Mulka – den späteren namensgebenden Hauptangeklagten im 1. Frankfurter Auschwitz - Prozess ( Strafsache Frankfurt 4 Js 444/59 = 4 Ks 2/63 gegen Robert Mulka44, 1963–1965).45 Gegen den im 3. Frankfurter AuschwitzProzess 196846 zu lebenslangem Zuchthaus Verurteilten ehemaligen Kapo Bern-

41 42

43 44 45 46

Frankfurt 4a Js 3/48 = 4 Ks 2/48 ( HStA Wiesbaden, Abt. 461 Nr. 36342/1–12 und Nr. 33395–33404). Ansbach 5 Js 211/48 = Nürnberg - Fürth Ks 11/49 = Ansbach 89/50 KMs 2/52 ( StA Nürnberg, Staatsanwaltschaft Ansbach 1315–1324; Generalstaatsanwalt beim OLG Nürnberg 245–246). Berichterstattung in : Süddeutsche Zeitung vom 18./19. und 24. 4. 1953; Münchner Merkur vom 21. 4. 1953. Bochum 2 Js 647/48 = 2 Ks 1/50 ( IfZ, NSG - Datenkbank ). Frankfurt 4 Js 444/59 = 4 Ks 2/63 ( HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 37638/1–450). Hamburg 14 Js 208/49 ( IfZ, NSG - Datenbank ). Frankfurt 4 Js 430/66 = 4 Ks 1/67 ( HStA Wiesbaden; noch ohne Signatur, im Magazin im Block 5310 unter Az.).

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hard Bonitz war in Berlin schon 1949 ein Verfahren wegen Verbrechen im Außenlager Fürstengrube anhängig gewesen.47 Ein weiteres frühes Ermittlungsverfahren betraf die Jüdin Elli J., die nach dem Ende einer gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung von einer ehemaligen SS - Aufseherin ( !) wegen angeblicher Beteiligung an Selektionen und Misshandlungen von Häftlingen in Auschwitz und dem Außenlager St. Georgenthal angezeigt wurde.48 Diese Ermittlungen sind vielfach bis heute selbst von Spezialisten nicht rezipiert worden. Hervorzuheben ist, dass die Prozesse der frühen Nachkriegszeit eine große Zuhörerschaft anzogen. Tatsächlich waren die Hauptverhandlungen zumeist bedeutende Ereignisse. Sie fanden – wegen der zerstörten oder auch von den Alliierten requirierten Gerichtssäle, aber auch wegen des großen Andrangs – vor Ort statt : Getagt wurde nicht mehr im Landgerichtsgebäude, sondern in Rathäusern und Turnhallen, Gasthäusern und Schulen. Die Botschaft war deutlich: Es galt, Täter und Zuschauer mit den Untaten vor Ort erneut zu konfrontieren. Dabei wohnten nicht selten mehrere Hundert Besucher den Gerichtsverhandlungen bei. So waren bei der Verhandlung des Pogroms von Laupheim und Buchau laut französischer Justizkontrolle etwa 300 Personen anwesend.49 Die französische Contrôle de la Justice war so an den Besucherandrang gewöhnt, dass sie sich verwundert zeigte, wenn weniger Publikum erschien. Nicht nur die Bevölkerung, auch die Angehörigen der Rechtsabteilungen der westlichen Militärregierungen kamen zu den Prozessen und kommentierten die Gerichtsverhandlungen in ihren Berichten. 1947 standen die Täter vor Gericht, die nach den „Wahlen“ zur Bestätigung des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich den Bischof von Rottenburg, der sich der Stimme enthalten hatte, im Frühjahr und Sommer 1938 wochenlang terrorisiert, das Bischofspalais zunächst belagert und schließlich gar gestürmt hatten, bis dieser von der Gestapo verhaftet und schließlich aus Württemberg - Hohenzollern ausgewiesen wurde. Die Hauptverhandlung fand in einem überfüllten Hörsaal der Universität Tübingen statt.50 Die französische Sûreté lobte die Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters, doch auf den Gängen des Gebäudes kritisierten einige Studenten, dass der Richter, der sich nun so für antinazistische Ideen stark mache, nicht den kleinen Finger gerührt habe, als die Nazis an der Macht gewesen seien, obwohl er selbst einen Posten in der Justizbeamtenschaft inne gehabt habe.51 Der französische Beobachter stellte fest, dass durchschnittlich 50 bis 150 Menschen aller Altersstufen im Hörsaal seien, darunter viele Frauen und ständige Gerichtsbesucher, häufig auch Studentinnen und Studenten, insbesondere der Jurisprudenz. Trotzdem empfand er die Öffentlichkeit als eher desinteressiert, weil im Gerichtssaal der Eindruck entstanden sei, es handele sich um eine NS - Angelegenheit ohne Bezug zur Gegenwart : „C’est une affaire de nazis47 48 49 50 51

Berlin 7 P Js 14/49 ( f ) ( IfZ, NSG - Datenbank ). Berlin 1 P Js 164/48 ( a ) ( IfZ, NSG - Datenbank ). Monatsbericht Württemberg - Hohenzollern von Februar 1948 ( AOFAA, AJ 806, p. 618). Schwäbisches Tagblatt vom 12. 9. 1947 : Das Urteil gegen die Bischofsdemonstranten. Bericht der Sûreté [ undatiert, September 1947] ( AOFAA, AJ 804, p. 599, Dossier 23).

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me et une affaire de nazisme est une affaire du passé.“52 Das Verfahren habe das Potential gehabt, ein „Ereignis“ in Württemberg zu sein, aber weder das Publikum noch die Atmosphäre seien die eines großen Prozesses gewesen. („Ce procès aurait pu être un événement dans le Wurtemberg, mais ni le public, ni l’atmosphère n’étaient ceux d’un grand procès.“)53 Einer Umfrage der Sûreté zufolge empfand die Bevölkerung die verhängten Strafen als lächerlich. Andernorts waren die Menschen sehr stark für die Angeklagten eingenommen. Im Hechinger Deportationsprozess stellten die Franzosen fest, dass die Emotionen bei der Bevölkerung hochhergingen und dass etwa 90 Prozent für den Hauptangeklagten seien, weil CDU und Klerus Stimmung für ihn machten : „D’ores et déjà elle [ l’affaire Paul Schraermeyer] provoque une grande émotion parmi la population du Kreis qui à 90 % est favorable à l’accusé en faveur duquel la CDU et surtout le clergé mènent une propagande très forte.“54 Zeugen äußerten Widerwillen, „dass die ganze Judensache wieder aufgerollt würde“.55 Alliierte, aber auch Überlebende sahen gerade die Prozesse zu Verbrechen an Juden als Lackmus - Test einer neuen Justizverwaltung. Viele der Verfahren wurden überhaupt erst durch Überlebende und Emigranten ausgelöst, die ihren Wohnsitz in Übersee hatten und durch stete brief liche Nachfragen auch den Verlauf verfolgten. So erfuhr der frühere Rabbiner von Bremen, Dr. Felix Aber – nun Rabbiner in Lancaster, Pennsylvania –, aus der „New York Times“ vom 13. Mai 1947 über ein seiner Ansicht nach zu mildes Urteil zur Tötung des Heinrich Rosenblum während des Pogroms in Bremen : Die Täter waren lediglich zu acht bzw. sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Rabbiner Aber führte die krasse Fehlleistung der Justiz darauf zurück, dass der Vorsitzende Richter der NSDAP angehört hatte und damit ein potentieller Komplize der Täter gewesen sei. Er protestierte bei der Rechtsabteilung der amerikanischen Militärregierung in Bremen gegen das Urteil56, die ihrerseits das Verfahren kannte und auch eine Stellungnahme von der deutschen Justizverwaltung einforderte. Gegenüber bremischen Referendaren bezeichnete Hans Weigert von der Rechtsabteilung des Office of Military Government / United States es als ein Fehlurteil.57 Auch der Angehörige des Jewish Committee for Relief Abroad – Jewish Relief Unit, Dr. Hendrik George van Dam, berichtete kritisch an die britische Legal Division. Auf Radio Bremen hielt er überdies einen Vortrag zu dem ( noch nicht rechtskräftigen ) Urteil.58 Nach der Revision wurden die Hauptangeklagten zu zwölf bzw. acht Jahren Haftstrafe verurteilt. In seinem Abschlussbericht über das Verfahren klagte der Präsident des Bremer Landgerichts Dr. Diedrich Lahusen, der 52 53 54 55 56 57

Ebd. Monatsbericht Württemberg von August 1947 ( AOFAA, AJ 806, p. 617). Bericht der Sûreté de Hechingen vom 4. 6. 1947 ( AOFAA, AJ 804, p. 597, Dossier 15). Hechingen Js 1138–1139/47 ( StA Sigmaringen, Ho 400 T2 Nr. 845). Rabbiner Dr. Felix Aber an OMGBR vom 27. 5. 1947 ( NARA, OMGBR 6/62 – 2/33). Information enthalten in dem Schreiben LG - Präsident Dr. Diedrich Lahusen an Chief Legal Officer, Robert W. Johnson, vom 8. 3. 1948 ( NARA, OMGBR 6/63 – 2/47). 58 Vortrag „Tötung auf Befehl“ in Radio Bremen am 7. 5. 1947 ( TNA, FO 1060/1075).

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Prozessausgang beweise wieder einmal, dass es untunlich sei, „eine Kritik, und noch dazu eine so maßlose und öffentliche, an einem Urteil vorzunehmen, solange das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen“ sei.59 Nicht selten fühlten sich Richter und Staatsanwälte bedroht. Der Staatsanwalt, der bereits in den 30er Jahren zum frühen KZ Kemna in Wuppertal ermittelt hatte, wurde 1948 von einem Unbekannten gewarnt, „Alte Kämpfer“ hätten sich beraten, wie man den Prozess auffliegen lassen und den Staatsanwalt „erledigen“ könne. Er erhielt überdies einen anonymen Brief einer selbsternannten „Alten Garde“, in dem er als Verräter beschimpft und bedauert wurde, dass man ihn nicht schon 1934 beseitigt habe. Der Vorsitzende Richter im Deportationsprozess in Hechingen erlebte ähnliches : Ihm sei „diskret und anonym“ empfohlen worden, Hechingen schnellstmöglichst zu verlassen : „Notons qu’il a été discrètement et anonymement avisé d’avoir à quitter Hechingen au plus vite“60, stellte die Sûreté fest. Mit dem Prozess, so stellte der Vorsitzende Richter resigniert fest, sei er zum schwarzen Schaf des Ortes geworden. („Le Président du Tribunal, M. von Normann, qui a mené les débats avec une autorité et un sens juridique très aigu est accusé d’avoir provoqué ce procès et il est certain qu’il est considéré comme la ‚bête noire de Hechingen‘.“)61 Der Anklagevertreter Dr. Hans Meuschel im Nürnberger Deportationsprozess wurde von einer älteren Dame in der Straßenbahn brüskiert : „Chief prosecutor Meuschel who has represented the case of the prosecution and who is well known in Nuremberg for this fact offered in a street - car a seat to an elderly lady. She answered his offer saying : ‚No, I surely do not want a seat from you.‘“62 Organe der politischen Säuberung bekamen den Unwillen ebenfalls zu spüren : Der Präsident der Spruchkammer Coburg erhielt einen Drohbrief vom „Werwolf, Kreisabschnitt Nordwest, Oberfranken“.63 Anfänglich herrschte in weiten Teilen der Bevölkerung Konsens darüber, die NS - Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Feststellbar ist, dass den „Reichskristallnacht“ - und Deportationsprozessen ein stärkerer öffentlicher Widerwille entgegengebracht wurde, als den Verfahren zu Denunziationen, der Euthanasie oder den Verbrechen der Endphase. Schon 1947 diagnostizierte ein französischer Rechtsoffizier in Württemberg - Hohenzollern mangelnde Tatkraft von Seiten der Justizver waltung und geringes Interesse der Bevölkerung an den Prozessen : „Les magistrats allemands ne veulent à aucun prix être les juges du passé. Trop de collègues d’ailleurs se sont compromis avec le régime nazi, juger le passé, c’est juger leurs collègues. [...] C’est parce que l’Allemand veut oublier le passé, qu’il ne s’intéresse nullement à ce genre de procès.“64 59 LG - Präsident Dr. Diedrich Lahusen an Chief Legal Officer, Robert W. Johnson, vom 8. 3. 1948 ( NARA, OMGBR 6/63 – 2/47). 60 Bericht der Sûreté vom 11. 6. 1947 ( AOFAA, AJ 804, p. 597, Dossier 15). 61 Ebd. 62 Monatsbericht 26. 4. 1949–25. 5. 1949 ( NARA, OMGBY 17/183–2/14). 63 Wochenbericht vom 12. 8. 1946 ( NARA, OMGBY 17/183–2/12). 64 Monatsbericht von August 1947 ( AOFAA, AJ 806, p. 617, Dossier Monatsberichte ).

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1949 konstatierte die französische Contrôle ein weiteres Nachlassen der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Prozesse : „Plusieurs affaires importantes de crime contre l’humanité ont été jugées ce mois - ci par les Tribunaux Allemands. Le public s’intéresse de moins en moins à ce genre de procès et les Tribunaux font en général preuve de beaucoup d’indulgence.“ Abschließend hieß es geradezu vernichtend : „En résume, tendance nationaliste et prussienne inspirée par le Ministère [ de la Justice ].“65 In der amerikanischen Zone sah es nicht anders aus : Ein Vertreter der Legal Division in Bayern, Richard A. Wolf, schlug vor, die NSG - Prozesse 1949 zu beenden, weil sich sonst die Erfahrungen der Entnazifizierung wiederholen würden : „The more time passes by, the less witnesses know or want to know anything. The public opinion becomes disinterested; finally, persons severest incriminated will be punished less than those persons who were tried before.“66

3.

Fazit

Trotzdem : Nie wieder sollte so viel ermittelt werden wie in den Jahren der Besatzungsherrschaft. Jede der in Westdeutschland zu diesem Zeitpunkt existierenden Staatsanwaltschaften befasste sich mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, wohingegen in späteren Jahren vielfach nur noch Schwerpunktstaatsanwaltschaften ermittelten. Die Verfahren wurden überdies höchst zügig durchgeführt : Im Frankfurter Sobibor - Prozess von 1950 brauchte es nur drei Hauptverhandlungstermine, bis ein Urteil gefällt war. In den 60er Jahren sollten dagegen im Hagener Sobibor - Prozess zwei Jahre allein von der Erhebung der Anklage 1963 bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung 1965 vergehen. Die Ermittlungen der frühen Jahre blieben allerdings punktuell und unsystematisch; so wurde z. B. gegen den Führer des Einsatzkommandos 8, Dr. Otto Bradfisch, nur wegen seiner eventuellen Beteiligung am Pogrom in Landau als Leiter der Staatspolizei Neustadt ermittelt.67 Auch blieben die Stimmen der Opfer vielfach ungehört : Obwohl bereits 1946 in einem Organ der Displaced Persons - Presse Angehörige der KZ - Wachmannschaften in den Außenlagern des KZ Vaivara und ihre Verbrechen benannt worden waren, sollte es bis 1980 dauern, bis einer der Täter zu 18mal lebenslänglich verurteilt war.68 Vielleicht war es in den 60er und 70er Jahren – als vor allem KZ - Schergen oder Angehörige der Gestapo oder der Einsatzgruppen vor Gericht standen – für die deutsche Bevölkerung leichter, sich von den Tätern, denen Mord bzw. Beihilfe zum Mord während des Krieges – und zudem meist an Tatorten im Ausland – vorgeworfen wurde, zu distanzieren. In den späten 40er Jahren war dies

65 66 67 68

Monatsbericht Pfalz von November 1949 ( AOFAA, AJ 3680, p. 26, Dossier 3). Monatsbericht 26.10.–25. 11. 1948 ( NARA, OMGBY 17/183–2/14). Landau 7 Js 44/47 ( AOFAA, AJ 3676, p. 36 und p. 37; Parallelüberlieferung ). Stade 9 Js 778/65 = 9 Ks 1/78 ( StA Stade, Rep. 271a Stade acc. 15/98, P. 27–34).

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nicht möglich : Die Straftaten waren meist vor Ort passiert, die Täter waren örtliche Honoratioren, Arbeitskollegen, Bekannte, Freunde, Nachbarn, Familienangehörige; man selbst war Zeuge ( und manchmal auch Mittäter ) geworden. Dass die Ahndung von NS - Verbrechen in den frühen Nachkriegsjahren angesichts solcher Konfrontationen mit der eigenen Schuld nicht von großer Begeisterung von Seiten der deutschen Justiz getragen wurde, ist nachvollziehbar. Die Alliierten insistierten aber, dass zum Aufbau einer stabilen Demokratie auch die justitielle Aufarbeitung der NS - Vergangenheit gehörte. Weder die Deutschen noch die Alliierten konnten damals ahnen, dass hier ein Prozess in Gang gesetzt werden würde, der bis heute andauert. Das von Hermann Lübbe69 postulierte Beschweigen der Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit ist damit auf Seiten der Justiz nicht erkennbar.

69 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein. In : Historische Zeitschrift, 236 (1983), S. 579–599.

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Die strafrechtliche Verfolgung von NS - Verbrechen und die Öffentlichkeit in der frühen Bundesrepublik Deutschland 1949–1958 Andreas Eichmüller

1.

Rahmenbedingungen und Verlauf der Strafverfolgung

Als im Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, blieb die Justiz und damit die Strafverfolgung Ländersache. Der Bund war allerdings für die Ausgestaltung der grundlegenden Gesetze zuständig. Die Rahmenbedingungen änderten sich zu Beginn der 50er Jahre durch das Auslaufen einiger alliierter Bestimmungen. Zunächst fielen am 1. Januar 1950 durch das Inkrafttreten des Kontrollratsgesetzes Nr. 13 die alliierten Vorbehalte in der Gerichtsbarkeit weitgehend weg, so dass deutsche Gerichte nun uneingeschränkt auch in der NS - Zeit begangene Verbrechen an nicht - deutschen Opfern verfolgen konnten. Im Juni und August 1951 nahmen der britische und der französische Hochkommissar auf Drängen der Bundesregierung die Ermächtigung deutscher Gerichte zur Aburteilung von Verbrechen nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10, das heißt zur Bestrafung von NS - Tätern wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für ihre Besatzungszonen zurück. Für West - Berlin erfolgte diese Rücknahme dann Mitte 1952.1 Damit war für die gesamte Bundesrepublik eine einheitliche Rechtsgrundlage zur Strafverfolgung hergestellt : das Strafgesetzbuch. Bereits seit Ende 1950 bestand mit dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe eine zentrale Revisionsinstanz für die Urteile. „Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden“, verkündete Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949 vor dem Deutschen Bundestag.2 Zugleich konzedierte er, dass durch die „Denazifizierung“ viel Unheil angerichtet worden sei und die daraus entstandene Unterscheidung zwischen „politisch Einwandfreien“ und „Nichteinwandfreien“ bald verschwinden müsse. Anderer-

1 2

Vgl. Adalbert Rückerl, NS - Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1984, S. 123 ff.; Bundesanzeiger, Nr. 169 vom 10.10. 1952. Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Stenographische Berichte ( VdDBT ), 1. Wahlperiode, 5. Sitzung vom 20. 9. 1949, S. 27 ff.

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seits betonte Adenauer jedoch die unbedingte Entschlossenheit der Bundesregierung, „aus der Vergangenheit die nötigen Lehren“ zu ziehen, den demokratischen Staat gegen Angriffe von Rechts - und Linksradikalen zu verteidigen und „zu Frieden in Europa und der Welt“ beizutragen. Diese Erklärung umriss bereits den Umgang der Bundesregierung mit der NS - Vergangenheit in den nachfolgenden Jahren : Bestrafung von wenigen „wirklich Schuldigen“, Reintegration der Masse der Funktionäre des NS - Staates und der Parteigenossen sowie entschiedene Bekämpfung von neonazistischen und kommunistischen Bestrebungen. Angesichts von Millionen ehemaliger NSDAP - Mitglieder gab es zu dieser Integrationspolitik wohl kaum eine Alternative, wollte man die junge, noch instabile und vor großen Aufgaben stehende Demokratie nicht von Beginn an mit einer gefährlichen Oppositionsbewegung belasten.3 Das Ausmaß, das diese Reintegration der ehemaligen Parteimitglieder und - NS - Funktionäre dann aber in den 50er Jahren gerade auch im Bereich der Justiz erreichte, ließ den anfangs in dieser Frage durchaus bestehenden parteiübergreifenden Konsens in der Folge immer wieder aufbrechen und führte insbesondere seitens der Linken nicht selten zu heftiger Kritik gegen so manche Personalie. Auf der strafrechtlichen Verfolgung von NS - Tätern ruhte daher von Anbeginn die Hypothek, dass sie zu einem großen Teil von Personal durchgeführt wurde, das auch im Dienst des Dritten Reiches gestanden war. Markantes Kennzeichen der Strafverfolgung von NS - Verbrechen in den 50er Jahren war der rapide und starke Rückgang der Zahl der Verfahren und Prozesse. Hatte es im Jahr 1949 noch 1465 Prozesse wegen NS - Verbrechen gegeben, so waren es 1950 bereits lediglich 957 und 1951 schließlich 386. In den folgenden Jahren sank die Zahl kontinuierlich weiter auf nur mehr 22 im Jahr 1959 ab ( siehe nachfolgende Grafik ). Die Zahl der rechtskräftigen Verurteilungen verminderte sich parallel von 1474 im Jahr 1949 über 262 1951 auf einen Wert von 12 im Jahr 1959.4 Verantwortlich für diesen enormen Rückgang war ein ganzes Bündel von Faktoren. Die meisten Verfahren kamen zunächst durch Anzeigen von Geschädigten oder Betroffenen zustande. Und die Zahl solcher Anzeigen nahm mit zuneh3 4

Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 642 f. Diese und die folgenden Zahlen basieren auf den Ergebnissen der Auswertung der Datenbank : Die Verfolgung von NS - Verbrechen durch deutsche Justizbehörden seit 1945. Datenbank aller Strafverfahren und Inventar der Verfahrensakten. Bearb. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin von Andreas Eichmüller und Edith Raim, München 2008. Teilweise sind diese Zahlen veröffentlicht bei Andreas Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 56 (2008), S. 621– 640, bes. 625 ff. Vgl. zur Datenbank auch ders., Die Datenbank des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin zu allen westdeutschen Strafverfahren wegen NS - Verbrechen. In : Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching ( Hg.), Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS - Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009, S. 231–237.

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Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen

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Zahl der NS - Prozesse pro Jahr in der Bundesrepublik Deutschland nach Urteilsdatum

mendem Abstand vom Tatzeitpunkt naturgemäß ab, weil der Großteil der im Bundesgebiet begangenen Straftaten – so vor allem Verbrechen an NS - Gegnern unmittelbar nach der Machtübernahme 1933, Ausschreitungen gegen Juden in der sogenannten Reichskristallnacht und Denunziationen5 – bereits angezeigt und abgeurteilt waren. Dass ein weiterer größerer Teil an Strafverfahren durch Abtrennungen aus bestehenden Verfahren zustande kam, verstärkte den Abnahmeeffekt noch. Hinzu trat die mit wachsendem zeitlichen Abstand schwindende Erinnerung an die Ereignisse der NS - Zeit. Viele jüdische Zeugen, die als „Displaced Persons“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland lebten und über die Verbrechen in Osteuropa hätten aussagen können, wanderten seit dem Ende der 40er Jahre aus. Schließlich trugen auch rechtliche Hindernisse zu einer Reduzierung der Zahl der Strafverfahren bei : Mindere Tatbestände wie einfache Körper verletzung oder Landfriedensbruch verjährten spätestens fünf Jahre nach Kriegsende und Amnestien begrenzten die Strafverfolgung zusätzlich. Hier ist insbesondere das Straffreiheitsgesetz vom 31. Dezember 1949 zu nennen, das Strafen bis zu sechs Monaten Gefängnis amnestierte und das aufgrund der milden Spruchpraxis der Gerichte in der Nachkriegszeit – 1948 waren fast die Hälfte der ausgesprochenen Strafen nicht höher ausgefallen – zahlreichen NS - Tätern eine ( wenn auch kurze ) Haft ersparte.6 Weit weniger stark ins Gewicht fiel das Straffreiheitsgesetz von 1954, das Strafen bis zu drei Jahren betraf, sofern sie in der Zusammenbruchszeit seit Oktober 1944 im Rahmen einer sogenannten Pflichtenkollision begangen wor5 6

Auf diese drei Verbrechenskomplexe entfielen in den Jahren 1945–1949 fast drei Viertel aller Strafverfahren wegen NS - Verbrechen.Vgl. Eichmüller, Strafverfolgung, S. 628. Zusätzlich konnten bereits ausgesprochene Strafen bis zu einer Höhe von einem Jahr bedingt erlassen werden, wenn dem nicht Handeln aus Grausamkeit, ehrloser Gesinnung oder Gewinnsucht entgegenstand.

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den waren. Dieses Gesetz wehrte jedoch zugleich viel weitergehende Forderungen nach einer Generalamnestie ab, wie sie im Rahmen des lautstarken Kampfes um die Begnadigung der von den Alliierten verurteilten deutschen Kriegsverbrecher aufgekommen waren.7 Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen und politischen Trends der ersten Hälfte der 50er Jahre standen eindeutig die Überwindung der Kriegsfolgen, die Konzentration auf den Wiederaufbau und die eigene Existenzsicherung. Nach einer amerikanischen Umfrage von August 1952 äußerten sich nur ein Zehntel der Bundesdeutschen zustimmend zum alliierten Umgang mit den Kriegsverbrechern, sechs Zehntel hingegen explizit ablehnend.8 Eine ähnlich negative Einstellung herrschte gegenüber der politischen Säuberung. Die Entnazifizierung wurde seit 1949 sukzessive beendet.9 Der größte Teil der ehemaligen Funktionäre des NS - Staates und der Parteimitglieder sollte mit dem Ziel einer gesellschaftlichen und politischen Versöhnung und Stabilisierung reintegriert werden. In der breiten Bevölkerung herrschte nach den Wirren und Leiden des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit starke Sehnsucht nach Ruhe und Normalität. In diesem Sinne stellten selbst manche NS - Opfer, insbesondere solche, die sich mittler weile in politisch verantwortlichen Stellungen befanden, ihren Sühneanspruch zum Zwecke einer Über windung des Hasses und einer Gewinnung der ehemaligen Nationalsozialisten für den demokratischen Staat zurück und richteten ihren Blick verstärkt auf eine materielle Entschädigung und Existenzsicherung. Insofern gingen in dieser Zeit auch von den Opfer verbänden kaum Initiativen für die Strafverfolgung aus.10 Diese Entwicklungen blieben sicher nicht ohne Einfluss auf den Verfolgungseifer der Justiz. Trotzdem kam es zu keinem Stillstand der Ermittlungstätigkeit. In der ersten Hälfte der 50er Jahre fanden bedeutende Prozesse statt, etwa zu den Vernichtungslagern Auschwitz, Sobibor und Treblinka, zu zahlreichen Zwangsarbeitslagern in Polen, zu Judenmorden in der Sowjetunion, Litauen und Jugoslawien. Und noch im Jahr 1955 gab es in der Bundesrepublik so viele Prozesse wegen NS - Verbrechen wie in keinem Jahr danach. Allerdings war seitens der Gerichte inzwischen häufig ein recht nachsichtiger Umgang mit den Angeklagten an der Tagesordnung. 1954 wurden erstmals mehr Angeklagte freige7 Vgl. dazu Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS - Vergangenheit, München 1996, S. 29 ff. und 100 ff.; allerdings überschätzt Frei m. E. die Bedeutung der Amnestien für die Strafverfolgung etwas. 8 Vgl. Anna J. Merritt / Richard L. Merritt ( Hg.), Public Opinion in semisovereign Germany. The HICOG Surveys 1949–1955, Urbana 1980, S. 184 f. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Allensbach - Umfrage im September 1952. Vgl. Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann ( Hg.), Jahrbuch für öffentliche Meinung, Band 1 : 1945–1955, Allensbach 1956, S. 202. 9 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 54 ff. 10 Diese Tendenz lässt sich zumindest aus einer Auswertung der Zeitungen der Opfer verbände – Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und Bund der Verfolgten des Naziregimes („Die Tat“ und „Das freie Wort“) – ableiten. Siehe hierzu auch den Beitrag von Katharina Stengel in diesem Band.

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sprochen als verurteilt, und 1954 und 1955 erhielt kein Angeklagter eine höhere Strafe als zehn Jahre Zuchthaus zuerkannt. Mit zunehmenden zeitlichen Abstand zu den Taten wuchsen auch die Ermittlungsprobleme weiter, weil die Erinnerung der Zeugen verblasste und die Überführung der Täter immer schwieriger wurde. Deshalb zielte das Bestreben der Justiz allein schon aus kriminologischen Gründen auf einen raschen Abschluss der Strafverfolgung von NS - Verbrechen. Bei Tatorten im Ausland kam häufig noch hinzu, dass es schwierig war, überhaupt Zeugen zu finden. Zudem fehlte den Staatsanwälten und Ermittlern das Wissen um die historischen Sachverhalte, und von ihnen wurden hier ganz andere Methoden und Kenntnisse verlangt als bei den sonst üblichen Strafverfahren. Viele waren außerdem bei der knappen Personalausstattung der Justiz mit ihrem Tagesgeschäft chronisch überlastet. Ende 1955 deutete sich nach der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, den sogenannten Nichtamnestierten, unter denen sich auch mehrere schwerer Verbrechen beschuldigte Personen befanden, eine gewisse Wende an. Erstmals seit 1949 stieg in diesem Jahr die Zahl der neu eingeleiteten NS - Verfahren wieder an.11 1957/58 brachten die Ermittlungen zum Ulmer Einsatzgruppen - Prozess Teilen der Justiz die Erkenntnis, dass aufgrund der bisherigen, weitgehend auf dem Zufall von Anzeigen basierenden Ermittlungen zahlreiche der in Osteuropa begangenen NS - Verbrechen noch gar nicht behandelt worden waren. Dies führte zum Vorschlag, eine zentrale Ermittlungsstelle zu schaffen, die dann im Oktober 1958 von der Konferenz der Justizminister beschlossen und wenig später in Ludwigsburg eingerichtet wurde.12 Damit wurde zumindest ermittlungstechnisch eine erste bedeutsame Wende eingeleitet. Eine nicht unerhebliche Rolle für die politische Durchsetzung der Zentralen Stelle der Landesjustizver waltungen hatte eine gewandelte öffentliche Rezeption der Strafprozesse wegen NS - Verbrechen, insbesondere in den Medien, gespielt.

2.

Justiz und Öffentlichkeit – einige Bemerkungen

Öffentlichkeitsarbeit war bei den Justizbehörden in der Nachkriegszeit klein geschrieben und wurde sehr unterschiedlich praktiziert. Meist informierten die Gerichte aber die örtlichen Presseorgane zumindest über die wichtigsten Prozesstermine vorab.

11 Vgl. Eichmüller, Strafverfolgung, S. 626. 12 Vgl. Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004, S. 162 ff.; Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008, S. 10 ff. Siehe hierzu die Beiträge von Claudia Fröhlich und Annette Weinke in diesem Band.

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Bayern richtete 1950 eigene Justizpressestellen beim Ministerium und bei den Oberlandesgerichten ein.13 Deren Ziel war es, auf der einen Seite zwar die Zusammenarbeit mit der Presse zu verbessern, auf der anderen Seite aber auch die Ansprechstellen für die Presse zu zentralisieren und damit eine einheitlichere Vorgehensweise zu erreichen. Das Hauptinteresse der Justiz bei der Pressearbeit lag darin, Kritik abzuwehren bzw. dieser vorzubeugen; berichtete deshalb die Presse über einen Prozess gar nicht, so wurde dies eher positiv gesehen. Eine ausführlichere Berichterstattung galt insbesondere bei längeren Prozessen sogar als Problem, weil sich die Zeugen aus der Presse über vorher getätigte Aussagen informieren könnten. Öffentlicher Kritik begegnete man häufig mit dem Argument, dass ein Eingriff in noch nicht abgeschlossene Verfahren die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Justiz gefährde und deshalb nicht statthaft sei. Als es zu Beginn der 50er Jahre an einigen Orten zu heftigen Protesten gegen Gerichtsurteile kam, verlangten manche Richter und andere Justizvertreter ein Gesetz zum Schutz der Gerichte nach dem Vorbild des britischen „contempt of court“.14 Das Bundesjustizministerium nahm deshalb in den Entwurf des Ersten Strafrechtsänderungsgesetz eine entsprechende Bestimmung auf. Justizminister Thomas Dehler meinte dazu im Bundesrat im Juni 1950, er halte es für notwendig, die Rechtspflege nach englischem Muster zu schützen, „mit dem Ziel unserem Volk mehr Ehrfurcht vor dem Recht und vor dem Richter nahe zu bringen“. Die Demokratie werde „ohne Rechtsstaat nicht bestehen, und es gibt keinen Rechtsstaat ohne Respekt, ohne Ehrfurcht vor der richterlichen Entscheidung“.15 Die Mehrheit der Länder vertreter lehnte eine derartige Bestimmung aber als zu weitgehend ab. Stellvertretend für viele der geäußerten Bedenken, kann die Bemerkung des württembergisch - badischen Justizministers Josef Beyerle stehen, man dürfe Kritik an der Rechtsprechung nicht allzu sehr behindern. Gerade weil die Justizver waltung selbst kaum Einwirkungsmöglichkeiten auf die Urteile habe, sei eine Reaktion der Öffentlichkeit für die Richter unentbehrlich.16 Auch in den folgenden Jahren gab es wiederholt Beschwerden über unsachliche Presseberichte, so etwa anlässlich der Tagung der Generalstaatsanwälte im bayerischen Fischbachau im März 1955 durch den

13 Vgl. Dietmar Gruchmann, Die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz im Wandel der politischen Systeme. Eine Studie am Fallbeispiel Bayern, Garching 1994, S. 131 ff. 14 Vgl. etwa Verein der Richter und Staatsanwälte im Lande Nordrhein - Westfalen an Justizministerium vom 15. 2. 1950 ( HStA Düsseldorf, NW 377, Nr. 4). Nach diesem Schreiben hatte sich bereits die Gründungsversammlung des Deutschen Richterbunds in München am 27./28. 10. 1949 mit großer Mehrheit für einen derartigen Schutz ausgesprochen. 15 Sitzungsberichte des Bundesrats der Bundesrepublik Deutschland, 25. Sitzung vom 23. 6. 1950, S. 435. 16 Protokoll der Sitzung des Bundesratsrechtsausschusses vom 9./10. 6. 1950 ( BayHStA München, StK GuV 10675). In der Bundesratssitzung vom 23. 6. 1950 formulierte der bayerische Justizminister Josef Müller die Ablehnung; er warnte davor, denen zu viel Recht zu geben, die die Gewalt vertreten, weil dann leicht wieder etwas passieren könne wie im Nationalsozialismus ( Sitzungsberichte, S. 436).

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Münchner Generalstaatsanwalt Hans Hechtel, der die Berichterstattung als „derart zersetzend“ bezeichnete, dass sie bereits eine Gefahr für die Demokratie darstelle.17 Auf der Justizministerkonferenz des folgenden Jahres in München stand das Thema ebenfalls auf der Tagesordnung. Dort wurde die Situation allerdings weit weniger dramatisch geschildert und festgestellt, dass es in Einzelfällen tatsächlich eine Beeinflussung schwebender Verfahren durch die Medien gebe, das Verhältnis zur Presse in der Regel jedoch gut sei. Im Ergebnis empfahlen die Minister den Landesjustizver waltungen, durch weitere Bemühungen um gute Beziehungen einer unsachlichen Berichterstattung entgegenzuwirken.18 Das Interesse der Presse an Gerichtsprozessen war im Allgemeinen relativ groß, zahlreiche Zeitungen hatten eigene Rubriken dafür eingerichtet, die etwa „Aus dem Gerichtssaal“ betitelt waren. Prozesse zu Kapitalverbrechen wurden in der Regel von den Lokalzeitungen ausführlich gewürdigt. Ein sehr viel sperrigerer Gegenstand war die Gerichtsreportage hingegen für Rundfunk und Fernsehen, waren doch Ton - und Bildaufnahmen während der Verhandlung meist nur eingeschränkt, das heißt zur Prozesseröffnung, bei den Plädoyers und der Urteilsverkündung möglich und bedurften auch dann der Zustimmung des jeweiligen vorsitzenden Richters. Die Richter machten von solchen Genehmigungen eher sparsamen Gebrauch, nicht zuletzt, weil sie jeden Anschein von Schauprozessen zu vermeiden suchten. Auch waren nicht immer alle Beteiligten mit solchen Aufnahmen einverstanden. So legte etwa der Strafverteidiger Alfred Seidl im Prozess gegen den Standortarzt des KZ Flossenbürg Dr. Hermann Fischer in Weiden 1955 aus Protest dagegen, dass das Gericht dem Bayerischen Rundfunk erlaubt hatte, sein Plädoyer aufzunehmen, das Mandat nieder, was zu einer längeren Verhandlungsunterbrechung führte.19 In der Folge stellte dann aber das Bayerische Oberste Landesgericht in der durch das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozessordnung nicht genau geregelten Frage klar, dass der Protest des Rechtsanwalts unberechtigt gewesen sei und dem Interesse der Öffentlichkeit auf Unterrichtung über Strafverfahren zu entsprechen sei, wenn der Ablauf der Verhandlung dadurch nicht nachdrücklich gestört würde.20

17

Protokoll der Tagung der Generalstaatsanwälte in Fischbachau vom 17.–19. 3. 1955, Tagesordnungspunkt 3 ( BArch, B 141/1891). 18 Protokoll der Justizministerkonferenz vom 18.–20. 10. 1956 in München, Tagesordnungspunkt 1 ( BArch, B 141/1879). 19 Vgl. Nürnberger Nachrichten vom 10. 11. 1955 : „Verteidiger gegen Tonband“; Die Zeit vom 17. 11. 1955 : „Verhasstes Tonband“. Seidl führte als Begründung an, dass der Rundfunk über sein aufgenommenes Plädoyer im kurz zuvor beendeten dritten Huppenkothen - Prozess in Augsburg entstellend berichtet habe. 20 Vgl. Neue Juristische Wochenschrift, 9 (1956), S. 390 f. ( Beschluss vom 18. 1. 1956). Zur nachfolgenden Diskussion bis zum grundsätzlichen Verbot der Film - und Tonaufnahmen von Gerichtsverhandlungen durch Fernsehen und Rundfunk in der Neufassung des Gerichtsverfassungsgesetzes ( § 169) von 1964 vgl. Christian von Coelln, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt. Rechtliche Aspekte des Zugangs der Medien zur Rechtsprechung im Verfassungsstaat des Grundgesetzes, Tübingen 2005, S. 301 ff.

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Politische Proteste und „Gnadenfieber“ – die Jahre 1950–1954

Wie die westdeutsche Bevölkerung in der ersten Hälfte der 50er Jahre zur strafrechtlichen Verfolgung von NS - Verbrechen durch die deutschen Gerichte stand, darüber sind genaue Aussagen nur schwer zu treffen. Meinungsumfragen zu diesem Thema liegen nicht vor, was auch als Hinweis darauf zu interpretieren ist, wie gering der Stellenwert dieser Frage in der öffentlichen Diskussion in dieser Zeit war. Nimmt man jedoch die Einstellung zu den alliierten Kriegsverbrecherprozessen und anderen die NS - Vergangenheit betreffenden Themen als Indikator, so ist wohl von einer weit verbreiteten Schlussstrich - Mentalität und einer über wiegenden Ablehnung von NS - Prozessen auszugehen. In der ersten Hälfte der 50er Jahre galt wie für die Jahre davor, dass über die allermeisten Prozesse nur in der lokalen Presse der jeweiligen Gerichtsorte berichtet wurde.21 Wenn, dann meldeten die überregionalen Blätter in der Regel nur kurz auf der Basis von Agenturmeldungen die Urteilssprüche.22 Nur wenige Prozesse erregten, meist aufgrund der Prominenz der Angeklagten, auch überregional Aufsehen und führten zu umfangreicherer und länger anhaltender Berichterstattung. Dies betraf etwa 1950 die Prozesse gegen Ilse Koch, die Frau des Lagerkommandanten des KZ Buchenwald, und den Regisseur des antisemitischen Hetzfilms „Jud Süß“ Veit Harlan, 1951/52 den Prozess gegen Walter Huppenkothen, einen Juristen und SS - Standartenführer, der unter anderem im April 1945 im KZ Flossenbürg an der Hinrichtung von Widerständlern wie Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Canaris und Hans von Dohnanyi beteiligt gewesen war, oder 1953 den Prozess gegen den ehemaligen Legationsrat im Auswärtigen Amt Franz Rademacher wegen dessen Mitwirkung an der Deportation von Juden aus West - und Südosteuropa vor der Folie der gleichzeitig stattfindenden parlamentarischen Untersuchung und der öffentlichen Diskussion um die NS Vergangenheit zahlreicher Beamter des Bonner Auswärtigen Amtes. Die Lokalpresse und die Lokalteile der überregionalen Zeitung berichteten hingegen häufig ausführlich über die vor Ort stattfindenden Prozesse, bei längeren Prozessen nicht selten auch nahezu täglich. Meist beschränkten sich diese Berichte auf eine reine Schilderung des Verhandlungsverlaufs. Hintergrundberichte, eine Hinterfragung der Aussagen oder Berichte über die Opfer waren selten. 21 Bei meinen folgenden Ausführungen zu öffentlichen Reaktionen auf NS - Prozesse werde ich mich weitgehend auf die Presse beschränken, zum einen, weil diese als Quelle am einfachsten zu greifen ist, zum anderen aber auch, weil die Pressekritik bei den Justizbehörden und der Politik am stärksten beachtet wurde. Bei den Akten größerer NS Prozesse finden sich nicht selten Presseausschnittssammlungen, ebenso in den Aktenbeständen der Justizministerien. Über einschlägige Sammlungen verfügen mitunter auch Archive, so etwa das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte. Entsprechende Sammlungen für Rundfunk - und Fernsehberichte fehlen; zudem ist die Erschließung dieser Quellen in den Rundfunkarchiven oft noch wenig fortgeschritten. 22 Vgl. etwa Alaric Searle, The Tolsdorff Trials in Traunstein : Public and Judicial Attitudes to the Wehrmacht in the Federal Republic, 1954–60. In : German History, 23 (2005), S. 50–78, hier 59.

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In der Regel blieben die Urteile zwar unkommentiert, jedoch kam es immer wieder auch zu kritischen Anmerkungen und manchmal kulminierte der Protest. So gab es im Jahr 1950, als die Justiz bereits durch das Hedler - Urteil23 unter Beschuss geraten war, ganz erhebliche Kritik etwa an dem Freispruch des Münchner Gestapochefs Oswald Schäfer in München, an den milden Strafen im Prozess um die Hinrichtungen in der sogenannten Penzberger Mordnacht im April 1945 oder an dem teilweisen Freispruch eines Gestapomannes durch das Schwurgericht Bielefeld. In diesen drei Fällen blieb es nicht bei einer Presseschelte, sondern es kam, organisiert insbesondere von den linken Parteien und den Opfer verbänden, zu großen Protestdemonstrationen, bei denen sich in München etwa 2 000, in Augsburg 15–20 000 und in Bielefeld sogar 35–40 000 Menschen versammelten.24 Derart lautstarke Proteste waren jedoch die Ausnahme und in den folgenden Jahren immer seltener zu vernehmen; kritische Artikel zu dem einen oder anderen Fall blieben aber an der Tagesordnung. Gerade die Prozesse der 50er Jahre waren mitunter innenpolitisch äußerst brisant, ging es doch in ihnen nicht selten um die Hinrichtung von Widerstandskämpfern oder auch von einfachen Bürgern, die 1945 den sinnlosen Kampf so rasch wie möglich hatten beenden wollen. War dieser Widerstand rechtmäßig gewesen, so lautete nun die Frage, oder waren aus einer positivistischen Sicht die Machthaber von damals berechtigt gewesen, ihren Staat zu verteidigen ? Dahinter stand auch das grundsätzliche Problem des rechtlichen Umgangs mit den Gesetzen und Anordnungen des Dritten Reiches,25 insbesondere mit denjenigen, die zur Entrechtung und Unterdrückung bis hin zur Tötung von Regimegegnern oder von ganzen Bevölkerungsgruppen gedient hatten. Sollten sie von vorne herein als unrechtmäßig und daher ungültig angesehen werden ? Oder erkannte man ihnen faktische Rechtskraft zu und entschuldigte damit diejenigen, die ihnen gefolgt waren. Da man sich aus Gründen der Ordnung und Stabilität nicht für einen strikten Schnitt entscheiden wollte, fiel den Gerichten oft 23 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 309 ff. Wolfgang Hedler, ehemaliges NSDAP - Mitglied und nunmehriger Bundestagsabgeordneter der Deutschen Partei, hatte in einer Rede in Rendsburg im November 1949 unter anderem die Widerstandskämpfer als Landesverräter bezeichnet. Nachfolgend war er wegen Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener angeklagt, am 31. 1. 1950 jedoch vom Landgericht Kiel freigesprochen worden. Dieses Urteil löste in der Politik und in der Presse ganz erhebliche Kritik aus. 24 Vgl. etwa zu München : Mittelbayerische Zeitung vom 27. 3. 1950; zu Penzberg : Schwäbische Landeszeitung vom 19. 4. 1950; zu Bielefeld : Neue Zeitung vom 1. und 3. 2. 1950. Bereits am 23. 12. 1949 war es nach einem Urteil des Schwurgerichts Köln zu einer Protestkundgebung mit etwa 500 Teilnehmern gekommen. Vgl. Dirk Lukaßen, „Menschenschinder vor dem Richter“. Kölner Gestapo und Nachkriegsjustiz. Der „Hoegen - Prozess“ vor dem Kölner Schwurgericht im Jahr 1949 und seine Rezeption in den lokalen Tageszeitungen, Siegburg 2006, S. 86. 25 Vgl. dazu etwa Hinrich Rüping / Günter Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, München 2002, S. 123 f., oder Winfred Hassemer, Strafrechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. In : Dieter Simon ( Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jusriprudenz, Frankfurt a. M. 1994, S. 259–310, hier 261 ff.

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die schwierige Aufgabe zu, hier Grenzziehungen vorzunehmen, die naturgemäß nicht überall auf Akzeptanz stießen. Denn die Öffentlichkeit hatte nicht selten Probleme, den von Gerichten angewandten juristischen Argumentationsfiguren wie der subjektiven Tatlehre oder dem Unrechtsbewusstsein zu folgen, wenn damit Täter, die NS - Gegner oder unschuldige Zivilisten zu Tode gebracht hatten, ohne Strafe ausgingen. Bei vielen Richtern und Staatsanwälten waren NS - Prozesse deshalb wenig beliebt, wurden sie doch als die eigentlich neutrale Justiz belastende politische Prozesse wahrgenommen. Pressekommentatoren machten sich dieses Unbehagen in einigen Fällen zu eigen. Der Freispruch für Huppenkothen sei zu akzeptieren, schrieb Ernst Müller - Meiningen jr. in der „Süddeutschen Zeitung“ Anfang November 1952, denn es sei nicht Aufgabe des Gerichts, Geschichte zu schreiben oder moralische Bewertungen abzugeben, sondern Recht zu sprechen.26 Die „Allgemeine Zeitung“ kommentierte zum selben Fall, zweifellos sei der Richter mit der großen Zahl von politischen Prozessen seit 1945 nicht nur vor teilweise sehr schwere rechtliche Entscheidungen gestellt worden, sondern man habe ihm auch politische Entscheidungen zugemutet, die mit einem Richterspruch nicht mehr getroffen werden könnten. Der Staatsanwalt habe in der Verhandlung gesagt, man dürfe nicht verlangen, es solle nun endlich radikal Schluss gemacht werden mit solchen politischen Verfahren. Wo Unrecht geschehen sei, müsse es auch nach zehn oder 20 Jahren noch gesühnt werden. Dem sei zwar voll beizupflichten, aber ebenso müsse es allmählich dazu kommen, dass dem Richter nicht mehr die Rolle eines Geschichtsforschers aufgetragen werde, die er einfach nicht übernehmen könne. Auch hätten sich in den vergangenen Jahren so viele Sondergerichte und Körperschaften mit den politischen Tatbeständen befasst, dass es gut wäre, wenn unabhängige deutsche Gerichte sich nur noch mit den ursprünglichen Aufgaben der Rechtsprechung befassen müssten.27 Bei den Opfern stieß der Freispruch dagegen verständlicher weise auf erhebliche Kritik. Das Urteil habe Symbolcharakter für die schicksalhafte Verstrickung von Staat und Verbrechen, die es heute nahezu unmöglich mache, schwere Verbrechen des NS - Regimes zu sühnen, kommentierte das „Das freie Wort“, das Organ des Bunds der Verfolgten des Naziregimes ( BVN ), und sprach damit eine weitere grundsätzliche rechtliche Problematik der Strafverfolgung von NSVerbrechen an. Das Strafgesetzbuch regele Verbrechen durch Einzelne, so das Blatt, es werde zum wirkungslosen Papier, wenn der Staat selbst Verbrechen begehe oder in die Hände von Verbrechern falle. Kein Mord, den das Dritte Reich auf dem Gewissen habe, sei ohne die Einhaltung derjenigen Formalitäten begangen worden, die zu seiner gesetzlichen Sanktionierung notwendig erschienen seien. Eine Justiz, die nicht den Mut habe, in diesen letzten Bereich staatlicher Urheberschaft von Verbrechen vorzustoßen, werde die Gräuel des NS - Staa26 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 6. 11. 1952 : „Urteil Huppenkothen“. 27 Allgemeine Zeitung vom 15./16. 11. 1952 : „Die Grenzen des Richterspruchs. Zum Freispruch im Huppenkothen - Prozess“.

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tes nicht sühnen können. Statt Verbrechen zu sühnen werde das Andenken der Opfer feindseliger Schmähung ausgeliefert. Statt Bestrafung und Ausschaltung erfolge Rehabilitierung. Damit bekämen alle Gegner des demokratischen Systems Handhabe, sich mit scheinheiligen Worten an jenen Männern zu reiben, die als NS - Gegner ermordet worden seien, schloss der Kommentar.28 Der Huppenkothen - Prozess von 1952 hatte auch gezeigt, dass die angeklagten NS - Verbrecher durchaus Sympathien in der Bevölkerung genossen. Nach der Urteilsverkündung war es zu Beifallsbekundungen aus den Reihen der Zuschauer gekommen und beim Verlassen des Gerichtssaal hatte sich der Freigesprochene vor Glückwünschen und Händedrücken kaum retten können. Ähnliche Reaktionen gab es auch bei anderen Gerichtsverhandlungen, so anlässlich des Freispruchs für den des Mordes angeklagten Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt Kurt Lindow am 22. Dezember 1950 in Frankfurt, der zahlreiche sowjetische Kriegsgefangene in ein KZ über wiesen hatte, oder dem Freispruch für den wegen seiner Beteiligung an den Judendeportationen aus Franken angeklagten ehemaligen Gestapochef von Nürnberg Benno Martin durch das dortige Landgericht am 1. Juli 1953.29 Ein Darmstädter Landgerichtsrat, der 1954 als Schwurgerichtsvorsitzender einen ehemaligen Hauptmann der Wehrmacht wegen der Erschießung zahlreicher Juden in der Sowjetunion zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, bekam anschließend sogar über einen längeren Zeitraum Drohanrufe.30 Derartige Reaktionen waren auch der Ausfluss eines regelrechten „Gnadenfiebers“, das sich Anfang der 50er Jahre rund um die in den alliierten Kriegsverbrecherprozessen verurteilten Deutschen ausgebreitet hatte und das das politische Klima dieser Jahre nachhaltig prägte. Die Urteile der Besatzungsgerichte wurden dabei ziemlich allgemein als „Siegerjustiz“, als „ungerecht“ und nicht den deutschen Rechtsnormen entsprechend gebrandmarkt,31 und die Palette der 28 Das freie Wort vom 22. 11. 1952 : „Unlösbare Aufgabe“; kritisch auch Frankfurter Rundschau vom 7. 11. 1952 : „Richterspruch oder Mordbefehl ?“ von Ludwig Steinkohl, sowie Ernst Sonntag, Der Huppenkothen - Prozess. In : Deutsche Rundschau, 79 (1953), S. 35–36. Staatsanwaltschaft und bayerisches Justizministerium akzeptierten den Freispruch nicht und hatten mit ihrer Revision teilweise Erfolg. Im Oktober 1955 verurteilte das Landgericht Augsburg Huppenkothen zu sechs Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord in fünf Fällen. 29 Vgl. Bayerische Staatszeitung vom 8. 11. 1952 : „Wo liegt der Fehler ?“; Neue Zeitung (Ausgabe Frankfurt ) vom 23. 12. 1950 : „Kurt Lindow freigesprochen“; 8- Uhr - Blatt vom 2. 7. 1953 : „Blumen, Freudentränen und tosender Beifall“. Ähnliches trug sich am 1. 7. 1950 zu, als der ehemalige SA - Stabschef und Dortmunder Polizeipräsident Wilhelm Schepmann, dem vorgeworfen worden war, führend an den Ausschreitungen gegen NS- Gegner und Juden in der Stadt nach der Machtübernahme 1933 beteiligt gewesen zu sein, mit einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten davon kam, die durch die Untersuchungshaft bereits verbüßt war. Vgl. Die Tat vom 3. 7. 1950 : „SA - Verbrecher Schepmann frei“. 30 Vgl. Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland vom 11. 6. 1954 : „Drohungen für den Richter“. 31 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik , S. 133 ff.; Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Berlin 1999, S. 17 ff.

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Befür worter einer großzügigen Begnadigungen der in alliierter Haft einsitzenden Verurteilten reichte von den Kirchen an vorderster Stelle bis weit in die Sozialdemokratie. Die konkreten, hinter den Verurteilungen stehenden Verbrechen wurden dabei weitgehend ausgeblendet oder allein als „Kriegsverbrechen“ gewertet und gegen tatsächliche oder vermeintliche Kriegsverbrechen der Alliierten aufgerechnet. Offen gegen deutsche NS - Prozesse gerichtete und für ein Ende der Strafverfolgung plädierende Pressekommentare blieben hingegen eher rar, in der überregionalen Presse waren sie nahezu überhaupt nicht zu finden. Wenn, dann waren es vor allem die Überbleibsel der alliierten Rechtsprechung, die Kritik auf sich zogen. So wurde in manchen Kommentaren moniert, dass nach Inkrafttreten des Grundgesetzes noch Personen nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 verurteilt würden, wo doch im Grundgesetz das Rückwirkungsverbot festgeschrieben sei. Kritik aus dieser Richtung gab es auch am bereits erwähnten Rademacher - Prozess 1952 in Nürnberg, der etwa in der „Zeit“, den „Aachener Nachrichten“ oder der „Kasseler Post“ als Ausfluss des alliierten Wilhelmstraßen - Prozesses bewertet und der Initiative des dortigen Anklägers Robert Kempner zugeschrieben wurde.32 Die Zeitungen beklagten, dass die Anklage allein auf amerikanischen Beweisdokumenten basiere, die schwer widerlegbar seien, weil die Amerikaner die Akten des Auswärtigen Amtes nach wie vor großteils beschlagnahmt hätten. Auf der anderen Seite gab es nach der Verurteilung Rademachers zu drei Jahren und fünf Monaten Gefängnis Kritik an der niedrigen Strafe, etwa in der „Frankfurter Rundschau“, im SPD - nahen Berliner „Telegraf“ oder der „Fränkischen Tagespost“, die sich noch verstärkte, als Rademacher, der nach der Urteilsverkündung auf freien Fuß gesetzt worden war, ins Ausland floh.33 Allerdings wurde derartige Kritik vor allem von den Sozialdemokraten und anderen linken Organisationen vorgetragen und erreichte keine besondere Breitenwirkung. Die „Kasseler Post“ wiederum vermerkte das Urteil immerhin zustimmend, denn der Prozess habe in Abgrenzung zur alliierten Rechtsprechung „den Willen und die Fähigkeit der deutschen Justiz bewiesen, das Unrecht einer traurigen Vergangenheit aus eigener Initiative zu sühnen“. Dieselbe Zeitung hatte sich bereits zuvor positiv zum Freispruch zweier Kasseler Sonderrichter geäußert,

32 Die Zeit vom 31. 1. 1952 : „Gesiebte Dokumente“ von Richard Tüngel; Kasseler Post vom 18. 3. 1952 : „Ein Deutsches Nürnberg“; Aachener Nachrichten vom 19. 2. 1952 : „Das sind so Helden“. Kempner war wegen seiner damaligen Tätigkeit bei einem Teil der Presse, insbesondere der aus dem rechten Spektrum, verhasst. 33 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 19. 3. 1952 : „Rademacher, der einzige Überlebende“ von Michael Mansfeld; Der Telegraf vom 18. 3. 1952 : „Ein Fehlurteil in Nürnberg“. Zur Reaktion auf die Flucht vgl. Frankfurter Rundschau vom 17. 9. 1952 : „Rademacher und die Gerechtigkeit“ von Karl Gerold; Fränkische Tagespost vom 20. 9. 1952 : „Freiheit für Mörder. Die Freilassung Rademachers ist ein nationaler Skandal“.

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die 1943 einen jüdischen Ingenieur wegen „Rassenschande“ zum Tod verurteilt hatten.34 In Nordhessen scheint es überhaupt ein recht negatives Klima hinsichtlich der Strafverfolgung von NS - Tätern gegeben zu haben. So protestierte etwa die „Waldecker Landeszeitung“ 1951 mit mehreren großen und herzzerreißenden Artikeln gegen die Verhaftung des „allseits geschätzten und geachteten“ Walter Fernau sechseinhalb Jahre nach „Erfüllung seiner soldatischen Pflicht“.35 Die Staatsanwaltschaft Würzburg hatte dem ehemaligen Leutnant vorgeworfen, zu Kriegsende maßgeblich an Todesurteilen und Erschießungen durch das fliegende Standgericht Helm beteiligt gewesen zu sein. Das Schwurgericht der unterfränkischen Bischofsstadt verurteilte ihn deswegen im November 1952 zu sechs, einen weiteren Beteiligten zu drei Jahren Zuchthaus wegen Totschlags. Das Urteil wurde von der übrigen Presse zumeist mit Befriedigung aufgenommen, die Strafe aber zum Teil als viel zu mild kritisiert.36 Wurden im Fall Fernau die kurz vor Kriegsende verhängten Todesurteile etwa wegen Hissens weißer Fahnen vor den unaufhaltsam heranrückenden alliierten Truppen oder wegen Fahnenflucht nahezu allgemein missbilligt, so war dies im Fall des ehemaligen Generalmajors Theodor Tolsdorff etwas anders. Er hatte Anfang Mai 1945 einen Hauptmann erschießen lassen, weil dieser in der Nähe des Gefechtsstandes eine weiße Tafel mit einem roten Kreuz aufgestellt hatte, um damit auf ein nahe gelegenes Lazarett hinzuweisen. Tolsdorff, mit den höchsten Kriegsauszeichnungen dekoriert und schwer kriegsbeschädigt, musste sich deshalb vor dem Landgericht Traunstein wegen Totschlags verantworten. Es waren vermutlich seine Auszeichnungen, der Auftritt des gerade aus britischer Kriegsverbrecherhaft zurückgekehrten ehemaligen Generalfeldmarschalls Albert Kesselring als Zeuge und die Tatsache, dass die Erschießung in Ernst von Salomons Erfolgsroman „Der Fragebogen“ geschildert wurde, die dem Verfahren eine Aufmerksamkeit weit über die bayerische Provinz hinaus sicherten.37 34 Vgl. Kasseler Post vom 29. 6. 1950 : „Hassencamp und Kessler freigesprochen“. 35 Waldeckische Landeszeitung vom 11. 12. 1951. Vgl. auch die Ausgabe vom 24. 12. 1951: „Walter Fernau noch nicht frei“. Zur Stimmung in Nordhessen vgl. Regina Maier, NS Kriminalität vor Gericht. Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Kassel 1945–1955, Darmstadt 2009, besonders S. 292 ff. 36 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 1. 12. 1952 : „Milde Strafen im Helm - Prozeß“ und den Kommentar von Ernst Müller - Meiningen jr., „Ohne Mörder zu sein“; Main - Echo vom 1. 12. 1952 : „Überraschend mildes Urteil im Helm - Prozess“; Zeitfunk des Bayerischen Rundfunks vom 29. 11. 1952; Vermerk vom 1. 12. 1952 ( BayHStA München, LKA 277). Der Hauptbeschuldigte, der Major Erwin Helm, konnte zunächst nicht vor Gericht gestellt werden, da er sich in der SBZ aufhielt. Dort wurde er im September 1953 zu lebenslanger Haft verurteilt, aber bereits nach drei Jahren begnadigt und wieder entlassen. Anschließend floh er in die Bundesrepublik, wo er jedoch nach dem Grundsatz ne bis idem nicht mehr angeklagt werden konnte. 37 Vgl. etwa Westfalen - Post vom 24. 4. 1953 : „Fehlentscheidung durch ‚Blutsäufer - Befehl‘“; Hünefelder Volkszeitung vom 24. 4. 1953 : „Fehlentscheidung im Morgengrauen“; Hessische Nachrichten vom 7. 2. 1953 : „Fragebogen - Autor als Zeuge“; Frankenpost vom 2. 4. 1953 : „Fünf vor Zwölf krachte die tödliche Salve“.

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Im Juni 1954 verurteilten die Traunsteiner Richter Tolsdorff zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Schon im Vorfeld hatten sich ehemalige Kameraden und die gerade neu entstandenen Soldatenverbände für den Generalmajor eingesetzt; aus ihren Reihen kam nach dem Urteil nicht unerhebliche Kritik. Der Prozess stand einerseits noch im Schatten der bereits etwas im Abflauen befindlichen Begnadigungskampagne für die in alliierter Haft einsitzenden deutschen NS - und Kriegsverbrecher, andererseits im Kontext der gerade beschlossenen Wiederbewaffnung, in deren Zug auch die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere wieder gebraucht wurden. Und so protestierte der Verband der Heimkehrer beim bayerischen Justizministerium, wenn sogar deutsche Gerichte Wehrmachtsoffiziere verurteilten, diskreditiere dies das Ansehen der ehemaligen Armee und gefährde die weitere Freilassung der von den Alliierten inhaftierten Deutschen. Manche witterten gar ein politisches Urteil.38 Auch konser vative und überparteiliche Blätter äußerten leise Zweifel. Sie fragten, ob zivile Richter tatsächlich in der Lage seien, die damaligen militärischen Notwendigkeiten richtig zu beurteilen, und hielten dem Angeklagten zugute, er habe angesichts der vorliegenden Befehle nicht anders handeln können.39 Jedoch fehlte es nicht an gegenteiligen Stimmen. In Traunstein und Umgebung stieß die Tat Tolsdorffs auf breite Ablehnung. Auch das linksliberale „Westdeutsche Tageblatt“ meinte, die Verurteilung stoße auf „Befriedigung“, jedoch sei die Strafe „unverständlich milde“ ausgefallen, denn der Angeklagte habe sich stets als „Förderer des verbrecherischen Hitlertums“ gezeigt und nichts dazu gelernt.40

38 Vgl. Der Heimkehrer vom 5. 7. 1954 : „General a. D. vor deutscher Ziviljustiz“; Der Fortschritt vom 1. 7. 1954 : „Weisungsgebundene Staatsanwälte“ und vom 8. 7. 1954 : „Sinn des letzten Widerstands“. Vgl. zum Prozess und den öffentlichen Reaktionen darauf Searle, Tolsdorff Trials, S. 59 f.; ders., Revising the „Myth“ of a „Clean Wehrmacht“ : Generals’ Trials, Public Opinion, and the Dynamics of Vergangenheitsbewältigung in West Germany, 1948–1960. In : German Historical Institute London Bulletin, XXV (2003) 2, S. 17–48, hier 27 ff., der jedoch aufgrund einer zu schmalen Quellenbasis die negativen Stimmen zu stark gewichtet. Das Urteil gegen Tolsdorff hatte keinen Bestand, es wurde 1955 auf Revision des Angeklagten vom BGH aufgehoben. Zum weiteren Verlauf des Verfahrens siehe unten. 39 Vgl. Kölner Stadtanzeiger vom 24. 6. 1954 : „Das Urteil in Traunstein“; Münchner Merkur von 24. 6. 1954 : „Tolsdorff erhält 3 ½ Jahre Gefängnis“. Selbst die sonst gegenüber NS - Tätern meist sehr kritische Süddeutsche Zeitung vom 24. 6. 1954 räumte in ihrem Artikel den Tolsdorff rechtfertigenden Argumenten des als Zeugen auftretenden begnadigten Kriegsverbrechers Albert Kesselring unwidersprochen großen Raum ein. 40 Westdeutsches Tageblatt vom 24. 6. 1954 : „Das Urteil von Traunstein“. Noch schärfer war die Ablehnung auf der extremen Linken. Das kommunistische Bayerische Volks Echo vom 25. 6. 1954 schrieb von einem „Anerkennungsurteil für Mördergeneral“ und das VVN - Organ Die Tat vom 3. 7. 1954 von einem „milden Urteil für feigen Mord“.

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„Die Mörder sind unter uns“ – die Jahre 1955–1958

Wie begrenzt das Interesse der Medien an der Strafverfolgung von NS - Tätern 1955 noch war, zeigt der Prozess gegen den ehemaligen Kommandanten des KZ Stutthof Paul - Werner Hoppe und zwei seiner Untergebenen in Bochum. Hoppe war der erste KZ - Kommandant, der sich vor einem bundesdeutschen Gericht strafrechtlich wegen seiner Verbrechen verantworten musste, insofern hätte seinem Fall besondere Aufmerksamkeit zu Teil werden können.41 Die überregionale Presse berichtete jedoch über den mit 22 Verhandlungstagen und der Vernehmung von mehr als 100 Zeugen aus dem In - und Ausland für die damalige Zeit recht großen und langen NS - Prozess nur knapp. „KZ - Kommandant nach zehn Jahren vor Gericht“, unter diesem Titel meldete die „Süddeutsche Zeitung“ am 9. November 1955 den Prozessauftakt. Die Namen der Angeklagten, ihre Funktion und die ihnen vorgeworfenen Verbrechen wurden kurz geschildert. Abschließend folgte noch ein Bericht über das Urteil – Hoppe erhielt fünf Jahre und drei Monate Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord –, in dem ausschließlich die Strafen referiert wurden.42 Über den Prozessverlauf selbst, die Zeugenaussagen, die Hintergründe der Verbrechen und das KZ Stutthof erfuhren die Leser hingegen nichts. Ähnlich kurz oder noch kürzer war die Berichterstattung in den anderen überregionalen Zeitungen, wie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ oder der „Frankfurter Rundschau“.43 Alle diese Artikel basierten im Wesentlichen auf Meldungen der Nachrichtenagenturen, eigene Korrespondenten wurden nicht zum Prozess entsandt. In den Presseorganen der Verfolgtenorganisationen war die Resonanz unterschiedlich. Obwohl vor allem die Vergasung jüdischer Frauen im Zentrum des Prozesses stand, berichtete die „Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ ähnlich knapp wie die überregionale Presse und allein auf der Basis der Agenturmeldungen, jedoch folgte sie dem neutralen Ton der übrigen Zeitungen nicht und überschrieb ihren Kurzbericht über den Prozessausgang mit : „Ein erschütternd mildes Urteil“.44 41

Die allermeisten KZ - Kommandanten wurden, soweit sie den Krieg überlebt hatten, von alliierten Militärgerichten oder ausländischen Gerichten abgeurteilt. Vgl. Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 130 ff. Neben Hoppe stand nur noch der Kommandant des KZ Groß Rosen Johannes Hassebroek vor einem bundesdeutschen Gericht, 1970 in Braunschweig. Hassebroek war anders als Hoppe jedoch zuvor bereits von einem britischen Militärgericht verurteilt worden. 42 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17./18. 12. 1955 : „Zuchthausstrafen im Stutthofprozess“. 43 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 11. 1955 : „Prozess um das Lager Stutthof“, vom 14. 12. 1955 : „Strafanträge im Stutthof - Prozess“, vom 19. 12. 1955 : „Zuchthaus im Stutthof - Prozess“; Frankfurter Rundschau vom 17. 12. 1955 : „Zuchthausstrafen im Stutthof - Prozess“. 44 Vgl. Allgemeine Wochenzeitung der Juden vom 11. 11. 1955 : „KZ - Prozess in Bochum“, vom 16. 12. 1955 : „Strafanträge im Stutthof - Prozess“, vom 23. 12. 1955 : „Ein erschütternd mildes Urteil“. Noch knapper das BVN - Organ Die Mahnung vom 15. 1. 1956 : „Nur 5 ¼ Jahre Zuchthaus“.

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Sehr viel umfangreicher war hingegen die Berichterstattung im Organ der kommunistisch dominierten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). „Die Tat“ brachte vier längere zusammenfassende Artikel über den Prozessverlauf, die Zeugenaussagen und das Plädoyer des Staatsanwalts. Die Schuld Hoppes war für die Zeitung bereits zu Beginn der Verhandlung unzweifelhaft, schon in ihrem ersten Bericht titulierte sie ihn als „KZ - Henker“. Seine Ausführungen sowie die der Entlastungszeugen wurden als unglaubwürdig hingestellt, die belastenden Zeugenaussagen hingegen mit drastischen Beschreibungen herausgestellt.45 Ausführlich nahm sich die Lokalpresse des Prozessgeschehens an. Die Bochumer Tageszeitungen und auch die Blätter aus der Nachbarschaft berichteten nahezu von jedem Prozesstag mit längeren Artikeln. „Bochumer Schwurgericht verhandelt bisher schwerste Anklage“ lautete zum Prozessauftakt am 7. November 1955 etwa die Schlagzeile des „Bochumer Anzeigers“, der Lokalausgabe der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“.46 Es gab freilich deutliche Anzeichen, dass sich Mitte der 50er Jahre der Trend, insbesondere der veröffentlichten Meinung, hin zu einem größeren Interesse an der Verfolgung von NS - Verbrechen und einer stärkeren Zustimmung hierzu zu wandeln begann. Auch die sich nun etwas mehr politischen Inhalten zuwendenden Illustrierten griffen das Thema immer wieder einmal auf. „Der Mörder ist unter uns“ titelte etwa die in Stuttgart erscheinende „Deutsche Illustrierte“ im Februar 1955 zum Fall des eben aus sowjetischer Kriegsgefangenenschaft heimgekehrten Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner, dem sinnloser Durchhalteterror und zahlreiche Hinrichtungen deutscher Soldaten gegen Kriegsende vorgeworfen wurden. Nahezu die gesamte Presse beschäftigte sich mit Schörner, teils in längeren Artikelserien, wobei weitgehend Einigkeit herrschte, dass Schörner wegen seiner Untaten vor Gericht gestellt werden müsse.47 Diese Ansicht war keineswegs auf die Zeitungen beschränkt, fast zwei Drittel der im Februar 1955 vom Institut für Demoskopie in Allensbach befragten Bundesbürger, die den Fall kannten, vertraten dieselbe Meinung.48

45 Die Tat vom 26. 11. 1955 : „KZ - Henker : ich bin persönlich eher mitleidig veranlagt“, vom 3. 12. 1955 : „Häftlinge auf dem Scheiterhaufen verbrannt“, vom 10. 12. 1955 : „Mit einem Eimer Wasser wurde das Blut weggespült“, vom 17. 12. 1955 : „Staatsanwalt fordert lebenslanges Zuchthaus für Hoppe“. 46 Bochumer Anzeiger vom 8. 11. 1955. Die Zeitung berichtete in der Folge von jedem Verhandlungstag bis zur Urteilsverkündung in längeren mehrspaltigen Artikeln. Ähnliches ist auch für die anderen Lokalzeitungen, etwa die Ruhr - Nachrichten oder die Westfälische Rundschau, festzustellen. Vgl. die Presseausschnitte im Staatsarchiv Münster, Staatsanwaltschaft Bochum 8856 und 9237. 47 Deutsche Illustrierte vom 12. 2. 1955. Vgl. Illustrierte Zeitung Berlin vom 15. 2. 1955 : „Nie wieder Schörner“; Titelgeschichte des Spiegel vom 9. 2. 1955 : „Schörner. Der laute Kamerad“, S. 11–18, oder die Artikelserie der Neuen Ruhrzeitung Essen vom 5.– 18. 2. 1955 : „Schörner – Marschall ohne Gewissen“, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. 48 Vgl. Noelle / Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Band 1 : 1949–1955, S. 199.

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Ende 1955 löste die Rückkehr der SS - Funktionäre des KZ Sachsenhausen Gustav Sorge und Wilhelm Schubert49, sowie des KZ - Arztes von Auschwitz Carl Clauberg50 aus der Sowjetunion, alle drei sogenannte nichtamnestierte Kriegsgefangene, ein ähnliches Presseecho aus. Zu dieser Zeit kulminierte außerdem erneut die öffentliche Kritik an Freisprüchen in NS - Prozessen, insbesondere im Ansbacher Prozess gegen den ehemaligen SS - Gruppenführer Max Simon wegen der standrechtlichen Erschießung mehrerer Bewohner des württembergischen Ortes Brettheim, weil diese gegen eine Verteidigung ihres Dorfes vor den herannahenden US - Truppen vorgegangen waren, und in einer Neuauf lage des Prozesses zur Penzberger Mordnacht in München. Insbesondere das Simon - Urteil stieß in der Presse auf nahezu einhellige Ablehnung. „Ein unglaubliches Urteil“ schrieb etwa die „Süddeutsche Zeitung“, und selbst eher konser vative Blätter wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Christ und Welt“ oder der „Münchner Merkur“ forderten eine Revision.51 Wie in anderen Fällen verband sich mit der Urteilsschelte eine Kritik an der NS - Belastung der Richterschaft, der Vorsitzende Richter in Ansbach war seit 1927 NSDAP - Mitglied gewesen. Dass „ein solcher Richter einen solchen Fall übertragen bekommen konnte, sollte man im demokratischen Deutschland des Jahres 1955 eigentlich nicht erwartet haben“, kommentierte der „Rheinische Merkur“.52 Die vermehrte Thematisierung von NS - Verbrechen ging insbesondere auf der politischen Linken einher mit einer wachsenden Kritik an der bisherigen Integrationspolitik gegenüber Nationalsozialisten, die nun wieder in höheren Stellungen auftauchten, hohe Pensionen kassierten ( etwa der ehemalige Oberreichsanwalt Ernst Lautz ) oder Entschädigungsforderungen für Enteignungen nach dem Krieg geltend machten. Zudem meldeten sich nun bei der Strafverfolgung der NS - Täter die Opfer verbände wieder stärker bzw. einige erstmals zu Wort, wie das 1952 gegründete Internationale Auschwitz - Komitee, was einigen Fällen 49 Vgl. etwa Frankfurter Rundschau vom 16. 1. 1956; Hamburger Echo vom 25. 1. 1956. Die SPD forderte in einer Anfrage im Bundestag vom 27.1. 56 eine umgehende gerichtliche Klärung der Vor würfe gegen Schubert und Sorge. Vgl. VdDBT, 2. Wahlperiode, Drs 2050 vom 27.1. 56, und Vorwärts vom 20. 1.1956. 50 Vgl. etwa Allgemeine Wochenzeitung der Juden vom 28. 10. 1955 : „Ein ungeheuerliches Verbrechen“ von H. G. van Dam; Süddeutsche Zeitung vom 29./30. 10. 1955 : „Wasser im deutschen Wein“ von Werner Friedmann; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 12. 1955 : „Experimente in Auschwitz“ von Hermann Pörzgen; insgesamt die Sammlung der Presseartikel in : IfZ - Archiv, ZA / P, Band 82. 51 Süddeutsche Zeitung vom 21. 10. 1955 : „Ein unglaubliches Urteil“. Vgl. u. a. Die Zeit vom 27. 10. 1955 : „Freispruch für SS - Mörder“; Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung vom 26. 10. 1955 : „Irr wege der Justiz“; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 10. 1955 : „Ein Standgericht“; Münchner Merkur vom 21. 10. 1955 : „Freisprüche im Simon - Prozess lösen starkes Echo aus“; Christ und Welt vom 27. 10. 1955 : „Revision gegen Simon“. 52 Rheinischer Merkur vom 4. 11. 1955. Die Kritik an der NS - Belastung der bundesdeutschen Justiz wurde in der Folge vor allem durch mehrere Kampagnen aus DDR angeheizt. Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 23 ff. Diese wurden zwar im Westen zunächst als kommunistische Destabilisierungsversuche und Propaganda zurückgewiesen, lieferten jedoch im Laufe der Zeit auch den bundesdeutschen Kritikern eine Menge Material.

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(etwa den Ermittlungen gegen Clauberg ) bisher kaum gekannte transnationale Dimensionen verlieh. Die Opfer fanden nun in der Presse ebenfalls stärkere Beachtung, so erschienen etwa ausführliche Artikel über einige der in Brettheim Hingerichteten oder über den auf Anordnung des Generalmajors Tolsdorff erschossenen Hauptmann.53 Die verstärkte Aufmerksamkeit für das Thema war auch Ausdruck einer Normalisierung des Lebens in der Bundesrepublik und einer zunehmenden Politisierung der Öffentlichkeit nach einer Zeit der gewissen Ruhe und des Konsenses in der ersten Hälfte der 50er Jahre54 angesichts der Debatten um einen deutschen Wehrbeitrag, die Wiederaufrüstung und einer möglichen Atombewaffnung der Bundeswehr. Zwar fanden auch 1957 noch manche NS - Verfahren weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit statt, so der zweite Prozess gegen den KZ - Kommandanten Hoppe in Bochum.55 Insgesamt ist jedoch nun eine sehr viel intensivere Beschäftigung der überregionalen Zeitungen mit laufenden Prozessen festzustellen. Das begann mit dem lange erwarteten Prozess gegen Schörner in München im Oktober 1957, setzte sich zur Jahreswende 1957/58 fort mit dem Arnsberger Prozess wegen der Erschießung von Fremdarbeitern zu Kriegsende, und 1958 mit der Wiederauf lage des Simon - Prozesses in Nürnberg im März / April, dem Prozess gegen den ehemaligen Arrestver walter des KZ Buchenwald Martin Sommer im Juni / Juli in Bayreuth, dem Ulmer Einsatzgruppen - Prozess von April bis August und dem kaum kürzeren Prozess gegen Schubert und Sorge in Bonn von Oktober 1958 bis Februar 1959. Erschreckt stellten manche Kommentatoren etwa anlässlich des Arnsberger Prozesses fest, dass es sich bei einigen der Täter nicht um verkappte Sadisten, verbrecherische Naturen oder Fanatiker gehandelt hatte, sondern um „normale“ Familienväter, die nun wieder als angesehene Männer lebten. „Bestürzend“ und „beschämend“ fand Herbert Hausen vom Sender Freies Berlin die Tatsache, dass hier ein eher beiläufig von einem SS - General gegebener Befehl von „im Grunde harmlosen, braven Bürgern, die nur der Krieg in Uniformen gezwungen hat, peinlich sorgsam ausgeführt“ worden sei, ohne dass sie ihr Gewissen oder ein „ungutes Gefühl“ davon hätte abbringen können. Wie leicht „der Mensch das ihm innewohnende Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse“ verlor, gemahnte für Hausen, wohl mit dem Blick nach Osten, auch 53 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 31. 10. 1955 : „Das Dorf Brettheim klagt an“ und vom 24. 11. 1955 : „Sie ist ja nur die Witwe eines widerrechtlich Gehängten“; Die Welt vom 26. 9. 1958 : „Er starb für das Dorf Eisenärzt“. 54 Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006, S. 293 ff. 55 Die Staatsanwaltschaft hatte das Urteil von 1955 angefochten und nach dessen Aufhebung wurde Hoppe in der Neuverhandlung am 4. 6. 57 zu neun Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord verurteilt; anders als 1955 wurden ihm diesmal auch die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Von den großen überregionalen Blättern brachte lediglich Die Welt vom 5. 6. 1957 („Urteil im KZ - Prozess“) eine Kurzmeldung über das Urteil; auch die Allgemeine Wochenzeitung der Juden vom 7. 6. 1957 berichtete erneut nur knapp über die Urteilsverkündung : „Massenmorde im KZ Stutthof“.

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für die heutige Zeit. Denn es werde offenbar, „dass auch der totalitäre Staat, dessen anonyme Allmacht uns so oft als Entschuldigung dient, nur von Menschen gemacht und nur durch Menschen am Funktionieren gehalten wird“.56 Die Zeitungen beschränkten ihre Berichterstattung nun auch nicht mehr allein auf die Plädoyers und die Urteilsverkündung. Erste Artikel erschienen jetzt oft schon vor Beginn der Hauptverhandlung, deren Verlauf dann zumindest in Etappen begleitet wurde. Erstmals gerieten nicht nur einzelne Urteile in die Kritik, sondern die Ermittlungstätigkeit der Justiz in Sachen NS - Verbrechen insgesamt bis hin zur offenen Skandalisierung von Vorgängen wie etwa der Flucht des ehemaligen KZ - Arztes Walter Eisele kurz vor der geplanten Verhaftung in München Anfang Juli 1958. „Fall Eisele wird Justizskandal“ konnte man in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen, und der „Spiegel“ beklagte „Versäumnisse der Justiz“.57 Die „Stuttgarter Nachrichten“ erinnerten die Justiz an ihre „Verpflichtung, die Verbrechen des Dritten Reiches zu sühnen“, und ermahnten sie, einen Weg zu suchen durch den „Irr - und Nebenwege, die zu einer Verdunkelung führen“, ausgeschaltet würden.58 Auch gestandene Konser vative wie Paul Wilhelm Wenger schlossen sich an. In der katholischen Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ schrieb er, die Justiz sei es „sich und der Gerechtigkeit schuldig, künftig mit äußerster Energie die Rückstände einer schrecklichen Vergangenheit abzutragen“.59 Sie müsse sich wieder auf das Legalitätsprinzip besinnen und die Gräueltaten des Dritten Reiches mit derselben Energie verfolgen, die sie derzeit offenbar nur für Verkehrsdelikte aufbringe. Ernst Müller Meiningen jr. sprach in der „Süddeutschen Zeitung“ Ende August 1958 in einem Kommentar zum Ulmer Einsatzgruppen - Prozesses von einem „Zufallsprodukt einer Zufallsjustiz“ und kritisierte, dass „bislang überhaupt noch nichts Systematisches gegen die Verbrecher aus jener Zeit unternommen“ worden sei.60 Ähnlich äußerten sich die „Frankfurter Rundschau“ und die „Stuttgarter Zeitung“.61 In letzterer lancierte dann am 3. September 1958 der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann, der die Ermittlungen im Ulmer Prozess maßgeblich angestoßen hatte, seinen Vorschlag zur Einrichtung einer zentralen Ermittlungsstelle für NS - Verbrechen, den er bereits im Juli gegenüber der baden - württembergischen Justizver waltung geäußert hatte, noch einmal öffentlichkeitswirksam.62 Dieser Vorschlag wurde von mehreren Zeitun56 Kommentar vom 13. 2. 1958, abgedruckt in : Die Mahnung vom 1. 3. 1958. Vgl. auch Stern vom 8. 2. 1958 : „Denn sie mussten wissen, was sie tun“. 57 Süddeutsche Zeitung vom 12./13. 7. 1958 und Spiegel vom 9. 7. 1958, S. 28. 58 Stuttgarter Nachrichten vom 24. 7. 1958 : „Der Weg des Rechts“. 59 Rheinischer Merkur vom 25. 7. 1958 : „Ver weste Prozesse“. 60 Süddeutsche Zeitung vom 30./31. 3. 1958 : „Gespenstische Vergangenheit vor Gericht zitiert“. 61 Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 30. 8. 1958 : „Die Gerechtigkeit darf nicht länger vom Zufall abhängen“ von Heinz Lauser. 62 Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 3. 9. 1958 : „Zentrale Ermittlungsbehörde muss Klarheit über NS - Verbrechen schaffen“; Nellmann an baden - württembergisches Justizministerium vom 22. 7. 1958 ( HStA Stuttgart, EA 4/106, Nr. 2).

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gen sehr positiv aufgenommen, auch von eher konser vativen Blättern. Der Schlussstrich werde nur möglich sein, schrieb etwa der „Trierische Volksfreund“, wenn man mit einiger Sicherheit sagen könne, dass alle oder doch ein über wiegender Teil der KZ - Verbrechen gesühnt seien.63 In diesem Zitat kam auch die in weiten Kreisen vorherrschende Ansicht oder Hoffnung zum Ausdruck, dass das zwar für notwendig gehaltene Kapitel Strafverfolgung von NS - Verbrechen doch ein endliches sei und nach ein paar Jahren intensiver Ermittlungen beendet werden könne. Somit entsprang die durch Beschluss der Justizministerkonferenz vom 3. Oktober 1958 ins Leben gerufene Zentrale Stelle der Landesjustizver waltungen zwar einer Initiative aus den Kreisen der Justiz. Dass sie in ihrer Form einer zentralen Ermittlungsbehörde dann aber auch gegen manche Skepsis durchgesetzt werden konnte, verdankt sich neben einigen engagierten Justizvertretern auch maßgeblich dem Druck, den Presse und Rundfunk in dieser Sache inzwischen entfacht hatten. Die Debatte, die sich 1958 um eine angemessene Ahndung der NS - Verbrechen entfaltete, wies in manchen Punkten auch bereits über den engen Fokus der Justiz hinaus. Denn vielfach wurde nun – zusätzlich angestoßen durch die Anfang des Jahres aufgeflammte Diskussion über einen neuen Antisemitismus – in Veröffentlichungen und Reden auch ein grundsätzlich anderer Umgang mit der NS - Vergangenheit verlangt. Nicht Schlussstrich und Vergessen, sondern aktives Erinnern sei geboten. Teilweise ging dies einher mit einer Kritik am Bildungssystem und der mangelhaften Aufklärung der Jugend über den Nationalsozialismus allgemein und dessen Verbrechen im Besonderen.64 Die junge Generation, die die NS - Zeit und den Krieg selbst nicht bewusst erlebt hatte, meldete sich – angestoßen von den Prozessen – vermehrt kritisch zu Wort und beklagte das „Schweigen“ der Eltern und Lehrer.65 Ob und inwieweit die veränderte Haltung der veröffentlichten Meinung zu den NS - Strafverfahren und zur NS - Vergangenheit auch auf die breite Bevölkerung durchschlug, ist eine nur schwer zu beantwortende Frage. Zumindest in der Folge des Ulmer Einsatzgruppen - Prozesses scheint dies der Fall gewesen zu 63 Vgl. Trierischer Volksfreund vom 15. 9. 1958. Freilich war dies auch in der Justiz selbst verbreitete Ansicht. Nellmann war in seinem Vorschlag davon ausgegangen, dass in zwei Jahren alles aufgearbeitet sein könnte. 64 Vgl. etwa Der Tagesspiegel vom 8. 2. 1959; den Kommentar von Herbert Hausen und Gottfried Paulsen unter dem Titel „Über windung der Vergangenheit“, gesendet im RIAS am 16. 2. 1959 ( abgedruckt in : Die Mahnung vom 1. 3. 1959); oder die Ausführungen des SPD - Abgeordneten Adolf Arndt anlässlich der Justizdebatte im Bundestag Anfang 1959 ( VdDBT, 3. Wahlperiode, 56. Sitzung vom 22. 1. 1959, S. 3049 ff.). 65 Vgl. Die Mahnung vom 1. 3. 1959 : „Heraus mit der Wahrheit. Die Jugend muß aufgeklärt werden“; oder die im Oktober 1958 im Deutschen Fernsehen im Rahmen des „Gesprächs des Monats“ ausgestrahlte Diskussion zum Thema „Morde, die nicht verjähren“ ( Allgemeine Wochenzeitung der Juden vom 28. 11. 1958). Im Fernsehen war seit 1958 überhaupt eine verstärkte Thematisierung der NS - Vergangenheit feststellbar. Vgl. Christoph Classen, Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955–1965, Köln 1999, S. 29 ff.

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sein, denn im August 1958 erklärten in einer Allensbach - Umfrage immerhin 54 Prozent der Befragten, dass sie für eine Fortführung der deutschen NS - Prozesse seien.66 Ein gutes Drittel sprach sich aber nach wie vor für einen Schlussstrich und gegen eine weitere Strafverfolgung von NS - Verbrechen aus. Schon Anfang 1958 hatte sich ein Ingenieur mit einem Brief beim Bundespresseamt, die tatsächlichen Verhältnisse aber wohl stark übertreibend, beschwert : „Die deutsche Presse, vor allen Dingen die illustrierte, überschwemmt seit geraumer Zeit die Welt mit reklamemäßig groß aufgemachten Sensationsberichten [...] über Massenerschießungen, Menschenquälerien, Vergasungen durch die bösen Nazis.“ Solche Berichte dienten nur der „Schädigung des deutschen Ansehens im Ausland“, meinte der Schreiber, das deutsche Volk selbst wolle diese „sehr unschöne Zeit“, in der „ungeheure Verbrechen“ geschehen seien, am liebsten vergessen.67 Die Medien waren jedoch zu dieser Zeit noch keineswegs so allgegenwärtig, wie dies heute der Fall ist, weshalb ein Teil der Bevölkerung von den geschilderten Debatten überhaupt nicht berührt worden sein dürfte. „Der Ulmer Einsatzgruppen - Prozess im Jahre 1958 ist mir völlig unbekannt geblieben“, erklärte ein im April 1959 in Heidelberg verhafteter Stiefelputzer. Er komme nur höchst selten dazu, Zeitung zu lesen. Der Mann war Karl Jäger, ehemals SS - Standartenführer und Leiter des Einsatzkommandos 3a, das von Juli bis November 1941 in Litauen über 130 000 Menschen, zum allergrößten Teil Juden, umgebracht hatte.68 Die Verhaftung des unter seinem richtigen Namen lebenden Jäger war einer der ersten spektakulären Erfolge der Ermittler der Zentralen Stelle.

66 Vgl. Noelle / Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Band 3 : 1958–1964, S. 221. Dieses Umfrageergebnis kontrastiert stark mit späteren Allensbach - Umfragen von Oktober 1963 und Januar 1965, bei denen sich 54 bzw. 52 Prozent der Befragten für ein Ende der Strafverfolgung aussprachen. Vgl. ebd., Band 4 : 1965–1967, S. 165. 67 Schreiben vom 22. 1. 1958 aus Helsinki ( BArch, B 145/3765). Zit. nach von Hodenberg, Konsens, S. 189 f. 68 Vernehmung Jägers am 10. 4. 1959 ( HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 32438); für den Hinweis danke ich Edith Raim. Jäger nahm sich wenige Wochen später in der Untersuchungshaft das Leben.

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Der erste Bergen - Belsen - Prozess 1945 und seine Rezeption durch die deutsche Öffentlichkeit John Cramer

Das erste jener frühen alliierten Strafverfahren gegen diejenigen, die als Angehörige des SS - Personals, als Aufseher oder Funktionshäftlinge die eigentliche „Tötungsarbeit“ in den Konzentrations - und Vernichtungslagern verrichtet hatten, war ein britisches Militärtribunal, das am 17. September 1945 in Lüneburg unter der Bezeichnung „First Belsen Trial“ eröffnet wurde.1 Angeklagt waren SS - Hauptsturmführer Josef Kramer, von Mai bis Dezember 1944 Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz - Birkenau, anschließend Kommandant von Bergen - Belsen, sowie 20 weitere SS - Männer, 16 KZ - Aufseherinnen, die dem sogenannten „SS - Gefolge“ angehört hatten, und elf ehemalige Funktionshäftlinge.2 Abgesehen von Kramer, hatten nur noch drei Angeklagte – SS - Obersturmführer Fritz Klein, Lagerarzt in Auschwitz und Bergen - Belsen, SS - Obersturmführer Franz Hoessler, Schutzhaftlagerführer im Frauenlager Auschwitz Birkenau und im sogenannten „Kasernenlager“ von Bergen - Belsen, sowie Elisabeth Volkenrath als Oberaufseherin des Frauenlagers Bergen - Belsen – maßgebliche Funktionen innerhalb der SS - Organisation bekleidet. Bei den übrigen SSMännern handelte es sich hauptsächlich um Mitglieder des Kommandanturpersonals Bergen - Belsen, die als Block - oder Kommandoführer eingesetzt und über Mannschafts - oder Unteroffiziersdienstgrade nicht hinausgekommen waren. Des Weiteren befanden sich unter den Angeklagten nur zwei SS - Leute, die schon vor dem Jahreswechsel 1944/1945 in Bergen - Belsen stationiert gewesen waren; die übrigen angeklagten SS - Männer, sämtliche vor Gericht stehen-

1

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Der vorliegenden Beitrag stützt sich auf meine Dissertation „Der Lüneburger Prozess 1945. Vorbereitung, Durchführung und Rezeption des ersten Nachkriegsverfahrens gegen Personal des Konzentrationslagers Bergen - Belsen sowie des Konzentrations - und Vernichtungslagers Auschwitz“, die 2008 von der Universität Lüneburg angenommen wurde. Leider konnten nach Abschluss der Arbeit die Überschriften der Zeitungsartikel nicht mehr recherchiert werden. Gegen drei SS - Leute wurde die Anklage fallengelassen, da sie bei Prozessbeginn noch an Fleckfieber litten; gegen einen weiteren wurde kein Urteil verkündet, da er am 23. 10. 1945 ebenfalls als nicht verhandlungsfähig in ein Hospital eingeliefert worden war; bei einer Person stellte sich erst im Verlauf des Verfahrens heraus, dass es sich um einen ehemaligen Häftling handelte, den man irrtümlich zum KZ - Personal gezählt hatte, da er in SS - Kleidung festgenommen worden war.

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den Aufseherinnen und bis auf eine Ausnahme auch alle beschuldigten Kapos waren erst ab Ende Januar nach Bergen - Belsen gelangt, zum Teil sogar erst wenige Tage vor der Befreiung des Lagers. Der Umstand, dass die meisten Angeklagten in Auschwitz oder einem der schlesischen Außenlager tätig gewesen waren, bevor sie nach Bergen - Belsen überstellt wurden, bedingte, dass sie vielen Zeugen, die man ja häufig ebenfalls erst im Zuge der Auf lösung der Konzentrations - und Vernichtungslager im Osten in die Lüneburger Heide deportiert hatte, bereits aus der Zeit vor 1945 bekannt waren. Die Anklageschrift für den Prozess bestand daher aus zwei Punkten : Erstens wurden bis auf einen weiblichen Kapo alle Angeklagten der Verübung von Kriegsverbrechen in Bergen - Belsen beschuldigt, und zwar insofern, als sie sich “entgegen ihrer Verantwortung für das Wohlbefinden der dort internierten Personen gemeinschaftlich in Gruppen und entgegen den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges zur Misshandlung derselbigen Personen zusammenfanden und dabei den Tod [...] alliierter Staatsbürger verursachten“; darüber hinaus wurden zwölf Beschuldigte für Kriegsverbrechen angeklagt, die sie in Auschwitz begangen haben sollten.3 Am 17. November 1945 verkündete das Gericht seine Urteile : Elf Angeklagte, darunter Kramer, wurden zum Tode verurteilt, 19 erhielten Freiheitsstrafen, 14 wurden freigesprochen. Die zum Tode verurteilten acht Männer und drei Frauen gehörten alle der SS bzw. dem SS - Gefolge an; unter den zu Haftstrafen verurteilten Personen befanden sich acht ehemalige Funktionshäftlinge. Alle Todesurteile wurden vom Oberbefehlshaber der britischen Besatzungstruppen in Deutschland, Feldmarschall Bernard L. Montgomery, bestätigt und am 12. Dezember 1945 im Zuchthaus Hameln durch Erhängen vollstreckt. Wenngleich viele Briten die NS - Verbrechen als Ausdruck eines generellen und grundlegenden Defizits des „deutschen Charakters“ betrachteten, überwog doch zunächst eine optimistische Einschätzung hinsichtlich der „Umerziehbarkeit“ Deutschlands durch die Alliierten. Die Frage „Can We Re - Educate Germany ?“ beantwortete etwa die „British Zone Review“ in einem Leitartikel eindeutig mit Ja. Man ging von der idealistischen Vorstellung einer vollständigen Desillusionierung der Deutschen bezüglich des NS - Regimes und einem damit verbundenen, einer langen Phase intellektueller Isolation entspringenden Verlangen nach glaubhafter Aufklärung bzw. geistiger Anleitung aus4 – der Zusammenbruch galt mithin als Chance. Die meisten Kommentatoren bezweifelten jedoch, dass sich Desillusionierung und Aufklärungsverlangen von alleine einstellen würden, und verwiesen auf die Notwendigkeit einer aktiven Demokratisierungspolitik. In diesem Konzept nahm die gerichtliche Verfolgung der NS 3 4

Vgl. Charge Sheet, abgedruckt in : Raymond Phillips, Trial of Joseph Kramer and 44 Others. The Belsen Trial, London 1949, S. 4 f. British Zone Review vom 8. 12. 1945. Zu Vorstellungen der Umsetzbarkeit dieser Umerziehungsidee vgl. Kurt Jürgensen, The concept and practice of „re - education“ in Germany 1945–50. In : Nicholas Pronay / Keith Wilson ( Hg.), The political re - education of Germany and her allies, London 1985, S. 83–96.

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Verbrechen eine zentrale Rolle ein : Mit der Durchführung von Prozessen, so der Plan der Besatzungsmacht, würden nicht nur die Täter bestraft und die Taten gesühnt; durch die juristische Aufarbeitung sollte auch eine moralische Läuterung erzielt und damit die Voraussetzung für ein neues Deutschland geschaffen werden, „a Germany of light and life and freedom, a Germany which respects truth and tolerance – and justice“, wie eine Dokumentation der „Crown Film Unit“ überschwänglich verkündete.5 Dem Lüneburger Prozess als erstem großen Strafverfahren in der britischen Zone hätte dabei exemplarische Bedeutung zukommen sollen – in einer Oberhausdebatte bezeichnete Lord Nathan, Staatssekretär im Kriegsministerium, das Tribunal als „definite thing in the re - education of Germany“.6 Um die gewünschte, über den Prozessort Lüneburg hinausgehende Breitenwirkung zu erzielen, bedienten sich die Briten der ihnen zur Verfügung stehenden Medienmaschinerie aus Wochenschau, Rundfunk und vor allem Zeitungen.7 Handelte es sich aus deutscher Sicht also um eine quasi verordnete Berichterstattung, sahen die in Lüneburg akkreditierten deutschen Medienvertreter ihre Aufgabe doch vor allem als Chance, an einem von ihnen begrüßten, ja sogar ersehnten „Lehrprozess“8 mitzuwirken; diesen begriffen sie als unbequemes Angebot an ihre Mitbürger, eine Selbsterkenntnisprozedur mit daraus resultierender Läuterung in Gang zu setzen. Auf die sonst übliche Zensur verzichteten die Briten weitgehend : Nachdem es zunächst geheißen hatte, alle Korrespondentenberichte müssten vor ihrer Veröffentlichung in englisch, deutsch oder französisch vorgelegt werden, um von britischen Medienzensoren begutachtet werden zu können, wurden diese Pläne eine Woche vor Beginn der Hauptverhandlung revidiert : „There will be no Press Censorship and correspon-

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Zit. nach Nicholas Pronay, Defeated Germany in British newsreels 1944–45. In : Kenneth R. M. Short / Stephan Dolezel ( Hg.), Hitler’s fall. The newsreel witness, London 1988, S. 28–49, hier 47. Typisch für diese Haltung ist ein Leserbrief des Viscount Cecil of Chelwood an die Sunday Times ( abgedruckt am 4. 11. 1945) : „The object is not so much to secure the rapid execution of so many Germans, but rather to demonstrate irrefutably what has been the consequence of the infamous policy of the German rulers. Recognition by the German people of this truth is the first step in that re - education which is essential for the future peace of the world.“ News Chronicle vom 24. 10. 1945. Im Herbst 1944 hatte eine anglo - amerikanische Expertengruppe mit den „Instructions for German Press“ einen Drei - Phasen - Plan für die alliierte Informationspolitik in Deutschland nach der Besetzung vorgelegt. Nach einem anfänglichen „Informations Blackout“ ( infolge des Verbots aller deutschen Zeitungen ) erschienen in der zweiten Phase ausschließlich alliierte Militärblätter ( insgesamt dreizehn Heeresgruppenzeitungen mit einer Gesamtauf lage von drei Millionen Exemplaren ), ehe in der dritten Phase ab dem Sommer 1945 zusätzlich deutsche Zeitungen unter alliierter Kontrolle – die sogenannte Lizenzpresse – zugelassen wurden. Vgl. Peter Rzeznitzeck, Von der Rigorosität in den Pragmatismus. Aspekte britischer Presse - und Informationspolitik im Nachkriegsdeutschland 1945–1949, Düsseldorf 1989. Titel einer Broschüre zum IMT, die Alfred Döblin 1946 unter dem Pseudonym Hans Fiedler veröffentlichte.

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dents may, therefore, write their stories in any language.“9 Sei es, dass sich die Briten ihrer Sache ganz sicher waren oder dass sie diesen Zensur verzicht bewusst als vertrauensbildende Maßnahme einsetzten – jedenfalls fiel das deutsche Presseecho auf den Prozess uneingeschränkt positiv aus : „Über allem aber Recht und Gesetz“ titelte das „Neue Oldenburger Tagblatt“ am Tag nach der Urteilsverkündung.10 Der Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ berichtete begeistert, auf der Zuschauergalerie sei „der himmelweite Unterschied zwischen dem summarischen Verfahren des berüchtigten Nazi - Volksgerichtshofs und der auf alter Tradition fußenden britischen Rechtsprechung lebhaft [...] besprochen“ worden.11 „Das Verfahren war so einwandfrei, wie es nur sein konnte“, lobte auch die „Neue Rheinische Zeitung“ und betonte : „Der Wille, in jeder Beziehung Gerechtigkeit zu üben, war tragendes Moment der gesamten Verhandlungsführung.“ In diesem Sinne müsse der Belsen - Prozess Ausgangspunkt für den Neuaufbau einer Gesellschaft in Deutschland sein, „die in der Form der Demokratie solche Verstöße gegen die Heiligkeit des Lebens verhindert und gleichzeitig die sittliche Persönlichkeit durch das Erziehungswesen wieder zum Maßstab der letzten, menschlichen Entscheidungen macht.“12 Die herausragende Persönlichkeit unter den deutschen Journalisten in Lüneburg war kein Zeitungsautor, sondern der einzige deutsche Radioreporter, der zum Prozess zugelassen war : In 21 Beiträgen berichtete Axel Eggebrecht für den Nordwestdeutschen Rundfunk über 34 der insgesamt 54 Verhandlungstage13 und konzentrierte sich dabei weniger auf juristische oder prozessuale Fragen, sondern vielmehr auf die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe von Taten und Tätern. Bei der Beschäftigung mit der Frage, wie Auschwitz und Bergen - Belsen hatten möglich werden können, verfiel Eggebrecht immer wieder auf das „System“ oder den „Apparat“ und verband damit eine Anklage gegen das Regime an sich, welches brave Bürger – „kleine ordentliche Leute“ – erst zu Erfüllungsgehilfen des Terrors und dann zu Urhebern des eigenen Untergangs gemacht habe. „Was jetzt über Deutschland hereingebrochen ist“, so Eggebrecht in einer Sendung, „das ist in vollem Umfange die Katastrophe, die von den Erfindern des Systems von Auschwitz herbeigeführt worden ist.“ Opfer der dunklen Verführungskünste von Hitler, Goebbels usw. geworden zu sein, bedeutete für 9 „Belsen Trials – Instructions for Press“, Public Relations Branch, Control Commission for Germany ( British Element ), British Army of the Rhine, vom 10. 9. 1945 ( TNA, WO 309/424, S. 3). 10 Neues Oldenburger Tagblatt vom 19. 11. 1945. 11 Frankfurter Rundschau vom 12. 10. 1945. 12 Neue Rheinische Zeitung vom 21. 11. 1945. 13 Eggebrechts Beiträge hatten eine durchschnittliche Länge von acht Minuten und enthielten keine Originalaufnahmen aus dem Gerichtssaal, da nach englischem Recht die Verhandlungen nicht mitgeschnitten werden durften. Eine detaillierte Analyse dieser Sendungen zum Belsen - Prozess findet sich bei Christof Schneider, Nationalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks 1945–1948, Potsdam 1999, S. 157–160, sowie Thomas Berndt, Nur das Wort kann die Welt verändern. Der politische Journalist Axel Eggebrecht, Herzberg 1998, S. 119–133.

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den Journalisten aber keine automatische Entschuldigung – weder der Direkttäter aus den Lagern, die für ihn nichts als gehorsame und willige „Handlanger“14 gewesen waren, noch des deutschen Volkes insgesamt, das nun „in den Zeugenstand [ des ] eigenen Gewissens“15 treten müsse. Jedoch erwies sich die Bereitschaft der Deutschen zur Gewissensprüfung als eher gering, wie schon die Zuschriften an Eggebrechts Sender zeigen – statt „belehrender Wortsendungen“ und „Hetzreden“ wünschte sich die Hörerschaft mehr „frischen Geist, Frohsinn und gute Laune.“16 In den Reaktionen auf den Belsen - Prozess deutet sich bereits die tiefe Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung in Deutschland an, wie sie sich im Verlauf des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg auftun sollte.17 Die im Vergleich zum IMT geringere Symbolkraft, aber auch der frühere Zeitpunkt des Lüneburger Verfahrens mögen die Gründe dafür sein, dass die optimistischen Pläne der Briten weniger an vorsätzlicher Widerspenstigkeit als vielmehr weitgehender Gleichgültigkeit seitens der deutschen Zielgruppe scheiterten. Obwohl sich die Lebens - oder besser gesagt : Überlebenssituation ein halbes Jahr nach Kriegsende nicht für alle Deutsche gleich bzw. gleich dramatisch darstellte, fand der Belsen - Prozess doch zu einem Zeitpunkt statt, da die erste Fassungslosigkeit über die militärische Niederlage vielfach in eine tiefe Resignation oder Dauerapathie angesichts universellen Mangels und geringer Aussicht auf baldige Besserung übergegangen war.18 In einer Situation, da sich „Leben“ auf die Sicherstellung der bloßen physischen Existenz reduzierte, besaßen viele Deutsche offenbar weder die Kraft noch den Willen, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die sich nicht unmittelbar auf ebendiese Existenzsicherung auswirkten.19 Man könne sich den damals herrschenden Fatalismus gar nicht drastisch genug vorstellen, schreibt beispielsweise Hildegard Hamm - Brücher auf den Herbst 1945 rückblickend : „Wir waren ein äußerlich und innerlich total zerstör-

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In seinen Sendungen hatte sich Eggebrecht bemüht, die biografischen Hintergründe der Angeklagten darzustellen, „Charakterbilder“ zu skizzieren und die Frage individueller Verantwortung oder Schuld unvoreingenommen zu beantworten. Sein Fazit : Das Gericht habe keine „wehrlosen Opfer eines Systems“ verurteilt, sondern „sehr bewusste und tatbereite Helfer“. Vgl. Nachlass Eggebrecht ( Staats - und Universitätsbibliothek Hamburg, NE Ai 21 : „Belsen - Prozess : Abschluss“, 18. 11. 1945). Ebd. ( Staats - und Universitätsbibliothek Hamburg, NE Ai 12 : „14. und 15. Tag des Belsen - Prozesses“, 3. 10. 1945). Zit. nach Berndt, Nur das Wort, S. 135. Vgl. Anneke de Rudder, „Warum das ganze Theater ?“ Der Nürnberger Prozess in den Augen der Zeitgenossen. In : Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 6 (1997), S. 218– 242, hier 220. „People look healthy at first glance“, berichtete z. B. Joseph Barnes in der Washington Post vom 4. 11. 1945. „But it does not take long to see 12 years of Hitler and nearly six of war have made them casualties of a new kind, like their cities – some sort of ‚bomb happy‘ lethargy.“ Vgl. z. B. Barbara Marshall, German attitudes to British Military Government 1945–47. In : Journal of Contemporary History, 15 (1980), S. 655–684.

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tes, demoralisiertes und entkräftetes Volk, mit einer schrecklichen Vergangenheit belastet und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft.“20 Lüneburg, ehemaliger Verwaltungssitz des Gaues Ost - Hannover, war zwar von Bombenangriffen weitgehend verschont geblieben, hatte allerdings in den letzten Kriegsmonaten durch den extremen Zustrom von Flüchtlingen eine Verdoppelung seiner Bevölkerung erfahren, was zu einer dramatischen Verknappung der vorhandenen Lebensmittel - und Wohnraumkapazitäten geführt hatte.21 Der Mangel an Wohnraum wurde nun im Zuge des Belsen - Prozesses noch zusätzlich verschärft : Anfang September wies die örtliche Militärregierung das städtische Wohnungsamt an, bis zum Elften des Monats 15 Wohnhäuser komplett räumen zu lassen, um Unterbringungsmöglichkeiten für die erwarteten Vertreter der internationalen Presse zu schaffen; zusätzlich dazu seien 27 möblierte Zimmer zur Verfügung zu stellen.22 Außerdem hatte das Requisitionsamt Mobiliar und Einrichtungsgegenstände zu beschaffen, u. a. 14 Sofas, 31 Teppiche, 128 Sessel sowie je 110 Toiletten - und Waschtische.23 Nur jeder zehnte dieser Gegenstände konnte aus städtischen Beständen beschafft werden, der Großteil hingegen war nur „durch Requirierung aus dem Eigentum der Bevölkerung zu sichern“, wie es im Lagebericht der Militärregierung heißt.24 Damit nicht genug: Die aus ihren Wohnungen vertriebenen Besitzer wurden außerdem verpflichtet, täglich zwischen sieben Uhr vormittags und sechs Uhr abends „zur Säuberung des Hauses und zum Bettenmachen“ zu erscheinen.25 Je zwei britische Soldaten pro Wohneinheit sollten Plünderungen verhindern – insbesondere solche durch die deutschen Alteigentümer.26 Angesichts der Tatsache, dass sich zu diesem Zeitpunkt über 80 000 Menschen auf Unterkünfte verteilen mussten, die 20 Süddeutsche Zeitung vom 18. 7. 2003. Bei Aussagen wie diesen gilt es natürlich zu berücksichtigen, dass selbst innerhalb eines eng eingegrenzten zeitlichen Rahmens verallgemeinernde Aussagen zu gesellschaftlichen „Befindlichkeiten“ nur bedingt möglich sind, da es sich hierbei um ein empirisch schwer zu fassendes Phänomen handelt und obendrein regionale, soziale und letztlich individuelle Unterschiede eindeutige Generalisierungen verhindern. 21 Vgl. Helmut C. Pless, Lüneburg 45. Nordost - Niedersachsen zwischen Krieg und Frieden, Lüneburg 1982. 22 Vgl. Bericht über die Ver waltung der Stadt Lüneburg in der Zeit vom 6.–19. September 1945 ( Stadtarchiv Lüneburg, 0000/0/13, Band 2 : Lageberichte für die Militärregierung / Einzelberichte, Band 2 : September 1945 – Mai 1946). 23 Vgl. Schreiben an das Requisitionsamt vom 13. 9. 1945 ( Stadtarchiv Lüneburg, 0000/0/7, Band 7 : Befehle und Anordnungen der Militärregierung, September 1945 – Oktober 1945). 24 Vgl. Bericht über die Ver waltung der Stadt Lüneburg in der Zeit vom 6.–19. September 1945 ( Stadtarchiv Lüneburg, 0000/0/13, Band 2 : Lageberichte für die Militärregierung / Einzelberichte, Band 2 : September 1945 – Mai 1946). 25 Vgl. Town Major Tolley an den Oberbürgermeister von Lüneburg vom 7. 9. 1945 ( Stadtarchiv Lüneburg, 0000/0/7, Band 7 : Befehle und Anordnungen der Militärregierung, September 1945 – Oktober 1945). 26 Vgl. Schreiben an das Requisitionsamt vom 30. 8. 1945 ( Stadtarchiv Lüneburg, 0000/0/7, Band 6 : Befehle und Anordnungen der Militärregierung, Juli 1945 – August 1945); vgl. auch „Minutes of a Meeting held on 18 Aug 45 at 1130 hrs at Lüneburg to discuss the Trial of 46 BELSEN Camp Staff“ ( TNA, WO 309/1387).

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eigentlich für ca. 38 000 berechnet waren,27 dürfte diese weitere Wohnraumverknappung kaum dazu beigetragen haben, die Bevölkerung für das in ihrer Stadt stattfindende Verfahren zu begeistern.28 Ähnlich verhält es sich mit der Anweisung an den Oberbürgermeister, für die gesamte Dauer des Prozesses „die Lieferung von Extra - Rationen für 49 Personen an das Lüneburger Gefängnis“ zu veranlassen.29 Sollten die Briten es als erzieherische Maßnahme betrachtet haben, die Besiegten für mutmaßliche Verbrecher aus ihren eigenen Reihen selbst aufkommen zu lassen, konnte eine solche Bestimmung – vor allem in Anbetracht der allgemeinen Versorgungsengpässe – nicht anders als demütigend empfunden werden. Dass der Lüneburger Prozess nicht die erhoffte Rolle bei der Re - Demokratisierung Deutschlands spielen würde, zeigte bereits ein Blick auf die Zuschauergalerie, auf der die Briten 400 Sitzplätze eingerichtet hatten; diese waren jedoch bis auf die ersten Verhandlungstage sowie den Tag der Urteilsverkündung30 nur spärlich besetzt, obwohl man nach Auskunft eines Vertreters der Militärregierung mit einer „enormen Nachfrage nach Einlasskarten“31 gerechnet hatte. Oberflächlich betrachtet könnte dies auf das von den Briten ersonnene Zuteilungssystem zurückzuführen sein, wonach der Oberbürgermeister von Lüneburg für jeden Verhandlungstag gerade mal 18 Eintrittskarten ( zur „gerechten Verteilung“) erhielt, während das Gros der Besucherausweise den Gemeinden der näheren wie weiteren Umgebung zugewiesen wurde, denen man barsch mit27 Vgl. Lüneburger Post vom 24. 8. 1945. Zwei Wochen nach Prozessbeginn meldete das Blatt, auf einer Stadtausschusssitzung im Lüneburger Rathaus habe man sich gezwungen gesehen, eine Zuzugssperre für Flüchtlinge zu verhängen, da eine Wohnraumknappheit wie in schwer zerbombten Städten herrsche. 28 Da es den Deutschen während der Nazi - Ära in materieller Hinsicht insgesamt deutlich besser gegangen sei als etwa der britischen Bevölkerung, mangele es ihnen nun an einer „moral acceptance of defeat“, so Richard Calder, der im Sommer 1945 im Auftrag des Foreign Office das Land bereist hatte. Zit. nach Tom Bower, Blind eye to murder. Britain, America and the purging of Nazi Germany – a pledge betrayed, London 1981, S. 157. Den Alliierten werde hingegen die Zerstörung eben dieses „NS - Wohlfahrtsstaats“ sowie ihre angebliche Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit angelastet, die Kriegsschäden zu beseitigen, eine funktionierende Verwaltung wiederherzustellen und die Bevölkerung mit dem Notwendigsten an Nahrung, Kleidung und Wohnraum zu versorgen. Zu „wohlfahrtsstaatlichen“ Aspekten des NS - Regimes vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005. 29 Vgl. Captain Clapham, SO III ( Penal ) Mil. Reg. Abt. 914 L / R, an den Oberbürgermeister von Lüneburg vom 16. 9. 1945 ( Stadtarchiv Lüneburg, 0000/0/7, Band 7 : Befehle und Anordnungen der Militärregierung, September 1945 – Oktober 1945). 30 „Als die Urteile verkündet wurden, waren die Zuschauertribünen zum Brechen voll“, so die Neue Zürcher Zeitung vom 18. 11. 1945. Ähnlich der Daily Telegraph vom 17. 11. 1945 : „German civilians ran to the courthouse in their eagerness to get front seats when the barriers were lifted for the last sitting of the court.“, und die Times vom 17. 11. 1945, die darauf hinwies, die Ränge seien in den vorhergehenden Wochen nahezu leer gewesen. Die Neue Rheinische Zeitung vom 21. 11. 1945 berichtete außerdem, dass „das Gerichtsgebäude [...] von einer dichten Menschenmenge umlagert“ gewesen sei. 31 Lüneburger Post vom 14. 9. 1945.

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teilte, dass jede Karte verwendet werden müsse und die Kommune obendrein den Transport der Karteninhaber zum Gerichtsgebäude und zurück sicherzustellen habe.32 Falls ursprünglich das Interesse der einheimischen Bevölkerung am Prozess tatsächlich „außerordentlich stark“ gewesen sein sollte, wie die „Lüneburger Post“ einen Monat vor Eröffnung der Hauptverhandlung behauptete,33 ließ es bereits nach Ablauf der ersten Verhandlungswoche wieder stark nach. Dass dies nur zu einem geringem Teil auf Frustration über das Kontingentierungsverfahren bzw. nicht verfügbare Eintrittskarten zurückzuführen ist, zeigen die überlieferten Berichte des britischen Militärgeheimdienstes, dem es u. a. oblag, die allgemeine Stimmung in der deutschen Bevölkerung auszuloten34 und die Resultate in vierzehntägig herausgegebenen „Intelligence Summaries“ den entsprechenden Dienststellen in der Besatzungsarmee bzw. der Militärregierung zugänglich zu machen. So beschäftigt sich der Bericht der Information Control Branch für den Zeitraum vom 30. September bis 13. Oktober 1945 ausführlich mit den verschiedenen, an diversen Orten in der britischen Zone registrierten Reaktionen auf den Belsen - Prozess. „The amount of interest shown in the Lueneburg trial of the Belsen SS guards“, so die Verfasser, „has varied considerably and opinions have shown interesting divergencies.“ So herrsche bei der ländlichen Bevölkerung – insbesondere in den Gebieten, in denen kaum Zeitungen und Radiogeräte verfügbar seien – weitgehende Unkenntnis sowohl in Bezug auf den Prozess als auch auf die Existenz der beiden Lager Auschwitz und Bergen - Belsen überhaupt.35 Tatsächlich hatten die deutschen Lizenzzeitungen wie z. T. auch die alliierten Militärblätter im Herbst 1945 noch mit erheblichen infrastrukturellen

32 Lt. Col. Clarke, Mil. Reg. Abt. 1010, an den Oberbürgermeister von Lüneburg vom 13. 9. 1945 ( Stadtarchiv Lüneburg, 0000/0/7, Band 7 : Befehle und Anordnungen der Militärregierung, September 1945 – Oktober 1945). 33 Lüneburger Post vom 10. 8. 1945. In der Ausgabe vom Tag vor dem Prozessbeginn hieß es : „Hunderte fragen alltäglich nach Einlasskarten. Oberbürgermeister und Bürgermeister werden von Leuten überlaufen, die Zulassungskarten wünschen. Karten dürften dem Publikum in Kürze durch die Stadtverwaltung zugänglich gemacht werden.“ Auch der Hannoversche Kurier vom 18. 9. 1945 meldete, in der Bevölkerung sei „eine allseitige intensive Bemühung“ um Eintrittskarten zu beobachten. 34 Bei der Auswertung dieser Berichte gilt es zu berücksichtigen, ob bzw. inwiefern die registrierten Aussagen verallgemeinert werden können; tatsächlich heißt es an einer Stelle : „Interrogators point out the difficulty of getting straight answers from Germans on subjects associated with war crimes, and this fact must be born in mind when attempting to assess public opinion in the matter.“ Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 4 for period 14 Oct 45 to 28 Oct 1945 ( TNA, FO 1005/1739). 35 Vgl. Martin Schuster, Presse. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55, Berlin 1999, S. 158–161, hier 160. Ein Drittel aller Personen, die man im August 1946 zum Verlauf des IMT in Nürnberg befragte, behauptete, durch das Nürnberger Verfahren erstmals von der Existenz der nationalsozialistischen Konzentrationslager erfahren zu haben. Vgl. Jürgen Wilke, Massenmedien und Vergangenheitsbewältigung. In : ders. ( Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S. 649–671, hier 653.

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Mängeln zu kämpfen, hauptsächlich bei Papier und Kapital, aber auch hinsichtlich beschränkter Druckmöglichkeiten und Transportkapazitäten, was zu begrenztem Umfang der Zeitungen bzw. geringen Auf lagen führte. Und selbst da, wo Zeitungen verfügbar waren, Rundfunksendungen empfangen werden konnten oder die Gelegenheit zum Besuch eines Wochenschaukinos bestand, musste sich die deutsche Bevölkerung ja keineswegs über den Prozess informieren lassen wollen.36 Angebliche Unterschiede zwischen einzelnen Städten hinsichtlich der Rezeption des Lüneburger Tribunals deuten eher auf eine defizitäre Methodik der alliierten Meinungsforscher als auf tatsächliche lokale Besonderheiten im Stimmungsbild hin : So hätten die Einwohner von Kiel den Verhandlungsverlauf mit Interesse verfolgt und den vor Gericht eingebrachten Zeugnissen der Massenverbrechen mehr Glauben geschenkt als allen Beweisen, die die britische Informationskampagne zu Beginn der Besatzung ins Feld geführt habe. Demgegenüber sei der Prozess in Flensburg kein öffentliches Thema gewesen oder habe zumindest an der Gleichgültigkeit, die die Bevölkerung in dieser Frage an den Tag lege, nichts geändert. Ein heterogenes Meinungsbild wird für den Verhandlungsort selbst gemeldet, wobei sich die Nachrichtendienstler in Lüneburg offenbar besonders mit der Ursache für das mangelnde bzw. nachlassende Zuschauerinteresse beschäftigten. Zum einen gebe es dafür praktische Gründe, z. B. das Verbot der Prozessbehörden, den Gerichtssaal während einer laufenden Sitzung zu verlassen.37 Eine weitere Entschuldigung für das Fernbleiben der Lüneburger bezog sich auf den Umstand, dass der Bürgermeister von Soltau Personen seines Zuständigkeitsbereichs, die als überzeugte Nationalsozialisten bekannt waren, angewiesen hatte, den Verhandlungen zu Umerziehungszwecken beizuwohnen, und man offensichtlich nicht mit diesen derart Gebrandmarkten assoziiert werden wollte.38 Generell aber, so die Einschätzung der Meinungsforscher, sei die Teilnahmslosigkeit auf eine während der NS - Zeit verinnerlichte Rechtserfahrung zurückzuführen, die den Glauben an die Unparteilichkeit eines Gerichts ausgelöscht habe. Die Durchführung eines Prozesses nach formalrecht-

36 So berichtet etwa Hans - Rudolf Berndorff von einem Streit mit dem ihm zugeteilten britischen Zensor über den Wirkungsgrad der Prozessberichterstattung. Auf das Argument des Briten, alle Nachrichtenblätter der Militärregierung seien schließlich ständig ausverkauft, habe Berndorffs deutscher Fahrer mit dem lapidaren Hinweis „Aber doch nur als Einwickelpapier !“ reagiert. Vgl. ders./ Richard Tüngel, Auf dem Bauche sollst du kriechen. Deutschland unter den Besatzungsmächten, Hamburg 1958, S. 91. 37 Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 3 for period 30 Sept 45 to 13 Oct 1945 ( TNA, FO 1005/1739). 38 Allein der Umstand, dass Lüneburg zum Prozessort bestimmt worden war, scheint bei der örtlichen Bevölkerung Befürchtungen ausgelöst zu haben, der Ruf ihrer Stadt könne diskreditiert werden. Vgl. Lüneburger Post vom 2. 10. 1945 : „Was namentlich die Lüneburger bedrückt, ist ein unbestimmtes Gefühl, als würden nun in dieser nicht zu lauten und ganz großen Sensationen abholden Stadt alle Teufel losgelassen.“ Bereits nach Himmlers Selbstmord am 23. Mai 1945 im Vernehmungsraum des Security Force Headquarters in Lüneburg war die Stadt weltweit in die Schlagzeilen geraten.

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lichen Kriterien, also unter strikter Wahrung der Rechte der Angeklagten, erscheine den Menschen ungewohnt oder gar unnötig39 und suspekt.40 Diejenigen, die den Prozess als „Siegerjustiz“ abtaten, verwiesen auf den im deutschen Rechtswesen unbekannten Tatbestand der Kollektivstrafbarkeit, auf dem die Anklagestrategie der Staatsanwaltschaft im „Belsen Trial“ beruhte,41 oder prangerten den Umstand an, dass es der Verteidigung nicht gestattet war, Revision gegen die Urteile einzulegen. Munition bot ihnen auch die vor Prozessbeginn von einem hohen Beamten des Judge Advocate General abgegebene Erklärung, die rechtliche Grundlage des Verfahrens stehe nicht zur Diskussion.42 Es ist daher fraglich, ob die anfängliche Skepsis der Deutschen gegenüber britischem Rechtsverständnis im Laufe des Verfahrens tatsächlich einer weitverbreiteten Anerkennung justitieller Objektivität und Unbestechlichkeit wich, wie es einige Berichterstatter glaubten beobachten zu können.43 Gerade die Sorgfalt, die das Gericht bei der Beweisaufnahme an den Tag legte, erwies sich als weiterer Grund für den erwähnten Interessensverlust nicht nur der einheimischen Bevölkerung gegenüber dem Prozessgeschehen. „There is good evidence to suggest that Germans are becoming tired of the Lueneburg trials and the constant publicity they are receiving“, heißt es im „Intelligence Summary“ für die zweite Oktoberhälfte, als die Verhandlungen bereits über einen Monat andauerten und ein Ende immer noch nicht abzusehen war.44 In 39 Auch Eggebrecht fand es zwar generell lobenswert, dass das Gericht „nicht einen Augenblick lang vergisst [...], dass es um das Leben der Angeklagten geht. Nur was bewiesen ist, darf zu ihren Ungunsten benutzt werden [...] Jeder noch so leise Zweifel wird zugunsten der Angeschuldigten gewertet.“ Aber auch er konstatierte, es sei schon erstaunlich, wie viel Mühe man sich mache, „um nur um Himmelswillen keinem der Angeklagten irgend ein noch so leises und formales Unrecht zu tun !“ ( Nachlass Eggebrecht in Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg, NE Ai 7 : „8. Tag des Belsen - Prozesses. Kreuzverhör“, 25. 9. 1945). 40 „Subversive statements reported from Lueneburg that the trial is ‚window - dressing‘ and ‚British Propaganda‘ may reflect to some extent the impatience of a people not accustomed to open justice. Thus many Germans who are convinced of the guilt of the defendants still think the trials a waste of money and time, ‚as the accused are bound to be executed in the end.‘“ Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 3 for period 30 Sept 45 to 13 Oct 1945 (TNA, FO 1005/1739). 41 Das ver wandte Konzept der „conspiracy“ ( Verschwörung ) – Hauptbestandteil der Anklagestrategie in den Nürnberger Prozessen – brachte diesen ebenfalls den Vorwurf ungerechter Siegerjustiz ein. Vgl. Peter Steinbach, Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. In : Gerd R. Ueberschär ( Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt a. M. 1999, S. 32–44, hier 36 f. 42 „We are getting up this court by the prerogative of the victor and there can be no question of its jurisdiction.“ So die New York Times vom 17. 9. 1945. 43 Vgl. z. B. News Chronicle vom 19. 11. 1945. Diese Beobachtung korrespondiert mit den Umfrageergebnissen amerikanischer Meinungsforscher zum Verlauf des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, den 78 Prozent der befragten Deutschen für „fair“ erachteten. Vgl. Anna J. Merrit / Richard L. Merrit ( Hg.), Public opinion in occupied Germany. The OMGUS - Surveys 1945–1949, Urbana 1970, S. 33 f. 44 Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 4. For period 14 Oct 45 to 28 Oct 1945 ( TNA, FO 1005/1739);

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rechtsgerichteten Kreisen, so der Bericht weiter, werde diese Verzögerung mittlerweile als stillschweigendes Eingeständnis der Briten interpretiert, nicht über genügend Beweise für Verurteilungen zu verfügen. Dementsprechend wurden die schließlich vom Gericht verkündeten Freisprüche mit einer Mischung aus Verwunderung und Genugtuung zur Kenntnis genommen.45 Neben den genannten Gründen – Priorität materieller Sorgen, defizitäre Nachrichtenversorgung, Unverständnis bzw. Ablehnung des britischen Rechtswesens – gab es ein weiteres, noch tiefergreifenderes Motiv für das relative Desinteresse der Deutschen am Prozessgeschehen : das unerwünschte Gefühl, sich mit der Frage individueller und / oder kollektiver Schuld auseinandersetzen zu müssen. Viel mehr als Neugier und Sensationshascherei seien Angst und Beklemmung die bestimmenden Gefühle bei den deutschen Prozesszuschauern gewesen, glaubte der Korrespondent der „Lüneburger Post“ beobachtet zu haben : „Man fürchtet unabsehbare und ungewisse Konsequenzen, denn was in Belsen [...] geschehen ist, [...] das ist im Namen Deutschlands geschehen.“46 Also entzog man sich diesem Gefühl durch Abwesenheit : „The Germans refrain from going [ to the court sessions ], because they feel that they themselves are also on trial“, heißt es im erstgenannten Bericht des Nachrichtendienstes. „Some of the indifference or disbelief reported is certainly due to a refusal to admit or face up to facts.“47 Die Reaktionen auf den Belsen - Prozess bestätigen damit ein Verhaltensmuster, das schon die ersten Versuche der Besatzungsmächte, bei der deutschen Bevölkerung durch Konfrontation mit dem Grauen Reue bzw. ein Bewusstsein kollektiver Verantwortlichkeit zu erzeugen, hatte scheitern lassen. „Viele Menschen werden sofort das, was sie gesehen haben, was sie gewusst oder sonst wie vermutet haben, mit dem ganzen Schrecken verbinden, den sie nun sehen“, hatte im Mai 1945 noch die optimistische Prognose der „Picture Post“ gelautet. „Es wird etwas einrasten. Sie werden bis ins Innerste erschüttert und zutiefst schockiert sein.“48 Dass das keineswegs so war, konstatiert eine Autorin der „New York Times“ vier Monate später in einem Artikel, in welchem die deutsche Bevölkerung als grenzenlos selbstmitleidig und „übelerregend“ unterwürfig, jedoch bar jeglichen Schuldbewusstseins bezeichnet wird.49

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ähnliche Reaktionen berichtet der News Chronicle vom 19. 11. 1945 für Berlin : „Some people were frankly bored by the long - drawn - out trial.“ Vgl. Daily Herald vom 17. 11. 1945. Ein französischer Korrespondent berichtete seinen Lesern, wie er am Ende eines Prozesstages, der von besonders erschütternden Zeugenaussagen geprägt gewesen sei, die Bemerkung zweier deutscher Zuschauer aufgeschnappt habe, letztlich habe es sich bei den Opfern doch nur um Juden gehandelt. Vgl. Voix de Paris vom 25. 9. 1945. Lüneburger Post vom 21. 9. 1945. Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 3. For period 30 Sept 45 to 13 Oct 1945 ( TNA, FO 1005/1739). Picture Post vom 5. 5. 1945; deutsche Übersetzung zit. nach Martin Caiger - Smith, Bilder vom Feind. Englische Pressefotografen im Nachkriegsdeutschland, Berlin 1988, S. 39. „The majority of Germans see no connection between what the remainder of Europe suffered at the hands of Hitler’s bully boys and themselves, and they are surprised or

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Zwar kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der Deutschen die von alliierten Armeefotografen und Filmteams dokumentierten Beweise für die in den Konzentrationslagern verübten Massenverbrechen zur Kenntnis genommen hatte. Viele, die nicht in unmittelbarer Nähe zu einem der befreiten Lager gelebt hatten und von den Alliierten gezwungen worden waren, sich die Überreste des Vernichtungsprozesses unmittelbar an den Tatorten anzusehen, waren in ein Armeekino beordert worden, um sich dort einen Film über Buchenwald oder Bergen - Belsen anzusehen. Selbst in ländlichen Gebieten, wo die Informationsversorgung durch Zeitungen und bisweilen auch Radio häufig mangelhaft war, dürfte es kaum möglich gewesen sein, die fotografischen Dokumente der Gräueltaten zu ignorieren, die auf großen, flächendeckend aufgestellten Schautafeln öffentlich angeschlagen wurden. Diese erzwungene Wahrnehmung führte jedoch keineswegs automatisch zu einer Erkenntnis persönlicher Betroffenheit oder gar Mittäterschaft. Wenngleich aus dem Jahr 1945 eine Vielzahl von filmischen und fotografischen Aufnahmen überliefert ist, die die deutsche Zivilbevölkerung beim Betrachten dieser dokumentarischen Zeugnisse zeigen, so deutet dies kaum auf ein offenes Schuldeingeständnis hin. Vielmehr ist es als Ausdruck des Bemühens seitens der Sieger zu bewerten, ihre eigenen Landsleute davon zu überzeugen, dass man mit diesem „erzwungenen Ansehen deutscher Gräueltaten die Besiegten dazu gebracht [ habe ], ihre neue Identität als schuldige Mittäter einzusehen.“50 Zweifelsohne lösten die Bilder der Massenverbrechen zumindest in Teilen der deutschen Bevölkerung einen Schock aus.51 Nach der Vorführung des Belsen - Films im Lüneburger Gerichtssaal habe auf den Gesichtern der deutschen Zuschauer „mehr als Ernst“ gelegen, meinte ein Korrespondent feststellen zu können : „Als nach der Vertagung Frauen und Männer jeden Standes und Alters ihren Weg über den Vorplatz des Gerichtsgebäudes nahmen, trugen sie im Allgemeinen ihre Häupter gesenkt. Das Gefühl der Scham war ihnen offenbar nicht vollkommen verlorengegangen.“52 Innerhalb des britischen Aufklärungsproeven shocked when someone mentions it. The fact that they have succeeded in convincing themselves that there is no connection between the Nazi excesses and themselves has made them even more resentful of the Allied occupation and the economic restrictions which are being placed upon Germany“ ( New York Times vom 16. 9. 1945). 50 Dagmar Barnouw, Konfrontation mit dem Grauen. Alliierte Schuldpolitik 1945. In : Merkur, 49 (1995), S. 390–401, hier 395. 51 Vgl. die Einschätzung Stephan Hermlins, der im Oktober 1945 angesichts des fehlenden deutschen Schuldbewusstseins notierte : „Der deutsche Organismus wird ohne das Gegengift des Entsetzens nicht mehr gesund werden.“ Stephan Hermlin, Aus dem Land der Großen Schuld. In : ders., Aufsätze, Reportagen, Reden, Interviews, Frankfurt a. M. 1983, S. 16. 52 Volksrecht Zürich vom 27. 9. 1945. Vgl. Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, S. 97 : „Die Kameraposition, die einerseits einlud, sich mit den mitleidheischenden oder strafenden Blicken der Alliierten und der überlebenden Häftlinge zu identifizieren, verbot im gleichen Moment eine solche Identifikation, weil sie den [deutschen ] Betrachter als außerhalb dieser Kollektive, auf Seiten der Täter stehend,

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gramms fungierte Lüneburg sozusagen als zweite Stufe einer solchen „Schocktherapie“. Die erschütternden Schilderungen der Zustände in Auschwitz und Bergen - Belsen durch ehemalige Lagerinsassen, die von allen Zeitungen ausführlich und z. T. sogar im Wortlaut wiedergegeben wurden, wirkten als narrative Ergänzung zu den bereits bekannten Bildern des Terrors. Während jedoch die Alliierten in ihren Publikationen oder filmischen Dokumentationen die Aufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern unterschiedslos nebeneinander präsentierten und somit zu einer Vorstellung „des“ Lagers als gleichsam ahistorischem Raum beitrugen, der von Typen – „der“ Häftling, „der“ KZ - Scherge etc. – bevölkert gewesen war und kaum Bezug zur Lebenswirklichkeit der deutschen Bevölkerung bot, konkretisierten die Leidensgeschichten der Überlebenden das abstrakte Geschehen, indem sie die Verbrechen realen Tatorten zuordneten und Opfer wie Täter individualisierten.53 Aussagen überlebender Häftlinge führten dazu, den von den Tätern herbeigeführten Anonymisierungsprozess umzukehren, und machten Empathie mit den Opfern möglich bzw. forderten diese ein.54 Darüber hinaus wurde das Grauen durch die Berichte der Überlebenden vom Leiden und Sterben in den Lagern um eine zeitliche Dimension erweitert, machten sie doch deutlich, dass die Leichenberge von Bergen Belsen nicht als ein dem Chaos des Zusammenbruchs geschuldeter „Unfall“ anzusehen waren, sondern als das Ergebnis eines jahrelang mit entsetzlicher Effizienz betriebenen Vernichtungsprozesses. So schockierend die Bilder von der Befreiung Bergen - Belsens ohnehin schon gewesen waren, wurde ihre Wirkung nun durch die Schilderungen von Mordmechanismen unvorstellbarer Grausamkeit und Opferzahlen jenseits aller Vorstellungskraft nachgerade potenziert. Im Land der Täter erwies sich dieses Narrativ ( trotz des massiven Einsatzes von Presse und Rundfunk im Dienste der britischen „re - education policy“55) vorführte.“ Für Brink führte dies bei den meisten Betrachtern jedoch nicht zu Scham, sondern vielmehr zu einer Abwehrreaktion. 53 So hatte z. B. ein britischer Soldat angesichts der „stummen“ Leichenberge in Bergen Belsen noch festgestellt, die schiere Menge der Toten mache echtes Mitgefühl oder auch nur Betroffenheit unmöglich : „There were thousands and thousands of dead bodies and you couldn’t really consider them to be your aunt or your mother or your brother or your father because there was just too many and they were being bulldozed into graves.“ Zit. nach Joanne Reilly, Belsen. Liberation of a concentration camp, London 1998, S. 39. 54 Wie kurzlebig dieser Effekt allerdings war, zeigt sich u. a. daran, dass die Zeugenaussagen im Frankfurter Auschwitz - Prozess achtzehn Jahre später noch einmal dieselben Reaktionen auslösten – ganz offensichtlich hatten sich die in den frühen Nachkriegsprozessen offenbarten Leidensgeschichten der KZ - Überlebenden nicht in das kollektive Gedächtnis der deutschen Gesellschaft eingegraben. Vgl. Im Labyrinth der Schuld. Täter – Opfer – Ankläger. Jahrbuch 2003 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Hg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Frankfurt a. M. 2003, S. 14. Vgl. auch den Beitrag von Werner Renz in diesem Band. 55 Vgl. Martina Ehlert, „Umerziehung zur Demokratie“. Der erste Bergen - Belsen - Prozess in Zeitungsberichten. In : Claus Füllberg - Stolberg ( Hg.), Frauen in Konzentrationslagern. Bergen - Belsen / Ravensbrück, Bremen 1994, S. 251–258, hier 251 f.

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jedoch als schwer vermittelbar. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen mit der gleichgeschalteten NS - Presse standen viele Deutsche sowohl den ausländischen als auch den neu - oder wiedergegründeten deutschen Blättern skeptisch gegenüber. Um diesen generellen Propagandaverdacht, der bei der Frage der Darstellung und Bewertung von Kriegsverbrechen natürlich besonders massiv vorhanden war, zu entkräften, beschränkten sich die meisten Zeitungen – gemäß angelsächsischer Pressetradition – auf eine möglichst unkommentierte, häufig wörtliche Wiedergabe der Zeugenaussagen. Wie tief das Misstrauen saß bzw. wie groß das Verlangen nach Beweisen dafür war, dass es sich bei dem Verfahren um ein abgekartetes Spiel handelte, zeigt das wieder zunehmende Interesse der Lokalbevölkerung just zu dem Zeitpunkt, als die Presse Gerüchte kolportierte, es seien Zeugen „wegen wahrscheinlich wahrheitswidriger Aussagen“ verhaftet worden, „das Ganze sei ein aufgebauschter Schwindel von vorn bis hinten.“56 Insgesamt geriet jedoch weniger die Qualität der Prozessberichterstattung in den Fokus der Kritik als vielmehr die Quantität, die als „maßlos“ empfunden oder zumindest so bezeichnet wurde. „Nun spricht mich in diesen Tagen dieser und jener an : Sagen Sie einmal, warum bringen Sie in der Zeitung so viel über die Konzentrationslager ? Das wollen die Leute doch gar nicht lesen“, berichtete etwa der Leitartikel der „Frankfurter Rundschau“ nach Ende der ersten Prozesswoche. „Es gibt doch auch so viel wichtige Dinge, die uns betreffen. Wir haben doch auch unsere Sorgen und Nöte, davon müsste viel mehr gebracht werden. Und dann immer so scharf gegen die Nazis. Wo bleibt die Nächstenliebe ?“57 Auch Eggebrecht berichtete, Zuhörer hätten sich über die fortdauernde Berichterstattung aus Lüneburg beschwert und gefragt, ob man im NWDR „fühllos gegenüber dem Elend“ sei, „das nun über uns Deutsche gekommen ist“?58 Diese im unmittelbaren Kontext der Verbrechen von Auschwitz und BergenBelsen geradezu naiv anmutende Forderung nach Anerkennung der deutschen Kriegsopfer entsprang der Überzeugung, von den Siegermächten ein als offenbar selbstverständlich und unver wirkbar erachtetes Anrecht auf Mitleid und „Nächstenliebe“ einklagen zu können. „Man will einfach aufhören zu leiden, will heraus aus dem Elend, will leben, aber nicht nachdenken“, erklärte Karl Jaspers diese Gefühlslage. „Es ist eher eine Stimmung, als ob man nach so furcht56 Lüneburger Post vom 2. 10. 1945. In einem über 40 Jahre nach den Ereignissen geführten Interview wurde Eggebrecht von Irma Greses Schwester Helene der Verbreitung gezielter Falschinformationen bezichtigt : „Abends, wenn der Prozess zu Ende war, konnte man Axel Eggebrechts Stimme über den Rathausplatz schallen hören, die ganze Stadt war voll davon. Aber der brachte dann genau das Gegenteil von dem, was vor Gericht gelaufen war.“ Interview Peter Wiebke mit Helene Grese am 23. 5. 1987 ( Archiv der Gedenkstätte Bergen - Belsen ). Diese Behauptung lässt sich durch den Vergleich der Prozessprotokolle mit Eggebrechts Sendemanuskripten vollständig widerlegen. 57 Frankfurter Rundschau vom 22. 9. 1945. 58 Nachlass Eggebrecht ( Staats - und Universitätsbibliothek Hamburg, NE Ai 12 : „14. und 15. Tag des Belsen - Prozesses“, 3. 10. 1945).

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barem Leid gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet werden müsste, aber nicht noch mit Schuld beladen werden dürfte.“59 Klang in Jaspers Worten noch so etwas wie Verständnis mit, fand Erika Mann der Deutschen „triefendes Mitleid mit sich selbst“ schlichtweg übelkeiterregend, weil es „der Leiden anderer schon deshalb niemals gedenkt, weil solche Leiden von jemandem verschuldet sein müssen, weil dieser jemand am Ende Deutschland heißt und weil Deutschland sich so uferlos nicht leid tun dürfte, wenn es schuld wäre an anderer Leute ebenbürtigem Elend [...] Deutschland, umlodert vom Weltenhass, vereinzelt unter den Völkern; aufschreiend, wie noch nie ein Land geschrien; verachtet und bespuckt; O Haupt, voll Blut und Wunden“.60 Fast zwangsläufig führte das von Mann kritisierte rechthaberische Selbstmitleid vieler Deutscher zur Flucht in die Konstruktion eines angeblichen Kollektivschuldvorwurfs, der beweisen sollte, wie sehr die Alliierten in ihrer „Vergeltungssucht“ über das Ziel hinausschossen. Wieder andere versuchten, die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern als rein deutsche Angelegenheit darzustellen, um damit der angeblich pauschalen Brandmarkung durch die Sieger zu entgehen und gleichzeitig die eigene Bereitschaft zu tätiger Mithilfe bei der rechtsstaatlichen Reorganisation Deutschlands zu signalisieren ( oder auch nur vorzutäuschen ). Während eine um wirkliche Aufklärung bemühte Minderheit deutsche Prozesse nur als notwendige Ergänzung zu den alliierten Verfahren betrachtete ( auch – wie Eggebrecht erklärte – damit „man uns nicht nachsagen [ kann ], wir hätten alles den Anderen überlassen“, und weil außerdem „unsere deutschen aufrechten politischen Kämpfer gegen den Nazismus, die ungebrochen aus jahrelangem Leiden zurückgekehrt sind, [...] ein Recht darauf haben“61), sahen die durch die „Siegerjustiz“ Beleidigten deutsche Prozesse vor allem als Chance, die deutschen Opfer des KZ - Terrors gegenüber den ausländischen in den Vordergrund zu rücken. So berichtete der Korrespondent des „Manchester Guardian“ von der Enttäuschung bei deutschen Prozessbeobachtern, mit denen er ins Gespräch gekommen sei, über die Tatsache, dass in Lüneburg keine Verbrechen gegen Deutsche verhandelt würden, obwohl diese doch die Hauptleidtragenden gewesen seien. Wenn das schon nicht Gegenstand des

59 Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 19. Angesichts dieser Feststellung ist Jaspers Versuch, mit einer Differenzierung des Schuldbegriffs in kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld den angeblichen Kollektivschuldvor wurf der Alliierten zu unterlaufen bzw. auf eine politische Haftung aller Deutschen zu begrenzen, kritisch zu bewerten, da Fragen der moralischen und metaphysischen Schuld dem je eigenen Gewissen überlassen blieben und mithin dem Urteil nicht nur der Sieger, sondern auch der überlebenden Opfer des NS - Terrors entzogen wurden. 60 Brief an Lotte Walter vom 3. 2. 1946. Zit. nach Irmela von der Lühe, „The Big 52“. Erika Manns Nürnberger Reportagen. In : Ulrike Weckel / Edgar Wolfrum ( Hg.), „Bestien“ und „Befehlsempfänger“. Frauen und Männer in NS - Prozessen nach 1945, Göttingen 2003, S. 24–37, hier 36. 61 Nachlass Eggebrecht ( Staats - und Universitätsbibliothek Hamburg, NE Ai 6 : „6. und 7. Tag des Belsen - Prozesses. Einige grundsätzliche Fragen“, 24. 9. 1945).

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Tribunals sei, so möge man diesen Umstand doch bitte wenigstens im Protokoll festhalten.62 Möglicherweise verfehlte der Belsen - Prozess nicht nur trotz, sondern gerade wegen seiner schockierenden Enthüllungen die von den Briten beabsichtigte Wirkung. So verstärkte die Unerbittlichkeit, mit der in Lüneburg die Gräuel der Konzentrationslager aufgezeigt wurden, das offenbar weitverbreitete Gefühl, die Besatzungsmächte hätten sich nicht damit begnügt, den Deutschen eine totale militärische Niederlage beizubringen, sondern wollten ihnen zusätzlich seelische Grausamkeiten zufügen und nach nationaler Souveränität, Freiheit und Besitz auch noch die Ehre rauben.63 Die im Laufe des Verfahrens zur Sprache kommenden erschütternden Details besiegelten zwar das „Fiasko der privaten deutschen Welt und ihrer autistischen Selbstvergessenheit“,64 führten in ihrer Drastik aber bisweilen zu einer gefühlsmäßigen Über wältigung, die davor bewahrte, sich selbst eine Wahrheit einzugestehen, der man sich zur Erhaltung des eigenen, seelischen Equilibriums nur allzu gerne verschloss. Bereits im Juni 1945 hatte der Soziologe Moris Janowitz, der im Auftrag der „Psychological Warfare Division“ deutsche Zivilisten zu ihren Reaktionen auf die alliierte Fotobroschüre „KZ – Bildbericht aus fünf Konzentrationslagern“ befragt hatte, emotionale Überforderung als den Hauptgrund für die moralische Gleichgültigkeit ausgemacht, mit der die Deutschen auf die Offenlegung der NS - Verbrechen reagierten.65 Es waren eben nicht nur diejenigen, die „von der endlosen Propaganda gänzlich durchdrungen sind, die Verdummten, die nicht mehr rational sein können“, welche sich der alliierten Dokumentation der Verbrechen verschlossen. Vielmehr entsprang diese in weiten Bevölkerungsteilen verbreitete Verweigerungshaltung dem existentiellen Gedanken, dass die alliierten Enthüllungen einfach erlogen sein mussten – „andernfalls gibt es überhaupt keinen Halt mehr“, ahnte die „Picture Post“, „andernfalls ist Hitler ein Schwindel, und der Krieg war umsonst“.66 Um der in Lüneburg aufgeworfenen Frage nach der eigenen Mitschuld aus dem Wege zu gehen, wurden daher die unterschiedlichsten Abwehr - und Gegenangriffsstrategien entwickelt. Am einfachsten war die bereits erwähnte Totalverweigerung, betrieben mit teilweise erstaunlicher Chuzpe : So notierten die Geheimdienstler, in Lüneburg würden unter scheinheiligen Verweisen auf die angeblich gefährdete geistige Gesundheit der deutschen Jugend Forderungen 62 Vgl. Manchester Guardian vom 19. 9. 1945. 63 Das Gleiche galt laut Ruth Klüger ( weiter leben. Eine Jugend, München 1994, S. 203) für das anschließend stattfindende Internationale Militärtribunal, das von der Bevölkerung als „gezielte Erniedrigung Deutschlands“ begriffen worden sei : „Unsere deutschen Nachbarn“ behandelten die Nachrichten über den Prozess „mit Abscheu [...], als seien die Ermittler und die Berichterstatter die Schuldigen, und wer nichts wissen wollte, reinen Herzens.“ 64 Joachim Fest, Die Unfähigkeit zu überleben. In : Karl - Dietrich Bracher, Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz, Düsseldorf 1983, S. 783–798, hier 796. 65 Vgl. Brink, Ikonen, S. 88. 66 Picture Post vom 5. 5. 1945; deutsche Übersetzung zit. nach Caiger - Smith, Bilder, S. 39.

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nach einem Ende wenn nicht des Prozesses, so doch zumindest der Prozessberichterstattung erhoben. „One of the more ingenious arguments against the trials put forward“, heißt es im „Intelligence Summary No. 4“, „is that the reporting of such horrors will deprave German youth and that it is at present impossible to allow children to read papers which contain so much material unfit for their perusal.“67 Eine andere beliebte Selbstschutzmethode, so der Bericht von Anfang Oktober, ziele auf die Aufrechnung ( und damit Neutralisierung oder Beseitigung ) von Schuld ab : „Others [...] add further arguments, pointing out that every nation has black pages in its history, and that Russia in particular is not blameless in this respect, even today; or else point to the Allied air attacks on Dresden.“68 Das damit implizit erfolgte Eingeständnis deutscher Schuld sei jedoch keinesfalls mit einem persönlichen Schuldbekenntnis zu verwechseln : „It would be completely misleading, however, to suggest that most Germans see themselves as having any personal share in responsibility for the concentration camps.“69 Der Lüneburger Prozess bot diesbezüglich eine willkommene Gelegenheit, die Schuldvorwürfe zurückzuweisen bzw. dadurch zu kanalisieren, dass man der SS im Allgemeinen und den Direkttätern im Besonderen die Rolle des Sündenbocks zuschob. Selbst auf den ersten Blick unverfängliche Äußerungen wie die des Verfassers einer an das Gericht in Lüneburg adressierten Postkarte, wonach der Prozess den Ekel aller anständigen Deutschen gegen „die größten Verbrecher aller Zeiten“70 widerspiegele, zeugen vielleicht mehr von Erleichterung ( über die endlich gefundenen Prügelknaben ) als von ehrlicher Empörung. Gleiches gilt für Meldungen von „Haaretz“ und „Daily Telegraph“, die von einer Ansammlung Deutscher berichteten, welche vor dem Gerichtsgebäude eine „feindliche Demonstration“ gegen die Angeklagten abgehalten hätten, in dessen Verlauf Kramer als „Schweinehund“ beschimpft worden sei.71 Er trage selbst 67 Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 4. For period 14 Oct 45 to 28 Oct 1945 ( TNA, FO 1005/1739). In Großbritannien hatten die meisten Zeitungen darauf verzichtet, die als am schrecklichsten eingestuften Fotos aus den befreiten Lagern abzudrucken; darüber hinaus warnten sowohl Kinobesitzer als auch Journalisten Eltern davor, ihre Kinder die entsprechenden Newsreels sehen zu lassen, da die Gefahr geistiger Verrohung bestehe. Vgl. Hannah Caven, Horror in our time. Images of the concentration camps in the British media, 1945. In : Historical Journal of Film, Radio and Television, 21/3 (2001), S. 223–253, hier 247 f. 68 Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 3. For period 30 Sept 45 to 13 Oct 1945 ( TNA, FO 1005/1739). Vgl. Brink, Ikonen, S. 88 : „In Windeseile hatten sich die Täter, Profiteure und Mitläufer in eine Gemeinschaft von Opfern verwandelt; das Schuldkonto war ausgeglichen, wenn fremde Schuld gegen die eigene aufgerechnet werden konnte.“ 69 Control Commission for Germany ( BE ), Information Services Control Branch, Intelligence Summary No. 3. For period 30 Sept 45 to 13 Oct 1945 ( TNA, FO 1005/1739). 70 ( TNA, WO 309/482). 71 Vgl. Daily Telegraph und Haaretz , beide vom 20. 9. 1945. In einer am selben Tag im Manchester Guardian veröffentlichten Mitteilung der Nachrichtenagentur Reuter heißt es außerdem : „Germans booed and hissed as Kramer and his Belsen associates were driven from the court at the conclusion of today’s hearing of their trial. It was the first open demonstration of disgust by German people since the trial began.“

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„den gut deutschen Namen Kopper“, empörte sich der Verfasser eines an das Gerichtsgefängnis Lüneburg gerichteten Beschwerdeschreibens, und sei „nicht davon erbaut, dass der Name Kopper als solcher, wenn auch in Ihrem Falle einer mir vollständig fremden und unbekannten Ausländerin zugehörig, in dem Prozess überhaupt genannt wurde“.72 Symptomatisch für diese auf Selbst - Freispruch abzielende Haltung ist ein in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienener Prozesskommentar, in welchem die Angeklagten von Lüneburg zu einer Art Sondermüll der deutschen Gesellschaft erklärt wurden : „Denn es ist ja wahr, wir können es nicht abstreiten, weder vor uns selbst noch vor dem Richterstuhl der Kulturwelt : Jene sadistischen Halbtiere, die in Auschwitz und Belsen wehrlose Opfer gemartert, mit Hunden gehetzt und kaltblütig dem Gastod überliefert haben, sie sind wirklich deutschen Blutes. Ein schauerlicher Gedanke, dass unsere Kinder vielleicht mit einem Josef Kramer oder einer Irma Greese auf einer Schulbank gesessen haben könnten. Gewiß, es bedurfte einer so beispiellosen Entartung und Verrohung, wie sie das Hitler - Himmler - Regiment heraufbeschworen hat, um diese Elemente an die Oberfläche kommen zu lassen – aber es ist deshalb nicht weniger erschütternd, sich eingestehen zu müssen, dass solche Keime überhaupt im deutschen Volk vorhanden waren. Im Volk Lessings, Kants und Goethes – es ist unausdenkbar.“73 Lässt hier nur die Wortwahl – durch „entartete Elemente“ bzw. „Keime“ verunreinigtes „deutsches Blut“ etc. – erahnen, wie sehr der Autor noch NS - typischen Denkmustern verhaftet war und dass sein Bedauern möglicherweise allein angeblichen „Auswüchsen“ einer ansonsten durchaus befürworteten Politik galt, machen andere Kommentare die vorgenommene Trennung zwischen System und Personal unmissverständlich klar, wie z. B. der Korrespondent des „Manchester Guardian“ bei Gesprächen mit deutschen Prozesszuschauern entsetzt feststellen musste : „One German officer with whom I spoke, criticising the concentration camp conception and system, said : ‚Oh yes, I agree with you. People for concentration camps should be much more carefully selected‘.“74

72 Postkarte vom 27. 12. 1945 ( USHMM, Peter Clapham Collection, RG - 10.232 Folder 2). Ähnliche Reaktionen sind im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen zu beobachten; so beklagte Richard Tüngel, Chefredakteur der „Zeit“, das deutsche Volk werde „in eine Schicksalsgemeinschaft gepresst [...] mit Menschen, die wir verachten und ablehnen“ ( Ausgabe vom 14. 6. 1946). Norbert Frei stellt fest, dass man sich „auf diese Weise ganz vortreff lich ungerecht behandelt fühlen“ konnte ( Die Besatzungsmächte und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland. In : Kapitulation – Befreiung – Neubeginn. Deutschland nach dem Nationalsozialismus, Heidelberg 1996, S. 79). 73 Süddeutsche Zeitung vom 9. 10. 1945. 74 Manchester Guardian vom 24. 9. 1945.

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Abseits der Vergangenheit. Das Interesse der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit am Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 Heike Krösche

Spätestens seit den 90er Jahren bildet die Geschichte der strafrechtlichen Verfolgung von NS - Verbrechen einen Schwerpunkt der Zeitgeschichtsforschung.1 In diesem Rahmen findet auch die Rezeptionsgeschichte von NS - Prozessen zunehmend Beachtung.2 Grundsätzlich herrscht in der historischen Forschung kein Mangel an Thesen zur Rezeption der strafrechtlichen Verfolgung von NS Verbrechen. Es ist allgemein bekannt, dass die NS - Prozesse in der Regel ein großes Medienecho hervorriefen. Ebenso besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die öffentliche Reaktion von einer Diskrepanz zwischen veröffentlichter Meinung und Bevölkerungsmeinung bestimmt war.3 Nur gibt es bislang keine 1

2

3

Zu nennen sind hier u. a. Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS - Verbrechen, Tübingen 2002; Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS - Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001; Annette Weinke, Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949–1969 oder eine Deutsch - Deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002. Z. B. Nina Burkhardt, Rückblende : NS - Prozesse und mediale Repräsentation der Vergangenheit in Belgien und den Niederlanden, Münster 2009; Sabine Horn, Erinnerungsbilder : Auschwitz - Prozess und Majdanek - Prozess im westdeutschen Fernsehen, Essen 2009. Ein Abweichen der Bevölkerungsmeinung von der offiziellen staatlichen Position zur NS- Diktatur ist u. a. von Gabriele von Arnim und Detlef Siegfried konstatiert worden. Zur Rezeption des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher stellte dann Anneke de Rudder eine Diskrepanz zwischen veröffentlichter Meinung und Bevölkerungsmeinung fest. Bereits 1966 betonte Hannah Arendt für das westdeutsche Meinungsklima zum Frankfurter Auschwitz - Prozess den Antagonismus zwischen ausführlicher Berichterstattung und desinteressierter Bevölkerungsreaktion. Vgl. Gabriele von Arnim, Das große Schweigen. Von der Schwierigkeit, mit den Schatten der Vergangenheit zu leben, München 1989, S. 5; Detlef Siegfried, Zwischen Aufarbeitung und Schlussstrich. Der Umgang mit der NS - Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958–1969. In : Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl C. Lammers ( Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 77– 113; Anneke de Rudder, „Warum das ganze Theater ?“ Der Nürnberger Prozess in den Augen der Zeitgenossen. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Band 6, Frankfurt a. M. 1997, S. 218–242, hier 220; Hannah Arendt, Der Auschwitz - Prozess. Nachdruck in : Bernd Naumann, Auschwitz. Bericht über die Straf-

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Arbeit, die diese Problematik an einem konkreten Beispiel überprüft bzw. differenziert und verschiedene Träger öffentlicher Meinung systematisch miteinander in Beziehung setzt. Das liegt vor allem an der schwierigen Quellenlage. Denn während zur Rekonstruktion der veröffentlichten Meinung ausreichend Quellenmaterial vorhanden ist, muss sich der Historiker bei der Auseinandersetzung mit der Bevölkerungsmeinung mit fragmentarischem Quellenmaterial zufrieden geben, dessen Aussagekraft zudem besonders kritisch zu hinterfragen ist.

1.

Rezeptionsbedingungen und Quellenlage

Das trifft auch auf die Quellenlage zum Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zu. Vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 mussten sich führende NS - Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Militär vor einem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg verantworten. Von vornherein wurden die Verhandlungen jedoch von Zweifeln an der Legitimität des Gerichtshofes begleitet. Rechtsgrundlage bildete das Londoner Statut vom 8. August 1945, in dem drei Straftatbestände festgelegt worden waren : Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Völkerrechtlich setzte der Nürnberger Prozess, in dem erstmals Staatsoberhäupter und Militärbefehlshaber persönlich zur Verantwortung gezogen wurden, neue Maßstäbe. Gleichzeitig wurde das Verfahren von den Alliierten bewusst als internationales Medienspektakel inszeniert. Zentrale Funktion der Verhandlungen war die Aufklärung der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus, womit ein Beitrag zur demokratischen Umerziehung der Deutschen geleistet werden sollte. Presseorgane, Wochenschauen und Rundfunkprogramme waren von vornherein in diese Aufgabe eingebunden. Durch die umfangreiche Berichterstattung stand die deutsche Bevölkerung unter dem Einfluss einer „massiven Informationskampagne“,4 die dennoch dem Entstehen einer breiten Abwehrhaltung nicht entgegen arbeiten konnte. Die Berichterstattung der deutschen Lizenzpresse, die der Kontrolle der Alliierten unterlag, sah sich mit einem Leserkreis konfrontiert, der sich nach dem totalen politischen und gesellschaftlichen politischen Zusammenbruch in die private Sphäre zurückgezogen hatte und in seinen einstigen Macht-

4

sache Mulka u. a. vor dem Schwurgericht Frankfurt. Mit einem Nachwort von Marcel Atze und einem Text von Hannah Arendt, Berlin 2004, S. 309–331. Zum ambivalenten Verhältnis von Presseberichterstattung und öffentlicher Meinung während des Prozesses vgl. außerdem Devin O. Pendas, „I didn’t know what Auschwitz was“. The Frankfurt Auschwitz Trial and the German Press, 1963–1965. In : Yale Journal of Law and the Humanities, 12 (2000), S. 397–446. Norbert Frei, Der Nürnberger Prozess und die Deutschen. In : Gerd R. Ueberschär / Wolfram Wette ( Hg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 477– 492, hier 480.

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Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

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habern die Alleinverantwortlichen nicht nur für die begangenen massiven Unrechtshandlungen, sondern insbesondere für seine gegenwärtige Lebenssituation sah. Die Rezeptionsbedingungen waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit somit völlig verschieden von denen der folgenden NS - Prozesse vor deutschen Gerichten. Diese Bedingungen sind für die Auswertung der Quellen zu berücksichtigen. So wurde die Presseberichterstattung von den Besatzungsmächten bewusst gesteuert, was zur Folge hatte, dass die Lizenzpresse zwar ausführlich und kontinuierlich über die Prozessereignisse in Nürnberg berichtet hat, sich dabei aber strikt an die Anweisungen der Alliierten hielt und die Verhandlungen nur zurückhaltend kommentierte. Zudem stehen zur Rekonstruktion der öffentlichen Reaktion auf den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zwar demoskopische Umfragen und Briefe zur Verfügung, aber diese unterlagen ganz spezifischen Entstehungsbedingungen. Zu den Nürnberger Verhandlungen führte die Information Control Division des Office of Military Government for Germany ( OMGUS ) ausführliche Befragungen durch. Allerdings sind die Ergebnisse dieser Umfragen in Hinblick auf ihre Repräsentativität schon deswegen zweifelhaft, weil die Inter views nur in der amerikanischen Besatzungszone durchgeführt wurden. Die Stichproben basierten dabei auf dem Register für Lebensmittelkarten in den entsprechenden Gemeinden. Es muss außerdem berücksichtigt werden, dass auf die Befragten von Seiten der amerikanischen Informationskontrolle ein gewisser Druck ausgeübt wurde, indem ihnen die Teilnahme zur Pflicht gemacht wurde. Schließlich hatten selbst Vertreter der amerikanischen Militärregierung Zweifel am Wahrheitsgehalt der Angaben, die Deutsche gegenüber der Besatzungsmacht machten.5 Eine Verallgemeinerung der so gewonnenen Umfrageergebnisse ist daher äußerst problematisch. Dennoch werden OMGUS - Umfragen in der Zeitgeschichtsforschung berücksichtigt und zitiert, denn sie sind eine der wenigen Quellen, die eine Annäherung an die Bevölkerungshaltung in der unmittelbaren Nachkriegszeit ermöglichen. Vorausgesetzt, ihre Entstehungsbedingungen werden problematisiert. Zur Rezeptionsgeschichte des Hauptkriegsverbrecherprozesses liegen Briefe in Form von veröffentlichten Leserbriefen an einzelne Presseorgane6 und in Form von Schreiben an den Gerichtshof oder das juristische Personal vor. In ihrem Vor wort zu der Aufsatzsammlung „Letters as Historical Sources“ nennen Regina Schulte und Xenia von Tippelskirch als spezifische Eigenschaft von Briefen, dass sie zwar aus Gründen der Abwesenheit geschrieben werden, aber

5 6

Vgl. Frederick W. Williams, Foreword. In : Anna J. Merritt / Richard L. Merritt, Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Sur veys 1945–1949, Urbana 1970, S. XVIII ff. Da Leserbriefe von den Redaktionen in der Regel nicht archiviert werden, ist man auf die wenigen veröffentlichten Briefe angewiesen, die nach bestimmten Kriterien für die Veröffentlichung ausgewählt werden.

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gleichzeitig Präsenz schaffen wollen.7 Die Briefe, die zum Nürnberger Prozess vorliegen, zeigen also, dass es ( wenn auch nur in bescheidenem Ausmaß ) Bevölkerungskreise gab, die bereit waren, sich zu den Verhandlungen öffentlich zu äußern und sich somit mit dem Verhandlungsgegenstand, der nationalsozialistischen Vergangenheit, auseinanderzusetzen. Allerdings sind Briefe keineswegs repräsentativ. Vielmehr geben nur sehr wenige Schreiben Aufschluss über die soziale Struktur ihrer Absender und viele Briefschreiber äußerten sich anonym. Im Mittelpunkt von Briefen steht zudem die persönliche Aussage. Anders als Umfragen enthalten sie spontane Äußerungen und sind häufig stark emotional aufgeladen. Aber schließlich sind nicht nur sachliche Argumente, sondern auch Gefühlsäußerungen eine Form der Reaktion, die Hinweise auf die Haltung des Absenders zu einem bestimmten Thema geben. Anhand dieser Quelle sind zwar keine allgemein verbindlichen Aussagen über die Bevölkerungshaltung zur strafrechtlichen Verfolgung von NS - Verbrechen möglich. Dennoch zeichnen sich Tendenzen ab, wie z. B. in den Briefen an den amerikanischen Anklagevertreter in Nürnberg Robert H. Jackson, in denen häufig die Frage einer deutschen Kollektivschuld thematisiert wurde.8 Mit ihrem Lob für die Eröffnungsrede Jacksons, in welcher er eine pauschale Verurteilung des ganzen deutschen Volkes ablehnte, zeigten viele Absender ihre Ablehnung des Kollektivschuldvor wurfes. Unter Berücksichtigung dieser Bedingungen soll anhand von Presseberichten, Meinungsumfragen und Briefen im Folgenden die Bevölkerungshaltung zum Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher rekonstruiert werden. Dabei soll konkret der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Deutschen Interesse an einer Perzeption der Prozessereignisse und somit einer Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Verhandlungen, den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, hatten.

2.

„Nürnberg und kein Interesse“9

Von Anfang an waren gerade die internationalen Kriegsberichterstatter, unter denen sich viele deutsche Emigranten wie z. B. Erika Mann und Willy Brandt befanden, an der Stimmung in der deutschen Zusammenbruchgesellschaft und der Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus interessiert. Dementsprechend geriet mit dem Nürnberger Prozess auch die Reaktion der Deutschen auf die Verhandlungen in den Blick der internationalen Medienvertreter. Die Erwartungshaltung gegenüber der Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, sich mit 7 8 9

Regina Schulte / Xenia von Tippelskirch ( Hg.), Reading, interpreting and historicizing : letters as historical sources, Badia Fiesolana : European University Institute 2004, S. 6. http ://cadmus.eui.eu / dspace / bitstream /1814/2600/1/ HEC04–02.pdf Ein Teil der Briefe an Jackson liegt gedruckt vor. Henry Bernhard ( Hg.), „Ich habe nur noch den Wunsch, Scharfrichter oder Henker zu werden“. Briefe an Justice Jackson zum Nürnberger Prozess, Halle a. d. Saale 2006. Neue Zeitung vom 8. 2. 1946 : „Nürnberg und kein Interesse“.

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Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

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den Prozessereignissen auseinanderzusetzen, war bei ausländischen Pressevertretern und insbesondere den Remigranten sehr groß und wurde bitter enttäuscht. Denn sie mussten feststellen, dass das Interesse am Internationalen Militärgerichtshof gerade in Nürnberg selbst äußerst gering war. Typisch für diese Beobachtung war die Bemerkung des sowjetischen Schriftstellers und Journalisten Ilja Ehrenburg : „Die Einwohner tun so, als interessiere sie der Prozess nicht.“10 Und die amerikanische Journalistin Janet Flanner berichtete über das Desinteresse der Deutschen : „Was immer die deutsche Bevölkerung denken mag, über den Nürnberger Prozess zerbricht sie sich nicht den Kopf.“11 Die ausländischen Prozessbeobachter hatten kein Verständnis dafür, dass die Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland weniger mit dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, die sie über wiegend als Alleinverantwortliche ansahen, beschäftigt war, als mit Fragen der täglichen Versorgung mit Lebensmitteln und Heizmaterial sowie der Suche nach einem Dach über dem Kopf. Aus ihren Berichten spricht die Enttäuschung darüber, dass das in erster Linie amerikanische Bemühen um eine Umerziehung durch die Förderung eigenverantwortlichen Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit nicht auf fruchtbaren Boden fiel. Die amerikanische Journalistin Anne O’Hare McCormick begründete in der „New York Times“ die Interesselosigkeit der Deutschen dagegen mit einem mangelnden Gefühl für Recht und Unrecht. Sie mahnte weiter, dass die deutsche Bevölkerung mit den Prozessereignissen vertraut gemacht werden müsse, weil der Prozess sonst seine Wirkung verfehlen würde.12 Tatsache ist, dass die deutsche Allgemeinbevölkerung als Zuschauer zum Prozess nicht zugelassen war und selbst die Akkreditierung deutscher Pressevertreter nur zögerlich erfolgte. Hans Habe, der als Presseoffizier der amerikanischen Militärregierung die Zonenzeitung für die amerikanische Besatzungszone mit aufgebaut und für diese bis zum März 1946 über den Nürnberger Prozess berichtet hatte, sah schließlich die zentrale Zielsetzung der amerikanischen Informationspolitik als gescheitert an, da es nicht gelungen sei, das deutsche Volk über den verbrecherischen Charakter des von ihm unterstützten Systems aufzuklären : „Wir haben es nicht nur versäumt, das Interesse, sondern auch die Sympathie des deutschen Volkes für die Anklage zu erwecken.“13 Grundlage für seine Einschätzung bildete eine Umfrage der „Neuen Zeitung“ von Februar 1946. Die Befragten sollten dazu Stellung nehmen, warum die Deutschen so wenig Interesse am Nürnberger Prozess zeigen würden. Habe gab in seinem Rückblick an, dass in 6 008 von insgesamt 7 812 Zuschriften Leser ihr fehlendes Interesse am Prozessge10 Ilja Ehrenburg, In Nürnberg. Zit. nach Steffen Radlmaier ( Hg.), Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern, Frankfurt a. M. 2001, S. 160. 11 Janet Flanner, Paris, Germany ... Reportagen aus Europa 1931–1950, München 1992, S. 115. 12 Über den Beitrag von Anne O’Hare McCormick berichtete die Neue Zeitung vom 21. 12. 1945 : „Die Parteiführer nach Nürnberg“. 13 Hans Habe, Die Irrtümer von Nürnberg. In : Aufbau vom 31. 5. 1946. Zit. nach Radlmaier ( Hg.), Nürnberger Lernprozess, S. 236–240, hier 239.

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schehen eingestanden hätten. In der „Neuen Zeitung“ wurde dieses Ergebnis nicht publiziert. Es wurden lediglich Auszüge aus acht Stellungnahmen veröffentlicht, in denen insbesondere das Bedauern über das Fehlen einer deutschen Anklagevertretung wiederholt wurde.14 So kam Habe zu dem Schluss : „Das deutsche Volk, weder Ankläger noch Angeklagter, stand abseits.“15 Weitaus positiver schätzte Willy Brandt, der u. a. im Auftrag der Osloer Zeitung „Arbeiterbladet“ den Nürnberger Prozess beobachtete, die Reaktion der Bevölkerung ein. Gerade zum Jahreswechsel 1945/46, als sich die negativen Pressemeldungen über die gleichgültige Haltung der Deutschen zum Prozess häuften, konstatierte er ein wachsendes Interesse der Deutschen an der Prozessberichterstattung.16 Er unterschied zwischen drei verschiedenen Reaktionsformen auf den Prozess : Einerseits fiel ihm die Ablehnung des Verfahrens bei denjenigen auf, die weiter am Nationalsozialismus festhalten würden. Andererseits beobachtete er viele, die den Prozessereignissen mit Gleichgültigkeit begegneten und von denen einige der Meinung waren, dass ein Urteil bereits feststehe. Und schließlich stellte er unter den „bewusst antinazistischen Deutschen“ die Hoffnung auf eine „scharfe Abrechnung“ fest. Diesen würde zumeist der Sinn für einen fairen, rechtlichen Prozess fehlen.17 So musste auch Brandt eine gewisse Teilnahmslosigkeit der Deutschen eingestehen. Als besonderen Skandal empfand er, dass Studenten der Technischen Hochschule Aachen gegenüber Vertretern der amerikanischen Besatzungsmacht eine Antwort auf die Frage nach ihrer Haltung zum Nürnberger Prozess demonstrativ ver weigerten.18

3.

Die Einschätzung der Bevölkerungshaltung durch die deutschen Pressevertreter

Den sich wiederholenden Berichten vom Desinteresse der deutschen Bevölkerung an den Verhandlungen, das im Gegensatz zur umfangreichen Berichterstattung der deutschen Lizenzpresse stand, schlossen sich auch deutsche Pressevertreter an. Doch der Blickwinkel war ein anderer, weniger distanzierter als die Perspektive der ausländischen Prozessbeobachter, und so zeigten sie mehr Verständnis für die Alltagssorgen der Deutschen und die vor diesem Hintergrund geringe Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der NS - Zeit. Zu den deutschen Journalisten, die um Rechtfertigung der distanzierten Haltung der Allgemeinbevölkerung gegenüber den Prozessereignissen bemüht waren, gehörte Joseph 14 Neue Zeitung vom 8. 2. 1946 : „Nürnberg und kein Interesse“. 15 Habe, Irrtümer, S. 240. 16 Willy Brandt besuchte vom 8. November 1945 bis zum März 1946 Deutschland. Aus seinen Eindrücken entstand das Buch „Verbrecher und andere Deutsche“, das im Frühjahr 1946 in Nor wegen und Schweden erschien. Eine vollständige deutsche Ausgabe liegt erst seit 2007 vor : Willy Brandt, Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946. Bearb. von Einhart Lorenz, Bonn 2007, hier S. 130. 17 Ebd., S. 125 f. 18 Ebd., S. 325.

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Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

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Drexel, der Herausgeber der „Nürnberger Nachrichten“. Am 26. November 1945, kurz nach Verhandlungsbeginn, stellte er bereits fest : „Von einer entschiedenen Anteilnahme, wenigstens im gegenwärtigen Stadium des Prozesses, [ ist ] noch nicht viel zu bemerken.“19 Während die Medien den Prozessauftakt mit Spannung erwartet hatten, konnte Drexel nirgendwo in der Stadt „diskutierende Gruppen oder gar Ansammlungen“ beobachten. Dennoch war der Journalist davon überzeugt, dass im weiteren Prozessverlauf das Interesse der Deutschen noch geweckt würde, wenn die Angeklagten selbst in den Mittelpunkt der Verhandlungen rücken würden. Drexel zeigte Verständnis dafür, dass der „Mann auf der Straße“ weniger an der Verlesung der Anklagedokumente als an dem Äußeren und dem Verhalten der Hauptkriegsverbrecher interessiert sei. Damit unterstellte er der Allgemeinbevölkerung jedoch eine gewisse Sensationslust, die kaum als Entlastungsargument geeignet war. Als weiteren Grund für die mangelnde Anteilnahme am Prozess führte er die unzureichende Information über das Verfahren an. D. h. er ging durchaus von einem hohen Informationsbedarf aus, der durch die wenigen Zeitungsausgaben nicht gedeckt werden könne. Trotz der Rechtfertigungsversuche für die beobachtete Zurückhaltung der Deutschen, herrschte bei den Pressevertretern kein Zweifel an der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Prozess und der NS - Vergangenheit. Vielmehr vertrauten einzelne Pressevertreter nicht nur wie Drexel darauf, dass das Interesse der Allgemeinheit noch nach und nach geweckt werden könne, sondern dass im Bereich der informellen Kommunikation, also im privaten Kreis, über die Prozessereignisse geredet würde. Wie wenig diese Hoffnung gerechtfertigt war, zeigt sich daran, dass die Wahrnehmung der Indifferenz breiter Bevölkerungskreise zunächst konstant blieb. Was sich änderte, war dagegen die Begründung für diese mäßige Anteilnahme. Statt der alltäglichen Probleme wurde im Verlauf des Jahres 1946 verstärkt die lange Prozessdauer und damit einhergehend das geringe Verständnis für die ausführliche Beweisführung als Ursache für die fehlende Aufmerksamkeit angeführt.20 Einige Berichterstatter begründeten die deutsche Reser viertheit gegenüber dem Prozessverlauf auch mit der Länge des Verfahrens. So zog etwa das Wochenblatt „Die Zeit“, das wie kaum eine andere Lizenzzeitung die Besatzungspolitik kritisierte, nach der Urteilsverkündung die durchaus positive Bilanz : „Mögen auch nicht alle Deutschen imstande gewesen sein, bei der langen Dauer des Prozesses und bei der lähmenden Macht des Nachkriegselends allen Phasen mit der erforderlichen Aufmerksamkeit, mit der ständigen Wachheit der Selbsterforschung zu folgen, so gab es doch immer wieder Augenblicke, in denen die Seele des deutschen Volkes von Schauern überflutet und in denen sein Gewissen aufgerüttelt wurde.“21

19 Meldungsduplikat der DANA vom 26. 11. 1945 ( StA Nürnberg, Rep. 501 KV - Prozesse Generalia P - 6). Der Beitrag wurde in den „Nürnberger Nachrichten“ nicht veröffentlicht. 20 Z. B. Der Tagesspiegel vom 31. 8. 1946, Beiblatt : „Impressionen am Wege“. 21 Die Zeit vom 3.10. 1946 : „Das Urteil“.

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Andererseits gab es deutsche Pressevertreter wie Karl Gerold von der „Frankfurter Rundschau“, die sich angesichts der Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Nürnberger Prozess tief betroffen zeigten und keine Entschuldigungsgründe gelten lassen wollten.22 Viele Berichterstatter beobachten eine in zwei Lager gespaltene Reaktion der Bevölkerung. So konstatierte etwa Walther Karsch im „Tagesspiegel“ : „Das Interesse für den Nürnberger Prozess ist geteilt. Viele wollen gar nichts darüber hören, andern wäre es lieber, man hängte die Herren einfach auf und damit basta.“23 In einem Brief an den Leiter der amerikanischen Informationskontrolle, General McClure, von April 1946, machten acht deutsche Pressevertreter ( darunter Wilhelm E. Süskind von der „Süddeutschen Zeitung“) deutlich, was für eine schwierige Aufgabe es sei, „den Prozessstoff einem vielfach spröd reagierenden deutschen Publikum nahezubringen“.24 Somit wurde die Leserreaktion auf die Prozessberichterstattung durch die deutschen Journalisten negativ beurteilt. Ganz anders schätzten jedoch zum selben Zeitpunkt die „Nürnberger Nachrichten“ die Rezeptionshaltung ein. Unter dem Titel „Der verkannte LeserGeschmack“ präsentierte das Blatt das Ergebnis einer Leserbefragung und stellte fest, dass die Berichterstattung auf Platz zwei der Lieblingslektüre rangiere. Dieses Resultat wurde nicht nur als Beleg dafür gedeutet, „wie einfältig die Behauptung vom prozessmüden deutschen Volk“ sei, sondern die Haltung der Deutschen zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit insgesamt ungewöhnlich positiv interpretiert : „der deutsche Zeitungsleser steht der Verantwortung unserer Zeit, den politischen Aufgaben, er steht auch den Prozess - Enthüllungen über die Wahrheit der Vergangenheit weit positiver und aufgeschlossener gegenüber, als es selbst die Optimisten unter uns zu hoffen wagten.“25 Eine derartige Einschätzung blieb jedoch die Ausnahme in der deutschen Prozessberichterstattung. Bereits im Februar 1946 stellten sich die „Nürnberger Nachrichten“ in einem Beitrag die Frage, wie die Deutschen auf den Prozess reagieren. Anlass des Artikels war die Präsentation einer Meinungsumfrage durch die amerikanische Informationskontrolle, aus der ihr Leiter General McClure den Schluss zog, dass in der deutschen Öffentlichkeit ein „starkes und anhaltendes Interesse“ am Prozessgeschehen vorherrsche.26 Für den Berichterstatter der „Nürnberger Nachrichten“ bedeutet diese Feststellung, dass der Vor wurf des mangelnden Interesses eine „bösartige [...] Zwecklüge“ sei, die das deutsche Volk moralisch belasten

22 Frankfurter Rundschau vom 1. 10. 1946 : „Die letzten Tage in Nürnberg“ von Karl Gerold. 23 Der Tagesspiegel vom 8. 12. 1945 : „Wiedersehen nach drei Jahren“ von Walther Karsch. 24 Brief an General McClure vom 9. 4. 1946 ( IfZ München, OMGUS, ISD Director, 5/267–3/20). 25 Nürnberger Nachrichten vom 29. 5. 1946 : „Der verkannte Lesergeschmack“ von F. Becker. 26 Nürnberger Nachrichten vom 27. 2. 1946 : „Wie reagieren die Deutschen auf den Nürnberger Prozess ?“ von F. Becker.

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solle. Zwar musste der Autor eingestehen, dass sich die Einwohner von Nürnberg in erster Linie auf ihre Alltagssorgen konzentrieren würden, aber für ihn hieß das nicht, dass sie kein Interesse am Prozess hätten. In der Tatsache, dass die Aufmerksamkeit gegenüber dem Verfahren nicht öffentlich beobachtet werden konnte und sich die Deutschen nicht in Diskussionsgruppen vor dem Justizgebäude versammelten, sah der Autor F. Becker vielmehr die Bestätigung dafür, dass es sich bei dem Verfahren nicht um einen Sensationsprozess handelte. Gleichzeitig ging er davon aus, dass die Auseinandersetzung im Bereich der Alltagskommunikation, im privaten Rahmen, statt finde. Als Beleg gab er an, dass er in seiner Eigenschaft als Prozessbeobachter auf der Straße über den Verhandlungsverlauf ausgefragt würde. Inwieweit sich die Deutschen tatsächlich jenseits der öffentlich geäußerten Meinung mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher beschäftigt haben, lässt sich allerdings kaum historisch rekonstruieren. Zum Prozessende wandelte sich die Einschätzung der Bevölkerungshaltung, denn zur Urteilsverkündung beobachteten die meisten Journalisten ein gesteigertes Interesse. Beispielsweise berichtete der „Tagesspiegel“ über die veränderte öffentliche Reaktion : „Wer die Strassen der Stadt passierte, konnte sich davon überzeugen, dass das Nürnberger Urteil in einem Umfange Gesprächsstoff der einfachen Leute war, wie es der Prozess während zehn langer Monate niemals gewesen ist.“27 Aber der Autor stellte gleichzeitig fest, dass sich die Diskussion und Proteste der deutschen Bevölkerung auf das konkrete Strafmaß und nicht auf die Urteilsbegründung bezogen, die wohl kaum jemand gelesen habe. Vielmehr seien die Proteste Ausdruck des „Rachegefühls statt des Rechtsgefühls“. Den Grund dafür sah er im willkürlichen Umgang mit den Rechtsgrundsätzen während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft. Während das Bemühen des Internationalen Gerichtshofes um ein ausgewogenes Urteil auf einer soliden rechtlichen Basis von den deutschen Pressevertretern ausdrücklich gewürdigt wurde, machten diese über wiegend die Beobachtung, dass in der Bevölkerung das Verständnis für die Rechtsgrundlage und die ausführliche Beweisführung fehlte.

4.

Die Einstellung der Bevölkerung im Spiegel von Meinungsumfragen und Briefen

Insbesondere die amerikanische Besatzungsmacht hegte große Erwartungen an die Wirkung der Nürnberger Verhandlungen auf die Bereitschaft der Deutschen, sich mit dem verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Von daher war der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wiederholt Gegenstand von Meinungsumfragen in der amerikanischen Besatzungszone. Im Mittelpunkt der Befragungen standen die Schuldfrage und die Legitimität 27 Der Tagesspiegel vom 8. 10. 1946 : „Das unveräußerliche Recht“.

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des Gerichtshofes. Gleichzeitig wurde versucht, aus den Umfragewerten Rückschlüsse auf das allgemeine Interesse der Bevölkerung an den Prozessereignissen zu ziehen. Bereits einen Monat vor dem offiziellen Prozessbeginn führte die amerikanische Informationskontrolle ein Interview mit ausgewählten Vertretern der deutschen Gesellschaft hinsichtlich ihrer Erwartungen an die bevorstehenden Verhandlungen in Nürnberg durch.28 Zu diesem frühen Zeitpunkt mussten die Vertreter der amerikanischen Informationskontrolle auf der Grundlage dieser Inter views erkennen : „For the time being the trials remain a far away political question for the avarage German whose paramount concern is for the problems of daily live.“29 Mit dieser Einschätzung befand sich die Besatzungsbehörde in Einklang mit den Beobachtungen der internationalen und nationalen Pressevertreter. Die Umfrageteilnehmer hatten sich ausgesprochen skeptisch gegenüber der zu erwartenden Reaktion der Allgemeinbevölkerung auf den Nürnberger Prozess gezeigt. Als Grund für die vermutete Zurückhaltung der Deutschen nannten sie in erster Linie die rückwirkende Gesetzesgrundlage. Eine derartige Ablehnung der Rechtsgrundlage des Internationalen Militärgerichtshofs wurde in späteren Befragungen jedoch nicht bestätigt. Im Gegenteil, im August 1946 wurde festgestellt, dass eine konstant hohe Anzahl von durchschnittlich 80 Prozent der Umfrageteilnehmer die Verhandlungen als fair beurteilten.30 Allerdings ist die Aussagekraft dieser Zahl vorsichtig zu interpretieren, da die Bereitschaft, gegenüber Vertretern der amerikanischen Besatzungsmacht die Legitimität des Internationalen Gerichtshofs in Zweifel zu ziehen, wohl begrenzt war. Das es auf der anderen Seite Deutsche gab, die den Prozess als „Siegerjustiz“ ablehnten, bestätigen dagegen die Briefe. Eine erste Bilanz zogen die Vertreter der amerikanischen Militärregierung dann Anfang August 1946, als die individuelle Anklageerhebung, die Beweisaufnahme und die Aussagen der Angeklagten abgeschlossen waren. In der Auswertung mehrerer Bevölkerungsumfragen kamen die amerikanischen Besatzungsbehörden zu dem Schluss, dass der Prozess seinen Zweck erfülle, der darin bestehe, die Kriegsverbrechen ans Licht zu bringen und die deutsche Bevölkerung über die Schuld der NS - Führung aufzuklären.31 Auf die Frage, ob sie aus den Nürnberger Verhandlungen etwas erfahren konnten, was ihnen bis dahin nicht bekannt gewesen sei, antworteten im Novem28 Befragt wurden 30 Deutsche verschiedener politischer Richtungen und sozialer Herkunft, von denen einige zentrale Funktionen im politischen und öffentlichen Leben einnahmen. Der Bericht macht deutlich, dass alle Teilnehmer durch die deutsche Presseberichterstattung Kenntnis von dem bevorstehenden Prozess in Nürnberg hatten. Vgl. Information Control Intelligence Summary No. 15 vom 20. 10. 1945. Eine Kopie dieses in den National Archives and Records Administration ( NARA ) archivierten Berichts wurde mir freundlicher weise von Anneke de Rudder zur Verfügung gestellt. 29 Ebd. 30 Report No. 16 vom 7. 8. 1946 ( IfZ München OMGUS, ICD Opinion Sur veys Dk. 110.001.). Anna und Richard Merritt geben eine gekürzte Zusammenfassung der Umfrage wieder und machen Angaben zur Stichprobe. Merritt / Merritt, Public Opinion, S. 93 f. 31 Ebd.

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Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

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ber 1945 65 Prozent und im Sommer 1946 sogar 87 Prozent der Inter viewten mit „Ja“. Obwohl es so scheint, als ob die Besatzungsmacht mit dieser Entwicklung zufrieden sein konnte, fiel die Einschätzung des Interesses der deutschen Bevölkerung an den Prozessereignissen gleichzeitig ernüchternd aus : „Interest in the trial proceedings has, however, suffered a constant decline.“32 Nach Angaben der amerikanischen Informationskontrolle sah die Entwicklung des Interesses der Allgemeinbevölkerung am Nürnberger Verfahren also wie folgt aus : Nachdem im Oktober 1945 von einer geringen Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den Verhandlungen ausgegangen wurde, lobte General McClure im Februar 1946 gegenüber deutschen Pressevertretern das „starke und anhaltende Interesse“ am Prozess, während schließlich im August 1946 eine stetige Abnahme der Teilnahme konstatiert wurde. Jedoch gibt es für Februar 1946 kein konkretes Zahlenmaterial, das die Angaben McClures bestätigt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es im Interesse der Besatzungspolitik gelegen hat, die um die Jahreswende 1945/46 zunehmende Kritik an der Bevölkerungsreaktion zu entkräften. Parallel zum abnehmenden Interesse der Bevölkerung am Verhandlungsverlauf entwickelte sich laut Umfrageergebnissen der Leseranteil an der Prozessberichterstattung, der bis zum Sommer 1946 von 82 auf 67 Prozent sank, was dennoch immerhin über der Hälfte der Befragten entsprach. Das tatsächliche Interesse an den Artikeln über die Verhandlungen sank bei den Umfrageteilnehmern von 62 auf 37 Prozent, halbierte sich also fast. Diese Daten suggerieren jedoch, dass es in den Monaten zuvor ein stärkeres Interesse gegeben haben muss, so wie McClure es im Februar 1946 öffentlich bestätigt hatte. Dass die Urteilsverkündung laut Presseberichten ein verstärktes Bevölkerungsinteresse her vorgerufen hat, wird durch die demoskopischen Werte nicht bestätigt, da Angaben zur allgemeinen Aufmerksamkeit am Ende des Verfahrens fehlen. Im Mittelpunkt der Befragungen am Prozessende standen die konkreten Reaktionen auf das Strafmaß. Trotz dieser Widersprüche wird insgesamt auf jeden Fall deutlich, dass der Nürnberger Prozess zu keinem Zeitpunkt das Gesprächsthema „Nummer Eins“ in der deutschen Bevölkerung gewesen war. Dieses Bild von der Bevölkerungsreaktion ändert sich auch nicht durch eine Analyse der Briefe, die an das Internationale Militärgericht und dessen Personal adressiert waren. Diese Briefe hatten nicht nur die Funktion, Zustimmung oder Ablehnung gegenüber dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Ausdruck zu bringen, sondern wurden von vielen Absendern dazu genutzt, sich die Alltagsnöte von der Seele zu schreiben. Von daher geben die Schreiben ein anschauliches Bild von der Stimmungslage im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland, das von Desillusionierung und Zukunftsangst geprägt war. Insgesamt spiegeln die Briefe ein breiteres Meinungsspektrum wider, denn die Absender, die häufig anonym schrieben, konnten weitaus offener ihre Meinung äußern als die Pressevertreter oder Umfrageteilnehmer. Im Gegensatz zu den Presseberichten und Umfrageergebnissen wird der Internationale Militär32 Ebd.

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gerichtshof in einem Teil der Briefe somit deutlich als Racheakt der Sieger abgelehnt. Wie einige Journalisten beobachtet hatten, äußerten mehrere Briefschreiber zudem ihr Unverständnis gegenüber der Rechtsgrundlage. So empfand ein Absender das Verfahren als „Geduldsprobe“, „weil man mit diesen minder wertigen Subjekten so viele Umstände macht“.33 Um die Jahreswende 1945/46, als sich die Vor würfe der Teilnahmslosigkeit in der internationalen Presse häuften, setzte sich eine Reihe von Briefschreibern gegen diese Vorwürfe zur Wehr. In einem Schreiben heißt es beispielsweise, „ich bin fest überzeugt, dass eine sehr große Anzahl Deutscher das tägliche Nürnbergerprozessverfahren mit größter Spannung verfolgen“.34 Interessant ist auch eine Stellungnahme, die von Insassen eines Kriegsgefangenenlagers in Bamberg verfasst wurde. Nach ihrer eigenen Aussage verfolgten die Gefangenen die Prozessberichterstattung in der „Neuen Zeitung“, durch die sie vom Desinteresse der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Nürnberger Prozess erfahren haben. Dieser Beobachtung hielten sie entgegen : „Man muss die Debatten über den Prozess selbst nur hören und es kann gesagt werden, die Anteilnahme, wenigstens soweit wir es von hier aus unserem durch Stacheldraht begrenzten Kreise übersehen können, ist über wältigend.“35 Trotzdem können diese Bekenntnisse nicht auf die Haltung der Gesamtbevölkerung übertragen werden. Schließlich handelt es sich doch um vereinzelte Stellungnahmen, die zwar das Bild von der öffentlichen Reaktion auf den Nürnberger Prozess differenzieren, aber nicht revidieren.

5.

Fazit

Standen die Deutschen in Nürnberg nun abseits, wie Hans Habe konstatiert hatte ? Die Allgemeinbevölkerung war im Gerichtssaal nicht als Zuschauer zugelassen und selbst ausgewählte politische Vertreter der deutschen Gesellschaft konnten den Prozess erst nach wiederholter Kritik an ausgewählten Tagen vor Ort beobachten. Allerdings muss fraglich bleiben, ob eine Zulassung der Deutschen als Zuschauer einen positiven Einfluss auf deren Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit ihrer jüngsten Vergangenheit gehabt hätte. Abgesehen von den organisatorischen und sicherheitspolitischen Herausforderungen, die eine derartige Zulassung mit sich gebracht hätte, muss auch offen bleiben, inwieweit die Bevölkerung, die um das tägliche Überleben kämpfte, von einer derartigen Möglichkeit Gebrauch gemacht hätte. So kam den deutschen Pressevertretern eine Schlüsselfunktion im Vermittlungsprozess zu, die jedoch auf Seiten der amerikanischen Besatzungsbehörden erst sukzessive erkannt wurde. Denn die

33 Brief vom 9. 12. 1945 ( IfZ München, OMGUS, OCCWC IMT Secretariat 7/73–1/17). 34 Brief vom 1. 2. 1946 ( ebd.). 35 Brief vom Silvesterabend 1945 ( ebd.).

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Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

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Akkreditierung der deutschen Journalisten als Prozessbeobachter war nur zögerlich erfolgt, was selbst von ausländischen Korrespondenten kritisiert wurde. Die umfangreiche und ausführliche Prozessberichterstattung zeugt schließlich davon, dass die Deutschen die Möglichkeit hatten, den Verhandlungsverlauf kontinuierlich zu verfolgen, auch wenn es manchmal nicht einfach war, eine Zeitung zu erstehen. Es gibt außerdem Anhaltspunkte dafür, dass ein Teil der Bevölkerung den Prozessverlauf mit Interesse verfolgt hat. Aber dieses vor wiegend in Leserbriefen und Briefen an das Gericht bekundete Interesse war nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. So sehr das Schreiben von Briefen eine Auseinandersetzung mit den Prozessereignissen und damit der NS - Vergangenheit voraussetzte, so gering ist andererseits die Anzahl der Briefschreiber gemessen an der Gesamtbevölkerung. Insgesamt lassen die Quellen, insbesondere die Presseberichterstattung und die Meinungsumfragen, keinen Zweifel daran, dass die Anteilnahme der deutschen Bevölkerung an den Nürnberger Verhandlungen gering war. Die beim Prozess zugelassenen deutschen Journalisten erkannten deutlich, dass sie mit einem Leserkreis konfrontiert waren, der keine juristischen Details über die Ereignisse im Nürnberger Gerichtssaal lesen wollte. Einige, darunter Süskind von der „Süddeutschen Zeitung“ sowie Drexel und Becker von den „Nürnberger Nachrichten“, wollten dennoch an die positive Wirkung des Hauptkriegsverbrecherprozesses glauben. Damit brachten sie letztendlich ihre Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang in Deutschland zum Ausdruck, der ohne eine Aufklärung über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus kaum möglich war.

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„Diese Angeklagten sind die Hauptkriegsverbrecher.“ Die KPD / SED und die Nürnberger Industriellen - Prozesse 1947/48 Jörg Osterloh

Für die deutschen Kommunisten standen die Schuldigen für NS - Herrschaft und Zweiten Weltkrieg eindeutig fest. Es handelte sich, so machte die KPD bereits am 11. Juni 1945 bei ihrer Wiedergründung unmissverständlich klar, um einen Kreis „gewissenloser Abenteurer und Verbrecher“, zu dem neben den Spitzen aus Partei - und Militärführung vor allem die Auftraggeber der NSDAP gehörten, die „Herren der Großbanken und Konzerne“. Daher forderte sie in ihrem Gründungsaufruf die „Enteignung des gesamten Vermögens der Nazibonzen und Kriegsverbrecher“ und dessen Übergabe „in die Hände des Volkes“.1 Die Partei bezog sich damit auf eine antifaschistische Lesart, die ihre Wurzeln in der Weimarer Republik hatte und während der NS - Herrschaft in der Emigration weiter gepflegt worden war. Auf der aus Tarngründen sogenannten Berner Konferenz der KPD, die vom 30. Januar bis 1. Februar 1939 in der Nähe von Paris stattfand, hatte der Hauptredner Wilhelm Pieck bereits erklärt : „Die Nation vor dem Untergang retten, heißt also, ihre Verräter und Verderber, den Hitlerfaschismus und das Trustkapital, stürzen. Das ist höchste nationale Tat in dieser Epoche.“2 Die Forderungen der KPD standen in der Kontinuität der berühmten, zunächst vom XIII. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale 1933 aufgestellten und zwei Jahre später schließlich von 1

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Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945. In : Grigorij Andreevič Belov u. a., Um ein antifaschistisch - demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945–1949, Berlin ( Ost ) 1968, S. 56 ff. Der Beitrag baut auf den Darstellungen zur Enteignung Friedrich Flicks in der Sowjetischen Besatzungszone und zu Flick „im Visier der DDR - Propaganda“ auf : Norbert Frei / Ralf Ahrens / Jörg Osterloh / Tim Schanetzky, Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009, S. 448–462, 606–619. Vgl. zudem Jörg Osterloh, Die Monopole und ihre Herren. Marxistische Interpretationen. In : Norbert Frei / Tim Schanetzky ( Hg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010, S. 36–47. Vgl. Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS - Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, S. 23, 29 ( Zitat ); zur „Berner“ Konferenz auch Arnold Sywottek, Deutsche Volksdemokratie. Studien zur politischen Konzeption der KPD 1935–1946, Düsseldorf 1971, S. 89 f.

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Georgi Dimitroff aufgegriffenen These, dass der Faschismus die „offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ sei.3 Die in der SBZ und anschließend in der DDR lange Zeit maßgebliche offizielle Deutung der NS - Vergangenheit fand sich bereits in den frühen Reden und Aufsätzen von Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck. Insbesondere Ulbricht betonte in seiner programmatischen Schrift über „Die Legende vom ‚deutschen Sozialismus‘“ von 1945, dass die Verantwortung für die Verbrechen des NS Regimes bei den „dreihundert deutschen Rüstungsindustriellen und Bankherren“ lag, die in der Unterstützung der NSDAP einen Weg aus der Wirtschaftskrise gesehen hätten. Die Bewältigung der NS - Vergangenheit sei daher gleichbedeutend mit der Beseitigung des Kapitalismus.4 Nach ersten kritischen Reflexionen von Alexander Abusch über den „Irrweg einer Nation“ war schon bald vom „Irrweg der herrschenden Klassen“ die Rede. Dadurch, dass fortan vornehmlich das „Finanz - und Monopolkapital“ für die Verbrechen des NS Regimes verantwortlich gemacht wurde, gab es für die breite Bevölkerung zugleich eine Art Kollektivamnestie.5 In den Augen der meisten Kommunisten hatten sich nicht nur die Befürchtungen von vor 1933 bewahrheitet („Wer Hitler wählt – wählt den Krieg“), man sah sich auch in der grundsätzlichen Kapitalismuskritik bestätigt.6 Mit ihrer vereinfachten Sicht entledigte sich die KPD auch einer der schwierigsten Aufgaben – der Auseinandersetzung mit der „Frage von Schuld und Verantwortung der Deutschen an Krieg und Faschismus“ wie auch nach der „Mitschuld von Millionen Deutschen am Holocaust“.7 Aber nicht nur die Kommunisten, sondern auch die Sozialdemokraten und die politische Vertretung des Bürgertums bezogen eindeutig Stellung : So sprach sich die vier Tage nach der KPD zugelassene SPD ebenfalls für die Verstaatlichung von Bodenschätzen, Bergwerken und Energieunternehmen aus und forderte, die Großindustrie, die vom Krieg profitiert habe, „für die Zwecke des Wiederaufbaus“ besonders heranzuziehen. Selbst die CDU reklamierte in ihrem Gründungsaufruf vom 26. Juni den Schutz des Staates vor wirtschaftlichen Machtzusammenballungen sowie eine staatliche Kontrolle des Bergbaus und 3

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6 7

Dimitroff zit. nach Eike Hennig, Industrie und Faschismus. Anmerkungen zur sowjetmarxistischen Interpretation. In : Neue Politische Literatur, XV (1970), S. 432–449, hier 433, Anm. 7. Siehe auch Theo Pirker ( Hg.), Komintern und Faschismus 1920– 1940. Dokumente zur Theorie und Geschichte des Faschismus, Stuttgart 1965, S. 187. Walter Ulbricht, Die Legende vom „deutschen Sozialismus“. Ein Lehrbuch für das schaffende Volk über das Wesen des deutschen Faschismus, Berlin 1945. Vgl. allg. Herf, Zweierlei Erinnerung, S. 24. Vgl. Katrin Hammerstein, Deutsche Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, 3/2007, S. 24–30, hier 26; Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, Berlin 1946 ( zuerst gedruckt im mexikanischen Exil : o. O. 1945). Zit. nach Olaf Groehler, Erblasten : Der Umgang mit dem Holocaust in der DDR. In : Hanno Loewy ( Hg.), Holocaust : Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992, S. 110–127, hier 111. Ebd., S. 113.

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Nürnberger Industriellen-Prozesse 1947/48

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weiterer monopolartig organisierter Schlüsselunternehmen.8 Das Verständnis von der Rolle der deutschen Industrie im NS - Staat und die damit verbundenen Programmatiken der Parteien waren von erheblicher Tragweite : Die spätere Sowjetische Besatzungszone war eine „industrielle Kernregion“ des Deutschen Reiches gewesen, insbesondere die Region Berlin - Brandenburg und der Süden waren hochindustrialisiert.9 Die Zeichen standen somit vor allem für die Großindustrie auf Sturm. Wenige Monate nach Kriegsende nahmen die neuen deutschen Landesregierungen bzw. - verwaltungen die ersten Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse vor; diese gingen mit den einschlägigen Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht Hand in Hand : Den Auftakt machte am 3. September 1945 die „Bodenreformverordnung“ der sächsischen Provinzialver waltung, die die entschädigungslose Enteignung führender Nationalsozialisten sowie aller Grundbesitzer mit mehr als 100 ha Bodenfläche vorsah. Am 29. Oktober ordnete die Landesver waltung Sachsen die Enteignung des Besitzes von Friedrich Flick an. Nur einen Tag später verfügte die Sowjetische Militäradministration ( SMAD ) mit Befehl Nr. 124 die Beschlagnahme des gesamten Produktivvermögens von Naziaktivisten, Rüstungsfabrikanten, Kriegsverbrechern und Finanziers der NSDAP. Die hier von betroffenen Betriebe wurden unter „Sequester“, das heißt unter treuhänderische Verwaltung gestellt. Die Militäradministration wollte mit diesem Verfahren dem Eindruck entgegentreten, es handele sich um die endgültige Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur in ihrem Besatzungsgebiet. Am darauffolgenden Tag, dem 31. Oktober, sah ein weiterer SMAD - Befehl ( Nr. 126) die Konfiskation des Vermögens der NSDAP sowie anderer NS - Organisationen vor.10 Mit diesen Befehlen „legitimierte und beschleunigte“ die Besatzungsmacht „den Transformationsprozess der Wirtschaft“.11 Die KPD verfolgte das Ziel, ihre gesellschafts - und wirtschaftspolitischen Vorstellungen mit Rückendeckung der SMAD konsequent umzusetzen und – angesichts der sich von den westlichen Besatzungszonen deutlich unterscheidenden Entwicklung in der SBZ – die Bevölkerung für ihre Politik zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund fand in der SBZ die Rezeption des Internationalen Militärtribunals ( IMT ) sowie vor allem der von amerikanischen Militärgerichten in alleiniger Verantwortung durchgeführten sogenannten Nachfolgeprozesse 8 Aufruf des Zentralausschusses der SPD vom 15. 6. 1945; Gründungsaufruf der CDU vom 26. 6. 1945. In : Belov, Um ein antifaschistisch - demokratisches Deutschland, S. 67 ff., 78 ff. 9 Vgl. Burghard Ciesla, Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung. Zur Wirtschaftspolitik in der SBZ zwischen 1945 und 1949. In : Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals ( Hg.), Sowjetisierung oder Neutralität ? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955, Göttingen 2006, S. 417–433, hier 418 f. 10 Vgl. den Überblick in : André Steiner ( Hg.), Überholen ohne einzuholen. Die DDR - Wirtschaft als Fußnote der deutschen Wirtschaftsgeschichte ? Berlin 2006, S. 146 f. 11 Thomas Widera, Dresden 1945–1948. Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft, Göttingen 2004, S. 320.

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in Nürnberg statt. Diese Prozessserie gegen SS - und Wehrmachtoffiziere, gegen Ärzte und Juristen, gegen Diplomaten als auch gegen führende Industrielle führte „das erste und einzige Mal den rassenpolitisch - militärisch - industriellen Gesamtkomplex der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen vor aller Augen und Ohren“. Die Prozesse sollten die tiefe Verstrickung der Eliten in die nationalsozialistischen Verbrechen belegen und damit der in bürgerlichen Kreisen verbreiteten Schutzbehauptung entgegenwirken, die deutsche Gesellschaft sei von Hitler zunächst verführt und anschließend missbraucht worden.12 Nicht nur der deutschen, sondern auch der Weltöffentlichkeit sollte vielmehr demonstriert werden, dass die Verbrechen des NS - Regimes nur mit Hilfe der gesellschaftlichen Eliten verübt werden konnten.13 Die amerikanischen Ankläger hatten dabei, so Götz Aly, „noch eine Vorstellung vom Gesamtzusammenhang der deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.14 Eine detaillierte Rezeptionsgeschichte der Nürnberger Prozesse in der SBZ steht noch aus.15 Naheliegend ist die Vermutung, dass die Verfahrensserie der KPD bzw. ab April 1946 der SED Munition für die Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit als auch mit ihren politischen Gegnern lieferte. Der folgende Beitrag beabsichtigt daher am Beispiel des Internationalen Militärtribunals gegen die deutschen „Hauptkriegsverbrecher“ und der drei sogenannten Industriellen - Prozesse, in denen unter anderem gegen Friedrich Flick, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach sowie gegen die Konzernspitze der IG Farben ( eigentlich : Interessen - Gemeinschaft Farbenindustrie AG ) verhandelt wurde, schlaglichtartig den Umgang der KPD / SED mit den Nürnberger Verfahren zu untersuchen. Im Fokus steht dabei die Berichterstattung in der Parteipresse.16

12 Vgl. Peter Reichel, Der Nationalsozialismus vor Gericht und die Rückkehr zum Rechtsstaat. In : ders./ Harald Schmid / Peter Steinbach ( Hg.), Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Über windung – Deutung – Erinnerung, München 2009, S. 22–61, hier 26 ( Zitat ), 41. 13 Vgl. Frei / Ahrens / Osterloh / Schanetzky, Flick, S. 401 f. 14 Götz Aly, Wider das Bewältigungs - Kleinklein. In : Loewy ( Hg.), Holocaust, S. 42–51, hier 45. 15 Vgl. aber u. a. Herf, Zweierlei Erinnerung; Christoph Classen, Faschismus und Antifaschismus. Die nationalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Rundfunk (1945– 1953), Köln 2004. 16 Neben einer Durchsicht der entsprechenden Jahrgänge der „Volks - Zeitung“ ( Halle / Saale ), der „Sächsischen Zeitung“ und des „Neuen Deutschland“ sowie des Organs der SMAD, der „Täglichen Rundschau“, wurde hierfür die Presseauswertung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes herangezogen ( SAPMO - BArch, DY 55/ v278/2/ Bände 127–137).

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Prolog : „Hunderttausend protestieren“ – Reaktionen auf das Internationale Militärtribunal in Nürnberg 1945/46

Ab dem 20. November 1945 mussten sich in Nürnberg die „Hauptkriegsverbrecher“ – 22 führende Politiker, Beamte, Funktionäre der NSDAP und Generale – vor einem gemeinsam von den USA, der UdSSR, Großbritannien und Frankreich gebildeten Internationalen Militärtribunal verantworten. Reichsarbeitsführer Robert Ley hatte sich der Anklage durch Selbstmord entzogen, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der als einziger Großindustrieller auf der Anklagebank des IMT Platz nehmen sollte, galt wegen Krankheit als verhandlungsunfähig. Anklagepunkte waren erstens : Verbrechen gegen den Frieden, d. h. Planung, Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen unter Verletzung internationaler Verträge; zweitens : Kriegsverbrechen, d. h. die Verletzung der Kriegsgesetze und –gebräuche ( dazu zählten u. a. Mord, Misshandlungen, Deportation zur Zwangsarbeit oder für andere Zwecke von Angehörigen der Zivilbevölkerung besetzter Gebiete, Mord oder Misshandlung von Kriegsgefangenen, die Tötung von Geiseln ); drittens : Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung und Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen. Die Urteile ergingen nach 403 Sitzungen am 30. September und 1. Oktober 1946. Der Gerichtshof verhängte die Todesstrafe gegen Martin Bormann ( in Abwesenheit ), Hans Frank, Wilhelm Frick, Hermann Göring, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Arthur Seyss - Inquart und Julius Streicher. Göring beging vor Vollstreckung des Urteils Selbstmord, die übrigen wurden am 16. Oktober hingerichtet. Zu Haftstrafen von zehn Jahren bis lebenslänglich verurteilte das IMT Karl Dönitz, Walther Funk, Rudolf Hess, Konstantin Freiherr von Neurath, Erich Raeder, Baldur von Schirach und Albert Speer. Freigesprochen wurden Hans Fritzsche, Franz von Papen und Hjalmar Schacht.17 In der Sowjetischen Besatzungszone wurde umfassend und zunächst auch ausgesprochen positiv über das IMT berichtet – dies obgleich, wie Annette Weinke betont, die Sowjetunion in dem Verfahren eher eine Außenseiterrolle einnahm. Sowohl die Presse als auch der Berliner Rundfunk waren während der gesamten Prozessdauer in Nürnberg mit Korrespondenten vertreten, die in „unzähligen Reportagen, Kommentaren und Inter views vom Ablauf der Verhandlung“ berichteten. Die Korrespondenten waren zumeist, wie etwa der spätere DDR - Auslandsspionagechef Markus Wolf, eingefleischte Kommunisten, deren Sicht auf den Prozess durch eigene Verfolgungserfahrungen und die parteioffizielle Interpretation des „deutschen Faschismus“ geformt war.18 Ihre Mel17

Vgl. Peter Steinbach, Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. In : Gerd R. Ueberschär ( Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, 3. Auf lage Frankfurt a. M. 2008, S. 32–44; Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 17–58. 18 Ebd., S. 112 f.

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dungen spiegelten daher von Anfang an die vergangenheitspolitischen Leitlinien der KPD als auch die der hinter ihr stehenden sowjetischen Besatzungsmacht wider. So erklärte etwa die „Tägliche Rundschau“, die Tageszeitung der SMAD für die deutsche Bevölkerung, am 20. Januar 1946, dass die leitenden Männer der „Großfirmen“, „die Flick, Thyssen, Krupp von Bohlen und Halbach, Stinnes, Kirdorf usw. [...] als rücksichtslose Wegbereiter Hitlers und unentwegte Kriegstreiber genügend bekannt sind“.19 Die Berichte in der KPD - Presse ließen keinen Zweifel daran, welche Schlussfolgerungen das IMT ziehen sollte. Um eine breite Zustimmung der Bevölkerung und insbesondere der „Werktätigen“ in der SBZ zu signalisieren, verknüpften die Parteiblätter ihre Meldungen regelmäßig mit Protestresolutionen und „Leserbriefen“, zunächst vor allem aus der Arbeiterschaft. Die „Sächsische Volkszeitung“ etwa erklärte am 27. Februar 1946 in ihrer Leipziger Ausgabe, sie sei in den vorangegangenen Monaten „aus den Betrieben mehrfach aufgefordert“ worden, diesen Gelegenheit zu geben, sich zum IMT zu äußern. Das KPD - Organ zitierte ein Schreiben von Angehörigen der Köllmann - Werke : „Wir wollen keine Wiederholung der Fehler von 1918, darum müssen wir diesmal gründlich aufräumen mit den Kräften der Reaktion.“ Hierfür sei aber die Einheit der Arbeiterklasse „die allererste Voraussetzung“.20 Die öffentlichen Verlautbarungen der KPD als auch die Meldungen in der Parteipresse verknüpften die sich im Fluss befindliche Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse in der SBZ geschickt mit dem Nürnberger Prozess und waren von Anfang an formelhaft. So hieß es etwa in der „Sächsischen Volkszeitung“ Anfang März 1946 : „Es gilt auch all jene Kräfte mit zur Verantwortung zu ziehen und zu entmachten, die die Drahtzieher der Aufrichtung des Hitlerfaschismus und seines Krieges gewesen sind – die großen Trust - Kapitalisten und die Junker. Ihnen muss jede Möglichkeit genommen werden, jemals wieder über die deutsche Industrie und das deutsche Volk zu bestimmen.“21 Um die breite Unterstützung der Forderungen der Partei zu dokumentieren, wurden nun neben den weiter in großer Zahl veröffentlichten Stellungnahmen von „Werktätigen“ auch Stimmen von Künstlern und Wissenschaftlern präsentiert. Beispielsweise kam nun ein Professor Baetke zu Wort : „Das Schicksal unseres Volkes – das ist die Lehre von Nürnberg – kann nur den jungen aufstrebenden und unbelasteten Schichten unseres Volkes anvertraut werden, denen die Zukunft gehört.“22

19 Tägliche Rundschau vom 20. 1. 1946 : „Formen des Monopolkapitals“. 20 Sächsische Volkszeitung / Ausgabe Leipzig vom 27. 2. 1946 : „Leipziger Betriebe zum Nürnberger Prozess“. 21 Sächsische Volkszeitung / Ausgabe Leipzig vom 1. 3. 1946 : „Die Stimme des Volkes“; vom 4. 3. 1946 : „Die Stimme des Volkes“. 22 Sächsische Volkszeitung / Ausgabe Leipzig vom 6. 3. 1946 : „Leipziger Künstler und Wissenschaftler zum Nürnberger Prozess“ und „Die Betriebsangehörigen des Konsumvereins Leipzig - Plagwitz“. Siehe auch die Ausgabe vom 13. 3. 1946 : „Leipziger Künstler zum Nürnberger Prozess“.

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Die Todesurteile von Nürnberg nahm die Presse der im April aus der Zwangsvereinigung von KPD und SPD her vorgegangenen SED mit Genugtuung zur Kenntnis. Daneben fokussierten die Kommentare Anfang Oktober 1946 auf die vom IMT verhängten Haftstrafen und vor allem auf die Freisprüche. Die Rede war von einem fassungslosen Entsetzen, dass „man die wirklichen Hintermänner des Nazi - Terrorismus, Schacht, der Hitler finanzierte, Papen, der ihn lancierte, Fritzsche, der ihn propagierte, laufen ließ, während das deutsche Volk unter den Folgen des von diesen Verbrechern systematisch vorbereiteten Massenmords körperlich und seelisch in Generationen noch schwer zu leiden haben wird“.23 Mit der tiefen Entrüstung ging freilich von Anfang an das politische Kalkül der SED - Führung in Ost - Berlin und der neuen Landes - und Provinzialverwaltungen einher. Am 3. Oktober fand beispielsweise eine Protestkundgebung auf dem Leipziger Karl - Marx - Platz statt. Wenigstens 70 000, nach anderen Berichten sogar über 100 000 Menschen demonstrierten gegen die als zu milde empfundenen Urteile. Die Rahmenbedingungen der Massenkundgebung liegen im Dunkeln, über die Freiwilligkeit der Teilnahme hieran ist nichts bekannt. Zu den Rednern zählten SED - Bezirkssekretär Ernst Schönfeld und Helmut Lehmann vom Parteivorstand in Berlin.24 Der Leipziger Oberbürgermeister Erich Zeigner ( ebenfalls SED ) erklärte bei dieser Gelegenheit in einem offenen Brief, das deutsche Volk fordere eine „strengere Bestrafung“.25 Die „Leipziger Volkszeitung“, das Parteiorgan in der Stadt, erklärte, die Demonstranten fänden „es unverständlich, dass gerade die Männer, die als Auftraggeber des Finanzkapitals und der junkerlichen Herrenkaste Hitler erst zur Macht gebracht haben, heute von jeder Verantwortung für dieses ungeheuerliche Verbrechen freigesprochen werden“. Es sei nicht damit getan, dass man jetzt nur die großen Nazis hänge, „ihre Steigbügelhalter und Hintermänner“ aber blieben verschont, „um sich bei günstiger Gelegenheit vielleicht wieder nach einem neuen Hitler umsehen zu können“. Daher wisse das deutsche Volk, dass es nun darauf ankomme, „die Kräfte zur Verantwortung zu ziehen, die den Nazismus erst ermöglicht haben : das Großkapital und der Großgrundbesitz“.26 Schließlich reihte sich auch der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in die Reihen der Kritiker am Urteil von Nürnberg ein : „Die Freisprüche legen die Befürchtung nahe, gewisse Kreise im Ausland wollten nur die oberste Schicht der Nazis unschädlich machen, aber diejenigen reaktionären

23 Leipziger Volkszeitung vom 3. 10. 1946 : „Die Stimme der Werktätigen“. 24 Leipziger Zeitung vom 5. 10. 1946 : „Hundertausend protestieren“; Abschrift aus dem Polizei - Wochenbericht vom 5. 10. 1946 ( SAPMO - BArch, DY 55/ v278/2/130). Zur Bedeutung der Massenaufmärsche vgl. Rainer Behring, Massenaufmärsche, Arbeitseinsatz, Hausvertrauensleute. Die Mobilisierung der Bevölkerung am Beispiel Chemnitz. In : ders./ Mike Schmeitzner ( Hg.), Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952, Köln 2003, S. 371–409. 25 Leipziger Zeitung vom 6. 10. 1946 : „Das deutsche Volk für strengere Bestrafung“. 26 Leipziger Volkszeitung vom 4. 10. 1946 : „Wieder lässt man die Großen laufen !“.

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Gruppen schonen, deren Unschädlichmachung die eigentliche Voraussetzung für eine demokratische Erneuerung Deutschlands bildet. Diese Erneuerung wird auf das schwerste geschädigt, wenn entscheidend Verantwortliche freigesprochen werden und ideologische Kriegsverbrecher geradezu einen Freibrief für die Wiederaufnahme ihrer verhängnisvollen Tätigkeit erhalten.“27 Der Text war unter anderem gezeichnet vom nachmaligen Kultusminister der DDR Johannes R. Becher, vom gerade aus seinem Amt als Präsident der deutschen Zentralverwaltung für Brennstoffwesen entlassenen CDU - Politiker Dr. Ferdinand Friedensburg, vom Physiker Prof. Dr. Robert Havemann, aber auch vom späteren Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer, zu diesem Zeitpunkt noch 2. Vorsitzender der CDU in der SBZ. Der Aufruf – der sich eindeutig auch gegen die Politik der amerikanischen Besatzungsmacht richtete – sollte Einigkeit in der Ablehnung der milden Urteile und Freisprüche signalisieren. Der Protest gegen die Nürnberger Urteile wurde von der im Frühjahr aus der Taufe gehobenen SED hemmungslos parteipolitisch genutzt, standen doch am 20. Oktober die ersten Landtags - und Kreistagswahlen in der Sowjetischen Besatzungszone vor der Tür. So griff die „Leipziger Volkszeitung“ am 12. Oktober erneut die wenige Tage zuvor stattgefundene Großkundgebung in der Messestadt auf und erklärte in nun maßloser Übertreibung der Zahlen, in den Reihen der Demonstranten seien nicht nur Marxisten, sondern auch Hunderttausende von Parteilosen und sogar Tausende ehemaliger Parteigenossen mit marschiert und hätten ebenso wie die SED die Aburteilung der Kriegsverbrecher durch ein deutsches Gericht gefordert. Nur die Leitung der CDU, so echauffierte sich der Verfasser des Artikels, habe „in philosophischer Gelassenheit über dem brausenden Meer der aufgeschreckten Volksmassen“ gethront.28 Am Tag vor den Wahlen veröffentlichte das Blatt eine Erklärung des Zentralrats der SED zu den Nürnberger Urteilen. Dieser forderte, nie wieder dürfe „es reaktionären Kräften gelingen, unsere neu errungenen demokratischen Freiheiten und Einrichtungen zu zerstören“. Daher dürften die Urteile von Nürnberg „nur der Anfang der Abrechnung mit allen großen Pg. und ihren Hintermännern in der Industrie und Landwirtschaft sein“.29 Doch trotz dieser Kampagne war das Ergebnis des letzten halbwegs freien Urnengangs in der SBZ für die Einheitspartei ernüchternd. Sie errang zonenweit – trotz massiver Unterstützung durch die SMAD und Behinderung der bürgerlichen Parteien – für sie enttäuschende 47,6 Prozent und verfehlte damit die absolute Mehrheit.30

27 Präsidialrat des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Resolution des Kulturbundes zum Nürnberger Urteil vom 4. 10. 1946 ( SAPMO - BArch, DY 27/65). 28 Leipziger Volkszeitung vom 12. 10. 1946 : „Asyle für Kriegsverbrecher ?“. 29 Leipziger Volkszeitung vom 19. 10. 1946 : „Nur der Anfang der Abrechnung !“. 30 Vgl. zu den Wahlergebnissen in den einzelnen Ländern und Provinzen Mike Schmeitzner, „Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei sein, sondern sie will Staatspartei sein.“ Die KPD / SED und das politische System der SBZ / DDR (1944– 1950). In : Hilger / Schmeitzner / Vollnhals ( Hg.), Sowjetisierung, S. 271–311, hier 296 f.

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Die Stoßrichtung der Kommentare zu den Urteilen des IMTs und die Instrumentalisierung des Prozesses für die politischen Ziele der KPD / SED wiesen zugleich den Weg für den Umgang mit den Nachfolgeverfahren gegen deutsche Industrielle vor amerikanischen Militärgerichten.

2.

Der Flick - Prozess : „Die verbrecherische Tätigkeit der deutschen Monopolherren“

Der „Fall 5“ war das erste Nürnberger Verfahren, in dem sich führende deutsche Industrielle für ihr Verhalten im Dritten Reich strafrechtlich verantworten sollten ( sieht man einmal vom gescheiterten Versuch ab, Gustav Krupp im Hauptkriegsverbrecherprozess auf die Anklagebank zu setzen ) : Vom 18. April bis zum 22. Dezember 1947 standen Friedrich Flick und fünf seiner engsten Mitarbeiter – Otto Steinbrinck, Bernhard Weiß, Konrad Kaletsch, Hermann Terberger und Odilo Burkart – in Nürnberg vor Gericht. Sie wurden erstens beschuldigt, Zehntausende Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten, KZ Insassen und Kriegsgefangene unter unmenschlichen Bedingungen in Konzernunternehmen ausgebeutet zu haben. Die Aneignung von Industriebetrieben in den besetzten Gebieten, vor allem in Frankreich und Russland waren Inhalt des zweiten Anklagepunktes. Drittens wurden die Angeklagten der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ beschuldigt; konkret ging es um die „Arisierung“ von jüdischem Industriebesitz und von Bergwerken. Im Anklagepunkt wurde Flick und Steinbrinck vorgeworfen, durch Spenden an die SS und die Mitgliedschaft im Freundeskreis Himmler eine verbrecherische Organisation unterstützt zu haben. Der fünfte Anklagepunkt betraf Steinbrinck allein, namentlich seine Mitgliedschaft in der SS. Chefankläger Telford Taylor sah die deutsche Schwerindustrie als Teil einer „unheiligen Dreieinigkeit des Nationalsozialismus, Militarismus und Wirtschaftsimperialismus“. Die finanzielle Unterstützung der Konzerne habe Hitlers Aufstieg zur Macht und das immense Rüstungsprogramm erst möglich gemacht; zudem seien sie direkt an Raub und Eroberung beteiligt gewesen.31 Ein Hauptargument der Verteidigung hingegen war, dass alle Industriellen im „Dritten Reich“ Opfer des NS - Regimes gewesen seien und gezwungen waren, Zwangsarbeiter zu beschäftigen. Die Übernahme von jüdischen Betrieben wiederum bogen die Verteidiger in Hilfsleistungen für die jüdischen Eigentümer um, denen so erst die Auswanderung ermöglicht worden sei. Friedrich Flick machte in seiner Verteidigung für sich und seinen Konzern „Befehlsnotstand“ geltend : Man habe Angst vor Bestrafungen gehabt, die jedem drohten, 31

Vgl. ausführlich zum Prozess Frei / Ahrens / Osterloh / Schanetzky, Flick, S. 402–441, Zitat Taylors 419; Johannes Bähr / Axel Drecoll / Bernhard Gotto / Kim C. Priemel / Harald Wixforth, Der Flick - Konzern im Dritten Reich, München 2008, S. 559–645; Kim C. Priemel, Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007, S. 616–649.

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der das Kriegswirtschaftsprogramm der Nationalsozialisten behindert hätte. Sein Kommentar zum Ostarbeiterprogramm lautete lapidar : „Was hätte ich daran ändern können ?“32 In seinem Schlusswort erklärte er, nichts und niemand werde ihn und seine Mitarbeiter davon überzeugen, „dass wir Kriegsverbrecher waren“.33 Das Urteil wurde am 22. Dezember 1947 verkündet, es war das mildeste aller zwölf Nachfolgeprozesse : Flick wurde zu sieben, Steinbrinck zu fünf und Weiß zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt; Kaletsch, Terberger und Burkart wurden jeweils in allen Anklagepunkten freigesprochen. Die Richter waren den Argumenten der Verteidiger weitgehend gefolgt. Dadurch wurden im Flick - Prozess die zentralen Elemente der zukünftigen – unter Westdeutschlands Industriellen und Politikern lange Zeit weit verbreiteten – Apologie bereits entworfen : Die Privatwirtschaft galt als Opfer staatlicher Gewalt; es wurde die unpolitische Professionalität von „Arisierungen“ und Okkupation betont und Zwangsarbeit als legitimes „Beschäftigungsverhältnis“ eingestuft.34 Im Westen hatten sich schon im Umfeld des IMT die ersten ablehnenden Stimmen geregt. Zahlreiche deutsche Juristen, vermutlich auch ein großer Teil der Öffentlichkeit interpretierten den Prozess als einen Fall von Siegerjustiz; die Akzeptanz der Nachfolgeprozesse war noch weitaus geringer.35 Ganz anders sahen die Reaktionen in der Sowjetischen Besatzungszone aus. Der „Fall 5“ wurde dort von Anfang an aufmerksam verfolgt. Friedrich Flick und sein Konzern waren nicht erst Anfang 1947 ins Blickfeld gerückt, sondern vielmehr bereits seit Kriegsende ständig Gegenstand der öffentlichen Diskussion. In der SBZ lag 1945 der industrielle Schwerpunkt der Friedrich Flick Kommanditgesellschaft ( KG ). Dort befanden sich unter anderem die Mitteldeutschen Stahlwerke mit Betriebsstätten in Sachsen und in Brandenburg, die Gruben der Anhaltischen Kohlenwerke, die Allgemeine Transportanlagen GmbH in Leipzig, die Waggonfabrik vormals Busch in Bautzen, die Sächsischen Gußstahlwerke Döhlen und die Maxhütte im thüringischen Unterwellenborn. Flick sollte später behaupten, er habe in Mittel - und Ostdeutschland rund 70 Prozent seines Besitzes eingebüßt, womit er – wohl kalkuliert – freilich übertrieb. Das Bundesland Sachsen ( also das heutige Sachsen ) und die Provinz Sachsen ( das spätere Sachsen - Anhalt ) standen für die sowjetische Besatzungsmacht und die KPD zunächst im Mittelpunkt des Interesses : Dem wirtschaftlichen Wiederaufbau und der Umverteilung der Eigentumsverhältnisse maßen sie dort besondere Bedeutung bei. In diesem Klima rückte vor allem Flick in den Fokus der Angriffe auf den „Monopolkapitalismus“. Die IG Farben mit ihrem ausge32 Zit. nach Friederike Littmann, Notstand eines Haupttäters – Zwangsarbeit im Flick Konzern. In : 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 1 (1986), S. 4–43, hier 8 f. 33 Zit. nach Frei / Ahrens / Osterloh / Schanetzky, Flick, S. 402. 34 Ebd., S. 426–429; Priemel, Flick, S. 648 f. 35 David Cohen, Öffentliche Erinnerung und Kriegsverbrecherprozesse in Asien und Europa. In : Christoph Corneließen / Lutz Klinkhammer / Wolfgang Schwentker ( Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt a. M. 2004, S. 51–66, hier 54.

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dehnten Besitz im mitteldeutschen Industrierevier war zwar ebenfalls permanent Zielscheibe der Propaganda, stand aber zunächst noch nicht im Blickfeld eines Prozesses und war als mehr oder weniger anonyme Kapitalgesellschaft schwieriger zu greifen; Krupp wiederum hatte, ebenso wie andere „Monopolherren“ des Rhein - Ruhr - Gebiets, verhältnismäßig wenig Besitz in der SBZ. Nur Friedrich Flick hatte in allen Ländern und Provinzen der SBZ – mit Ausnahme von Mecklenburg – nennenswerte Produktionsstätten. Die Angriffe gegen ihn konnten dabei an eine lange Tradition anknüpfen : Albert Norden, der spätere Chef der Westpropaganda der SED, hatte Flick bereits im April 1936 im Prager Exil als einen jener „Monopolherren“ ausgemacht, „die Hitler zur Macht stießen, um durch ihn zu den Rüstungsgewinnen zu kommen“.36 Im Herbst 1945 ging es dann Schlag auf Schlag. Zunächst ordnete am 3. Oktober der Präsident der Provinz Sachsen an, „zur Sicherung der Wirtschaft“ Flicks Anhaltische Kohlenwerke in die Verfügungsgewalt der Provinz zu übernehmen. Am 22. Oktober billigte das Präsidium der Landesver waltung Sachsen eine Verordnung über die Verstaatlichung des gesamten sächsischen Bergbaus und am 29. Oktober fasste das Präsidium schließlich den Beschluss, „zur Sicherung der Demokratie und des Friedens die dem Kriegsverbrecher Flick gehörigen und im Bundesland Sachsen gelegenen Unternehmungen mit allen ihren Beteiligungen und Rechten, sowie alle sonstigen im Besitz des Kriegsverbrechers Flick befindlichen Vermögenswerte“ zu enteignen und in das Eigentum Sachsens zu überführen. Die Präambel der Verordnung ließ keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Enteignung Flicks nur um den Auftakt handeln sollte : „Die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass der deutsche Monopolkapitalismus ein drittes Mal die Welt in das Unglück eines neuen Krieges stürzt, ist die wirtschaftliche Entmachtung der deutschen Monopolkapitalisten und die Nutzbarmachung der in ihren Händen liegenden Produktionsanlagen für das Wohl und die Interessen des gesamten Volkes.“37 Mit der Veröffentlichung des Beschlusses durch die Landesverwaltung erreichten die Angriffe auf Flick einen ersten Höhepunkt. In rascher Folge brachten die Zeitungen erschütternde und – was die Zustände in den Kriegsgefangenen - , KZ - und Arbeitslagern anbelangte – oftmals den Tatsachen entsprechende Berichte. Flick stand freilich pars pro toto. 36 Vgl. ausführlich zur Enteignung Flicks in der SBZ Frei / Ahrens / Osterloh / Schanetzky, Flick, S. 448–462, Zitat 608. Zum Folgenden ebd. 37 Beschluss des Präsidiums der Landesver waltung Sachsen vom 29. 10. 1945 ( SächsHStAD, 11692/87). Vgl. auch Präsident der Provinz Sachsen, Abt. Wirtschaft, an Anhaltische Kohlenwerke ( AKW ) Halle / S. vom 3. 10. 1945 ( LHASA MER, AKW, Nr. Ia, 7); Romberg, Unterabteilung Sicherung der Wirtschaft beim Präsidenten der Provinz Sachsen, an Vorsitzenden des Betriebsrates Westelbien der AKW vom 20. 12. 1945 ( SAPMOBArch, DY 30/ IV 2/6.02); Aktennotiz vom 15. 5. 1948 ( LHASA MER, AKW, Nr. X 3); Befehl Nr. 110 des Obersten Chefs der SMAD über das Recht der Landes - und Provinzialver waltungen, Gesetze und Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, vom 22. 10. 1945. In : Belov, Um ein antifaschistisch - demokratisches Deutschland, S. 183 f.; Protokoll der Präsidialsitzung am 22. 10. 1945 ( SächsHStAD, LRS, Ministerpräsident, Nr. 1429/1).

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Von Sachsen ausgehend, griff die Propagandawelle auf die anderen Länder und Provinzen über, insbesondere auf die Provinz Sachsen, wo die Zukunft von Flicks Braunkohlegruben weiter zur Diskussion stand – am 23. November 1945 hatte die Ver waltung der Provinz nach Dresdner Vorbild den Entwurf einer Anordnung über die Enteignung des Vermögens von Kriegsverbrechern gebilligt, die insbesondere auf den Besitz von Friedrich Flick und Gustav Krupp zielte.38 Entsprechend hob das Hallenser Parteiblatt der KPD, die „Volks - Zeitung“, den sächsischen Enteignungsbeschluss gleich mehrfach hervor. Im Zentrum der Berichterstattung stand die Auf lösung der Montankonzerne, vor allem der Anhaltischen Kohlenwerke. Alle Gruben seien von den Montankonzernen nur nach Machteinflüssen geordnet worden, nicht aber im Sinne einer volkswirtschaftlichen Planung; dies sollte sich nunmehr ändern.39 Die Berichterstattung über die Enteignung Flicks in Sachsen ging nahtlos in die propagandistische Vorbereitung des seit Januar 1946 diskutierten Volksentscheids zur Enteignung „der Kriegs - und Naziverbrecher“ über. In den Wochen vor dem Referendum, das am 30. Juni 1946 stattfinden sollte, rollte eine Propagandawelle durch Sachsen, die den wegweisenden Charakter der Enteignung des „Kriegsverbrechers“ und „Monopolherren“ Flick betonte. Tatsächlich traf das gemeinhin inflationär verwendete Propagandamotiv des Monopolkapitalisten in Flicks Fall ziemlich genau auf die Stellung zu, die Mittelstahl, Anhaltische Kohlenwerke und Maxhütte bis 1945 in Mitteldeutschland eingenommen hatten. Die „Lausitzer Rundschau“ stellte noch am Tag des Volksentscheids fest : „Immerhin wird das deutsche Volk Sorge dafür tragen müssen, dass Flick und seine Leute nicht wieder in der Wirtschaft herumbasteln dürfen.“40 Alle Gegner des Volksentscheids wurden kurzerhand zu Gegnern des Volkes erklärt. Für die Ende April 1946 aus der Taufe gehobene SED bedeutete das Referendum einen politischen und propagandistischen Triumph. Bei einer Beteiligung von mehr als 93 Prozent der Stimmberechtigten befürworteten 77,6 Prozent die Enteignung der „Kriegs - und Naziverbrecher“.41 Hiermit war es der SED gelungen, 38 Beschluss des Präsidiums der Landesver waltung Sachsen vom 9. 11. 1945 ( SächsHStAD, 11692/87). Vgl. auch Rohner an Busch / Bautzen vom 13. 11. 1945; Aktennotiz Kaletsch vom 8. 11. 1945 ( StAN, Rep. 502 KV - Ankl., Handakten, Abt. B 78); Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Präsidiums der Provinz Sachsen vom 23./24. 11. 1945, Anordnung über die Enteignung des Vermögens von Kriegsverbrechern. Unterzeichnet von Hübener und Sievert ( LHASA MD, Rep. K 6, Nr. 6058). 39 Beschluss des Präsidiums der Landesver waltung Sachsen vom 29. 10. 1945 ( SächsHStAD, 11692/87). Vgl. auch Volks - Zeitung vom 10. 11. 1945 : „Enteignung des Kriegsverbrechers Flick“ und vom 23. 12. 1945 : „Auf lösung der Braunkohlenkonzerne“; Neues Deutschland vom 20. 1. 1946 : „Formen des Monopolkapitalismus“ ( Zitat ). 40 Lausitzer Rundschau vom 30. 6. 1946 : „Nie wieder Flick - Konzern“; Hildegard Neumann, Historische Lehren und Erfahrungen zum Volksentscheid in Sachsen am 30. Juni 1946. In : Sächsische Heimatblätter, 28 (1982), S. 1–10, hier 4. 41 Protokoll der Präsidialsitzung am 15. 7. 1946 ( SächsHStAD, LRS, Ministerpräsident, 1429/1); Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs - und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes. In : Gesetze, Befehle, Verordnungen, Bekanntmachungen. Veröffentlicht durch die Landesverwaltung Sachsen, 2 (1946), S. 305 f.; Gerhard Rohner,

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„die Veränderung der Besitzverhältnisse zu legalisieren“.42 Die folgenden Enteignungen in Thüringen und Brandenburg, die Flick ebenfalls massiv betrafen, galten als „weitere Fortschritte der Demokratie“.43 Die meisten ehemaligen Flick - Unternehmen wurden in Volkseigene Betriebe, einige auch in Sowjetische Aktiengesellschaften überführt. Die nach dem erfolgreichen Volksentscheid etwas abebbende Aufmerksamkeit, stieg bereits wenige Monate später wieder an. Dies betraf einerseits die Rückgabe der Werke Busch / Bautzen und Maxhütte durch die UdSSR an die deutschen Behörden im Februar beziehungsweise April 1947, andererseits aber vor allem die Vorbereitung des Nürnberger Prozesses gegen Flick.44 Schon vor dessen Eröffnung forderte das „Neue Deutschland“ am 12. Februar 1947 kategorisch : „Der Prozess gegen Flick muss dazu beitragen, die verbrecherische Tätigkeit der deutschen Monopolherren zu enthüllen. Er darf nicht der einzige bleiben.“ Für das Blatt stand – kaum überraschend – bereits apodiktisch fest : „Flick, ein Hauptkriegsverbrecher“. Die SED forcierte zu diesem Zeitpunkt insbesondere in Berlin die „Kriegsverbrecher - Enteignung als Tagesaufgabe“ und versuchte, die SPD und die bürgerlichen Parteien als Gegner der Enteignung bloßzustellen. Am 13. Februar verhandelte nämlich die Stadtverordnetenversammlung von Groß - Berlin das „Gesetz zur Überführung von Konzernen und sonstigen wirtschaftlichen Unternehmen in Gemeindeeigentum“, das schließlich angenommen wurde.45 Für das „Neue Deutschland“ stand fest, dass in Nürnberg damit „der Prozess gegen einen der wahren Herren Deutschlands in der Nazizeit, gegen Friedrich Flick“ beginne.46 Die Forderungen des zentralen Parteiorgans an das amerikanische Militärtribunal in Nürnberg waren eindeutig : „Das neue Deutschland und mit ihm alle

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Wie die Enteignung des Flick - Konzerns in der Ostzone vor sich ging, undatiert ( HAIT, Sammlung Schmeitzner ); Entwurf vom 5. 11. 1946 ( SächsHStAD, 11384/188); Hauptver waltung landeseigener Betriebe Sachsens an Maxhütte vom 28. 3. 1947 ( ebd., 11540/74); Befehl des Chefs der SMAS Nr. 191 vom 19. 7. 1946 ( ebd., 11692/76); Johannes Vogler, Von der Rüstungsfirma zum volkseigenen Betrieb. Aufzeichnungen eines Unternehmers der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands von 1945–1948. Hg. von Burghard Ciesla, München 1992, S. 12; Thomas Martin, „Und nichts war uns geblieben“. Der Weg der Freitaler Stahl - Industrie GmbH zum Volkseigenen Betrieb (1945–1948), Stuttgart 1997. Widera, Dresden, S. 324. Beispielhaft etwa die Broschüre von Walter Ulbricht, Volksentscheid und Wirtschaftsaufbau, Dresden 1946; Tägliche Rundschau vom 7. 7. 1946 : „Si tacuisses ...“ und vom 25. 7. 1946 : „Enteignung der Nazibetriebe in Thüringen und Brandenburg“ ( Zitat ). Anordnung des Generaldirektors der Waggonfabrik der SAG für Transportmittelbau vorm. Busch, Bautzen vom 1. 3. 1947. Bekanntgabe in einer Rede Selbmanns am 26. 2. 1947 ( SächsHStAD, 11692/87); Erklärung vor dem Sächsischen Landtag am 26. 2. 1947 ( SAPMO - BArch, NY 4113/5); Stenger an Skrzypczynski vom 14. 2. 1948 (SAPMO - BArch, DG 2/3071); Befehl Nr. 64. In : Belov, Um ein antifaschistisch - demokratisches Deutschland, S. 620 ff. Neues Deutschland vom 12. 2. 1947 : „Flick, ein Hauptkriegsverbrecher“ ( Zitat ) und vom 14. 2. 1947 : „Erdrückende Mehrheit für Konzern - Enteignung“. Neues Deutschland vom 18. 3. 1947 : „Angeklagter Flick“.

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den Frieden wollenden Menschen in allen Ländern der Erde werden in den nächsten Wochen wieder mit ernster Spannung nach Nürnberg blicken. Sie warten auf den Urteilsspruch gegen Flick und seine Helfershelfer : Schuldig der Verschwörung gegen das deutsche Volk und schuldig des Verbrechens gegen den Frieden der Völker.“47 Die Taktik der SED war ebenso simpel wie erfolgversprechend. Wurde Flick in Nürnberg verurteilt und hart bestraft, dann hatte man den Charakter Flicks und seine Rolle im Dritten Reich eben schon immer richtig eingeschätzt und mit der Enteignung Flicks in Sachsen und in den übrigen Ländern der SBZ nur konsequent gehandelt. Käme es zu einem Freispruch oder einem milden Strafmaß, würde dies lediglich die Laxheit des amerikanischen Militärtribunals und die Kumpanei des amerikanischen mit dem deutschen Monopolkapital bestätigen. Ost - Berlin versuchte aber auch, direkt Einfluss zu nehmen und Flicks Nürnberger Ankläger mit Beweisen zu munitionieren. Im Frühjahr 1947 wurden alle Mitarbeiter des ehemals zum Flick - Konzern gehörenden Stahlwerks Riesa aufgerufen, belastende Dokumente als dringend benötigtes „Beweismaterial gegen den Kriegsverbrecher Friedrich Flick und seine Komplizen“ zur Verfügung zu stellen.48 Der neben der Sammlung von Belastungsmaterial erwünschte Effekt liegt auf der Hand : Angesichts des Nürnberger Verfahrens sollten die Mitarbeiter des Werkes noch einmal an die Verstrickung des früheren Besitzers mit dem NS - Regime erinnert werden. Die Kommentatoren zogen dabei eine scharfe Trennlinie zwischen den Angeklagten und der deutschen Bevölkerung. Symptomatisch sind auch die Zeilen der Sonderberichterstatterin des „Neuen Deutschland“ in Nürnberg : „Nicht die Tatsache, dass die Industriellen auf der Anklagebank im Dienste Hitlers schwerreiche Leute geworden seien, werde ihnen zur Last gelegt“, habe General Clay bei Prozess - Auftakt erklärt, „sondern dass die Beschuldigten die im Völkerrecht niedergelegten Prinzipien des menschlichen Verhaltens schamlos verletzt haben.“ Dies, so die Korrespondentin weiter, bestimme und begrenze zugleich den Charakter des ersten großen Industriellen - Prozesses. Sie schloss ihren Bericht vielsagend mit der Bemerkung eines amerikanischen Soldaten, das deutsche Volk habe jetzt für die Taten der Flicks so zu leiden.49 Nach der Urteilsverkündung stellte das „Neue Deutschland“ das Gericht an den Pranger : „Flick nur mit 7 Jahren Gefängnis bestraft“ und „Freispruch für Kriegsverbrecher“ – gemeint waren Kaletsch, Burkart und Terberger. Das Parteiorgan der SED interpretierte das Strafmaß als zu milde, schließlich habe Flick wie kaum ein anderer vom Naziregime profitiert und „aus dem Blut des deutschen Volkes goldene Millionen für sich gemacht“. Er gehöre zu den ganz großen Kriegsverbrechern. Daher forderte das Blatt eine Anklageerhebung gegen Flick und seine „Komplizen“ für alle „Verbrechen am deutschen Volk, die durch 47 Neues Deutschland vom 19. 4. 1947 : „Zum Prozess gegen Kriegsverbrecher Flick“. 48 Aufruf, o. D. ( Stadtarchiv Brandenburg, 2.0.8–18/308 A ); Hausmitteilung der SED, Abt. Wirtschaft, an Sekretariat vom 29. 4. 1947 ( SAPMO - BA, NY 4182/949). 49 Neues Deutschland vom 25. 4. 1947 : „Sie haben das Völkerrecht verletzt“.

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den Nürnberger Urteilsspruch nicht gesühnt werden konnten, die aber doch in der Urteilsbegründung angedeutet werden“. Der Artikel schloss drohend : „Das deutsche Volk selbst hat mit diesem notorischen Ausbeuter, Volksfeind und Blutsauger noch nicht abgerechnet.“50 Wenige Tage später hieß es, das Urteil sei für alle demokratischen Kreise in Deutschland und im Ausland eine „große Enttäuschung“, es spreche den Taten Hohn. Wie anders habe da doch das Volksgericht Krakau in Polen geurteilt, vor dem gegen die „Werkzeuge der Flick, Krupp und der IG Direktoren“ verhandelt worden sei. 23 Angeklagte seien zum Tode, alle anderen zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Erneut forderte das Parteiorgan : „Das deutsche Volk kann sich mit den Freisprüchen in Nürnberg nicht abfinden und fordert die endgültige Beseitigung der deutschen Großindustriellen, der Nazis und Kriegsverbrecher.“51 Stellvertretend für weitere Reaktionen steht ein Rundfunkkommentar Walter Bartels von Anfang 1948. Er beklagte das Urteil gegen Flick als viel zu nachsichtig und beschied knapp : „Wir Buchenwalder [...] kennen die Brabag - Betriebe des Herrn Flick.“52 An diesem Beispiel wird freilich auch deutlich, warum Stellungnahmen aus der SBZ im Westen leicht als bloßes Propagandagetöse verworfen werden konnten : Die Brabag - Betriebe hatten zu keinem Zeitpunkt Flick gehört. Bei Kommentatoren wie Bartel, der selbst von 1939 bis 1945 Häftling im KZ Buchenwald gewesen war, handelte es sich allerdings nicht um bloße Propaganda, sondern auch um echte Entrüstung über das Urteil.

3.

Der IG - Farben - Prozess : „Mohrenwäsche für die Kriegsverbrecher“

Während der Flick - Prozess noch lief, begann am 14. August 1947 in Nürnberg die Gerichtsverhandlung gegen 24 Manager des IG - Farben - Konzerns ( Fall 6). Neben dem Aufsichtsratsvorsitzenden Carl Krauch und dem Vorstandsvorsitzenden Hermann Schmitz mussten sich u. a. dessen frühere Vorstandskollegen Otto Ambros, Heinrich Bütefisch, August von Knieriem, Carl Ludwig Lautenschläger, Georg von Schnitzler, Fritz ter Meer und Carl Wurster sowie die beiden Direktoren Walther Dürrfeld und Heinrich Gattineau vor Gericht verantworten. Die Anklage legte ihnen Verbrechen gegen den Frieden und die Vorbereitung eines Angriffskriegs sowie wirtschaftliche Ausplünderung in den besetzten Gebieten, Versklavung, Misshandlung, Folter und Ermordung von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen zur Last; gegen drei Angeklagte ( Christian Schneider, Heinrich Bütefisch und Erich von der Heyde ) wurde zudem noch wegen Mitgliedschaft in der SS verhandelt. Der Prozess war auch in den USA aufgrund der zunehmenden Spannungen mit der Sowjetunion politisch umstritten; zahlreiche einflussreiche Politiker machten keinen Hehl daraus, dass sie ihn 50 Neues Deutschland vom 23. 12. 1947 : „Freispruch für Kriegsverbrecher“. 51 Neues Deutschland vom 29. 12. 1947 : „Freibrief für Kriegsverbrecher“. 52 Zit. nach Classen, Faschismus, S. 227–229.

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gar nicht eröffnet sehen wollten. Und bereits am ersten Verhandlungstag erklärte selbst einer der beteiligten Richter, James Morris : „Jetzt müssen wir uns wegen der Russen Sorgen machen; es würde mich nicht überraschen, wenn sie im Gerichtssaal einmarschieren, bevor wir fertig sind.“53 Der IG - Farben - Prozess war vom Umfang der größte der Nürnberger Industriellen - Prozesse. Den zwölf Mitarbeitern der Anklagebehörde standen 60 der profiliertesten Anwälte Deutschlands gegenüber. Die Verteidigung hielt sich auch in diesem Verfahren an die bereits seit mehreren Monaten im Flick - Prozess erprobte Strategie, dass die Angeklagten unter „Befehlsnotstand“ gehandelt hätten. Insbesondere der Einsatz von KZ - Häftlingen im Konzentrationslager Auschwitz - Monowitz sei vom NS - Regime angeordnet und dem Konzern aufgezwungen worden. Die Angeklagten hätten aber in Monowitz alles in ihrer Macht stehende getan, um die Lebens - und Arbeitsbedingungen der Häftlinge zu verbessern. Gleichwohl trat im Laufe des Verfahrens die Rolle, die die wirtschaftliche Ausbeutung im Prozess der Vernichtung der europäischen Juden spielte, durch Zeugenaussagen und Beweisdokumente offen zu Tage. Nach 152 Verhandlungstagen endete der Prozess. Am 29./30. Juli 1948 verkündeten die Richter die Urteile. Freisprüche ergingen in den Anklagepunkten, die die Planung, Vorbereitung und Durchführung des Krieges betrafen. Auch sprachen die Richter die Angeklagten von einer Mitschuld am Massenmord und an den Menschenversuchen in Auschwitz frei. 13 Angeklagte erklärte das Gericht schließlich der Plünderung und – dies nur in einigen Fällen – Versklavung schuldig und verhängte Freiheitsstrafen zwischen eineinhalb und acht Jahren. Zu den Verurteilten zählten Krauch, von Schnitzler, ter Meer, Ambros, Bütefisch und Dürrfeld. Später bezeichnete selbst der stellvertretende Chefankläger Josiah E. DuBois jr. die Urteile als „so milde, dass sie sogar einen Hühnerdieb erfreut hätten“.54 Die IG Farbenindustrie AG war – neben der Friedrich Flick KG – der zweite Großkonzern, der beträchtliche Produktionsstätten in der SBZ besaß. Der dortige Schwerpunkt der IG Farben lag in der Provinz Sachsen im sogenannten Chemiedreieck. Hier verfügte das Unternehmen über riesige und im Krieg immer weiter ausgebaute Werke, unter anderem in Schkopau, Leuna, Bitterfeld und Wolfen. Der mitteldeutsche Besitz entsprach einem Anteil am Gesamtkonzern von rund 27 Prozent. Nachdem die Produktion bereits unter ameri53 Vgl. Bernd Boll, Fall 6 : Der IG - Farben - Prozess. In : Ueberschär ( Hg.), Nationalsozialismus, S. 133–143 ( Zitat 139); Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 86–88. Zum Folgenden ebd. Auf den Prozess gehen – jeweils mit Fokus auf das betreffende Werk – u. a. folgende Darstellungen ein : Raymond G. Stokes, Von der I. G. Farbenindustrie AG bis zur Neugründung der BASF (1925–1952). In : Werner Abelshauser ( Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, 221–357, insbes. 335–345; Stephan H. Lindner, Hoechst. Ein I. G. Farben Werk im Dritten Reich, München 2005, S. 349–358. 54 Josiah E. DuBois, Generals in grey suits. The directors of the ‚I. G. Farben‘ Cartel, their conspirancy and trial at Nuremberg, London 1953, S. 339. Vgl. auch Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS - Diktatur in Politik und Justiz, 2. Auflage München 2007, S. 60 f.

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kanischer Besatzung bis auf wenige Ausnahmen stillgelegt worden war, hatte die sowjetische Besatzungsmacht auf Grundlage ihres Befehls Nr. 124 vom 30. Oktober 1945 die Konzernunternehmen der IG Farben sequestriert und schließlich im Zuge der Reparationsleistungen in Sowjetische Aktiengesellschaften überführt.55 Galt Friedrich Flick der SED - Propaganda als typischer „Monopolkapitalist“, standen die IG Farben synonym für die heftig befehdeten „Trusts“. Aus diesem Grund stand der Chemiegigant – ebenso wie Flick – bereits seit Sommer 1945 im Fokus der Aufmerksamkeit. Unter dem Titel „Beseitigt die Konzerne – sichert den Frieden !“ berichtete die Hallenser „Volks - Zeitung“ im Herbst 1945, in zwei Betriebskonferenzen hätten sich die Beschäftigten der ehemals zum Flick- Imperium gehörenden Anhaltischen Kohlenwerke ebenso wie die Kumpel in den Bergwerken der IG Farben für die Zerschlagung der Konzerne und deren entschädigungslose Enteignung stark gemacht.56 1947 verstärkte sich im Vorfeld des IG - Farben - Prozesses die Berichterstattung über den Konzern. Um sich die eigene Geschichtsinterpretation und die Berechtigung der Enteignungen auch von „unverdächtiger“ Seite bestätigen zu lassen, zitierten die SED - Blätter bereits vor Prozessauftakt mitunter Berichte aus der westlichen Presse und ließen auch die amerikanischen Anklagevertreter teilweise ausführlich zu Wort kommen. So untermauerte etwa das „Neue Deutschland“ seine Ausführungen mit der den britischen „Reynold’s News“ entlehnten Feststellung des Londoner Labour - Abgeordneten Frederick Elwyn Jones, die IG Farben sei „der größte Plünderer der Weltgeschichte“ gewesen.57 Wasser auf die Mühlen des Parteiblatts war daher die brisante Feststellung des Nürnberger Chefanklägers Telford Taylor bei der Übergabe der Klageschrift am 3. Mai 1947 : „Diese Angeklagten sind die Hauptkriegsverbrecher“. Der neue Prozess, so zitierte man Taylor weiter, solle daher „zum wirklichen Kern der Schuld an den Verbrechen“ führen.58 Einem – freilich zu recht – entrüsteten Aufschrei kam schließlich die Nachricht des „Neuen Deutschland“ über das spurlose Verschwinden großer Mengen Belastungsmaterials über die Tätigkeit der IG Farben in Auschwitz aus der amerikanischen Dokumentenzentrale in Griesheim bei Darmstadt sowie aus einem Werk der BASF in Ludwigshafen gleich.59 Und erst recht sah man sich im eigenen Weltbild bestätigt, als die amerikanische Armeezeitung „Stars and Stripes“ von der geplanten Absetzung von vier amerikanischen Anklagevertretern berichtete. Der Grund sei die Zusam55 Vgl. Dirk Hackenholz, Die elektrochemischen Werke in Bitterfeld 1914–1945. Ein Standort der IG Farbenindustrie AG, Münster 2004, S. 345 f. 56 Volks - Zeitung vom 20. 11. 1945 : „Beseitigt die Konzerne – sichert den Frieden !“ und vom 23. 12. 1945 : „Auf lösung der Braunkohlenkonzerne“. 57 Neues Deutschland vom 7. 2. 1947 : „IG Farben, der größte Plünderer der Weltgeschichte“; auch in der Chemnitzer Volksstimme vom 13. 2. 1947 : „Das sind die Friedensstörer“. 58 Neues Deutschland vom 4. 5. 1947 : „Anklage gegen IG Farben“. 59 Neues Deutschland vom 28. 2. 1948 : „IG - Farben - Dokumente verschwunden“ und vom 5. 3. 1948 : „Die verschwundenen Akten“.

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menarbeit zwischen amerikanischen und deutschen Konzernen, die nicht aufgedeckt werden sollte. Um dies zu verhindern, sei geplant, den Anklägern „kommunistische Tendenzen“ zu unterstellen. Empört fragte das „Neue Deutschland“ unter Verweis auf den Kronzeugen „Stars and Stripes“, ob beabsichtigt sei, „die deutschen Monopolkapitalisten und Geldgeber Hitlers [...] mit Samthandschuhen anzufassen“?60 Diesem Vorspiel entsprechend sah die Berichterstattung über den Nürnberger IG - Farben - Prozess aus. Das Verfahren werde zeigen, kommentierte das Parteiblatt voller Überzeugung, dass das Hitler - Regime „ein Werkzeug des Großkapitals“ gewesen sei. Daher seien die Großindustriellen „voll verantwortliche Kriegsverbrecher“; solange diese nicht enteignet und ihre Konzerne in Volkseigentum überführt würden, „ist unsere Zukunft nicht gesichert“.61 Über die angeklagten IG - Farben - Manager, die der Dimitroff - Formel zufolge zu den eigentlichen Drahtziehern hinter Hitler zählten, hieß es daher in einer etwas verqueren Logik : „Diese Männer setzten die Phantasien Hitlers in die Tat um, diese Männer machten vor nichts halt. Sie machten den Krieg durch ihr Programm der industriellen Ausplünderung Europas möglich, und sie taten dies, weil sie erobern wollten.“62 Zugleich verknüpfte das SED - Zentralorgan seine Berichterstattung – auch hier zeigte sich eine Parallele zum Fall Flick – über das Nürnberger Verfahren mit einer Nachricht über das von der Berliner Stadtverordnetenversammlung am 13. Februar 1947 erlassene Enteignungsgesetz, das nach einem Disput zwischen den Alliierten schließlich am Veto der Amerikaner gescheitert war.63 Deutlich betonte man die Unterschiede zwischen dem Umgang mit den IG Farben im westlichen und im sowjetischen Besatzungsgebiet : „Die ehemaligen IG Farben - Betriebe in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands sind entweder Wiedergutmachungszwecken zugeführt oder in die Hände des deutschen Volkes gelegt worden. In der amerikanischen Zone wurde dagegen der IG - Farbenkonzern in 51 Einzelfirmen aufgeteilt, ohne dass eine endgültige Klärung der Besitzverhältnisse erfolgte.“ Zudem habe der Leiter des amerikanischen Kontrollamtes, Oberst Richardson Bronson, bekannt gegeben, dass nunmehr deutsche Käufer die einzelnen Werke erwerben könnten. Rhetorisch fragte das Parteiorgan : „Wer sollen nunmehr die Käufer für die Millionenobjekte sein ? Nazis mit schwerem Bankkonto oder aber Strohmänner, die im Auftrage der USA Trusts überall in Deutschland Aktienpakete aufkaufen ?“64 Ende November zeigte man sich schließlich bereits sicher, dass im Nürnberger IG - Farben - Prozess die „Mohrenwäsche der Kriegsverbrecher“ vorbereitet werde. Bestimmte amerikanische Kreise bereiteten „ein großes Reinemachen der in Nürnberg auf der

60 61 62 63 64

Neues Deutschland vom 18. 7. 1947 : „Vorwürfe gegen USA - Ankläger ?“. Neues Deutschland vom 16. 8. 1947 : „IG Farben unter Anklage“. Neues Deutschland vom 28. 8. 1947 : „Die Anstifter der Katastrophe“. Neues Deutschland vom 28. 8. 1947 : „Konzernenteignung abgelehnt“. Neues Deutschland vom 13. 8. 1947 : „Schacher um die IG Farben“.

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Anklagebank sitzenden führenden Männer der IG Farben vor“.65 Der Ost - Berliner „Vor wärts“ knüpfte hierbei noch einmal an die entrüsteten Meldungen über die verschwundenen Akten und die Einflussnahme „maßgeblicher“ amerikanischer Industrieller an, die dafür gesorgt hätten, dass vier Ankläger aus Nürnberg abberufen worden seien. Insbesondere Standard Oil und Dupont, die eng mit den IG Farben „versippt“ seien, hätten alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Kartellbeziehungen aus dem Prozess herauszuhalten und „die IG - Direktoren reinzuwaschen“. Schließlich habe sich ein amerikanischer Anwalt sogar „ganz offen“ erboten, die Verteidigung zu übernehmen. Für den „Vor wärts“ stand daher fest : „Das milde Urteil im Flickprozess, welches allgemein als Präjudiz für die übrigen Industriellenprozesse angesehen wird, bestätigte dann, dass man in Nürnberg die Hauptschuldigen des zweiten Weltkriegs nicht ihrer gerechten Strafe zuführen kann.“66 Als das Gericht im „Fall 6“ die Urteile sprach, zog die Intensität der Berichterstattung hierüber – nach einer mehrmonatigen Spanne weniger intensiver Betrachtung – wieder merklich an. Die Kommentatoren zeigten sich erneut in ihrer Interpretation des Verfahrens bestätigt. Empört meldete das Zentralorgan der Partei, die „Verschwörer gegen den Frieden wurden von amerikanischen Militärgericht freigesprochen“ und „IG - Direktoren verlassen Nürnberg“. Die Schlussfolgerung lautete : „Das skandalöse Urteil des amerikanischen Militärtribunals ist eine direkte Bestätigung dafür, dass maßgebende amerikanische Persönlichkeiten entschlossen sind, die nazistischen Industriellen wieder in ihre alten Positionen zu schieben.“67 Für die SED - Presse stand fest, dass das amerikanische und das deutsche Monopolkapital gemeinsame Sache machten.

4.

Der Krupp - Prozess : „Der gefährliche Weg der Westzone“

Ab dem 17. November 1947 verhandelte ein amerikanisches Militärtribunal in Nürnberg gegen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach sowie gegen elf führende Mitarbeiter des Krupp - Konzerns, unter ihnen die Vorstandsmitglieder Ewald Loeser und Erich Müller sowie das Mitglied des Krupp - Direktoriums Friedrich Janssen ( Fall 10).68 Die am 16. August 1947 von Telford Taylor eingereichte Klageschrift warf ihnen Verbrechen gegen den Frieden, Beteiligung an Plünderung und Raub in den besetzten Gebieten, Verschleppung, Ausbeutung 65 Neues Deutschland vom 26. 11. 1947 : „Vor Sensation bei IG Farben“. 66 Vorwärts vom 3. 2. 1948 : „Im Auftrag der Monopole“. Vgl. auch die frühere Berichterstattung über die Beziehungen zwischen den IG Farben und Standard Oil sowie DuPont in Neues Deutschland vom 24. 7. 1947 : „Konzerne sind Volksfeinde“. 67 Neues Deutschland vom 1. 8. 1948 : „IG - Direktoren verlassen Nürnberg“, „Verschwörer gegen den Frieden von amerikanischen Militärgericht freigesprochen“ und „Der gefährliche Weg der Westzone“ ( Zitat ). 68 Neues Deutschland vom 18.11.1947: „Krupp - Prozess eröffnet“. Vgl. zum „Fall 10“ einführend Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 88–91; Friedhelm Kröll, Fall 10 : Der KruppProzess („Krupp - Case“). In : Ueberschär ( Hg.), Nationalsozialismus, S. 176–186.

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und Missbrauch zur Sklavenarbeit, rechtswidrigen Einsatz von Kriegsgefangenen zur Rüstungsproduktion sowie Verschwörung zum Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Für die amerikanische Anklagevertretung war Alfried Krupp – und nicht Friedrich Flick – das Symbol „einer unheiligen Allianz zwischen Industriekapitalismus und Militarismus“. Am 8. Dezember 1947 stellte Taylor fest : „Die Weimarer Republik und das ‚Dritte Reich‘ haben viele gemeinsame Nenner. Einer davon war die Firma Krupp.“69 Bereits am 5. April 1948 jedoch sprach das Gericht auf Antrag der Verteidigung alle Angeklagten vom ersten und vom letzten Anklagepunkt frei. Vorangegangen war die Kritik amerikanischer Rüstungsunternehmen und der – mitunter auch antisemitisch aufgeladene – Protest amerikanischer Kongressabgeordneter, die von „kommunistisch - inspirierten Schauprozessen“ und den „Verfolgungsexzessen einer rassischen Minderheit“ sprachen, die „zweieinhalb Jahre nach Kriegsende nicht nur deutsche Soldaten aufgeknüpft, sondern auch deutsche Geschäftsmänner im Namen der Vereinigten Staaten abgeurteilt“ hätte. Dies führte schließlich zu einer Empfehlung des Kriegsministeriums, auf diese Anklagepunkte zu verzichten.70 Am 31. Juli 1948, nur einen Tag nach dem Ende des IG - Farben - Prozesses, verkündete der Gerichtshof die Urteile. Diese sahen, insbesondere vor dem Hintergrund der frühen Teilfreisprüche und im Vergleich zum Flick - Prozess, erstaunlich schwere Strafen vor : Alfried Krupp wurde zu zwölf Jahren Haft und Einziehung des gesamten Vermögens verurteilt; von den elf Mitangeklagten wurde nur einer freigesprochen, die übrigen erhielten zwischen 36 Monaten und zwölf Jahren Haft.71 Bemerkenswert ist die Aufmerksamkeit, die das Verfahren in der Sowjetischen Besatzungszone erfuhr. Krupp galt für die deutschen Kommunisten seit jeher als ein Synonym für Kriegsgewinnler und Monopolkapitalisten. Dementsprechend hatten sich, wie bereits beschrieben, die Angriffe auf die vermeintlichen „Männer hinter Hitler“ schon früh auch auf Gustav und Alfried Krupp konzentriert. Walter Ulbricht hatte bereits am 25. Juni kundgetan, dass man keinen Grund habe, “den Herren Krupp, Flick, Vögler, Hugenberg und Kompanie nachzutrauern, die jetzt ihre Konzernbetriebe verlieren. Diesen Herren musste die materielle Basis genommen werden, die es ihnen früher ermöglich69 Zit. nach ebd., S. 176. 70 Zu den Protesten in den USA gegen den Prozess vgl. Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 89; Jörg Osterloh, Nürnberger Prozesse. In : Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Im Auftrag des Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin hg. von Wolfgang Benz. In Zusammenarb. mit Werner Bergmann / Johannes Heil / Juliane Wetzel / Ulrich Wyrwa. Red. Brigitte Mihok, Band 4 : Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, erscheint München 2011. 71 Werner Abelshauser, Rüstungsschmiede der Nation ? Der Kruppkonzern im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit 1933–1951. In : Lothar Gall ( Hg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, München 2002, S. 267–472, hier 465–471.

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te, den Nazismus zu finanzieren und Deutschland in die Kriegskatastrophe zu führen.“72 Allerdings : Krupps Besitz auf dem Gebiet der SBZ war überschaubar. Er verfügte, als einzige nennenswerte Produktionsstätte, lediglich über das Grusonwerk in Magdeburg - Buckau, eine Maschinenfabrik und Eisengießerei. Das Grusonwerk fiel in die Zuständigkeit der Provinz Sachsen. Die Ver waltung der Provinz billigte am 23. November 1945 nach sächsischem Vorbild den Entwurf einer Anordnung über die Enteignung des Vermögens von Kriegsverbrechern. Diese zielte insbesondere auf den Besitz von Friedrich Flick und Gustav Krupp.73 Jedoch kassierte die sowjetische Besatzungsmacht den Entwurf kurze Zeit später. Tatsächlich fand die Enteignung schließlich auf Basis des SMAD Befehls Nr. 124 statt. In den folgenden Monaten musste Krupp neben einigen anderen Großindustriellen wie Flick und Vögler weiterhin als Paradebeispiel des „Monopolkapitalisten“ herhalten. In krassem Gegensatz dazu stand der Widerhall, den der Nürnberger „Fall 10“ in der SBZ fand. Das Augenmerk richtete sich erkennbar auf den Flick - und den IG - Farben - Prozess, als in Nürnberg mehr oder weniger parallel gegen die Industriellen verhandelt wurde. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber, wie oben bereits angedeutet, nachvollziehbar. Zu deutlich verknüpften die Berichte in der KPD - / SED - Parteipresse die Prozesse mit den politischen und wirtschaftlichen Weichenstellungen in der Sowjetischen Besatzungszone und der Entwicklung in den Westzonen. Kurz nach Prozessauftakt im November 1947 fragte daher das „Neue Deutschland“ : „Jetzt sitzt Krupp endlich auf der Anklagebank. Aber genügt es, nur Krupp und die Kruppschen Hauptdirektoren abzuurteilen, um gleichzeitig solche Kriegsverbrecher wie Dinkelbach, Poensgen, Schlange - Schoeningen, Büchner und andere in Freiheit zu lassen ? So vorzugehen würde bedeuten, den Prozess gegen Krupp in eine formelle Prozedur zu verwandeln, denn die Leitung der deutschen Industrie befindet sich in der Bi - Zone wiederum in den Händen der Gesinnungsgenossen Krupps.“74 Die Meldungen über die Familie und den Konzern Krupp betonten zum einen die Kontinuitätslinien. So meldete das „Neue Deutschland“ im Januar 1948, es habe schon 1913 eine deutsche Anklage gegen Gustav Krupp gegeben. Karl Liebknecht habe in der Reichstagssitzung am 18. April 1913 Krupp der Geschäftemacherei, der Kriegshetze und des Gewinnstrebens bezichtigt.75 In diesem Kontext griff das „Neue Deutschland“ 72 Rede Ulbrichts vom 25. 6. 1945. In : Peter Bucher ( Hg.), Nachkriegsdeutschland 1945– 1949, Darmstadt 1990, S. 30 ff., hier 36. 73 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Präsidiums der Provinz Sachsen vom 23./24. 11. 1945; Anordnung über die Enteignung des Vermögens von Kriegsverbrechern. Unterzeichnet von Hübener und Sievert ( LHASA MD, Rep. K 6, Nr. 6058). 74 Neues Deutschland vom 10. 12. 1947 : „Krupp unter Anklage“. Gemeint waren Heinrich Dinkelbach und Ernst Poensgen, beide früher u. a. im Vorstand der Vereinigten Stahlwerke, Hans Schlange - Schöningen, 1931/32 Reichsminister ohne Geschäftsbereich im zweiten Kabinett Brüning, sowie – im Artikel des „ND“ falsch geschrieben – Hermann Bücher, ehemaliger AEG - Chef. 75 Neues Deutschland vom 15. 1. 1948 : „Deutsche Anklage gegen Krupp schon 1913“.

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Ende 1947 gerne die Feststellung des stellvertretenden amerikanischen Anklägers auf, der Krupp - Prozess übertreffe den Hauptkriegsverbrecherprozess noch an Bedeutung. Das Blatt titelte : „Ohne Krupp kein Krieg“.76 Zum anderen – und hier ähnelten die Berichte jenen über den IG - Farben Konzern – betonte die Parteipresse die Verflechtungen Krupps mit den USA. Das SED - Parteiorgan monierte Anfang April 1948, dass der frisch aus den USA eingetroffene Verteidiger von Bülows, Joseph Robinson, die Einstellung des Verfahrens gegen alle Angeklagten forderte. Dies sei, so der Verfasser, nicht überraschend, da Politiker und Publizisten in den USA monatelang hierauf hin gearbeitet hätten. Heute würden die amerikanischen „Vetter[ n ] des Kanonenkönigs“ bereits die Rückkehr der schwerindustriellen Kriegsverbrecher auf die verwaisten Throne an Rhein und Ruhr hinarbeiten : „Wer zu Franco ja sagt, kann zu Krupp kaum nein sagen.“77 Grundsätzlich standen 1948 aber die anderen noch laufenden Nürnberger Nachfolgeprozesse im Mittelpunkt des Interesses. Nach einer längeren Pause kam das „Neue Deutschland“ erst zum Ende des Verfahrens wieder auf den „Fall 10“ zu sprechen. Die Meldung über die Urteilssprüche umfasste indes nicht mehr als magere 30 Zeilen.78

5.

Fazit

Die deutschen Kommunisten strebten 1945 nicht allein mit einem politisch strategischen, sondern auch mit einem erinnerungspolitischen Konzept die Herrschaft an. Dieses legitimierte ihre Gestaltungsabsichten für Nachkriegsdeutschland historisch.79 Da nach dem Verständnis der KPD - Führung das „Großkapital“ als Drahtzieher hinter Hitler und der NSDAP gestanden hatte, waren die Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse und die damit verbundene Ausschaltung der „Monopolkapitalisten“ gleichbedeutend mit der Überwindung des Nationalsozialismus.80 Mit der „antifaschistisch - demokratischen Umwälzung“ ging in der SBZ daher eine Kriminalisierung der Unternehmer einher.81 Die KPD hatte Flick, Krupp und die IG - Farben - Manager – wie freilich die deutschen Großindustriellen mehr oder weniger in Bausch und Bogen – bereits im Sommer 1945 als Kriegsverbrecher gebrandmarkt. Dies zeigte sich bereits 76 77 78 79

Neues Deutschland vom 19. 12. 1947 : „Ohne Krupp kein Krieg“. Neues Deutschland vom 1. 4. 1948 : „Krupps transozeanische Gönner“. Neues Deutschland vom 1. 8. 1948 : „Das Urteil im Krupp - Prozess“. Vgl. Monika Gibas, „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt ...“ Die Metaerzählung zum 7. Oktober. In : Monika Gibas / Rainer Gries / Barbara Jakoby / Doris Müller ( Hg.), Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR, Leipzig 1999, S. 247–263, hier 249. 80 Vgl. Jürgen Danyel, Die geteilte Vergangenheit. Gesellschaftliche Ausgangslagen und politische Dispositionen für den Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten nach 1949. In : Jürgen Kocka, ( Hg.), Historische DDR - Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 129–147, hier 138. 81 Vgl. Martin, „Und nichts war uns geblieben“, S. 152.

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bei der Berichterstattung über das Internationale Militärtribunal und insbesondere bei den Protesten gegen dessen Urteilssprüche im Herbst 1946 mehr als deutlich. Die KPD / SED verfolgte dabei zwei Ziele : Innerhalb des sowjetischen Besatzungsgebiets sollten politische Maßnahmen – wie die Enteignungen von Industriebetrieben und die Kollektivierung der Landwirtschaft – gerechtfertigt werden. Zugleich zielte die Partei aber darauf, die Entwicklung in den Westzonen als Restauration der früheren Herrschafts - und Besitzverhältnisse bloßzustellen. Dieser Leitlinie folgte die Parteipresse bei der Berichterstattung über die drei Nürnberger Industriellen - Prozesse, die auch aus dem Blickwinkel der Herrschaftsetablierung des SED - Regimes gelesen werden muss. Da Friedrich Flick über den umfangreichsten privaten Industriebesitz in der SBZ verfügte, verwundert es nicht, dass er wiederholt im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Zunächst als mit der Enteignung seines sächsischen Besitzes der Eingriff in die bestehenden Besitzstrukturen in der Industrie begann. Erneut griff die Parteipresse Flick heftig an, als gegen den Konzernchef und fünf seiner engsten Mitarbeiter in Nürnberg verhandelt wurde. Die Propaganda führte dabei freilich auch den Kampf gegen alte Feindbilder fort, hatten doch insbesondere die in Nürnberg angeklagten Friedrich Flick und Alfried Krupp ( bzw. dessen Vater Gustav ) schon lange als Zielscheiben im Kampf gegen die „Monopole“ herhalten müssen. Den Verlauf der Nürnberger Industriellen - Prozesse zog die SED als weiteren Beleg für die Wiedererrichtung des alten Systems und des Militarismus in den Westzonen mit Hilfe der amerikanischen Militärregierung heran. Bemerkenswert ist daher, dass die Aufmerksamkeit für den Krupp - Prozess im Vergleich zu den Verfahren gegen Flick und die IG - Farben - Spitze ein wenig abfiel. Naheliegend ist der Gedanke, dass Flick und IG Farben aufgrund ihres umfangreichen Besitzes in der SBZ für die Propagandaarbeit der SED in der SBZ von größerem Interesse waren. Die in den meisten Fällen vorzeitige Entlassung der in Nürnberg Verurteilten aus der Landsberger Haft führte zu heftigen Protesten in der DDR. Im Falle Flicks etwa wütete das „Neue Deutschland“ Ende August 1950 : „USA - Kriegstreiber lassen Nazi - Kriegsverbrecher frei“.82 Diese Linie behielt die Propaganda bei. Walter Ulbricht prangerte im Mai 1951 in der Volkskammer an, die amerikanische Besatzungsmacht habe alles unternommen, um „das deutsche Monopolkapital und andere Revanchepolitiker“ sowie die „reaktionären Kräfte, die Hitler zur Macht gebracht hatten“, wieder in die alten Machtpositionen zu bringen. Die in Nürnberg verurteilten Industriellen mussten immer wieder als „Kronzeugen“ gegen die Bundesrepublik herhalten : „Krupp mischt wieder mit in der BRD und das alte Szenario läuft : Komik, Kanonen, Krieg und Kreuze.“83 82 Neues Deutschland vom 18. und 24. 8. 1950 : „USA - Kriegstreiber lassen Nazi - Kriegsverbrecher frei“. 83 Zit. nach Monika Gibas, „Bonner Ultras“, „Kriegstreiber“ und „Schlotbarone“. In : Silke Satjukow / Rainer Gries ( Hg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 75–106, hier 93.

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Die Dachauer Prozesse 1945–1948 in der Öffentlichkeit : Prozesskritik, Kampagne, politischer Druck Robert Sigel „It has been our observation that German press releases on the war crimes trials as well as executions in Dachau have often been inaccurate and misleading to the point that the German reader, being biased against these trials in Germany from the outset, will inevitably be fortified in this antagonistic feeling. For instance a Nuernberg newspaper recently reported that General Clay had commuted the death sentence of a man sentenced by a Military Tribunal in Dachau to life term. As reason for the commutation, the article gave the following : ‚The communication from Headquarters shows that upon review of the case, the incriminating material was not considered sufficient.‘ This newspaper release, like others, will make the average German reader wonder why the Military Governor commuted a death sentence to a life term if the incriminating material was not considered sufficient. He will ask whether this means that it was not sufficient to warrant a death sentence or not sufficient to warrant a conviction altogether. Being unconvinced of the objectivity and impartiality of the Dachau trials, the reader will easily conclude that in this case a person received a life term in spite of the fact that the conviction was not warranted under the circumstances.“1

Diese Feststellung des Leiters der Administration of Justice Branch, Mortimer Kollander, in einem vertraulichen Schreiben an Oberst John M. Raymond, den Direktor der Rechtsabteilung der US - Militärregierung in Deutschland, benennt recht präzise Merkmale der Rezeption der Dachauer Prozesse (1945–1948) in der deutschen Öffentlichkeit, genauer : der Öffentlichkeit in den drei Westzonen und der späteren Bundesrepublik : Die Bevölkerung war voreingenommen, sie zweifelte an der Objektivität und Unparteilichkeit der amerikanischen Militärgerichtsbarkeit, sie wurde von deutschen Presseorganen einseitig informiert. Wurde der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher noch weitgehend als ein Verfahren gegen diejenigen akzeptiert, über deren Schuld ein gewisses allgemeines Einvernehmen bestand, so standen die Nürnberger Nachfolgeprozesse und ebenso die Dachauer Prozesse von Anfang an in der öffentlichen Kritik. Während das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher der deutschen Bevölkerung zur moralischen Entlastung dienen konnte, zielten sowohl die Nachfolgeprozesse als auch die Dachauer Prozesse mitten in die Gesellschaft hinein, auf die Eliten ebenso wie auf den kleinen Mann. Mit den Angeklagten dieser Verfahren wurde die Gesellschaft selbst angeklagt, und sie reagierte mit Kritik an den Prozessen, sie reagierte mit einer öffentlichen Kampagne, in wel1

Kollander an Raymond vom 21. 12. 1948 ( Archiv des Instituts für Zeitgeschichte [ IfZ ], MF 260, OMGUS 17/262 – 1/5).

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cher den Alliierten Siegerjustiz und Rache vorgeworfen wurde, und sie reagierte – nach der Gründung der Bundesrepublik – mit politischem Druck, wobei die neue Bedeutung und das neue Gewicht als potentieller Bündnispartner im Kalten Krieg eingesetzt wurde.

1.

Die Dachauer Prozesse – ein Überblick

Die Dachauer Prozesse waren Verfahren vor amerikanischen Militärgerichten, die General Dwight D. Eisenhower als Oberkommandierender der alliierten Streitkräfte durch seine Verordnung Nr. 2 in die Wege geleitet hatte. In der Folge wurden sogenannte General Military Government Courts eingerichtet, denen mindestens fünf Richter angehören und deren Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheit gefällt werden mussten. Sie hatten das Recht, jede Strafe einschließlich der Todesstrafe zu verhängen. Die Gerichte verhandelten nach angelsächsischem Prozessrecht. Eine gerichtliche Revisionsinstanz existierte nicht, stattdessen gab es eine Review - Abteilung zur Überprüfung der Urteile. Parallel zu den amerikanischen Verfahren fanden solche Prozesse auch in der britischen und französischen Besatzungszone statt. Insgesamt wurde in den Dachauer Prozessen gegen 1 672 Angeklagte verhandelt, 426 von ihnen wurden zum Tode verurteilt, 268 dieser Todesurteile auch vollstreckt.2 Von den insgesamt 489 Verfahren, die in der US - Zone stattfanden, waren über die Hälfte „mass atrocity cases“ – Prozesse wegen Massengrausamkeiten, so wurden die Konzentrationslagerprozesse offiziell bezeichnet. Diese gliederten sich in sechs Hauptverfahren ( KZ Dachau, KZ Mauthausen, KZ Flossenbürg, KZ Buchenwald, KZ Mühldorf, KZ Nordhausen / Mittelbau - Dora ), die sogenannten parent cases, sowie die jeweiligen Nachfolgeprozesse. Allein 123 solcher Nachfolgeprozesse, in der Justiz - Terminologie subsequent cases, gab es zum KZ Dachau - Hauptverfahren. Die in den jeweiligen Hauptverfahren vom Gericht akzeptierten Beweise konnten als solche auch in die Nachfolgeprozesse eingebracht werden. Die in allen Konzentrationslagerprozessen übereinstimmende Anklageschrift beschuldigte die Angeklagten, dass sie „in Verfolgung eines gemeinschaftlichen Vorhabens handelten, um die Taten, die hiernach behauptet werden, zu begehen, und als Mitglieder der Verwaltung des Konzentrationslagers Dachau und dazugehöriger Außenlager in oder in der Umgebung von Dachau und Landsberg, Deutschland, zwischen dem 1. Januar 1942 und ungefähr dem 29. April 1945, absichtlich, vorsätzlich und rechtswidrig dabei geholfen, darin unterstützt und daran teilgenommen haben, dass zivile Staats2

Vgl. Robert Sigel, Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945–1948, Frankfurt a. M. 1992, S. 34–39; Ludwig Eiber / Robert Sigel ( Hg.), Dachauer Prozesse. NS - Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945–1948. Verfahren, Ergebnisse, Nachwirkungen, Göttingen 2007. Vgl. auch Frank M. Buscher, The U. S. War Crimes Trial Program in Germany, 1946–1955, New York 1989.

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angehörige von Staaten, die sich zu dieser Zeit mit dem damaligen Deutschen Reich im Kriegszusatnd befanden, Grausamkeiten, Misshandlungen, einschließlich Tötung, Prügeleien, Folterungen, Verhungerungen, tätlichen Übergriffen und Erniedrigungen ausgesetzt wurden.“3 In späteren Verfahren wurde die Begrenzung auf den Zeitraum vom 1. Januar 1942 ( Kriegseintritt der USA ) an verändert; das allgemeine völkerrechtliche Verständnis sah die USA als berechtigt an, alle Verbrechen zu verfolgen, die während des gesamten Krieges, also vom 1. September 1939 an begangen worden waren, unabhängig vom Eintritt der USA in den Krieg. Neben den Konzentrationslagerprozessen bestand die zweite große Gruppe aus den sogenannten Fliegerprozessen. In ihnen ging es um die Tötung alliierter Flugzeugbesatzungen, die entweder notgelandet oder mit dem Fallschirm abgesprungen waren und sich als Kriegsgefangene gestellt hatten. In einem dieser Verfahren war im März 1947 auch Jürgen Stroop, ehemaliger SS - Obergruppenführer und General der Polizei, zum Tode verurteilt worden. Stroop wurde von den Amerikanern allerdings später wegen seiner Täterschaft bei der Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands nach Polen ausgeliefert, dort ebenfalls zum Tod verurteilt und schließlich am 6. März 1952 hingerichtet. Drei der Dachauer Prozesse gehören zu keiner der beiden genannten Verfahrensgruppen. Dabei handelt es sich um den Hadamar - Prozess, den SkorzenyProzess und den Malmedy - Prozess. Im Hadamar - Prozess ging es um die Ermordung von 476 Konzentrationslagerhäftlingen, darunter Frauen und Kinder, die in die hessische Euthanasiemordanstalt transportiert worden waren. Die Tötungen von Deutschen wurden in diesem Verfahren nicht verhandelt. Im Skorzeny - Prozess wurde der SS - Obersturmbannführer Otto Skorzeny mit neun Mitangeklagten der missbräuchlichen Benutzung feindlicher Uniformen und anderer damit zusammenhängender Delikte angeklagt. Es ging dabei um die Verletzung von Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung von 1907 und der Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929. Sämtliche Angeklagte dieses Prozesses wurden freigesprochen. Das dritte Verfahren, der sogenannte Malmedy - Prozess, war der Auslöser all jener öffentlichen Ablehnung des amerikanischen War Crimes Program, die sich bis dahin nur zurückhaltend geäußert hatte. Die Verbrechen, die hier vom 18. Mai bis zum 18. Juli 1946 verhandelt wurden, waren im Zusammenhang mit der sogenannten Ardennenoffensive verübt worden. SS - Einheiten hatten 86 USSoldaten, die sich ergeben hatten und entwaffnet worden waren, an einer Straßenkreuzung in der Nähe von Malmedy in Belgien am 17. Dezember 1944 erschossen. Weitere Exekutionen amerikanischer Kriegsgefangener hatten in

3

USA vs. Martin Gottfried Weiß et al., Nov. 15, 1945 – Dec. 13, 1945 ( Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [ BayHStA], OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, Mikrofilm, Pretrial Records, Roll 2, Target 2, Nr. 000024–000027). Vgl. hierzu Holger Lessing, Der erste Dachauer Prozess 1945–1946, Baden - Baden 1993.

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benachbarten Orten stattgefunden, insgesamt waren mindestens 353 US - Kriegsgefangene sowie etwa 111 belgische Zivilisten ermordet worden.4 Die Empörung in den USA über diese Massenerschießungen war ungeheuer, ihre Aufklärung wurde mit Vorrang betrieben. Einem Investigation Team gelang es, das 1. SS - Panzerregiment, genauer die sogenannte Kampfgruppe Peiper, eine im Wesentlichen aus dem 1. SS - Panzerregiment formierte Truppe des SS Standartenführer der Waffen - SS Joachim Peiper, als Täter zu identifizieren. Die Vernehmungen und Verhöre der 500 tatverdächtigen Inhaftierten gestalteten sich sehr schwierig. Die zunächst in einem Lager in Ludwigsburg untergebrachten und verhörten SS - Männer sprachen sich vor ihren Aussagen ab, schwiegen oder schoben die Schuld auf einzelne gefallene Mitglieder der Einheit – die militärische Befehlsstruktur blieb intakt und war von den Ermittlern nicht zu brechen. Neben einer Verlegung in ein Gefängnis mit Einzelzellen benutzten die US - Ermittler, um zum Erfolg zu kommen, auch nicht - rechtsstaatliche Methoden: Drohungen, Versprechungen, das Ausspielen von Offizieren gegen Mannschaften, fingierte Gerichtsverhandlungen. Im März 1946 waren die Ermittlungen abgeschlossen, 73 Verdächtige wurden nach Dachau überführt, wo gegen sie Anklage erhoben wurde. Ranghöchster und neben Peiper bekanntester Angeklagter war der ehemalige SS - Oberstgruppenfüher und Oberbefehlshaber der 6. SS - Panzer - Armee Sepp Dietrich. Das Gericht sprach sämtliche Angeklagten schuldig : 43 von ihnen wurden zum Tode verurteilt, 22 erhielten eine lebenslange Haftstrafe, zwei wurden zu 20 Jahren, ein Angeklagter zu 15 Jahren, fünf zu zehn Jahren Haft verurteilt.

2.

Beschwerden – Vor würfe – Prozesskritik

Noch vor Beginn der Verhandlungen hatte die Verteidigung Fragebögen an die Angeklagten verteilt, in denen auch nach körperlichen Misshandlungen gefragt wurde. Da die Antworten die Möglichkeit nahelegten, dass Geständnisse durch Nötigung erpresst worden waren, wandte sich die Verteidigung an den für das War Crimes Program zuständigen Juristen der US - Army mit der Bitte um Klärung. Die Untersuchung durch den letzten Leiter des Ermittlungsstabes erhärtete den Verdacht nicht. Dennoch führte die Verteidigung in ihren regulären Überprüfungsanträgen erneut die Beschwerden an, die schon vor und während der Gerichtsverhandlung geäußert worden waren, um so die Beweiskraft der Geständnisse und damit die Grundlage der Schuldsprüche in Frage zu stellen. In seinen Empfehlungen zum Abschluss des Überprüfungsverfahrens nahm der Judge Advocate, der oberste Jurist im europäischen US - Hauptquartier, zwar keinen direkten Bezug auf diese Beschwerden, empfahl jedoch Einschränkungen in der Würdigung der angeblich erzwungenen Geständnisse. So heißt es 4

Vgl. James J. Weingartner, Crossroads to Death. The Story of the Malmedy Massacre and Trial, Berkely 1979.

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etwa zum Todesurteil von Fritz Eckmann : „I would have no hesitation in agreeing with it had evidence been offered affirmatively showing that the confession was freely and voluntarily made without fear or favour. While there is no direct evidence that this confession was improperly obtained there is some general testimony in the record which indicates that some pressure was brought to bear on all of these accused.“5 Nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens und der Bestätigung durch den neuen Oberkommandierenden Lucius D. Clay im März 1947 blieben lediglich zwölf der Todesurteile bestehen, alle übrigen wurden in Haftstrafen umgewandelt. Auch von den Zeitstrafen wurden eine ganze Anzahl abgemildert, 13 Urteilssprüche gänzlich aufgehoben. Zweifellos stellte dieser beträchtliche Strafnachlass auch eine Reaktion auf die Erklärungen der Verurteilten dar; eine Presseerklärung des Judge Advocate über die vorgenommenen Strafmilderungen war ausdrücklich vorgesehen. Noch vor Ende des Überprüfungsverfahrens begann sich die öffentliche Wahrnehmung und vor allem die öffentliche Reaktion dramatisch zu ändern. Zu Beginn des Jahres 1948 wurden die von den Angeklagten verfassten Erklärungen durch ihre deutschen Anwälte in die Öffentlichkeit gebracht. Und in dieser Öffentlichkeit erhoben jetzt nicht mehr nur jene ihre Stimme, denen es um einen fairen Prozess und um gerechte Urteile ging, sondern zunehmend all diejenigen, die weit über eine ernsthafte und besorgte Prozess - und Rechtskritik hinaus das amerikanische War Crimes Program zur justiziellen Ahndung der Kriegsverbrechen überhaupt, ja die amerikanische Besatzungs - und Re - edukationspolitik generell ablehnten. Solch fundamentale Ablehnung zu äußern, war nun möglich, da der Malmedy - Prozess als Ausgangspunkt aller Kritik diese zu rechtfertigen schien. So unterschiedlich die Motive der Kritik, so verschieden waren auch die Träger : Anwälte, die an einer fairen Strafverfolgung interessiert waren, Angehörige der Verurteilten, kirchliche Kreise mit unterschiedlichen Intentionen, Bevölkerungsgruppen, die mit dem Nationalsozialismus und seiner Ideologie nicht oder nur teilweise gebrochen hatten, vielleicht auch, wie von amerikanischer Seite teilweise vermutet wurde, kommunistische Kreise, die an einer Schwächung der amerikanischen Position interessiert waren. Dieser sonderbaren, teils zufälligen, teils gesuchten Koalition gaben die beiden christlichen Kirchen eine gewisse moralische Unangreifbarkeit. Dass sich sowohl der protestantische Pastor Martin Niemöller als auch der katholische Weihbischof Johannes Neuhäusler, die beide aufgrund ihrer KZ - Haft über jeden Verdacht erhaben waren, zu den Kritikern gesellten oder zumindest ihren Namen zur Verfügung stellten, erhöhte diese Unangreifbarkeit. Wie grundsätzlich solche Kritik ausfiel, zeigt eine im August 1948 verabschiedete Resolution der katholischen Bischofskonferenz, die von ihrem Vorsitzen5

Review and Recommendations vom 8. 3. 1948, S. 15 ( IfZ - Archiv, MF 260, Prov. COS, OMGUS 2/135 – 3/6–12).

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dem, dem Kölner Kardinal Josef Frings, an den US - Oberkommandierenden und Militärgouverneur weitergeleitet wurde : „Die katholischen Bischöfe Deutschlands möchten die Aufmerksamkeit auf das Verfahren und die Ergebnisse der Prozesse lenken, die von der amerikanischen Militärregierung in Nürnberg und Dachau geführt werden. Sie tun das nicht, um sich in die Aufgabe der Juristen einzumischen, auch nicht, um diejenigen, die Verbrechen auf sich geladen haben, zu schützen, sie tun es aus ihrer Verantwortung für die Wahrung und Wiederaufrichtung der Gerechtigkeit, als Grundlage jeder öffentlichen Moral. In den letzten Jahren ist dieser Glaube an die Gerechtigkeit schwer erschüttert worden. Im bürgerlichen Leben wie in der Beziehung zu anderen Völkern war vielfach Gewalt an die Stelle des Rechts getreten und Rechtskomödie an die Stelle des Gerichtes. So hat die enttäuschte, aber willige Jugend unseres deutschen Volkes mit großer Erwartung aufgehorcht, als nach dem Zusammenbruch das amerikanische Volk an der Spitze der Siegermächte die Aufgabe für sich in Anspruch nahm, begangenes Unrecht zu sühnen und die Gerechtigkeit wieder herzustellen. Es bestand die Bereitschaft, vergangene Verirrungen einzugestehen, und die Hoffnung, ein neues Leben zu beginnen, in dem nicht die Gewalt, sondern das Recht die Führung hätte. Sollte diese Zuversicht enttäuscht werden und die Überzeugung sich durchsetzen, dass auch die jetzigen Inhaber der Macht nur von Recht sprechen, während sie Machtpolitik betreiben, so ist die Demoralisierung unseres Volkes unaufhaltsam geworden. Daraus erwächst uns Bischöfen die Verantwortung, die uns zu sprechen zwingt. Die letzten drei Jahre haben manche weitere Erschütterung des Glaubens an die Gerechtigkeit gebracht, z. B. der Umfang und die Abwicklung der Internierung, die Art und Weise der Entnazifizierung. Umso entscheidender ist es, dass nun wenigstens die Prozesse, die eine Sühne des Unrechts in feierlicher Form darstellen sollen, ohne jeden Makel der Ungerechtigkeit und des machtpolitischen Missbrauchs dastehen. Das moralische Ansehen dieser Prozesse erscheint uns aber schwer bedroht. Von anderer Seite wurden bereits manche Einzelheiten in der Durchführung der Verfahren als unrechtmäßig beanstandet. Das Rechtsgefühl ist weiterhin beunruhigt durch die Tatsache, dass die genannten Tribunale von dem Grundsatz aller Gerechtigkeit abzuweichen scheinen ‚Gleiches Recht für alle‘, und den verhassten Charakter von Sondergerichten annehmen. In diesen Prozessen werden nämlich Strafurteile aufgrund eines Sonderrechtes gefällt, das von den Siegermächten ausschließlich für das deutsche Volk geschaffen wurde und ausschließlich gegen dasselbe in Anwendung gebracht werden soll. Die Rechtsprechung dieses Gerichts fußt letztlich auf dem Londoner Abkommen vom 8. 8. 1945, das in Artikel 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals die ‚Allgemeinen Grundsätze für Bestrafung von Kriegsverbrechern‘ festsetzt. Dazu wird aber dort ausdrücklich bemerkt, dass diese Grundsätze nur für ‚Gericht und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achsenländer‘ gelten sollten. Auf Italien fanden die Strafgesetze daraufhin keine Anwendung mehr. So bleiben sie allein auf Deutschland beschränkt. Die Nürnberger Gerichtshöfe verurteilten also deutsche Menschen nach einem Recht, das bislang in Deutschland unbekannt war, und dem die Völker, die es gegen Deutschland anwenden, sich zu beugen nicht bereit sind. Durch die Unterstellung unter ein Sondergericht wurden die Angeklagten in eine höchst fragwürdige Lage versetzt und dadurch benachteiligt. Um nur einen Punkt herauszustellen : In den Prozessen werden einfache Staatsbürger zu schweren Strafen verurteilt, weil sie Gesetze und Verordnungen ihres eigenen Staates befolgen, auch wenn diese Gesetze dem Völkerrecht oder allgemein ethischen Normen widersprachen. Es kann eine verwickelte Gewissensfrage sein, wenn man gegen den Befehl seiner rechtmäßigen Obrigkeit dem eigenen Urteil oder überstaatlichen Normen zu folgen hat.

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Kein Staat hat es bisher gewagt, diese Frage für seine eigenen Bürger zu regeln oder gar eine Regelung mit Strafandrohung zu sanktionieren. In den Prozessen wurde aber eine Reihe von Männern strafrechtlich verfolgt, die ver wickelte Entscheidungen nach Ansicht des Gerichtes falsch gefällt haben. Hierzu kommt, dass gleiche Tatbestände von Tribunalen der Militärregierung zum Teil völlig verschiedenartig beurteilt wurden. Ihre Auffassungen weichen in vielen, das Völkerrecht betreffenden Fragen voneinander ab. Diese Verschiedenartigkeit in den Urteilen und die sich aus ihr ergebende Rechtsunsicherheit wird zum Teil ihren Grund in der unerhörten Schwierigkeit der Probleme haben, vor die sich die Militärtribunale gestellt sahen, aber um so unbegreif licher erscheint es, dass gerade gegen die Entscheidung dieser Gerichte bisher keine Appelationsmöglichkeit bestand. Wenn wir hiermit offenherzig die schweren Sorgen ausgesprochen haben, die die bisherige Entwicklung der Rechtsprechung für eine Wiederaufrichtung des Glaubens an die Gerechtigkeit machten, so wissen wir Bischöfe doch, dass der Wille zur Gerechtigkeit im amerikanischen Volke heute wie unmittelbar nach dem Kriege lebendig ist und dass es sich seiner Verantwortung bewusst ist. Dies zeigt sich auch in der Tatsache, dass in den Vereinigten Staaten selbst die Kritik an den Rechtsgrundlagen und den Methoden diese Prozesse immer lauter wird. Im Vertrauen auf den Ernst dieses Willens zur Gerechtigkeit sprechen wir Bischöfe Deutschlands einen Vorschlag aus, der das bedrohte Rechtsgefühl zu retten und eine demoralisierende Wirkung der Prozesse zu verhüten verspricht. Wir stellen die dringende Bitte : Gebt dem Angeklagten das Recht zur Appellation ! Die in den Urteilen zutage getretene Rechtsunsicherheit kann unter anderem durch Einschaltung einer mit höchster Autorität und langer Rechtstradition ausgestatteten Obersten Appellationsinstanz überwunden werden, eine Instanz, die an Stelle sondergerichtlicher Ausnahmenormen die Regeln des Straf - und Völkerrechts zur Anwendung bringt, wie sie seit langem Gemeingut aller zivilisierten Völker geworden sind. Als eine hierfür geeignete Instanz sehen wir – in Ermangelung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit – das höchste amerikanische Bundesgericht an, dass hierbei seine eigenen Gesetze und seine hohe sittliche Rechtstradition zugrunde legen möge. Es bestrafe die wirklich Schuldigen und gebe dem deutschen Volke wie der ganzen Welt die Überzeugung zurück, dass Sieger und Besiegte dem gleichen Recht unterworfen sind, wie sie einmal vor dem gleichen göttlichen Richter stehen werden.“6

In einer Antwort vom 23. September 1948, die an Klarheit nicht zu wünschen übrig ließ, machte Clay deutlich, dass das War Crimes Program und seine rechtlichen Grundlagen sowie seine rechtliche Form nicht zur Disposition stünden : „Euer Eminenz ! Ich bestätige den Empfang Ihres Briefes vom 26. August 1948, der ein Memorandum enthält, welches die deutschen Bischöfe auf ihrer Fuldaer Konferenz beschlossen haben und worin die Schaffung eines Appellationsgerichtes zur Überprüfung der Urteile amerikanischer Kriegsverbrechertribunale vorgeschlagen wird. Ich werde zu den verschiedenen Punkten in der Reihenfolge des Memorandums Stellung nehmen. a ) Das Memorandum spricht von Sondergerichten und einem Sonderrecht, das ausschließlich auf Deutsche angewandt werden sollte, und stellt fest, dass die Nürnberger Gerichte in Deutschland unbekanntes Recht angewandt hätten. Ich möchte Sie auf die Bestimmungen des Londoner Übereinkommens vom 8. August 1945, auf die Charta des Internationalen Militärgerichtshofes und auf das Kontrollgesetz Nr. 10 verweisen, welche das Recht festlegen, nach dem in unseren Kriegsverbrecherprozes6

Resolution der deutschen Bischöfe zu den Nürnberger und Dachauer Prozessen von August 1948 ( IfZ - Archiv, MF 260, OMGUS 5/344 – 1/26).

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sen verfahren wurde. Die Entscheidung des Internationalen Militärgerichtshofes stellt klar, dass diese Dokumente fundamentale Rechtsgrundsätze widerspiegeln, die international anerkannt sind. Wenn auch die Statutenform, die ihnen verliehen wurde, neu ist, so wurde das darin niedergelegte Recht bereits früher weithin anerkannt. Nicht weniger als 23 Nationen haben formell dem Abkommen vom 8. August 1945 und der Charta zugestimmt. Wie der Internationale Gerichtshof erklärte, ‚ist die Charta nicht eine willkürliche Ausübung der Macht seitens der siegreichen Nationen. Sie ist der Ausdruck des Internationalen Recht wie es zur Zeit seiner Schöpfung bestand‘, und das der Gerichtshof dann zu demonstrieren fortfuhr. b ) Das Memorandum verweist weiter auf die Verhängung schwerer Strafen über Personen, weil sie Gesetze und Bestimmungen ihrer eigenen Regierung guthießen und höhere Befehle ausführten. Sowohl die Charta des Internationalen Militärtribunals wie das Kontrollratsgesetz sehen vor, dass weder ein Amt noch der Gehorsam gegenüber Befehlen von Vorgesetzten eine Person von der Verantwortlichkeit für kriminelle Handlungen befreien, obwohl dieser letztere Umstand strafmildernd in Erwägung gezogen werden kann. Wie oben erwähnt, handelt es sich um eine Neuformulierung des bestehenden Rechts, welche durch die Zustimmung vieler Nationen mit sehr unterschiedlichen Rechtssystemen als gerecht anerkannt worden ist. c ) Das Memorandum spricht von angeblichen Differenzierungen der Gerichtshöfe bei der Bewertung von Tatsachen und der Interpretierung des Rechts sowie von einer mangelnden Einheitlichkeit bei den Urteilen. Diese Fälle werden sorgfältig überprüft, bevor das Urteil bestätigt wird. Es sind keine zwei Fälle identisch. In den Fällen, die bis jetzt überprüft wurden, ist das Gewicht der Zeugenaussagen überwältigend gewesen. Ich kann nicht umhin, mit guten Gewissen festzustellen, dass die bis jetzt gefällten Urteile gerecht und der Besonderheit des Falles angemessen gewesen sind. d ) Das Memorandum schlägt ferner vor, dem Angeklagten das Recht der Berufung zu gewähren und für diesen Zweck eine höchste Berufungsinstanz einzurichten. Was den Vorschlag eines Appellationsverfahrens betrifft, so haben wir uns nur an die Bestimmungen der Charta des Internationalen Militärgerichtshofes gehalten. Ich kann nicht glauben, dass ein Verfahren, das eine so allgemeine internationale Billigung gefunden hat, einer ernsthaften Kritik unterworfen werden kann. Wir haben als Richter für unsere Tribunale die besten verfügbaren Männer von einigen unserer höchsten Gerichtshöfe ausgesucht, und ich habe volles Vertrauen in ihre Integrität und Fähigkeit, eine faire und unbeeinflusste Entscheidung zu fällen. Schließlich könnte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten als Appellationsinstanz für diese Fälle schon deshalb nicht in Frage kommen, weil unter der Verfassung und dem Statut der Vereinigten Staaten eine solche Jurisdiktion nicht besteht. Infolgedessen möchte ich erklären, dass die Kriegsverbrechertribunale im Interesse der hohen Justiz [ Im englischen Original : ‚in the interest of high justice‘] und in der Hoffnung errichtet wurden, dass die Welt ihren Beitrag zum Frieden anerkennen würde und dass sie ein Abschreckungsmittel für künftige Angreifer darstellen möchten.“7

Letztlich blieb die massive Kritik jedoch nicht ohne Wirkung, die amerikanische Seite reagierte in mehrfacher Weise : Kriegsminister Kenneth C. Royall ordnete ein Moratorium an, alle Hinrichtungen in Landsberg, dem War Criminal Prison No. 1, wurden vorläufig ausgesetzt. Gleichzeitig wurde eine Kommission eingesetzt, die am 20. August 1948 ihre Arbeit aufnahm, den Malmedy - Prozess sowie alle übrigen Dachauer Prozesse zu untersuchen. 7

Clay an Kardinal Frings vom 25. 9. 1948 ( IfZ - Archiv, MF 260, Prov. LD, OMGUS 17/53 – 3/12; deutsche Fassung : 5/344 – 1/26).

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Bereits zuvor hatte General Clay in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der US - Truppen in Europa einen Administration of Justice Review Board eingerichtet, der ebenfalls die im Zusammenhang mit dem Malmedy - Prozess erhobenen Klagen untersuchte. Neben diesen öffentlichen Reaktionen ließ die US - Regierung durch ihre Geheimdienstabteilung die Hintergründe der Kampagne und vor allem die Rolle der Kirchen untersuchen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sprachen von einer Instrumentalisierung der kirchlichen Kritik durch andere Interessengruppen, wobei vor allem die Rolle des evangelischen Landesbischofs Theophil Wurm kritisch beurteilt wurde. In einem vertraulichen Bericht der Intelligence Division heißt es hierzu : „Wurm has fired the first shot in public without concrete knowledge or proof of alleged irregularities. Wurm, who is very old, is being used by a groop of German ex - officers and other nationalists whose primary purpose is the embarrassement of MG [ Military Gouvernment ]. [...] Should he [ Neuhäusler ] dissociate himself from the people around Wurm and other individuals, it would be possible to expose their true motives and discredit them for what they are : subversive, Pro - East, Anti - West.“8 Die deutsche Kritik am US - War Crimes Program wiederholte und variierte mit unterschiedlicher Betonung stets die gleichen Punkte : Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Urteile im Malmedy - Prozess auf Grund der nicht - rechtsstaatlichen Vernehmungspraktiken, Zweifel an den übrigen Dachauer Prozessen und ihren Urteilen, Zweifel an der Qualifikation der Richter, an der Chancengleichheit von Anklagebehörde und Verteidigung, an der Unabhängigkeit der Überprüfungsinstanzen, an der Rechtmäßigkeit der Gerichte und an den rechtlichen Grundlagen der Prozesse überhaupt. Verbunden wurden diese Vor würfe mit Bitten um Milde, um Amnestien, um Begnadigungen. Die Verbrechen selbst, um deren Sühne und Bestrafung es in den Verfahren ging, gerieten dabei zunehmend aus dem Blickfeld der Diskussion, was General Clay in einem Schreiben an Wurm zu folgender Äußerung bewegte : „It is difficult to understand how any review of the evidence of those yet to be sentenced could provide a basis for sentimental sympathy for those who brought suffering and anguish to untold millions.“9 Die von Kriegsminister Royall eingesetzte Kommission beendete nach Überprüfung der Akten und nach zahlreichen Anhörungen ihre Untersuchung am 14. September 1948. Ihr Bericht stellte fest, dass die Prozesse grundsätzlich und ihrem Wesen nach fair und gerecht gewesen seien und dass von einem systematischen Gebrauch unrechtmäßiger Methoden nicht gesprochen werden könne. Die Urteile beruhten auf einer klaren Beweislage. Trotz dieser Einschätzung kam die Kommission mit einer Reihe von Empfehlungen der öffentlichen Kritik entgegen : 29 in den Prozessen verhängte Todesstrafen sollten in Haftstrafen 8 9

Confidential Report vom 9. 12. 1948 : Alleged Preparation of Publication of Attacks against War Crimes Trials ( BayHStA, Prov. ID, OMGBY 10/88 – 2/7). Clay an Bischof Wurm vom 19. 6. 1948 ( IfZ - Archiv, MF 260, Prov. LD, OMGUS 17/ 53 – 3/12).

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umgewandelt werden – darunter auch die noch verbliebenen zwölf Todesstrafen des Malmedy - Prozesses; beim Oberbefehlshaber der US - Truppen in Europa sollte eine Begnadigungsinstanz eingerichtet werden, an die appelliert werden könnte. Die Wiederaufnahme der Hinrichtungen nach Abschluss der Untersuchungen und Aufhebung des Moratoriums erzeugte eine neue Welle von Protesten, umso mehr als der Untersuchungsbericht zunächst nicht veröffentlicht wurde : Proteste in Form von Briefen und Telegrammen gingen nicht mehr nur an Clay, sondern auch an amerikanische Minister sowie an Präsident Truman selbst. An Clay appellierten u. a. der Evangelisch - Lutherische Landeskirchenrat in Bayern, Weihbischof Neuhäusler, Landesbischof Wurm als Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirchen in Deutschland sowie erneut Kardinal Frings, der sich auch an Präsident Truman wandte. Neuhäusler und Wurm schrieben darüber hinaus auch Minister Royall an, unabhängig voneinander, aber wohl in Kenntnis des jeweils anderen Schreibens. Sogar der Vatikan schaltete sich am 14. Dezember 1948 mit einer Botschaft an Minister Royall in die Kampagne ein.10 Wie wenig sachlich fundiert diese Kritik teilweise war, zeigt in seiner Fehlerhaftigkeit das Telegramm der Rektorenkonferenz vom 7. November 1948 an Clay : „Angesichts der von gewichtiger Seite öffentlich erhobenen und öffentlich noch nicht widerlegten Bedenken gegen die in Dachau und Malmedy [ sic !] gefällten Todesurteile bittet die Rektorenkonferenz der Nordwestdeutschen und Süddeutschen Hochschulen dringend um Aufschub der Vollstreckung.“11 Und wie ungeheuer weit sich diese Kritik politisch verirren konnte, zeigt das Schreiben Wurms an John Foster Dulles, den außenpolitischen Berater des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Thomas E. Dewey, in dem sich folgender Absatz findet : „Ich darf Ihnen und all den vielen Bürgern der USA, die sich redlich um die Wiederherstellung der europäischen Ordnung und auch um eine Rettung Deutschlands aus seiner furchtbaren Lage bemühen, nicht verhehlen, dass wir nachgerade die Frage erörtern, ob es bei Ihnen ebenso ist wie einst im Dritten Reich, wo die Menschen mit klarem Widerstand und gutem Willen sich nicht durchsetzen konnten gegen die Nutznießer bestimmter politischer Kombinationen. Es ist meine feste Überzeugung, dass die gute Sache, der sich die USA verschrieben haben, gegen die mächtigen Störenfriede auf allen Seiten nur dann zum Siege gelangen kann, wenn sie den Hitlergeist auch bei sich selber völlig austreiben, und wenn Recht und Gerechtigkeit niemand zuliebe und niemand zuleide, sondern nur aus der Sache heraus gesprochen wird.“12 10 Memorandum submitted to Army Department by Reverend E.A.Walsh vom 14. 12. 1948 ( ebd., OMGUS 1948/141/3 und POLAD 800 – 27). 11 Telegramm der Rektorenkonferenz vom 7. 11. 1948 ( ebd., Prov. LD, OMGUS 17/53 – 3/12). 12 Christlicher Nachrichtendienst vom 22. 10. 1948 : Clergy’s reaction to Nurnberg and other war crimes trials. Bischof Wurm appelliert an Foster Dulles ( ebd., OMGUS 5/344 – 1/26). Zur Haltung der evangelischen Kirche vgl. Clemens Vollnhals, Die Hypothek des Nationalprotestantismus. Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS - Verbrechen nach 1945. In : Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992), S. 51–69.

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Die Dachauer Prozesse 1945–1948 in der Öffentlichkeit

3.

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1949 : Die Wende im US War Crimes Program

Die Kampagne gegen das War Crimes Program fand auch die Unterstützung amerikanischer Kreise und Widerhall in der amerikanischen Presse und führte zum direkten Eingreifen des amerikanischen Senats, der einen Untersuchungsausschuss des Senatsausschusses für die bewaffneten Streitkräfte konstituierte. Nicht nur durch die Einrichtung dieses Unterausschusses wurde das Jahr 1949 zu einem Wendepunkt. Die Entstehung der Bundesrepublik eröffnete der Kampagne gegen das War Crimes Program neue Möglichkeiten. 1948 fanden die letzten Dachauer Prozesse statt, die Nürnberger Nachfolgeprozesse endeten im April 1949. Die Ziele der Kampagne verschoben sich jetzt insofern, als es hinfort weniger um Einzelfälle, etwa einzelne Schuldsprüche im Malmedy Prozess ging, sondern um eine grundsätzliche Revision der gefällten Urteile und damit letztlich um die Freilassung aller Inhaftierten. Die Kritik wurde nun systematischer vorgetragen, die Proteste noch stärker organisiert. So formierte sich, initiiert von dem der katholischen Kirche nahestehenden Anwalt Rudolf Aschenauer, ein von der katholischen und der evangelischen Kirche gemeinsam getragenes „Kuratorium für die Rechtshilfe an Landsberger Gefangene und die Unterstützung ihrer Familien in besonderen Fällen“. Die konstituierende Sitzung im Erzbischöf lichen Ordinariat in München fand in Gegenwart u. a. von Weihbischof Neuhäusler, Oberkirchenrat Oskar Daumiller, dem Münchner Juraprofessor Erich Kaufmann und Anwalt Aschenauer statt. Man entschied sich, der Organisation den Namen „Komitee für kirchliche Gefangenenhilfe“ zu geben. Den Vorsitz übernahm Weihbischof Neuhäusler, als sein Stellvertreter fungierte Oberkirchenrat Daumiller; Aschenauer, der Initiator, wurde zum Geschäftsführer bestellt. Mitglied des Komitees war auch der Jurist Adalbert Joppich, der als Mitglied der SS und Vorsitzender des Deutschen Obergerichtes in den besetzten Niederlanden mitverantwortlich für zahlreiche Todesurteile gewesen war. Das Komitee setzte sich zum Ziel, bedürftigen und würdigen Gefangenen Rechtshilfe zu gewähren, indem ihnen der kostenlose Beistand erfahrener Anwälte vermittelt werde, in besonderen Fällen darüber hinaus auch die karitative Unterstützung notleidender Familien von Inhaftierten. Aufgabe des Komitees sollte es ferner sein, eine Schriftenreihe zu publizieren, „die eine exakte wissenschaftliche Erforschung der geschichtlichen Zusammenhänge sowie der Rechts - und Verfahrensgrundlagen der Kriegsverbrecherprozesse und zugleich deren Beurteilung nach den Grundsätzen christlicher Glaubens - und Sittenlehre zum Ziele hat“. Dadurch solle verhindert werden, dass das deutsche Volk und die Welt nur aus der „einseitigen Schau der Ankläger von Nürnberg und Dachau“13 informiert würden. Neben dieser Einrichtung und anderen – wie etwa der „Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e. V.“ in Ebenhausen bei München, deren erste 13 Komitee für kirchliche Gefangenenhilfe vom 15. 1. 1950 : Zielsetzung des Komitees (Landeskirchliches Archiv Nürnberg, LKR z IV 676 [1648]).

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Präsidentin Prinzessin Helene Elisabeth von Isenburg war – entstand als neues übergreifendes Koordinationszentrum das Heidelberger Dokumentenarchiv, auch Heidelberger Kreis oder Heidelberger Juristenkreis genannt. Initiator und treibende Kraft dieses Kreises und des Dokumentenarchivs, das als Archiv an der Universität Heidelberg Material zu den Kriegsverbrecherprozessen sammelte, war der Heidelberger Juraprofessor Eduard Wahl, der von 1949 bis 1969 auch als Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag saß. Zu den von ihm organisierten Tagungen in Heidelberg wurde ein Kreis von 30 bis 40 Personen geladen. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Anwälte, die zu den Verteidigern der in Nürnberg Angeklagten gehört hatten, so Otto Kranzbühler, Georg Fröschmann, Hans Laternser, Justus Koch und natürlich Rudolf Aschenauer, eine größere Anzahl von Rechtswissenschaftlern verschiedener Universitäten, ferner die Oberlandesgerichtspräsidenten von Braunschweig, Celle und Karlsruhe, hohe Funktionäre der katholischen und der evangelischen Kirche, sowie Mitarbeiter aus dem Bundesjustizministerium, fallweise auch aus dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen Amt. Der Heidelberger Kreis befasste sich mit sämtlichen Aspekten der Kriegsverbrecherprozesse und der in diesen Prozessen Verurteilten, also Haftbedingungen, Recht, finanzielle Hilfe, beamtenrechtliche Fragen. Die Tagungen dienten nicht nur dem Informationsaustausch, sondern darüber hinaus der Erörterung und Koordination gemeinsamer Aktivitäten oder von Aktionen einzelner teilnehmender Institutionen. Der Inhalt einer Denkschrift der EKD zum Thema Kriegsverbrechen wurde hier ebenso vorbesprochen wie Unterredungen mit dem amerikanischen Hochkommissar John McCloy. Das Handlungsinstrumentarium umfasste ein breites Spektrum von Möglichkeiten, wobei grundsätzlich das Agieren außerhalb der Öffentlichkeit vorgezogen wurde. Der Einsatz der Presse war stets von der Überlegung bestimmt, inwieweit er in jedem Fall von Nutzen sein könne. So heißt es etwa im Protokoll einer Tagung vom 16. September 1950 : „Schließlich wurde auch noch die Frage einer Mobilmachung der Presse angeschnitten. Die Mehrzahl hat jedoch, wie bereits früher, ein starkes Einschalten der Presse nicht für opportun gehalten.“14 Die Effektivität und Wirkung des Heidelberger Kreises bestand zum einen in der Konzentration fachlicher Experten, zum anderen in der formellen wie informellen Verbindung staatlicher, kirchlicher und anderer gesellschaftlich relevanter Institutionen und den damit verbundenen persönlichen Kontakten. Die öffentliche Kampagne wurde nur noch in Ausnahmefällen für sinnvoll erachtet, dann aber mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln inszeniert. Der mit dem Kalten Krieg und dem wachsenden Antikommunismus verbundene Paradigmenwechsel machte andere Formen von Einflussnahme und politischem Druck möglich. Auf einer Tagung vom 15. Juni 1950 referierte Eduard Wahl über einen zurückliegenden Besuch in den USA und stellte dabei als ein Ergebnis seines Besuches fest, dass es richtig sei, nicht zu sehr an die Öffentlichkeit zu treten : 14

Bericht über die Tagung des Dokumentenarchivs in Heidelberg am 16. 9. 1950 ( BArch, Zentrale Rechtsschutzstelle, B 305, Nr. 140, Band 1).

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„In Amerika sei es immer noch schwer, in der Öffentlichkeit für die deutschen Belange etwas zu erreichen, und es sei auffallend, dass sie zwar im Senat in freundlicher Weise empfangen worden seien, jedoch in New York keine offizielle Persönlichkeit sie empfangen habe. Er habe zwar den Eindruck, dass in Amerika viele Kräfte am Werk seien, die bereit seien, zu helfen. Man wage es aber noch nicht, die öffentliche Meinung einzuspannen, weil diese noch sehr ner vös auf alle deutschen Angelegenheiten reagiere. Man könne die Haltung vieler kurz so demonstrieren : ‚In Deutschland liegen eben unsere Toten.‘ Es bestehe jedoch eine gewisse Chance insofern, als eine ungeheuere Agitation gegen den Kommunismus im Gange sei und bei den offiziellen Stellen infolge der kommunistischen Gefahr eine gewisse Unsicherheit bestehe.“15

Der im US - Senat eingerichtete Unterausschuss war von April bis September 1949 mit einem sehr großen Aufwand und mit sehr großer Sorgfalt den Vorwürfen im Zusammenhang mit dem Malmedy - Prozess und anderen Dachauer Prozessen nachgegangen. In zahlreichen Anhörungen, in Gesprächen mit amerikanischen Ermittlern, mit amerikanischen und deutschen Verteidigern, mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche und natürlich mit den Verurteilten selbst, in medizinischen Untersuchungen, in Ortsbesichtigungen und weiteren Recherchen, in der Überprüfung des Beweismaterials konnten keine Belege oder Anhaltspunkte für die Vorwürfe der Angeklagten gefunden werden; vielmehr wurden zahlreiche Anschuldigungen eindeutig widerlegt. Obwohl der Abschlussbericht insgesamt die amerikanischen Ermittler entlastete, formulierte er am Ende doch eine Reihe kritischer Anmerkungen : Nicht alle Ermittler hätten die notwendige Ausbildung besessen, nicht alle eingesetzten Juristen die notwendige spezielle Qualifikation; auch dürfe keine Person, die in einem Verfahren, gleichgültig in welcher Funktion beteiligt gewesen sei, später bei der Urteilsüberprüfung dieses Falles erneut beteiligt werden. Im Malmedy - Prozess etwa war dies geschehen, allerdings eher zum Vorteil der Angeklagten, da der stellvertretende Leiter der Verteidigung auch dem Überprüfungsausschuss als Berater gedient hatte. In einem letzten Abschnitt befasste sich der Bericht auch mit der öffentlichen Kritik am Malmedy - Prozess und am War Crimes Program und konstatierte, dass über die verständliche Zielsetzung hinaus, die Situation und Lage der Angeklagten zu verbessern, Kräfte am Werk seien, denen es darum gehe, den nationalistischen Geist in Deutschland wiederzubeleben.16 Nach der Veröffentlichung des Berichtes durch den US - Senat wurde vom Oberkommandierenden der amerikanischen Truppen in Europa, General Tho15 Bericht über die Tagung des Dokumentenarchivs in Heidelberg am 15. 6. 1950 ( ebd.). 16 Malmedy Massacre Investigation. Hearings before a Subcommittee of the Committee on Armed Services United States Senate Eigthy - First Cobgress First Session Pursuant to S. Res. 42 Investigation of Action of Army to Trial of Persons Responsible for the Massacre of American Soldiers, Battle of the Bulge, near Malmedy, Belgium, December 1944, April, May, June, September 1949, Washington 1949; sowie Bericht des Untersuchungsausschusses des Senatsausschusses für die bewaffneten Streitkräfte in Sachen Untersuchung der Malmedy - Morde : Untersuchung der Maßnahmen der Armee während des Verfahrens gegen die für die Ermordung amerikanischer Soldaten in der Ardennenoffensive nahe Malmedy, Belgien, im Dezember 1944 verantwortlichen Personen (BArch, Alliierte Prozesse 7/1, fol. 1, S. 48).

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mas T. Handy, dem Nachfolger Clays, ein War Crimes Modification Board eingerichtet. Seine Aufgabe war die erneute Überprüfung sämtlicher Fälle mit dem vorrangigen Ziel, die Urteile in ähnlichen Fällen einander anzugleichen. De facto bedeutete dies eine Herabsetzung zahlreicher Strafen. Weitere Aspekte, die für eine mögliche Strafminderung berücksichtigt werden sollten, waren Alter und Gesundheitszustand, familiäre Situation sowie das Verhalten in der Haft. Positives Verhalten sollte mit einem Strafnachlass von zehn Tagen pro Monat belohnt werden können. Empfehlungen des Boards mussten vom US - Oberkommandierenden in Europa gebilligt werden. Der Modification Board war zuständig für die in den Dachauer Prozessen von amerikanischen Militärgerichten Verurteilten; die Verurteilten der Nürnberger Nachfolgeprozesse unterstanden der amerikanischen Militärregierung bzw. ab 1949 dem amerikanischen Hochkommissar. Parallel zum War Crimes Modification Board setzte McCloy deshalb für die Nürnberger Verurteilten – und ebenfalls in Landsberg einsitzenden Kriegsverbrecher – einen Advisory Board on Clemency for War Criminals ein. Am 31. Januar 1951 verkündeten Hochkommissar McCloy und General Handy die Empfehlungen der beiden Boards und ihre Entscheidung. Der War Crimes Modification Board hatte 512 Fälle überprüft und in 370 Fällen eine Reduzierung des Urteils empfohlen. Ca. zwei Drittel dieser Empfehlungen wurden akzeptiert. Von den 89 in Nürnberg Verurteilten kamen 79 in den Genuss des von McCloy bestätigten Amnestieaktes, die fünf aufrecht erhaltenen Todesurteile betrafen Oswald Pohl, ehemaliger Leiter des SS - Wirtschafts - Verwaltungshauptamtes und damit zuständig für die nationalsozialistischen Konzentrationslager, sowie Paul Blobel, Werner Braune, Erich Naumann und Otto Ohlendorf, die im Einsatzgruppen - Prozess zum Tode verurteilt worden waren. Die beiden von General Handy bekräftigten Todesurteile betrafen Georg Schallermair und Hans Schmidt, die für ihre Verbrechen als SS - Männer im KZ Mühldorf bzw. KZ Buchenwald zum Tode verurteilt worden waren.17 So umfangreich die Begnadigungsaktion im Januar 1951 auch war, so beruhigte sie doch keineswegs die Kritik der deutschen Öffentlichkeit, im Gegenteil, sie galt eher als Bestätigung für den Erfolg der Kampagne und stimulierte so nur weitere Proteste. Vor allem die Verhinderung der sieben verbliebenen Todesurteile wurde nun das Ziel einer Koalition, die sich aus den bekannten Akteuren bildete. Als am 7. Juni 1951 trotz aller Bemühungen die Todesurteile vollstreckt wurden, waren für die Bundesregierung Vizekanzler Franz Blücher und Finanzminister Fritz Schäffer bei der Hinrichtung anwesend. 17

Allgemeine Erklärung des amerikanischen Hochkommissars über die Gnadengesuche für die in Nürnberg verurteilten Kriegsverbrecher sowie Entscheidungen des Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland, General Thomas T. Handy, über die Gnadengesuche der in Dachau verurteilten Kriegsverbrecher in Landsberg. Ein dokumentarischer Bericht. Hg. von der Information Services Division, Office of the High Commissioner in Germany, o. O., o. J. ( München 1951). Vgl. auch Thomas A. Schwartz, Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher. J. J. McCloy und die Häftlinge von Landsberg. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 38 (1990), S. 372–414.

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Diese Anwesenheit der beiden Minister bei der Vollstreckung der letzten von amerikanischen Gerichten in Deutschland verhängten Todesurteile dokumentierte augenfällig das Engagement und die Haltung der Bundesregierung. Die weitgehende Übereinstimmung der im Bundestag vertretenen Parteien – sieht man einmal von der KPD ab – zeigte sich in einer Parlamentsdebatte am 17. September 1952. Unterschiedlich war lediglich die Radikalität der Wortwahl und der Forderungen, Zurückhaltung übte am ehesten die CDU, für deren Haltung die Stellungnahme Adenauers kennzeichnend war : „Darum müssen die Bundesregierung und auch unsere öffentliche Meinung sich darüber klar sein, dass der gesamte Fragenkreis zwar mit Zähigkeit und Ausdauer, aber auch mit Klugheit und Takt behandelt werden muss, wenn man – und das scheint mir das vornehmlichste Ziel zu sein – den in Gewahrsam Befindlichen helfen will. Ultimative Forderungen helfen den in Gewahrsam Zurückgehaltenen nicht, sondern sie richten nur Schaden an.“18 Zähigkeit, Ausdauer, politischer Druck und, wenn nötig, der gezielte Einsatz der Öffentlichkeit machten sich weiter bezahlt. Im Oktober bzw. November 1953 wurden von den drei Westmächten auf Drängen der Bundesregierung sogenannte Interimistische Gnadenausschüsse eingerichtet, zuständig jeweils für die in den ehemaligen drei Zonen von Gerichten der Besatzungsmächte verurteilten Kriegsverbrecher. Den Gnadenausschüssen gehörten jeweils fünf Mitglieder an, die deutschen Mitglieder, zwei pro Ausschuss, wurden von der Bundesregierung ernannt. 1955 wurden diese drei Ausschüsse abgelöst durch einen gemeinsamen Ausschuss, dessen Zusammensetzung und Kompetenzen in Teil I, Artikel 6 des „Vertrages zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandenen Fragen“ festgelegt waren. Der Ausschuss bestand aus sechs Mitgliedern, von denen drei von der Bundesregierung, je eines von den Regierungen der drei Westmächte ernannt wurden. Der Ausschuss konnte mit der Mehrheit seiner Mitglieder Empfehlungen zur Strafminderung bzw. zur Strafaussetzung, d. h. Entlassung „on parole“, einer Art Entlassung auf Bewährung, auszusprechen. Er durfte jedoch auf keinen Fall die Gültigkeit der Verfahren, der Urteile und der ausgesprochenen Strafen kritisieren oder in Frage stellen. Zu Beginn der Tätigkeit des Ausschusses befanden sich noch 93 Gefangene in den drei alliierten Kriegsverbrechergefängnissen, davon 59 in Landsberg, 25 in Werl und 19 in Wittlich. Die Entlassungen „on parole“ wurden zum probaten Mittel, das sogenannte Kriegsverbrecherproblem elegant und ohne größeres Aufsehen zu lösen; am 4. Juni 1958 wurden die letzten in Landsberg Inhaftierten entlassen, das amerikanische War Crimes Program fand damit sein Ende. Die Arbeit der drei Interimistischen Ausschüsse und des gemeinsamen Ausschusses war weitgehend ohne größeres Medienecho vonstatten gegangen, entsprechend den Vorgaben der Bundesregierung, wie sie etwa in einem Schreiben des Auswärtigen Amtes 18 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 1. Wahlperiode, 230. Sitzung am 17.9.1952. Stenographische Berichte, Band 13, Bonn 1952, S. 10495.

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an alle diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik formuliert wurden : „Vertraulich kann bemerkt werden, dass die mit der Frage der Kriegsverurteilten befassten amerikanischen Dienststellen in der Bundesrepublik großen Wert darauf legen, dass sich die Tätigkeit des Ausschusses und die auf Grund seiner Empfehlungen gewährten Freilassungen ohne besonderes Aufsehen in der Öffentlichkeit vollziehen, damit nicht Anlass zu Presseveröffentlichungen gegeben wird, die geeignet sein können, die weitere positive Arbeit des Ausschusses und der Gnadenbehörden zu beeinträchtigen.“19 Was als Ergebnis einer zu großen Öffentlichkeit befürchtet wurde, waren Reaktionen in den USA, wie sie etwa bei der Entlassung „on parole“ des im Malmedy - Prozess verurteilten Sepp Dietrich im Januar 1956 laut geworden waren. Die Proteste fielen so heftig aus, dass der amerikanische Vertreter im gemeinsamen Ausschuss ausgetauscht werden musste. Auf „das besondere Aufsehen in der Öffentlichkeit“ konnte nun auch verzichtet werden, es war nicht mehr notwendig.

4.

Fazit

Das amerikanische War Crimes Program hatte von Beginn an zwei wesentliche Ziele : Zum einen ging es um die justizielle Ahndung der ungeheuren nationalsozialistischen Verbrechen, um Strafe und Sühne, zum zweiten aber darum, aufzuklären, zu erziehen, den Boden zu bereiten für eine liberale, demokratische Gesellschaft. Ein großer Teil der deutschen Gesellschaft, ihrer Eliten, der Kirchen und Parteien stimmte durchaus mit dem Ziel einer demokratischen Staatsund Gesellschaftsordnung überein; um dieses zu erreichen schien ihnen aber die Verdrängung des Vergangenen der richtige Weg zu sein, eine Verdrängung, die wohl in Schuldgefühl und einer daraus rührenden latenten, kollektiven Bestrafungsangst gründete. In seinem Gnadengesuch schreibt der im KZ - Dachau - Hauptverfahren zum Tode verurteilte SS - Oberscharführer Anton Endres : „Aus diesen Gründen bitte ich, das Todesurteil [...] in eine entsprechende Freiheitsstrafe umwandeln zu wollen, um mir die Möglichkeit zu geben, [...] ein nützliches Glied einer neuen deutschen Demokratie werden zu können.“20 In dieser Einstellung, unabhängig davon, wieviel Taktik und wieviel Überzeugung dahinter stecken mochte, traf sich Anton Endres mit der übergroßen Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft. Diese Einstellung erklärt den nahezu 19 Rundschreiben des Auswärtigen Amtes an alle diplomatischen Vertretungen u. a. betr. Entwicklung der Kriegsverurteiltenfrage vom 20. 5. 1954, S. 10 ( BArch, Zentrale Rechtsschutzstelle, B 305, Nr. 53). 20 Gnadengesuch Anton Endres, USA versus Martin Gottfried Weiß et al., Nov. 15, 1945 – Dec. 13, 1945 ( BayHStA, OMGUS, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse, MF 1/5, Posttrial Records, Roll 5, Target 8, Nr. 000132). Zu den Schwierigkeiten einer juristischen Bewältigung der NS - Verbrechen auch außerhalb der beiden deutschen Staaten vgl. Norbert Frei ( Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006.

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umfassenden Konsens in der Ablehnung der Dachauer und Nürnberger Prozesse. Sie erklärt auch, weshalb sogar Personen und Institutionen wie die beiden christlichen Kirchen, die doch selbst unter der NS - Herrschaft gelitten hatten, bereit waren, sich für die Begnadigung von eindeutig überführten Massenmördern wie etwa Ernst Biberstein einzusetzen. Die Forderung nach einem Schlussstrich ist nicht erst eine Forderung der 70er, 80er oder 90er Jahre, sondern eine Forderung, die bereits unmittelbar nach Kriegsende erhoben wurde. Der Erfolg dieser Forderung hat viele Gründe : Zu ihnen gehört der Umstand, dass es keine nennenswerten Gegenstimmen in Deutschland gab; dazu gehören ferner reale Schwächen und Defizite des War Crimes Program, die konkrete Kritik möglich machten, und dazu gehört selbstverständlich auch der Wandel in der amerikanischen Politik, welche für den westdeutschen Staat mit Beginn des Kalten Krieges eine neue Rolle als Verbündeter vorsah. Hinzu kam auf Seiten der USA die Sorge, der neu entstandenen Bundesrepublik durch eine zu starre Ablehnung von Forderungen die demokratische Entwicklung zu erschweren. Eine Äußerung McCloys von September 1949 ist hierfür bezeichnend, wenn er mahnt, die USA sollten „die Fehler vermeiden, die wir nach Weimar gemacht haben, als wir ziemlich hastig der neuen Regierung Zugeständnisse gemacht haben, die wir einer besseren lange Zeit vorenthielten“.21 Die Zielsetzungen des amerikanischen War Crimes Program wurden so nur in Teilen verwirklicht; erst in den 60er Jahren begann eine gewandelte bundesdeutsche Öffentlichkeit mit dem Versuch, das nachzuholen, was damals abgelehnt und versäumt worden war.

21 McCloy an Außenminister Dean Acheson. In : United States Department of State, Foreign Relations of the United States ( FRUS ), 1949, Band 3, S. 597. Zit. nach : Schwartz, Begnadigung, S. 382.

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Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ? Zur Verfolgung von NS - Verbrechen durch die sowjetische Sonderjustiz Mike Schmeitzner

Noch vor Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Berlin - Karlshorst (8. Mai 1945) hatten sowjetische Sondergerichte mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von NS - Delikten begonnen. In ihrem Blickpunkt standen sowohl deutsche Militärs als auch deutsche Zivilisten, denen Verbrechen in der besetzten Sowjetunion oder in der späteren Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ( SBZ ) zur Last gelegt wurden. In den folgenden zehn Jahren (1945–1955) ergingen Tausende von Urteilen gegen beide Gruppen, wobei es in der Frühphase der juristischen Aufarbeitung auch zu einer hohen Zahl von Todesurteilen kam.1 Aus der Retroperspektive wird deutlich, dass auf das Konto der sowjetischen Sonderjustiz die über wiegende Mehrzahl der NS - Verurteilungen ging, während der neu installierten deutschen Justiz in der SBZ nur sehr zögerlich und nur auf bestimmte Deliktfelder begrenzte Fälle überantwortet wurden. Die deutschen Gerichte in der SBZ sollten in erster Linie politisch motivierte Verbrechen an Deutschen juristisch verfolgen. Das zielte beispielsweise auf die sogenannten Machtergreifungsverbrechen, die SA und SS unmittelbar nach 1933 an deutschen Nazi - Gegnern begangen hatten. Die Dresdner „Hohnstein“ - Prozesse (1948/49)2 gegen ehemaliges Personal des gleichnamigen KZ oder der Berliner Prozess gegen die Verantwortlichen der Köpenicker „Blutwoche“ (1950) dürften wohl zu den bekanntesten dieser Kategorie gehören. Darüber hinaus gerieten u. a. NS - Kader der mittleren Ebene und NS Juristen in den Fokus der SBZ - Ermittler. Die sowjetische Sonderjustiz nahm dagegen die ganze Bandbreite der NS - und Kriegsverbrechen in der besetzten 1

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Grundlegend Andreas Hilger / Ute Schmidt / Günther Wagenlehner ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 1 : Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001; Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Ute Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003; Andreas Hilger ( Hg.), „Tod den Spionen !“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ / DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006; Andreas Hilger, „Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf“ ? Die Bestrafung deutscher Kriegs - und Gewaltverbrecher in der Sowjetunion und der SBZ / DDR. In : Norbert Frei ( Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 180–246. Vgl. dazu den Beitrag von Carina Baganz in diesem Band.

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Sowjetunion als auch die „politischen Verbrechen“ auf dem Boden der SBZ ins Visier. Unter den Angeklagten befanden sich hochrangige NSDAP - Gauleiter und SS - Generäle, während es sich bei den Opfern der verhandelten Straftaten um Bürger der Sowjetunion und anderer Völker, aber auch um Deutsche handelte. Nimmt man das – für die moderne Rechtssprechung – so zentrale Element der Öffentlichkeit in den Blick, so ist die Differenz zwischen ostdeutscher und sowjetischer Prozesspraxis noch wesentlich gravierender : Versuchte die Justiz der SBZ und frühen DDR mit den von ihr durchgeführten NS - Prozessen eine umfassende erzieherische bis propagandistische Wirkung zu erzielen,3 so spielte dieser Aspekt für die sowjetischen Organe eine eher randständigere Rolle. Für die Mehrzahl der sowjetischen Prozesse war das Wort Öffentlichkeit ein Fremdwort. Das aber hatte weniger mit der besonderen Thematik der Fälle, sondern mit der systemimmanenten stalinistischen Rechtspraxis zu tun. Nur wenige, politisch relevante Prozesse wurden als Schau - oder Demonstrationsprozesse veranstaltet, die große Mehrzahl verlor sich jedoch im Dunkel der Anonymität. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur : Entweder waren die Verfahren aus sowjetischer Sicht propagandistisch nicht ver wertbar, inhaltlich kaum haltbar oder schlicht irrelevant. Zu guter Letzt konnten aber auch Geheimhaltungsgründe maßgeblich sein. Für den Fall der öffentlichen Prozessführung oder der Information der Öffentlichkeit über Prozessergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass der Informationsfluss sehr genau gesteuert wurde. Ein offener Diskurs über das Wirken der sowjetischen Sonderjustiz in der Sowjetunion und in der SBZ war nicht beabsichtigt und aufgrund der staatlichen, parteipolitischen oder besatzungspolitischen Steuerung der Medien auch überhaupt nicht möglich. In der SBZ lief der Informationsfluss in diesen Fällen nahezu ausschließlich über das Sowjetische Nachrichtenbüro ( SNB ), den die hier dominierenden Parteizeitungen kommentarlos bis zustimmend zur Kenntnis nahmen. In den entscheidenden Jahren nach 1945 existierte mit der deutschsprachigen „Täglichen Rundschau“, dem Sprachrohr der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland ( SMAD ), zudem ein Leit - und Orientierungsorgan für die gesamte Presse der SBZ.4 Trotz der so entstandenen „simulierten“ Öffentlichkeit auf sowjetisch beherrschtem Gebiet kann von einer „zweiten“ oder auch „verdeckten“ Öffentlichkeit ausgegangen werden – und zwar sowohl im Falle der auf dem Terri3

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Als „erzieherische Maßnahme“ lässt sich der „Radeberger Prozess“ gegen das Wachpersonal des dortigen Lagers bezeichnen, der im September 1945 stattfand. Der „Görlitzer Prozess“ (1948) gegen den früheren Görlitzer Kreisleiter der NSDAP und den ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt wurde dagegen schon als „Schauprozess konzipiert“. Vgl. Christian Meyer - Seitz, Die Verfolgung von NS - Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1997, S. 24 ff. und 269 ff. Zum sowjetischen Informationsmonopol und zur Zensur in der SBZ vgl. Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland ( SMAD ) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 324–330; Horst Möller / Alexandr O. Tschurbarjan ( Hg.), SMAD - Handbuch. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945–1949, München 2009, S. 252–263.

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torium der Sowjetunion verurteilten deutschen Militärs als auch im Falle der in der SBZ verurteilten deutschen Zivilisten. Waren es bei der ersten Gruppe die nach Deutschland entlassenen Mitgefangenen und Betroffenen, die Informationen weiter verbreiteten, betraf dies bei der zweiten Gruppe – und über den genannten Kreis hinaus – Personen aus den noch nicht vollständig abgeschirmten Herrschaftsapparaten, beispielsweise auch aus den Reihen der SED. Um die „simulierte“ Öffentlichkeit oder das Dunkel der Anonymität zu durchbrechen, bot sich gerade im Falle der in der SBZ verhandelten Fälle eine konspirative Verbindungsaufnahme mit westzonalen oder West - Berliner Einrichtungen und Medien an. Dies betraf vornehmlich solche Fälle, in denen der NS - Hintergrund nicht überzeugend genug vermittelt werden konnte oder aber politische Gründe der Verhaftung und Verurteilung vermutet wurden. Solche „Grenzfälle“ stießen gerade in der Vier - Sektoren - Stadt Berlin auf ein reges mediales Interesse. Bis Juni 1948 war es für die Bevölkerung der SBZ zudem möglich, westzonale Printmedien auf dem Wege des herkömmlichen Vertriebsnetzes ( Zeitungskioske, Buchhandlungen usw.) zu beziehen. Dadurch konnte zumindest teilweise das Medienmonopol der Besatzungsmacht und der KPD / SED unterlaufen werden. Die ( Print - )Medien der SBZ sahen sich so hin und wieder gezwungen, auf öffentliche Vor würfe westzonaler Blätter zu reagieren und auf diese Weise überhaupt über Verurteilungen zu berichten, über die vordem der Mantel des Schweigens gehüllt worden war.5

1.

Sowjetische Sonderjustiz und NS - Verbrechen : Grundlagen und Dimensionen der Urteilspraxis

Unter dem Begriff der sowjetischen Sonderjustiz lässt sich in erster Linie die Rechtsinstitution der Sowjetischen Militärtribunale ( SMT ) fassen, in geringerem Umfang die „besonderen Beratungen des sowjetischen Innenministeriums“ ( sog. OSO - Verfahren ) und die Militärkollegien des Obersten Gerichts der UdSSR. Diese Instrumente standen in der Tradition der Revolutionstribunale, die als Repressionsinstrumente gegen Andersdenkende ins Leben gerufen worden waren. In den 20er Jahren hatte die sowjetische Führung die SMT als eine spezifische Form der Sondergerichtsbarkeit etabliert, um auf diesem Wege Straftaten sowjetischer Soldaten rascher aburteilen zu können. Sie waren allerdings nur eine Facette des gerichtlichen und außergerichtlichen Repressionsapparates. Bereits im Jahre 1918 hatte das sowjetische Volkskommissariat für Justiz 5

Vgl. Mike Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates. Aufbau und Entwicklung der politischen Polizei in Sachsen 1945–1952. In : Rainer Behring / Mike Schmeitzner (Hg.), Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952, Köln 2003, S. 201–267, hier 249 ff.; ders., Genossen vor Gericht. Die sowjetische Strafverfolgung von Mitgliedern der SED und ihrer Vorläuferparteien 1945–1954. In : Hilger / Schmeitzner / Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 265–344; ders., Doppelt verfolgt. Das widerständige Leben des Arno Wend, Berlin 2009, S. 158–179.

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beschrieben, welchen Sinn derartige Tribunale hatten : Man betrachte sie als „Gericht der Klassendiktatur“, als ein „Gericht des politischen Kampfes und nicht als Gericht im eigentlichen Sinn des Wortes“. Von Lenin selbst stammt eine Definition, die Wert und Nutzen sowjetischer Gerichtsbarkeit unmissverständlich deutlich werden ließ. Er erklärte 1922 in einem Schreiben, das Gericht „soll den Terror nicht ausschalten – dies zu versprechen wäre Selbstbetrug oder Betrug –, sondern ihn begründen und legalisieren, prinzipiell, klar, ohne Fälschung und Beschönigung“.6 Die hier zum Ausdruck kommende Spannung zwischen Ideologie und Recht wurde unter Stalin tradiert und noch einmal verstärkt. Mit dem Vormarsch der Roten Armee nach Mitteleuropa erlangte diese Form der Gerichtsbarkeit auch in den von ihr besetzten Gebieten entsprechende Geltung. Grundlage dafür war die von den Alliierten am 5. Juni 1945 herausgegebene „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands“, mit der das staatspolitische Vakuum gefüllt werden sollte, das die letzte und wenige Tage vorher verhaftete deutsche Regierung Dönitz hinterlassen hatte. Nunmehr lag die oberste Regierungsgewalt in Deutschland bei den Vertretern der alliierten Regierungen, konkret : bei dem kurz danach etablierten Alliierten Kontrollrat in Berlin und bei den einzelnen Militärregierungen in den vier Besatzungszonen. Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 erklärten die Alliierten, das sie – um NS - und Kriegsverbrecher zur ( gerichtlichen ) Verantwortung zu ziehen – die gründlich gereinigte deutsche Justiz, aber auch eigene Gerichte einzuschalten gedachten. In Artikel III.5 des Abkommens hieß es dazu : NS - und Kriegsverbrecher „sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben“.7 Die sowjetische Seite hatte freilich schon unmittelbar nach dem deutschen Überfall klar gemacht, dass sie eigene Gerichte zur Strafverfolgung einsetzen werde – nämlich die Militärtribunale, deren Kompetenzen drastisch erweitert wurden : Aufgrund des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 22. Juli 1941 über den Kriegszustand sollten sowjetische Militärtribunale in allen Gegenden, in denen der Kriegszustand erklärt worden war, für alle Straftaten gegen die Verteidigung, die öffentliche Ordnung und die Staatssicherheit zuständig sein. Diese ausgedehnten Zuständigkeiten galten ab 1944/45 nicht mehr nur für das Gebiet der Sowjetunion, sondern für alle besetzten Gebiete Ostmitteleuropas, einschließlich der SBZ. Damit verbunden war auch die Übertragung des sowjetischen Strafgesetzbuches und der sowjetischen Strafprozessordnung. Noch während des Krieges, am 19. April 1943, verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR die Weisung „Über Maßnahmen zur Bestrafung der deutschen faschistischen Übeltäter, schuldig der 6

7

Zit. nach Andreas Hilger, Sowjetische Militärtribunale in der SBZ / DDR. Ideologie und Recht. In : Verfolgung unterm Sowjetstern. Stalins Lager in der SBZ / DDR. XV. Bautzen - Forum der Friedrich - Ebert - Stiftung Büro Leipzig vom 13. und 14. Mai 2004. Dokumentation, Leipzig 2004, S. 84–93, hier 84 f. Zit. nach Wolfgang Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im VierZonen - Deutschland, München 2004 (4. Neuausgabe ), S. 69 und 213.

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Tötung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten, der Spione, der Verräter der Heimat unter den sowjetischen Bürgern und deren Mithelfern“.8 Neben der als Ukaz 43 bekannt gewordenen Rechtsgrundlage wurde von sowjetischer Seite der Paragraph 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches herangezogen, der sich gegen „konterrevolutionäre Verbrechen“ und für die „Union der SSR besonders gefährliche Verbrechen gegen die Ver waltungsordnung“ richtete. Häufige Verwendung fand dabei der Artikel 58–2, der folgenden Straftatbestand beinhaltete : „bewaffneter Aufstand, Einfall bewaffneter Banden in die UdSSR, zentrale oder lokale Ergreifung der Staatsgewalt mit konterrevolutionärer Absicht, insbesondere der Absicht, Gebietsteile von der UdSSR abzutrennen“.9 Vornehmlich in der SBZ kam hingegen das im Dezember 1945 vom Alliierten Kontrollrat erlassene Gesetz Nr. 10 zur Anwendung, welches den gerichtlichen Umgang mit aufgegriffenen NS - und Kriegsverbrechern regeln sollte. Danach waren die Besatzungsbehörden künftig berechtigt, innerhalb ihrer Zone „wegen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in Haft genommene und unter Anklage gestellte Personen zur Verhandlung vor ein dafür geeignetes Gericht zu bringen“.10 Was unter einem „geeigneten Gericht“ zu verstehen war, entschieden die Zonenbefehlshaber selbstverständlich selbst. Während in der Sowjetunion in verstärktem Maße die „besonderen Beratungen des Innenministeriums“ und die höchsten Militärkollegien zur Strafahndung herangezogen wurden, urteilten in der SBZ fast ausschließlich Militärtribunale, die auf Divisionsebene, Länderebene und zentraler Ebene existierten. Ab 1948/49 kam es zudem zur Einrichtung von SMT in Truppenteilen, die unter den entsprechenden Feldpostnummern ( wie das SMT 48 240) firmierten. Ein Wesensmerkmal all dieser Verfahren war die generell dominierende Stellung der sowjetischen Sicherheitsapparate. Deren operative Organe verhafteten die Beschuldigten und führten anschließend die Untersuchungen bis hin zur Erstellung von Anklageschriften, so dass die jetzt erst in Erscheinung tretenden Militärstaatsanwälte und Gerichtsvertreter nur noch über einen eingeschränkten Handlungsspielraum verfügten. Festzuhalten bleibt, dass die sowjetische Sonderjustiz bei der Aburteilung deutscher Militärs mehrheitlich auf den Ukaz 43 als Rechtsgrundlage zurückgriff,11 während ihre Organe in der SBZ deutsche Zivilisten mehrheitlich nach Artikel 58–2 und dem Kontrollratsgesetz Nr. 10

8 Natalja Jeske / Ute Schmidt, Zur Verfolgung von Kriegs - und NS - Verbrechen durch sowjetische Militärtribunale in der SBZ. In : Hilger / Schmeitzner / Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 155–192, hier 156. 9 Zit. nach Friedrich - Christian Schroeder, Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch Sowjetische Militärtribunale. In : ebd. S. 37–58, hier 50. 10 Zit. nach ebd., S. 38. 11 Vgl. Friedrich - Christian Schröder, Das Sowjetrecht als Grundlage der Prozesse gegen deutsche Kriegsgefangene. In : Hilger / Schmidt / Wagenlehner ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 1, S. 69–92, hier 85.

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aburteilten.12 Beim Strafmaß dominierten gleichermaßen hohe Lagerhaftstrafen ( in der Regel 20 bzw. 25 Jahre ) und die Todesstrafe, die vor allem in den Jahren zwischen 1945 und 194713 exzessiv verhängt wurde.14 Insgesamt wurden rund 70 000 deutsche Kriegsgefangene und Zivilisten verurteilt, wobei beide Personengruppen etwa gleich stark vertreten waren. Im Falle der verurteilten Militärs über wogen die zur Last gelegten NS - und Kriegsverbrechen.15 Bemerkenswert erscheint, dass in diesem Segment vor allem hochrangige Gefangene in das Visier der sowjetischen Strafbehörden gerieten, darunter über 70 Prozent der gefangenen Generale, acht bis zehn Prozent der Offiziere und Stabsoffiziere und ungefähr ein Prozent der kriegsgefangenen Mannschaften und Unteroffiziere.16 Anders im Falle der verurteilten deutschen Zivilisten : Hier dominierten die Willkür - und Widerstandsdelikte, wogegen NSund Kriegsverbrechen nur mit etwa einem Fünftel der Gesamtbilanz zu Buche schlugen.17 Betrachtet man beide Segmente ( Militärs und Zivilisten ) näher, lassen sich deutliche Spezifika feststellen. So ver wundert es nicht, dass die juristische Verfolgung deutscher Militärs lange vor dem 8. Mai 1945 begonnen hatte. Nur wenige Wochen nach Verkündung des Ukaz 43 fand bereits ein erster öffentlicher Prozess gegen sowjetische „Komplizen“ in Krasnodar ( Juli 1943) statt. Im Dezember 1943 folgte dann der erste Prozess gegen deutsche Militärangehörige in Charkov, denen die massenhafte Tötung von Rotarmisten und Zivilisten vorgeworfen wurde. Wie schon im Prozess von Krasnodar legte das Gericht den Ukaz 43 zugrunde und verhängte ( anders als dort ) in jedem Fall die Todes-

12 Vgl. Hilger / Schmeitzner / Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 784 ff. 13 Zwischen 1947 und 1950 hatte das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR die Todesstrafe ausgesetzt; danach wurde sie wieder verhängt. 14 Nach neuesten Analysen eines Forschungsprojektes der Stiftung sächsischer Gedenkstätten, des Hannah - Arendt - Institutes für Totalitarismusforschung und des Zentrums für Zeithistorische Forschungen mit Unterstützung der Stiftung Aufarbeitung SED wurden zwischen 1945 und 1947 ca. 3 000 Todesurteile allein gegen deutsche Zivilisten verhängt, von denen über 2 000 vollstreckt wurden. Bei der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um NS - und Kriegsverbrecher. Eine Dokumentation der Forschungsergebnisse wird 2011 vorliegen. 15 Bei den vom HAIT erfassten Fälle ließen sich ca. 20 000 Urteile nach Ukaz 43, ca. 4 000 nach Art. 58 ( konterrevolutionäre Verbrechen ) und 59 ( besonders gefährliche Verbrechen gegen die Ver waltungsordnung ), ca. 5 000 nach Ukaz 47 ( Verbrechen gegen das Vermögen ) und ca. 1 000 nach Art. 193 StGB RSFSR ( Militär verbrechen ) ermitteln. Vgl. Hilger / Schmidt / Wagenlehner ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Einleitung, S. 7–21, hier 14 f. 16 Ebd., S. 16. 17 In dem 2003 beendeten Forschungsprojekt des HAIT waren von den damals 25 000 (der insgesamt 35 000) bekannten SMT - verurteilten deutschen Zivilisten ca. 18 Prozent als Kriegs - und NS - Verbrecher ausgewiesen worden. Aufgrund weiterer Recherchen der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten und des o.g. gemeinsamen Verbundprojektes zu den frühen Todesurteilen in der SBZ (1945–1947) kann mittler weile von einem höheren Prozentsatz der verurteilten Kriegs - und NS - Verbrecher ausgegangen werden.

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strafe. Beide Prozesse können als Vorspiel zweier Prozesswellen angesehen werden, die von der Moskauer Führung zur Jahreswende 1945/46 und im Herbst 1947 in Gang gesetzt wurden. Während die erste Welle acht öffentliche Verfahren mit insgesamt 86 Angeklagten verzeichnete, umfasste die zweite Welle neun öffentliche Verfahren mit 135 Beschuldigten.18 In beiden Verfahrenswellen standen zumeist hohe Offiziere, darunter Dutzende Generale, vor Gericht, die im ersten Fall in eine Flut von Todesurteilen mündete ( nämlich 67, darunter alle 18 Generale ), im zweiten „lediglich“ in langjährige Haftstrafen. Von völlig anderer Qualität waren dagegen die nichtöffentlichen Massenprozesse gegen ca. 15 000 deutsche Militärs in den Jahren 1949/50. Hierbei handelte es sich um eine reine „Farce kollektiver Prozesse“, die auf direktem Druck aus Moskau erfolgten, um einen nicht geringen Teil der deutschen Kriegsgefangenen als „Faustpfand im Kalten Krieg“ einzubehalten.19 Die Verfahren gegen deutsche Zivilisten in der SBZ und frühen DDR lassen sich dagegen weder in die Kategorie von Prozesswellen noch in solche von zeitlich eng begrenzten Massenprozessen einordnen. Sie fanden darüber hinaus in einem schmaleren zeitlichen Korridor statt : Zwischen den ersten (1945) und den letzten Prozessen wegen NS - Verbrechen lagen in der SBZ lediglich fünf Jahre,20 während die in der UdSSR verurteilten Militärs mit einer beinahe doppelt so hohen Verfolgungsdauer zu rechnen hatten. In gewisser Hinsicht lässt sich für die SBZ von einer kontinuierlicheren juristischen Verfolgung sprechen, die sich auf die ersten drei bis vier Jahre nach 1945 konzentrierte. Verfolgt wurden dabei Delikte, die auf sowjetischem und deutschem Boden begangen worden waren. Im Fokus der sowjetischen Ermittler standen sowohl NSDAP - Gauleiter, Oberbürgermeister und Landräte als auch Angehörige von KZ - Wachmannschaften und Polizei - Reser vebataillonen. Zur Aburteilung gelangten zudem einfache Parteigenossen der NSDAP und Mitglieder ihrer Organisationen als auch tatsächliche oder vermeintliche Wer wolf - Aktivisten. Bezeichnender weise handelte es sich bei diesen Prozessen fast durchweg um nichtöffentliche Prozesse. Eine Ausnahme bildete lediglich der Berliner Sachsenhausen - Prozess vom Herbst 1947, in dessen Verlauf Angehörige der KZ - Wachmannschaft verurteilt wurden.

18 Die erste Welle der Prozesse fand in Smolensk, Brjansk, Leningrad, Nikolaew, Minsk, Kiew, Velikie Luki und Riga statt, die zweite Welle in Stalino, Bobrjusk, Sewastopol, Cernigov, Poltava, Kisinew, Novgorod, Gomel und Vitebsk. Vgl. Manfred Zeidler, Stalinjustiz contra NS - Verbrechen. Die Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR in den Jahren 1943–1952. Kenntnisstand und Forschungsprobleme, Dresden 1996, S. 27–33. 19 So die treffende Bezeichnung von Andreas Hilger, Faustpfand im Kalten Krieg ? Die Massenverurteilungen deutscher Kriegsgefangener 1949/50 und die Repatriierung Verurteilter 1950 bis 1956. In : Hilger / Schmidt / Wagenlehner ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 1, S. 211–271, hier 271. 20 Für die Jahre nach 1950 lassen sich in dieser Kategorie nur noch einzelne Urteile nachweisen. Vgl. Hilger / Schmeitzner / Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 795–800.

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Legitimität und Propaganda oder die Schwierigkeit, mithilfe der Stalin - Justiz NS - Verbrechen zu ahnden

Angesichts der staatsterroristischen Praxis des NS - Regimes gegen Teile der eigenen Bevölkerung und der ungeheuren Massenverbrechen im Zuge seines rassenideologischen Vernichtungskrieges erschien die Strafverfolgung von deutschen Kriegs - und NS - Verbrechern zweifellos als ein legitimes und notwendiges Vorhaben. Nationalsozialistische Tatkomplexe waren reichlich vorhanden : Der Bogen spannte sich hier vom Machtergreifungsterror der SA und SS und den frühen Lager verbrechen über die Judenverfolgung im Dritten Reich bis zum Holocaust, der in der Mitte Europas fabrikmäßig und im Rücken der Ostfront improvisiert ablief. Dass die Sowjetunion von Hitlers Vernichtungskrieg besonders intensiv betroffen war, steht außer Frage : Hier hatten sich monströse Verbrechen abgespielt und nirgendwo sonst hatte dabei eine derartige „Vielzahl beteiligter deutscher Täterinstitutionen und - gruppen einschließlich der Wehrmacht“ mitgewirkt. Allein die Zahlen der Ermordeten sprechen eine deutliche Sprache : An Opfern waren auf sowjetischer Seite über zweieinhalb Millionen Juden, ca. drei Millionen Kriegsgefangene und etwa zwei Millionen nicht - jüdische Zivilisten zu beklagen, wobei letztere „bei ‚Partisanen‘ - Aktionen und der Rückzugsstrategie der ‚Verbrannten Erde‘ ermordet wurden“.21 Hinzu kamen immense materielle Verluste infolge der Kriegshandlungen. Die Sowjetunion hatte also gute Gründe, solche und andere Taten zu ahnden und die Täter juristisch zu verfolgen. Sie tat es auch, wie schon erwähnt, mit ersten Prozessen ab 1943 und der Bereitschaft, die inter - alliierte Verfolgungspraxis ( die ihren Höhepunkt im IMT in Nürnberg hatte ) zu unterstützen. Doch die Instrumentarien und Methoden, derer sie sich dabei bediente, unterschieden sich gravierend von denen der West - Alliierten. Auf welche Traditionen die sowjetische Sonderjustiz zurückging, wurde bereits beschrieben. Dass auch beim methodischen Vorgehen rechtsstaatliche Prinzipien keine Bedeutung erlangten, lag bei diesen materiellen Voraussetzungen auf der Hand, hatte aber auch mit der eingeübten stalinistischen Prozess - Praxis zu tun. Um nicht missverstanden zu werden : In einem erheblichen Teil der Fälle erfolgten Strafverfolgung und Verurteilung zu Recht. SS - Generale wie Friedrich Jeckeln waren Massenmörder, die juristisch ebenso verfolgt werden mussten wie etwa NSDAP - Gauleiter ( so z. B. Martin Mutschmann ), die bereit gewesen waren, den Machtergreifungsterror zu organisieren und zu legitimieren, oder Angehörige von KZ - Wachmannschaften, die sich an der Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener beteiligt hatten. Was all diese Fällen so problematisch macht, waren die völlig unzureichenden Mittel, mit denen die Verfahren im Einzelnen durchgeführt wurden : Die enge Symbiose von sowjetischen Sicherheitsdiensten und Sonderjustiz hatte verheerende Auswirkungen auf den Verlauf die-

21 Hilger, „Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf ?“, S. 185.

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ser Verfahren. So wurden Beschuldigte während der Vernehmungen häufig physisch und psychisch gefoltert, um ihnen die für die stalinistische Rechtspraxis so entscheidenden „Geständnisse“ abzuringen. In vielen Fällen wurde von den Gerichten nicht einmal der Versuch unternommen, den Angeklagten eine individuelle Schuld nachzuweisen; oft ergingen Urteile aufgrund der früheren Funktion im NS - Regime. Auf fundamentale Rechte mussten die meisten Angeklagten gleichfalls verzichten : Während es im Zuge von „besonderen Beratungen des Innenministeriums“ nicht einmal zur Anhörung der Betroffenen kam, wurden ihnen in SMT - Prozessen meist Verteidiger und angemessene Übersetzung vorenthalten.22 Signifikant war zudem, dass die große Masse der Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Faktisch handelte es sich hierbei um Geheimprozesse, die für die stalinistische Rechtspraxis ebenfalls symptomatisch waren. Und in jenen Fällen, in denen dies nicht zutraf, handelte es sich um bewusste Inszenierungen aus propagandistischen Gründen. Sichtbar wurde dies im Falle der in der Sowjetunion ins Werk gesetzten Prozesswellen von 1945/46 und Herbst 1947 – und ebenso im Falle des in der SBZ stattgefundenen Sachsenhausen Prozesses ( Herbst 1947). Stand für die Moskauer Führung bei ersteren eine Demonstration der durch die deutschen Verbrechen verursachten Bevölkerungsverluste und materiellen Zerstörungen im Vordergrund, so sollte die sowjetische „Exportausführung“23 in Sachsenhausen die Ernsthaftigkeit sowjetischer Entnazifizierung unter Beweis stellen. Man mag darüber streiten, ob diesen Prozessen der Charakter von Schau - oder Demonstrationsprozessen zukam, rechtsstaatlichen Charakter hatten sie jedenfalls trotz einer durchgängig zur Schau gestellten „demonstrativen Rechtsförmigkeit“ nicht. Zweifellos unterschieden sich solche öffentlich und sorgsam initiierte Verfahren von den Moskauer Prozessen der 30er Jahre, in denen hochrangige Gegner und Konkurrenten Stalins mit Hilfe frei erdachter „Taten“ verurteilt worden waren. Im Falle der Kriegsverbrecherprozesse mussten „strafrechtlich relevante Tatbestände nicht eigens erfunden werden“, Täter und Taten ließen sich klar definieren.24 Ungeachtet dieser Differenz erfüllten aber auch jene Prozesse die charakteristischen Merkmale stalinistischer Schauprozesse : die Präparierung und die „Geständnisse“ der Angeklagten, die deduzierten Indizien der Anklage, der rechtsförmige Prozessablauf sowie die umfassende Einbindung der Öffentlichkeit während des 22 Hilger, Sowjetische Militärtribunale, S. 90 f. 23 So Nikita Petrov, Deutsche Kriegsgefangene unter der Justiz Stalins. Gerichtsprozesse gegen Kriegsgefangene der deutschen Armee in der UdSSR 1943–1952. In : Stefan Karner ( Hg.), „Gefangen in Russland“. Die Beiträge des Symposiums auf der Schallaburg 1995, Graz 1995, S. 176–221, hier 199. 24 Hilger, „Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf ?“, S. 215. Während Hilger ( ebd.) aufgrund der tatsächlichen deutschen Verbrechen nur von „Demonstrationsprozessen“ sprechen will, plädiert Zeidler für den Begriff „Schauprozess“. Vgl. Manfred Zeidler, Der Minsker Kriegsverbrecherprozess vom Januar 1946. Kritische Anmerkungen zu einem sowjetischen Schauprozess gegen deutsche Kriegsgefangene. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 52 (2004), S. 211–244.

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Verfahrens und die systematische publizistisch - propagandistische Prozessauswertung.25 Wie dies im Einzelnen aussah, wird noch dargestellt. Verallgemeinerbar ist hingegen die Beobachtung, dass die Prozessführung, vor allem aber die propagandistische Auswertung, eine hohe politisch - ideologische Konnotation aufwies. Dies wird etwa bei dem Thema Holocaust deutlich, dem die sowjetischen Justiz - und Presseorgane mit einer „politisch gewollten Einebnung“ begegneten.26 In den Berichten über die Kriegsverbrecherprozesse erschienen ermordete sowjetische Juden nicht als Juden, sondern in der Regel als „friedliche Sowjetbürger“ ohne jedweden ethnischen Bezug – auch in der SBZ, in der die „Tägliche Rundschau“ und die zahlreichen Parteizeitungen der SED die TASS - und SNB - Informationen verbreiteten.27 Die weitgehende Ausblendung des eigentlich bedeutendsten Verbrechenskomplexes dürfte einerseits auf Stalins eigenem Antisemitismus, andererseits auf die ideologische und patriotische Überhöhung des angegriffenen sowjetischen Staatswesens zurückzuführen sein.28 Eine politisch - ideologische Konnotation wird überdies in all jenen Verfahren deutlich, in denen es darum ging, eigene sowjetische Verbrechen dem NS - Gegner anzulasten oder die juristische Auseinandersetzung mit NS - Tätern als Teil einer wesentlich größer angelegten Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus erscheinen zu lassen.29 In dieses Schema passten auch die propagandistischen Winkelzüge von SEDZeitungen, die im Auftrag von SMAD und SNB immer wiederkehrende Verhaftungswellen gegen deutsche Jugendliche zu rechtfertigen versuchten, die wohl als Ausfluss sowjetischer Sicherheitsphobien zu betrachten waren. Empörte Vorhaltungen West - Berliner Tageszeitungen „entlarvten“ SED - Organe immer wieder als „gemeine Lügen“. Bei den Festgenommen handele es sich um „nazistische und andere Verbrecher“, eine „Terroristengruppe“ oder eine „Verschwörerbande ehemaliger HJ - Führer“ – mit anderen Worten : um „Wer wölfe“, die Sabotageakte auf Sowjetsoldaten geplant hätten.30 Wie unangenehm der sowjetischen Seite diese Berichte waren, lässt sich an den Gegenangriffen ablesen, die die SED - Presse unternahm : Vor allem der sozialdemokratisch orientierten Zeitung „Telegraf“ warf die SED „Lügenkampagnen“ für die Freiheit von „Wer wölfen“ und „nazistischen Siemens - Direktoren“ vor : „Das ist das Gesicht einer Zei25 Winfried Meyer, Stalinistischer Schauprozess gegen KZ - Verbrecher ? Der Berliner Sachsenhausen - Prozess vom Oktober 1947. In : Dachauer Hefte, 13 (1997), S. 153–180, hier 154 f., bezieht sich bei dieser Kategorisierung auf Theo Pirker. Dass die Präparierung von Beschuldigten auch per Folter erfolgte, weist Zeidler, Minsker Kriegsverbrecherprozess, S. 238 f., nach. 26 So Hilger, „Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf ?“, S. 184. 27 Vgl. z. B. die Berichterstattung der Täglichen Rundschau über den „Kriegsverbrecherprozess in Brjansk“ vom 28. und 29. 12. 1945. 28 Vgl. Hilger, „Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf ?“, S. 184. 29 Vgl. ebd., S. 187 und 199. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Jörg Osterloh in diesem Band. 30 Volksstimme der SED Brandenburg vom 14. 8. 1946 : „Gemeine Provokation entlarvt“, und vom 18. 9. 1946 : „Terror und Sabotage. Verschwörerbande ehemaliger HJ - Führer“.

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tung, die obendrein Anspruch darauf erhebt, die Traditionen und den Geist der Partei Liebknechts und Bebels fortzusetzen. Auch der ‚Völkische Beobachter‘ nannte sich bekanntlich eine ‚sozialistische‘ Zeitung, und es dauerte zwölf bittere Jahre, ehe der Betrug, den er mit einem ganzen Volke trieb, offenbar wurde. Die Demagogie und die Lügen des ‚Telegraf‘ aber werden keine solchen langen Beine haben.“31

3.

Schauprozesse – Geheimverfahren – „Grenzfälle“. Fallbeispiele sowjetischer NS - Abrechnung

Kehrt man noch einmal zur der einleitenden Fragestellung zurück, ob und inwieweit die sowjetische Verurteilungspraxis öffentlichkeitsrelevant gewesen ist, fällt die Antwort hinsichtlich der SBZ recht nüchtern aus. Die meisten Prozesse fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und jene Prozesse, die öffentlich präsentiert wurden, waren von vornherein propagandistisch „zugerichtet“. Auffällig ist, dass die „Tägliche Rundschau“ nur sehr selten über sowjetische Verfahren auf dem Boden der SBZ berichtete und damit allen anderen Periodika erst eine Informationsgrundlage lieferte. Wenn sie überhaupt über Einzelfälle berichtete, dann über Angehörige von Polizei - Reser vebataillonen, antisowjetisch agierende „Wer wölfe“ oder jüdische „Gestapo - Agenten“ wie Stella Kübler oder Hermann Löwenthal.32 Demgegenüber nahmen die Berichte über die beiden Prozesswellen von 1945/46 und Herbst 1947 und die Nürnberger Prozesse (1945–1949) einen erstaunlich breiten Raum in den Spalten der „Täglichen Rundschau“ ein. Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass die in der Sowjetunion exekutierten Kriegsverbrecherprozesse und der Berliner Sachsenhausen - Prozess das Herzstück der Berichterstattung und Propaganda in der SBZ gewesen sind. Auch aus diesem Grund verdienen sie – fallweise – eine genauere Betrachtung. Vor den Ausführungen zum Sachsenhausen - Prozess sollen anhand des „Leningrader Prozesses“ (29. 12. 1945–5. 1. 1946) die typischen Merkmale eines solchen Kriegsverbrecherprozesses, aber auch einige Besonderheiten dieses Verfahrens dargestellt werden. Dies erscheint deswegen sinnvoll, weil der Leningrader Prozess mit seiner propagandistischen Ausrichtung sowohl auf die internationale Ebene als auch auf die SBZ zielte. Die wesentlichen Punkte der Anklage unterschieden sich von denen anderer Prozesse kaum : Elf Offizieren ( darunter mit Generalmajor Heinrich Remmlinger der ehemalige Kommandant von Pskow) wurde vorgeworfen, im Leningrader Gebiet Zehntausende Zivilisten 31 Volksstimme der SED Brandenburg vom 19. 11. 1946 : „Will die Welt betrogen sein ?“. 32 Vgl. etwa Tägliche Rundschau vom 16. 1. 1946 : „Naziverbrecher in Eisenbahneruniform“, vom 17. 3. 1946 : „Stella Kübler – die Gestapoagentin“, vom 17. 9. 1946 : „Eine Terroristengruppe vor Gericht“, vom 18. 9. 1946: „Der Fall Löwenthal“, vom 20.5.1947: „Eine Verbrecherin verurteilt“, vom 2. 7. 1947 : „Der verdienten Todesstrafe entgangen“, und vom 9. 8. 1947 : „Ungeheuerliche Verbrechen“.

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ermordet und Hunderttausende Sowjetbürger zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt zu haben.33 Typisch waren auch der rechtsförmige Ablauf des Prozesses, in dem ( sowjetische ) Verteidiger zum Einsatz kamen, die massive Einbeziehung der Öffentlichkeit, die offizielle Sprachregelung („hitleristische Kannibalen“, „faschistische Bande“) und die öffentliche Vollstreckung der acht Todesurteile ( vor dem Leningrader Theater „Gigant“).34 Die Frage, ob und inwieweit die Angeklagten präpariert worden waren, lässt sich – noch wesentlich deutlicher als bei vergleichbaren Prozessen – anhand eines Anklagepunktes belegen, der die propagandistische Note dieses Prozesses in beinahe singulärer Weise verdeutlicht. In einer ersten Teilverlautbarung über den Prozess berichtete nämlich die „Tägliche Rundschau“ der SMAD unter der Zwischenüberschrift „Das Blutbad von Katyn“ über bemerkenswerte Verhörergebnisse : „Die Aussagen der Angeklagten ergeben ein grauenvolles Bild : Morde, Deportierungen, Raub und Brandstiftung. Das Verhör von Düre bringt neue Einzelheiten über die ungeheuerliche Bluttat der Faschisten im Walde von Katyn, wo Tausende von Menschen erschossen wurden. Der Staatsankläger : ‚Wer waren die Erschossenen ?‘ Düre: ‚Das waren polnische Offiziere, Russen, Juden ...‘ Der Staatsankläger : ‚Können Sie ungefähr angeben, wieviel[ e ] von den Erschossenen in die Gräber geworfen wurden ?‘ Düre : ‚15 000 bis 20 000 Personen.‘ Düre sagt aus, dass er in den deutsche Zeitungen Aufnahmen dieser Gräber gesehen habe mit einer Unterschrift, dass angeblich die Russen diesen Massenmord begangen hätten.“35 Dieser Aspekt des Leningrader Prozesses bildete den Auftakt für eine intensive öffentliche und juristische Kampagne Moskaus, um den Massenmord an etwa 25 000 polnischen Offizieren den Deutschen gleich mit aufzubürden. Hatten – neben der „Täglichen Rundschau“ – auch viele andere Zeitungen der SBZ ihren Beitrag zur Umdeutung des Verbrechens von Katyn geleistet, so wurde die Propaganda noch einmal beträchtlich verstärkt, als der sowjetische Ankläger beim Internationalen Militärtribunal in Nürnberg, Oberst Juri Pokrowski, nur kurze Zeit später weitere angebliche Details bekannt gab. Auch wenn sich die westlichen Alliierten in Nürnberg der sowjetischen Interpretation verschlossen und dieses „Verbrechen“ nicht in den weiteren Prozessverlauf mit einbezo-

33 Tägliche Rundschau vom 3. 1. 1946 : „Der Leningrader Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher“. 34 Tägliche Rundschau vom 6. 1. 1946 : „Acht Todesurteile im Leningrader Prozess“. Im Laufe des Prozesses bemühte die Anklage noch einen Sachverständigen für Architektur und den Sekretär des Metropoliten von Leningrad und Nowgorod, die über Zerstörungen und „Schändungen“ von Gebäuden ( auch Kirchen ) berichteten. Zudem wurde von der Anklage ein Dokumentarfilm „über die deutsch - faschistischen Gräueltaten im Leningrader Bezirk“ vorgeführt. Vgl. Tägliche Rundschau vom 4. 1. 1946 : „Vernehmungen im Leningrader Prozess abgeschlossen“. 35 Tägliche Rundschau vom 3. 1. 1946 : „Der Leningrader Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher“. Der deutsche Offizier Arno Düre war zweifellos unter psychischen und physischen Druck gesetzt worden.

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gen,36 hatte Moskau ein wichtiges Teilziel erreicht und mit dieser „Wahrheit über Katyn“37 den Grundstein einer bis zuletzt geleugneten Geschichtsfälschung gelegt. Im Leningrader Prozess ist nach derzeitigem Kenntnisstand kein deutscher Angeklagter direkt wegen des Massenmordes in Katyn verurteilt worden. Alle elf Offiziere wurden vielmehr summarisch folgender Verbrechen für schuldig befunden : „Massenerschießungen, Bestialitäten, Gewalttaten gegen die friedliche Sowjetbevölkerung, Niederbrennung und Ausplünderung von Städten und Dörfern und Verschleppung von Sowjetbürgern in die deutsche Sklaverei.“38 Bevor mit dem Sachsenhausen - Prozess die „Exportausführung“ ( Nikita Petrov ) der sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse in der Sowjetzone startete, unternahm Moskau einen wichtigen Zwischenschritt auf diesem Weg, um den deutschen Resonanzboden auszutesten. Am 8. August 1947 unterrichtete die Staatsanwaltschaft der SMAD auf einer Pressekonferenz im Klub des Sowjetischen Nachrichtenbüros Journalisten über einen nichtöffentlichen Prozess gegen ehemalige Angehörige des 9. Polizei - Reser vebataillons. In dem gerade zu Ende gegangenen Verfahren hatte das SMT Berlin 170 dieser Angehörigen wegen der „Ermordung von 97 000 Sowjetbürgern“39 zu Freiheitsstrafen von zehn bis 25 Jahren verurteilt.40 Als Rechtsgrundlage diente der Ukaz 43. Obwohl die Angeklagten auf Verteidiger verzichten mussten und der Prozess hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatte, fand die Vorgehensweise der Sowjets in der Presse „in Ost und West ein weitgehend positives Echo“,41 was vor allem auf eine Ursache zurückzuführen ist : Interessierte Journalisten hatten die Möglichkeit erhalten, drei der Verurteilten in der Vorzone des Speziallagers Sachsenhausen zu sprechen, um sich ein eigenes Bild machen zu können.42 Nun war der Weg frei für den Sachsenhausen - Prozess, der in der letzten Oktober woche 1947 im Rathaus Berlin - Pankow über die Bühne ging. Vor dem SMT der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland standen 36 Der „Fall Katyn“ wurde aus „Mangel an Beweisen“ aus dem Nürnberger Prozess ausgeklammert. Vgl. Victor Zaslavsky, Klassensäuberung. Das Massaker von Katyn, Berlin 2008, S. 71–74; zu den Details der sowjetischen Sonderkommission und des Nürnberger Verfahrens vgl. Gerd Kaiser, Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsgeheimnis, Berlin 2002, S. 213–235. 37 Eine der wohl vorgefertigten Schlagzeilen lautete im brandenburgischen SPD - Organ „Der Märker“ vom 22. 2. 1946 „Endlich die Wahrheit über Katyn“. 38 Tägliche Rundschau vom 6. 1. 1946 : „Acht Todesurteile im Leningrader Prozess“. 39 Tägliche Rundschau vom 9. 8. 1947 : „Ungeheuerliche Verbrechen“. Dass die Masse der Ermordeten Juden gewesen waren, wurde eher beiläufig erwähnt. Sie rangierten in der Aufzählung durch das SMAD - Blatt an letzter Stelle : „Bei allen aufgezählten Operationen wurden vor allem die Funktionäre der Sowjets, der Partei, der Kollektivwirtschaften und Gewerkschaften, Vertreter der Sowjetintelligenz, Teilnehmer der Partisanenbewegung und Sowjetbürger jüdischer Nationalität erschossen.“ 40 Mindestens drei der Angeklagten wurden frei gesprochen. Vgl. Jeske / Schmidt, Verfolgung, S. 181. 41 Vgl. ebd., S. 182. 42 Ebd. und Tägliche Rundschau vom 9. 8. 1947 : „Ungeheuerliche Verbrechen“.

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vor allem 13 frühere Angehörige der SS - Wachmannschaft des KZ Sachsenhausen, darunter mit Anton Kaindl der frühere KZ - Kommandant.43 Ihnen wurden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, wobei die Tatsache, dass in diesem Lager Tausende sowjetische Kriegsgefangene ermordet worden waren,44 gewiss das Hauptmotiv für das Verfahren gewesen sein dürfte. Den Sowjets lag viel daran, das KZ als „Vernichtungsstätte“ in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ein gleichfalls produzierter Film trug den Titel „Todeslager Sachsenhausen“ und die Presse berichtete von Hunderttausend Häftlingen, die „methodisch vernichtet“ worden seien, was auf eine bewusste Überzeichnung hinauslief.45 Trotz der monströsen Verbrechen verhängte das Gericht „lediglich“ Freiheitsstrafen zwischen fünfzehn Jahren und lebenslänglich. Diese Urteile erschienen vergleichsweise milde; bemerkenswert war ebenso die Tatsache, dass mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 alliiertes Recht zugrunde gelegt worden war. Doch der ganz auf Öffentlichkeit und internationale Resonanz abgestellte Prozess hatte eine Vorgeschichte, die damals unbesprochen blieb : Ein weiterer Teil der Wachmannschaft war nämlich schon vor dem Mai 1947, dem Datum der Aussetzung der Todesstrafe in der UdSSR, nach sowjetischem Recht und ohne Öffentlichkeit zum Tode verurteilt und exekutiert worden. Dass der Prozess auch ohne dieses Wissen nicht die ungeteilte positive Resonanz der Öffentlichkeit erfuhr, beruhte auf den präparierten Auslassungen bzw. „Geständnissen“ der Angeklagten. Besonders grotesk musste es wirken, wenn ausgerechnet der einstige Lagerkommandant Kaindl im Schlusswort zum Kapitalismuskritiker per Exzellenz avancierte. „Tief erschüttert“ zeigte er sich nicht nur über die begangenen Verbrechen und den im Gerichtsraum aufgeführten Dokumentarfilm, sondern auch über die „unheilvolle Einwirkung [...] der Groß - Konzerne der Kriegsverbrecher“, denen es „doch nur darum“ gegangen sei, „Profit herauszuschlagen“. Die „enge Bindung der obersten Führung mit dem Monopolkapital“ hielt er für erwiesen.46 Letztendlich waren es jedoch nicht diese obskuren Geständnisse sowie die wenig glaubhaften Reueschwüre und Dankesbekundungen der verurteilten SS - Angehörigen an die sowjetische Justiz,47 die das Bild der sowjetischen NS - Prozesse prägten, sondern die massenhafte Praxis der Geheimverfahren. Denn in diesen Schnellverfahren spielten „Geständnisse“ eine noch 43 Angeklagt und verurteilt wurden zudem zwei ehemalige Häftlinge und ein Zivilist. Vgl. Jeske / Schmidt, Verfolgung , S. 186. 44 Bei einer der größten Massentötungsaktionen in der Geschichte des KZ Sachsenhausen waren bis Ende Oktober 1941 von ca. 12 000 eingelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen über 9 000 in einer eigens gefertigten Genickschussanlage getötet worden. Weitere starben in der Folge „an Hunger, Entkräftung und Krankheit“. Wolfgang Benz / Barbara Diestl ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 3 : Sachsenhausen und Buchenwald, München 2006, S. 64. 45 Tägliche Rundschau vom 30. 10. 1947 : „Hunderttausend methodisch vernichtet“. Vgl. auch Jeske / Schmidt, Verfolgung, S. 188. 46 Zit. nach Meyer, Stalinistischer Schauprozess, S. 160. 47 Ebd., S. 160 f.

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viel größere Rolle, da auf schriftliche Beweise und Zeugenaussagen zumeist völlig verzichtet wurde. Dass damit auch in wesentlich stärkerem Maße Zufälligkeiten das Bild der Ermittlungen bestimmten und der juristischen wie historischen Aufklärung schadeten, ist nicht ver wunderlich. In welch eklatanter Weise dies geschehen konnte, zeigt das Beispiel des Euthanasie - Arztes und Leiters der Landesanstalt Brandenburg - Görden, Hans Heinze. Er, der eine Schlüsselfigur der Kinder - Euthanasie gewesen war, wurde vom sowjetischen Sicherheitsdienst im Herbst 1945 als „Propagandist“ verhaftet und im März 1946 von einem SMT nach Artikel 58–2 („Einfall bewaffneter Banden“) zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt. Dass die sowjetische Seite einen der wichtigsten Euthanasie - Täter vor sich hatte, scheint sie nicht sonderlich interessiert zu haben, ver wandte sie doch „keine Mühe darauf“, schriftliche Belege zu recherchieren.48 Doch genau dieses Vorgehen war – wie schon mehrfach erwähnt – kein Einzelfall, sondern Teil der stalinistischen Rechtspraxis, die auch im Falle des vormaligen Schwarzenberger Oberbürgermeisters Ernst Rietzsch entsprechende Früchte trug. Führende KPD - Funktionäre hatten Rietzsch im Sommer 1945 aufgrund früherer, vor der NS - „Machtergreifung“ geführter Auseinandersetzungen verhaftet und mehrere Monate später den „Freunden“ übergeben. Erst während der Vernehmungen wurde durch Rietzschs eigene Auslassungen bekannt, dass er nicht nur als langjähriger Oberbürgermeister und NS - Aktivist in Sachsen tätig gewesen war, sondern 1941/42 auch als hoher Ver waltungsbeamter der Wehrmacht in Weißrussland, wo er qua Amt „Judenangelegenheiten“ zu bearbeiten hatte. Auch wenn damit die Vermutung einer Schlüsselrolle bei der örtlichen Judenvernichtung nahe lag, wurde dies nicht zum Anlass genommen, die konkrete Tatbeteiligung nachzuweisen. Dem SMT Sachsen genügte die Tatsache, dass Rietsch diese Funktion auf besetztem sowjetischem Boden ausgeübt hatte, um ihn im April 1946 nach Artikel 58–2 zum Tode zu verurteilen und drei Wochen später exekutieren zu lassen. Es waren somit seine eigenen ( wohl in Unkenntnis der Situation ) getätigten Auslassungen gewesen, die seine sofortige Verurteilung nach sich zogen, keineswegs aber Recherchen des SMT.49 Anders lagen die Fälle der NSDAP - Gauleiter von Sachsen ( Martin Mutschmann ) und Magdeburg - Anhalt ( Rudolf Jordan ). Nachdem die sowjetische Seite Mutschmann im Mai 1945 aus den Händen deutscher Antifaschisten und Jordan Mitte 1946 aus britischem Gewahrsam überstellt bekommen hatte, ließ sie zu beiden belastendes Material und Zeugenaussagen recherchieren. Doch als ihr Vorhaben scheiterte, Mutschmann als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg 48 Klaus - Dieter Müller, Justitielle Aufarbeitung von „Euthanasie“ - Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg und heute – Das Beispiel Hans Heinze (1895–1983). In : Boris Böhm / Norbert Haase ( Hg.), Täterschaft – Strafverfolgung – Schuldentlastung. Ärztebiografien zwischen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und deutscher Nachkriegsgeschichte, Leipzig 2007, S. 63–85, hier 72. 49 Nancy Aris, Recherchebericht zur Tätigkeit von Dr. Ernst Albrecht Rietzsch während der NS - Zeit. In : 13. Tätigkeitsbericht 2004/2005 des Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Dresden 2005, S. 66–77.

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anklagen zu lassen, verlor sie jegliches Interesse an einem öffentlichen Prozess. Erst im Januar 1947 machte sie Mutschmann in einem Moskauer Geheimverfahren den Prozess und ließ ihn exekutieren. Jordan wurde sogar erst 1951 in einem weiteren Moskauer Geheimverfahren zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Beide waren „qua Amt“ verurteilt worden. Sie seien, so die Anklage, als hohe NS - Funktionäre und Reichsverteidigungskommissare verantwortlich gewesen für die „Vorbereitung und Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch Deutschland, zum Überfall auf die Sowjetunion und zur vorsätzlichen Ausrottung sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten“. Eine derart funktionalistische Lesart ließ für tatsächliche Verantwortlichkeiten ( wie für den Terror nach der Machtübernahme ) wenig Spielraum. In welchem Maße die Moskauer Rechtspraxis im Falle Mutschmann eine historische Aufarbeitung erschwert hat, zeigt der Umstand, dass selbst noch mehrere Jahre nach Kriegsende SED - Funktionäre auf einen Dresdner Mutschmann - Prozess warteten und Historiker erst nach 1989 sein genaues Todesdatum erfuhren.50 Die Chance, antifaschistische Aufklärung mit juristischen Mitteln zu betreiben, nutzte die sowjetische Besatzungsmacht nur in geringem Umfang, und wenn überhaupt, dann mit Hilfe eines Gruppen - oder Massenprozesses, der von Anfang an als Schauprozess mit einstudierten Rollen vorgesehen war. In den seltensten Fällen wurden Einzelprozesse öffentlich bekannt gemacht, jedoch nie öffentlich verhandelt. Das betraf auch jene Prozesse, die aufgrund einer Überlagerung von NS - Vergangenheit und neuerlicher politischer Repression als „Grenzfälle“ zu definieren sind. Hier nutzte die Besatzungsmacht die Möglichkeit, ihr missliebige Personen oder solche, die bestimmte missliebige politische Richtungen repräsentierten, wegen einer angeblichen oder tatsächlichen NS Belastung öffentlich zu denunzieren und als Nazi - Verbrecher abzuurteilen. Der bekannteste Fall in dieser Kategorie dürfte sicherlich der des „lumpigen Gestapospitzels“ Herman Löwenthal gewesen sein, den das SMT Berlin am 17. September 1946 zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilte.51 Zeitpunkt und Person des Verfahrens scheinen dabei keineswegs zufällig gewählt : Im Oktober standen die mit großer Spannung erwarteten Wahlen in der Vier - Sektoren - Stadt an. Zudem hatte die größte Konkurrentin der SED, die in Berlin selbstständig gebliebene SPD, immer wieder schwere öffentliche Vor würfe wegen des Verschwindens eigener Funktionäre erhoben.52 Am 18. September, also einen Tag 50 Vgl. Andreas Hilger, Strafjustiz im Verfolgungswahn. Todesurteile sowjetischer Gerichte in Deutschland. In : ders. ( Hg.), „Tod den Spionen !“, S. 95–155, hier 116; Akten Martin Mutschmann und Rudolf Jordan ( HAIT - Archiv ). Für 2011 ist vom Verfasser dieses Beitrages die Veröffentlichung einer Monographie zum „Fall Martin Mutschmann“ geplant. 51 Tägliche Rundschau vom 18. 9. 1946 : „Der entlarvte Gestapospitzel“. 52 Vgl. dazu die entsprechenden Artikel im Berliner Organ der SPD, Der Sozialdemokrat, vom 3. 7. 1946 : „SPD - Funktionäre abgängig“, vom 8. 7. 1946 : „Die Unsicherheit in Berlin. Die verschwundenen SPD - Funktionäre“ und vom 19. 7. 1946 : „Was will die Berliner Sozialdemokratie. Sie wird weder Beschimpfungen, noch Drohungen, noch Verfolgungen nachgeben“.

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nach dem Urteil, landete die „Tägliche Rundschau“ einen Pressecoup : Einer der verschwundenen SPD - Funktionäre, der Inspekteur des Berliner Magistratsgebäudes, Hermann Löwenthal, sei in der Tat verhaftet und verurteilt worden, aber nicht aus politischen Gründen, sondern wegen seiner „ekelerregenden“ NS - Vergangenheit.53 Obwohl bekannt gewesen war, dass der Politiker als leitender Beamter der Jüdischen Gemeinde in Berlin von den NS - Behörden gezwungen worden war, an der Vorbereitung der Deportationen mitzuwirken, wurde er nun zum „aktiven Gestapo - Agenten“ gestempelt.54 Auch in diesem Fall durfte das obligatorische „Geständnis“ nicht fehlen, das die sowjetisch gesteuerte Presse druckte. Wegen der fehlenden Nachprüfbarkeit solcher nicht - rechtsstaatlich verhandelten Prozesse ist es schwer, sich ein zutreffendes Bild zu verschaffen, obgleich die offen propagandistische Tendenz des Falles Löwenthal auf der Hand liegt. Doch war Löwenthal nicht der einzige Fall, in dem missliebige Personen aufgrund einer angeblichen NS - Vergangenheit des Amtes enthoben, verhaftet und verurteilt wurden. Weitere derartige Fälle gingen jedoch weniger geräuschvoll über die Bühne, da für die Besatzungsmacht ein akuter propagandistischer Nutzen nicht bestand. So etwa im Falle des Auerbacher Landrats Hans Sammler, des Greifswalder Rektors Ernst Lohmeyer oder auch des Präsidenten der sowjetzonalen Zentralver waltung für Gesundheitswesen, Paul Konitzer. Sie alle verschwanden beinahe spurlos von der „Bildfläche“, um kurze Zeit später vor einem sowjetischen Erschießungspeloton ( Sammler, Lohmeyer ) oder in der Lagerhaft ( Konitzer ) zu enden.55 In ihren Fällen bemühte sich die westzonale Presse, aber auch die Ostbüros der West - Parteien, eine „zweite“ bzw. Gegenöffentlichkeit herzustellen. Eine juristische oder historische Aufklärung konnten aber auch sie nicht bewirken. Im Falle des Auerbacher Landrats hatte selbst seine Verlobte, die Mitglied des SED - Parteivorstandes war, vergeblich versucht, rechtsstaatliche Normen einzufordern.56 53 Tägliche Rundschau vom 18. 9. 1946 : „Der entlarvte Gestapospitzel“ und „Der Fall Löwenthal“. 54 Harold Hur witz, Die Anfänge des Widerstandes. Teil 2 : Zwischen Selbsttäuschung und Zivilcourage : Der Fusionskampf, Köln 1990, S. 1291. 55 Im Falle Sammlers monierte die Besatzungsmacht seine NSDAP - Mitgliedschaft und die Missachtung eigener Befehle, im Falle Lohmeyers seine Tätigkeit in der Wehrmacht und im Falle Konitzers seine Funktion als Militärarzt in der Wehrmacht. Mag bei den Betroffenen auch eine teilweise Verstrickung in das NS - System vorgelegen haben, so konnten die langjährigen Sozialdemokraten bzw. Anhänger der Bekennenden Kirche doch keineswegs als NS - Verbrecher gelten. Zum Sachstand vgl. Mike Schmeitzner, Landrat, Saboteur und Nationalsozialist ? Der Fall Hans Sammler. In : Hilger / Schmeitzner / Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 1, S. 485–518; Hilger, Straf justiz im Verfolgungswahn, S. 110 ff.; Jens Nagel, Das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener 1941 bis 1944 – Zur Rolle des Wehrmachtarztes im Wehrkreiskommando IV Dresden Dr. Paul Konitzer (1894–1947). In : Böhm / Haase ( Hg.), Täterschaft, S. 93– 118. 56 Vgl. Schmeitzner, Landrat, S. 512 ff. Bei der Verlobten Sammlers handelte es sich um Gertrud Hentsch, die dem ersten SED - Parteivorstand (1946/47) angehörte. Sie geriet später selbst ins Räder werk der ostzonalen Justiz.

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4.

Mike Schmeitzner

Fazit

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, ob und inwieweit die juristische Abrechnung mit Kriegs - und NS - Verbrechern unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, fällt eindeutig aus. Die große Mehrzahl der Prozesse war nichtöffentlich – und zwar sowohl in der SBZ als auch in der UdSSR. Nur einige Hundert Kriegs - und NS - Verbrecher wurden in propagandistisch ver wertbaren Verfahren abgeurteilt, auf die eine Charakterisierung als Schauprozesse durchaus zutrifft. Da die Masse der Prozesse im Verborgenen ablief, blieb der juristische Wert dieser Schnellverfahren äußerst gering; ja er behinderte sogar in nicht unbeträchtlicher Weise die Aufarbeitung jenes Kapitels. Das sowjetische Vorgehen entsprach jedoch keiner spezifischen Abrechnungsmentalität nach Kriegsende, sondern nur der seit langem gängigen stalinistischen Rechtspraxis. Die Tatsache, dass für manche der öffentlichen Nachkriegsverfahren auf das „erfahrene“ Justizpersonal der Moskauer Prozesse der 30er Jahre zurückgegriffen wurde, macht diese Kontinuität deutlich. Andererseits wäre es verfehlt, der sowjetischen Seite jegliche Legitimität bei ihrer Strafverfolgung von NS - Verbrechen abzusprechen. Trotz fehlender rechtsstaatlicher Voraussetzungen richtete sich der Großteil der Verfahren in der Sowjetischen Besatzungszone gegen Personen, die zweifellos als NS - Täter anzusehen sind.

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Der Dresdner Juristenprozess 1947 im Spannungsfeld der politischen und medialen Auseinandersetzung Gerald Hacke

Seit 1946 häuften sich in den linken Dresdner Tageszeitungen „Meldungen über gerichtliche Urteile, die unser Volk nicht versteht“.1 Die Skandalisierung verschiedener – zumeist als zu milde empfundener – Urteile wurde in der politischen Auseinandersetzung zu grundsätzlichen Angriffen auf eine volksferne, reaktionäre Justiz gebündelt.2 Diese Angriffe knüpften inhaltlich an die Auseinandersetzung um die Republikanisierung der Justiz in den 20er Jahren an.3 Die der SED gehörende „Sächsische Zeitung“ meinte gar, in den Urteilen sächsischer Gerichte Tendenzen eines „Zurück zum Stahlhelm, zu den Deutschnationalen und anderen ‚Fundamenten‘ der Justiz der Weimarer Republik“ zu erkennen.4 Dennoch waren für die Öffentlichkeit Reminiszenzen an die sogenannte Justizkrise unübersehbar, die vor allem mit der Kritik aus der NSDAP an der angeblich zu milden Straf justiz, dem Revirement im Reichsjustizministerium und der Proklamierung Adolf Hitlers zum Obersten Gerichtsherrn im Frühjahr 1942 verbunden wird.5 Einen medialen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung Mitte 1947 als ein Schwurgericht des Landgerichtes Dresden gegen Juristen verhandelte, denen wegen ihrer Beteiligung an der nationalsozialistischen Straf justiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wurden. Dieses Verfahren war das erste seiner Art vor einem deutschen Gericht und mit sechs Angeklagten auch das quantitativ größte in der SBZ / DDR. Rechnet man die beiden abgetrennten und bis 1950 abgeschlossenen Verfahren gegen vier weitere Dresdner Richter hinzu,6 wurde in der sächsischen Landeshauptstadt gegen mehr als die Hälfte von 1 2 3 4 5 6

Volksstimme ( SPD ) vom 13. 2. 1946 : „Noch Vertrauenskrise der Justiz ?“ von John Ulrich Schroeder. Vgl. Volksstimme vom 20. 3. 1946 : „Kampf der Reaktion in der Justiz !“ Vgl. Robert Kuhn, Die Vertrauenskrise der Justiz (1926–1928). Der Kampf um die „Republikanisierung“ der Rechtspflege in der Weimarer Republik, Köln 1983. Sächsische Zeitung ( SED ) vom 5. 6. 1947 : „Randbemerkungen zur Justizkrise“. Zuletzt Sarah Schädler, „Justizkrise“ und „Justizreform“ im Nationalsozialismus, Tübingen 2009. Urteil des LG Dresden gegen Richard Müller (1 Jahr, 4 Monate Gefängnis, mit Untersuchungshaft verbüßt ), Curt August Zenker (2 Jahre Gefängnis auf Bewährung ) und

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insgesamt 19 in der SBZ / DDR angeklagten Juristen verhandelt.7 Trotz dieser Besonderheiten ist das Dresdner Verfahren bislang von der Zeitgeschichtsforschung nur wenig rezipiert worden.8 Um die öffentliche Begleitung des Dresdner Juristenprozesses genauer einordnen zu können, ist es notwendig, einleitend die Lage der Justiz in Sachsen nach 1945 sowie den Gang des Verfahrens selbst darzustellen.

1.

Die sächsische Justiz der Nachkriegszeit

Mit dem Zusammenbruch der deutschen Ver waltung bei Kriegsende kam auch das Gerichtswesen in Sachsen weitgehend zum Erliegen. In Dresden versuchte ab Juni 1945 ein „Beauftragter für den Wiederaufbau der Justiz“9 Vorbereitungen hierfür zu treffen. Dazu gehörte auch die Schaffung von Arbeitsgruppen, die die Gesetzgebung der Jahre nach 1933 nach eindeutig nationalsozialistischen Bestimmungen untersuchten.10 In der Anfang Juli 1945 von der Besatzungsmacht eingesetzten Landesver waltung Sachsen übernahm der Liberaldemokrat Reinhard Uhle11 als Vizepräsident das Justizressort. Auch wenn es innerhalb der Landesver waltung andere Vorschläge gab,12 wurde mit SMAD Befehl Nr. 49 vom 4. September 194513 das traditionelle dreistufige deutsche Gerichtswesen wieder eingeführt.

7

8 9 10

11 12 13

Victor Paul Albert ( Freispruch ) vom 23. 5. 1949 ( KStKs 15/49 2 kl. 1/49). In : DDR Justiz und NS - Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Hg. von C. F. Rüter, Band VIII, Amsterdam 2006, S. 691– 695 ( Nr. 1448); Urteil des LG Dresden gegen Walther Burckhardt (3 Jahre Zuchthaus, angerechnet 2,5 Jahre Untersuchungshaft ) vom 27. 10. 1950 ( StKs 33/48 1.gr.17/48), ebd., Band VI, S. 109–111 ( Nr. 1273). Hierbei nicht eingerechnet sind die 130 in den rechtsstaatswidrigen „Waldheimer Verfahren“ verurteilten Juristen. Vgl. Christian Meyer - Seitz, Die Verfolgung von NS - Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998, S. 257–259. Zu den einzelnen Verfahren und den bislang bekannten Juristen vgl. DDR - Justiz und NS - Verbrechen; Hubert Rottleuthner, Das Nürnberger Juristenurteil und seine Rezeption in Deutschland – Ost und West. In : Neue Justiz, 51 (1997) 12, S. 617–623, hier 622 f.; Rode, Die Waldheimer Prozesse. In : DriZ, 36 (1958) 9, S. 249 f.; Schaefer, Das große Sterben im Reichsgericht. In : DriZ, 35 (1957) 11, S. 249 f. Vgl. Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 120–123. Amtsgerichtsdirektor Wilhelm Weiland (1883–1955), später Präsident des Dresdner OLG. Der später im Juristenprozess angeklagte Landegerichtsrat Dr. Karl Mueller war beispielsweise Vorsitzender einer solchen von der Landesver waltung Sachsen bestellten Kommission; hier traf er mit seinem künftigen Verteidiger Dr. Fritz Glaser zusammen. Vgl. Erich Glaser an Landesprüfungsausschuss, Ministerium für Arbeit und Aufbau, Referat VdN, am 29. 9. 1951 ( SächsHStAD, 11430 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Dresden, VdN - Akten, Nr. 1992, unpag.). Reinhard Uhle (1890–1973). Vgl. Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung ( SMAS ) vom 29. 7. 1945 : „Wieder klare und gesunde Rechtspflege. Vizepräsident Dr. Uhle berichtet über seine Arbeit“. In : Ruth Kristin Rößler, Justizpolitik in der SBZ / DDR, Frankfurt a. M., S. 195 f.

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Ein großes Problem der sächsischen Justiz war der erhebliche Personalmangel, da nicht wenige Juristen in die Westzonen geflohen waren. Zudem fiel ein hoher Prozentsatz der Verbliebenen wegen früherer Mitgliedschaft in der NSDAP für eine Ver wendung in der sächsischen Justiz aus. Von etwa 1 050 vor Kriegsende in Sachsen aktiven Richtern und Staatsanwälten waren Ende Oktober 1945 noch 160 tätig. Hinzu kamen 70 unbelastete Juristen, die entweder aus den Ostgebieten und dem Sudetenland stammten oder nach Entlassung durch die Nationalsozialisten wieder eingestellt wurden.14 Um dem Personalmangel abzuhelfen, wurden Rechtsanwälte sowie Personen ohne abgeschlossene oder gänzlich ohne akademische juristische Ausbildung als Richter bzw. Staatsanwälte eingesetzt. Die ab Frühjahr 1946 beginnenden Volksrichterkurse – für Sachsen in Bad Schandau – sollten allerdings nicht nur den Bedarf an Juristen decken, sondern den Elitenwechsel auch im Bereich der Justiz vorantreiben.15 Obwohl formal an das Justizsystem der Weimarer Republik angeknüpft wurde, stand die sächsische Justiz von Anfang an unter starkem Druck, den die Besatzungsmacht, die Ver waltung und die SED ausübten, der aber durch die Anpassungsbereitschaft der bürgerlichen Richter begünstigt wurde. Sowohl für die Kommunisten als auch für die Linkssozialisten stand fest, dass die Situation nach 1945 der von 1918/19 glich. Wer dem Sieg der sozialistischen Revolution ein zweites Mal im Wege stand, war ein Reaktionär und damit Steigbügelhalter eines neuen Faschismus. Der Vor wurf, „reaktionär“ zu sein, wurde häufig ver wendet, besonders häufig aber in Fragen der Justiz,16 die bekanntlich einige Zeit den bürgerlichen Parteien, in Sachsen der LDPD, überlassen wurde.17 Bereits im März 1946 wurde der kommissarische Leiter des Landgerichts Dresden, Landgerichtsdirektor Dr. Kurt Emil Römisch, auf Beschluss des Prä14 Vgl. Volksstimme vom 28. 10. 1945 : „Der Neuaufbau des sächsischen Justizwesens“. 15 Zur Geschichte und Funktion der Volksrichterlehrgänge vgl. Julia Pfannkuch, Volksrichterausbildung in Sachsen 1945–1950, Frankfurt a. M. 1993; Andrea Feth, Die Volksrichter. In : Hubert Rottleuthner ( Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR. Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S. 351–377; Hermann Wentker, Volksrichter in der SBZ - DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation, München 1997. 16 „Das Gericht ist offensichtlich von der falschen konser vativen und reaktionären Auffassung eines abstrakten Rechts geleitet worden [...]. Die dort eingeschlagene Praxis fortgeführt, würde bedeuten den Weg von 1918 bis 1933 zu wiederholen. Wo er endet, wissen wir.“ So der Chefredakteur der Sächsischen Zeitung Hans Teubner in dem Artikel „Für eine Justiz der Menschlichkeit“ vom 19. 6. 1947 zum Urteil im Dresdner Juristenprozess. Der SED - Oberbürgermeister von Leipzig und MdL Erich Zeigner (1886– 1949) meinte auf einer Ausschusssitzung der SED - Landesleitung Sachsen, die Justiz sei „zur Zeit ein Hort der Reaktion und [ müsse ] damit zerschlagen werden“. Vgl. Andreas Thüsing, Demokratischer Neubeginn ? Aufbau, Organisation und Transformation des sächsischen Justizministeriums 1945–1950, Dresden 2003, S. 56. 17 Der Vor wurf, reaktionär zu sein, wurde von bürgerlichen Parteien und ihren Medien schon bald antizipiert. So meinte das liberaldemokratische Sächsische Tageblatt am 19. 3. 1946 in dem Artikel „Justizskandal in Sachsen ?“ : „Sicher ist eins : dass [...] von den Richtern verlangt werden muss, dass sie eine Haltung einnehmen, die jeden Verdacht der Unterstützung von reaktionären Bestrebungen ausschließt [ und sie ] sich auch nicht unwissentlich zum Werkzeug reaktionärer Bestrebungen machen [ lassen ].“

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sidiums der Landesver waltung Sachsen seines Amtes enthobenen. Er hatte gewagt, die Eingriffe der Generalstaatsanwaltschaft in einem Zivilrechtsverfahren abzuweisen. Auch dem Rechtsbeistand eines früheren NSDAP - Mitglieds, das in diesem Verfahren gegen eine Beschlagnahme klagte, wurde die Zulassung entzogen.18 Bereits ein halbes Jahr später enthob das Präsidium erneut Juristen ihres Amtes. Diesmal traf es einen Jugendrichter und einen Staatsanwalt des Amtsgerichts Zwickau, die – auch auf Anraten des dortigen Jugendamtes19 – eine gewalttätige Jugendbande zu geringen Jugendhaftstrafen verurteilten. Das Urteil wurde vom sächsischen Generalstaatsanwalt nach der 1940 eingeführten Nichtigkeitsbeschwerde20 aufgehoben.21 Der innerhalb und außerhalb der Justiz geäußerten Kritik, dass damit auch die Unabhängigkeit der Rechtssprechung gefährdet sei,22 begegnete der für Justizfragen zuständige Vizepräsident Reinhard Uhle ( LDPD ) mit dem Ver weis auf die vorhandene Unabhängigkeit in der Gewissensentscheidung eines Richters, eine Unabsetzbarkeit gäbe es zu seinem Bedauern aber nicht.23 Obwohl von ihm angemahnt, wurde dieses wichtige „Merkmal für eine wirkliche Unabhängigkeit“ der Justiz wie bekannt bis zum Ende der DDR nicht wieder eingeführt. Die Unsicherheit in der Richterschaft drückte sich auch in einer unkritischen und nachgiebigen Haltung gegenüber den über das Justizministerium weiter gereichten Vorgaben der Besatzungsmacht und der SED aus. Die im Alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 10 aufgestellte Rechtsfigur des Verbrechens gegen die Menschlichkeit war angesichts des im deutschen Strafrecht vorgeschriebenen Rückwirkungsverbots „rechtsdogmatisch nicht unproblematisch“. Die in der Anfangszeit noch über wiegend bürgerlichen sächsischen Richter waren jedoch bereit, den übergesetzlichen Maßstab der Unmenschlichkeit bei der Bestrafung 18 Vgl. Volksstimme vom 18. 3. 1946 : „Justiz auf Irrewegen“; Sächsisches Tageblatt (LDPD) vom 21. 3. 1946 : „Justizskandal in Sachsen ?“. In diesem Verfahren richtete sich die Klage gegen das Land Sachsen wegen widerrechtlicher Beschlagnahme. Der Generalstaatsanwalt drang auf Aufhebung des bereits anberaumten Hauptverhandlungstermins. 19 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 22. 10. 1946 : „Zwickauer Fehlurteil aufgehoben“. 20 Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. 2. 1940 ( RGBl. I, S. 405). 21 Vgl. Protokoll der 70. Präsidialsitzung der Landesverwaltung Sachsen vom 26. 9. 1946. In : Andreas Thüsing ( Hg. ), Das Präsidium der Landesverwaltung Sachsen. Die Protokolle der Sitzungen vom 9. Juli 1945 bis 10. Dezember 1946, Göttingen 2010, S. 425– 434, hier 433 f.; Neues Deutschland ( SED ) vom 29. 9. 1946 : „Staatsanwalt und Richter entlassen“. 22 Vgl. Protokoll über die Vollversammlung des Kammer vorstandes der Rechtsanwaltskammer Sachsens vom 7. 10. 1946 ( SächsHStAD, 12970 Personalnachlass Prof. Dr. Hermann Kastner, Nr. 2, unpag.). Uhle bat dort, „die Anwaltschaft möge der Maßnahme, durch die eine ernste Vertrauenskrise der Justiz gegenüber vermieden worden ist, Verständnis“ entgegenbringen. Dass mit einer nachgiebigen Haltung bei Eingriffen in das Justizsystem die Reste des Rechtsstaates nicht gerettet werden konnten, belegen sowohl die Jahre vor als auch nach 1945 eindrucksvoll. 23 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 15. 10. 1946 : „Hüter des Rechts. Vizepräsident Dr. Reinhard Uhle zur Gestaltung der Rechtspflege“.

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des NS - Unrechts „als ethisch geboten und auch als juristisch vertretbar anzuerkennen“.24 Diese Bereitschaft war jedoch nicht Ergebnis einer Diskussion, zumal im Juristenkreis,25 sondern politisch verordnete Voraussetzung der richterlichen Tätigkeit. Problematischer war die Beteiligung an Strafverfahren, die Tribunalen ähnelten oder deren Ausgang aus politischen Gründen weitgehend fest stand. Unter großem propagandistischem Aufwand wurde belastendes Material präsentiert, um so die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur zu verdeutlichen. Diese „erzieherische Funktion“26 trug jedoch auch exkulpatorische Züge. Je schwärzer, je verbrecherischer die Angeklagten präsentiert wurden, desto leichter musste es der Bevölkerung fallen, mit der Vergangenheit zu brechen und sich der siegreichen, der fortschrittlichen Sache anzuschließen. Diese Wirkung konnte jedoch nur erzielt werden, wenn die Schuldfrage eindeutig zu Ungunsten der Angeklagten geklärt war. Dementsprechend störten entlastendes Material oder engagierte Verteidiger nur. Der medialen Vorverurteilung konnten sich die beteiligten Richter, auch angesichts der geforderten härtesten Strafen, in ihrer Spruchtätigkeit nicht entziehen. Zumindest im ersten großen Nachkriegsverfahren wegen NS - Verbrechens hatte der „Volksgericht Sachsen“ genannte Gerichtshof Ausnahmecharakter. Ursprünglich zur erst - und letztinstanzlichen Aburteilung der höchsten sächsischen „NS - Clique“, insbesondere des Gauleiters Martin Mutschmann, angekündigt,27 richtete sich das Tribunal tatsächlich gegen das Fußvolk. Für alle fünf beschuldigten Wachleute des Arbeitserziehungslagers Radeberg forderte „Volksankläger“ Ernst Lohagen28 ( KPD ) die Todesstrafe. Zwei der Angeklagten wollte er aus „mildernden Gründen“ allerdings nicht öffentlich29 hängen lassen. Dem folgte das Gericht in dieser Schärfe nicht und verurteilte drei Angeklagte

24 Vgl. Andreas Thüsing, Der Wiederaufbau des Justizwesens und die Strafverfolgung von NS - Verbrechen in Sachsen nach 1945. In : Boris Böhm / Gerald Hacke ( Hg.), Fundamentale Gebote der Sittlichkeit. Der „Euthanasie“ - Prozess vor dem Landgericht Dresden, Dresden 2008, S. 48–62, hier 55. 25 Ich erinnere hier nur beispielhaft an die Diskussion in der Süddeutschen Juristenzeitung der Jahre 1946/47. Zum Sonder weg der thüringischen Justiz vgl. Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 69–78. 26 Vgl. ebd., S. 27. 27 Vgl. Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung vom 2. 6. 1945 : „Der Fronvogt Sachsens, Martin Mutschmann, verhaftet“; Verhörprotokoll Martin Mutschmann vom 9. 7. 1945 (HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). Ich danke Mike Schmeitzner für diesen Hinweis. Zur institutionellen Genese des Volksgerichts Sachsen vgl. Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 24–27. 28 Ernst Lohagen (1897–1971), Vorsitzender der Kreisleitung Leipzig der KPD, später Vorsitzender des Landesvorstands der SED Sachsen. 29 So wie es bereits von den Parteien des „antifaschistischen Blockes“ im Falle eines Schuldspruchs verabredet war. Vgl. Beschluss der Landesverwaltung Sachsen vom 25. 9. 1945 ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 60). Vgl. auch Volksstimme vom 1. 10. 1945 : „Letzter Verhandlungstag vor dem Volksgericht. Der Urteilsspruch“.

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zu mehrjährigen bis lebenslangen Zuchthausstrafen.30 Die beteiligten Juristen konnten oder wollten allerdings nicht verhindern, dass die beiden verhängten Todesurteile in aller Eile – wenn auch nicht öffentlich31 – bereits am übernächsten Tag vollstreckt wurden. Auch der nächste größere Prozess in Dresden wegen nationalsozialistischer Verbrechen war für ein „Volksgericht“ vorgesehen.32 Das Verfahren richtete sich gegen das Gefängnispersonal der Gefangenenanstalt I in Dresden und war ursprünglich mit dem gegen die Juristen verbunden. Auch hier zeigte sich die ambivalente Rolle der Justiz. Einerseits wurde der Anstaltsdirektor Eduard Reinicke trotz der belastenden Aussage des Dresdner SED - Oberbürgermeisters Walter Weidauer,33 ihn bei der eigenhändigen Erschießung von Gefangenen beobachtet zu haben,34 in diesem Hauptanklagepunkt wegen berechtigter Zweifel entlastet.35 Die Anfälligkeit des Gerichts für politischen Druck verdeutlicht andererseits die Verurteilung des Anstaltsarztes Dr. Albert Schneller.36 Sowohl Richter als auch Schöffen waren „zu einer wesentlich milderen Beurteilung“ gekommen, doch konnte der Schöffe und SED - Funktionär Fritz Dämmig37 mit Ver weis „auf die besondere außenpolitische Bedeutung des Urteils“ eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren durchsetzen. Noch am Tag der Urteilsverkündung unterschrieben Richter und Schöffen ( auch Dämmig !) einen Beschluss zugunsten einer baldigen Begnadigung Schnellers.38 Obwohl das sächsische Gesamtministerium dieses Begehren 30 Vgl. Urteil des Volksgericht Sachsen ( VoS 1/45) vom 28. 9. 1945. In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band XIII, S. 501–510 ( Nr. 1839); vgl. auch Sächsische Volkszeitung (KPD ) vom 29. 9. 1945 ( Sonderausgabe ) : „Todesurteile im Radeberger Prozess“ und vom 2. 10. 1945 : „Das Urteil im Radeberger Nazi - Prozess“. 31 Anhand der Totenscheine sowie der Presseberichterstattung ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass die Todesurteile nicht, wie bei Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 27, vermutet, öffentlich, sondern im Hof der damaligen Untersuchungshaftanstalt Dresden in der Fabricestraße vollstreckt wurden. 32 Entwurf einer Verordnung über die Einsetzung eines Gerichts zur Aburteilung nationalsozialistischer Verbrecher von Januar 1946 ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 68–71). Dieses Verfahren sollte eigentlich gegen die Beamten der Untersuchungshaftanstalt Dresden sowie sieben Richter des OLG Dresden laufen. Nur drei der ursprünglich vorgesehenen Juristen wurden jedoch im dem Verfahren 1947 angeklagt. Die anderen verstarben in der Haft oder verschwanden in sowjetischem Gewahrsam. Je nach Grad der Schuld sah der Verordnungsentwurf als mögliche Strafen den Strang, das Erschießen oder langjährige Freiheitsstrafen mit und ohne Zwangsarbeit vor. 33 Walter Weidauer (1899–1986), Oberbürgermeister von Dresden seit 1946. 34 Vgl. Anklage gegen Reinicke u. a. vom 31. 10. 1946 ( BStU, ASt. Dresden, 4517, Band II, Bl. 126–161, hier 137 f.). 35 Eduard Reinicke ( geb. 1882) erhielt dennoch eine lebenslange Zuchthausstrafe und verstarb bereits 1948 im Zuchthaus Hoheneck. Vgl. Urteil des LG Dresden (1 Ks 33/46, [1] 179/46) vom 20. 12. 1946 ( ebd., Band V, Bl. 89–106). 36 Albert Schneller (1888–1975). 37 Fritz Dämmig ( geb. 1895), 1946 Mitarbeiter im SED - Landesvorstand. 38 Vgl. Bericht des Dresdner Landgerichtspräsidenten Dr. Martin Fischer ( seinerzeit Vorsitzender Richter ) an den OStA beim LG Dresden vom 29. 11. 1947 ( ebd., Band II, Bl. 262 f.).

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alsbald verhandelte und man später auch im Justizministerium der DDR das Strafmaß für überzogen hielt, wurde Schneller erst Ende 1952 aus dem Gefängnis entlassen.39 Diese Ein - und Übergriffe in die Rechtspflege trugen gewiss dazu bei, dass die Justiz in Verfahren wegen NS - Verbrechen die Erwartung der politisch maßgeblichen Kräfte erfüllte, andererseits entfaltete sie aber auch eine retardierende Wirkung gegenüber Forderungen der SED und der Besatzungsmacht. Dieses Bild begegnet dem Betrachter auch beim sogenannten Dresdner Juristenprozess.

2.

Das Schwurgerichtsverfahren gegen sächsische Juristen

Dresden war während des Zweiten Weltkrieges ein Zentrum der justitiellen Repression. Die in der Landeshauptstadt ansässigen Gerichte verhandelten nicht nur in Sachsen begangene Straftaten. Aufgrund seiner geografischen Nähe zu Nordböhmen spielte Dresden als Gerichtsort, Haftanstalt und Hinrichtungsstätte eine bedeutende Rolle bei der strafrechtlichen Verfolgung von Bewohnern des „Protektorats Böhmen und Mähren“. Senate des Volksgerichtshofes tagten zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Jahresende 1944 an über 120 Verhandlungstagen in sogenannten Tschechensachen im Schwurgerichtssaal des Landgerichts am Münchner Platz. Seit August 1940 konnte der Volksgerichtshof zudem „minder schwere“ Fälle von Hoch - und Landesverrat aus dem Protektorat an das OLG Dresden abgeben. Die in Dresden gefällten Todesurteile – zu denen auch weitere Urteile nichtsächsischer Gerichte kamen – wurden im Richthof des Landgerichtsgebäudes vollstreckt. Von den bislang bekannten 1346 Hinrichtungsopfern waren nahezu zwei Drittel Tschechen.40 Angeklagte im Dresdner Juristenprozess waren die ehemals am Dresdner OLG tätigen Senatspräsidenten Dr. Erich Härtel und Hans Fischer, der Oberlandesgerichtsrat Dr. Richard Schulze, der Landgerichtsrat Karl Mueller sowie der Staatsanwalt daselbst Dr. Walther Bücking, außerdem der Staatsanwalt am LG Leipzig, Dr. Erich Anger. Ihnen wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, als Richter und Staatsanwälte bei der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitgewirkt zu haben.41 Grundlage war auch hier das Kontrollratsgesetz Nr. 10, dessen rückwirkende Kraft für Anklage und Gericht außer

39 Vgl. MdJ an Kanzlei des Ministerpräsidenten vom 18. 4. 1950 ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1571, Bl. 126 f.) sowie StA des Bezirkes Dresden an Bezirksleitung Dresden der SED vom 12. 5. 1953 ( SächsHStAD, 11857 SED - Bezirksleitung Dresden, Staat und Recht, IV /2/13/017, unpag.). 40 Vgl. Norbert Haase / Birgit Sack ( Hg.), Münchner Platz, Dresden. Die Straf justiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001; Vilém Kostka. Der tschechische Widerstand vor dem Oberlandesgericht Dresden. Ein Haftschicksal in Briefen. Bearb. und eingeleitet von Matthias Roeser und Birgit Sack, Dresden 2001. 41 Vgl. Anklageschrift der OStA am LG Dresden vom 23. 3. 1947 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 229–232).

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Frage stand.42 Obwohl es durchaus mildernde Umstände gab, „deren Berechtigung bis zu einem bestimmten Grade auch von Seiten der Staatsanwaltschaft nicht bestritten“ werden konnte, forderte Staatsanwalt Heinz Fröbel für sämtliche Angeklagten die Todesstrafe.43 Auch das Schwurgericht sah in der nationalsozialistischen „Blutjustiz“ eine fortgesetzte Kette von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Alle Angeklagten hätten „bewusst als Beihelfer“ an diesen Verbrechen mitgewirkt. Obwohl in den Augen des Gerichts die Teilnahme entscheidend war, konstatierte es doch, dass von den damals bekannten 1 285 Hinrichtungen nur ein geringer Teil dem OLG Dresden – es waren, wie wir heute wissen, weniger als fünf Prozent – und ein noch geringerer den angeklagten Richtern angelastet werden könne. Daher schlossen sich Richter und Geschworene der Forderung der Staatsanwaltschaft nicht an und erkannten nur auf eine Teilschuldhaftung. In der Strafzumessung unterschied das Gericht in puncto Parteimitgliedschaft, Funktion im Justizsystem und Länge der Mitarbeit. Trotz eines Schuldspruches in der Sache, verhängte das Gericht Strafen, die von einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis bis zu sechs Jahren Zuchthaus reichten.44 Damit wollte sich der Gerichtshof auch von der früheren Strafpraxis absetzen.45 Besatzungsmacht und Politik griffen bereits im Vorfeld massiv in das Verfahren ein. Dies soll an zwei Punkten verdeutlicht werden : an der Zusammensetzung der Angeklagten und an der Länge und den Bedingungen der Untersuchungshaft. Die Anklage richtete sich gegen die vom OLG Dresden geführten Hoch - und Landesverratsprozesse gegen Tschechen. Wie die Staatsanwaltschaft aber konstatieren musste, fehlte die erste Garnitur der hierfür Verantwortlichen : der Generalstaatsanwalt Heinz Jung46 und Präsident des Oberlandesgerichts Rudolf Beyer.47 Den nun angeklagten Richtern des 3. Strafsenats wurde durch während der Tatzeit aktive Rechtsanwälte48 wie auch durch das Schwurgericht selbst aus-

42 Vgl. ebd. sowie mündliche Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters Fritz Köst (SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 217–232). 43 Vgl. Plädoyer von StA Heinz Fröbel ( ebd., Bl. 167–180) sowie seine handschriftlichen Notizen zu Strafanträgen und ausgeworfenen Strafen ( SächsHStAD, 11120 StA bei LG Dresden, Nr. 87/2, Bl. 35). 44 Härtel erhielt 6 Jahre Zuchthaus, Fischer 2 Jahre Gefängnis, Schulze und Mueller erhielten je 1 Jahr und 2 Monate Gefängnis, Anger sowie Bücking je 3 Jahre Zuchthaus. Bei Schulze und Mueller galt die Haftstrafe mit der Untersuchungshaft verbüßt. Vgl. Urteil des LG Dresden vom 2. 6. 1947 (1 Ks 57/47 ( S ) 35/47). In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band X, S. 542–557 ( Nr. 1592b ). 45 Vgl. mündliche Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters Fritz Köst ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 217–232). 46 Heinz Jung (1892–1959), GStA von Sachsen seit 1936. 47 Rudolf Beyer (1891–1945), Präsident des OLG Dresden seit 1939. 48 Vgl. z. B. für Schulze : Schreiben von RA Joachim Vogel vom 12. 10. 1945; Schreiben von RA Thiele vom 9. 10. 1945 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 83, Bl. 16–18); für Mueller : Schreiben von RA Hermann Kastner vom 2. 10. 1945 ( ebd., Nr. 84,

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drücklich bestätigt, vergleichsweise milde – also nicht im Sinne der „Blutjustiz“ – geurteilt zu haben. Für eine Generalabrechnung mit der Justiz des Dritten Reiches eigneten sich die „barmherzigen Brüder“49 nicht. Wie auch im Nürnberger Juristenverfahren war in Dresden die Tätigkeit der Sondergerichte Bestandteil der Anklage. Erich Anger, Staatsanwalt am Landgericht Leipzig, wurde angeklagt, als Vertreter der Staatsanwaltschaft auf Weisung die Todesstrafe in einem Verfahren beantragt zu haben. Ein bereits wegen Hehlerei zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilter Tscheche hatte bei Aufräumarbeiten im Leipziger Landgerichtsgebäude zwei Lampen zerstört. Anger wollte auf zwei Jahre Zuchthaus plädieren, wurde jedoch gegen seinen ausdrücklichen Willen durch die Generalstaatsanwaltschaft angewiesen, die Höchststrafe zu beantragen. Das Sondergericht Leipzig entschied antragsgemäß.50 Obwohl dies der einzige Antrag auf Todesstrafe durch Anger war51 und seine Tätigkeit auch aufgrund seiner Stellung als einfacher Staatsanwalt am Landgericht „hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung überhaupt nicht an die der anderen Angeklagten“52 heranreichte, wurde dieser Fall wohl auch wegen seiner ins Auge fallenden Diskrepanz von Delikt und Strafmaß in das Juristenverfahren aufgenommen. Dass bei der Ahndung von Justizunrecht sehr selektiv vorgegangen wurde, verdeutlichen nicht zuletzt die beiden gegen Anger geladenen Belastungszeugen. Die ebenfalls vor 1945 in Leipzig tätigen Staatsanwälte Richard Jacob53 und Willy Kulaszewski54 – ersterer beantragte in einem ähnlich gelagerten Fall gegen einen Tschechen ( erfolgreich ) die Todesstrafe,55 letzterer war Mitglied der NSDAP56 – wurden nur durch das „Dazwischentreten verschiedener Parteifunktionäre“ vor einer Anklage bewahrt. Allein ihre Aussagen belegten die „Härte“ und „Nazihörigkeit“ Angers. Zwar mussten die beiden neuen SED - Mit-

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Bl. 99); Schreiben von RA Otto Jahrreiss vom 20. 9. 1945 ( ebd., Nr. 83, Bl. 10); für Härtel : Schreiben von RA Alfons Kreutzberg vom 16. 5. 1947 ( ebd., Bl. 94); für Bücking: RA Ladislav Haškovec vom 26. 10. 1946 ( ebd., Nr. 2499/2, Bl. 64). Diesen Ruf genoss der Strafsenat bei der GStA. Vgl. Walter Burckhardt an GStA Schroeder vom 27. 1. 1946 ( ebd., Bl. 84–88, hier 86). Diese Aussage wird durch die Zeugnisse damals aktiver Rechtsanwälte sinngemäß bestätigt. Vgl. Urteil des SG Leipzig gegen Josef Ruzicka vom 9. 6. 1944 (37 KLs 58/44). Anger hatte als Staatsanwalt beim LG Leipzig das Register 11 zu bearbeiten. Laut dem auch dem Gericht vorliegenden Auszug aus dem Register 11 der Jahre 1943–1945 wurden nur in 6 Verfahren höhere Strafen als 2 Jahre ausgeworfen, die höchste Haftstrafe ( für einen Fall schweren Betruges ) betrug 4 Jahre Zuchthaus ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 85, unpag.). Eingabe von RA Langenhan vom 10. 2. 1949 ( ebd., Nr. 86, Bl. 147). Richard Jacob ( geb. 1896). Willy Kulaszewski ( geb. 1898). Vgl. Urteil des SG Leipzig gegen Bornschein u. a. vom 27. 10. 1944 (36 KLs 134/44 1 SG 133/44) ( StA Leipzig, LG Leipzig, Nr. 3701, unpag.). Vgl. Charakteristik über den am 19. 3.1898 geborenen Dr. Willy Kulaszewski ( BStU, MfS, Allg. P. 131/71, Bl. 110–115, hier 110 und 114).

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glieder den Justizdienst verlassen, machten jedoch unter Protektion Karriere in SED und Ver waltung.57 Kritikwürdig ist auch die Länge der Untersuchungshaft. Nicht wenige der Angeklagten waren schon seit 1945 in Haft. Die Besatzungsmacht gewährte dem Ermittlungsrichter am Volksgericht, Erich Paul,58 nur sporadisch Zutritt zu den Gefangenen. Als sich Paul zudem gegenüber einigen der Häftlingen bei Vernehmungen nicht distanziert genug zeigte, wurde er kurzerhand seines Amtes entbunden.59 Im Januar 1946 hatte GStA John Ulrich Schroeder60 die Anklageschrift zusammengestellt, im selben Monat beschloss das Präsidium der Landesver waltung Sachsen die Verordnung zur Errichtung eines erneuten „Volksgerichts“. Die sowjetische Militäradministration stellte jedoch das Verfahren ohne Angabe von Gründen zurück und nahm auch die Akten an sich. Diese wurden erst im Februar 1947 an die Staatsanwaltschaft zurückgegeben.61 Die Inhaftierten hatten in dieser Zeit keinen Zugang zu ihren Rechtsbeiständen, da offiziell noch gar keine Anklage erhoben war. Weitaus schlimmere Auswirkungen hatten die katastrophalen Bedingungen in sowjetischer und ostdeutscher Haft. Der Gesundheitszustand der zumeist betagten Angeklagten verschlechterte sich zusehends. Als die gewiss nicht zimperlichen Gefängnis - und Polizeiärzte zum wiederholten Male absolute Haftunfähigkeit bei Schulze und Mueller feststellten und diese in häusliche Pflege ver wiesen,62 beschloss das OLG Dresden gegen den Protest der Staatsanwaltschaft die Haftentlassung.63 Dieser Beschluss wurde auf Betreiben der Besatzungsmacht „gehemmt“. Das OLG rechtfertigte sich ausgerechnet mit dem Urteil im gerade beendeten Verfahren gegen das Dresdner Gefängnispersonal : „Nach dem nicht lange vorher im Strafprozesse gegen Reinicke und Gen. vor dem Schwurgerichte Dresden die Nichtentlassung Haftunfähiger als Verbrechen gegen die Menschlichkeit festgestellt worden ist, und seitens der SMAD in Berlin - Karlshorst die hohe Todeszahl in den sächsischen Gerichten ausgestellt [ sic!] werden musste, war es anhand des ärztlichen Gutachtens schlechterdings unmöglich, anders zu entscheiden, als es geschehen ist.“64 Die sowjetische Militär-

57 Vgl. zu Kulaszewski Personalbogen der Deutschen Bauernbank vom 4. 8. 1951 ( ebd., Bl. 11–14); zu Jacob vgl. Schreiben von StA Karl Kohn an RA Friedrich Karl Kaul vom 29. 12. 1948 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 380). 58 Erich Paul ( geb. 1885), ab 1947 Präsident des Landesarbeitsgerichtes. 59 Vgl. GStA an SMAS vom 2. 2. 1946 ( ebd., Bl. 7). 60 John Ulrich Schroeder (1876–1947), GStA in Sachsen seit 1945. 61 Vgl. Bericht des GStA an MdJ Sachsen, 12. 10. 1946 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 74); Plädoyer des kommissarischen GStA Erich Richter (SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 181–187, hier 183). 62 Vgl. beispielsweise Polizeiarzt Dr. Döpinghaus an GStA vom 29. 10. 1946 ( SächsHStAD, 11120 StA bei LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 91); ärztliches Gutachten von Gefängnisarzt OMR Naumann vom 25. 4. und 2. 5. 1947 ( ebd., Nr. 2503, Bl. 217 f.). 63 Vgl. Beschluss des OLG Dresden vom 29. 4. 1947 ( ebd., Nr. 84, Bl. 2). 64 Präsident des OLG Dresden an MdJ Sachsen vom 17. 5. 1947 ( SächsHStAD, 11380 LRS, MdJ, Nr. 703, Bl. 132).

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administration wies im Mai 1947 an, dass bis auf Weiteres Häftlinge, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftiert waren, nicht aufgrund eines ärztlichen Gutachtens entlassen werden durften.65 Dennoch setzte sich das Urteil gerade in Hinblick auf die weitere Entwicklung deutlich von den pauschalen Forderungen der Staatsanwaltschaft ab. Dem eigenen Revisionsbegehren räumte der kommissarische GStA, Dr. Erich Richter,66 kaum Chancen auf Erfolg ein. Nur in drei Fällen hatten sich überhaupt „konkrete Anhaltspunkte für die Schuld der Angeklagten ergeben, in den anderen Fällen fehlen konkrete Tatbestände“.67 Auch wegen der Kritik, die der Prozessausgang her vorrief, bestand die sowjetische Militäradministration aber auf das nächstinstanzliche Verfahren. Obwohl die Strafzumessung im Revisionswege nicht nachzuprüfen war68 und OLG - Präsident Weiland wegen der geringen Aussicht auf Erfolg auf eine Rücknahme der Revision drängte,69 wurden auf Antrag der Staatsanwaltschaft sämtliche Urteile durch das OLG Dresden am 7. November 1947 in der Strafhöhe aufgehoben und an die erste Instanz zurückver wiesen. Jedoch war auch dieses Urteil janusköpfig, denn auch dem Revisionsantrag Erich Angers wurde stattgegeben. Das OLG fand die Feststellung, Anger habe „als politischer Staatsanwalt unmenschlich hohe Strafanträge gestellt“, nicht hinreichend begründet.70 Das Urteil wurde aufgehoben. Das Wiederaufnahmeverfahren fand auf Basis des SMAD - Befehls 201 vom 16. August 1947 statt vor dem Schwurgericht vor der Großen Strafkammer statt,71 bezeichnender weise wieder unter dem Vorsitz von Fritz Köst. Die Auffassung von Christian Meyer - Seitz, dass die Qualität des zweiten Verfahrens etliche Stufen tiefer gelegen habe,72 geht an der Realität vorbei. Denn es waren ja nicht handwerkliche Mängel, die Köst und seinen Beisitzern vorzuwerfen waren, sondern die bedingungslose Erfüllung der Erwartung der SED. Diese war in der Presse und durch organisierte Proteste nach dem Schwurgerichtsverfahren 1947 lautstark geäußert worden. Ohne dass neue Beweise vorlagen, wurden die Strafen für die vier noch verhandlungsfähigen Juristen – Härtel war bereits an den Haftfolgen verstorben, das Verfahren gegen Schulze musste

65 Information des Dolmetschers Formann vom 5. 5. 1947 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 206). 66 Zu Erich Richter ( geb. 1891) vgl. Boris Böhm, Biografische Studien zu den Staatsanwälten. In : Böhm / Hacke ( Hg. ), Fundamentale Gebote, S. 143–150, hier 144. 67 Vgl. Kommissarischer GStA an Ministerpräsidenten über MdJ vom 3. 6. 1947 (SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 234). 68 So rückblickend auch der seinerzeitige Vorsitzender Richter des Schwurgerichts Fritz Köst. Vgl. Gutachterliche Äußerung vom 2. 7. 1950 ( ebd., Nr. 87/2, Bl. 12). 69 Vgl. Kommissarischer GStA an SMAS vom 1. 10. 1947 ( ebd., Nr. 87/1, Bl. 287). 70 Vgl. Urteil des OLG Dresden vom 7. 11. 1947 (20.220/47). In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band X, S. 558–560 ( Nr. 1592c ). 71 Zum SMAD - Befehl 201 und seinen Auswirkungen auf die Entnazifizierung in der SBZ vgl. Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 162–232. 72 Vgl. ebd., S. 121.

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wegen schwerer Krankheit abgetrennt werden – massiv erhöht.73 Milderungsgründe, 1947 eindrücklich in die Urteilsbegründung aufgenommen, wurden diesmal ignoriert. Die vom OLG im Falle von Erich Anger eingeforderten Belege für dessen „politische Tätigkeit“ ließen sich nicht erbringen. Stattdessen wurden von diesem selbst ins Gespräch gebrachte Entlastungsversuche strafverschärfend gewertet. Dass Anger „auch gegen Mitglieder der NSDAP und SA scharf vorgegangen“ sei, belege nur sein Streben „nach Reinheit innerhalb der Partei“.74 Nach Aufenthalten in den Zuchthäusern Waldheim, Hoheneck oder Brandenburg wurden die Verurteilten Anfang, spätestens Mitte der 50er Jahre aus der Haft entlassen und gingen nach Westdeutschland. Nur Erich Anger war noch jung genug, in den Justizdienst übernommen zu werden.75 Bis 1950 kam es in der SBZ / DDR noch zu fünf Anklagen gegen Juristen.76 Obwohl das Dresdner Verfahren vehement in die Kritik geraten war, ging die Justiz mit Freisprüchen, Bewährungsstrafen und geringen Gefängnis - und Zuchthausstrafen auch weiterhin „ziemlich zurückhaltend“ vor.77 Erst nach 1960 wurde die Strafverfolgung wieder aufgenommen. Bis 1989 verurteilten DDR Gerichte vier weitere ehemalige Juristen, jetzt mit Strafen bis zu 15 Jahren.78

73 Hans Fischer erhielt 6 Jahre Zuchthaus, Karl Mueller 3 Jahre Gefängnis, Walter Bücking 10 Jahre Zuchthaus und Erich Anger 12 Jahre Zuchthaus. 74 Vgl. Urteil LG Dresden ( Gr. Strafkammer 201) vom 29. 6. 1948 ( StKs 33/48 1. Gr 17/48). In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band X, S. 535–541 ( Nr. 1592a ). 75 Vgl. Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu Nazi - und Kriegsverbrechen. Hg. vom Generalstaatsanwalt der DDR und dem Ministerium der Justiz der DDR, Berlin (Ost ) 1965, S. 34. 76 Neben den bereits erwähnten zwei Verfahren gegen Dresdner OLG - Richter ( vgl. Anm. 6) : Urteil des LG Bautzen gegen Amtsgerichtsdirektor Kloß : 2 Jahre Zuchthaus (9a StKs 12/48); Urteil des LG Magdeburg gegen den Ministerialdirektor im RJM Karl Malzan vom 2. 11. 1948 : 7 Jahre Gefängnis (1 StKs 219/48); Urteil des LG Halle gegen Ernst Nischelsky vom 12. 4. 1949 : 2,5 Jahre Gefängnis (13a StKs 26/49). Letzteres Urteil wurde durch das OLG Halle am 15. 8. 1949 im Revisionsverfahren ( ERKs 59/49) aufgehoben und Nischelsky freigesprochen. Das OG der DDR kassierte am 13. 6. 1950 den Freispruch und übernahm die Strafhöhe des erstinstanzlichen Urteils (3 Zst 25/50 – 4 Kass. 19/50). 77 Christiaan Frederik Rüter, Die Ahndung von NS - Gewaltverbrechen im deutsch - deutschen Vergleich. In : Die juristische Aufarbeitung von NS - Verbrechen und deren Widerspiegelung in der Gedenkkultur. Hg. von der Linkspartei.PDS, Fraktion im Landtag Sachsen - Anhalt, Halberstadt 2005, S. 65–82, hier 73. 78 Urteil des Bezirksgericht ( BG ) Gera gegen Gerhard Pchalek vom 8. 4. 1960 : 4 Jahre Zuchthaus (1 Bs 121/59 I 147/59). In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band III, S. 503–511 ( Nr. 1089a ); Urteil des BG Schwerin gegen Johannes Breyer vom 14. 4. 1961: 8 Jahre Zuchthaus (1 Bs 126/60 I 138/60). In : ebd., S. 351–374 ( Nr. 1080a ); Urteil des Stadtgerichts Berlin gegen Rudolf Hermann August Otte vom 19. 10. 1981 : 12 Jahre Haft (101a Bs 40/81). In : ebd., Band I, S. 315–327 ( Nr. 1011); Urteil des Stadtgerichts Berlin gegen Erich Geißler vom 5. 4. 1982 : 15 Jahre Haft (101a Bs 17/82). In : ebd., S. 301–312 ( Nr. 1010).

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Das Verfahren in der Öffentlichkeit

Betrachtet man die Quellen unkritisch, scheint der Prozess in der Öffentlichkeit ausgiebig rezipiert worden zu sein. Es gab während des ersten Verfahrens 1947 eine ausgiebige Presseberichterstattung, in den Wochen nach der Urteilsverkündung Diskussionen über den Ausgang des Verfahrens in der lokalen Tagespresse und, nimmt man die das Gericht erreichenden Telegramme und Schreiben für bare Münze, eine rege Anteilnahme in der Bevölkerung. Doch was bedeutet „Öffentlichkeit“ in der sowjetischen Besatzungszone in diesen Jahren eigentlich ? Noch waren die Parteien, ihre Medien und damit die öffentliche Meinung nicht vollständig gleichgeschaltet. Noch gab es Widerspruch und alternative politische Konzepte. Der Umgang mit dem Dresdner Juristenprozess zeigt aber, dass schon in den ersten Nachkriegsjahren eine freie Öffentlichkeit – gestützt auf den freien Zugang zu Informationen und einen freien Austausch unterschiedlicher Meinungen, wie in liberalen Gesellschaften üblich, nicht mehr gegeben war, dass es sich hier also um eine Teilöffentlichkeit, um eine gelenkte bzw. simulierte Öffentlichkeit handelte. Banal erscheint die Feststellung, dass es sich bei der deutschen Nachkriegsgesellschaft um eine geografisch fragmentierte Öffentlichkeit handelte. Der Zugang zu Informationen zwischen den Besatzungszonen ( auch zwischen den Ländern einer Besatzungszone ) sowie das Interesse an diesen waren angesichts der Zusammenbruchsgesellschaft begrenzt. Zudem gab es bestimmte Bereiche, in denen kritische Meinungen ausgeschlossen waren. Der Terror der Besatzungsmacht, die zielgerichtet wie auch ziellos verhaftete, folterte, erschoss und verschwinden ließ, wurde in der Regel stumm hingenommen, prägte aber das Verhalten der Bevölkerung und der nichtkommunistischen Politiker und Funktionseliten. Doch wie sah es nun mit den Informationen im Dresdner Raum über den Prozess gegen die Richter und Staatsanwälte aus ? Bereits im Januar 1946 erwähnte die sozialdemokratische „Volksstimme“ Pläne für einen Prozess gegen Juristen. Der Generalstaatsanwalt von Sachsen, John Ulrich Schroeder,79 kündigte diesen anlässlich einer Gedenkfeier für hingerichtete Kommunisten an.80 Er brachte den Prozess dabei mit den über Tausend Hinrichtungen am Münchner Platz in Dresden in Zusammenhang, eine falsche Aussage, die von der Staatsanwaltschaft auch während des Verfahrens weiter verfolgt wurde.81 Im März 1946 wie-

79 Vgl. Notizen zum Leben des Genossen Prof. Dr. jur. John Ulrich Schroeder von März 1988 ( SächsHStAD, Bezirksparteiarchiv der SED, V /2.049.001, unpag.). 80 Vgl. Volksstimme vom 16. 1. 1946 : „Ein Prozess gegen faschistische Richter“; Entwurf einer Verordnung über die Einsetzung eines Gerichts zur Aburteilung nationalsozialistischer Verbrecher von Januar 1946 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 2–5). 81 Vgl. Plädoyer von StA Fröbel ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 167–180, hier 170 f.).

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derholte Schroeder seine Ankündigung.82 Dann erfuhr die Dresdner Bevölkerung ein Jahr nichts mehr von dem geplanten Prozess. Erst im Mai 1947 gab es erneute Hinweise auf das Verfahren,83 die allerdings nicht erwähnten, dass die Sowjetische Militäradministration in Sachsen das Verfahren 1946 sistiert und die Akten erst im Februar 1947 wieder zurückgegeben hatte. Über die plötzliche Eile kann nur spekuliert werden. Wie auch beim Dresdner Ärzteprozess scheint die zeitliche Nähe zu den Nürnberger Verfahren evident. Während des Prozesses berichteten alle drei Dresdner Tageszeitungen mehr oder weniger ausführlich.84 Dabei fällt auf, dass sich die SED - Zeitung knapper fasste, was allerdings in zweifacher Hinsicht einleuchtet : Zum einen erforderte nur eine differenzierte Berichterstattung Raum, zum anderen schien sich die SED der Verhängung von Todesstrafen sicher. Dabei spielte auch die Besetzung des Gerichtes eine Rolle : Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und zwei der drei Berufsrichter waren SED - Mitglieder, ebenso besaßen vier der sechs Schöffen das SED - Parteibuch. Die unterschiedlichen Erwartungen schlugen sich in der Reaktion auf das Urteil, insbesondere die Strafhöhe, nieder. Während die „Sächsische Zeitung“ „Menschlichkeit niedrig im Kurs“ und „empörend niedrige Urteile“ titelte,85 frohlockte das liberaldemokratische „Tageblatt“ : „Humanes Urteil im Dresdner Juristenprozess“.86 Die bürgerlichen Blätter betonten unisono die bewusste Abgrenzung des Gerichtes von der „Blutjustiz“ der NS - Zeit. Die „Sächsische Zeitung“ begann zwei Tage nach Prozessende mit einer Gegenkampagne : Das Urteil unterscheide sich nicht „von den Freisprüchen von SS - Banditen, wie sie im Westen üblich sind“; „auch im fortschrittlichen, demokratischen Sachsen“ sei es möglich, dass „eine Justiz den Nazibanditen [...] kollegial die rettende Hand reicht“. Diese Angriffe wurden durch eine diffamierende Karikatur ergänzt, auf der ein Richter dem identisch aussehenden Angeklagten entlastende Argumente in den Mund legt. Dass sich die sächsische SED nicht mit medialer Kritik zufrieden geben würde, verdeutlichte der letzte Satz dieses Artikels : „Die Arbeiter in Stadt und Land, die gesamte Bevölkerung, die genug von Krieg und Faschismus hat, und nach Frieden, Fortschritt und Menschlichkeit verlangt,

82 Vgl. Volksstimme vom 16. 3. 1946 : „Verantwortlichkeit für unmenschliche Urteile“ von John Ulrich Schroeder. Ein gleichlautender Bericht in der Täglichen Rundschau (SMAD) war neben dem sogenannten Puttfarcken - Prozess Anlass für den Aufsatz Gustav Radbruchs, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In : Süddeutsche Juristenzeitung, 1 (1946) 5, S. 105–108, hier 106. 83 Vgl. Neues Deutschland vom 22. 5. 1947 : „Nazijuristen unter schwerer Anklage“. 84 Vgl. Sächsische Zeitung vom 29. 5. 1947 : „Richter und Staatsanwälte auf der Anklagebank“ und vom 30. 5. 1947 : „Staatsanwälte der Nazijustiz“; Die Union ( CDU ) vom 1. 6. 1947 : „Gericht über Richter und Staatsanwälte“; Sächsische Zeitung vom 2. 6. 1947: „Todesstrafe im Dresdner Juristenprozess beantragt“; Sächsisches Tageblatt vom 2. 6. 1947 : „Der Dresdner Juristenprozess“. 85 Vgl. Sächsische Zeitung vom 3. 6. 1947. 86 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 5. 6. 1947.

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denkt so, wie wir, dessen sind wir uns sicher.“87 Nun plante die KPD schon vor Kriegsende, durch Entfachen von „Empörung und Hass des Volkes gegen Nazismus, Militarismus und Reaktion“, durch die Entfaltung des „Volkszorns“ das verschüttete Klassenbewusstsein wieder zu erwecken88 und damit Millionen Deutsche von Schuld zu exkulpieren. In eigener Regierungsverantwortung kam hinzu, auch von selbst verschuldeten Missständen abzulenken. Wie man einen „Volkszorn“ simulierte und aus welchen Gründen, verdeutlicht der Ablauf einer dieser „Protestveranstaltungen“ : Noch am Nachmittag des 4. Juni – an diesem Morgen erschienen die prophetischen Worte der „Sächsischen Zeitung“ – wurde im Landkreisamt Pirna die Belegschaft zusammengerufen. Der Betriebsratsvorsitzende begann seine Ausführungen mit „der Ernährungskrise, dem Unverstand und der bewussten Absicht großer Teile der Bevölkerung, hierin nur die Schuld der heutigen Ver waltung und der heutigen Regierung zu sehen“. Auch hier auf dem Land gelte es daher, „wachsam zu sein gegenüber allem, was gesagt und getan wird und mehr oder weniger offensichtlich reaktionär“ sei. Ein Beleg, wie offen die Reaktion schon wieder arbeite, seien „die in Dresden gefällten Urteile gegen die Nazirichter“. Im Gegensatz zum eben kritisierten „Unverstand“ der Bevölkerung forderte das „gesunde Volksempfinden“89 als allein angemessene Strafe für die angeblichen Justizmassenmorde die Todesstrafe, die Absetzung der Richter des Schwurgerichts und deren zwangsweisen Einsatz in der Produktion. Angesichts des Klimas, das inzwischen herrschte, ver wundert es nicht, wenn dem Gericht eine große Anzahl ( bestellter ) Protestschreiben zuging, aber keine Meinungsäußerungen zugunsten der Angeklagten. Affirmative ( wenn auch anonyme ) Meinungsäußerungen – wie es sie etwa bei der Ermordung von Behinderten, einem brisanten, politisch aber weniger relevanten Thema, gab90 –waren in Fragen der Strafjustiz völlig ausgeschlossen. Dass in der Bevölkerung aber keineswegs Forderungen nach Härte, Todesstrafen und / oder lebenslangen Strafen vorherrschten, wie die Protestschreiben suggerieren sollten, verdeutlicht die Haltung der mehrheitlich der SED angehörenden Laienrichter. Die in der SED Presse kritisierte Diskrepanz zwischen Urteilsbegründung und Strafhöhe bestand zwar, war jedoch Ausdruck des auch in Ostdeutschland ungeklärten 87 Vgl. Sächsische Zeitung vom 4. 6. 1947 : „Kontrast zwischen Urteilsbegründung und Strafmaß“. 88 Vgl. Manfred Bensing, Die Formierung der Arbeiterklasse zum Hegemon der antifaschistisch - demokratischen Umwälzung in der Sowjetischen Besatzungszone 1945/46 als Zäsur in der Geschichte der Arbeiterklasse. In : Jahrbuch für Geschichte, 17 (1977), S. 365–418, hier 378. 89 Vgl. Resolution der SED Ortsgruppe Putzkau vom 6. 6. 1947 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 87/1, Bl. 250); Resolution der SED - Betriebsgruppe Staatliche Porzellan - Manufaktur Meißen vom 9. 6. 1947 ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 1550, Bl. 153). 90 Vgl. Thomas R. Müller, „Ein Prozess, dem das stärkste Allgemeininteresse entgegengebracht wird“ – Der Dresdner „Euthanasie“ - Prozess und die Öffentlichkeit. In : Böhm / Hacke ( Hg.), Fundamentale Gebote, S. 77–84, hier 79 f.

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Umgangs mit nationalsozialistischem Justizunrecht : Sollte die „reaktionäre Klassenjustiz“ der Weimarer Republik, die übergangslos in die NS - Diktatur wechselte, entlarvt und ausgeschaltet werden oder ging es um die individuelle Tatbeteiligung der Angeklagten ? War die Justiz des „Dritten Reiches“ mit Machtantritt der Nationalsozialisten verbrecherisch oder gab es „Stichtage“, ab denen Juristen Einsicht in das Verbrecherische gewinnen mussten ?91 Waren nur die massenhaften Todesurteile der Kriegszeit unmenschlich oder auch die politischen Verfahren der 30er Jahre ? Die Kritik an den „reaktionären“ und „formaljuristischen“ Richtern ging an der Realität vorbei. Wie erwähnt, war das Gericht mehrheitlich mit SED - Mitgliedern besetzt, es waren ebenso Berufs - als auch Volksrichter beteiligt und für die abgewogene Strafhöhe waren eben nicht die traditionell ausgebildeten Richter, sondern die Schöffen verantwortlich.92 Zu Angriffen gegen die „reaktionäre“ Justiz eignete sich der Fall allemal. Wie der weitere Fortgang des Verfahrens ( und anderer !) zeigt, verfehlte der simulierte „Volkszorn“ seine Wirkung bei Richtern und Schöffen nicht. Besonders brisant wurde die Kampagne, als der Verteidiger Dr. Fritz Glaser93 wegen seines Auftretens während des Verfahrens gemaßregelt wurde. Glaser, jüdischer Abstammung, vor 1933 Vertragsanwalt der „Roten Hilfe“ und einer der wichtigsten Mäzene „fortschrittlicher“ Künstler in Dresden,94 hatte 1933 nicht nur seine Zulassung als Rechtsanwalt ( wegen kommunistischer Betätigung!)95 und schrittweise seinen gesamten Kunstbesitz96 verloren, sondern auch einen Großteil seiner Familie im Holocaust. Ähnlich wie Victor Klemperer überlebte er nur durch den Schutz seiner „arischen“ Ehefrau und entging der Deportation nur wegen des verheerenden Bombenangriffs auf Dresden im Februar 1945.97 Physisch und psychisch schwer angeschlagen, versuchte er nach 1945 wieder in Dresden Fuß zu fassen. 91 So meinte das OLG Halle in den Morden des 30. Juni 1934 einen solchen Stichtag zu sehen. Vgl. Urteil des OLG Halle vom 15. 8. 1949 ( ERKs 59/49). Das LG Dresden sah im Ausscheiden aus dem Strafsenat des OLG Dresden Anfang 1943 aus Ablehnung der „Thierackschen Terror - und Blutjustiz“ einen ausreichenden Grund für einen Freispruch. Vgl. Urteil des LG Dresden vom 23. 5. 1949 ( KStKs 15/49 2 kl. 1/49). 92 Vgl. Bericht des kommissarischen GStA von Sachsen, Richter, über den Juristen - und den Euthanasieprozess, Entwurf vom 18. 9. 1947 ( SächsHStAD, 11380 LRS, MdJ, Nr. 57, unpag.). 93 Härtel, Fischer, Mueller, Schulze und Bücking wurden von RA Dr. Fritz Glaser, Anger von RA Langenhan vertreten. 94 Vgl. z. B. Heike Biedermann, Ernst Bursche und die Dresdner Kunstsammler Fritz Glaser und Friedrich Bienert. In : Ernst Bursche zum 100. Geburtstag. Hg. von der Städtischen Galerie Dresden, Altenburg 2007, S. 14–19. 95 Vgl. Sächsisches Justizministerium an RA Dr. Fritz Salo Glaser vom 29. 9. 1933 (SächsHStAD, 11455 Bezirksgericht Dresden, Personalakte Dr. Fritz Glaser, G 329, Bl. 109). 96 Vgl. Sabine Rudolph, Restitution von Kunstwerken aus jüdischem Besitz. Dingliche Herausgabeansprüche nach deutschem Recht, Berlin 2007, S. 30 f. 97 Vgl. Gesuch von Erna Glaser um Rehabilitierung vom 20. 12. 1965 ( SächsHStAD, 11430 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Dresden, VdN - Akten, Nr. 1992, unpag.).

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Glaser nahm in seinem Plädoyer Argumente von Gustav Radbruch und Helmut Coing auf, um die Straf losigkeit richterlichen Handels zu belegen. Zudem ver wies er auf die vor allem von der SED propagierte Todesstrafe für Wirtschaftsverbrecher „in Notzeiten“98 und versuchte Parallelen zu den Höchststrafen in der Kriegszeit zu ziehen. Glaser beantragte Freisprüche für seine Mandanten. Damit aber hatte er in den Augen der SED und der VVN „die Toten schwerstens beleidigt“ und „sich zum Fürsprecher aller faschistischen Henkersknechte“ gemacht.99 Bereits einen Tag nach Urteilsverkündung wurde ihm die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ und damit die notwendige soziale und moralische Absicherung entzogen.100 Nachdem die Kampagne gegen Glaser in der kommunistischen Presse immer diffamierender wurde,101 sprang der Chefredakteur des „Sächsischen Tageblatts“ seinem Parteifreund Glaser mit einem mehrseitigen Artikel zur Seite. Darin legte er noch einmal die sicher angreifbaren Argumente Glasers dar und ver wies auf die negativen Folgen der SED - gesteuerten Kritik. Durch die Angriffe, die mit freien Meinungsäußerungen nichts zu tun hätten, bestehe die Gefahr, dass Richter gezwungen würden, gegen Gesetz und Gewissen zu entscheiden.102 Jetzt erreichte die Auseinandersetzung ein neues Niveau. Hans Teubner, der Chefredakteur der „Sächsischen Zeitung“, unterstellte dem liberaldemokratischen Blatt „Verherrlichung des Hitlerregimes“ und „Rechtfertigung der Unmenschlichkeit“.103 Doch die Kritik an der Maßregelung Glasers zog inzwischen weitere Kreise : Die Verteidiger im Dresdner Ärzteprozess kritisierten die Angriffe und diskutierten eine kollektive Mandatsniederlegung.104 Auch die christdemokratische Zeitung „Die Union“ äußerte sich. Zwar distanzierte sie 98 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 18. 2. 1947 : „Im Namen des Volkes. Grundsätzliche Betrachtungen zur generellen Abschaffung der Todesstrafe“ und „Landtagsmehrheit für Todesstrafe. Gesetz gegen Schieber und Schwarzhändler angenommen“. 99 Vgl. Sächsische Zeitung vom 9. 6. 1947 : „Ein merkwürdiges OdF im Juristenprozeß. Das Echo auf das Dresdner Fehlurteil“. 100 Vgl. Beschluss der Prüfungskommission des Ortsausschuss OdF Dresden vom 3. 6. 1947 ( SächsHStAD, 11430 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Dresden, VdN - Akten, Nr. 1992, unpag.). Trotz mehrmaliger Anträge Glasers wurde dieser Beschluss nicht rückgängig gemacht. Auch die Fürsprache des Präsidenten der Volkskammer der DDR, Johannes Dieckmann, oder der Dozentin an der Juristischen Fakultät der Humboldt - Universität Berlin, Linda Ansorg, verhalfen den Angehörigen Glasers nach dessen Tod 1956 nicht zu einer Anerkennung als Hinterbliebene eines Verfolgten des Naziregimes. 101 So charakterisierte das Leipziger SED - Organ Glaser als „Gewerbetreibender, der unter allen Umständen und skrupellos in der Wahl seiner Mittel einen Erfolg erzielen will, wie es ein Schleichhändler auf dem Schwarzmarkt versucht“. Leipziger Volkszeitung vom 11. 6. 1947 : „Die Blutrichter und ihre Verteidiger. Absurditäten eines OdF vor dem Dresdner Schwurgericht“. 102 Sächsisches Tageblatt vom 14. 6. 1947 : „Das Gesetz der Ethik. Grundsätzliches zum Dresdner Juristenprozess“. 103 Sächsische Zeitung vom 19. 6. 1947 : „Für eine Justiz der Menschlichkeit“. 104 Schreiben der Verteidiger an das Schwurgericht, o. D. ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 2528, Bl. 155).

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sich von der Argumentation des „Tageblatts“, aber ebenso vom „Druck der Straße“ und dem Vorgehen gegen Glaser : „Aus der ehrlichen, unabhängigen und nur der Wahrheitsfindung dienenden Mitwirkung an einem Prozess darf keinem der Beteiligten ein persönlicher Nachteil erwachsen. Wenn sich die neue deutsche Demokratie nicht an diesen Grundsatz einer freien Gerichtsbarkeit hält, fällt sie in die Fehler des Nazisystems zurück.“105 Trotz dieser Fundamentalkritik am SED - gesteuerten Vorgehen geschah nun etwas scheinbar Unglaubliches : Die Berichterstattung in den Dresdner Medien über den Prozess und seine Auswirkungen brach Ende Juni 1947 ab. Das offizielle Sprachrohr der SMAD, die „Tägliche Rundschau“, wiederholte am 26. Juni leicht gekürzt den Artikel des Chefredakteurs der „Sächsischen Zeitung“,106 damit war die Argumentation des „Tageblatts“ „ex cathedra“ verurteilt und wurde auch nicht mehr wiederholt. Die Besatzungsmacht hatte aber auch andere Kanäle, um ihre Missbilligung zu übermitteln. Da die Zeitungslizenzen fast ausschließlich an Parteien vergeben wurden, konnte sie nicht nur über die Redaktionen, sondern auch über die Parteiorganisationen direkt Einfluss auf die Gestaltung der Zeitungen nehmen.107 Und so fiel der sächsische LDPD - Chef Hermann Kastner, der für Posten und Schmeicheleien sehr empfänglich war,108 auf einer der nächsten Landesvorstandssitzungen seinem Parteifreund und Chefredakteur des „Sächsischen Tageblatts“, Erich Leschner, in den Rücken. Er verbat sich „Politik auf eigene Faust“ ohne Abstimmung mit den Parteigremien und gab die Strafandrohung der sowjetischen Besatzungsmacht weiter. Leschner bestätigte die sowjetische Kritik und den Befehl, alle vorgesehenen Einzelthemen für den kommenden Monat zur Prüfung vorzulegen. Am Ende musste sich der Chefredakteur wie ein Schuljunge für den der Partei entstandenen Schaden entschuldigen.109 Das alles half jedoch nichts. Am 30. September 1947 teilte Kastner der Sowjetischen Militäradministration in Sachsen mit, dass Leschner als Chefredakteur abgesetzt werde.110 Doch warum schwieg nun auch die kommunistische Presse ? Zuallererst hatte dies tagespolitische Gründe. Die Auseinandersetzung um das Urteil und die Kritik an den Prozessbeteiligten hatten eine derartige Vehemenz angenommen, dass die im Sommer 1947 mühsam kaschierten Spannungen innerhalb des „Blocks der antifaschistisch - demokratischen Parteien“ aufzubrechen drohte. Die Aberkennung des OdF - Status für ein genuines NS - Opfer wie Glaser war selbst 105 Die Union vom 22. 6. 1947 : „Recht und Gesetz“. 106 Tägliche Rundschau vom 26. 6. 1947 : „Recht und Richter“. 107 Vgl. Peter Strunk, Zensur und Zensoren. Medienkontrolle und Propagandapolitik unter sowjetischer Besatzungsherrschaft in Deutschland, Berlin 1996, S. 65. 108 Hermann Kastner (1886–1957), Landesvorsitzender der LDPD und 1946–48 sächsischer Justizminister. Vgl. Brillanten sucht die Pompadour. In : Der Spiegel vom 11. 8. 1949, S. 9 f. 109 Protokollnotizen über die Sitzung des Landesvorstands der LDP am 20. August 1947 in Dresden ( Archiv des Deutschen Liberalismus, LDP - Vorstand, L5–266, unpag.). 110 Vgl. Kastner an Oberstleutnant Mühlstein, SMAS, vom 30. 9. 1947 ( SächsHStAD, 12970 Personalnachlass Prof. Dr. Hermann Kastner, Nr. 54, unpag.).

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eigenen Anhängern schwerlich vermittelbar.111 Die Spannungen zwischen SED und Liberalen bzw. Christdemokraten hatten sich seit Sommer 1947 erheblich verschärft. An der Basis der bürgerlichen Parteien rumorte es gewaltig, in den Vorstandssitzungen wurde die weitere Zusammenarbeit im Block nicht nur, aber auch wegen der fehlenden Rechtsstaatlichkeit zumindest verbal zur Disposition gestellt.112 Zudem befand sich die SED in Sachsen in einer besonderen Zwangslage. Nach dem Tode von Ministerpräsident Rudolf Friedrichs113 sollte Max Seydewitz114 im Sommer 1947 zu dessen Nachfolger gekürt werden. Die Zustimmung der bürgerlichen Landtagsfraktionen für diese Wahl wurde jedoch verzögert. Seydewitz versprach eine faire und gleichberechtigte Zusammenarbeit im Block und beruhigte mit Posten und Pöstchen für bürgerliche Politiker.115 Dieses Versprechen wurde später – wir kennen den weiteren Gang der Entwicklung – natürlich nicht eingelöst, im Moment aber konnte eine weitere Auseinandersetzung nur schaden. Doch auch als die Stellung der SED gefestigter war, spielte der Juristenprozess in der Öffentlichkeit kaum noch eine Rolle. Über die Entscheidungen im Revisions - und Wiederaufnahmeverfahren wurde ebenso kursorisch berichtet wie über die beiden noch anstehenden Verfahren gegen Richter des OLG Dresden. Die Drohung der sowjetischen Militäradministration und die inszenierten Proteste hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Auch als im Sommer 1950 das OLG Halle einen bereits zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilten Richter des OLG Breslau im Revisionsverfahren freisprach, schwieg die regionale und überregionale Presse. Ein Meinungsstreit über den Weg zur Ahndung des NS - Justizunrechts oder gar das Für und Wider der Strafverfolgung war tabu; eine objektive Berichterstattung und eine freie Stellungnahme nicht mehr gestattet. Obwohl wegen der grundsätzlichen und beispielhaften Bedeutung des Prozesses unüblicher weise sogar die Plädoyers der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und des Gerichtsvorsitzenden mitstenografiert worden waren,116 wurde das Verfahren auch in der Rechtswissenschaft nicht weiter rezipiert, sondern fiel im weiteren Verlauf weitgehend der Vergessenheit anheim.117 Allein der von 111 Vgl. den Tagebucheintrag Victor Klemperers vom 15. 6. 1947. In : So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959. Hg. von Walter Nowojski, Berlin 1999, Band I, S. 393. 112 Vgl. Notizen betr. Sitzung des Landesvorstandes [ der LDPD ] mit den Kreisvorsitzenden am 11. 6. 1947 in Dresden ( Archiv des Deutschen Liberalismus, L5–266, unpag.). 113 Rudolf Friedrichs (1892–1947), seit Mai 1945 Oberbürgermeister Dresdens, ab Juni 1945 Präsident der Landesver waltung Sachsens, ab Oktober 1946 Ministerpräsident. 114 Max Seydewitz (1892–1987), 1947–1952 Ministerpräsident Sachsens. 115 Vgl. Bericht über die am 18. 7. 1947 im Sächsischen Landtag stattgefundene Blocksitzung ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 497/1, Bl. 176–181). 116 Dass dies dann zur Maßregelung des Verteidigers genutzt wurde, zeigt die politischen Realitäten des Jahres 1947, intendiert war diese Ver wendung ursprünglich nicht. 117 Obwohl die von Radbruch angestoßene Debatte in der Süddeutschen Juristenzeitung über das Für und Wider der Ahndung juristischen Unrechts von den Entwicklungen in der SBZ ( auch in Dresden ) angeregt wurde, fand die weitere Entwicklung im Osten

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einem Autorenkollektiv unter der Leitung Hilde Benjamins herausgegebene Band „Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945–1949“ berichtete von der seinerzeitigen Kritik am Urteil. Sowohl die gegen den Westen gerichtete Propagandaschrift „Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu Nazi - und Kriegsverbrechen“118 als auch die eher populär wissenschaftlich ausgerichtete Publikation „Zwischen Galgen und Amnestie“ führen nur das Wiederaufnahmeverfahren 1948 auf und verschweigen die Auseinandersetzungen im Sommer 1947. Auch in einer Darstellung „faschistischer Gewalttaten“ und deren Sühne erinnerte man sich lieber an den in der Strafhöhe kritikwürdigen Prozess gegen das Personal der Untersuchungshaftanstalt Dresden als an ein differenziertes und daher missliebiges Urteil wie jenes gegen die Dresdner OLG - Richter.119

4.

Fazit

Zwischen 1945 und 1989 wurden im östlichen Teil Deutschlands 19 Juristen, die in unterschiedlichem Maße in nationalsozialistische Justizverbrechen verstrickt waren, vor ( ordentliche ) Gerichte gestellt.120 Jedoch erreichte nur das Verfahren vor dem Dresdner Schwurgericht 1947 auch durch die kontroverse Aufnahme des Urteils eine relevante öffentliche Aufmerksamkeit. Die generellen Angriffe auf die Justiz unter dem Schlagwort „Justizkrise“ oder „Vertrauenskrise der Justiz“ hatten mit konkreten Verfahren, hier dem Juristenprozess, wenig zu tun. Diese lieferten nur den mehr oder weniger willkürlich genutzten Anlass. In den seltenen Fällen, in denen es gelang, die realen Umstände der kritisierten Verfahren darzulegen, flüchtete man sich in Allgemeinplätze.121 Wurde die Justizschelte als unzulässiges Druckmittel thematisiert, gerierte sich die SED als Hüter der demokratischen Meinungs - und Informationsfreiheit.122

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und speziell der Dresdner Juristenprozess keine Beachtung. Dabei war das Verfahren nicht gänzlich unbekannt : Am 14. 6. 1947 berichtete die Frankfurter Rundschau, eine Urteilsabschrift ging auf eigenes Ersuchen der OStA Köln zu. Vgl. OStA Köln an StA Dresden vom 23. 6. 1947 ( SächsHStAD, 11120 StA beim LG Dresden, Nr. 85, Bl. 83). Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu Nazi - und Kriegsverbrechen. Hg. vom Generalstaatsanwalt der DDR und dem Ministerium der Justiz der DDR, Berlin ( Ost ) 1965. Vgl. Die Folterknechte vom Münchner Platz. In : Willy Forner, Das Verbrechen von La Mornasse, Berlin ( Ost ) 1983, S. 135–142. Zum Vergleich : Allein zwischen 1949 und 1956 wurden in der DDR in 22 Verfahren aktive ( also auf ihre antifaschistische Vergangenheit und Gesinnung geprüfte ) Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte wegen zu großer Milde gegenüber angeblichen Gegnern, wegen Kontakten zum Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen oder wegen angeblicher Spionage verurteilt. Vgl. Peter Erler, Politische Prozesse in der DDR. Eine Übersicht über politische Prozesse 1949–1989, Berlin 2001. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 7. 5. 1947 : „Landtagdebatte über Blockpolitik“. Vgl. Sächsische Zeitung vom 19. 6. 1947 : „Für eine Justiz der Menschlichkeit“ von Hans Teubner; Bericht über die am 18. 7. 1947 im Sächsischen Landtag stattgefundene Blocksitzung ( SächsHStAD, 11376 LRS, Ministerpräsident, Nr. 497/1, Bl. 176–181, hier 178– 180).

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Die mediale Auseinandersetzung im Sommer 1947 zeigt allerdings auch, dass kritische und alternative Meinungen hinsichtlich der weiteren Entwicklung der ostdeutschen Gesellschaft im Allgemeinen oder die Art und Weise der Auseinandersetzung mit dem Erbe der NS - Diktatur noch nicht mundtot gemacht worden waren. Der Rahmen, in dem sich Kritik äußern konnte, war jedoch schon massiv eingeschränkt. Nicht nur der Bereich der Besatzungspolitik war von Kritik ausgenommen. Nicht kritisiert werden durften auch solche – zumeist harte – Gerichtsentscheidungen, die das Gefallen der regionalen SED - Funktionäre fanden. Angriff und Verteidigung waren bei der Berichterstattung über das Justizwesen klar verteilt. Während die SED - Presse härteste Strafen bejubelte und die Unzulänglichkeit der „reaktionären Justiz“ anprangerte, versuchten die bürgerlichen Blätter Restbestände des Rechtsstaates zu retten. Die nicht nur von diesen Tageszeitungen artikulierte Betroffenheit über das Vorgehen nach dem Dresdner Juristenprozess konnten die offenen Angriffe auf Verteidigung und Gericht bremsen; sie konnten sie allerdings nicht verhindern oder in ihren Auswirkungen rückgängig machen. Wie die Beispiele des Rechtsanwalts Fritz Glaser und des Chefredakteurs Erich Leschner zeigen, hatte Kritik zumeist nur für den Kritiker Konsequenzen. Auch wenn die KPD / SED - Propaganda bei ihren Justizangriffen vordergründig an die Argumente der „Republikaner“ der 20er Jahre anknüpfte, hatten sich die Verhältnisse doch grundlegend verändert. Die KPD / SED hatte sich nach 1945 mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht die meisten Machtpositionen gesichert. Aus dieser Stellung heraus haben die andauernden Angriffe auf die Justiz und auf unliebsame Urteile mit ihrem verallgemeinernden Impetus viel mehr Ähnlichkeiten mit der Inszenierung einer „Justizkrise“ durch die Nationalsozialisten als mit den Auseinandersetzungen während der Weimarer Republik: Es ging der kommenden Staatspartei nicht um eine Verbesserung des Rechtsstaates, sondern um dessen Abschaffung. Der Dresdner Juristenprozess, seine mediale Begleitung und der Fortgang des Verfahrens verdeutlichen auch eine verspielte Chance. Unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungszone versuchte ein Gericht die Diskussion der Rechtsphilosophen über die Strafbarkeit von Justizunrecht in die Praxis zu übertragen. Dies konnten und wollten die Prozessbeteiligten nicht in aller Tiefe : Während das Gericht die Bedeutung des übergesetzlichen Rechts bei der Bewertung des richterlichen Handelns betonte, ver wies Rechtsanwalt Glaser naturgemäß auf die von Radbruch und Coing vertretene Auffassung einer weitgehenden Straf losigkeit der Richter. Die Unentschiedenheit in den Beiträgen der beiden Rechtstheoretiker spiegelte sich auch im Urteil wider. Dennoch blieb die in Dresden „hoffnungsvoll begonnene Aufarbeitung der NS - Justizverbrechen“123 mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung des Unrechts und der sorgfältigen Abwägung der individuellen Tatbeteiligung für lange Jahre ohne Beispiel.

123 Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 123.

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Angesichts der fehlenden Rezeption dieses oder ähnlicher Verfahren in der DDR stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die SED irgendein Interesse an einer weitergehenden Aufklärung der Bevölkerung ( oder gar der eigenen Justiz) über justitielles Unrecht haben konnte ? Die Frage zu stellen, heißt sie zu verneinen. Jede tiefer gehende Diskussion um die individuelle Tatbeteiligung von NS - Juristen ( und diese war lobenswerter weise ein wichtiger Bestandteil des Schwurgerichtsurteils ) hätte auch auf Fragen nach der Unabhängigkeit der Richter und das richterliche Widerstandsrecht aufgeworfen. Grundsätzliche Diskussionen um richterliche Handlungsspielräume oder gar übergesetzliche, den Menschenrechten verpflichtete Normen aber hätten auch das System des „Als - ob Rechts“ der DDR124 entlarvt. Dazu sei abschließend noch aus den Urteilsgründen gegen drei Dresdner OLG - Richter zitiert : „Wegen Rundfunksenderhörens, seien es auch feindliche, oder wegen der Verbreitung illegaler Schriften Menschen mit Zuchthaus zu bestrafen, verletzt eindeutig die Gebote der Humanität.“125 Ein Schelm, wer dabei auch an RIAS - Hörer, getarnte Sozialdemokraten oder Wachtturm - verteilende Zeugen Jehovas in der DDR denkt.

124 Vgl. Klaus Marxen, „Recht“ im Verständnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In : Roger Engelmann / Clemens Vollnhals ( Hg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR Berlin 1999, S. 15–24. 125 Urteil des LG Dresden gegen Richard Müller u. a. vom 23. 5. 1949 ( KStKs 15/49 2 kl. 1/49). In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen, Band VIII, S. 691–695 ( Nr. 1448).

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„Wir fordern schwerste Bestrafung.“ Der Dresdner „Euthanasie“ - Prozess 1947 und die Öffentlichkeit Boris Böhm / Julius Scharnetzky

Im Jahr 1939 hatte der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler den Leiter der Kanzlei des Führers Philipp Bouhler sowie seinen Begleitarzt Prof. Karl Brandt mit der Planung und Durchführung der nationalsozialistischen Krankenmorde beauftragt, denen bis 1945 etwa 250 000 Menschen jeden Alters mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie psychischen Erkrankungen zum Opfer fielen. Der staatlich organisierte Massenmord war das Ergebnis einer seit 1933 betriebenen Ausgrenzungspolitik gegen angeblich „lebensunwertes Leben“ und stellte deren radikalste Form dar. Während mit sämtlichen Maßnahmen gegen diese Opfergruppe bis 1939 auf die gesundheitliche Zukunft des deutschen Volkes Einfluss genommen werden sollte, begann das Regime zu Kriegsbeginn, auch die Gegenwart von allen vermeintlich Erbkranken und als unproduktiv Stigmatisierten zu „säubern“. Auf diese Weise sollte zum einen die nationalsozialistische Utopie eines starken, homogenen und gesunden „Volkskörpers“ ver wirklicht werden, zum anderen mussten aber auch dringend benötigte medizinische und wirtschaftliche Ressourcen eingespart beziehungsweise umgelenkt werden. Während Kinder seit 1939 hauptsächlich in sogenannten „Kinderfachabteilungen“ durch überdosierte Beruhigungsmittel und / oder Nahrungsentzug ermordet wurden, ließ die Kanzlei des Führers im Laufe des Jahres 1940 sechs zentrale Tötungsanstalten im Deutschen Reich einrichten, in deren Gaskammern im Rahmen der „Aktion T4“ bis August 1941 etwa 70 000 über wiegend erwachsene Opfer starben. Der „Euthanasie“ - Stopp vom 24. August 1941 stellte zwar die Tätigkeit dieser Todesfabriken weitgehend ein, doch ab 1942 verlagerte sich das Morden in die psychiatrischen Krankenhäuser des Reiches und an die Stelle des Kohlenmonoxids traten nun Barbiturate, Hungerkost oder bewusste Vernachlässigung.1 Der Gau Sachsen nahm im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ eine besondere Stellung ein, da sich die Verantwortlichen des für das Gesund1

Vgl. u. a. Henry Friedlander, Der Weg zum NS - Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997; Hans - Walther Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945, 2. Auflage Göttingen 1992; Klaus - Dietmar Henke ( Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008.

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heitswesen und die Landesanstalten zuständigen Sächsischen Ministeriums des Innern außerordentlich willfährig zeigten. Als viertes Mordzentrum nach Grafeneck in Württemberg, Brandenburg an der Havel und Hartheim bei Linz hatte im Frühjahr 1940 die Tötungsanstalt Sonnenstein im sächsischen Pirna ihren Betrieb aufgenommen. Zu diesem Zweck hatte die „Organisation T4“ einige Gebäude der 1939 aufgelösten Landesanstalt Pirna - Sonnenstein angemietet, in einem eine Gaskammer und zwei Kremierungsöfen installieren und das Gelände gegenüber den angrenzenden Bereichen hermetisch abriegeln lassen. Zwischen Juni 1940 und August 1941 wurden auf dem Sonnenstein etwa 15 000 Menschen hauptsächlich aus den Gauen Sachsen, Thüringen, Franken, DanzigWestpreußen, Ostpreußen, Schlesien und Sudetenland ermordet. Der Großteil von ihnen war über eine der vier sächsischen Zwischenanstalten Arnsdorf, Großschweidnitz, Waldheim und Zschadraß, die der Tötungsanstalt als Opferreser voir dienten, auf den Sonnenstein deportiert worden. Allein für den Gau Sachsen beläuft sich die Opferzahl auf über 6 000 Personen – damit war etwa die Hälfte der sächsischen Psychiatriepatienten der Mordaktion auf dem Sonnenstein zum Opfer gefallen.2 Die Landesanstalt Großschweidnitz, die unter der Leitung des überzeugten Nationalsozialisten Dr. Alfred Schulz (1890–1947) stand, versah nicht nur die Aufgabe einer Durchgangsanstalt, sondern im Rahmen der „Medikamenteneuthanasie“ auch die einer Tötungsanstalt. Schulz war einer von wenigen Direktoren gewesen, die 1943 mit der medikamentösen Tötung von Patienten betraut worden waren. Eine genaue Opferzahl lässt sich für Großschweidnitz nur schwerlich rekonstruieren. Entsprechend der noch vorhandenen Aufzeichnungen dürfte sie bei etwa 5 000 Patienten liegen.3 Nach der Bombardierung Leipzigs im Dezember 1943 wurde die dortige „Kinderfachabteilung“ in die Landesanstalt Großschweidnitz verlegt. Deren Leiter, Dr. Arthur Mittag4 (1897–1946), gab 1946 zu, bei etwa 800 Kindern die Anweisung zur Tötung gegeben zu haben.5 2

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Zur Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein siehe Boris Böhm, Die Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein 1940/41. In : Henke ( Hg.), Tödliche Medizin, S. 149–169; Thomas Schilter, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Tötungsanstalt Pirna- Sonnenstein 1940/1941, Leipzig 1999. Zur Landesanstalt Großschweidnitz im Rahmen der nationalsozialistischen Krankenmorde siehe den entsprechenden Abschnitt bei Holm Krumpolt, Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik auf die sächsische Landesheilanstalt Großschweidnitz im Zeitraum 1939–45, Diss. med., Leipzig 1994. Mittag sollte einer der Angeklagten im Prozess sein, hatte jedoch bereits am 21. 8. 1946 in der Radebeuler Untersuchungshaftanstalt einen Suizidversuch unternommen, an dessen Folgen er noch am selben Tag im Stadtkrankenhaus Radebeul verstarb. Ebenso wie die von ihm ermordeten Kinder starb auch Mittag an einer Überdosis Luminal. Vgl. Generalstaatsanwaltschaft an den Ermittlungsrichter Oberlandesgerichtsrat Schmidt vom 28. 8. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2528, Bl. 443e, 443h ). Vgl. Aussage Arthur Mittag vom 18. 3. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 31–35).

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Vorermittlungen und Prozessvorbereitungen

Obwohl der Mord einem Teil der deutschen Bevölkerung bereits vor 1945 bekannt war, bestand für die Angehörigen der Opfer erst nach dem Zusammenbruch des totalitären Regimes im Mai 1945 die Möglichkeit, die begangenen Verbrechen justitiell ahnden zu lassen. Obwohl das Gebiet der späteren Sowjetischen Besatzungszone ( SBZ ) respektive der Deutschen Demokratischen Republik ( DDR ) im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ eine exponierte Stellung eingenommen hatte, hielt sich die Aufarbeitung dieses Verbrechenskomplexes durch sowjetische und ostdeutsche Justizbehörden in Grenzen.6 Der in mehrfacher Hinsicht bedeutendste Prozess war der Dresdner „Euthanasie“ - Prozess, der vom 16. Juni bis zum 7. Juli 1947 am Landgericht Dresden vor einem Schwurgericht stattfand. Mit 15 Angeklagten, unter ihnen mit Prof. Paul Nitsche (1876–1948), einer der hauptverantwortlichen Organisatoren der Mordaktion, handelte es sich bei diesem Schwurgerichtsprozess um den umfangreichsten seiner Art in der SBZ / DDR. Überdies zeichnete er sich durch die Bemühungen des Gerichts aus, den Prozess trotz wachsender Eingriffe der Besatzer und der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ( SED ) in das Justizwesen unter der Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze durchzuführen. Obschon mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 die Möglichkeit bestand, deutsche Gerichte mit der Verhandlung von Verbrechen zu betrauen, die Deutsche an Deutschen begangen hatten, machte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland ( SMAD ) von diesem Recht bis zum August 1947 nur sehr zögerlich Gebrauch. Der Dresdner „Euthanasie“Prozess war bis zu diesem Zeitpunkt eines von lediglich etwas über 500 Verfahren gegen NS - Verbrecher, die vor deutschen Gerichten verhandelt werden durften. Im Gegensatz dazu fällten die Besatzer bis 1948 etwa 17 000 Urteile vor Sowjetischen Militärtribunalen, davon etwa die Hälfte wegen NS - und Kriegsverbrechen.7 Vor allem durch die Angehörigen von Opfern der nationalsozialistischen Krankenmorde in Sachsen angeregt, begannen bereits im Sommer 1945 erste Ermittlungen durch die Sowjetische Militäradministration in Sachsen ( SMAS ) sowie deutsche Polizeidienststellen. Im Zuge dieser Ermittlungen wurden mehrere Personen verhört, verhaftet und von den sowjetischen Besatzern inhaftiert, die sich nachweislich an den „Euthanasie“ - Verbrechen in Sachsen beteiligt hat6

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Eine Übersicht zu den in der SBZ / DDR geführten Prozessen gegen Täter der nationalsozialistischen „Euthanasie“ bei Frank Hirschinger, Die Strafverfolgung von NS - Euthanasieverbrechen in der SBZ / DDR. In : Henke ( Hg.), Tödliche Medizin, S. 225–246, hier 237 f. Vgl. Anette Weinke, Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949–1969 oder : Eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002, S. 44. Auswertung der Datenbanken der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft und des Hannah - Arendt - Instituts für Totalitarismusforschung (Stand : 2009).

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ten. Einige von ihnen waren auf Grund fehlender Zuständigkeiten deutscher Gerichtsbehörden bereits von „sowjetische Richtern“ verurteilt worden, wie aus einem Schreiben der Landeskriminalpolizei Thüringen her vorgeht.8 Hierbei dürfte es sich wohl um ein Sowjetisches Militärtribunal gehandelt haben. Anfang 1946 wurde am Landgericht Dresden eine Ermittlungsstelle eingerichtet, die den Auftrag bekam, die Aufklärung der Krankenmorde in Sachsen voranzutreiben und diesbezüglich ein Strafverfahren einzuleiten. Zusätzlich zu den Vernehmungen des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD ) begannen nun auch die Anhörungen von Zeugen und Tatverdächtigen durch die neu geschaffene Ermittlungsstelle. Am 20. Juni 1946 ging die Strafverfolgung ganz in die Zuständigkeit des Landgerichts über und die SMAS ließ sämtliche Inhaftierten in die deutsche Untersuchungshaftanstalt Radebeul überführen.9 Es handelte sich dabei um Prof. Nitsche, Dr. Ernst Leonhardt (1885–1947), den kommissarischen Leiter der sächsischen Landesanstalt Arnsdorf und mehrere Pfleger der Tötungsanstalt Sonnenstein sowie Mitarbeiter der Landesanstalt Großschweidnitz. Seit Beginn der Untersuchungen sah sich das Landgericht mit erheblichen Problemen konfrontiert. So war dringend benötigtes Aktenmaterial nicht mehr auffindbar oder wurde den Ermittlern nicht zugänglich gemacht.10 Weiterhin blieben diejenigen Täter, die bereits durch sowjetische Richter eine Verurteilung erfahren hatten, sowie die entsprechenden Aussagen der Ermittlungs - und Strafverfahren verschwunden.11 Zwar liefen die Fahndungen nach etwa 50 weiteren Tatverdächtigen, vor allem den Ärzten der Tötungsanstalt und den Entscheidungsträgern in der Abteilung Volkspflege des Sächsischen Ministeriums des Innern, auf Hochtouren, zeigten allerdings bis zum Prozessbeginn kaum Erfolg. Unklar ist, weshalb das Landgericht Dresden einige Mitarbeiter der „Euthana8 Vgl. u. a. Landeskriminalpolizei Thüringen an den Ermittlungsrichter für das Volksgericht Sachsen vom 6. 8. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2528, Bl. 421); Kreispolizei Pirna an den Ermittlungsrichter für das Volksgericht Dresden vom 16. 4. 1946 ( ebd. 11120, 2526, Bl. 84); Protokoll der öffentlichen Sitzung des Schwurgerichts Dresden am 16. 6. 1947 ( ebd. 11120, 2531, Bl. 151 ff.). 9 Vgl. Boris Böhm, „Eine Schande für die gesamte medizinische Wissenschaft“. Der Dresdner „Euthanasie“ - Prozess im Jahre 1947. In : Norbert Haase / Birgit Sack ( Hg.), Münchner Platz, Dresden. Die Straf justiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001, S. 136–152, hier 138. 10 Vgl. Kreispolizei Pirna an den Ermittlungsrichter für das Volksgericht Dresden vom 16. 4. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 84). 11 Die Krankenschwestern Dora Rietzke ( geb. 1911) und Meta Schierz ( geb. 1905) waren laut Angaben der Kriminalpolizei in Altenburg bereits im Sommer 1945 verhaftet worden und hatten ihre Beteiligung am Mord von mindestens 3 000 Menschen in der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein gestanden. Beide Frauen waren dem NKWD zur Aburteilung übergeben worden. Ihr Verbleib ist bis heute ungeklärt, da sich auch in den entsprechenden Geburtsregistern keine Angaben über Todesdatum und Sterbeort finden ließen. Vgl. Landeskriminalpolizei Thüringen an den Ermittlungsrichter für das Volksgericht Sachsen vom 6. 8. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2528, Bl. 421).

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sie“ - Anstalt Sonnenstein, darunter den Polizeichef Paul Rost (1904–1984) sowie den Fahrer Werner Mauersberger ( geb. 1916), trotz offensichtlicher Tatbeteiligung entweder nur vernahm oder wieder aus der vorübergehenden Untersuchungshaft entließ. Beide hatten innerhalb der Verhöre nicht nur ihre Mitwirkung bei den Krankenmorden gestanden, sondern auch ihre Beteiligung an der Judenvernichtung im Generalgouvernement.12 Der am 23. September 1946 vorgelegte „Sachbericht gegen Dr. Schulz und andere wegen Tötung Geisteskranker usw.“ dokumentierte die bisherigen Fortschritte der Ermittlungsstelle am Landgericht Dresden. Neben den Krankenmorden in Sachsen umfasste dieser auch die Ermordung von arbeitsunfähigen Konzentrationslagerhäftlingen im Rahmen der „Sonderbehandlung 14f13“ auf dem Sonnenstein sowie den Einsatz von männlichen „T4“ - Mitarbeitern in den Vernichtungslagern des Generalgouvernements. Allerdings wurden diese Verbrechenskomplexe im Prozess nicht verhandelt.13 Am 7. Januar 1947 erhob der sächsische Generalstaatsanwalt Dr. John Ulrich Schroeder ( 1876–1947) auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 die Anklage gegen die Ärzte Prof. Nitsche, Dr. Leonhardt, Dr. Schulz, Dr. Robert Herzer14 (1910–1969) und Dr. Günther Langer (1886–1951), die Sonnensteiner Krankenpfleger Hermann Felfe (1902–1947), Erhard Gäbler (1888–1948) und Paul Räpke (1890–1966) sowie die Großschweidnitzer Krankenschwestern Elsa Sachse (1899–1989) und Marie - Luise Puschmann (1901–1971). Ergänzend wurde am 3. März 1947 eine Nachtragsklage eingereicht. Daher ergingen Ende März Haftbefehle gegen weitere Krankenschwestern der Landesanstalt Großschweidnitz, die Großschweidnitzer Ärztin Dr. Esther Walther ( geb. 1897) sowie gegen Dr. Johannes Werner15 (1893–1947), den stellvertretenden Direktor der Landesanstalt Hochweitzschen und den Leipziger Arzt Dr. Herbert Schulze (1906–1962).16 Neben dem Mord 12 Vgl. Übersetzung und Auszüge aus dem russischen Protokoll Werner Mauersberger, o. D. ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 13 f.); Protokoll der Vernehmung Paul Rost vom 4. 5. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 103–105). Anlässlich des Prozesses gegen den Leiter der Tötungsanstalt Sonnenstein, Dr. Horst Schumann (1906–1983), war Rost 1971 als Zeuge nach Frankfurt am Main geladen worden. Da die DDR - Justiz allerdings von westdeutscher Seite unangenehme Fragen bezüglich der unterlassenen Strafverfolgung fürchtete, lehnte sie die Zeugenvernehmung schlichtweg ab. 13 Vgl. Sachbericht gegen Dr. Schulz und andere wegen Tötung Geisteskranker usw. vom 23. 9. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2528, Bl. 469–516). 14 Neuere Forschungen von Kerstin Schneider haben ergeben, dass Robert Herzer den Doktortitel zu Unrecht geführt hat. Vgl. Kerstin Schneider, Maries Akte. Das Geheimnis einer Familie, Frankfurt a. M. 2008, S. 166–170. 15 Johannes Werner beging am 4. 4. 1947 in seiner Zelle im Gerichtsgebäude Löbau Selbstmord. Vgl. Amtsgericht Löbau an das Schwurgericht Dresden vom 8. 4. 1947 (SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2530, Bl. 18). 16 Vgl. Nachtragsanklage vom 3. 3. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2529, Bl. 171–174); Vgl. Haftbefehl gegen die Beschuldigten der Nachtragsanklage vom 24. 3. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2529, Bl. 177).

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an etwa 14 000 Psychiatriepatienten in der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein umfasste die Anklage weiterhin die medikamentöse Tötung, vom Gericht als „Tablettenaktion“ bezeichnet, in Großschweidnitz sowie den „Kinderfachabteilungen“ in Leipzig - Dösen und Großschweidnitz. Aus beiden Schriften geht her vor, dass das Gericht bereits zu diesem Zeitpunkt die Struktur, den Umfang und den Ablauf der Mordaktionen durchaus realistisch einschätzte.17 Dem Prozess maßen sowohl die SMAD als auch die Deutsche Justizver waltung eine herausragende Bedeutung bei. Der Leiter der Rechtsabteilung der SMAD, Jakow A. Karassjow, erhob daher die Forderung, dass der Prozess „baldigst als Schauprozess stattfinden“, sehr kritisch beurteilt und durch einen ständigen Vertreter der DJV beobachtet werden solle.18 Karassjow war der Auffassung, „dass es im Interesse nicht der Partei, sondern der Menschheit läge, wenn die Angeklagten unter Ausschaltung mildernder Umstände zur Verurteilung kämen.“19 Die Haltung der SMAD lässt sich vor dem Hintergrund der Vorgänge in der amerikanischen Besatzungszone verstehen. Nachdem im Dezember 1946 das als „Ärzteprozess“ bekannt gewordene Verfahren „Vereinigte Staaten von Nordamerika gegen Karl Brandt u. a.“ vor dem US - Militärgericht I in Nürnberg begonnen hatte und im März 1947 in Frankfurt am Main der Hadamar - Prozess20 beendet worden war, lag es im Interesse der SMAD, auch in ihrer Besatzungszone die nationalsozialistischen Krankenmorde juristisch aufzuarbeiten. Obwohl das Hauptaugenmerk des Nürnberger Prozesses auf den Menschenversuchen in verschiedenen Konzentrationslagern lag – 14 von insgesamt 16 Anklagepunkten betrafen diesen Verbrechenskomplex – saßen mit Prof. Karl Brandt und Viktor Brack (1904–1948), der als Leiter des Hauptamtes II in der Kanzlei des Führers tätig war, auch zwei Verantwortliche für das nationalsozialistische „Euthanasie“ - Programm auf der Anklagebank. Neben den „Euthanasie“ - Verbrechen thematisierte die Anklage auch die seit 1934 betriebenen Zwangssterilisationen. Im Vergleich zum Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wies der Ärzteprozess eine Besonderheit auf, nämlich die Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen. Als solchen hatte die Anklage den Arzt und Vizepräsidenten der University of Illinois, Prof. Andrew Conway Ivy (1893–1978), berufen. In seiner Funktion als medizinischer Gutachter beurteilte Ivy die begangenen Verbrechen aus medizinischer und wissenschaftsethischer Sicht. Mit seinem Urteil vom

17

Vgl. Anklageschrift vom 7. 1. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2529, Bl. 19 f.), Nachtragsanklage vom 3. 3. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2529, Bl. 171–174). 18 Kommissarischer Generalstaatsanwalt im Lande Sachsen an den Oberstaatsanwalt beim Landgericht Dresden vom 23. 4. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2534, Bl. 31). 19 Ebd. 20 Hadamar war eine der sechs zentralen Tötungsanstalten im Deutschen Reich während der Phase der „Aktion T4“ und ebenso Mordzentrum während der zweiten Phase der nationalsozialistischen „Euthanasie“ gewesen.

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Der Dresdner „Euthanasie“-Prozess 1947

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20. August 1947 verhängte das Nürnberger Militärgericht siebenmal die Todesstrafe, unter anderem auch über Brandt und Brack.21 Im Hadamar - Prozess, der vom 24. Februar bis zum 26. März 1947 vor dem Frankfurter Landgericht verhandelt wurde, standen neben den Ärzten und Angehörigen des Pflegepersonals erstmals auch Angehörige der Verwaltung und des technischen Personals einer Tötungsanstalt vor Gericht. Neben dem Sachverständigen Karl Kleist (1879–1960), Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Frankfurt am Main, äußerte sich auch der ehemalige medizinische Leiter der „Organisation T4“, Prof. Werner Heyde22 (1902–1964), als Zeuge der Verteidigung zur Frage der Euthanasie.23 Entsprechend den Vorgaben der SMAD ließ die Staatsanwaltschaft am Landgericht Dresden am 22. Mai 1947 in der „Sächsischen Zeitung“ eine amtliche Bekanntmachung unter dem Titel „Zeugen zum Sonnenstein - Prozess gesucht“ veröffentlichen. Sie rief all diejenigen auf, sich beim Landgericht zu melden, die ein Familienmitglied durch die nationalsozialistischen Krankenmorde auf dem Sonnenstein verloren hatten. Die Staatsanwaltschaft hoffte auf diesem Wege, neben Zeugenaussagen auch dringend benötigte Dokumente wie Verlegungsschreiben, sogenannte Trostbriefe, Sterbeurkunden und ähnliches zu erhalten. Unklar bleibt, warum dieser Aufruf nur Angehörige von Sonnensteiner Opfern ansprach, nicht jedoch auch die Familien von Opfern der „Medikamenteneuthanasie“, die allerdings wesentlich schwerer nachzuweisen war. Insgesamt konnten durch das Gericht 63 Opfer ermittelt werden, von denen 38 auf dem Sonnenstein ermordet worden waren. Unter den Prozessakten finden sich zahlreiche Schreiben, die oftmals auf sehr emotionale Weise den Verlust eines geliebten Ver wandten schildern. Für das Gericht waren die schriftlich und mündlich vorgebrachten Zeugenaussagen unerlässlich, da sie der Rekonstruktion der bürokratischen Abwicklung der Morde sowie der betriebenen Vertuschung dienten. 21 Vgl. Angelika Ebbinghaus, Mediziner vor Gericht. In : Henke ( Hg.), Tödliche Medizin, S. 203–224; Anette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 63–68. 22 Werner Heyde wurde im Dezember 1939 zum Ordinarius für Psychiatrie an die Universität Würzburg berufen und war neben seiner Tätigkeit in der SS zwischen Juli 1939 und 31. 12. 1941 medizinischer Leiter der „Organisation T4“, bevor er durch Prof. Nitsche abgelöst wurde. Nach seiner Internierung 1945 wurde er im Februar 1947 nach Frankfurt am Main in Untersuchungshaft übergeben. Heyde sollte im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses als Zeuge aussagen. Allerdings gelang ihm am 25. 7. 1947 auf dem Rücktransport von Nürnberg nach Frankfurt die Flucht. Ab 1950 praktizierte er unter dem Pseudonym Fritz Sawade als Sportarzt in Schleswig - Holstein und war überdies auch als medizinischer Gutachter für die Landesversicherungsanstalt und die Justiz in Flensburg tätig. Heyde wurde erst im November 1959 wieder gefasst und beging am 13. 2. 1964, wenige Tage vor Prozessbeginn, im Zuchthaus Butzbach Selbstmord. Vgl. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt a. M. 2003, S. 252. 23 Vgl. Matthias Meusch, Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer „Euthanasie“ Morde. In : Uta George ( Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 305–326.

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Der Prozess und die SED - Kampagne

Der „Euthanasie“ - Prozess begann Mitte Juni 1947 zu einem Zeitpunkt, als die Nachwirkungen des sogenannten Dresdner Juristenprozesses, der zwei Wochen zuvor beendet worden war, noch deutlich zu spüren waren. Vor allem in der „Sächsischen Zeitung“, dem Presseorgan der SED, polemisierte die sächsische Parteiführung gegen den angeblichen Justizskandal.24 Ein solcher sollte neuerlich unbedingt vermieden werden. Auf Grund der äußerst angespannten Situation sahen sich die Verteidiger der angeklagten Ärzte, Pfleger und Schwestern bereits vor Beginn der Hauptverhandlung öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt und standen unter dem Druck, „gerechtere“ Urteile als ihre Kollegen im Juristenprozess zu fällen. So war es einem unbekannten Verfasser schleierhaft, wie „sich Rechtswissenschaftler als ‚Verteidiger‘ finden, welche bemüht sind, diese gewissenlosen Helfer Hitlers als unschuldig – ja – sogar als Diener der Menschlichkeit hinzustellen“.25 In Bezug auf die Verteidiger hatten die Justizver waltung und der Schwurgerichtsvorsitzende jedoch versucht, den Ansprüchen der Öffentlichkeit nach umfassender Entnazifizierung Rechnung zu tragen, und weitgehend auf ehemalige Mitglieder der NSDAP verzichtet. Obwohl die Berufung der Wahl - und Pflichtverteidiger nicht in vollem Umfang den Idealvorstellungen der SMAD und SED entsprach, schienen diese in Anbetracht des verfügbaren Personalpools dennoch eine durchaus passable Besetzung zu sein.26 Vor dem Hintergrund des öffentlichen Drucks hatten die Verteidiger vor Prozessbeginn erwogen, die Verteidigung der Angeklagten geschlossen niederzulegen. Ein Vorhaben, das in dieser Form letztlich allerdings nicht realisiert wurde, da das Schwurgerichtsverfahren ohne die Mitwirkung der Rechtsanwälte gemäß Strafprozessordnung nicht hätte durchgeführt werden dürfen. Einzig der Rechtsanwalt Otto Jahrreis27 (1900–1971) verweigerte am 10. Juni 1947 die Verteidigung der Krankenschwester Hildegard Ackermann ( geb. 1899). Unter den gegebenen Umständen waren der Wiederaufbau der Rechtspflege sowie die gewissenhafte Ausübung der Verteidigung für Jahrreis längst nicht mehr gegeben. In seiner Begründung an den Vorsitzenden des Schwurgerichts Dr. Martin 24 Zum sogenannten Dresdner Juristenprozess siehe den Beitrag von Gerald Hacke in diesem Band. 25 Anonymes Schreiben an das Landgericht Dresden betreffend Geisteskranke im „Dritten Reich“, o. D. ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 104). 26 Eine ausführliche biografische Darstellung der Verteidiger im Dresdner „Euthanasie“ Prozess bei Maria Fiebrandt, Biografische Studien zu Vertretern der Verteidigung. In : Boris Böhm / Gerald Hacke ( Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit.“ Der „Euthanasie“ - Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947, Dresden 2008, S. 130–142. 27 Otto Jahrreis studierte bis 1934 Rechtswissenschaften an der Universität Leipzig. Seit 1935 war er als freier Rechtsanwalt beim Land - und Amtsgericht Dresden zugelassen, erhielt 1943 jedoch ein Diziplinar verfahren und wurde als Statistiker in die Hille - Werke Dresden dienstverpflichtet. Im Jahr 1945 erlangte Jahrreis seine Zulassung als freier Rechtsanwalt zurück. Vgl. ebd., S. 139.

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Der Dresdner „Euthanasie“-Prozess 1947

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Fischer (1883–1961) vom 10. Juni 1947 schrieb er : „Die Presse hat das Recht, an der Anwaltschaft Kritik zu üben und die Kritik von anderer Seite zu veröffentlichen. Die Anwaltschaft wünscht sich solch sachliche Kritik um so mehr, als ihre Bemühungen um Klarheit der Begriffe und um neue Wahrheiten nach solchem Zusammenbruch gar nicht kräftig genug Unterstützung und Korrektur finden können. Die Anwaltschaft wartet bis heute vergeblich auf derartige sachdienliche Kritik. Statt dessen erschienen [...] wiederholt Angriffe gegen die Anwaltschaft oder einzelne Anwälte [...], die weder mit sachdienlicher Berichterstattung noch mit fruchtbarer Kritik etwas zu tun hatten. [...] Ich sehe mich deshalb außerstande, künftig als Verteidiger zu wirken, solange nicht die zuständigen Organe des Staates derartige Angriffe auf die Rechtspflege und insbesondere auf die Anwaltschaft endgültig unterbunden haben werden.“28 Jahrreis kritisierte besonders die Berichterstattung der „Sächsischen Zeitung“, die mehr als einmal die Entscheidungen von Gerichten und das Auftreten verschiedener Rechtsanwälte vollkommen undifferenziert kritisiert und damit die Rechtspflege diffamiert hatte. Auch wenn der geschlossene Rücktritt als endgültige Konsequenz nicht in die Tat umgesetzt wurde, setzten die Verteidiger zu Beginn des Prozesses ein klares Zeichen gegen die versuchte Einflussnahme von außen. Im Namen seiner Kollegen verlas der Wahlverteidiger Prof. Nitsches, Dr. Edwin Lempe29 ( geb. 1879), daher eine Erklärung, die sich nicht nur gegen die Anfeindungen des am Juristenprozess beteiligten Rechtsanwaltes Dr. Fritz Glaser (1876–1956) richtete, sondern auch gegen jegliche Vor verurteilung der Angeklagten im Dresdner „Euthanasie“ - Prozess. „Wir haben uns dagegen zu wenden“, so Lempe, „dass mit der erkennbaren Absicht, die Öffentlichkeit zu beeinflussen, Vorwürfe gegen die hier angeklagten Männer und Frauen erhoben werden, die sich nicht einmal die durchaus nicht zurückhaltende Anklageschrift zu eigen machen kann. [...] Bevor man mit Vor würfen und Beschuldigungen gegen die Angeklagten her vortritt, möge die Prüfung in diesem Prozess abgewartet werden, ob die Angeklagten die ihrer Behandlung anvertrauten Patienten niedergeführt oder stillgelegt haben; ob sie dies mit dem Willen, das Leben dieser Kranken abzukürzen oder auszulöschen taten, oder ob sie in jedem Falle die für einen Arzt gebotene Sorgfalt angewendet haben. Die Klärung dieser Frage muss aber unter allen Umstän-

28 Otto Jahrreis an den Vorsitzenden des Schwurgerichts Dr. Fischer vom 10. 6. 1947 (SächsHStAD, Landesregierung Sachsen, Ministerium der Justiz 11380, 703, Bl. 4). 29 Dr. Edwin Lempe studierte Rechtswissenschaften in Leipzig und erhielt 1925 seine Zulassung als Rechtsanwalt und Notar beim Land - und Amtsgericht Dresden. Obwohl Lempe seit 1933 Förderndes Mitglied der SS war, wurde ihm im „Dritten Reich“ seine Zulassung als Notar entzogen. Seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt und Notar erhielt Lempe 1945. Zwei Jahre später entzog man ihm die Zulassung als Notar jedoch wegen seiner Fördermitgliedschaft in der SS wieder. Schließlich verlor Lempe 1951 auch die Konzession als Rechtsanwalt, da er sich während verschiedener Prozesse politisch inkorrekt verhalten hätte und ihm eine angebliche Steuerhinterziehung nachgesagt wurde. Vgl. Fiebrandt, Biografische Studien, S. 140.

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den unbeeinflusst durch öffentliche Meinungsäußerungen erfolgen.“30 Von der „Sächsischen Zeitung“ wurde diese Stellungnahme als „empörendes Verhalten der Verteidigung“ gewertet.31 Es waren allerdings nicht nur die Begleitumstände, die den Prozess und das Verhalten der Rechtsanwälte bereits vor Beginn der Hauptverhandlung beeinflussten, sondern auch der zu verhandelnde Verbrechenskomplex. Nachdem den Verteidigern die Anklageschrift übersandt worden war, baten die Rechtsanwälte Dr. Gerhard Meißner32 ( geb. 1894) und Dr. Karl Henning33 ( geb. 1900) auf Grund des Verhandlungsgegenstandes darum, von ihren Pflichten als Verteidiger entbunden zu werden.34 Am Morgen des 16. Juni 1947 begann im Landgerichtsgebäude am Münchner Platz der Prozess35 gegen Prof. Nitsche, Dr. Leonhardt, die Sonnensteiner Pfleger Felfe, Gäbler und Räpke, die Großschweidnitzer Ärzte Dr. Langer, Dr. Walther und Dr. Herzer, die Großschweidnitzer Krankenschwestern Hildegard Ackermann, Klara Friedrich ( geb. 1897), Martha Friedrich (1889–1953), MarieLuise Puschmann, Elsa Sachse sowie Marie Wedel ( geb. 1896) und Dr. Schulze aus Leipzig.36 Den Vorsitz während der Hauptverhandlung des Schwurgerichtes führte der Landgerichtspräsident Dr. Martin Fischer.37 Ihm saßen der 30 Sächsisches Tageblatt vom 19. 6. 1947 : „Der Ärzteprozess vor dem Landgericht Dresden. Erklärung der Verteidigung und Staatsanwaltschaft“. 31 Sächsische Zeitung vom 17. 6. 1947 : „Erster Verhandlungstag im Prozess gegen Ärzte, Schwestern und Pfleger“. 32 Dr. Gerhard Meißner schloss 1917 sein Studium der Rechtswissenschaften ab. Nach seiner Referendariatszeit war er seit 1921 als Rechtsanwalt am Land - und Amtsgericht Dresden tätig. 1937 verteidigte Meißner einen jüdischen Schweizer vor dem Reichsgericht und wurde daraufhin heftigen Anfeindungen im „Stürmer“ ausgesetzt sowie unter permanente Beobachtung durch die Gestapo gestellt. Bis er 1959 die DDR verließ, war er unter anderem als zweiter Bürgermeister Dresdens und als Vorsitzender des Landesparteigerichts der Liberal - Demokratischen Partei Deutschlands tätig. Vgl. Fiebrandt, Biografische Studien, S. 139. 33 Dr. Karl Henning erhielt 1928 seine Zulassung als Rechtsanwalt am Oberlandesgericht Dresden. Vgl. ebd., S. 139. 34 Vgl. Rechtsanwalt Dr. Gerhard Meißner an den Präsidenten des Landgerichts Dresden betreffend Strafsache gegen Dr. Nitsche und andere vom 14. 4. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2530, Bl. 41); Rechtsanwalt Karl Henning and das Landgericht Dresden betreffend Niederlegung der Verteidigung Nitsches vom 27. 1. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2529, Bl. 74). 35 Eine ausführliche Prozesschronologie bei Boris Böhm / Julius Scharnetzky, Vorgeschichte und Verlauf des Dresdner „Euthanasie“ - Prozesses. In : Böhm / Hacke ( Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit“, S. 63–76. 36 Gegen Dr. Alfred Schulz, Dr. Emil Eichler (1875–1949), Leiter der Landesanstalt Leipzig - Dösen, und die Krankenschwester Martha Wechler ( geb. 1920) wurde das Verfahren aus gesundheitlichen Gründen abgetrennt. Vgl. Protokoll der öffentlichen Sitzung des Schwurgerichts vom 16. 6. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 151). 37 Martin Fischer hatte 1910 sein Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen und war 1922 in den staatlichen Justizdienst eingetreten. Auf Grund seiner Mitgliedschaft in der SPD wurde Fischer 1934 im Rahmen des Gesetzes zur Wiederherstellung des

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Landgerichtsdirektor Dr. Rudolf Fischer38 (1900–1969) und die Amtsgerichtsrätin Elfriede Thaler39 ( geb. 1896) sowie sechs Geschworene bei. Der kommissarische Generalstaatsanwalt des Landes Sachsens Dr. Erich Richter40 (geb. 1891) und der Erste Staatsanwalt Dr. Karl Kohn41 (1904–1975) vertraten die Anklage. Während des Prozesses war es Kohn, der von beiden am stärksten in Erscheinung trat, sei es bei der Verlesung der Anklage bei Prozessbeginn, Disputen mit der Verteidigung oder der Beantragung der Strafmaße. Von beiden Staatsanwälten war es nur Kohn gewesen, der an der Erarbeitung der Anklage und Nachtragsklage mitgewirkt hatte, da diese noch unter Richters Vorgänger Schroeder erstellt worden war. Begleitet wurde der gesamte Prozess durch drei medizinische Sachverständige, die das Problem der „Euthanasie“ aus medizinischer und medizinhistorischer Sicht diskutierten. Prof. Richard Arwed Pfeiffer (1877–1957), Leiter der Universitäts - Nervenklinik Leipzig, Dr. Franz Baumeyer Berufsbeamtentums aus dem Justizdienst entlassen und in den Ruhestand versetzt. Im Juni 1945 erfolgte seine Wiederaufnahme in den Justizdienst am Amtsgericht Dresden und am 17. 10. 1946 seine Ernennung zum Landgerichtspräsidenten des Landgerichts Dresden. Da Fischer nicht den idealtypischen Vorstellungen der SED entsprach, wurde bereits 1948 drüber nachgedacht, ihn als Landgerichtspräsidenten abzusetzen. 1950 wurde er angeblich auf eigenen Wunsch an das Amtsgericht Meißen versetzt und schied ein Jahr später gänzlich aus dem Justizdienst aus. Vgl. Gerald Hacke, Die Richter des Schwurgerichts. In : Böhm / Hacke ( Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit“, S. 151–161, hier 153 f. 38 Rudolf Fischer hatte in Leipzig und Marburg Rechtswissenschaften studiert und war im „Dritten Reich“ an verschiedenen Gerichten tätig gewesen, hatte jedoch gegenüber dem Nationalsozialismus eine ablehnende Haltung eingenommen. Nachdem er seit Sommer 1945 im sächsischen Justizdienst tätig gewesen war, floh Fischer im September 1949 nach Westberlin, wo er unter anderem seit 1958 als Senatspräsident tätig war. Vgl. ebd., S. 155–157. 39 Elfriede Thaler war Teilnehmerin des ersten Volksrichterlehrgangs im sächsischen Bad Schandau und wurde am 1. 3. 1947 zur Amtsgerichtsrätin ernannt. Thaler fand vor allem als Jugendrichterin Einsatz. Seit 1951 bekleidete sie die Position der Leiterin der Rechtsabteilung / Gnadenabteilung im Büro des Staatspräsidenten der DDR. Vgl. ebd., S. 159. 40 Erich Richter, der seine juristische Ausbildung bereits vor dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen hatte, wurde im „Dritten Reich“ auf Grund seiner Mitgliedschaft in der SPD zwangspensioniert. Seit Februar 1946 versah er seinen Dienst als Oberstaatsanwalt und Behördenleiter der Staatsanwaltschaft Dresden und zwischen März und November 1947 als kommissarischer Generalstaatsanwalt im Land Sachsen. Vgl. Boris Böhm, Biografische Studien zu den Staatsanwälten. In : Böhm / Hacke ( Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit“, S. 143–150, hier 144. 41 Karl Kohn wurde als Sohn jüdischer Eltern im böhmischen Karlsbad geboren. 1928 schloss er an der Deutschen Universität in Prag sein Studium der Rechtswissenschaften als Dr. jur. ab und ließ sich als Rechtsanwalt in Teplitz - Schönau ( Teplice ) nieder, erst als Teilhaber und ab 1936 mit eigener Kanzlei. Nachdem Kohn mit seiner Familie nach dem Anschluss des Sudentenlandes nach Prag geflohen war, emigrierten sie im Februar 1939 in das Vereinigte Königreich. Hier schloss sich Kohn 1942 der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei im Exil an und gehörte dieser bis 1945 an. 1946 kam Kohn in die SBZ und wurde zu einer bedeutenden Person des sächsischen Justizwesens und später auch der Justizbehörden in der frühen DDR. Während seiner Tätigkeit zeigte sich, dass er im Großen und Ganzen mit den Zielvorstellungen und der Ideologie der SED - Führung überein stimmte. Vgl. Lebenslauf von Karl Kohn vom 3. 11. 1955 ( BArch, DP1/ SE /521).

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(1900–1978), Leiter der Landesanstalt Arnsdorf, und Dr. Wilhelm Zimmermann (1896–1956), Chefarzt der psychiatrischen Abteilung des Stadtkrankenhauses Löbtauer Straße, kamen darin überein, dass die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen keine Euthanasie im ursprünglichen Sinne gewesen sei, die schon immer zu den Aufgaben eines Arztes gehört habe, sondern Mord.42 Doch anders als in den Prozessen in Nürnberg und Frankfurt am Main war die Konsultierung der Sachverständigen im Dresdner „Euthanasie“ Prozess gegen den ausdrücklichen Willen der SMAD und der Deutschen Justizver waltung in Berlin erfolgt.43 Trotz aller Vorgaben durch die Besatzungsmacht gelang es dem Gericht, eine gewisse Eigenständigkeit zu bewahren. Dies mag zum einen in der über wiegend liberalen Einstellung der Richter begründet liegen, zum anderen aber auch in der Haltung des sächsischen Justizministers Hermann Kastner (1886–1957), der der LDPD angehörte. Kastner hatte sich während der Sitzung des Sächsischen Landtages am 24. April 1947 vehement gegen die Eingriffe der SED in Verhandlungen sowie die Instrumentalisierung der Öffentlichkeit zur Beeinflussung der Richter ver wahrt.44 Das Bemühen um die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zeigte sich auch bei der Wahrung der Persönlichkeitsrechte sowie der umfangreichen Zeugenanhörung, die am dritten Prozesstag, dem 18. Juni 1947, begann. Insgesamt wurden 74 Zeugen gehört, Angehörige des Staatsdienstes, Angehörige von Opfern beider Phasen der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Ärzte und Pflegepersonal der sächsischen Landesanstalten, die als Belastungszeugen auftraten, sowie Mitarbeiter der Landesanstalten, welche die Verteidigung als Entlastungszeugen bestellt hatte. Sämtliche Anträge der Verteidigung, hochrangige NS - Rassenhygieniker wie Prof. Ernst Rüdin (1874– 1952)45 zum Verfahren zu befragen, wurden vom Gericht abgelehnt.46

42 Vgl. Gutachten Dr. Zimmermann ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 117 f.); Gutachten Dr. Baumeyer ( ebd., 2532, Bl. 7 f.) und Gutachten Prof. Pfeifer ( ebd., 2534, Bl. 90–95). Ausführlich zu den Biografien der medizinischen Sachverständigen siehe Thomas R. Müller, Mediziner gegen Mediziner. Die psychiatrischen Sachverständigen im Dresdner „Euthanasie“ - Prozess. In : Böhm / Hacke (Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit“, S. 161–171. 43 Vgl. Kommissarischer Generalstaatsanwalt im Lande Sachsen an den Oberstaatsanwalt beim Landgericht Dresden vom 23. 4. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2534, Bl. 31). 44 Agatha Kobuch, Hermann Kastner (1886–1957). Sächsischer Justizminister von Dezember 1946 bis März 1948. In : Sächsische Justizminister 1831 bis 1950. Acht biografische Skizzen, Dresden 1994, S. 164–189, hier 176 f. 45 Ernst Rüdin war 1905 Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene. Seit 1931 bekleidete er den Posten des Direktors des Kaiser - Wilhelm - Instituts für Psychiatrie. 1933 beteiligte sich Rüdin an der Konzeption des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und war seit 1934 als Richter an einem Erbgesundheitsobergericht tätig. Vgl. Klee, Personenlexikon Drittes Reich, S. 513. 46 Vgl. Protokolle der öffentlichen Sitzungen des Schwurgerichts vom 18.6. bis 25. 6. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 159– 193).

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Da die öffentlichen Angriffe auf die Verteidigung und die Richter nicht enden wollten, sah sich Landgerichtspräsident Fischer zu Beginn des fünften Verhandlungstages, am 20. Juni 1947, gezwungen, folgende Erklärung zu verlesen : „Beim Schwurgericht Dresden gehen täglich Telegramme und Resolutionen von Betriebsversammlungen und anderen Gemeinschaften ein, in denen vielfach dem Urteil vorgegriffen und zum Teil auch gesagt wird, dass die Richter und Geschworenen, die diesen Forderungen nicht entsprächen, sich mit den Angeklagten auf die gleiche Stufe stellten. Eine Beurteilung des Sachverhaltes ist nur möglich auf Grund der Kenntnis des gesamten Verhandlungsverlaufes. Damit die interessierten Kreise das richtige Bild von dem Sachverhalt und das richtige Urteilsvermögen bekommen, erscheint es dringend wünschenswert, dass die Betriebe und sonstigen Organisationen Abgesandte zur Beobachtung des Verlaufs und zur Unterrichtung ihrer Auftraggeber laufend in die Sitzung schicken.“47 Die von Fischer angesprochenen Resolutionen, deren Absender sich teilweise als „öffentliche Ankläger“48 verstanden, weisen darauf hin, dass es sich dabei um eine von der SED gesteuerte Kampagne handelte. Sie sollte, „gewarnt durch [ das ] hohnsprechende Fehlurteil anlässlich [ des ] Juristenprozess[ es ]“,49 das Gericht in seiner Urteilsfindung nachhaltig beeinflussen. So erklärte die Belegschaft der Grundschule Weixdorf bei Dresden in einem Telegramm vom 17. Juni 1947 : „Wir fordern schwerste Bestrafung der Schuldigen im Ärzteprozess die Todesstrafe oder lebenslängliches Arbeitslager.“50 Das Gros der Verfasser, darunter auch die Betriebsgruppe des optischen Werkes Weixdorf 51 und die Betriebsgruppe des Deutschen Hygiene - Museums Dresden,52 verlangten undifferenzierte Höchststrafen, da „diese asozialen Verbrecher keine Lebensberechtigung in der menschlichen Gesellschaft mehr haben“.53 In den Akten finden sich allerdings auch eine Handvoll Schreiben, die eine andere Sprache sprechen. So wurde teilweise anonym angemerkt, dass die von den Nationalsozialisten verübten Verbrechen Euthanasie im ursprünglichen Sinne gewesen seien. „Eine Stimme aus dem Volke“ stellte diesbezüglich die Frage: „Verdienen es die Gesunden, Arbeitsamen wirklich, ihnen noch größere Lasten aufzuerlegen, damit unheilbar Geisteskranke auf ihre Kosten immer weiter 47 Erklärung des Schwurgerichts vom 20. 6. 1947 ( ebd., Bl. 171). 48 Resolution der Belegschaft des Verbandes Sächsischer Konsum - Genossenschaften vom 13. 6. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2530, Bl. 196). 49 Telegramm des Betriebsrats, der Gewerkschaftsbetriebsgruppe und der SED - Betriebsgruppe der Hauptverwaltung der Landesbetriebe Sachsen an das Schwurgericht betreffend Forderung nach Todesstrafe vom 14. 6. 1947 ( ebd., Bl. 207). 50 Telegramm der Lehrerschaft der Grundschule Weixdorf bei Dresden vom 17. 6. 1947 (ebd., Bl. 215). 51 Vgl. Telegramm der Betriebsgruppe des optischen Werkes Weixdorf bei Dresden vom 18. 6. 1947 ( ebd., Bl. 219). 52 Vgl. Telegramm der Betriebsgruppe des Deutschen Hygiene - Museums Dresden vom 14. 6. 1947 ( ebd., Bl. 209). 53 Resolution der Firma Louis Herrmann in Dresden vom 19. 6. 1947 ( ebd., Bl. 222).

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verpflegt werden ohne den geringsten Erfolg und intelligente Menschen dafür körperlich und seelisch zugrunde gehen ? ! In diesem Sinne denken und urteilen viele mit mir und ich bin nur eine einfache Frau, die dies offen ausspricht, was viele bewegt. Wir alle erwarten nun von Ihnen als Richter im Volke ein gerechtes Urteil der Menschlichkeit nach genauer und reif licher Erwägung der wirklichen Sachlage.“54 Zwar waren derlei Forderungen die Ausnahme, sie zeigen jedoch, dass die behindertenfeindliche Ideologie der Nationalsozialisten noch immer nachwirkte. In den Schreiben klangen mitunter auch die Argumente der Professoren Karl Binding (1841–1920) und Alfred Hoche (1865–1943) an, mit denen diese bereits 1920, vor dem Hintergrund der katastrophalen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg, in ihrer Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ für die Legalisierung der fremdbestimmten Tötung von Menschen mit schwersten Behinderungen und psychischen Erkrankungen plädiert hatten.55 Hansi N. aus Leipzig schrieb in diesem Zusammenhang an das Landgericht : „Wir können es uns nicht leisten, kranke, unheilbare Menschen zu ernähren, welche sich selbst zur Last und Verzweif lung leben. [...] Wir Deutschen ohne Wehr und Ehr sollten uns vor unangebrachter Humanitätsduselei ganz besonders hüten in einer Zeit, in der wir [...] unsere kargen Nahrungsmittelrationen mit armen Menschen teilen, die sich selbst nach Erlösung sehnen!“56 Wie sehr die SED versuchte, den Prozess für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, beschreibt der 1950 in die Bundesrepublik Deutschland geflohene Rechtsanwalt ( und spätere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz ) Günter Nollau (1911–1991),57 der im Dresdner „Euthanasie“ - Prozess die Krankenschwester Hildegard Ackermann vertreten hatte, in seinen Memoiren. „Die SED versuchte, den Prozess auch politisch auszuschlachten.“58 So veranstaltete der Kulturbund am 23. Juli 1947, gute zwei Wochen nach Prozessende, im Städtischen Krankenhaus Dresden - Friedrichstadt eine öffentliche Veranstaltung, in der das Ergebnis des Prozesses von Juristen, Mediziner und Laien diskutiert 54 Anonymes Schreiben an das Schwurgericht betreffend Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Ärzte und Schwestern vom Sonnenstein vom 28. 6. 1947 (SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 129). 55 Vgl. Karl Binding / Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. 56 Hansi N. an den Landgerichtspräsidenten Dr. Fischer betreffend Massenmord auf dem Sonnenstein vom 19. 6. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 32 f.). 57 Günter Nollau schloss sein Studium der Rechtswissenschaften, welches er in Innsbruck, Wien, München und Leipzig absolviert hatte, im Jahr 1937 ab. Seine Zulassung als Rechtsanwalt erfolgte jedoch erst zwei Jahre später. Nollau, der seit 1939 Mitglied im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps war und 1942 in die NSDAP aufgenommen wurde, versah ab 1939 seinen Dienst am Amts - und Landgericht Dresden und wechselte 1942 nach Krakau. Nachdem ihm 1945 seine Anwaltskonzession wegen seiner NSDAP - Mitgliedschaft entzogen worden war, erlangte er ein Jahr später seine Wiederzulassung, da ihm der Antifa - Block Sachsen seine antifaschistische Einstellung bestätigte. Nollau floh 1950 über Westberlin in die Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Fiebrandt, Biografische Studien, S. 136 f. 58 Günter Nollau, Das Amt. 50 Jahre Zeuge der Geschichte, München 1978, S. 93.

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wurde. Neben dem medizinischen Sachverständigen Dr. Zimmermann trat auch der Erste Staatsanwalt Dr. Kohn auf und verurteilte alle Angeklagten, das Urteil war bereits am 7. Juli 1947 gesprochen worden, als Mörder. Nollau forderte in dieser Situation eine differenzierte Beurteilung des Schuldanteils jedes einzelnen Angeklagten und stieß damit nach eigenem Bekunden auf breite Zustimmung bei den Zuhörern.59 Auch die „Sächsische Zeitung“ berichtete in ihrer Ausgabe vom 28. Juli 1947 über diese Veranstaltung und verurteilte, ohne Nollaus Namen zu nennen, dessen Einstellung.60 Der Prozess rief überregional ein breites Medienecho her vor. So erschienen Artikel und Kommentare in der von der SMAD herausgegebenen „Täglichen Rundschau“ sowie im SED - Parteiblatt „Neues Deutschland“. In der Zeitschrift „Zeit im Bild“ wurde sogar eine Fotoreportage zum Prozess veröffentlicht.61 Am ausführlichsten widmeten sich freilich die Dresdner Zeitungen der Berichterstattung. Allerdings lassen sich deutliche Unterschiede in der Quantität und Qualität erkennen. Während das liberale „Sächsische Tageblatt“ wöchentliche Zusammenfassungen des Prozessgeschehens veröffentlichte, druckte die „Sächsische Zeitung“ als Presseorgan der SED täglich Berichte ab. Doch anders als die Veröffentlichungen des „Tageblattes“ ließen die Artikel der „Sächsischen Zeitung“ eine objektive Berichterstattung vermissen, sie spiegelten vielmehr die propagandistische Haltung der sächsischen Parteiführung wider.62 Am 2. Juli 1947, einen Tag nachdem Rechtsanwalt Lempe für seinen Mandanten Freispruch gefordert hatte, titelte sie : „Verteidigung erklärt Massenmord als Wohltat.“ Insgesamt hatten die Verteidiger elfmal Freispruch gefordert und viermal die Strafe in das Ermessen des Gerichtes gelegt.63 Die Staatsanwaltschaft hatte indes elfmal die Todesstrafe beantragt und bezüglich vier weiterer Angeklagter die Strafe in das Ermessen des Gerichtes gelegt.64 Hans Teubner, der Chefredakteur der „Sächsischen Zeitung“, forderte zwei Tage später in seinem Kommentar „Massenmörder im Ärztekittel“ schärfste Bestrafung der Angeklagten : „Nicht bedauernswerte, kranke Mitmenschen haben unsere Not bereitet oder werden sie je bereiten, sondern die faschistischen Volksfeinde und Kriegsbrandstifter haben uns ins Elend gebracht. Sie und ihre Werkzeuge und ihre Ideologie auszurotten, damit sich 59 Ebd. 60 Sächsische Zeitung vom 28. 7. 1947 : „Humanität und Medizin. Ein Abend des Kulturbundes“. 61 Vgl. Zeit im Bild vom 25. 7. 1947, S. 2. 62 Deutlich wurde dies bereits in den Artikelüberschriften. Während die Sächsische Zeitung am 18. 6. 1947 auf Seite 2 titelte : „Vergasung als ‚Dienst an der Menschheit‘. Eingeständnis des früheren Chefarztes und Direktors vom Sonnenstein“, überschrieb das Sächsische Tageblatt seinen Artikel einen Tag später : „Der Ärzteprozess vor dem Dresdner Schwurgericht. Erklärungen der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft“. 63 Vgl. Protokolle der öffentlichen Sitzungen des Schwurgerichts Dresden vom 30. 6. 1947 bis 2. 7. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 197–202 f.). 64 Vgl. Anträge der Staatsanwaltschaft, Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 30. 6. 1947 ( ebd., Bl. 197).

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eine friedliche Wirtschaft entwickeln kann, die für alle ein auskömmliches Leben bietet und in der die Menschlichkeit eine Heimstätte hat, darauf kommt es an. Massenmörder im Ärztekittel haben in einem Volke, das Frieden und Menschlichkeit begehrt, keinen Platz; sie sind Verbrecher gegen die Menschlichkeit, die auf Grund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 schärfstens, d. h. mit dem Tode zu bestrafen sind.“65 Am 7. Juli endete die Hauptverhandlung im vollbesetzten Gerichtssaal mit der Verkündung des Urteils, welches wesentlich differenzierter ausfiel, als das von Teubner in der „Sächsischen Zeitung“ geforderte Strafmaß. Die Strafzumessung erfolgte auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 wie folgt: – Prof. Paul Nitsche, Dr. Ernst Leonhardt, Hermann Felfe und Erhard Gäbler wurden wegen des Ausmaßes der „Aktion T4“ zum Tode und zum andauernden Verlust ihrer bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Außerdem bestimmte das Gericht, dass das Vermögen von Paul Nitsche zu Gunsten des Landes Sachsen einzuziehen sei. – Paul Räpke wurde aufgrund seines umfangreichen Geständnisses zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe sowie zum dauerhaften Verlust seiner bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. – Robert Herzer erhielt eine Zuchthausstrafe in Höhe von 20 Jahren. Die bürgerlichen Ehrenrechte wurden ihm für die Dauer von zehn Jahren entzogen. – Dr. Günther Langer und die Oberschwester Elsa Sachse verurteilte das Gericht zu einer 15 - jährigen Zuchthausstrafe, die Ehrenrechte erkannte es ihnen für die Dauer von zehn Jahren ab. – Die Oberschwester Marie Wedel und die Krankenschwester Hildegard Ackermann erhielten jeweils Zuchthausstrafen in Höhe von acht Jahren. Die bürgerlichen Ehrenrechte wurden ihnen für fünf Jahre entzogen. – Marie - Luise Puschmann und Klara Friedrich wurden vom Gericht zu drei Jahren Haft und ebenso langem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. – Dr. Esther Walther, Dr. Herbert Schulze und Martha Friedrich sprach das Gericht aus Mangel an Beweisen frei. – Die Untersuchungshaft wurde auf die Haftstrafen angerechnet und die Verurteilten hatten die Kosten des Verfahrens zu tragen.66 Für die Mitarbeiter der Landesanstalt Großschweidnitz wirkte sich der desolate Zustand in den Heil - und Pflegeanstalten gegen Ende des Krieges strafmildernd aus. Das Gericht sah sich nicht in der Lage, den Ärzten und Schwestern die Absicht zum Mord einwandfrei nachzuweisen. Diese hatten im Laufe der Ermittlungen und des Prozesses immer wieder angeführt, sie hätten nur bei todkranken und stark leidenden Kranken den Tod beschleunigt und damit aus Mitleid gehandelt. Weiterhin berücksichtigte das Gericht die Stellung jedes einzel65 Sächsische Zeitung vom 2. 7. 1947 : „Massenmörder im Ärztekittel“. 66 Vgl. Urteil in der Strafsache gegen Dr. Nitsche u. a. vom 7. 7. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2534, Bl. 76 f.).

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nen innerhalb der Anstaltshierarchie. Daher fielen die Strafen der Ärzte und Oberschwestern härter aus, als die des untergeordneten Pflegepersonals.67 Sonstige Schuldausschließungsgründe wie Befehlsnotstand fanden keinerlei Anwendung. Noch im Monat der Urteilsverkündung reichten die meisten Verteidiger68 und die Staatsanwaltschaft69 bei der Ersten Strafkammer des Landgerichts Dresden Revision gegen das verhängte Strafmaß ein. Die SMAD zeigte sich mit dem Urteil allerdings „im wesentlichen einverstanden“ und drängte auf eine baldige Entscheidung bezüglich der Revisionsanträge.70 Nachdem die Staatsanwaltschaft ihren Revisionsantrag bereits zurückgezogen hatte, lehnte der Strafsenat des Oberlandesgerichts Dresden am 27. September 1947 auch alle entsprechenden Anträge der Verteidigung ab. Seine Entscheidung wird vermutlich maßgeblich durch die weitgehende Zustimmung der SMAD zu den Urteilen beeinflusst worden sein.71 Der Versuch des Sächsischen Justizministeriums, die Todesurteile in lebenslängliche Zuchthausstrafen abmildern zu lassen, sowie die Gnadengesuche der Familien scheiterten letztlich an der Sowjetischen Militäradministration.72 Dr. Ernst Leonhardt und Hermann Felfe hatten bereits am 8. Juli respektive am 16. Oktober 1947 Selbstmord verübt.73 Die Vollstreckung des Todesurteils bei Nitsche und Gäbler erfolgte am Morgen des 25. März 1948 im Hof des Landgerichtsgebäudes am Münchner Platz durch den Berliner Scharfrichter Clemens Dobbeck mit dem Fallschwert.74 Ihre Hinrichtung meldete sogar die „New York Times“ vom 26. März 1948.75 67 Vgl. Urteilsbegründung in der Strafsache gegen Dr. Nitsche u. a. vom 7. 7. 1947 (SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2531, Bl. 204 f. ). 68 Vgl. u. a. Rechtsanwalt Köster an das Landgericht Dresden betreffend Strafsache gegen Dr. Nitsche vom 8. 7. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2532, Bl. 22); Rechtsanwalt Nollau an das Schwurgericht beim Landgericht Dresden betreffend Strafsache gegen Dr. Nitsche u. a. vom 9. 7. 1947 ( ebd., Bl. 27); Rechtsanwalt Giese an das Landgericht Dresden betreffend Strafsache gegen Dr. Nitsche vom 9. 7. 1947 ( ebd., Bl. 29). 69 Generalstaatsanwalt im Lande Sachsen an das Schwurgericht Dresden betreffend Strafsache gegen Dr. Nitsche u. a. vom 8. 7. 1947 ( ebd., Bl. 19). 70 Vgl. Ministerium der Justiz an den Präsidenten des Landgerichts in Dresden betreffend Urteil vom 7. 7. 1947 ( ebd., Bl. 55). 71 Vgl. Beschluss des Strafsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 27. 9. 1947 in der Strafsache gegen Dr. Nitsche ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2533, Bl. 1 f.). 72 Vgl. Christian Meyer - Seitz, Die Verfolgung von NS - Straftätern in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998, S. 119. 73 Vgl. Abschrift der Todesanzeige der Untersuchungshaftanstalt Dresden Leonhardts Selbstmord betreffend vom 8. 7. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2532, Bl. 5); Vollzugsanstalt Zwickau an die Staatsanwaltschaft Dresden betreffend Selbstmord Hermann Felfe vom 16. 10. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2533, Bl. 18). 74 Vgl. Protokoll der Urteilsvollstreckung von Paul Nitsche vom 25. 3. 1947 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2533, Bl. 46); Protokoll der Urteilsvollstreckung von Erhard Gäbler vom 25. 3. 1947 ( ebd., Bl. 47). 75 The New York Times vom 26. 3. 1946 : „Three Nazi Killers Meet Death“.

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3.

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Schlussbetrachtung

Trotz strenger Vorgaben von Seiten der Besatzungsmacht gelang es dem Gericht, sich gegenüber der gewünschten Prozesschoreografie und einer politisch motivierten Strafahndung weitgehend zu widersetzen und damit rechtsstaatliche Normen zu wahren. Daher war es möglich, das ungeheure Ausmaß der nationalsozialistischen Krankenmorde in das Zentrum des Prozesses zu rücken. Aus den aufgefundenen Prozessunterlagen geht nicht her vor, dass die Sowjetische Militäradministration oder die Deutsche Justizver waltung in Berlin lenkend in die Verhandlung eingegriffen hätten. Vielmehr versuchten sie durch die Instrumentalisierung der Öffentlichkeit, Druck auf das Gericht und die Verteidigung auszuüben. Anders als zuvor üblich, setzten im Dresdner „Euthanasie“ - Prozess die von der SED gesteuerten Kampagnen bereits vor Prozessbeginn ein und nicht erst nach der Urteilsverkündung. Allerdings vermochte das Gericht, sich ebenso gegen den öffentlichen Druck zu behaupten. Dass der Handlungsspielraum der deutschen Justizorgane letztlich aber auch nicht unbegrenzt war, zeigt die Behandlung der Revisionsanträge und Gnadengesuche. Die umfassende mediale Berichterstattung sicherte dem Dresdner „Euthanasie“ - Prozess eine starke öffentliche Beachtung und rief auch ein gesteigertes Interesse an der Aufklärung der nationalsozialistischen Krankenmorde her vor. Allerdings entfaltete der Prozess keine dauerhafte Nachwirkung in der ostdeutschen Öffentlichkeit. Denn mit der abschließenden Berichterstattung zum Urteil geriet er bald in Vergessenheit. Dies lag zum einen an dem weitgehend mangelnden gesellschaftlichen Interesse an der Aufarbeitung der NS - Verbrechen im Allgemeinen, aber auch an dem Fehlen einer kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und der eigenen Verstrickung in der Ärzteschaft, sei es in Fachzeitschriften oder innerhalb der Kollegien von Krankenhäusern.

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„Milde gegen die Verbrecher wäre Verbrechen gegen die Opfer.“ Die Hohnstein - Prozesse 1949 Carina Baganz

Die Landesver waltung Sachsen entwickelte bereits im Sommer 1945, früher als alle anderen Länder und Provinzen der Sowjetischen Besatzungszone, erste Gesetzgebungspläne, um unter dem nationalsozialistischen Regime begangene Straftaten vor deutschen Gerichten zu ahnden.1 So legte Mitte Juli 1945 der sächsische Beauftragte für die Neuordnung der Justiz einen Entwurf für ein Gesetz „betreffend die Bildung eines Staatsgerichtshofes zur Aburteilung der Kriegsschuldigen, der Kriegsverbrecher und der politischen Verbrecher“ vor. Das Gesetz sollte rückwirkend ab dem 30. Januar 1933 seine Anwendung finden. Am 30. Juli 1945 trat der stark umgearbeitete Gesetzentwurf als „Verordnung zur Aburteilung faschistischer Verbrecher“ in Kraft.2 Diese Entwicklung wurde jedoch von der Besatzungsmacht aufgehalten. Erst im Laufe des Jahres 1946 begann die Sowjetische Militäradministration, die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Artikel II 1 c des Kontrollratsgesetzes Nr. 103 der deutschen Justiz zu übertragen. Was im Einzelnen unter „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu verstehen war, wurde im „Statut des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg – 8. August 1945“ definiert : „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, 1

2

3

Vgl. Annette Weinke, Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder : Eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002; dies., Dem „Klassengegner“ hingegeben ? Die Dresdner Prozesse gegen das SA - Wachpersonal des „Schutzhaft“ - Lagers Hohnstein. In : Norbert Haase / Birgit Sack ( Hg.), Münchner Platz, Dresden. Die Straf justiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001, S. 153–170. Christian Meyer - Seitz, Die Verfolgung von NS - Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998, S. 25. Vgl. allg. Andreas Thüsing, Demokratischer Neubeginn? Aufbau, Organisation und Transformation des sächsischen Justizministeriums 1945– 1950, Dresden 2003. Die wichtigste Neuerung des Kontrollratsgesetz vom 20. 12. 1945 für das „alliierte Ahndungsprojekt“ war, dass „deutsche Gerichte nun auch formal von den Besatzungsbehörden dazu ermächtigt werden konnten, Verbrechen, die vor 1945 von Deutschen an deutschen Staatsangehörigen oder Staatenlosen begangen worden waren, auf der Grundlage alliierter, also rückwirkender Normen zu bestrafen“ ( Weinke, Verfolgung, S. 25).

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begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht. Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.“4 Auch für die im Konzentrationslager Hohnstein verübten Verbrechen wurde auf dieses Gesetz zurückgegriffen.

1.

Das frühe Konzentrationslager Hohnstein

Hohnstein in der Sächsischen Schweiz war eines von etwa 100 frühen Konzentrationslagern, die unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zur Inhaftierung und Terrorisierung vor allem der politischen Gegner im Reichsgebiet eingerichtet wurden.5 Am 8. März 1933 besetzten SA - Angehörige die zu diesem Zeitpunkt als Jugendherberge dienende Burg und richteten diese zu einem Konzentrationslager her. Bis August 1934 waren dort etwa 5 600 Häftlinge, davon 109 Frauen und ca. 400 Kinder und Jugendliche inhaftiert. Hohnstein galt als eines der berüchtigtsten frühen Lager im Deutschen Reich. Die Zahl der Todesopfer wird auf ungefähr 140 geschätzt. Das Standesamt - Register Hohnstein verzeichnete jedoch lediglich acht Tote, die durch die Leitung des Konzentrationslagers gemeldet wurden.6 Es galt die Maßgabe, wenn es vermeidbar war, keinen Häftling in Hohnstein sterben zu lassen; infolge von Misshandlungen Schwerverletzte seien sofort in das Pirnaer Krankenhaus zu überführen.7 Der dortige Chefarzt Dr. Renner ver weigerte aber bald die Aufnahme von Häftlingen aus der Burg Hohnstein mit der Begründung, sein Krankenhaus sei keine Totenhalle.8 So wurden die Betroffenen nach Hause entlassen, wo sie letztendlich verstarben. Auch diese Toten fallen unter die Rubrik „Mord“, allerdings erscheinen sie in keiner Statistik. 4 5

6 7 8

In : Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu den Nazi - und Kriegsverbrechen. Hg. vom Generalstaatsanwalt der DDR, Berlin ( Ost ) 1965, S. 11 f. Zur Geschichte des frühen Konzentrationslagers Hohnstein vgl. Carina Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ ? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933– 34/37, Berlin 2005; dies., Hohnstein. In : Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 2, München 2005, S. 129–134; Peter Blachstein, „In uns lebt die Fahne der Freiheit“. Zeugnisse zum frühen Konzentrationslager Burg Hohnstein. Eingeleitet und bearb. von Norbert Haase und Mike Schmeitzner, Dresden 2005. Auszug aus dem Standesamt - Register Hohnstein vom 28. 3. 1946 ( SächsHStAD, V /5.1.139, Bl. 25). Aussage Georg Kocksch, SA - Angehöriger in Hohnstein, im Zuge des 1. Hohnstein - Prozesses ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KzuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 94). Erinnerungsbericht Kurt Schubert vom 28. 5. 1947 ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/2/1, Bl. 104).

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Die Hohnstein-Prozesse 1949

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Bereits kurz nach Auf lösung des frühen Konzentrationslagers im Sommer 1934 wurde der Versuch unternommen, die im Lager vorgenommenen Grausamkeiten gerichtlich aufklären und ahnden zu lassen. Doch der Prozess vor dem Landgericht Dresden gegen den Lagerleiter SA - Obersturmbannführer Rudolf Jähnichen und 23 Angehörige seiner Wachmannschaft9 endete mit relativ milden Strafen und einer darauf folgenden Begnadigung durch Hitler.

2.

Vorbereitung der Prozesse

Im Jahre 1935 noch gescheitert, erfolgte eine Ahndung der verübten Verbrechen nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes. Die Ermittlungen kamen allerdings nur sehr schleppend in Gang, da sich die Sowjetische Militäradministration in der Frage der Selbstreinigung kaum zu Zugeständnissen bereit fand.10 Aus diesem Grunde waren es auch die Opfer, die die ersten Schritte zu einer strafrechtlichen Verfolgung einleiteten. So wandte sich am 19. Oktober 1945 der SPD - Ortsverband Wünschendorf / Lehmen an seinen Landesvorstand mit der Bitte, sich für einen einstimmig angenommenen Antrag zu ver wenden, der die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses forderte, der die Verbrechen von Hohnstein aufklären sollte.11 Die sächsische Landesver waltung beauftragte schließlich im folgenden Jahr den sächsischen Generalstaatsanwalt John Ulrich Schroeder, ein Ermittlungsverfahren vor dem Volksgericht Sachsen wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gegen Unbekannt einzuleiten. Der zu diesem Zweck gegründete Hohnstein - Ausschuss traf sich erstmals am 28. Juni 1946. Ihm gehörten neben Vertretern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ( SED ), der Liberal - Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD ) und der Christlich Demokratischen Union ( CDU ) auch ein Staatsanwalt als Vertreter des Generalstaatsanwalts ( GStA ) und ein Oberlandesgerichtsrat als zuständiger Ermittlungsrichter an.12 Neben dem sächsischen Untersuchungsausschuss bildete sich eine in Ost - Berlin ansässige und von Werner Gentz ( SED) geleitete Gruppe der Deutschen Justizver waltung ( DJV ), die Fragebögen an überlebende Opfer verteilte, um Hinweise über Misshandlungen in Gefängnissen und Konzentrationslagern zu sammeln und diese an die Generalstaatsanwaltschaften der Länder weiterzuleiten, so auch im Fall Hohnstein. Am 20. Juli 1946 rief das Landeskriminalamt Dresden über eine Sonderleitung der Landesver waltung Sachsen alle Polizeibehörden auf, „etwaige Vorgänge und 9

Angeklagt waren neben Jähnichen u. a. : SA - Sturmführer und erster stellv. Lagerleiter Friedrichs, SA - Sturmführer und zweiter stellv. Lagerleiter Heinicker, Truppführer und Adjutant Meier II, Meier I, Volkmar, Putzler, Türke, Leuschner, Karge, Lehmann, Hänsel, Liebscher, Rohmkopf, Heger und Ude ( Auszug aus den Strafakten. In : BStU, ZA, RHE - West, 318/1–318/2, Bl. 8). Zum Prozess vgl. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–40. Die Ära Gürtner, München 1988, S. 368–374. 10 Vgl. Weinke, Klassengegner, S. 155. 11 Ebd., S. 156. 12 Ebd.

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Akten, welche Delikte gegen die Menschlichkeit – begangen im KZ Hohnstein – beweisen, [...] bis zum 31. Juli 1946 an den Chef der sächsischen Polizei zu übersenden“.13 Ein erster Prozess, der als Vorspiel zu den folgenden drei Hauptprozessen gesehen werden kann, fand bereits Anfang des Jahres 1947 statt. Im Oktober 1946 hatte die Dresdner Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen SAOberscharführer und Hohnsteiner Kraftfahrer Helmut Haupold wegen Misshandlung von Häftlingen erhoben.14 Bereits am 6. Januar 1947 verurteilte ihn das Schwurgericht Dresden aufgrund von Zeugenaussagen rückwirkend nach Artikel II Ziffer 1 c ( Verbrechen gegen die Menschlichkeit ) und 2 a des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 zu 20 Jahren Zuchthausstrafe und zehnjährigem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Haupold hatte, laut Zeugenaussagen, während seiner Tätigkeit im Konzentrationslager Hohnstein in mindestens drei Fällen neu eingelieferte Häftlinge misshandelt sowie den ehemaligen sächsischen Innenminister Hermann Liebmann zum Krüppel geschlagen. Darüber hinaus soll er an den Ausschreitungen beteiligt gewesen sein, die SA - Leute am Pfingstwochenende 1934 unter Beteiligung von Gauleiter Martin Mutschmann begingen. In Hohnstein wurde dieses Fest, an dem die Hochzeit des Lagerleiters stattfand und die Wachmannschaften dem Alkohol besonders zugesprochen hatten, zu einem grausamen Beispiel für Misshandlungen an Häftlingen : „Torkelnd und grölend, kurz sinnlos betrunken, holten die SA - Leute ihre Opfer aus den Stuben und Zellen heraus und schlugen auf sie bestialisch ein. An der rechten Seite des Ausganges des Tunnels am oberen Burghof mussten die zerschlagenen Häftlinge Aufstellung nehmen. [...] Am nächsten Tag wurde das Blutwasser weggespült und es lief bis in den unteren Burghof ab. Wenn man bedenkt, dass diese Strecke ca. 100 m lang ist, so macht das deutlich, was sich in dieser Nacht zutrug.“15 Haupold hatte die Verbrechen bis zum Schluss geleugnet, was das Gericht als strafverschärfend wertete. Auch die Tatsache, dass er lediglich als Kraftfahrer und nicht als Wachposten eingesetzt war, wirkte sich auf die Strafe aus. Wenn er „diese Verbrechen [...] ohne Befehl aus eigenem Entschluss und aus einer verruchten Gesinnung heraus“ begangen habe, müsse „die Strafe eine schwere sein“.16 Währenddessen bemühten sich die Dresdner Staatsanwaltschaft, der Hohnstein - Ausschuss und die Arbeitsgruppe Gentz darum, neue Beweise zu finden, um weitere Hohnstein - Täter zur Verantwortung ziehen zu können. Als große 13 Akten des Oberbürgermeisters der Stadt Pirna ( BStU, ASt. Dresden, Akten der Staatsanwaltschaft 4303, Ermittlungen KZ Hohnstein, Bl. 1). 14 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden vom 7. 10. 1946 (Archiv der Stiftung Sächsische Gedenkstätten ). 15 Vernehmung des ehemaligen Häftlings Konrad Schossig am 28. 7. 1961 ( BStU, ASt. Dresden, Akten der Staatsanwaltschaft 4303, Verfahren gegen Staak und 30 andere, Band 2, Bl. 49 f.). 16 Abschrift der Urteilsschrift des Schwurgerichts beim Landgericht Dresden in der Strafsache 1 Ks 35/46 gegen Haupold vom 6. 1. 1947 ( Archiv der Stiftung Sächsische Gedenkstätten ).

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Schwierigkeit erwies sich jedoch die Feststellung der Aufenthaltsorte der einzelnen Beschuldigten. Um bereits bekannte Fakten nutzen zu können, wies der nach dem Tode John Ulrich Schroeders im Jahre 1947 neu eingesetzte sächsische Generalstaatsanwalt Rolf Helm ( SED ) die Staatsanwaltschaft mit dem Vermerk „Eilt !“ an, nach den Akten des nationalsozialistischen Prozesses aus dem Jahre 1935 zu forschen, um auf weitere Tatverdächtige oder eventuelle Zeugen zu stoßen.17 Trotz aller Bemühungen blieben die Akten jedoch verschwunden.18 Die Zahl der Beschuldigten, derer die Ermittler mittler weile habhaft werden konnten, belief sich bis zum März 1949 auf 86. Einige Haupttäter, darunter auch der ehemalige Lagerkommandant Rudolf Jähnichen, konnten allerdings nicht ausfindig gemacht werden. Die meisten der in der SBZ verbliebenen ehemaligen Angehörigen des Hohnsteiner Wachpersonals wurden jedoch verhaftet. Sie hatten scheinbar nicht mehr mit einer strafrechtlichen Verfolgung gerechnet; die Mehrzahl von ihnen lebte noch in Dresden oder der näheren Umgebung und stand dort in Lohn und Brot als Arbeiter oder Handwerker.19 Da es schwierig geworden wäre, einen Prozess gegen fast einhundert Angeklagte zu führen, ohne aufgrund der Massenabfertigung die Beweisführung und letztlich auch die Urteile darunter leiden zu lassen, war eine Trennung in mehrere Prozesse geboten. Darüber hinaus versprach man sich wohl von drei Prozessen, die den Charakter von Schauprozessen tragen sollten, mehr Aufsehen. Es wurde eine Kommission aus Vertretern des SED - Kreisvorstandes, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ), der Betriebsgruppe Justiz des Landratsamtes, des Landgerichtes und der Polizei gebildet, die sich um die organisatorische Vorbereitung bemühen sollte. Da eine breite Öffentlichkeit an den Prozessen teilhaben sollte, war es geplant, die Hauptverhandlung in der Stadthalle am Dresdner Nordplatz stattfinden zu lassen, wo täglich etwa 1 000 Besucher Platz finden konnten. Um den Raum zu füllen und vor allem auch „den Besuch möglichst breiter Arbeiterschichten zu garantieren“, sollten kostenlose Eintrittskarten in den Betrieben verteilt werden.20 Außerdem war beabsichtigt, im Saal und vor dem Eingang des Gebäudes Lautsprecher zu installieren.21 Zudem sollten Landessender und Stadtfunk breit über die Prozesse berichten. Das Ziel war es, deutlich zu machen, dass die Hauptschuldigen „sämtlich in der Westzone“ seien und „trotz Aufforderung durch unsere Behörden“ nicht ausge-

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GStA Dresden an den Staatsanwalt bei dem Landgericht Dresden vom 21. 12. 1947. Zit. nach Weinke, Klassengegner, S. 161. Staatsanwalt bei dem Landgericht Dresden an den Generalstaatsanwalt Sachsen vom 23. 12. 1947 ( Archiv der Stiftung Sächsische Gedenkstätten ). Vgl. die Anklageschriften der einzelnen Prozesse ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 83–151; KZuHafta Hohnstein, 1/5, Bl. 11–83; KZuHafta Hohnstein, 1/5, Bl. 85–128). Protokoll zur Besprechung der Durchführung des 1. Hohnstein - Prozesses ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/2/1, Bl. 66 f.). Köst, Landgericht Dresden, an KWU - Ausstellung vom 6. 5. 1949, zit. nach Weinke, Klassengegner, S. 165.

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liefert würden.22 Dabei handelte es sich um den ehemaligen Kommandanten Rudolf Jähnichen, den Standartenarzt Winkler sowie die Truppführer Meier I, Meier II und Hänsel. Des Weiteren wurde angeregt, dass eventuell sogar die Delegierten der Hauptkonferenz der VVN in der Sowjetischen Besatzungszone, die vom 26. bis 28. Mai 1949 stattfinden sollte, noch einige Tage in Dresden verbleiben könnten, um als Zuhörer am Prozess teilnehmen zu können. Zudem wurde im Rahmen der Ausstellung „Das andere Deutschland“ mit Bildberichten die Geschichte der Burg Hohnstein als Konzentrationslager dargestellt.23 Anhand der Vorbereitungen war ersichtlich, dass „der ganze Prozess werbemäßig ausgewertet werden“ und so öffentlichkeitswirksam als möglich genutzt werden sollte.24 Dieses Ansinnen kam auch in einem Schreiben an die Zeitungsredaktionen und den Rundfunk zum Ausdruck : „Da es sich bei dem Hohnsteinprozess um einen Prozess von großer Bedeutung handelt, drangen doch die in Hohnstein verübten Verbrechen im Jahre 1933 nicht nur über die Grenzen Sachsens, sondern auch in die Weltöffentlichkeit hinaus, wird gebeten, diesen vor Prozess vor breitester Öffentlichkeit entsprechend seiner Bedeutung vorbereiten zu helfen.“25 Auch der Tatort wurde in die Vorbereitungen und Ermittlungen mit einbezogen. So unternahmen am 21. Mai 1949 Angehörige des Gerichtes, der Staatsanwaltschaft sowie die Schöffen eine Fahrt zur Burg, um sich vor Ort einen persönlichen Eindruck zu verschaffen.26

3.

Täter vor Gericht – Die Hohnstein - Prozesse

Am 30. Mai 1949 begann vor der Großen Strafkammer nach SMAD - Befehl Nr. 201 beim Dresdner Landgericht der erste von drei Folgeprozessen gegen ehemalige Wachleute des Konzentrationslagers Hohnstein.27 Den Vorsitz führte Senatspräsident Fritz Köst ( SED ), der ab 1946 für die Revisionsverfahren in NS - Strafsachen zuständig war.28 Amtsgerichtsrat Hartlich ( SED ) und Landrichterin Hertha Taubert ( SED ) sowie drei Schöffen waren ihm beigeordnet. Als Vertreter der Anklage fungierte Staatsanwalt Karl Welich ( SED ), sechs Rechts22 Protokoll zur Besprechung der Durchführung des 1. Hohnstein - Prozesses ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/2/1, Bl. 67). 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Fritz Sparschuh, Justizpressestelle, vom 7. 5. 1949 an den Minister Dieckmann, an die Rechtsabteilung der SMA, Dresden, an die Redaktionen Sächsisches Tagesblatt, Die Union, Sächsische Zeitung, Zeit im Bild, Neues Deutschland, Tägliche Rundschau, LRS, Presse - Runfunk - Aufklärung, ADN, SNB, Rundfunk, Herrn Skala, Kreisvorstand der VVN in Dresden ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/2/1, Bl. 68). 26 Akten des Oberbürgermeisters der Stadt Pirna ( BStU, ASt. Dresden, Akten der Staatsanwaltschaft 4303, Ermittlungen KZ Hohnstein, Bl. 40). 27 Zu den Hohnstein - Prozessen vgl. auch Weinke, Klassengegner, S. 153–170. 28 Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 26.

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anwälte verteidigten die Angeklagten. In diesem Prozess, der gegen Paul Arlet und 22 Andere geführt wurde, gaben lediglich Arlet und Küchler teilweise ihre Schuld zu.29 Alle anderen Angeklagten erklärten, sie hätten sich nicht an Misshandlungen beteiligt. So betonte der Angeklagte Trobisch, dass er „nur als Musiker oben gewesen“ wäre. Hätte Berthold „etwas auf dem Gewissen [...], wäre es ihm ja ein leichtes gewesen, nach dem Westen zu gehen“. Marianczyk fand es „ungerecht“, dass Häftlinge geschlagen wurden, woraufhin er von Jähnichen arrestiert worden sei. Ähnlich äußerten sich auch die anderen Angeklagten. Um den Verdacht von sich auf andere abzuwälzen, schoben sie die Schuld größtenteils auf die Täter, derer das Gericht nicht habhaft werden konnte : Jähnichen und die Gebrüder Meier. Einen weiteren Hauptschuldigen fanden die Angeklagten in Max Morgenstern, der ebenfalls als ehemaliger SA - Mann in Hohnstein tätig gewesen war, nun jedoch als scheinbar überzeugter Gegner des Nationalsozialismus neben dem ehemaligen Häftling und Burgältesten Max Barth als Hauptbelastungszeuge auftrat.30 Obwohl sämtliche Zeugen von Misshandlungen berichteten, dies laut „Sächsischer Zeitung“ „sehr eingehend, zum Teil fast zu weitschweifig“,31 konnten sie aufgrund des großen Zeitabstandes von 15 Jahren in den seltensten Fällen ein Verbrechen einem bestimmten Angeklagten zuordnen. Trotzdem fiel das Plädoyer des Staatsanwaltes hart aus : „Die Beweiserhebung hat ein erschütterndes Bild entrollt, wie es sich grauenhafter nicht denken lässt. [...] Die Angeklagten haben die Verbrechen durch ihr Verbleiben in der Verbrecher - Organisation als gut geheißen bzw. als solche in Kauf genommen und dadurch den bedingten Vorsatz erfüllt und sind somit nach Kontrollratsgesetz Nr. 10 und Direktive Nr. 38 schuldig.“32 Entsprechend hart fielen auch die Strafanträge der Staatsanwaltschaft aus : Todesstrafe für Küchler und Figelius sowie hohe Zuchthausstrafen zwischen sechs und 20 Jahren für die anderen Angeklagten. Dem Angeklagten Ebert billigte die Staatsanwaltschaft mildernde Umstände zu und beantragte ein Jahr und sechs Monate Zuchthaus. Selbst die Plädoyers der Verteidiger begannen mit Ausführungen wie die folgende : „Der Verteidiger verteidigt nie die Tat, sondern verteidigt nur den Täter. [...] Man stellt sich nicht vor die Tat, man will die Tat nicht beschönigen, man befasst sich nur mit der Person des Täters. Wenn wir auf die Tat, auf diese furchtbaren Gräueltaten jetzt zu sprechen kommen, die wir in diesen Tagen nun genau erlebt haben, die sich vor unseren Augen abgerollt haben, seitens der Verteidigung kann nur gesagt wer29 Anklageschrift ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 83– 151). 30 Morgenstern war geständig und offensichtlich für diesen Prozess präpariert und instruiert worden. Es kann davon ausgegangen werden, dass er längere Zeit in sowjetischer Haft verbracht hatte, bevor er im Frühjahr 1949 der deutschen Polizei übergeben wurde. Vgl. Weinke, Klassengegner, S. 165. 31 Sächsische Zeitung vom 7. 6. 1949 : „Beginn der Zeugenvernehmung im Hohnstein - Prozess“. 32 Plädoyer des Staatsanwaltes Welich ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 127).

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den, es ist eine Schmach und Schande und wird immer eine Schmach und Schande bleiben, dass solche Dinge vorgekommen sind und dass diese Gräueltaten an wehrlosen Menschen verübt worden sind.“33 Da dieser Prozess alle Merkmale eines Schauprozesses aufwies, kann auch davon ausgegangen werden, dass politisch zuverlässigen Verteidigern „im Sinne des stalinistischen Schauprozessrechts die Aufgabe zukam, für die publikumsgerechte Vermittlung der politischen Botschaft zu sorgen“.34 Die Reaktionen auf die Durchführung des Hohnstein - Prozesses waren positiv, bis auf wenige Ausnahmen. Das „Sächsische Tageblatt“, die Landeszeitung der Liberal - Demokratischen Partei Deutschlands ( LDPD ), die als Alternative zur SED - Presse galt, äußerte sich in einigen Punkten kritisch. Bereits einige Tage vor der Urteilsverkündung im ersten Hohnstein - Prozess rief der Verfasser des Artikels zu mehr Rechtsstaatlichkeit auf und forderte, dass der Hohnstein - Prozess keine „bloße Demonstration der veränderten politischen Verhältnisse in Deutschland“ sein dürfe : „Es geht nicht darum, den einen oder anderen Angeklagten besser wegkommen zu lassen, es geht überhaupt nicht so sehr um die Personen, als vielmehr um die prinzipielle Gerechtigkeit [...]. Das Gericht hat nach den Tatbeständen zu forschen, nach Tatbeständen jedes einzelnen Angeklagten. Denn es geht nicht um den recht ver waschenen Begriff der Kollektivschuld, der – angenommen und ausgewertet – für den einen Angeklagten eine viel zu niedrige, für den anderen eine viel zu hohe Strafe erbrächte, sondern um die unbequemere, aber gerechtere Ermittlung der Einzeldelikte. Und was die Kollektivschuld anbelangt, so wird an dem Nürnberger Urteilsspruch, der die SA nicht als verbrecherisch klassifizierte, vorerst nicht vorübergegangen werden können. [...] Mehr oder weniger schuldig sind alle Angeklagten, gewiss, aber auf das mehr oder weniger kommt es an.“35 Darauf reagierte die „Sächsische Zeitung“, Organ der SED - Bezirksleitung, und stellte die Kollektivschuld noch einmal heraus : „Eindeutig steht fest, dass alle Angeklagten die beantragten Strafen verdienen, denn Milde gegen die Verbrecher wäre Verbrechen gegen die Opfer.“36 Auch aus dem Plädoyer des Staatsanwalts Welich wurde deutlich, dass die Kollektivschuld im Mittelpunkt stand. „Das Blut der Gemordeten und Gemarterten kommt auf das Haupt der Angeklagten, ob sie nun gemeinschaftlich oder im Einzelnen an den Schandtaten beteiligt waren. Es bestand nur eine gewisse Arbeitsteilung in Hohnstein, aber das Verbrechen im Ganzen gesehen, war ein gemeinsames.“37 Die Urteile wurden nach zehn Sitzungstagen am 17. Juni 1949 gesprochen : 20 Jahre Zuchthaus für Küchler, Figelius und Marianczyk, 15 Jahre für Alfred Steinbach, zwölf Jahre für Lindner und Winkler, zehn Jahre für Krujatz, Noack 33 Plädoyer der Rechtsanwälte ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 133). 34 Weinke, Verfolgung, S. 71. 35 Sächsisches Tageblatt vom 16. 6. 1949 : „Den Schuldigen die gerechte Strafe“. 36 Sächsische Zeitung vom 17. 6. 1949 : „2 Todesurteile im Hohnsteinprozess beantragt“. 37 Union vom 18. 6. 1949 : „Die Sühne. Zwei Todesstrafen beantragt“.

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und Riehle, acht Jahre für Arlet, Walter Steinbach, Kutzner, Berthold, Lange, Franke, sechs Jahre für Trobisch, Schneider, Pinski, vier Jahre für Becker und Liebs sowie ein Jahr Gefängnis für Ebert.38 Im Fall von Ebert fand der Amnestiebefehl vom 18. März 1948 Anwendung;39 der Haftbefehl war somit aufgehoben.40 Sämtliche Angeklagte wurden der Verbrechen nach Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel II Ziffer 1, 6 und 8 in Tateinheit mit Verbrechen nach Kontrollratsgesetz 10 Artikel II Ziffern 1c und 2a - e schuldig gesprochen und als „Hauptverbrecher“ eingestuft.41 Als strafmildernd sah die Strafkammer die Tatsache, dass „die Angeklagten zur Zeit der Begehung der Verbrechen einer gewissen Notlage in wirtschaftlicher Hinsicht durch die Erwerbslosigkeit ausgesetzt“ waren und aus diesem Grunde „Mitglieder dieser Verbrecherorganisation“ geworden seien.42 Die meisten der in Hohnstein agierenden Stürme waren sogenannte Erwerbslosenstürme : Durch den Eintritt in die SA erhofften sich die zum größten Teil arbeitslosen Männer eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation.43 Nach der Urteilsverkündung kritisierte Senatspräsident Köst als Vorsitzender der Strafkammer das „Sächsische Tageblatt“, das den Begriff der Kollektivschuld als „schwammig und nicht als Grundlage für ein gewichtiges Urteil geeignet ansieht. Dies ist keinesfalls richtig, da das Kontrollratsgesetz 10 ganz klar das Wesen der Kollektivschuld umreißt und feststellt. Durch die ausgedehnte umfangreiche Beweisaufnahme wurde aber – neben der Kollektivschuld, die zweifellos bei jedem der Angeklagten besteht – auch eine weitgehende konkrete Schuld festgestellt, nämlich das Tätigwerden aller auf Hohnstein als Wachmänner sowie die in vielen Fällen nachgewiesenen Misshandlungen der Häftlinge.“44 Auch der Vertreter der Nebenklägerin VVN, Herbert Hilse, der in seinem Plädoyer strengste Bestrafung gefordert hatte, setzte sich indirekt mit dem Kommentar des bürgerlichen Tageblattes auseinander und erklärte im Hinblick auf die noch folgenden Prozesse : „Wir stehen hier nicht nach dem Grundsatz ‚Aug um Aug, Zahn um Zahn‘. Wir wollen Gleiches nicht mit Gleichem vergelten. Was wir fordern, ist eine gerechte Sühne für die Verbrechen der SA. In Nürn38 Urteilsverkündung ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 148). 39 Der Chef der SMAD erließ am 18. 3. 1948 den Befehl Nr. 43 über die „Amnestie in der SBZ Deutschlands anlässlich der Revolution von 1848“. Am 22. 3. 1948 ergingen dazugehörige Ausführungsbestimmungen der SMAD - Rechtsabteilung. So sollten alle Personen von der Verbüßung ihrer Strafe befreit werden, die durch deutsche Gerichte in der SBZ zu Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr oder leichteren Strafen verurteilt worden waren ( Zentralverordnungsblatt, S. 97 f.). Vgl. Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 214–227. 40 Urteilsverkündung der Großen Strafkammer nach Befehl Nr. 201 des Landgerichtes Dresden vom 17. 6. 1949 ( BArch, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 148–151, hier 151). 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. die Vernehmungen der ehemaligen Angehörigen der Wachmannschaften im Rahmen der Hohnstein - Prozesse. 44 Sächsische Zeitung vom 18. 6. 1949 : „Hohe Zuchthausstrafen im Hohnstein - Prozess“.

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berg wurde die SA als nicht verbrecherisch im Sinne der Anklage erklärt. Wir erklären aber vor aller Öffentlichkeit, die Sturmabteilung der NSDAP ist für uns eine verbrecherische Organisation und wir denken, dass auch dies von dem kommenden deutschen Gerichtshof festgestellt werden kann.“45 Nach dem Prozess äußerte sich das „Sächsische Tageblatt“ nochmals kritisch. Das Gericht habe es an der nötigen objektiven Prozessführung nicht fehlen lassen, „wenn man davon absieht, dass die Zeugen vielfach entgegen den üblichen Gepflogenheiten schon vor ihrer Aussage im Saale anwesend waren“. Das Verhalten des Publikums sei jedoch „weit weniger erfreulich“ gewesen. Es sei verständlich, wenn bei Zeugenschilderungen der Zustände im damaligen Konzentrationslager „Äußerungen der Entrüstung und der Abscheu“ laut werden. „Es muss sehr bedauert werden, dass die anwesenden Zuschauer sich in keiner Weise der Würde des Gerichtes entsprechend verhalten haben. Fast unentwegt wurde der Prozess durch die völlig unangebrachte Stellungnahme des Publikums gestört, wie überhaupt für den unbefangenen Beobachter klar wurde, dass die Anwesenden keine Ahnung von den Aufgaben einer gerichtlichen Verhandlung hatten. Es wird sich also empfehlen, in künftigen Prozessen bei allzu störendem Verhalten des Publikums den Saal räumen zu lassen.“46 Auch die „Sächsische Zeitung“ ging auf das Verhalten des Publikums ein, jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang : „Ein Sturm der Entrüstung ging durch den vollbesetzten Saal, als sich herausstellte, dass der Angeklagte Thomas aus Lohsdorf die Frechheit besessen hatte, sich im Verlaufe der Bodenreform einen 5 Hektar großen Neubauernhof zuteilen zu lassen.“47 Dem ersten Prozess schlossen sich zwei weitere an : In der Zeit vom 11. bis 27. Juli 1949 fand im Volkshaus Pirna der Prozess gegen Kurt Stachowski ( alias Staak ) und 30 Andere statt, vom 7. bis 18. November 1949 hatten sich vor der in Freital tagenden Zweiten Großen Strafkammer des Landgerichts Dresden Felix Sikora und 31 Andere zu verantworten. Diese Prozesse ähnelten sowohl im Verlauf als auch in den Urteilen dem ersten. Anfangs wiesen die Angeklagten alle Schuld von sich, belasteten entweder andere Angeklagte oder wiesen darauf hin, dass es sich nur um eine Ver wechslung handeln könne. Fühlten sie sich jedoch durch Fragen in die Enge getrieben, gaben einige zu, von Misshandlungen gewusst, sich selbst jedoch niemals an diesen beteiligt zu haben. Andere wiederum wollten bis zum Schluss nichts gewusst haben, so wie beispielsweise im dritten Prozess Kleinichen, der angab, er habe erst durch die Anklageschrift von den Misshandlungen in Hohnstein erfahren. Die Staatsanwaltschaft beantragte auch hier die Todesstrafe; im zweiten Prozess war diese für Kurt Stachowski ( alias Staak ) vorgesehen. Beide Male wurde der Strafantrag vom Gericht nicht bestätigt. Im zweiten Prozess variierten die Strafen zwischen lebenslänglichem Zuchthaus für Staak sowie zwischen 15 und zwei Jahren für fast alle übrigen Angeklagten. Einer von ihnen kam mit einer Gefängnisstrafe 45 Ebd. 46 Sächsisches Tageblatt vom 21. 6. 1949 : „Schändliche Bluttaten werden gesühnt“. 47 Sächsische Zeitung vom 12. 6. 1949 : „Zweiter Hohnstein - Prozess“.

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von einem Jahr davon, ein anderer wurde freigesprochen. Gegen sämtliche Verurteilte traten die obligatorischen Sühnemaßnahmen nach Artikel 8 der Kontrollratsdirektive 3848 Ziff. 2 b - i auf die Dauer von zehn Jahren in Kraft.49 Auch im dritten Prozess war die Bandbreite der Strafmaße groß : lebenslängliche Zuchthausstrafe für Sikora, Morgenstern fünfzehn Jahre, andere Angeklagte erhielten zwischen sieben und vier Jahren Zuchthaus beziehungsweise Gefängnisstrafen von einem oder zwei Jahren. Die zu einem Jahr Verurteilten wurden aufgrund des Amnestiebefehls von der Verbüßung der ausgesprochenen Freiheitsstrafen befreit.50 Zu einer Todesstrafe im Zusammenhang mit dem Konzentrationslager Hohnstein kam es allerdings dennoch : In den Waldheimer Schauprozessen51 verhängte die 11. Große Strafkammer des Landgerichts Chemnitz nach elfstündiger Verhandlung gegen Ernst Heinicker, ehemals zweiter Lagerkommandant in Hohnstein und bereits im Prozess 1935 angeklagt, die Todesstrafe.52

4.

Rahmenprogramm und „Auswertung“

Anhand der Verläufe und der Urteile der vorgenannten Prozesse wird deutlich, dass sich diese ganz typisch in die Entwicklungsgeschichte der SBZ - Justiz einordnen : Spiegelte sich im Verfahren gegen Haupold noch das Bemühen der Justiz wider, die Verbrechen aus der Frühphase des nationalsozialistischen Regimes mit strafrechtlichen Mitteln zu ahnden, waren die drei Folgeprozesse stark von 48 Die Kontrollratsdirektive Nr. 38 ( KRD 38) über die „Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Über wachung von möglicher weise gefährlichen Deutschen“ ( Zentralverordnungsblatt (ZVOBl.) 1947, S. 203 ff.) vom 12. 10. 1946 wurde von der SMAD durch den Befehl vom 16. 8. 1947 ( ZVOBl. 1947, S. 153, 185) deutschen Strafkammern und Untersuchungsbehörden übertragen und leitete die zweite Phase der Strafverfolgung wegen NS - Verbrechen ein. Vgl. Meyer - Seitz, Verfolgung, S. 155–171. 49 Urteilsverkündung vom 27. 7. 1949 ( BStU, ASt. Dresden, Akten der Staatsanwaltschaft 4303, Strafsache Staak und 30 andere, Band 4, Bl. 209 ff.). 50 Urteilsverkündung vom 18. 11. 1949 ( BStU, ASt. Dresden, Akten der Staatsanwaltschaft 479/86, Strafsache Sikora und andere, Bl. 328 ff.). 51 Die Waldheimer Schauprozesse waren der größte pseudojustitielle Strafprozesskomplex in Ostdeutschland nach 1945 (26.4. bis 14. 7. 1950 in Waldheim ). In Geheim - und zehn Schauprozessen wurden knapp 3 400 angebliche „Kriegs - und Naziverbrecher“ verurteilt (88 Prozent Zuchthausstrafen von über zehn Jahren, 146 Urteile zu lebenslänglich, 23 Todesurteile ). Bereits 1954 vom Kammergericht Berlin ( West ) „als absolut und unheilbar nichtig“ bewertet, konnten die Waldheim - Urteile erst nach 1990 gründlich untersucht und beurteilt werden. Siehe auch den Beitrag von Falco Werkentin in diesem Band. 52 Tägliche Rundschau vom 22. 6. 1950 : „Die Grausamkeiten von Hohenstein“ [ sic !]; Neues Deutschland vom 22. 6. 1950 : „Harte Strafen in Waldheim“; Sächsisches Tageblatt vom 24. 6. 1950 : „‚Sie sind kein Mensch, sondern eine Bestie‘. Kommandant vom KZ Hohenstein [ sic !] zum Tode verurteilt“. Heinicker war bis Anfang 1950 ohne Urteil in einem sowjetischen Speziallager festgehalten geworden. Vgl. Weinke, Klassengegner, S. 164.

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den ideologischen und politischen Interessen der kommunistischen Machthaber überlagert. So wurden nicht ohne Grund Kommissionen zur Vorbereitung der drei Prozesse gebildet oder Eintrittskarten verteilt, um eine breite Öffentlichkeit anzusprechen, oder überlegt, ob die VVN - Delegierten als Zuhörer am Prozess teilnehmen sollten. Begleitend zu den Prozessen, veranstaltete die VVN Justizausspracheabende, auf denen der Antifaschismus im Mittelpunkt stand, um auf diese Weise das offizielle Geschichtsbild zu propagieren. Bei einem dieser Ausspracheabende der Justiz und der VVN hatten die 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer beispielsweise die Möglichkeit, schriftlich Fragen zu beantworten. „Wie würden Sie einen Täter von einer Räuberbande bestrafen, der, wie vorher besprochen, nur ‚Schmiere‘ steht, während seine Komplicen rauben ?“ Diese und ähnliche Fragen machen die Stoßrichtung der Berichterstattung deutlich : Es ging um die Kollektivschuld.53 Weitere derartige Abende waren „zur Klärung wichtiger Fragen“ geplant. So sollte etwa darüber diskutiert werden, „wie man Leute, die durch Propaganda für den Nazismus und Militarismus oder durch Verbreitung tendenziöser Gerüchte den Frieden und unseren demokratischen Aufbau gefährden, behandeln muss“.54 Dass vor allem der zweite Prozess hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Wirkung positiv beurteilt wurde, zeigt der Sitzungsbericht des Anklagevertreters Welich an den Generalstaatsanwalt des Landes Sachsen : „Der Prozess war sehr gut vorbereitet. Durch Plakatierung und Ausgabe von gedruckten Eintrittskarten funktionierte die Organisation ausgezeichnet. Das öffentliche Interesse war außerordentlich groß. Obwohl 900 Plätze zur Verfügung standen, reichten die an keinem Tage aus. [...] Begründet war dieses Interesse durch die Tatsache, dass die Angeklagten zum großen Teil in Pirna und Umgebung ansässig sind und das Tätigkeitsgebiet des Sturmes 177/100 sich in dieser Gegend besonders unheilvoll auswirkte. Die Übertragung durch die Rundfunkanlage war bedeutend besser als im 1. Hohnstein - Prozess, sodass an jeder Stelle des Saales die Zuhörer dem Prozess folgen konnten. Die Berichterstattung über den Rundfunk erfolgte schnellstens und voll ausreichend. Desgleichen kann diesmal von der Presse berichtet werden. Der Vertreter der VVN hat durch geschickte Fragestellung in die Verhandlung eingegriffen. Leider hat er in seiner Tätigkeit eine zu starke parteipolitische Bindung erkennen lassen. Durch diesen Umstand bestand die Gefahr, dass das Gericht in den Verdacht kommen würde, nicht genug überparteilich zu entscheiden. Der Gesamteindruck war trotz letzterem Umstand in der Öffentlichkeit wesentlich günstiger als im 1. Prozess. Das hatte seine Ursachen in der Verhandlungsführung und in der Behandlung der Beweisanträge der Verteidigung, der im größten Ausmaße stattgegeben wurde und die Objektivität des Gerichts zur Wahrheitsfindung besonders unterstrich.“55 53 Sächsische Zeitung vom 13. 7. 1949 : „Wie würden Sie als Richter urteilen ?“. 54 Ebd. 55 Sitzungsbericht des Staatsanwaltes Welich über den 2. Hohnsteinprozess an den Generalstaatsanwalt im Lande Sachsen vom 28. 7. 1949 ( BStU, ASt. Dresden, Akten der Staatsanwaltschaft 4303, Handakte Staak und 30 andere, Bl. 89 ff.).

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Mit dem Todesurteil im Waldheim - Prozess gegen Heinicker setzte die SED mehrere Signale : Erstens konnte sich die DDR in Abgrenzung zur Bundesrepublik als der „antifaschistische“ Staat zeigen, der konsequent NS - Verbrecher verfolgte, zweitens konnte sie ihre absolute Gefolgschaftstreue gegenüber der bisherigen sowjetischen Spruchpraxis zeigen und drittens verband sich mit den Schauprozessen propagandistisch das Signal, „dass die strafrechtliche Abrechnung mit der NS - Zeit nahezu beendet sei“.56 Die ehemaligen Nationalsozialisten konnten nunmehr den Aufbau der DDR aktiv mitgestalten, ohne strafrechtliche Verfolgungen befürchten zu müssen. Auf welche Art und Weise dies vonstatten gehen sollte, wurde bald deutlich.

5.

Schuldtilgung durch Spitzeltätigkeit

Die meisten der in den Hohnstein - Prozessen des Jahres 1949 Verurteilten mussten ihre Haftstrafen nicht bis zum Ende verbüßen : Sie fielen unter ein Amnestiegesetz, manche warb auch die Staatssicherheit als Geheime Informanten an, was in der Regel ebenfalls die vorzeitige Freilassung zur Folge hatte. So führte beispielsweise die Staatssicherheit mit Alfred Figelius, für den die Staatsanwaltschaft im ersten Hohnstein - Prozess die Todesstrafe gefordert hatte und den das Gericht am 17. Juni 1949 zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, am 21. Februar 1956 in der Haftanstalt ein Anwerbungsgespräch. Noch am selben Tage verpflichtete er sich „auf freiwilliger Basis mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. [...] Ich werde alle Aufträge, die sich aus unserer Zusammenarbeit ergeben, im Interesse zur Erhaltung des Friedens gewissenhaft durchführen. Ich werde alle meine Kräfte dafür einsetzen, um alle Agenten, Spione und Verbrecher der DDR den Organen der Staatssicherheit benennen und helfen, diese unschädlich zu machen.“57 Kurze Zeit später wurde er aus der Haft entlassen. Auch Max Morgenstern, der im dritten Hohnstein - Prozess zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, konnte für die Staatssicherheit gewonnen werden. Am 19. Juli 1955 in der Haftanstalt Brandenburg angeworben, war er bereits dort „bestrebt, seinen begangenen Fehler in der faschistischen Zeit wieder gut zu machen und hat auch in der Haftanstalt wertvolle Hinweise über andere Gefangene gegeben“.58 Morgenstern erklärte, dass er auch in der Freiheit mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten wolle. Der Führungsoffizier vermerkte hierzu, man solle Morgenstern in seiner beruf lichen Tätigkeit unterstützen, da er in der geheimen Informantentätigkeit „sehr gewissenhaft ist und [...]

56 Falco Werkentin, Politische Straf justiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 196. 57 Verpflichtungserklärung von Alfred Figelius zur Zusammenarbeit mit dem MfS vom 21. 2. 1956 ( BStU, ZA, AIM 10022/69, Bl. 27). 58 Auskunftsbericht der Dienststelle Freiberg vom 26. 7. 1957 ( BStU, ASt. Chemnitz, AIM 251/56, Bl. 44).

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gute Hinweise geben kann“.59 Im Jahre 1956 wurde Morgenstern aufgrund einer Amnestie entlassen. Da die Staatssicherheit seinen „offenen und ehrlichen Charakter“ schätzte, erhielt er im Rahmen seiner Spitzeltätigkeit einen Auftrag für eine Fahrt nach Westdeutschland, von der er zwar zurückkehrte, drei Tagen später flüchtete er jedoch mit seiner Familie aus der DDR.60

6.

Rehabilitierung

Nach der Wieder vereinigung stand das Problem der Kollektivschuld nochmals zur Debatte. So gab es in den 90er Jahren einige Rehabilitierungsverfahren, auch in Bezug auf die Hohnstein - Prozesse. Das Landgericht Dresden rehabilitierte zwei ehemalige Angehörige der Wachmannschaften : Johannes Pinski, verurteilt im ersten, und Herbert Hille, verurteilt im zweiten Hohnstein - Prozess. „Der Betroffene Herbert Hille ist aufgrund einer auf allen SA - Wachposten des Konzentrationslagers lastenden Kollektivschuld verurteilt worden. Eine solche Kollektivschuld als Grundlage für die strafrechtliche Verurteilung eines einzelnen zu setzen, ist jedoch mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar.“61 Ebenso wurde auch im Fall Johannes Pinski argumentiert.62 Die übrigen Rehabilitierungsgesuche ehemaliger Angehöriger der Wachmannschaften in Hohnstein wurden abgewiesen bzw. nur hinsichtlich des Vermögensentzugs bewilligt.

59 Bericht über die Zusammenarbeit und Beurteilung eines GI vom 3. 2. 1956 ( ebd., Bl. 21). 60 Schlussbericht der Dienststelle Freiberg vom 5. 5. 1960 ( ebd., Bl. 62). 61 Beschluss des Landgerichts Dresden vom 12. 4. 1996 in der Rehabilitierungssache des Betroffenen Herbert Hille. In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Band VIII, München 2006, S. 253–257, hier 255. 62 Beschluss des Landgerichts Dresden vom 23. 9. 1996 in der Rehabilitierungssache des Betroffenen Johannes Pinski, ebd., S. 434–437, hier 435.

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Die Waldheimer Prozesse 1950 in den DDR - Medien Falco Werkentin

1.

„Wir reichen Euch die Hände“

Als im April 1950 im kleinen sächsischen Städtchen Waldheim die sogenannten Waldheimer Kriegsverbrecher - Prozesse begannen, standen die Zeichen der Zeit längst auf Integration ehemaliger Mitglieder der NSDAP und Funktionsträger des NS - Regimes – in der Bundesrepublik wie auch in der DDR. Angesichts einer Bevölkerung, die sich in erschreckender sozialer und politischer Breite mit der nationalsozialistischen Diktatur gemein gemacht hatte, gab es hierzu faktisch keine Alternative. Die Frage war nur, wieweit die politischen Entscheidungsträger in Ost und West sowie die jeweiligen Besatzungsmächte bei der Integration gehen würden. Mit dem SMAD - Befehl Nr. 201 von August 1947 über die beschleunigte Beendigung der Entnazifizierung1 hatte die sowjetische Besatzungsmacht signalisiert, dass sie an einem schnellen Abschluss der Entnazifizierung interessiert war. Bereits vor Gründung der DDR im Oktober 1949 hatte sie damit begonnen, aus dem großen Reservoir an deutschem Fachpersonal in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern dringend benötigte Kader gezielt in die SBZ zu entlassen, die dort für den verdeckten Aufbau neuer militärischer Verbände, aber auch für sonstige Verwaltungsaufgaben benötigt wurden. Die Gründung der National - Demokratischen Partei Deutschlands im Mai 1948 signalisierte ein deutliches Integrationsangebot für minderbelastete ehemalige Mitglieder der NSDAP und der Wehrmacht. Und auch das „Gesetz über den Erlass von Sühnemaßnahmen und die Gewährung staatsbürgerliche Rechte für ehemalige Mitglieder und Anhänger der Nazipartei und Offiziere der faschistischen Wehrmacht“ vom 11. November 19492 war ein Zeichen in dieselbe Richtung. Im „Neuen Deutschland“ ( ND ) vom 11. November 1949 heißt es hierzu : „Wir reichen Euch die Hände“3. Sie wurden dankbar ergriffen. Ehemalige Wehrmachtsoffiziere, SD - Mitarbeiter und „alte Kämpfer“ der NSDAP konnten erstaunlich hohe Positionen besetzen : Als Generäle der Kasernierten Volkspolizei und später der NVA, als Intendanten des sozialistischen 1 2 3

Zentralverordnungsblatt, 1947, Nr. 13, S. 153 f. Gesetzblatt der DDR, Nr. 7 vom 18. 11.1949. Neues Deutschland vom 11. 11. 1949 : „Stellungnahme von Antifaschisten“.

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Rundfunks, als Präsident des Obersten Gerichts, als Chef der Akademie für Staat und Recht „Walter Ulbricht“ etc. Indes : Im Unterschied zur Bundesrepublik waren aufgrund der radikal anderen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der DDR damit keine realen Machtpositionen in Politik und Gesellschaft verbunden. Wie sehr man im Gründungsjahr der DDR unter dem Gesichtspunkt der Integration bereit war, auf die Gefühle ehemaliger Parteigänger der NSDAP Rücksicht zu nehmen, zeigt schlaglichtartig die interne Debatte um ein Wiedergutmachungsgesetz und die Rückgabe geraubten jüdischen Vermögens.4 So sprach Harry Kuhn, Generalsekretär der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ), im September 1949 auf einer Konferenz der VVN - Sekretäre gar davon, dass man in Hinblick auf die politische Situation in der Ostzone „mit Rücksicht auf die Nationale Front, bei den ehemaligen Nazis auf Widerstand stößt, wenn das Gesetz zur Betreuung der OdF’s kompakt verabschiedet wird“.5 Unter dem Gesichtspunkt der Integration ehemaliger Nazis – und mit Blick auf die Entwicklung in den Westzonen –, war es für die politisch gestaltenden Kräfte in der SBZ daher ein erhebliches Problem, dass es 1949 in den Weiten Sibiriens noch immer Zehntausende Kriegsgefangene und SMT - Verurteilte gab und Zehntausende in den sowjetischen Internierungslagern in der SBZ dahinvegetierten. So bemühte sich die SED - Führung gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht sowohl um die Rückführung der Kriegsgefangenen als auch um die Auf lösung der Internierungslager – zumal die westlichen Besatzungsmächte ihre Kriegsgefangenen - und Internierungslager längst aufgelöst hatten. Da mit der zum Zeitpunkt der DDR - Gründung bereits weitgehenden Enteignung der Kapitalistenklasse die sozialökonomischen Wurzeln des Faschismus ein für alle Mal „ausgerissen“ waren, so das Selbstverständnis der SED, gab es nur geringe Bedenken, die Fähigkeiten gefügiger Ex - Nazis für den sozialistischen Aufbau zu nutzen.6 Der sächsische Innenminister Wilhelm Zaisser brachte es im Januar 1949 auf den Punkt : „Wir verlangen nicht den negativen Nachweis des Nichtbelastetseins, des Neutralseins, sondern den positiven Nachweis des Mitmachens.“7 Und so war die personelle Entnazifizierung voller Widersprüche. Großzügig zeigte man sich insbesondere gegenüber Angehörigen der wissenschaftlichen, 4 5 6

7

Vgl. Ralf Kessler / Hartmut Rüdiger Peter, Wiedergutmachung im Osten Deutschlands 1945–1953. Grundsätzliche Diskussionen und die Praxis in Sachsen - Anhalt, Frankfurt a. M. 1996. Zit. nach Kessler / Peter, Wiedergutmachung, S. 181. OdF : Opfer des Faschismus. 1952 war die Liquidierung des Privateigentums an Produktionsmitteln in der DDR soweit fortgeschritten, dass nach Angaben Walter Ulbrichts bereits ca. 78,1 Prozent der gesamten industriellen Bruttoproduktion von volkseigenen Betrieben erwirtschaftet wurde. Vgl. die Rede Ulbrichts auf der 11. ZK - Tagung am 7. 2. 1953 ( SAPMO - BArch, DY 30, IV 2/2.01/1). So Zaisser anlässlich der Tagung der Oberbürgermeister, Landräte und leitenden Mitarbeiter der Regierung, 2.–4. 3. 1949 im Carolaschlößchen ( SAPMO - BArch, DY 30, IV, NL 277/4).

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technischen und medizinischen Intelligenz, da man händeringend auf ihr Können angewiesen war, wie etwa eine Fallstudie zur Entnazifizierung in Köthen / Anhalt belegt.8 Vor diesem Hintergrund bemühten sich Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Fred Oelßner anlässlich ihrer Moskau - Reise vom 16. bis 28. September 1949 in Gesprächen mit Stalin um die Auf lösung der letzten Internierungslager in der SBZ. Stalin reagierte mit Schreiben vom 27. September 1949 und teilte unter Punkt 16 mit : „Der Auf lösung der MWD - Lager in Deutschland wird insofern zugestimmt, als die Möglichkeit der Entlassung eines Teils der Gefangenen und die Übergabe der übrigen Gefangenen an die deutsche Behörde erfolgen soll. Eine Über weisung der Verurteilten in die SU ist nicht als ratsam anzusehen.“9 Die Öffentlichkeit erfuhr am 17. Januar 1950 von diesem Verhandlungserfolg. Das „ND“ und die sonstige DDR - Presse meldeten auf den Titelseiten die Auf lösung der sowjetischen Internierungslager und teilten mit, dass 10 000 Internierte freigelassen und knapp über 10 500 von sowjetischen Tribunalen Verurteilte den DDR - Behörden zur weiteren Strafverbüßung übergeben würden. Außerdem würde die Sowjetische Militäradministration ( SMAD ) ca. 3 400 Internierte an die DDR - Behörden zur Untersuchung ihrer Schuld und gegebenenfalls Aburteilung durch deutsche Gerichte ausliefern. Tags darauf, am 18. Januar, veröffentlichte das „ND“ eine Erklärung des Staatssekretärs im Innenministerium, Hans Warnke, anlässlich einer Pressekonferenz des Amtes für Information, in der es u. a. hieß : „Wenn sich die Beschuldigungen nicht bewahrheiten, würden sie [ die zur Untersuchung ihrer Schuld Übergebenen ] nach Abschluss der Untersuchung entlassen.“ Zehn Tage später, in der Ausgabe Nr. 4 vom 27. Januar 1950, setzte die DEFA - Wochenschau „Der Augenzeuge“ mit einem 60 - Sekunden - Bericht über die Auf lösung des Internierungslagers Sachsenhausen nach. Im O - Ton heißt es u. a. : Die Internierten „lebten, wie Probst Grüber, ein hoher Würdenträger der evangelischen Kirche berichtete, weitaus besser und menschenwürdiger als die Umsiedler in den Lagern der Westzone. Die Entlassenen werden zeigen müssen, ob sie diesen Vertrauensbeweis zu würdigen verstehen. Die Behörden werden sie bei ihrer Rückkehr in die Gesellschaft unterstützen. Sollen aber in - und ausländische Feinde unserer Republik neue Anschläge gegen die demokratische Ordnung versuchen, wird die Antwort hart und unmissverständlich sein.“ Eine Botschaft mit drohendem Unterton.

8 9

Alexander Sperk, Entnazifizierung und Personalpolitik in der sowjetischen Besatzungszone Köthen / Anhalt. Eine Vergleichsstudie (1945–1948), Dössel 2003. Dokumentiert in : Dietrich Staritz, Die SED, Stalin und die Gründung der DDR. Aus den Akten des Zentralen Parteiarchivs des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung ( ehemals Institut für Marxismus - Leninismus beim ZK der SED ). In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/1991, S. 3–16.

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2.

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Circa 3 400 Geheimverfahren

Doch dann war über Monate Ruhe an der publizistischen Front. Dass seit April 1950 in Waldheim Sondergerichte – soweit der Begriff Gerichte überhaupt Sinn macht – im Akkord Urteile mit Regelstrafen zwischen 15 bis 25 Jahren auswarfen, auf die Verhandlungen dabei meist aber nur 20 bis 30 Minuten verwendet wurden – dies wurde nicht allein der allgemeinen Öffentlichkeit vorenthalten.10 Selbst der Staatssekretär im DDR - Justizministerium, der CDU - Blockpolitiker Dr. Helmut Brandt, erhielt von diesen Scheinverfahren nur rein zufällig durch seinen Chauffeur Nachricht, obwohl eine Hauptabteilungsleiterin aus dem DDR - Justizministerium, Dr. Hildegard Heinze, die Inszenierungen mit vorbereitet hatte und in Waldheim vor Ort war. Brandts erster Versuch, sich in Waldheim persönlich ein Bild von den Verfahren zu machen, schlug fehl. Ihm wurde der Zutritt verweigert. Beim zweiten, vorher angekündigten Besuch wurde ihm lediglich der Einlass zu zuvor präzise vorbereiteten Schauverfahren gewährt.11 Die SED wollte mit der Auf lösung der Internierungslager in der Bevölkerung punkten. Die ihr von der Besatzungsmacht aufgedrängte Aburteilung von knapp 3 400 Internierten konterkarierte mithin ihre auf Integration ehemaliger Nazis zielende Politik – so meine These. Diese Verfahren passten nicht mehr in die politische Landschaft, wollte doch auch die Parteiführung ihrem ungeliebten Volk die Botschaft vermitteln, dass 1950 die Entnazifizierung abgeschlossen sei und ehemalige Nazis auch in der DDR nichts mehr zu befürchten hätten. Denn gewiss : Eine Schlussstrich - Mentalität gab es 1950 nicht nur bei den Bewohnern der Bundesrepublik, sondern auch in der Bevölkerung der DDR. Allerdings mit dem Unterschied, dass diese Stimmung in der Bundesrepublik sich öffentlich artikulieren konnte. Nach Monaten des Schweigens kam die SED nicht umhin, die Öffentlichkeit über die Verfahren in Waldheim zu des - informieren. Zum einen waren im Janu10 Ich gehe davon aus, dass zumindest in groben Zügen die Verfahrensweisen bei den Waldheimer Prozessen hinreichend bekannt sind, so dass darauf verzichtet werden kann, sie genauer zu skizzieren. Stellvertretend für eine Vielzahl an Publikationen vgl. Wolfgang Eisert, Die Waldheimer Prozesse – Der stalinistische Terror 1950, Esslingen 1991; Wilfriede Otto, Die Waldheimer Prozesse. In : Sergej Mironenko / Lutz Niethammer / Alexander von Plato ( Hg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950; Band 1, Berlin 1998, S. 533– 553. Falco Werkentin, Politische Straf justiz in der Ära Ulbricht, 2. Auf lage Berlin 1997, S. 156–182. Leider sind bis heute entsprechende sowjetische Akten verschlossen, so dass es nahezu keine Hinweise darauf gibt, wie konkret – und den Verfahrensablauf bestimmend – die SMAD auf die Scheinverfahren in Waldheim Einfluss nahm. 11 Brandt ließ sich nicht täuschen, intervenierte bei seinem Parteifreund Otto Nuschke, stellv. Ministerpräsident der DDR, der einen kleinen Aufstand versuchte, aber sich letztlich der SED - Politik beugte : Brandt zahlte für seine Intervention mit insgesamt 14 Jahren Zuchthaus. Vgl. Hermann Wentker, Ein deutsch - deutsches Schicksal. Der CDU Politiker Helmut Brandt zwischen Anpassung und Widerstand. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 49 (2001), S. 465–506.

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ar 1950 Prozesse gegen ca. 3 400 Internierte in der Presse angekündigt worden. Zudem hatten die den DDR - Behörden Übergebenen anlässlich der Auf lösung der Lager Schreiberlaubnis erhalten, so dass sie ihre Angehörigen über ihren Verbleib informieren konnten. Zum anderen war trotz aller Geheimhaltung durchgesickert, dass in Waldheim eine Verurteilungsmaschinerie arbeitete. Dies zeigte sich etwa in Eingaben aus der Bevölkerung zu Gunsten der in Waldheim Verurteilten.12 Und schließlich berichtete auch die Westberliner Presse spätestens seit Mai 1950, dass in Waldheim geheime Prozesse über die Bühne gingen.13 Nachdem die meisten Internierten bereits verurteilt waren, teilte das Amt für Information am 17. Juni 1950 in einer von allen DDR - Presseorganen übernommenen umfangreichen Meldung mit, dass in Waldheim gegen die von der Besatzungsmacht überstellten ehemaligen Internierten Prozesse stattfinden.14 Dem war – auf Grundlage einer Vorlage der ZK - Abteilung „Staatliche Verwaltung“ – ein Beschluss des Sekretariats des ZK vom 12. Juni vorausgegangen. Er enthielt genaue Anweisungen über die öffentliche und mediale Präsentation von Verhandlungen im Waldheimer Rathaussaal vor einem „größeren Personenkreis als bisher“. Neben der VVN wurde der FDGB verpflichtet, Betriebsdelegationen als Zuschauer herbeizuschaffen; ausdrücklich wurde betont, „wie üblich Zeugen zu hören und Offizialverteidiger zu stellen“, die „demokratische Presse“ zuzulassen und sie zu verpflichten, die Bevölkerung laufend zu informieren.15 Ergänzend erhielt das Amt für Information den Auftrag, schnellstens ein Pressekommuniqué herauszugeben, indem die Bevölkerung auf die Durchführung der Prozesse hingewiesen wird und in dem die „politische Bedeutung dieser Prozesse im Kampf um den Frieden und die demokratische Einheit zum Ausdruck“ kommen müsse. Unter Punkt 5 legte das Sekretariat des ZK fest : „Nach Beendigung der Prozesse in Waldheim wird eine Erklärung der Regierung der DDR erfolgen, in welcher der erfolgte Abschluss der Entnazifizierung entsprechend der Potsdamer Beschlüsse zum Ausdruck kommt.“16 Wie bereits gesagt, erschien das Pressekommuniqué des Amts für Information wenige Tage später am 17. Juni 1950. Es suggerierte den Eindruck, dass die bis dahin durchgeführten Gerichtsverfahren alle öffentlich gewesen seien und nur wegen der großen Nachfrage und des gewachsenen Interesses der Bevölkerung im Rathaussaal von Waldheim einige Prozesse vor einer noch breiteren 12 Vgl. SED - Hausmitteilung an Ulbricht von Abt. Staatliche Verwaltung vom 19. 5. 1950 : Zwischenbericht Nr.1 über die Arbeitsergebnisse des U - Organs und der Strafkammern gegen die in Waldheim zur Verurteilung stehenden faschistischen Verbrecher ( SAPMOBArch, DY 30, IV 2/13/432). 13 Vgl. z. B. die Westberliner Zeitung „Der Abend“ vom 22. 5. 1950 in einer kurzen, aber sachlich zutreffenden Meldung. 14 Das Pressekommuniqué des Amtes für Information wurde am 17. 6. 1950 u. a. wiedergegeben in : Tägliche Rundschau, Landes - Zeitung ( Schwerin ), Neues Deutschland, Der Morgen. 15 Protokoll Nr. 114 vom 12. 6. 1950 mit Anlage Nr. 1 ( SAPMO - BArch, DY 30, IV 2/273/114). 16 Ebd.

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Öffentlichkeit geführt würden. Nicht einmal die Zahl der bereits Abgeurteilten wurde genannt. Behauptet wurde zudem, dass man von der Besatzungsmacht bereits überführte Nazi - und Kriegsverbrecher übernommen hätte – einschließlich der entsprechenden Beweismittel : „Zugleich sind den deutschen Behörden auch die von den sowjetischen Organen in jahrelanger geduldiger und zäher Arbeit festgestellten Untersuchungsergebnisse übergeben worden, so dass es nach Abschluss der Arbeiten der volkspolizeilichen Untersuchungsorgane alsbald möglich wurde, mit den Gerichtsverhandlungen bei dem zuständigen Landgericht in Chemnitz zu beginnen. Die Strafkammern des Landgerichts Chemnitz tagen zur Vermeidung umfangreicher Transporte am Ort der Haftanstalt Waldheim. In den Verhandlungen entrollte sich vor den Zuhörern ein Bild unsäglicher Grausamkeiten, Folterungen und bestialischer Mordtaten, die von den Angeklagten an deutschen Antifaschisten, an Juden und an der Bevölkerung in den von den deutschen Faschisten zeitweise besetzten Gebieten Polens, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, Frankreichs u.s.w. begangen wurden.“

Abschließend heißt es : „Zur gleichen Zeit, da die imperialistischen Kriegsprovokateure in Westdeutschland die aktiven Nazis und Kriegsverbrecher mit dem Neuaufbau der zerschlagenen faschistischen Wehrmacht beauftragen, beendet die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik die Aburteilung und Bestrafung der nazistischen und militaristischen Kriegsverbrecher. Andererseits hat sie durch die Freilassung derjenigen Internierten, die persönlich keine schweren Verbrechen begangen haben, diesen die Möglichkeit gegeben, sich als gleichberechtigte Bürger beim Aufbau eines demokratischen und friedliebenden Deutschlands zu bewähren. Diese zielklare demokratische Friedenspolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik wird zur weiteren Entfaltung der demokratischen Gesetzlichkeit und zur Stärkung des Vertrauens der friedliebenden Völker zu einem demokratischen Deutschland beitragen und die Kräfte des Friedenslagers weiter festigen.“

Mithin diente dieses Pressekommuniqué zugleich dazu, den Konkurrenzstaat Bundesrepublik politisch anzugreifen, die DDR als den wahren antifaschistischen Friedensstaat auf deutschem Boden zu präsentieren und einmal mehr reuigen Nazis einen Platz in der DDR anzubieten. Kurz : Die SED versuchte, aus den von der Sowjetunion aufgezwungenen Prozessen, die zur Politik der Integration ehemaliger Nazis so gar nicht mehr passten, propagandistisch das Beste herauszuholen.

3.

Zehn Schauprozesse vor handverlesenen Zuschauern

Am 21. Juni begannen im Rathaussaal von Waldheim die ersten öffentlichen Prozesse. Ursprünglich waren 40 bis 60 Schauprozesse vorgesehen,17 doch reduzierte sich deren Zahl schließlich auf zehn, sorgfältig vorbereitet einschließlich 17

Vgl. SED - Hausmitteilung an Ulbricht von Abt. Staatliche Verwaltung vom 19. 5. 1950 : Zwischenbericht Nr.1 über die Arbeitsergebnisse des U - Organs und der Strafkammern gegen die in Waldheim zur Verurteilung stehenden faschistischen Verbrecher ( SAPMOBArch, DY 30, IV 2/13/432).

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einer „Generalprobe“, wie in den Überlieferungen zu lesen ist. Neben verschiedenen Vertretern der DDR - Presse waren auch Reporter des Rundfunks vor Ort, die Tonmitschnitte der Verhandlungen machten. Von einigen Verhandlungen fertigten Kameraleute der DEFA - Wochenschau Aufnahmen an.18 Ziel war es, die Waldheimer „Prozesse“ insgesamt als sorgfältig geführte, an strengen Beweisführungen orientierte, im Strafmaß differenzierte und alle justitiellen Grundrechte wahrende Verfahren der Öffentlichkeit vorzugaukeln. Für diese sorgfältig vorbereiteten Prozesse wurden Offizial - Verteidiger ( ausschließlich SED - Genossen ) und Belastungszeugen hinzugezogen. Zu ihrer Vorbereitung stützte man sich nicht nur auf die sowjetischen Protokollauszüge und Vernehmungen der Beschuldigten. Vielmehr erfolgten eigenständige Ermittlungen; zudem wurden Erkenntnisse aus früheren Verfahren gegen NS - Täter genutzt. Der Öffentlichkeit sollte der Eindruck vermitteln werden, dass sich alle bisherigen Aburteilungen auf vergleichbar sorgfältiger Beweisführung gestützt hätten. Zur Regie dieser „öffentlichen“ Verhandlungen zählte, dass keineswegs nur Todesurteile ausgesprochen wurden. Vielmehr suchte man das Bild einer differenzierten Urteilspraxis zu zeichnen, deren Spanne zwischen acht Jahren Zuchthaus und der Todesstrafe lag. Und auch die ausgestrahlten Reportagen des DDR- Rundfunks vermitteln den Eindruck – insbesondere in Inter views mit beteiligten Staatsanwälten und Richtern –, dass es vorrangig darum ging, den Nachweis fairer, die Rechte der Beschuldigten wahrender Verfahren zu erbringen. Einem aufmerksamen Zuhörer musste allerdings auffallen, dass entlastende Zeugenaussagen fehlten und Auszüge aus den Plädoyers der Verteidiger vom Rundfunk nicht übertragen wurden. Sie hätten zu kläglich gewirkt. Zu den in diesen zehn öffentlichen Verfahren Verurteilten gehörten : – Alfred Schulz, ehemaliger Kriminalsekretär aus Meißen, der gestand, im März / April 1945 zehn bis zwölf ausländische Zwangsarbeiter durch Genickschüsse getötet zu haben. Zusätzlich wurde er durch fünf Zeugen belastet. Er erhielt eine lebenslange Haftstrafe. – Ernst Heinicker, 1934 stellvertretender Lagerführer des Schutzhaftlagers Hohnstein; er wurde wegen der systematischen Misshandlung von Häftlingen, die in mehreren Fällen zum Tode führte, zum Tode verurteilt.19 – Friedrich Bayerlein, von 1933 bis 1945 bei der Gestapo in Dresden und Krakau. Neben der Beteiligung an der Verhaftung von KPD - Funktionären und Widerstandskämpfern wurde ihm die Misshandlung von Verhafteten vorge18 Das heutige Archiv der DEFA - Wochenschau hat inzwischen auch Augenzeugen - Aufnahmen erschlossen, die zu DDR - Zeiten nie gezeigt wurden. Bilder von den öffentlichen Waldheim - Verfahren sind nicht gefunden worden. 19 Selbstverständlich wurde in diesem Verfahren nicht angesprochen, dass Heinicker und weitere SA - Leute wegen besonderer Brutalität bereits 1935 vom Landgericht Dresden im sogenannten Hohenstein - Prozess verurteilt worden waren. Wenig später gab es allerdings eine Anweisung Hitlers, den Verurteilten die Reststrafen zu erlassen. Vgl. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–40. Die Ära Gürtner, München 1988, S. 368–374.

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worfen, in deren Folge mindestens sechs Festgenommene starben. Bayerlein erhielt die Todesstrafe. – Schließlich – als „Höhepunkt“, wie es in einer Aktennotiz heißt – wurde der Gauobmann der Deutschen Arbeitsfront in Sachsen, Helmut Peitsch, am 27. Juni zum Tode verurteilt. Stand in den Verhandlungen zuvor der sadistische Tätertypus im Zentrum, so wurde mit Peitsch der typische Schreibtischtäter präsentiert, der nicht selbst unmittelbar Hand angelegt hatte, sondern durch Anweisungen und Unterlassungen für den Tod Hunderter Zwangsarbeiter verantwortlich gemacht wurde. Zur Choreographie der Verhandlungen zählte, dass nicht nur geständige und Reue bekundende Angeklagte auftraten, wie sie zum Grundmuster von Schauprozessen gehören, sondern auch Beschuldigte, die Tatvorwürfe zurückwiesen bzw. leugneten. Und auffällig war gewiss, dass selbst für Todesurteile wenige Stunden ausreichten, um die Anklage zu erheben, in die gerichtliche Beweiserhebung mit Zeugenvernehmungen einzutreten, die Schlussplädoyers der Ankläger und der Verteidiger anzuhören und schließlich dem Gericht Zeit für die Urteilsberatung und - verkündung einzuräumen. Nimmt man die Berichterstattung über die zehn öffentlichen Verfahren in den Blick, so ist auffällig, dass sie vom Umfang her sehr zurückhaltend ausfiel : Die Filmaufnahmen wurden für die DEFA - Wochenschau nicht verwendet. Der DDR - Rundfunk berichtete insgesamt nur 45 Minuten, sofern die im heutigen Rundfunkarchiv überlieferten Sendebeiträge vollständig sind. Der Rundfunk meldete ebenso wie das „Neue Deutschland“ nur die Urteile gegen sechs der zehn im Waldheimer Rathaus Angeklagten. Mit O - Tönen berichtete er nur aus den Verhandlungen gegen : Ernst Heinicker (13 Minuten ), Friedrich Bayerlein (13 Minuten ) und Helmut Peitsch (12 Minuten ). In der ersten Reportage des DDR - Rundfunks vom 21. Juni, die vor allem dazu diente, die Zuhörer von den rechtsstaatlichen Verfahrensprozeduren in Waldheim zu überzeugen, wurde am Rande noch das Urteil gegen den ehemaligen Kriminalsekretär Alfred Schulz (lebenslange Haftstrafe ) erwähnt, in der Berichterstattung am folgenden Tage die Verurteilung von Kurt Larius (15 Jahre Zuchthaus ). Bei den Pressemeldungen ist vor allem die Zurückhaltung des „ND“ auffällig, das im Gegensatz zur „Täglichen Rundschau“, der Zeitung der SMAD, und dem Zentralorgan der LDPD „Der Morgen“ fast ausschließlich Berichte der Presseagentur ADN nachdruckte.20 Die Berichte waren auch weitaus knapper; sie schwankten zwischen 10 und 60 Zeilen. Anders als die „Tägliche Rundschau“ und „Der Morgen“, die zum Teil sehr umfangreiche Berichte ihrer Korrespondenten aus dem Gerichtssaal veröffentlichten und sie teilweise auf den Titelseiten plazierten, räumte das „ND“ der Prozessberichterstattung ausschließlich Innenseiten ein, obwohl zu einer Verhandlung auch Justizminister 20 Vgl. Neues Deutschland vom 22. 6. bis 24. 6., 27. 6. und 28. 6. 1950; Tägliche Rundschau vom 21. 6. bis 23. 6., 25. 6. bis 28. 6. und 30. 6. 1950; Der Morgen vom 21. 6. bis 24. 6., 28. 6., 30. 6. und 1. 7. 1950.

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Max Fechner und die Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, Hilde Benjamin, angereist waren. Ob dies als Zeichen eines gewissen Dissens zwischen der SED und der SMAD interpretiert werden kann, ist eine offene Frage. Gemessen an der früheren Berichterstattung über Verfahren gegen NS - Täter, gemessen auch an der aktuellen Berichterstattung über Schauprozesse gegen Saboteure und Feinde der neuen „demokratischen Ordnung“, befleißigte man sich in der medialen Präsentation dieser Verfahren insgesamt einer erstaunlichen Zurückhaltung. Wenn auch über einige öffentliche Verhandlungen mehr oder weniger umfangreich berichtet wurde, so wurden in den Medien nur die Namen von sechs der insgesamt zehn Abgeurteilten überhaupt genannt. Und schließlich ist auch ein Artikel von Dr. Hildegard Heinze über die Waldheimer Prozesse, die an der Inszenierung unmittelbar beteiligt war, im juristischen Fachblatt „Neue Justiz“ äußerst kurz gehalten.21 Zu den Gründen gibt es in den Überlieferungen keine expliziten Hinweise. Über die Resonanz der Waldheimer Prozesse in der Bevölkerung sind nur wenige Anhaltspunkte zu finden, obwohl – wie in dieser Zeit üblich, als noch keine Meinungsforschungsinstitute eingesetzt wurden –, sich Volkspolizisten in Zivil unter die Leute mischten , um die „Stimmung“ der Bevölkerung zu erkunden.22 Vermerkt ist, dass die Bewohner Waldheims kaum Interesse an den zehn Verfahren zeigten.23 Da sich bereits Gerüchte über die Geheimverfahren verbreitet hatten, wandten sich zunehmend Rechtsanwälte in Schreiben an Staatsanwälte und Richter in Waldheim, um sich für einzelne Beschuldigte einzusetzen.24 Ebenso verwandten sich Bürger und selbst SED - Funktionäre für einzelne Verurteilte; ihre Briefe gingen an die Zentrale Parteikontrollkommission.25 Auch dass Beteiligte, die als Genossen vertrauenswürdig schienen, erhebliche „Zweifel“ an diesen Scheinverfahren hatten, wurde der SED - Führung zeitnah gemeldet. Nach Waldheim abgeordnete Volksrichter zeigten „Schwächen“; einige wurden abgerufen, weil sie sich bestimmten Verurteilungen ver weigerten.26 Angehörige der Volkspolizei erklärten, „dass die ganze Durchführung der Akti21 Kriegsverbrecherprozesse in Waldheim. In : Neue Justiz, 4 (1950), S. 250. 22 Vgl. HV Deutsche Volkspolizei, U - Organ Waldheim, an Chef VP Berlin vom 17. 6. 1950: Betr. : Ablauf der Prozesse ... bis 16. 6. 1950 ( BArch, DO 1/3468). 23 Vgl. HV Deutsche Volkspolizei, U - Organ Waldheim vom 20. 6. 1950 : 1. Verhandlungstag im erweiterten Rahmen ( BArch, DO 1/3468). 24 ZK, Abt. Staatliche Ver waltung vom 5. 7. 1950 : Abschlussbericht über die Kriegsverbrecher - Prozesse beim Landgericht Chemnitz in Waldheim ( SAPMO - BArch, DY 30, IV 2/13/432). 25 Ebd. 26 Der bekannteste Fall ist der des Volksrichters Dittberner, der in der NS - Zeit in Waldheim selbst als politischer Häftling in Haft war und in einem konkreten Fall sich weigerte, ein hohes Urteil auszuwerfen. Aber nicht nur Dittberner, sondern auch weitere „Richter“ zeigten „politische Schwächen“, über die die SED - Führung umgehend informiert wurde. Vgl. beispielhaft Bericht : Betr. : Verhalten der Gen. Dittberner und Pechmann, Waldheim vom 10. 5. 1950 ( SAPMO - BArch, DY 30, IV /2/13/432) und SED Hausmitteilung an Ulbricht von Abt. Staatliche Verwaltung vom 19. 5. 1950 : Zwischenbericht Nr. 1 über die Arbeitsergebnisse des U - Organs und der Strafkammern gegen die in Waldheim zur Verurteilung stehenden faschistischen Verbrecher ( ebd.).

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on in Waldheim doch selbst eine Farce sei und nahezu selbst ein Verbrechen darstellt“.27 Und bereits im Juli 1950 floh eine Frau, die als Schreibkraft zur Waldheimer Inszenierung herangezogen war, nach Westberlin und berichtete am 26. Juli auf einer Pressekonferenz der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ über ihre intimen Einblicke in dieses Justizverbrechen.28

4.

Resümee

Es drängt sich der Eindruck auf, dass der SED - Führung die ihr von der Besatzungsmacht aufgezwungenen Verfahren längst nicht mehr ins Konzept passten. Zwar aus anderen Motiven als in der Bevölkerung, herrschte auch bei der SEDFührung eine Schlussstrich - Mentalität. Im Vorfeld der kommenden Scheinwahlen zur Volkskammer im Oktober 1950 sollten mit der Bestrafung von Nazi - und Kriegsverbrechern keine Wähler verunsichert werden. Wie in einem Beschluss des ZK - Sekretariats vom 12. September 1950 festgelegt, verbreitete am 14. September 1950 das Amt für Information eine Mitteilung, in der es u. a. hieß : „Heute, fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens von Potsdam, kann die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik erklären, dass die Durchführung des Abkommens auch in diesem Teil [ Behandlung der Kriegsverbrecher ] grundlegend abgeschlossen ist. Den wesentlichen Abschluss dieser Maßnahmen bildete die jetzt beendete Aburteilung der Personen, die bei der Auflösung der Internierungslager im Januar 1950 den deutschen Justizorganen übergeben wurden und sich schwerer Kriegsverbrechen und Verbrechen schuldig gemacht haben.“ Und erneut wurde ehemaligen NSDAP - Mitgliedern signalisiert : „Die demokratischen Justizorgane werden auch weiterhin ohne Nachsicht gegen diejenigen vorgehen, die im Auftrage der Kriegstreiber und ihrer Helfer den Frieden und den demokratischen Aufbau zu stören versuchen. Dagegen wurde und wird auch noch in Zukunft den einfachen Mitgliedern der Nazipartei die Möglichkeit gegeben, am demokratischen Aufbau aktiv teilzunehmen.“29 Die SED hielt sich daran. Wer als ehemaliger Nazi nicht auffiel, wurde in Ruhe gelassen und schlechtestenfalls vom Ministerium für Staatsicherheit als Spitzel verpflichtet. Wer allerdings durch Unbotmäßigkeiten bekannt wurde oder – selbst fälschlicherweise – in den Verdacht geriet, gegen die Politik der SED zu arbeiten, bekam seine NS - Vergangenheit zum Teil mit tödlichen Folgen vorgeworfen. Aber gerade auch in solchen Fällen galt das Gebot : „Bei der 27 Vgl. HV Deutsche Volkspolizei, U - Organ Waldheim vom 17. 5. 1950 : Betr. : 5. Tätigkeitsund Erfahrungsbericht ( SAPMO - BArch, DY 30, IV 2/13/431). 28 Die KgU legte am 26. 7. 1950 die Denkschrift „Die Waldheimer Kriegsverbrecherprozesse“ vor, die auf den Aussagen der geflohenen Schreibkraft Gertrud Mielke beruhte. Vgl. auch ihren Bericht im „Spiegel“ vom 22. 11. 1950 : „Herr Oberstaatsanwalt, der Sonderfall“. 29 Neues Deutschland vom 14. 9. 1950 : „Abschluss der Nazi - und Kriegsverbrecherprozesse“.

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Die Waldheimer Prozesse 1950

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Durchführung dieses Prozesses [ vor dem Bezirksgericht Frankfurt / O. 1954 gegen einen Mitarbeiter eines volkseigenen Gutes, dem vorgeworfen wurde, Sabotage betrieben zu haben – FW ] ist besonders darauf zu achten, dass nicht etwa der Eindruck entsteht, dass die Justizorgane unserer Republik einen Kampf gegen ehemalige Faschisten führen. Es muss besonders herausgearbeitet werden, dass die ehemaligen Mitglieder der NSDAP auf Grund der Gesetze und Verordnungen unserer Republik alle Möglichkeiten haben, sich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben unserer Arbeiter - und Bauernstaates zu beteiligen, und dass es eben nur einzelne ehemalige Faschisten sind, die Verbrechen gegen unseren Staat begehen.“30 Auch in den folgenden Jahrzehnten blieb die Berichterstattung in DDR - Medien über Urteile wegen des Vorwurfs nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in sich widersprüchlich und insgesamt sehr zurückhaltend, so bedeutsam an sich die Aburteilung von NS - Tätern für die Selbstlegitimation der DDR in Konkurrenz zur Bundesrepublik war. Über die insgesamt 120 Urteile, die zwischen 1956 und 1989 verkündet wurden, erfuhr die DDR - Bevölkerung aus der überregionalen Parteizeitung „Neues Deutschland“ am wenigsten – von einigen wenigen Schauprozessen abgesehen, wie dem Fischer - Prozess des Obersten Gerichts 1966,31 dem Verfahren gegen Josef Blösche 1969 vor dem Bezirksgericht Erfurt oder dem Prozess vor dem Stadtgericht Berlin gegen Hans Baumgartner 1971. Bestenfalls gab es in den Bezirkszeitungen derjenigen Regionen, vor dessen Bezirksgericht sich ein NS - Täter zu verantworten hatte, kurz gehaltene Meldungen. Und selbstverständlich wurde auf Meldungen verzichtet und die Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt, wenn offensichtlich unzutreffende Tatvor würfe zur Begründung eines Urteils herhalten mussten. Dies gilt z. B. für das Todesurteil des Bezirksgerichts Gera im Jahre 1954 gegen Christel Jankowski32 und für das Urteil des Bezirksgerichts Rostock gegen UllaErna Jürß und andere im Jahre 1966.33 In beiden Urteilen wurde den Angeklagten u. a. vorgeworfen, 1943 in Ravensbrück Frauen in die Gaskammern getrieben zu haben, obwohl in Ravensbrück erst ab Januar 1945 weibliche Häftlinge mittels Gas ermordet wurden. Sofern Todesurteile ausgesprochen wurden, unterblieb seit 1973 die Berichterstattung in Gänze – offenbar eine Folge der in diesem Jahr erfolgten Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen und deren Bemühungen zur Ächtung der Todesstrafe. Schließlich wurde auf Pressemeldungen verzichtet, soweit es sich bei den Verurteilten um Personen handelte, die relativ bedeutsame politi30 Auswertung des Prozesses ( gegen Wolff ) in der Volkspolizei ( BArch, DO 1/32/0/1560). 31 Siehe hierzu den Beitrag von Christian Dierks in diesem Band. 32 Vgl. Monika Herzog / Bernhard Strebel, Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. In: Claus Füllberg - Stolberg / Martin Jung / Renate Riebe / Martin Scheitenberger ( Hg.), Frauen in Konzentrationslagern, Bremen 1994, S. 13–26, hier 20 f. 33 Vgl. Insa Eschebach, „Ermittlungskomplex Ravensbrück“. Das Frauenkonzentrationslager in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit. In : Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 33 (1997), S. 212–231, hier 216–218.

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Falco Werkentin

sche oder gesellschaftliche Positionen in der DDR innehatten, wie z. B. im Falle von Gerhard Pchalek, Professor am Institut für Strafrecht der Friedrich - SchillerUniversität Jena.34 Was auch immer die konkreten Gründe im Einzelfall waren, die Berichterstattung über Urteile gegen NS - Täter zu unterlassen – im Ergebnis trug diese Praxis dazu bei, jenes gewollte Bild zu festigen, dass NS - Täter vorrangig ihre Heimat in der Bundesrepublik Deutschland und nicht in der DDR gesucht und gefunden hätten.

34 Pchalek hatte 1944 als Staatsanwalt an einem Sondergericht in Kattowitz Todesurteile beantragt. Dies war der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz ( namentlich Hilde Benjamin und Ernst Melsheimer ) bereits 1947 bekannt. Gleichwohl wurde er nach 1945 in Thüringen stellvertretender Generalstaatsanwalt und ab 1950 Professor in Jena. Sein Unglück war, dass eine 1960 in Thüringen gezeigte Ausstellung über „Nazi - Blutrichter“ in der Bundesrepublik einen von Pchalek unterzeichneten Strafantrag auf Todesstrafe aus dem Jahre 1944 als Faksimile zeigte und so seine NS - Vergangenheit öffentlich wurde. Vgl. Peter Riegel, Der tiefe Fall des Professors Pchalek. Ein Thüringer Jurist zwischen NS - Justiz, Besatzungsmacht, Rechtsprofessur und Spitzeldienst, Erfurt 2007.

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Der „Ulmer Einsatzgruppen - Prozess“ 1958. Wahrnehmung und Wirkung des ersten großen Holocaust - Prozesses Claudia Fröhlich

Am 29. August 1958 verurteilte das Landgericht Ulm den ehemaligen Polizeidirektor von Memel, Bernhard Fischer - Schweder, und neun weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord zu Zuchthausstrafen zwischen drei und 15 Jahren.1 Die Angeklagten hatten zwischen Juni und September 1941 als Angehörige des Einsatzkommandos Tilsit im deutsch - litauischen Grenzgebiet mehrere Tausend jüdische Kinder, Frauen und Männer ermordet. Seit Juni 1956 arbeitete der Stuttgarter Staatsanwalt Erwin Schüle an der Aufklärung der Verbrechen. Durch die von ihm engagiert betriebene Zusammenarbeit mit Zeithistorikern, Gedenkstätten, jüdischen Hilfsorganisationen sowie der in London ansässigen „Wiener Library“2 und die erstmalige Auswertung von Unterlagen des Berlin Document Centers3 gelang die Rekonstruktion von 30 Mordaktionen des Tilsiter Einsatzkommandos. Die sogenannten Sonderkommandos waren nach dem Überfall auf die Sowjetunion an der Ermordung von Juden in den besetzten Gebieten beteiligt. Das Tilsiter Einsatzkommando hatte daran mitgewirkt, im deutsch- litauischen Grenzstreifen zuerst die wehrfähigen jüdischen Männer und ab Mitte August 1941 auch jüdische Frauen und Kinder zu töten. Bis Ende 1941 kamen etwa 130 000 Menschen – damit weit über die Hälfte der in Litauen lebenden Juden – ums Leben. Auf Grundlage der „Ereignismeldungen UdSSR“ des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin, die Datum, Ort und Opferzahlen verzeichneten, und mit Hilfe von Zeugenaussagen gelang es der Staatsanwaltschaft nachzuzeichnen, wie die stets ähnlich organisierten Mordaktionen abgelaufen 1 2

3

Vgl. KZ - Verbrechen vor deutschen Gerichten, Band II : Einsatzkommando Tilsit. Der Prozess zu Ulm. Hg. von Hendrik George van Dam und Ralph Giordano, Frankfurt a. M. 1966. Vgl. den Schriftverkehr der Staatsanwaltschaft in : Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 302 I, Bü 308. Ich danke Sabrina Müller vom Haus der Geschichte Baden - Württemberg für wertvolle Hinweise, die mir die Benutzung der im Landesarchiv Baden - Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg archivierten Prozessakten zum Ulmer Verfahren erleichtert haben. Vgl. Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004, S. 155.

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Claudia Fröhlich

waren : Juden wurden gefangengenommen und an einen Waldrand, auf eine Wiese oder in die Dünen geführt. Dort mussten sie ihre eigenen Gräber ausheben. Nachdem die Schutzpolizisten oder Angehörige der Gestapo und des Sicherheitsdienstes ( SD ) der SS die Wertsachen der Gefangenen geplündert hatten, erschossen sie die erste Gruppe. Die nächsten Opfer mussten die Toten in die ausgehobenen Gruben werfen, bevor sie selbst ermordet wurden. Zeugen berichteten, dass sich die Täter nach den Exekutionen oft fotografieren ließen und mit dem geraubten Geld der Opfer ins Gasthaus gingen. Bei einigen Erschießungen sahen litauische Landräte oder Bürgermeister zu und luden nach den Exekutionen zum Essen ein.4

1.

Das Jahr 1958 und der „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ – eine „Zäsur“ in der Geschichte der Nachkriegsjustiz

Das im Sommer 1958 am Ulmer Landgericht geführte Strafverfahren gegen Angehörige des Tilsiter Einsatzkommandos gilt in nahezu allen Darstellungen, die sich mit der Geschichte der justitiellen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus befassen, als einer der wichtigsten NS - Prozesse in der Bundesrepublik. Nicht nur die Tragweite der in den 50er Jahren ausgebliebenen strafrechtlichen Verfolgung von NS - Verbrechen sei in jenem Jahr sichtbar geworden. Vielmehr noch habe mit der noch 1958 in unmittelbarer Reaktion auf das Verfahren erfolgten Gründung der Ludwigsburger „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“5 eine systematische juristische Aufarbeitung der NS - Verbrechen begonnen. Erstaunlich ist, dass Geschichte und Wahrnehmung des Prozesses – trotz seiner zeit - und rechtshistorischen Bedeutung – erst in jüngster Zeit in den Fokus der Forschung rücken.6 Anlässlich des 50. Jahrestags des „Ulmer Einsatzgruppenprozesses“ im Sommer 2008 thematisierte das Haus der Geschichte BadenWürttemberg das Verfahren im Rahmen einer Ausstellung im Stadthaus in Ulm. Obgleich der Ausstellungskatalog viele neue Fakten und Hintergründe zum Prozessgeschehen präsentiert,7 fehlt bis heute eine auf Grundlage der Strafprozessakten erarbeitete Geschichte des Verfahrens.

4 5 6 7

Vgl. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Die Mörder sind unter uns. Katalog zur Ausstellung im Stadthaus Ulm. Hg. vom Haus der Geschichte Baden - Württemberg, Stuttgart 2008, S. 64. Vgl. hierzu den Beitrag von Annette Weinke in diesem Band. Vgl. z. B. Miquel, Ahnden, S. 150 ff.; Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Der Prozess gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos ist bis heute unter der zeitgenössisch geprägten ungenauen Bezeichnung „Einsatzgruppenprozess“ bekannt.

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Der „Ulmer Einsatzgruppen - Prozess“ 1958

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Und dennoch : Adalbert Rückerl, von 1966 bis 1984 Leiter der Ludwigsburger „Zentralen Stelle“, setzte bereits 1982 in einem Aufsatz über die „Vergangenheitsbewältigung mit Mitteln der Justiz“ das Verfahren als „inzwischen weithin bekannt“ voraus.8 Schließlich habe der Ulmer Prozess „mit einem Schlag [...] der Öffentlichkeit vor Augen geführt, welche schwerwiegenden Verbrechen bis dahin nicht verfolgt worden waren“,9 und von dem Verfahren sei „der entscheidende Impuls für die Intensivierung und Konzentration der Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen“ ausgegangen.10 Die Rechtswissenschaftler Gerhard Werle und Thomas Wandres bewerten den Ulmer Prozess als „Zäsur“ in der „Geschichte der Nachkriegsjustiz“,11 und die Historikerin Annette Weinke beschreibt den „ersten großen Holocaust - Prozess seit 1949“ als eine Voraussetzung für die „kriminalpolitische Wende von 1958“, mit der eine systematische Aufklärung der NS - Verbrechen begonnen habe.12 Und tatsächlich : Anfang der 50er Jahre konnten im Kontext einer von der Bundesregierung betriebenen Vergangenheitspolitik, die auf eine weitreichende Integration der ehemaligen Täter, Mitläufer und Anhänger des Nationalsozialismus setzte, Pläne zur Einrichtung einer zentralen Ermittlungsstelle nicht realisiert werden.13 Erst im Oktober 1958, wenige Wochen nach Abschluss des Ulmer Prozesses, beschlossen die Justizminister der Länder die Gründung der Zentralen Stelle. Die Leitung der Behörde wurde Oberstaatsanwalt Erwin Schüle übertragen, der die Ermittlungen gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos geführt und im Ulmer Prozess die Anklage vertreten hatte. Innerhalb eines Monats leitete die Zentrale Stelle 64 Vorermittlungsverfahren ein, im folgenden Jahr waren es bereits 400. Die Ermittlungen konzentrierten sich vor allem auf die Tätigkeit der ehemaligen Angehörigen der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos. Die Einschätzung, das Verfahren gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos habe die strafrechtliche Aufarbeitung von NS - Verbrechen Ende der 50er Jahre angestoßen, geht fast immer mit der Feststellung einher, der Prozess habe eine „ungewöhnlich große Publizität“ erreicht.14 Vor allem die Bericht8

Adalbert Rückerl, Vergangenheitsbewältigung mit Mitteln der Justiz. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43/1982, S. 11–25, hier 18. 9 Ebd. 10 Adalbert Rückerl, NS - Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, 2. Auf lage Heidelberg 1984, S. 140. 11 Gerhard Werle / Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Straf justiz, München 1995, S. 23. 12 Weinke, Gesellschaft, S. 10 und 14. 13 Vgl. Rückerl, NS - Verbrechen vor Gericht, S. 141 f. Bereits 1949 wurde aber eine dem Bundesjustizministerium angegliederte Zentrale Rechtsschutzstelle eingerichtet, die den in alliierten Gefängnissen inhaftierten „Kriegsverbrechern“ einen optimalen Rechtsbeistand ermöglichen sollte. Norbert Frei spricht mit Blick auf das Engagement der Bundesregierung für die Verteidigung der Täter von einem „krassen Kontrast zu den halbherzigen Bemühungen um die Opfer“. Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS - Vergangenheit, 2. Auf lage München 1997, S. 21 f., 229 f. 14 Rückerl, NS - Verbrechen vor Gericht, S. 140.

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erstattung in den überregionalen Tageszeitungen habe die bislang versäumte strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kritisch reflektiert. Wie Adalbert Rückerl erinnert auch Heiner Lichtenstein an die Wirkung der Berichterstattung im Sommer 1958 : „Während dieses Verfahrens wurde endlich einer größeren Öffentlichkeit klar, dass viele Massenverbrechen noch nicht gesühnt waren.“15 „Die Presse“, so schreiben Werle und Wandres, „berichtet über das Verfahren und fordert für die Zukunft eine energische Verfolgung der NS - Verbrechen.“16 In Anlehnung an die Feststellung Peter Steinbachs, Ende der 50er Jahre sei ein „Wille zur publizistischen Unruhe“ zu bemerken gewesen,17 stellen die Autoren fest, die breite und überregionale Berichterstattung über den Ulmer Prozess habe „Wirkung“ gezeigt : „Jetzt endlich wird die Strafverfolgung gegen NS - Verbrecher systematisiert und zentralisiert.“18 Die bundesweite Berichterstattung über das Verfahren vor dem Ulmer Schwurgericht scheint im Sommer 1958 die westdeutsche Öffentlichkeit und Politik für die Probleme der ausgebliebenen strafrechtlichen Aufarbeitung des NS - Unrechts sensibilisiert und die systematische Strafverfolgung von NS - Verbrechen angestoßen zu haben. Die Fragen liegen also auf der Hand : Inwiefern haben die Korrespondenten der Zeitungen die Funktion einer kritischen Öffentlichkeit übernommen und die Systematisierung der justitiellen Aufklärung der NS - Verbrechen eingefordert ? Wie berichtete die Presse im Sommer 1958 über die in den 50er Jahren versäumte Aufarbeitung der NS - Verbrechen und wie mobilisierte sie den Willen der politischen Akteure zur systematischen Aufarbeitung der NS - Vergangenheit ? Und wie reagierten Parteien und rechtspolitische Akteure auf das Ulmer Verfahren und die Berichterstattung ? Meldeten sich die in den 50er Jahre für die NS - Verbrecher eintretenden Interessenverbände und Lobbyisten zu Wort ? Lässt sich etwas über die Stimmung in der Bevölkerung sagen ? Und wie ist schließlich der Prozess einzuordnen ? Welche neuen Perspektiven auf den Holocaust eröffnete das Verfahren und welche alten, in den 50er Jahren zur Abwehr einer systematischen Beschäftigung mit der NS - Unrechtsherrschaft etablierten, Vorstellungen von der Vergangenheit bediente er ?

15 Heiner Lichtenstein, NS - Prozesse – viel zu spät und ohne System. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9–10/1981, S. 3–13, hier 6. 16 Werle / Wandres, Auschwitz vor Gericht, S. 23. 17 Peter Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, Berlin 1981, S. 48. 18 Werle / Wandres, Auschwitz vor Gericht, S. 23.

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Der „Ulmer Einsatzgruppen - Prozess“ 1958

2.

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Der Ausgangspunkt : Die Abwehr der Vergangenheit in den 50er Jahren

In der westdeutschen Öffentlichkeit galt der von den Alliierten 1945/1946 geführte Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher noch als gerechte Aburteilung der verantwortlichen Repräsentanten des NS - Staates. Die Stimmung veränderte sich jedoch während der Nachfolgeprozesse, in denen unter amerikanischer Regie Juristen und Industrielle, Ärzte und Wehrmachtsoffiziere, Diplomaten und hohe Beamte wegen ihrer Beteiligung an NS - Verbrechen angeklagt waren. Die Deutschen verweigerten sich dem „unangenehmen Teil des alliierten Angebots“, einer schonungslosen Aufarbeitung der Verstrickung der Gesellschaft und ihrer Eliten in die nationalsozialistischen Verbrechen.19 Eine Mehrheit der Bevölkerung leugnete „jede Mitverantwortung für die Taten des NS - Regimes“ und gab „der NS - Führung die Schuld am Holocaust, an den Kriegsverbrechen und an der deutschen Katastrophe“.20 Insofern entsprach Bundeskanzler Konrad Adenauer mit seiner ersten Regierungserklärung im September 1949 und seiner Forderung nach einer weitreichenden Amnestie dem „kollektiven politischen Erwartungshorizont“.21 Zu den ersten Gesetzen, die der Bundestag verabschiedete, gehörte schließlich das „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit“, das als Weihnachtsamnestie von 1949 bekannt geworden ist und weitreichende Wirkung hatte. Es amnestierte, und man beteuerte, dies sei unbeabsichtigt geschehen, vermutlich mehrere Zehntausend NS - Täter, die wegen „kenntnisbelasteter Zugehörigkeit“ zu einer der in Nürnberg von den Alliierten für verbrecherisch erklärten Organisationen, wie beispielsweise der SS und der Gestapo, zählten.22 Westdeutsche Politiker sendeten Anfang der 50er Jahre eindeutige Signale an die Bevölkerung, die einen Schlussstrich und den Aufbau der Demokratie ohne die Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit propagierten. Die Mitschrift einer Bundestagsdebatte verzeichnet Beifall aus den Reihen aller Parteien, als der FDP - Abgeordnete Erich Mende im September 1952 äußerte : „Meine Damen und Herren, sieben Jahre danach scheint doch nun Gelegenheit zu sein, einen Schlussstrich zu ziehen. Wir wollen den Blick nach vorn tun.“23 Welche Auswirkungen solche Äußerungen auf die Justiz hatten, beschrieb der hessische Generalstaatsanwalt und Initiator des ersten Frankfurter Auschwitz - Prozesses Fritz Bauer im Rückblick : Die Juristen hätten damals 19 Anneke de Rudder, „Warum das ganze Theater ?“ Der Nürnberger - Prozess in den Augen der Zeitgenossen. In : Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Band 6, Frankfurt a. M. 1997, S. 218–242, hier 237. 20 Werner Bergmann, Die Reaktion auf den Holocaust in Westdeutschland von 1945 bis 1989. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 43 (1992), S. 327–350, hier 328. 21 Frei, Vergangenheitspolitik, S. 29. 22 Zur Entstehung des Gesetzes vgl. ebd., S. 25 ff. 23 Bundestagssitzung vom 17. 9. 1952. In : Verhandlungen des Deutschen Bundestags. I. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Band 13, Bonn 1952, S. 19502.

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geglaubt, „den Schluss ziehen zu dürfen, nach der Auffassung von Gesetzgebung ( Parlament ) und Exekutive ( Regierung ) sei die juristische Bewältigung der Vergangenheit abgeschlossen“.24 Obwohl die der deutschen Justiz nach der Kapitulation seitens der Besatzungsmächte auferlegten Beschränkungen 1950 und 1951 weitgehend und 1955 endgültig aufgehoben wurden und damit NS - Verbrechen gemäß deutschem Recht hätten verfolgt werden können, sank die Zahl der Prozesse und der rechtskräftigen Verurteilungen wegen NS - Verbrechen stetig.25 „Niemand“, so der Rechtswissenschaftler Werle, „dachte ernsthaft daran, geeignete Schritte zu einer systematischen Aufklärung und Verfolgung selbst schwerster NS - Taten zu unternehmen.“26 Im Zusammenhang mit der zunehmend selbstbewussteren Rolle der Bundesrepublik im Kalten Krieg und dem Interesse der Amerikaner an einer Wiederbewaffnung Westdeutschlands gelang der Bundesregierung zudem eine weitreichende Lösung des Problems der „sogenannten Kriegsverbrecher“. So brach schon 1950 ein regelrechtes „Gnadenfieber“ aus, wie Robert M. W. Kempner treffend feststellte. Die Alliierten begannen, zahlreiche der von ihnen verurteilten NS - Täter aus den Gefängnissen zu entlassen. Auf Druck einer kleinen, aber einflussreichen Pressure Group, zu der Vertreter der Kirchen, bekannte Rechtsgelehrte und ehemalige Nürnberger Verteidiger gehörten, wandelte der amerikanische Hochkommissar John McCloy im Januar 1951 auch sieben Todesstrafen der im April 1948 vom amerikanischen Militärgericht im Nürnberger Einsatzgruppen - Prozess Verurteilten in zeitlich begrenzte Haftstrafen um. In den folgenden Jahren wurden die verurteilten Angehörigen der Einsatzgruppen nach und nach aus der Haft entlassen.27 Im Mai 1958, einige Tage nachdem in Ulm das Verfahren gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos gerade begonnen hatte, konnten die letzten vier Inhaftierten das Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg verlassen. Unter ihnen war der verurteilte Führer des Einsatzkommandos Ia in Estland, Martin Sandberger, für den sich seit 1953 württembergische Honoratioren – darunter Justizminister Wolfgang Haußmann, Landesbischof Martin Haug, Gebhard Müller und Carlo Schmid – eingesetzt hatten.28 Auch die westdeutsche Presse begrüßte die Freilassung der NS -

24 Fritz Bauer, In unserem Namen. In : Helmut Hammerschmidt ( Hg.), Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten, München 1965, S. 309. Siehe zu Fritz Bauer und dem ersten Frankfurter Auschwitz - Prozess auch den Beitrag von Werner Renz in diesem Band. 25 Vgl. die statistischen Angaben bei Adalbert Rückerl, NS - Verbrechen vor Gericht, S. 329 ff. 26 Gerhard Werle, Der Holocaust als Gegenstand der bundesdeutschen Straf justiz. In : Bernhard Moltmann ( Hg.), Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in DeutschlandWest und Deutschland - Ost, Frankfurt a. M. 1993, S. 101. 27 Vgl. Ralf Ogorreck / Volker Rieß, Fall 9 : Der Einsatzgruppenprozeß. In : Gerd R. Ueberschär ( Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt a. M. 1999, S. 164–175, hier 171. 28 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 297 ff.

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Täter; die Schuld der Deutschen schien abgehandelt und die Taten der Einsatzgruppen waren kein Gegenstand öffentlicher Diskussion. Die 50er Jahre waren von einer weitreichenden Abwehr der Vergangenheit, einer Schlussstrich - Mentalität und der Absicht einer stillschweigenden Integration der ehemaligen Mitläufer, Gehilfen und Täter des NS - Unrechtsstaates in die Gesellschaft der Bundesrepublik gekennzeichnet. Auf den ersten Blick ist es daher ein überraschender Befund, dass der in Ulm verhandelte Prozess gegen das Tilsiter Einsatzkommando im Sommer 1958 den Umgang mit der NS - Vergangenheit veränderte, schließlich sogar die Gründung der „Zentralen Stelle“ und damit eine systematische Aufarbeitung der Vergangenheit auslöste.

3.

Eröffnung des Ulmer Einsatzgruppen - Prozesses im April 1958 : Reproduktion des NS - Systems als grausame Tat einzelner Exzesstäter

Als das Ulmer Schwurgericht Ende April 1958 den Prozess gegen die zehn führenden Angehörigen des Einsatzkommandos Tilsit eröffnete, sprachen die Tageszeitungen vom „Fischer - Schweder - Prozess“.29 Bernhard Fischer - Schweder hatte Mitte der 50er Jahre die Leitung eines Flüchtlingslagers in Ulm - Wilhelmsburg übernommen. Als seine Vergangenheit dem Regierungspräsidium Nordwürttemberg bekannt zu werden drohte, hatte er sein Angestelltenverhältnis gekündigt. Allerdings focht Fischer - Schweder seine Kündigung kurze Zeit später an und klagte auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst. Später stellte sich heraus, dass er bereits im Meldebogen für sein Entnazifizierungsverfahren falsche Angaben zu seiner Person gemacht hatte, wodurch es ihm gelungen war, als „nicht betroffen“ eingestuft zu werden. Während der arbeitsgerichtlichen Klärung seines Dienstverhältnisses berichtete die Presse über den Fall. Ein Zeuge erkannte den ehemaligen Polizeidirektor von Memel und beschuldigte ihn, 1941 im deutsch - litauischen Grenzgebiet an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen zu sein.30 Anlässlich der Eröffnung der Hauptverhandlung gegen Mitglieder des Einsatzkommandos Tilsit mokierten sich die Tageszeitungen über die „Dreistigkeit“ Fischer - Schweders und sein betrügerisches Leben nach 1945. Kein Thema war hingegen, wie es einem Mann mit einer solchen Vergangenheit beinahe ein Jahrzehnt lang hatte gelingen können, unter falschem Namen zunächst in den westlichen Besatzungszonen und später in der Bundesrepublik zu leben. Ebenso wenig fragte die Presse, warum Fischer - Schweder sich in der Bundesrepublik 29 Vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung vom 2. 5. 1958 : „Die Opfer mussten ihr eigenes Grab ausheben“; Ulmer Nachrichten vom 2. 5. 1958 : „Jetzt stehen die Taten im Vordergrund“. 30 Vgl. die Rekonstruktion der Biographie von Bernhard Fischer - Schweder durch das Ulmer Gericht im Urteil. In : KZ - Verbrechen vor deutschen Gerichten, Band II, S. 25.

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sicher genug fühlte, um eine Wiedereinstellung in den Staatsdienst sogar einzuklagen. In den 50er Jahren galten NS - Täter nicht als Mitglieder der Gesellschaft, die das verbrecherische NS - System stabilisiert hatte. Vielmehr galten die wegen NS- Verbrechen Beschuldigten in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem als kriminelle Exzess - und Einzeltäter. Dementsprechend sah das Bild aus, das die Presseberichte von dem „kriminellen“ und „dreisten“ Fischer - Schweder und den anderen Angeklagten zeichnete. In das Zentrum der Berichterstattung rückten „Ungeheuerlichkeit“ und Ausmaß der den Angeklagten zur Last gelegten Taten. Die meisten Berichte wiesen in der Schlagzeile oder im Untertitel darauf hin, dass die Anklage auf „fünftausendfachen Mord“ lautete.31 Die Artikel schilderten die Brutalität, mit der die Angehörigen des Einsatzkommandos nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Litauen Menschen verfolgt und ermordet hatten. „Die Opfer mussten ihr eigenes Grab ausheben“, titelte beispielsweise die „Süddeutsche Zeitung“ am 2. Mai 1958.32 Noch eine Woche später war der SZ Korrespondent Wolfgang Wehner sichtlich beeindruckt, vielleicht auch schockiert, von dem, was vor Gericht zur Sprache kam. Er schilderte, wie „die Opfer selbst ihr Grab schaufeln mussten“ und dass sie „wie Vieh [...] getrieben“ wurden. Schließlich beschrieb er das Verhalten des „Angeklagten Nummer eins, Bernhard Fischer - Schweder“, der „grimassenschneidend und lächelnd in den Zuschauerraum winkend, auf der Anklagebank“ saß und der „arroganteste unter den ehemaligen Gestapo - und SD - Führern“ sei. Frühere „Untergebene“, so erfuhr der Leser, „bezeichneten den bulligen ehemaligen Polizeichef [...] schlicht als Säufer“, und Wehner merkte an, dass es Protokolle gebe, „aus denen hervorgeht, dass die Henker während der Hinrichtungen sehr häufig zur Schnapsflasche griffen“.33 Trotz der Schlagzeile „Nach den Genickschüssen tranken sie Schnaps“ wurde die Frage nach der möglichen Funktion des Alkoholkonsums nicht gestellt. Die Aufmerksamkeit der überregionalen Presse für den Prozess in Ulm ließ in den folgenden Wochen nach. Im Sommer 1958 beschäftigte die Journalisten stattdessen noch ein ganz anderer Fall. Die großen Tageszeitungen berichteten ausführlich, phasenweise täglich, über das Verfahren gegen Martin Sommer, der sich in Bayreuth wegen mehrfach begangenem Mord im Konzentrationslager Buchenwald vor Gericht verantworten musste. Die „Welt“ berichtete über den „Henker von Buchenwald“,34 und die „Süddeutsche Zeitung“ präsentierte Som31

Vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung vom 29. 4. 1958 : „Die Anklage lautet auf fünftausendfachen Mord“; Die Welt vom 29. 4. 1958 : „5000 Judenmorde“. 32 Süddeutsche Zeitung vom 2. 5. 1958 : „Die Opfer mussten ihr eigenes Grab ausheben“. 33 Süddeutsche Zeitung vom 9. 5. 1958 : „Nach den Genickschüssen tranken sie Schnaps“ von Wolfgang Wehner. 34 Die Welt vom 16. 6. 1958 : „Der Henker von Buchenwald ohne Reue und Mitgefühl“, vom 23. 6. 1958 : „Sommer stellt die Nerven seiner Richter auf eine harte Probe“, vom 27. 6. 1958 : „Sommer weint, weil er sich bedauert“, und vom 2. 7. 1958 : „Staatsanwalt: Sommer ist schon überführt“. Alle Berichte stammen von dem Korrespondenten Wilhelm F. Maschner.

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mer als den „KZ - Schinder“35 und „berüchtigten Totschläger von Buchenwald“.36 Sommer galt als „menschliches Wrack“.37 Auch dieses Verfahren, das die strafrechtliche Verantwortung eines Einzelnen im nationalsozialistischen Unrechtssystem klären musste, galt als ein „Prozess des Grauens“.38 Die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten wurden minutiös beschrieben. Sommers „Geheimfach mit Mordinstrument“39 sowie die von ihm im Konzentrationslager vorgenommenen „grausamen Exekutionen“40 standen im Zentrum der Meldungen. Zwar berichteten die Journalisten auch über die Sachverständigengutachten, die dem Gericht helfen sollten, den verhandelten Fall im historischen Kontext wahrzunehmen, doch fällt bei der Lektüre der Artikel auf, dass sich diesen nicht einmal entnehmen lässt, welcher Tätigkeit der Angeklagte eigentlich nachging und welche Funktion er in Buchenwald innehatte. Mit anderen Worten : Auch Sommer wurde nicht als ein Mitglied der Gesellschaft identifiziert, die das NSSystem mitgetragen hatte. Die genannten Schlagzeilen verfestigten hingegen eine Wahrnehmung des Nationalsozialismus als „Gruselkabinett“ ( Jörg Friedrich ).41 Martin Walser problematisierte noch Mitte der 60er Jahre, anlässlich der Berichterstattung über den Frankfurter Auschwitz - Prozess, die auf Brutalitäten konzentrierten Artikel über NS - Verfahren. In einem 1965 im „Kursbuch“ publizierten Essay „Unser Auschwitz“ kritisierte er Schlagzeilen wie „Frauen lebend ins Feuer getrieben“, „In Auschwitz floss der Alkohol“ und „Der Gnadenschuss in der Frühstückspause“, da sie Distanz schaffen, aber weder gesellschaftliche Betroffenheit auslösen noch einen strukturanalytischen Blick auf den Nationalsozialismus und das Lagersystem ermöglichen. Walser bilanzierte : „Mit diesen Geschehnissen, das wissen wir gewiss, mit diesen Scheußlichkeiten haben wir nichts zu tun. Diese Gemeinheiten sind nicht teilbar. In diesem Prozess ist nicht von uns die Rede.“ Und er stellte fest : „Mit solchen Wörtern halten wir uns Auschwitz vom Leib.“42 Die Auswertung der Presseberichte über die NS - Prozesse, die im Sommer 1958 die Gerichte beschäftigten, scheint die These von einem veränderten Blick 35 Süddeutsche Zeitung vom 2. 7. 1958 : „Dem Staatsanwalt genügen die Beweise“von Tony Schwägerl. 36 Süddeutsche Zeitung vom 3. 7. 1958 : „Der Totschläger von Buchenwald weint“ und vom 4. 7. 1958 : „Lebenslänglich Zuchthaus für Sommer“; beide Berichte von Tony Schwägerl. 37 Süddeutsche Zeitung vom 3. 7. 1958 : „Der Totschläger von Buchenwald weint“ von Tony Schwägerl. 38 Vgl. etwa Die Welt vom 16. 6. 1958 : „Der Henker von Buchenwald ohne Reue und Mitgefühl“ von Wilhelm F. Maschner. 39 Die Welt vom 27. 6. 1958 : „Sommer weint, weil er sich bedauert“ von Wilhelm F. Maschner. 40 Süddeutsche Zeitung vom 5./6. 7. 1958 : „Sommer lächelt über Verwünschungen“ von Tony Schwägerl. 41 Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS - Täter in der Bundesrepublik, erw. Neuausgabe München 1994, S. 129. 42 Martin Walser, Unser Auschwitz. In : Kursbuch 1/1965, S. 189–200, hier 190.

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der westdeutschen Öffentlichkeit auf die NS - Vergangenheit eher zu widerlegen als zu bestätigen und in einer Kontinuität der Wahrnehmung des Nationalsozialismus als einer Summe von Brutalitäten und Exzessen der „anderen“ zu stehen. Im Sommer 1958 fand die Presse ihr Hauptthema, nachdem Aussagen im Bayreuther Verfahren gegen Martin Sommer den in München praktizierenden Arzt Hans Eisele belastet hatten, als KZ - Arzt in Buchenwald an schweren Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Während Eisele reagierte und persönlich im Redaktionsbüro der „Münchner Abendzeitung“ einen Leserbrief abgab, in dem er die Vor würfe zurückwies,43 versäumte die zuständige Staatsanwaltschaft, Ermittlungen aufzunehmen. Erst einige Tage später wurde Haftbefehl gegen Eisele erlassen, doch der Arzt hatte Deutschland bereits verlassen. Als wiederum nur einige Tage später bekannt wurde, dass der Fall Eisele bereits seit 1955 bei der zuständigen Staatsanwaltschaft zur Bearbeitung vorlag, beherrschte der „Justizskandal ersten Ranges“ die Titelseiten der Zeitungen. In den nächsten Tagen überschlugen sich die Ereignisse und die Presseberichte. Als der bayerische Justizminister Willi Ankermüller ( CSU ) den „Eisele - Skandal“ schließlich eingestand, schien sich eine „sensationelle Wendung“ abzuzeichnen.44 Es zeigte sich jedoch, dass auch diese Wende kein kritisches Bewusstsein für die Probleme der versäumten strafrechtlichen Aufarbeitung der NS - Vergangenheit oder die strukturelle Hypothek der Vergangenheitspolitik der 50er Jahre bewirkte. Der zuständige Staatsanwalt wurde „amtsenthoben“,45 und Ankermüller war auf Pressekonferenzen um Schadensbegrenzung bemüht. Er erklärte, es handele sich um ein „Unglück“ und das „Versagen eines einzelnen Staatsanwaltes“, das nicht der gesamten Justiz angelastet werden könne.46 Ankermüller wies den Verdacht, der Staatsanwalt habe den Beschuldigten Eisele „aus politischen Gesinnungsgründen vor einer weiteren Strafverfolgung schützen“ wollen, als völlig unbegründet zurück.47 Der Fall sei „einfach verschlampt“ worden.48 Auch der zuständige Generalstaatsanwalt erklärte, es handele sich hier nur um die „Unfähigkeit“ eines einzelnen Juristen.49 In den Tageszeitungen wurden der Minister und der Generalstaatsanwalt zitiert, ihre Stellungnahmen wurden aber nicht problematisiert oder als strukturelles Problem der Vergangenheitspolitik der 50er Jahre begriffen. Stattdessen spürte die Presse dem flüchtigen Arzt nach. Ausführlich und meistens in mehreren Berichten auf den Titelseiten und in nachgeordneten Artikeln rekonstruierten die Journalisten die Flucht Eiseles, der „spurlos verschwunden“ 43 Der Leserbrief erschien am 26. 6. 1958. 44 Die Welt vom 12. 7. 1958 : „Justizminister gibt Eisele - Skandal zu“ von Wilhelm F. Maschner. 45 Vgl. z. B. den Bericht auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. 7. 1958: „Der Fall Eisele wird zum Justizskandal“. 46 Ebd. 47 Die Welt vom 12. 7. 1958 : „Justizminister gibt Eisele - Skandal zu“ von Wilhelm F. Maschner. 48 Ebd. 49 Süddeutsche Zeitung vom 12./13. 7. 1958 : „Der Fall Eisele wird zum Justizskandal“.

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war und von „Interpol gesucht“ wurde.50 Die Zeitungsleser konnten sich über die „Fahndung nach flüchtigem KZ - Arzt“ informieren51 und erfuhren, dass „Eisele als Tourist nach Kairo“ gereist war.52 In den folgenden Tagen entflammte ein regelrechter Wettstreit der Zeitungen um Fotos und aktuelle Aufenthaltsberichte. Die „Süddeutsche Zeitung“ veröffentlichte Fotos von Eisele, darunter Bilder aus der „Kriegsverbrecherkartei der amerikanischen Militärgerichte“53 und Aufnahmen, die den Arzt in Kairo zeigten.54 Andere Berichte spürten Eisele in Kairo nach, wo er im Restaurant „Löwenbräu“ aß und im Hotel „Ambassador“ ein Zimmer bezogen hatte. Schließlich erfuhr der Leser, dass Eisele von Interpol festgenommen worden war und in Kairo verhört wurde. Zudem wurde die Lebensgeschichte des Arztes entfaltet, der in undurchsichtige Erbschaftsangelegenheiten seiner Patienten verstrickt gewesen sein soll. Als sich schließlich Eiseles Spur in Kairo verlor und Deutschland sich „verblüfft“ zeigte,55 von den ägyptischen Behörden keine Auskunft mehr zu erhalten, ließ das Interesse der westdeutschen Presse allmählich nach. Im Rückblick fällt vor allem auf, dass der Fall Eisele kaum mit den Problemen anderer Ermittlungsversäumnisse in Verbindung gebracht wurde. Die Erklärung des zuständigen Justizministers, es handele sich um einen „Einzelfall“, war offensichtlich nicht weiter erklärungsbedürftig. Zudem wurde von Eisele das Bild eines auch nach 1945 am Rande der Kriminalität agierenden Arztes gezeichnet. Hier zeigen sich bemerkenswerte Parallelen zur Wahrnehmung und Berichterstattung über Fischer - Schweder.

4.

Die Plädoyers : „Himmlers Henker hören den Staatsanwalt“

Die Journalisten der überregionalen Tageszeitungen beschäftigten sich wieder mit dem Ulmer Verfahren gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos, als Verteidiger und Staatsanwaltschaft im August 1958 ihre Plädoyers hielten. Im Unterschied zur auf den Hauptangeklagten fokussierten Berichterstattung anlässlich der Eröffnung des „Fischer - Schweder - Prozesses“ veränderte sich die Wahrnehmung jetzt. Das Verfahren galt nun als „Einsatz - Prozess“, und die Berichte nahmen ansatzweise die Bedeutung der Einsatzkommandos und Einsatzgruppen im Rahmen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den Blick.56 Punktuell finden sich in der Berichterstattung Hinweise, dass die natio-

50 Frankfurter Rundschau vom 11. 8. 1958 : „Eisele spurlos verschwunden“. 51 Süddeutsche Zeitung vom 8. 7. 1958 : „Fahndung nach flüchtigem KZ - Arzt“. 52 Vgl. den Bericht auf der Titelseite der Welt vom 11. 7. 1958 : „Eisele : Als Tourist nach Kairo“. 53 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. 7. 1958 : „Der unglaubliche Fall Eisele“ von Wolfgang Wehner und vom 14. 7. 1958 : „Eisele von der ägyptischen Polizei festgenommen“. 54 Vgl. z. B. Die Welt vom 14. 7. 1958 : „Eisele an Interpol übergeben“. 55 Vgl. z. B. Die Welt vom 11. 8. 1958 : „Rätselraten um Verbleib Eiseles“. 56 Vgl. z. B. Frankfurter Rundschau vom 2. 8. 1958 : „Verhaftung im Einsatz - Prozess“.

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nalsozialistischen Massenverbrechen organisiert, verwaltet und in arbeitsteiliger Täterschaft abgelaufen waren. Hier zeigte die Konzeption des Prozesses als Komplexverfahren Wirkung, das die von den Tätern arbeitsteilig organisierten Mordaktionen im Rahmen des verbrecherischen NS - Systems aufdecken sollte. Dennoch : Die Vermittlung des systematischen Massenmordes gelang nur im Ansatz, etwa als die Generalstaatsanwaltschaft Anfang Juli 1957 zu einer Pressekonferenz lud und die historische Bedeutung des Verfahrens erläuterte.57 Für die spätere Berichterstattung ist hingegen ein Artikel in den „Stuttgarter Nachrichten“ vom 8. Mai 1958 beispielhaft. Der Bericht über das Verfahren mit der Überschrift „Die Organisation der Massenerschießungen“ erwähnt im Untertitel die „Vorgeschichte der Einsatzkommandos“. Im Beitrag werden allerdings vor allem die unglaubwürdigen Argumente der Angeklagten referiert, die „keine Kenntnis“ von den Aufgaben der Einsatzkommandos gehabt haben wollten oder „überhaupt nicht gewusst haben, dass es ein Einsatzkommando Tilsit gab“.58 Der Leser erfährt – dem Titel zum Trotz – nichts über Organisation und Vorgeschichte der Einsatzkommandos. Zum Abschluss des Prozesses lenkten die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sowie das Urteil des Gerichts das Interesse endgültig wieder weg von systematischen historischen Perspektiven. Die Berichterstattung über das gemeinsam von Schüle und dem Ulmer Staatsanwalt Dr. Fritz Schneider vorgetragene Plädoyer zeigte noch einmal, wie fest in der westdeutschen Öffentlichkeit jenes Bild vom Nationalsozialismus verankert war, das Bundeskanzler Adenauer in seiner Regierungserklärung von 1949 geprägt hatte, als er von den wenigen „wirklich Schuldigen an den Verbrechen“ sprach und die mehrheitlich unschuldig in die Verbrechen Verstrickten entlastete.59 Der Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ überschrieb seinen Bericht über das eineinhalbtägige Plädoyer der Staatsanwälte mit der Schlagzeile : „Himmlers Henker hören den Staatsanwalt“.60 Dieses wirkungsmächtige Bild von dem kleinen Kreis Verantwortlicher an der Spitze des NS - Regimes hatte bereits die „Frankfurter Rundschau“ nachgezeichnet, als sie unkommentiert die Position der Verteidigung referierte, dass die „eigentlich 57 Vgl. z. B. Schwäbische Donau - Zeitung vom 6. 7. 1957 : „Ver waltungsmassenmord vor dem Schwurgericht“; Ulmer Nachrichten vom 6. 7. 1957 : „Grauenhafter Prozess vor dem Ulmer Schwurgericht“; Stuttgarter Nachrichten vom 6. 7. 1957 : „Massenerschießungen von Juden sollen gesühnt werden“. 58 Stuttgarter Nachrichten vom 8. 5. 1958 : „Die Organisation der Massenerschießungen“. 59 Vgl. die Regierungserklärung Adenauers am 20. 9. 1949. In : Verhandlungen des Deutschen Bundestages. I. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Band 1, Bonn 1950, S. 27. Am 5. 4. 1951 erklärte Adenauer in einer Bundestagsrede : „Die Kriegsverbrecher, diejenigen, die wider die Gesetze der Menschlichkeit oder gegen die Regeln der Kriegführung verstoßen haben, verdienen nicht unser Mitleid und unsere Gnade.“ Die Bundesregierung könne „sich natürlich nicht für diejenigen einsetzen, die wirklich schuldig sind. Aber der Prozentsatz derjenigen, die wirklich schuldig sind, ist so außerordentlich gering und so außerordentlich klein.“ Verhandlungen des Deutschen Bundestages. I. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Band 6, Bonn 1951, S. 4984. 60 Süddeutsche Zeitung vom 4. 8. 1958 : „Himmlers Henker hören den Staatsanwalt“ von Hans Krammer.

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Schuldigen Hitler, Himmler und Heydrich“ gewesen seien.61 Anlässlich der Plädoyers verfestigte sich auch die Stigmatisierung des Nationalsozialismus als „Gruselkabinett“ weiter. Die Berichterstatter rekapitulierten noch einmal den „blutigen Sommer 1941“ und die „grauenvollsten Augenblicke des Prozesses“.62 Auch der Suizid von drei im Verfahren belasteten Zeugen nährte nur Spekulationen über die Grausamkeiten in jenen Monaten : Hans Krammer schrieb in der „Süddeutschen Zeitung“ : „Drei Tote, noch ehe das Urteil gesprochen ist. Wie muss dieser litauische Blutsommer gewesen sein, dass sich seinetwegen 17 Jahre später drei Menschen das Leben nehmen, die deswegen nicht einmal ( oder noch nicht ) auf der Anklagebank saßen.“63 Die Selbstmorde lösten keine Problematisierung der Vergangenheitspolitik und der versäumten Auseinandersetzung mit den Verbrechen aus. Dabei bot das mehrstündige Plädoyer der Staatsanwälte Schüle und Schneider mit den differenzierten Ausführungen über die Verantwortlichkeit der Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos ausreichend Stoff für eine Diskussion der Schuldfrage. Die Verteidiger forderten in ihren Plädoyers den Freispruch ihrer Mandanten. Sie machten einen Befehlsnotstand geltend und charakterisierten die Angeklagten als „kleine Rädchen“ oder „unwissende Werkzeuge“.64 Der Münchner Rechtsanwalt Rudolf Aschenauer hatte bereits im 1947/48 verhandelten „Einsatzgruppenprozess“ den Chef der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, verteidigt und hielt in seinem Plädoyer an der im damaligen Prozess verfolgten Entlastungsstrategie fest. Die Angeklagten seien schuldlos, weil es in diesem Apparat unmöglich gewesen sei, „dass der Einzelne sich mit Erfolg gegen die Judentötungen hätte auf lehnen können“.65 Als Verteidiger des ehemaligen Leiters des Sicherheitsdienstes in Tilsit, Werner Hersmann, trug Aschenauer in Ulm die im Fall Ohlendorf und auch schon im Prozess gegen Erich von Manstein vertretene Behauptung vor, die Angeklagten hätten auf Grundlage eines von Hitler erteilten Befehls gehandelt, gegen den Widerstand mit dem Tod bestraft worden wäre. Die Berichterstatter der Zeitungen kamen ihrer Chronistenpflicht nach und referierten die auch von anderen Verteidigern vertretene Rechtsauffassung, dass „nur blinder Gehorsam“66 gegolten habe und deshalb die Angeklagten freizusprechen seien.67

61 Frankfurter Rundschau vom 14. 8. 1958 : „Alle Verteidiger plädieren auf Freispruch“. 62 Vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung vom 4. 8. 1958 : „Himmlers Henker hören den Staatsanwalt“ von Hans Krammer. 63 Ebd. 64 Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, S. 68. 65 Zit. nach ebd. 66 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 8. 1958 : „Hier galt nur blinder Gehorsam“. 67 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 8. 1958 : „Neue Anträge auf Freispruch in Ulm“.

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Das Urteil : Verfestigung der Gehilfenrechtsprechung – ein „Entlastungsangebot“ an die Gesellschaft

Ende August 1958 verkündete der Vorsitzende Richter Edmund Wetzel die Urteile gegen die zehn Angeklagten. Wieder nahmen die Journalisten ihre Chronistenpflicht wahr : Sie blickten auf den „Mammut - Prozess“ zurück, in dem über 180 Zeugen gehört und Sachverständige zu Rate gezogen worden waren.68 Ausführlich informierten viele Berichte über die Urteile und listeten detailliert die einzelnen Strafen auf. Die Schwurgerichtskammer folgte mit dem Urteil, dass die Hauptangeklagten einen von Hitler erteilten Befehl zur Endlösung umgesetzt hatten, dem im Verfahren erstatteten Gutachten des stellvertretenden Leiters des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Helmut Krausnick.69 Zwar stellten die Richter fest, dass die Angeklagten sich diesen Befehl aufgrund ihrer nationalsozialistischen Einstellung im Wissen von dessen Unrechtmäßigkeit zu eigen gemacht hätten und wiesen – in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Historikers Hans Günther Seraphim – das Argument der Verteidigung zurück, die Angeklagten hätten sich in einer Zwangslage befunden. Obwohl das Verfahren außerdem ergeben hatte, dass die Hauptangeklagten selbstständig Entscheidungen getroffen hatten und Fischer - Schweder etwa aus eigenem Antrieb gehandelt hatte, verurteilten die Richter die Angeklagten nicht als Täter, sondern als Gehilfen.70 Ohne den historischen Rahmen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hätten die Angeklagten nicht gemordet, argumentierte der Richter. Die Qualifizierung der von den Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos begangenen Taten als Gehilfenschaft prägte „ein Geschichtsbild, das der Verdrängung der aktiven Rolle tragender Schichten der deutschen Gesellschaft an der Ausrottungspraxis des NS - Regimes Vorschub leistete“71 und im Sommer 1958 ein „Entlastungsangebot“72 an die Gesellschaft war. Die Presse nahm dieses Angebot stellvertretend an. In der Berichterstattung setzte sich anlässlich der Verurteilung aller Angeklagten als „Gehilfen“ der Topos vom Haupttäter Hitler endgültig durch. Auch in der Justiz wirkte das Urteil wegweisend : Mit dem die Angeklagten entlastenden Verweis auf die Befehlslage und der Anwendung der subjektiven Abgrenzungstheorie trug es zur Verfestigung der Gehilfenjudikatur bei. 68 Vgl. z. B. Frankfurter Rundschau vom 30. 8. 1958 : „Hohe Zuchthausstrafen im Ulmer Prozess“; Die Zeit vom 5. 9. 1958 : „Sehr spät, doch sehr nötig“; Die Welt vom 1. 9. 1958: „Zehn Angeklagte senkten ihre Köpfe“ von Carl Steinhausen. 69 Krausnick trug sein Gutachten am 18. 7. 1958 vor dem Ulmer Schwurgericht vor. Die Schwäbische Donau - Zeitung berichtete darüber am 21. 7. 1958. Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 155. Zum später von der Forschung widerlegten Gutachten Krausnicks vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 19 und 151 f. 70 Vgl. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, S. 70. 71 Bettina Nehmer, Die Täter als Gehilfen ? In : Redaktion Kritische Justiz ( Hg.), Die juristische Aufarbeitung des Unrechts - Staates, Baden - Baden 1998, S. 668. 72 Greve, Umgang, S. 159.

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Obwohl die Staatsanwaltschaft für die Hauptangeklagten – neben Fischer Schweder waren dies der an der Organisation der meisten Verbrechen des Einsatzkommandos beteiligte frühere Chef der Staatspolizei in Tilsit Hans - Joachim Böhme, der frühere Leiter des SD Tilsit Werner Hersmann und Pranas Lukys, der als Angehöriger der Polizei in Krottingen an den Mordaktionen beteiligt war – eine Verurteilung wegen Mittäterschaft gefordert hatte, diskutierte die Presse die divergierenden juristischen Qualifizierungen der Tatbeteiligungen der Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos nicht. Weder die von den Prozessparteien unterschiedlich beantwortete Frage nach der Verantwortung, die dem Individuum im Rahmen eines staatlich gelenkten Massenmordes zukommt, noch die Ausführungen des Richters über die Mechanismen und gesellschaftlichen Strukturen, die Menschen zu willfährigen „Werkzeugen“ der Vernichtung hatten werden lassen, ließen eine nennenswerte Thematisierung der Schuldfrage aufkommen. Auch über die Empörung der im Gerichtssaal anwesenden litauischen Juden angesichts der mit der Gehilfenjudikatur verbundenen niedrigen Strafen berichtete nur die Ulmer Lokalzeitung.73 Die überregionale Presse fand hingegen lobende Worte für den Abschluss des Prozesses und die mit dem Urteil vollzogene Entlastung der Angeklagten. „Die Zeit“ kommentierte unter der Überschrift „Sehr spät, doch sehr nötig“, Ergebnis des „mit bewundernswerter Geduld und zäher Genauigkeit“ geführten Verfahrens sei, dass keiner der Angeklagten mit „Täterwille“ gehandelt habe. Neben der konkreten Entlastung der Angehörigen der Einsatzgruppe habe das Ulmer Gericht generell festgestellt, es habe auch während der NS - Zeit „keinen bedingungslosen Gehorsam gegenüber verbrecherischen Befehlen“ gegeben.74 Auch Carl Steinhausen konnte als Korrespondent der „Welt“ die Entlastung der Angeklagten nachvollziehen. Er fragte, ob „das Recht in diesem umfangreichen deutschen Strafprozess der Nachkriegszeit gesiegt“ habe, und seine Antwort ist hinsichtlich des in den 50er Jahren etablierten, auf Hitler konzentrierten Geschichtsbildes aufschlussreich : „Das Ulmer Urteil bedeutet immerhin die eindeutige Verdammung der Beihilfe zum staatlich gelenkten, von Hitler befohlenen Massenmord“, und „die Staatsanwaltschaft hat ihr Hauptziel – einen generellen Schuldspruch – erreicht“. Die Relativierung der Verantwortung des Einzelnen war für Steinhausen überzeugend : „Bei den Strafen für die früheren Mitglieder des Einsatzkommandos war die moralische Mitschuld, die Kollektivscham, des ganzen deutschen Volkes berücksichtigt, das aus Feigheit und Geistesträgheit den Anfängen der Verfolgung nicht entgegengetreten war.“ Um die in Ulm vollzogene Entlastung des Einzelnen zu rechtfertigen, wies Steinhausen darauf hin, kein anderer als Theodor Heuss habe den Begriff der Kollektivscham geprägt.75 Dennoch erkannte Steinhausen 73 Vgl. Miquel, Ahnden, S. 159. 74 Die Zeit vom 5. 9. 1958 : „Sehr spät, doch sehr nötig“. 75 Die Welt vom 1. 9. 1958 : „Zehn Angeklagte senkten ihre Köpfe. Hat im Ulmer Gerichtssaal das Recht gesiegt ? – Die Lehre des Einsatzkommando - Prozesses“ von Carl Steinhausen.

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mit seinem Versuch, „die Lehre des Einsatzkommando - Prozesses“ zu ziehen, die Bedeutung von NS - Verfahren grundsätzlich an. Sein Redaktionskollege Hans Zehrer hingegen hatte wenige Wochen zuvor, anlässlich des Urteils im Bayreuther Prozess gegen Martin Sommer, den Sinn einer Beschäftigung mit der Vergangenheit gänzlich bezweifelt. Zehrer hatte in der „Welt“ geschrieben, Sommer bleibe ein „Gespenst“ und die Menschen seien nicht „betroffen“, denn „zu viele wussten von all dem nichts, zu wenige ahnten davon“. Zehrer stellte Sommer als gesellschaftlichen Außenseiter vor und erklärte, „der Weg zu diesem kalten und gefühllosen Schläger und Mörder [ sei nicht nur ] zu lang, als dass es noch ein menschliches Band gäbe, das mit ihm verbindet“. Der Weg sei „auch zu weit, als dass er einen Zugang zur Geschichte erschließen, an die eigene Mitschuld rühren und eine Entwicklung in Gang setzen könnte, die zur Aufarbeitung des Geschehens führen würde. [...] Es wäre sogar falsch, sich mit dem Dietrich dieses ehemaligen SS - Scharführers Sommer an die Tür einer Vergangenheit heranzumachen, die immer noch verborgen und verschlossen ist und ihren Sinn nicht preisgegeben hat.“ Zwar sprach Zehrer vom „Prototyp“ Sommer, er sah in ihm jedoch keinen Repräsentanten, sondern lediglich den „Abschaum einer Gesellschaft“, eine „Unterschicht“, „die immer vorhanden ist, in jedem Volk und jeder Gesellschaft“.76 Während Zehrer weder Sinn noch Nutzen einer juristischen und öffentlichen Auseinandersetzung mit dem NS - System für die westdeutsche Gesellschaft erkennen konnte, bemühte sich ein Korrespondent der „FAZ“, die Probleme einer Abwehr der Vergangenheit wenigstens anzudeuten. Denn der Vorsitzende Richter hatte in seiner mündlichen Urteilsbegründung eine politische Verantwortung des gesamten deutschen Volkes zwar als Strafmilderungsgrund herangezogen, die Bedeutung einer Kollektivscham hatte er aber noch in einem anderen Zusammenhang thematisiert, auf den der „FAZ“ - Korrespondent aufmerksam machte : „Vor allem die Jugend Deutschlands müsse wissen und erkennen, was in der Vergangenheit geschehen sei und welche Konsequenzen für die Zukunft daraus zu ziehen seien. Dass das deutsche Volk eine moralische Verantwortung trage, die nach einem Wort des Bundespräsidenten Heuss am besten mit ‚Kollektivscham‘ zu bezeichnen sei, solle nicht verkannt werden.“77 Richter Wetzel hatte – wie der Korrespondent der „FAZ“ berichtete – eine Verpflichtung der Gesellschaft und zukünftiger Generationen zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit angemahnt. Zwei Tage vor diesem Bericht über die den westdeutschen vergangenheitspolitischen Kurs kritisierende, „bemerkenswerte Urteilsbegründung“ hatte jedoch Eberhard Bitzer in der „FAZ“ unter der Überschrift „Richter stellen sich“ die Arbeit der Gerichte und die Haltung der Deutschen ausdrücklich gewürdigt. Eine Abwehr der Vergangenheit

76 Die Welt vom 5. 7. 1958 : „Das Urteil von Bayreuth“ von Hans Zehrer. 77 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 9. 1958 : „Der größte deutsche Prozess nach dem Kriege“. Der mit dem Kürzel „ma“ genannte Verfasser des Artikels ist nicht mehr zu ermitteln ( Mitteilung des Archivs der FAZ an die Verfasserin vom 12. 1. 2011).

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erkannte er nicht, im Gegenteil. Die „Häufung der NS - Gräuelprozesse“ zeuge „davon, dass die Deutschen doch nicht wie es so oft heißt, ihrer Vergangenheit zu entfliehen versuchen“. Die offensichtlich berechtigte Sorge, das „Ansehen unseres Volkes“ werde im Ausland Schaden erleiden, wenn „dreizehn Jahre nach Kriegsende, finstere Kapitel aus der jüngsten deutschen Geschichte eine weltweite Publizität erlangen“, werde auch von jenen geteilt, „die nicht im Verdacht stehen, aus unserer Vergangenheit nichts gelernt zu haben“.78 Ohne die von dem Vorsitzenden Richter im Ulmer Verfahren skizzierten Probleme der strafrechtlichen Verfolgung von NS - Gewaltverbrechen zur Kenntnis zu nehmen, kam Bitzer zu der Schlussfolgerung, eine Verfolgung, in der „kein System“ liege, mache die strafrechtliche Aufarbeitung der NS - Verbrechen in der Bundesrepublik glaubwürdig. Es sei ein „glücklicher Umstand“, dass „es gerade Richter sind, die sich den Peinlichkeiten unserer eigenen Geschichte stellen“.79 Damit war in der „Frankfurter Allgmeinen Zeitung“ nicht nur eine gelungene juristische Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen konstatiert, sondern auch gegen eine Systematisierung der strafrechtlichen Ahndung von NS - Verbrechen Stellung bezogen worden. Der empirische Befund über das Bild, das die westdeutschen Presseberichte im Sommer 1958 von der Geschichte des NS - Systems und von der justitiellen Aufarbeitung der NS - Verbrechen vermitteln, ist also keineswegs so, dass man von einem grundlegend veränderten, problemorientierten Umgang mit der NSVergangenheit sprechen könnte. Die Perspektive der 50er Jahre schien sich eher zu verfestigen. Auch im Sommer 1958 galt Hitler als Haupttäter, während andere am Mord beteiligte Akteure von der Rechtsprechung und der Berichterstattung als Exzesstäter oder Gehilfen qualifiziert wurden, wobei man das NS Unrechtssystem als quasi entrücktes System von Grausamkeiten und Brutalitäten darstellte. Ein Problembewusstsein für die strukturellen und gesellschaftlichen Folgen einer versäumten Aufarbeitung der Vergangenheit zeigte sich nur punktuell.

6.

Wenige Akteure fordern eine systematische Aufklärung der NS - Vergangenheit

Die bis heute verbreitete Einschätzung, während des Ulmer Prozesses habe sich ein „Wille zur publizistischen Unruhe“ formiert, die Öffentlichkeit habe eine systematische Aufarbeitung der NS - Verbrechen gefordert und damit einen veränderten Zugriff auf die Geschichte formuliert, stützt sich auf wenige zeitgenössische Artikel. Einige Tage nach der Urteilsverkündung veröffentlichte Ernst Müller - Meiningen jr. in der „Süddeutschen Zeitung“ einen Prozessbericht, der das Verfahren 78 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 8. 1958 : „Richter stellen sich“ von Eberhard Bitzer. 79 Ebd.

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in Ulm als „ein Schlaglicht auf die versäumte Ahndung von Verbrechen des Naziregimes“ bezeichnete. Der Ulmer Prozess sei ein „Zufallsprodukt einer Zufallsjustiz“. Müller - Meiningen jr. beklagte, es sei „überhaupt noch nichts Systematisches gegen die Verbrechen aus jener Zeit unternommen“ worden. Er forderte eine systematische Beschäftigung der Justiz mit dem NS - Unrechtsstaat : „Was zu tun bliebe, wäre [...] die Aufstellung einer zentralen Kartei unter Bemühung des Instituts für Zeitgeschichte, endlich eine zwischen Justiz - und Innenministerium von Bund und Ländern zu schaffende Absprache, um in den nächsten Jahren im Rahmen des überhaupt noch Möglichen reinen Tisch zu machen.“80 Auch Carl Steinhausen forderte in seinem die Verantwortung des Einzelnen relativierenden Bericht zum Ulmer Urteil eine systematische Aufarbeitung der NS - Verbrechen durch die Justiz.81 Und in der „Stuttgarter Zeitung“ stellte der Journalist Heinz Lauser fest : „Gerechtigkeit darf nicht länger vom Zufall abhängen.“ Statt „weiter so zu wursteln, wie bisher, den Zufall walten zu lassen und die Gerechtigkeit zu einem Lotteriespiel herabzuwürdigen“, sei es an der Zeit, „eine mit besonderen Vollmachten ausgestattete, zentrale Ermittlungsbehörde“ einzurichten.82 Haben die Journalisten der Tageszeitungen also mehrheitlich Geschichte nur insofern geschrieben, als dass sie im Sommer 1958 die vergangenheitspolitisch besetzten Bilder reproduziert haben ? Was bleibt nach diesem Befund von der Einschätzung, dass Ende der 50er Jahre gerade Presse und Öffentlichkeit eine systematische strafrechtliche Aufarbeitung der NS - Verbrechen eingefordert haben ?

7.

Der Wille zur systematischen Aufklärung der NS - Vergangenheit – ein politischer Topos

Adalbert Rückerl machte als erster auf den konstitutiven Zusammenhang zwischen dem Ulmer Prozessgeschehen im Sommer 1958, einem veränderten Verantwortungsbewusstsein der westdeutschen Öffentlichkeit für die NS - Verbrechen und der publizistischen Forderung nach einer strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen durch westdeutsche Gerichte aufmerksam.83 Der Jurist Rückerl hatte 1966 Erwin Schüle als Leiter der „Zentralen Stelle“ abgelöst.84 80 Süddeutsche Zeitung vom 30./31. 8. 1958 : „Gespenstische Vergangenheit vor Gericht zitiert. Ein Schlaglicht auf die versäumte Ahndung von Verbrechen des Naziregimes“ von Ernst Müller - Meiningen jr. 81 Die Welt vom 1. 9. 1958 : „Zehn Angeklagte senkten ihre Köpfe. Hat im Ulmer Gerichtssaal das Recht gesiegt ? – Die Lehre des Einsatzkommando - Prozesses“ von Carl Steinhausen. 82 Stuttgarter Zeitung vom 30. 8. 1958 : „Die Gerechtigkeit darf nicht länger vom Zufall abhängen“ von Heinz Lauser. 83 Adalbert Rückerl, Vergangenheitsbewältigung, S. 18; ders., NS - Verbrechen vor Gericht, S. 140. 84 Nach jahrelangen Debatten um seine NS - belastete Vergangenheit wurde Erwin Schüle 1966 abgelöst. Vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 86 ff.

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Als er darauf hinwies, dass deren Gründung und die Intensivierung der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS - Vergangenheit seit Ende der 50er Jahre eine verantwortungsbewusste Entscheidung der Politik und Folge einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit im Sommer 1958 gewesen sei, argumentierte er als Behördenleiter politisch und interessengeleitet. Denn die Justizminister der Länder hatten im Herbst 1958 nur wenige Wochen nach Abschluss des Ulmer Verfahrens zwar die Gründung der Zentralen Stelle beschlossen und diese hatte mit ihrer Ermittlungstätigkeit begonnen. Doch sowohl für die Mehrheit der westdeutschen Juristen als auch in der Öffentlichkeit galt die Arbeit der Zentralen Stelle als Nestbeschmutzung.85 Rückerl hingegen „sah die Justiz als Teil einer Gesellschaft, die ihre Ablehnung gegenüber den Normen des NS - Staates weiterhin deutlich machen und daher auch in Zukunft NS - Täter vor Gericht stellen sollte“.86 Bereits Schüle hatte als Leiter der Behörde die Arbeit der Zentralen Stelle immer wieder gerechtfertigt,87 und Rückerl reagierte mit dem Hinweis, dass eine Systematisierung der justitiellen Aufarbeitung des NS - Unrechts im Sommer 1958 eine Forderung der westdeutschen Öffentlichkeit gewesen sei, auf den Legitimationsdruck, dem die Zentrale Stelle ausgesetzt war. In diesem Kontext ist die – empirisch nicht zu verifizierende – These von einer breiten kritischen Öffentlichkeit als einflussreichem Akteur im Kontext der Systematisierung der strafrechtlichen Aufarbeitung des NS-Unrechts wohl wesentlich politisch motiviert gewesen. Um die strafrechtliche Aufarbeitung des NS - Systems rechtfertigen zu können, setzte Rückerl auf die Strategie, die Legitimität und Arbeit seiner Behörde als Ausdruck des politischen Willens zur Aufarbeitung der Vergangenheit zu begründen. Auf die Rolle, die die Presseberichterstattung im Sommer 1958 und im Rahmen der Systematisierung der strafrechtlichen Aufarbeitung des NS - Systems spielte, hat bereits Ernst Müller - Meiningen jr. implizit hingewiesen. Der Veröffentlichung der von ihm in der „Süddeutschen Zeitung“ seit 1946 publizierten Artikel in einem kleinen Sammelband stellte er folgende Reflexion voran : „Der Journalist wirkt für den Tag, und Zeitungen sind Dokumente der Vergänglichkeit. Trotzdem wird die Summe dessen, was von Gleichgesinnten zur Verwirklichung der Idee des Rechts und des Gedankens der Demokratie geschrieben wird, ein wenig beitragen zu Ansätzen positiver Entwicklung.“ Er fügte hinzu, dass „steter Tropfen zielbewusster Kritik den Stein, der Beharrung heißt, zu höhlen vermag“.88 Müller - Meiningen jr. hat mit dem Verweis auf die Wirkung der Stimmen der faktisch aus der Position einer Minderheit heraus argumentierenden „Gleichgesinnten“ auf einen zentralen Aspekt der Funktionsweise einer 85 Vgl. Greve, Umgang, S. 57. Siehe hierzu ausführlich den Beitrag von Annette Weinke in diesem Band. 86 Rüdiger Fleiter, Die Ludwigsburger Zentrale Stelle und ihr politisches und gesellschaftliches Umfeld. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 53 (2002), S. 42. Vgl. auch Rückerl, Vergangenheitsbewältigung, S. 22 f. 87 Vgl. Greve, Umgang, S. 75 f. 88 Ernst Müller - Meiningen jr., Kommentare von Gestern und Heute, München 1966, S. 5.

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kritischen Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Gründung der Zentralen Stelle im Sommer 1958 aufmerksam gemacht. Müller - Meiningen, der sein Studium der Rechtswissenschaften in den 20er Jahren in München absolviert und während des „Dritten Reiches“ aus politischen Gründen Berufsverbot gehabt hatte, war seit Ende 1945 wieder als Rechtsanwalt zugelassen. Seit 1946 schrieb er als freier Mitarbeiter Kommentare und Leitartikel für die „Süddeutsche Zeitung“. Und gehörte zu den wenigen, die seit 1945 für eine kritische Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit eintraten. Diese kritische Perspektive betrachtete die Abwehr der Vergangenheit als Strukturproblem für die Gesellschaft und die Demokratie. Müller - Meiningen jr. forderte in seinem anlässlich des Ulmer Einsatzgruppen Prozesses für die „Süddeutsche Zeitung“ verfassten Artikel deshalb nicht nur eine systematische Aufarbeitung von NS - Verbrechen. Er hinterfragte auch die „Legitimation und die Legitimität“ der Justiz, die ihm „fragwürdig“ erschien. Seine Stellungnahme ist ein reflexiver Rückblick auf den Sommer 1958 im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen. Den Fall Fischer - Schweder, vor allem das „arrogante Auftreten des Angeklagten und [ seine ] Forderung nach Wiedereinstellung oder Pensionierung als Polizeidirektor“, betrachtete Müller - Meiningen jr. als ein typisches Phänomen der späten 50er Jahre : „Solche Dreistigkeit passt vorzüglich in unsere Zeit.“89 Müller - Meiningen jr. erinnerte auch noch einmal an den Fall Eisele, den er schon in den Wochen zuvor, im Juli 1958, abseits von Skandalisierung und Personalisierung als symptomatisch bewertet hatte. Während die Mehrheit der Berichterstatter sich in den Sommermonaten auf der Spurensuche nach Eisele befand, „weitet sich der Fall“ für Müller - Meiningen jr. „ins Allgemeine“. Im Juli 1958 trug einer seiner Kommentare auf der Titelseite der „Süddeutschen Zeitung“ die Überschrift : „Noch sind Mörder unter uns.“90 Hiermit zitierte Müller - Meiningen jr. den Titel des bekannten Films von Wolfgang Staudte und begab sich in seinem Artikel – wie der durch die „ungestörte Rückkehr vieler Kriegsverbrecher“91 erregte Staudte 1946 – in den „existentialistischen Diskurs über die Fragen von Freiheit, Wahl und Verantwortung“. Müller - Meiningen jr. ging es nicht darum, die NS - Zeit anzuprangern, für ihn galt es, ähnlich wie für Staudte, „nicht die äußere Wirklichkeit ab(zu )fotografieren“, sondern „zu Problemen Stellung zu nehmen, wie sie heute Tausende und aber Tausende unserer Mitmenschen belasten“, es geht um die „Beziehung“ des Menschen „zu der politischen Kulisse“. Dieses „Grundthe-

89 Süddeutsche Zeitung vom 30./31. 8. 1958 : „Gespenstische Vergangenheit vor Gericht. Ein Schlaglicht auf die versäumte Ahndung von Verbrechen des Naziregimes“ von Ernst Müller - Meiningen jr. 90 Süddeutsche Zeitung vom 11. 7. 1958 : „Noch sind Mörder unter uns“ von Ernst Müller- Meiningen jr. 91 Andreas Wöll, Wolfgang Staudte – „Sicher sind es nicht die Filme, die das eigene Nest beschmutzen“. In : Claudia Fröhlich / Michael Kohlstruck ( Hg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 71–83, hier 73.

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ma“92 des Films von Staudte war auch Motiv und Gegenstand der von Müller Meiningen jr. im Sommer 1958 verfassten Kommentare. Er schrieb 1958 mit Blick auf den Fall Eisele und die Versäumnisse des zuständigen Staatsanwaltes, „dass dahinter zwar wohl keine Absicht im Sinne einer Sabotage steht, dass aber gerade in der Abrechnung mit unserer mörderischen Vergangenheit oft eine kaum fassbare Laxheit herrscht“. Wenn er in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten „im gegenwärtig laufenden UlmerProzess“ aufmerksam machte,93 erfasste Müller - Meiningen jr. die Probleme des strafrechtlichen Umgangs mit der Vergangenheit als systematische und strukturelle. Er brach zudem mit dem vergangenheitspolitischen Sprachgebrauch der 50er Jahre und einer weitreichenden Konfrontation der Zeitungsleser mit den Einzel - und Exzesstätern, wenn er, wieder ähnlich wie Staudte, vorsichtig die Brüche in den Biographien der Zeitgenossen und das komplexe Verhältnis von Schuld, Verantwortung und Neuanfang in Deutschland zum Thema seiner Berichterstattung machte. So hieß es bei ihm : „Die Auskehr des trüben Brunnenschachtes ist keine erfreuliche Sache, auch nicht für Gegner des vergangenen Regimes. Aber das Rechtsbewusstsein fordert, das Notwendige zu tun, als unerlässlichen Trennstrich gegen das verbrecherische [...] Gestern. Denn nichts ist giftiger als nicht aufgearbeitete Vergangenheit.“94 Deutlich wird seine Intention einer Problematisierung einer verdrängten und abgewehrten Vergangenheit im Kontext der politischen Kultur der Bundesrepublik auch in einem Artikel, den er im Juli 1958 anlässlich der Verurteilung von Martin Sommer verfasste. Zunächst listete er die in der Berichterstattung gängigen Stigmatisierungen Sommers auf. Müller - Meiningen jr. erinnerte an den „Henker von Buchenwald“ und die „Grauensfigur“, um dann sogleich darauf hinzuweisen, dass dieser Täter nur ein Exempel sei : „Repräsentativ ist der Angeklagte“, „ein Prototyp“. Müller - Meiningen jr. bemerkte, dass „das Häufchen Unmensch namens Sommer [...] vergleichsweise uninteressant“ sei. Vielmehr sollte dieser Prozess „für die Zeitgenossen [...] Mahnung sein, dass unser Staatswesen derart beschaffen bleibt, dass die Menschen nicht abermals Opfer der Unmenschen werden“. Und er fragte : „Wann wissen wir eigentlich in unserem politischen, in unserem staatlichen Leben genau, wo wir jeweils stehen ?“95 Betrachtet man die Berichterstattung in den überregionalen Zeitungen im Sommer 1958, so wird man kaum davon sprechen können, dass die Journalisten in ihrer Gesamtheit als kritisches Regulativ fungiert hätten. Vielmehr reproduzierte die Presseberichterstattung mehrheitlich die im Kontext der die Vergangenheit abwehrenden Politik und Rechtsprechung geprägten Bilder und 92 So Wolfgang Staudte in einem Interview in der Berliner Morgenpost im Januar 1959. Zit. nach Wöll, Staudte, S. 73. 93 Süddeutsche Zeitung vom 11. 7. 1958 : „Noch sind Mörder unter uns“ von Ernst MüllerMeiningen jr. 94 Ebd. 95 Süddeutsche Zeitung vom 5./6. 7. 1958 : „Martin Sommer – Schreckensprodukt der Diktatur“ von Ernst Müller - Meiningen jr.

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Argumente. Der Ulmer Prozess gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos wirkte dennoch als ein „Impuls“ für die justitielle Aufarbeitung der NSVerbrechen und war Anlass für die Gründung der Ludwigsburger Zentralen Stelle, weil einige Journalisten und politische Akteure die umfangreiche Berichterstattung über die in Osteuropa verübten Massenmorde nutzten, um eine systematisierte strafrechtliche Aufarbeitung von NS - Verbrechen einzufordern. Neben Müller - Meiningen jr. erhoben der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann und der baden - württembergische Justizminister Wolfgang Haußmann ( FDP / DVP ) im Sommer 1958 ihre Stimme in der Öffentlichkeit und plädierten für die Gründung einer zentralen Ermittlungsbehörde.

8.

Der Ulmer Prozess als Holocaust - Prozess

Für den Erfolg der von wenigen Journalisten und politischen Akteuren öffentlich erhobenen Forderung, eine zentrale Ermittlungsbehörde zu institutionalisieren, war auch entscheidend, dass die Verhandlung der „Strafsache KS 2/57 gegen Fischer - Schweder und 9 andere“ und die Berichterstattung über das Prozessgeschehen in Ulm im Sommer 1958 tatsächlich eine Zäsur markierten : Lange bevor sich deutsche Historiker mit der Organisation und Struktur des Holocaust befassten, rückte das Verfahren die Ermordung von Juden wenigstens einige Tage lang in den Blick. Zum ersten Mal waren die in den besetzten Gebieten Osteuropas an Juden verübten Massenverbrechen überhaupt Gegenstand eines großen Strafprozesses. Vor allem die regionalen Tageszeitungen berichteten im Sommer 1958 über die Zeugenaussagen96 und über die vor Gericht präsentierten Beweise, die die Dimensionen des Massenmordes dokumentierten. Während die Mehrheit der als Zeugen geladenen Polizisten, Offiziere, Soldaten und Zollbeamte nur selten richtige Angaben machte97 und die Perspektive der Tatbeteiligten reproduzierte, beeindruckten die Aussagen der wenigen jüdischen Überlebenden aus Litauen. Am 16. Juni 1958 berichtete Fanny Pitum über die Verfolgung und Ermordung ihrer Familie in Polangen und Kaunas, und am 10. Juli beschrieb die litauische Augenzeugin Ona Rudaitis im Ulmer Gerichtssaal, wie sie im Sommer 1941 die Erschießung von Hunderten von Frauen und Kindern bei Wirballen beobachtet hatte.98 Ihre Aussagen gaben den jüdischen Opfern im Gerichtssaal ein Gesicht; aber nicht nur hier. Der Süddeutsche Rundfunk führte ein Interview mit Ona Rudaitis, das am 17. Juli 1958 96 Vgl. z. B. Stuttgarter Nachrichten vom 4. 6. 1958 : „Einer der Angeklagten bricht zusammen“, vom 11. 6. 1958 : „Zeuge vor Gericht verhaftet“, vom 18. 6. 1958 : „Einsatzkommando Tilsit besonders rigoros“ und vom 23. 6. 1958 : „Sie mussten in ihr Massengrab steigen“. 97 Das bemerkte der Vorsitzende Richter Edmund Wetzel in seiner mündlichen Urteilsbegründung. Vgl. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, S. 66. 98 Vgl. ebd., S. 67, und Stuttgarter Nachrichten vom 11. 7. 1958 : „Augenzeugin einer Massenhinrichtung“.

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gesendet wurde.99 Auf diesem Weg erfuhr eine breitere Öffentlichkeit von den Mordaktionen in Litauen. Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Nellmann nutzte diese Berichterstattung über die bisher in Deutschland kaum wahrgenommenen nationalsozialistischen Massenverbrechen in Osteuropa, um Anfang September 1958 in einem Artikel in der „Stuttgarter Zeitung“ die Einrichtung einer zentralen Ermittlungsbehörde zu fordern.100 Es war seiner Initiative zu verdanken, dass der Prozess gegen Fischer- Schweder u. a. im Sommer 1958 überhaupt zustande gekommen war. Nellmann, in dessen Zuständigkeitsbereich die Ermittlungen geführt worden waren, hatte von der Absicht der Staatsanwaltschaft erfahren, diese einzustellen und dafür gesorgt, dass im Fall Fischer - Schweder Anklage erhoben wurde.101 Generalstaatsanwalt Nellmann konnte nun den baden - württembergischen Justizminister Haußmann überzeugen, dass die Probleme der justitiellen Aufarbeitung der NS - Vergangenheit auf Bundesebene zu thematisieren seien. Haußmann schlug dann in einem Schreiben an Bundesjustizminister Fritz Schäffer (CSU ) die Einrichtung einer zentralen Ermittlungsstelle vor, die unter Aufsicht des Generalbundesanwaltes stehen sollte. Zudem gelang es Haußmann, diesen Vorschlag auf der Konferenz der Justizminister Anfang Oktober 1958 in Bad Harzburg zur Diskussion zu stellen. Schäffer allerdings machte gegen die Einrichtung einer Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten verfassungsrechtliche Bedenken geltend. Allein einer in der Verantwortung der Länder getroffenen Vereinbarung wollte der Minister zustimmen. Das Bundesjustizministerium hatte bereits im Vorfeld der Justizministerkonferenz mit Verweis auf den föderalistischen Aufbau der Bundesrepublik argumentiert, jede Strafverfolgung sei Ländersache. Die Diskussion der Justizminister in Bad Harzburg zeigte, dass die Gründung der Zentralen Stelle weniger Ausdruck eines neuen Verantwortungsbewusstseins angesichts der Versäumnisse der strafrechtlichen Verfolgung der NS - Verbrechen, sondern „politisches Kalkül“ war. Gerhard Pauli resümiert, dass „Argumente politischer Opportunität – Aufmerksamkeit der Medien, Druck der Öffentlichkeit – angeführt werden [ mussten ], um diejenigen im Kreis der Justizminister, die am liebsten den Mantel des Vergessens über die gesamten Geschehnisse der Nazizeit breiten wollten, zu überzeugen“.102 Die Berichterstattung über das Ulmer Verfahren half jenen politischen Akteuren, die die systematische Verfolgung von NS - Verbrechen durchsetzen wollten, den nötigen politischen Druck herzustellen. Denn eine meinungsstarke Fraktion unter dem schleswig - holsteinischen Justizminister Bernhard Leverenz 99 Vgl. ebd. 100 Stuttgarter Zeitung vom 3. 9. 1958 : „Zentrale Ermittlungsbehörde muss Klarheit über NS - Verbrechen schaffen“ von Erich Nellmann. 101 Vgl. Gerhard Pauli, Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg – Entstehung und frühe Praxis. In : Die Zentralstellen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen – Versuch einer Bilanz. Hg. vom Justizministerium des Landes NRW, Düsseldorf 2001; S. 45–62, hier 46. 102 Pauli, Zentrale Stelle, S. 49.

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( FDP) zog die Notwendigkeit systematischer Ermittlungen gänzlich in Zweifel. Die Gegner einer zentralen Ermittlungsbehörde argumentierten, „man solle sich nicht zu Knechten der Presse oder öffentlichen Meinung machen“, und sie wiesen darauf hin, „eine Erforschung der Vergangenheit sei Aufgabe der Historiker, nicht der Justiz“. Auch der saarländische Justizminister Hubert Ney ( CDU) sprach sich gegen eine systematische Ermittlungsarbeit und für die „verdiente Ruhe“ aus, die man dem deutschen Volk „gönnen“ solle.103 Haußmann jedoch rechtfertigte seine Initiative und wies den Verdacht einer neuen Entnazifizierung zurück. Er verwies auf das die Justiz verpflichtende Legalitätsprinzip und machte darauf aufmerksam, dass Deutschland mit Blick auf die im Sommer 1958 noch einmal augenfällig gewordenen Versäumnisse strafrechtlicher Aufarbeitung der NS - Vergangenheit mit neuen Vor würfen aus dem Ausland rechnen müsse. Auch Bundesjustizminister Schäffer äußerte in Bad Harzburg, dass der Bund, auch wenn er nicht bereit sei, die Zuständigkeit für eine zentrale Ermittlungsstelle zu übernehmen, die Meinung vertrete, angesichts der Ereignisse müsse irgendetwas getan werden.104 Die Stimmung, irgendetwas tun zu müssen, stand offensichtlich auch im Zusammenhang mit den Propaganda - Kampagnen, die die DDR im Mai 1957 gestartet hatte. Albert Norden hatte am 23. Mai 1957 auf einer Pressekonferenz in Ost - Berlin die erste Broschüre mit den Namen von 118 westdeutschen Juristen präsentiert, die bereits zur NS - Zeit im Justizdienst gestanden hatten. Bis Ende 1959 enttarnte Ost - Berlin halbjährlich weitere 200 Juristen als „Blutrichter im Dienst des Adenauer - Regimes“. Während Schäffer das Material als kommunistische Propaganda abgetan hatte, nahm man es gerade das westliche Ausland sehr ernst. Das britische Unterhaus diskutierte bereits im Juli 1957 über die NS - Juristen in Westdeutschland und den damit verbundenen Bruch des Potsdamer Abkommens. Das Ansehen der Bundesrepublik schien gefährdet.105 Der Handlungsdruck auf die Bundesregierung und die westdeutsche Justiz war unter dem Eindruck der Kampagnen enorm gestiegen. Seit Ende 1957 beschäftigten sich die westdeutschen Justizminister im Rahmen ihrer Konferenzen mit der Thematik; in Bad Harzburg erzielte man nun Einigung, angesichts der gesamten Situation handeln zu müssen. Auf Grundlage eines Entschließungsantrages von Generalstaatsanwalt Haußmann wurde die Gründung der Zentralen Stelle beschlossen. Obwohl sich Haußmann nicht gewillt zeigte, das „heiße Eisen“ anzufassen, überließen die Justizminister Baden - Württemberg die konkrete Einrichtung und Organisation der Ermittlungsbehörde.106 103 Pauli, Zentrale Stelle, S. 47. Vgl. auch Greve, Umgang, S. 50 f. 104 Pauli, Zentrale Stelle, S. 18. 105 Vgl. Klaus Bästlein, „Nazi - Richter als Stützen des Adenauer - Regimes“. Die DDR - Kampagnen gegen NS - Richter und - Staatsanwälte, die Reaktionen der bundesdeutschen Justiz und ihre gescheiterte „Selbstreinigung“ 1957–1968. In : Helge Grabitz / Klaus Bästlein / Johannes Tuchel ( Hg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Berlin 1994, S. 408 ff. 106 Vgl. Greve, Umgang, S. 51; Pauli, Zentrale Stelle, S. 50.

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Kommentare von Regierung und Opposition

Auch die unmittelbaren Reaktionen von Regierung und Opposition auf das in Ulm ergangene Urteil gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos zeigten, dass im Sommer 1958 umstritten war, ob eine justitielle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Deutschland eher schade oder nutze. Die Parteien wussten, dass der Umgang mit der NS - Vergangenheit ein internationales Thema war. Als Regierungspartei kommentierte die CDU nach Verkündung des Urteils das Ulmer Prozessgeschehen als Bestätigung des vergangenheitspolitischen Kurses von Konrad Adenauer. Der Prozess zeuge für den „Willen des deutschen Volkes [...] die von den einstigen Schergen der Hitler - Diktatur verübten Schandtaten im Rahmen der Möglichkeiten demokratischer Gesetze zu ahnden“.107 Der Pressedienst von CDU / CSU beschrieb in seiner Erklärung das NSSystem erneut als Diktatur einer kleinen Führungsriege um Hitler und rechtfertigte die Vergangenheitspolitik der Regierung. Die SPD reagierte mit ihrer Presseerklärung auf die Befürchtungen, Deutschlands Ansehen werde angesichts neuer NS - Prozesse leiden. Die Zeitungen referierten die Auffassung der SPD : „Es sei aber richtiger, die so augenscheinlich blutbesudelte Weste zu säubern, statt zu erwarten, dass die Betroffenen und insbesondere das Ausland die Flecken übersehen. Das deutsche Ansehen sei allein durch die Verbrechen im Zeichen Hitlers zerstört.“ Die Presseerklärung der Opposition spiegelte einmal mehr die im Geschichtsbild verankerte Fixierung auf Hitler, zugleich aber sprach sich die SPD für die weitere juristische Aufklärung der NS - Verbrechen aus : Wenn überhaupt eine Chance bestehe, das Ansehen Deutschlands wiederherzustellen, „dann gewiss nicht dadurch, dass man keine Schuldigen suche“.108

10.

„Polarisierung der Bevölkerung“

Die Entscheidung der „Schwäbischen - Donau - Zeitung“ ( SDZ ), die Bevölkerung durch ein Flugblatt109 über die von Richter Edmund Wetzel verkündeten Strafen für die zehn Angeklagten des Tilsiter Einsatzkommandos am 29. August 1958 bereits um 10.00 Uhr – noch während Wetzel das Urteil im Gerichtssaal begründete – zu informieren, ist ein Indiz für das große Interesse am Verfahren. Ulmer Bürger, die im Schwurgerichtssaal keinen Platz mehr gefunden hatten, drängten sich vor dem im Justizgebäude ausgehangenen Extrablatt.110 Die Stimmung in der Bevölkerung war allerdings gespalten. In Umfragen des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung stimmten im August 1958 54 Prozent,

107 Stuttgarter Zeitung vom 30. 8. 1958 : „Hohe Zuchthausstrafen im Ulmer Prozess“. 108 Schwäbische Donau - Zeitung vom 2. 9. 1958 : „Historischer Gerichtsentscheid“. 109 Extrablatt der Schwäbischen Donau - Zeitung vom 29. 8. 1958 : „Das Urteil ist gesprochen !“. 110 Siehe das Foto in der Schwäbischen Donau - Zeitung vom 30. 8. 1958.

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also etwas mehr als die Hälfte der bundesweit Befragten, der Aussage zu, es sei „nicht einzusehen, warum jemand, der andere Menschen gequält oder getötet hat, straffrei ausgehen soll“, und „Verbrechen, die im oder vor dem Krieg begangen wurden,“ seien zu bestrafen.111 Auch die Briefe, die während des Prozesses beim Ulmer Gericht und der Staatsanwaltschaft eintrafen und in den Handakten archiviert wurden, zeugen von der gespaltenen Haltung der Deutschen zum Ulmer Verfahren. Viele Deutsche empfanden die Prozesse in Zeiten des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders als kontraproduktiv, könnten sie doch die „so mühsam eingetretene innere Ruhe unseres Volkes“ stören. Manche Briefschreiber äußerten sich antisemitisch, in vielen Zuschriften wurden die deutsche Schuld und Verantwortung relativiert, indem an die alliierten Luftangriffe und an das Leid der Flüchtlinge aus den früheren deutschen Ostgebieten erinnert wurde. Andere Deutsche begrüßten dagegen die Prozesse als Antwort des Rechtsstaates auf die nationalsozialistischen Verbrechen und betrachteten es als wichtige Aufgabe, die Öffentlichkeit über die im Zweiten Weltkrieg verübten Verbrechen zu informieren.112

11.

Lobby für die Verurteilten des Tilsiter Einsatzkommandos : von der „Stillen Hilfe“ bis zum Posaunenchor

Bereits während der Ermittlungen und des Verfahrens gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos hatten einige der Beschuldigten versucht, mit Hilfe von Zeugnissen und Beurteilungen ihre persönliche Integrität und ihre demokratische Gesinnung nachzuweisen.113 Die Verteidigung verfolgte das Ziel, das in den 50er Jahren präsente Bild von den unschuldig in die Verbrechen des NS - Staates verstrickten, integeren Einzelnen für die Angeklagten zu nutzen und so deren Entlastung zu erreichen. Auch nach dem Ulmer Urteil zerbrach die Lobby nicht. Im Gegenteil : Die „Stille Hilfe“ setzte sich für frühe Haftentlassungen der Verurteilten ein. Als Interessenvertretung der ehemaligen Nationalsozialisten hatte die „Stille Hilfe“ die NS - Prozesse von Beginn an kritisiert; nun unterstützte sie die Gnadengesuche, die die Familienangehörigen der im Ulmer Prozess Verurteilten eingereicht hatten.

111 Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann ( Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958–1964, Allensbach 1965, S. 221. 112 Zu den Briefen vgl. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, S. 78. 113 Vgl. z. B. das Zeugnis der „Stillen Hilfe“ für Werner Hersmann vom 1. 10. 1955 ( Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 322 II, Bü 18, Bl. 4771); Zeugnis der Firma Industrie - Vertretungen D. Schützler für Werner Hersmann, o. D. ( ebd., Bü 18, Bl. 4772); Zeugnis des Evangelisch - Lutherischen Stadtpfarramtes Donauwörth für Werner Hersmann vom 15. 11. 1954 ( ebd., Bü 18, Bl. 4773); Zeugnis von Prof. Dr. Karl Fulst S. J. für Edwin Sakuth vom 10. 6. 1948 ( ebd., Bü 22, Bl. 6003); Zeugnis des Landkreises Northeim über ehrenamtliches Engagement von Edwin Sakuth vom 18. 3. 1955 ( ebd., Bü 22, Bl. 6006).

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Der „Ulmer Einsatzgruppen - Prozess“ 1958

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Der stellvertretende Vorsitzende der „Stillen Hilfe“ bat ein Jahr nach Verurteilung um die Entlassung von Edwin Sakuth. In völliger Ausblendung der nachgewiesenen Tat – Sakuth war als Leiter des SD in Memel an der Gefangennahme und Erschießung von Juden in Garsden, Krottingen und Plangen beteiligt gewesen – argumentierte die „Stille Hilfe“, er habe „persönlich immer ein ordentliches Leben geführt“, und sah „alle Voraussetzungen gegeben, dass er auch in Zukunft ein gesetzmäßiges und ordentliches Leben führen wird“. Der Ulmer Prozess wurde als „Verhängnis“ abgestempelt, das über Sakuth und seine Familie „hereinbrach“. Schließlich wurden der Verurteilte und seine Familie zu Opfern stilisiert : „Wir glauben, dass 15 Jahre nach Kriegsende ein allgemeines Bedürfnis vorherrscht und bei der Entscheidung mit berücksichtigt werden sollte, Geschehenes zu überwinden, die Leiden zu heilen, die der Krieg gerade für den kleinen Mann zur Folge gehabt hat, und unser soziales Leben endlich zu normalisieren.“ Die Verurteilung Sakuths nicht als Täter, sondern als Gehilfe betrachtete die „Stille Hilfe“ als Bestätigung ihres Geschichtsbildes, denn Sakuth sei nur ein „kleiner Mann, kein Hauptverantwortlicher“ gewesen und „nur am Rande und fast zufällig in einen Teil der furchtbaren Geschehnisse verwickelt worden“.114 Für den Verurteilten Werner Schmidt - Hammer engagierten sich Geschäftsleitung und Betriebsrat der im württembergischen Heidenheim - Oberkochen ansässigen Firma Carl Zeiss in einem gemeinsamen Brief vom 8. August 1961. Schmidt - Hammer hatte bereits in den 30er Jahren für Zeiss gearbeitet und war im September 1949 wieder eingestellt worden. Vertreter der Geschäftsleitung und des Betriebsrates lobten sein „ausgeglichenes Wesen und eine charaktervolle Haltung in allen Fragen der Lebensauffassung“ und bestätigten, dass Schmidt - Hammer bei Carl Zeiss fachlich und persönlich hoch angesehen sei. Den 1958 geführten Prozess und die Verurteilung Schmidt - Hammers, der im Sommer 1941 die Erschießungskommandos der Schutzpolizei bei den Mordaktionen in Garsden, Krottingen und Polangen befehligt hatte, erkannten Geschäftsleitung und Betriebsrat nicht an : „Geschäftsleitung und Betriebsrat haben Strafprozess und Verurteilung des Herrn Schmidt - Hammer aufmerksam verfolgt. Sie würden nicht gezögert haben, den Verurteilten aus seinem Arbeitsverhältnis zu entlassen, wenn er ein Verbrecher wäre. Nach der gemeinsamen Überzeugung der obersten Organe der Firma Carl Zeiss ist er das nicht. Herr Schmidt - Hammer ist in tragischer Verkettung ohne eigenes Zutun in den Befehlsmechanismus des Dritten Reichs geraten, das ihn unter Täuschung und Zwang für fluchwürdige Zwecke missbrauchte.“115 Auch für Hans - Joachim Böhme, einen der Hauptangeklagten des Verfahrens, fand sich eine Lobby zur Unterstützung eines Gnadengesuchs. Der ehemalige 114 Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e. V. an den Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht in Ulm vom 6. 9. 1958 ( Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 322 II, Bü 22, Bl. 6008). 115 Stellungnahme des Betriebsrats und der Geschäftsleitung von Carl Zeiss vom 8. 8. 1961 ( ebd., EL 322 II, Bü 50, Bl. 7/9).

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Oberbürgermeister von Memel, Dr. Wilhelm Brindlinger, sah bei Böhme – der als Leiter der Staatspolizei Tilsit 1941 die meisten Erschießungsaktionen des Mordkommandos Tilsit in den litauischen Grenzorten organisiert hatte und 1958 zu zehn Jahre Zuchthaus verurteilt worden war – „mehr Tragik als Schuld“.116 Er bat deshalb, ebenso wie Otto Dullenkopf als amtierender Bürgermeister der Stadt Karlsruhe und Mitglied des baden - württembergischen Landtags,117 in einem Brief an Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger um Gnade für Böhme. Auch der Herausgeber und Chefredakteur der „Badischen Neuesten Nachrichten“, Wilhelm Baur, der Böhme Anfang der 50er Jahre zu einer Stelle bei der Bausparkasse Badenia verholfen hatte,118 bat Kiesinger um einen „Akt der Menschlichkeit und Barmherzigkeit“, um „den Mann und Vater seiner Familie zurückzugeben“.119 Für den verurteilten Franz Behrendt, der im Sommer 1941 für die Mordaktionen im Landkreis Krottingen verantwortlich gewesen war und sich an den Massakern in Garsden, Krottingen, Polangen und Vevirzeniai beteiligt hatte, engagierte sich im Juli 1959 der „Bund der vertriebenen Deutschen“. Er hoffte auf „eine baldige Heimkehr Behrendts zu seiner Familie“ und bezeugte dessen Loyalität zum neuen Staat, denn er werde sich „nach seiner Rückkehr [...] im demokratischen Sinne verhalten“.120 Auch der zum „Christlichen Männer - und Jünglingsverein“ gehörende Posaunenchor Stelle bescheinigte dem verurteilten Behrendt „treu zur Fahne unseres Herrn Jesu Christi gehalten und [...] im Posaunenchor zum Lobe Gottes mitgespielt“ zu haben.121 Dieses Schreiben steht exemplarisch für das in der westdeutschen Gesellschaft noch in den 60er Jahren weit verbreitete Verständnis für die Verurteilten. Sie galten nicht nur in Kreisen, die wie die „Stille Hilfe“ als Lobby der NS - Verbrecher agierten, sondern auch in den Augen vieler Deutscher nicht als rechtmäßig Bestrafte, sondern als integere Personen, die zufällig in ein staatliches Verbrechen involviert waren. Die Verurteilten wurden, wie es im Fall Behrendt hieß, in ihrer Heimat sehr „vermisst“, und man wünschte „von ganzem Herzen eine baldige Heimkehr“.122

116 Stellungnahme Wilhelm Brindlingers vom 8. 12. 1962 ( ebd., EL 322 II, Bü 51, Bl. 38/3). 117 Otto Dullenkopf an Ministerpräsident Kiesinger vom 9. 5. 1966 ( ebd., EL 322 II, Bü 51, Bl. 38/7). 118 Vgl. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, S. 32. 119 Wilhelm Baur an Ministerpräsident Kiesinger vom 3. 5. 1966 ( Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 322 II, Bü 51, Bl. 38/6). 120 Stellungnahme des Bundes der vertriebenen Deutschen, Ortsverband Stelle, vom 29. 7. 1959 ( ebd., EL 322 II, Bü 22, Bl. 5989). 121 Stellungnahme des Christlichen Männer - und Jünglingsvereins, Posaunenchor in Stelle, vom 1. 9. 1959 ( ebd., EL 322 II, Bü 22, Bl. 5990). 122 Ebd.

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Der „Ulmer Einsatzgruppen - Prozess“ 1958

12.

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Fazit

Berichterstattung und Wahrnehmung des Ulmer Prozesses gegen Angehörige des Tilsiter Einsatzkommandos markierten 1958 keine Zäsur, die die in den 50er Jahren versäumte Aufarbeitung der NS - Verbrechen beendete oder eine auf einem breiten Konsens basierende Epoche systematischer Aufklärung der Vergangenheit einläutete. Vielmehr spiegeln der Prozess, die Berichterstattung, die öffentliche Wahrnehmung und die rechtspolitische Wirkung eine bis mindestens in die späten 60er Jahre feststehende Geschichtsinterpretation : Der Nationalsozialismus galt als ein von Hitler und einem kleinen Führungskreis verantwortetes System, in das die Angeklagten als Gehilfen eher zufällig verstrickt worden waren. Verbrechen wurden einzelnen Exzesstätern zugeschrieben oder als im Rahmen von Befehlen begangene Taten qualifiziert, gegen die Widerstand nicht möglich gewesen sei. Die Befehle bewertete das Ulmer Gericht zwar als unrechtmäßig, dennoch entlasteten sie die Angehörigen der Einsatzkommandos von eigener Verantwortung. Die im Sommer 1958 erfolgte Verurteilung der Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos nicht wegen Täterschaft, sondern wegen Beihilfe zum Mord hatte innerjuristisch und öffentlich zur Folge, dass sich die – die Täter entlastende –Wahrnehmung des NS - Regimes als ein von den Deutschen nicht gewolltes, ihnen fremdes System verfestigte. Die Kritik an der Gehilfenjudikatur, die die Juristin Barbara Just - Dahlmann ab 1961 öffentlichkeitswirksam vortrug, machte sie zu einer Außenseiterin im Justizapparat.123 Auch die konkrete auf das Ulmer Verfahren bezogene Urteilskritik, die sich aus der Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen ableitete, fand keinen Eingang in die überregionale Berichterstattung. Die Opfer der NS - Massenverbrechen – im Ulmer Verfahren gaben ihnen überlebende litauische Juden Stimme und Gesicht – waren in der regionalen Berichterstattung repräsentiert, blieben im Sommer 1958 in der bundesweiten Presse weitgehend unbeachtet. Die Lobby, die sich während des Ulmer Verfahrens für die Angeklagten und später für die verurteilten Angehörigen des Einsatzkommandos Tilsit einsetzte, spiegelte in ihrer Breite und Zusammensetzung ebenfalls exemplarisch eine Konstellation der frühen Bundesrepublik wider. Revisionistische Kräfte verteidigten an der Seite von Honoratioren aus demokratischen Parteien, Vertretern der Kirchen und der Institutionen des Staates die ehemaligen Nationalsozialisten gemeinsam mit deren Angehörigen und Bekannten. Diese Lobby engagierte sich für die Entlastung der Beschuldigten und Angeklagten beziehungsweise für die Begnadigung der Verurteilten, zumeist ohne die rechtsstaatlichen Urteile anzuerkennen und die Dimensionen der begangenen Verbrechen zur Kenntnis zu nehmen. Der Topos, es habe Ende der 50er Jahre einen breiten Konsens für eine Systematisierung der juristischen Aufklärung der NS - Verbrechen gegeben, lässt sich 123 Vgl. Helmut Kramer / Barbara Just - Dahlmann – „Ludwigsburg öffnete uns schockartig die Augen, Ohren und Herzen“. In : Fröhlich / Kohlstruck, Demokraten, S. 201 ff.

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mit Blick auf die Wahrnehmung des Ulmer Einsatzgruppen - Prozesses nicht belegen. Vielmehr haben einzelne Akteure die Berichterstattung über den ersten großen westdeutschen Holocaust - Prozess als Kontext genutzt, um eine Institutionalisierung der juristischen Aufklärung der NS - Verbrechen zu fordern und durchzusetzen. Die Feststellung, ein gesellschaftlicher Konsens sei 1958 Grundlage für die Gründung der Ludwigsburger „Zentralen Stelle“ und damit für die Institutionalisierung der Aufklärung der NS - Vergangenheit gewesen, war ein von den späteren Leitern der Zentralen Stelle in der politischen Debatte über die Notwendigkeit der juristischen Aufklärung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen implementiertes interessengeleitetes Argument. Es half, die Arbeit der Ludwigsburger Justizbehörde zu rechtfertigen. Wahrnehmung und Wirkung des Ulmer Prozesses gegen die Angehörigen des Tilsiter Einsatzkommandos bestätigen damit die in den vergangenen Jahren in der Forschung etablierte Einschätzung, dass die Aufklärung der NS - Vergangenheit das Anliegen weniger engagierter Akteure war und gegen eine die Vergangenheit abwehrende politische und publizistische Mehrheit durchgesetzt werden musste.

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„Bleiben die Mörder unter uns ?“ Öffentliche Reaktionen auf die Gründung und Tätigkeit der Zentralen Stelle Ludwigsburg Annette Weinke

Mehr und mehr hat sich die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg – kurz : Zentrale Stelle – in den letzten zwei Jahrzehnten von einer aktiven Strafverfolgungsbehörde zu einem Erinnerungs - und Lernort entwickelt.1 Verschiedene Ereignisse der jüngeren Institutionengeschichte machen den allmählichen Bedeutungswandel deutlich : Im Jahr 2000 zog das Bundesarchiv mit einer eigenen Außenstelle in die Räumlichkeiten der Behörde ein, um Teile des dort lagernden Aktenmaterials – überwiegend Kopien von Dokumenten aus der NS- Zeit und nach dem Krieg entstandene Ermittlungs - und Prozessakten – für die zeitgeschichtliche Forschung und die politische Bildung zu erschließen und aufzubereiten.2 Parallel dazu wurde in Ludwigsburg eine wissenschaftliche Forschungsstelle der Universität Stuttgart eingerichtet, die sich vornehmlich der Erforschung der nationalsozialistischen Gewalt - und Vernichtungsgeschichte und deren Nachwirkungen in Deutschland und Europa widmet.3 Zusammen mit der weiterhin aktiven Vorermittlungsstelle ist damit ein Drei - Säulen - Modell entstanden, das langfristig sicherstellen soll, dass die umfangreichen Hinterlassenschaften jahrzehntelanger strafrechtlicher Ermittlungsarbeit auch nach dem Ende der letzten NS - Prozesse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zugänglich bleiben. 1

2

3

Vgl. Peter Steinbach, Die Ludwigsburger „Zentrale Stelle“ als deutscher Erinnerungsort. Rede zum 40. Jahrestag der Gründung der Zentralen Stelle, gehalten am 2. Dezember 1998. In : Hans H. Pöschko ( Hg.), Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Berlin 2008, S. 10–25. Vgl. Hartmut Weber, Die Rolle der Archive bei der Aufarbeitung der totalitären Diktaturen. In : Klaus Hildebrand / Udo Wengst / Andreas Wirsching ( Hg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift für Horst Möller, München 2008, S. S. 541–553; Andreas Kunz, NS - Gewaltverbrechen, Täter und Strafverfolgung : Die Unterlagen der Zentralen Stelle der Landesjustizver waltungen in Ludwigsburg. In : Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 4 (2007) 1–2, S. 233–245. Vgl. Klaus - Michael Mallmann, Die Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart. In : Hans H. Pöschko ( Hg.), Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Berlin 2008, S. 178 f.

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Seit September 2004 existiert zudem auf dem Gelände der Zentralen Stelle eine Dauerausstellung, welche die Probleme der strafrechtlichen Aufarbeitung dokumentiert, gleichzeitig aber auch nach den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fragt, unter denen die „Ermittler von Ludwigsburg“ seit Ende der 50er Jahre ihrem oftmals schwierigen Aufklärungsgeschäft nachgingen. Sie richtet sich bewusst an ein breites Publikum und verzeichnet seit Jahren unverändert hohe Besucherzahlen.4 Schließlich wurde im Dezember 2008 das fünfzigjährige Jubiläum der Zentralen Stelle mit einem großen Festakt im Ludwigsburger Barockschloss begangen. In seiner Eröffnungsansprache nannte Bundespräsident Horst Köhler die Zentrale Stelle „ein Bekenntnis gegen Verdrängung und Schlussstrich“. Und geradezu emphatisch fügte Köhler hinzu, es sei ganz wesentlich dieser Behörde und ihren Bemühungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen zu verdanken, dass Deutschland „heute wieder ein geachtetes Mitglied der Völkerfamilie“ sei und „aus einstigen Kriegsgegnern Freunde“ geworden seien.5

1.

Deutsche Befindlichkeiten „nach Auschwitz“

Als die Zentrale Stelle am 1. Dezember 1958 ihre Arbeit aufnahm, deutete noch nichts auf diese spätere Entwicklung hin. Im Gegenteil, alle äußeren Anzeichen sprachen dafür, dass die Ludwigsburger Behörde das bleiben würde, was sie nach Vorstellung ihrer Gründerväter ursprünglich hätte sein sollen : Ein provisorisches Gebilde nämlich, das nach einigen Jahren wieder aufgelöst werden würde, nachdem es seine Hauptaufgabe – die systematische Aufklärung nationalsozialistischer Massenverbrechen jenseits der alten Reichsgrenzen – in mehr oder weniger geräuschloser Weise erledigt hatte.6 In Anbetracht fehlender offizieller Informationspolitik blieb auch das öffentliche Echo auf die Einrichtung eher skeptisch - verhalten bis indifferent.7 Als beispielsweise der Frankfurter Soziologe, Philosoph und deutsch - jüdische Remigrant Theodor W. Adorno im Herbst 1959 seinen später viel zitierten Vortrag „Was bedeutet : Aufarbeitung 4 5

6

7

URL : http ://www.gedenkstaetten - bw.de / gedenkstaetten_anzeige.pdf ?tx_lpbgedenkstaetten_pi1[ showUid ]=486&cHash=e516c686d5. Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler auf der Festveranstaltung zum 50. Jahrestag der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen am 1. Dezember 2008 in Ludwigsburg ( URL : http://www.bundesregierung.de / nn_1514/ Content / DE / Bulletin /2008/12/135–1– bpr.html ). Die von Edgar Wolfrum geäußerte These, der zufolge die Zentrale Stelle auch in der Absicht gegründet worden sei, die Erinnerung an die NS - Verbrechen wachzuhalten, ist insofern zu differenzieren. Im Mittelpunkt des rechtspolitischen Interesses standen rechtsstaatliche und außenpolitische Überlegungen. Vgl. Edgar Wolfrum, Die beiden Deutschland. In : Volkhard Knigge / Norbert Frei ( Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 153–169. Zu den bundesdeutschen Pressereaktionen vgl. Heike Krösche, Zur öffentlichen Reaktion auf die Gründung der Zentralen Stelle. In : Pöschko ( Hg.), Ermittler, S. 123–135.

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Gründung der Zentralen Stelle Ludwigsburg

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der Vergangenheit“ vor dem Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich - Jüdische Zusammenarbeit hielt, fiel es ihm nicht ein, die ein Jahr zuvor gegründete Justizbehörde auch nur mit einem Wort zu streifen.8 Dennoch enthielt seine Beobachtung, nicht das Bewusste, sondern das „Halb - und Unbewusste“ im mentalen Gepäck der Nachkriegsdeutschen könne sich als das eigentliche Verhängnis für die westdeutsche Demokratie erweisen,9 auch einige relevante Einsichten zum Thema „Ludwigsburg“ – vorausgesetzt, man liest seine Bemerkungen mit einem gewissen Sinn für Dialektik. Einer der Hauptkritikpunkte in Adornos Rede war, die westdeutsche Gesellschaft habe sich in Bezug auf die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit allzu lange einen leichtfertigen Umgang mit dem Faktor Zeit geleistet. Gemeint war eine Haltung, welche die Über windung des Nationalsozialismus als ein Unternehmen in langen Zeiträumen begriff, eine Angelegenheit, die sich sozusagen durch den natürlichen Ablauf der Generationenfolge von selbst erledigen würde. Im Begriff des „Zeithabens“ stecke aber „etwas Naives und zugleich schlecht Kontemplatives. Weder sind wir bloße Zuschauer der Weltgeschichte, die sich innerhalb ihrer Großräume mehr oder minder unangefochten tummeln können, noch scheint die Weltgeschichte selbst, deren Rhythmus zunehmend dem der Katastrophe sich anähnelt, ihren Subjekten die Zeit zuzubilligen, in der alles von selber besser werde.“10 Adornos Warnungen vor den Folgen bequemer und selbstzufriedener Vergesslichkeit schienen sich in den Augen vieler Zeitgenossen bereits kurze Zeit später zu bestätigen, als die Bundesrepublik im Dezember 1959 von einer antisemitischen Schmierwelle heimgesucht wurde, worauf Bundesregierung und westdeutsche Öffentlichkeit mit starker Verunsicherung und kaum zu übersehender Hilf losigkeit reagierten.11 Für die Beantwortung der Frage, welche öffentlichen Reaktionen die Einrichtung der Zentralen Stelle hervorgerufen hat, erscheint Adornos Kritik an einem „zeitvergessenen“ Umgang mit der NS - Vergangenheit insofern aufschlussreich, als dessen prinzipielle Einwände in gewisser Weise auch die Geschichte der strafrechtlichen Aufarbeitung in der Bundesrepublik betreffen, obwohl sich der Wissenschaftler zu diesem Thema bekanntlich nie öffentlich äußerte. Denn bei 8 Die Literaturwissenschaftlerin Mirjam Wenzel vertritt die Auffassung, Adorno habe es grundsätzlich abgelehnt, sich öffentlich zur Problematik der juristischen Aufarbeitung zu äußern, da er die in Europa und Israel geführten NSG - Verfahren als „Bestandteil einer an sich unmöglichen Kultur nach Auschwitz“ verstanden habe. So Mirjam Wenzel, Gericht und Gedächtnis. Der deutschsprachige Holocaust - Diskurs der sechziger Jahre, Göttingen 2009, S. 224. 9 Grundlage des Vortrags war ein bereits im Mai 1959 veröffentlichter Aufsatz gleichen Titels : Theodor W. Adorno, Was bedeutet : Aufarbeitung der Vergangenheit. Wiederabgedruckt in : Eberhard Rathgeb, Deutschland kontrovers. Debatten 1945 bis 2005, Bonn 2005, S. 110–112, hier 112. 10 Ebd., S. 111. 11 Vgl. Shida Kiani, Zum politischen Umgang mit Antisemitismus in der Bundesrepublik. Die Schmier welle im Winter 1959/1960. In : Stephan Alexander Glienke / Volker Paulmann / Joachim Perels ( Hg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik ? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 115–145.

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genauerer Betrachtung der äußeren Umstände, unter denen sich im Herbst 1958 die Gründung der Ludwigsburger Stelle vollzog, fällt ins Auge, dass die politischen Entscheidungsträger von einem Zeithorizont ausgingen, der kaum mehr als ein halbes Jahrzehnt umfassen sollte. Neuere historiographische Studien zur Geschichte der Zentralen Stelle kommen zu dem Befund, der Faktor Zeit sei bereits im Zuge des – über wiegend hektisch verlaufenden – Planungsstadiums stark unterschätzt worden.12 Zwar wurde durch die Aufnahme systematischer Ermittlungen einer weiteren Verdrängung der Vergangenheit in objektiver Hinsicht wirksam entgegengewirkt. Im Gegensatz dazu stand aber die subjektive Haltung des Bundesjustizministeriums und der Justizministerien der Länder, dass man der Bewältigung dieser politischen, rechtlichen und moralischen Herausforderung nur wenige Jahre zubilligen wollte. Nicht das kollektive Gefühl des „Zeithabens“, sondern die Einschätzung, einer überwiegend indifferent bis ablehnend eingestellten Bevölkerung die strafrechtlichen Ermittlungen nur unter der Bedingung zumuten zu können, wenn diese in möglichst kurzer Zeit durchgeführt würden,13 kennzeichnete somit die sozialpsychologische Ausgangssituation zu Beginn der großen bundesdeutschen NS - Prozesse. Während die Erforschung der NS - Prozesse im Kontext westdeutscher Vergangenheits - und Geschichtspolitik während der letzten anderthalb Jahrzehnte einen Boom erlebte, bleibt die Frage nach dem Zusammenspiel von juristischer Aufarbeitung, Historiographie und Erinnerungskultur sowie nach den Einflüssen der Gerichtsberichterstattung auf die Herausbildung mediengeprägter Geschichtsbilder14 weiterhin ein Desiderat der zeithistorischen Forschung. Obwohl den großen, publikumswirksamen Prozessen gemeinhin eine transformatorische Bedeutung für die Erinnerung an die NS - Verbrechen zugeschrieben wird, fehlt es weiterhin an Studien, die sich in systematischer Weise mit dieser Thematik auseinandersetzen.15 Die Untersuchung der Frage, ob und in welcher Form verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf die Gründung der Zentralen Stelle reagiert haben, ist mit verschiedenen inhaltlichen und methodischen Schwierigkeiten behaftet. Ein empirisches Grundproblem liegt einerseits darin, dass Behörden nur selten zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen werden,

12 Vgl. Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004; Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958– 2008, Darmstadt 2008. 13 Laut Umfrageergebnissen von August 1958 sprachen sich zu diesem Zeitpunkt 54 Prozent für eine Fortsetzung der Strafverfolgung aus, während 34 Prozent dagegen votierten. Vgl. Krösche, Reaktion, S. 135. 14 Vgl. Georg Wamhof, Gerichtskultur und NS - Vergangenheit. Performativität – Narrativität – Medialität. In : ders. ( Hg.), Das Gericht als Tribunal oder : Wie der NS - Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009, S. 9–37. 15 Zu den wenigen Ausnahmen zählen : Devin O. Pendas, The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965. Genocide, History and the Limits of the Law, Cambridge 2006; Sabine Horn, Erinnerungsbilder. Auschwitz - Prozess und Majdanek - Prozess im westdeutschen Fernsehen, Essen 2009.

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sondern Verwaltungshandeln zumeist im Zusammenhang mit bestimmten strukturellen Problemlagen oder dem Verhalten einzelner Repräsentanten erörtert wird. So trat die Zentrale Stelle nur gelegentlich in das Rampenlicht der Öffentlichkeit, so beispielsweise anlässlich der Verjährungsdebatten oder des Jerusalemer Eichmann - Prozesses. Typische Probleme der westdeutschen NS - Strafverfolgung, wie etwa die unbefriedigend wirkende Spruchpraxis oder die Asymmetrie zwischen Täter - und Opferzeugen in den Gerichtsprozessen, die in der zeitgenössischen Berichterstattung des Öfteren kritisch kommentiert wurden, spielten für die Wahrnehmung der Ludwigsburger Ermittlungstätigkeit so gut wie keine Rolle. Andererseits zeichnete sich die Geschichte der bundesdeutschen NS - Strafverfolgung dadurch aus, dass die öffentliche Debatte – zumindest galt dies für die Anfangsjahre – über weite Strecken ein Disput zwischen juristischen Experten und Rechtspraktikern blieb. Weder lässt sich eine kontinuierliche und anhaltend breite gesellschaftliche Diskussion über Funktion und Wirkungsweise der Zentralen Stelle feststellen, noch unternahm die Rechtspolitik den Versuch, die Öffentlichkeit des In - und Auslands über die eigentliche Bedeutung der Behörde aufzuklären. Vielmehr kamen entsprechende Ansätze, die sich Mitte der 60er Jahre durchaus nachweisen lassen, niemals über ein Anfangstadium hinaus.16 Die komplexen Ursachen für diese selbstverordnete öffentlichkeitspolitische Zurückhaltung, die in einem auffälligen Gegensatz zu der bereits vor Gründung einsetzenden Instrumentalisierung „Ludwigsburgs“ für die vergangenheitspolitische Imagepflege der Bundesregierung stand,17 sind nur in Ansätzen erforscht. Ein entscheidender Grund dürfte das defensiv - etatische Öffentlichkeitsverständnis der Adenauer - Regierung gewesen sein, das aufgrund seines therapeutischen Ansatzes letztlich nicht in der Lage war, auf die Dynamiken westdeutscher Vergangenheitsdiskurse zu reagieren.18 Hinzu kam, dass die Zentrale Stelle schon aufgrund ihres bescheidenen Etats und ihrer mageren personellen Ausstattung nicht über die Kapazitäten verfügte, in systematischer Form professionelle Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.

16 Eine entsprechende Broschüre, welche die Bundeszentrale für politische Bildung 1965 bei dem NSG - Experten Wolfgang Scheff ler in Auftrag gegeben hatte, wurde nie fertiggestellt. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung an Bundesministerium des Innern vom 18. 6. 1968 ( BAK, B 106, 54006). 17 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 172. 18 Matthias Weiß, Öffentlichkeit als Therapie. Die Medien - und Informationspolitik der Regierung Adenauer zwischen Propaganda und kritischer Aufklärung. In : Frank Bösch / Norbert Frei ( Hg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 73–120; Weinke, Gesellschaft, S. 107–110.

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2.

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„Ulm“ und die Folgen

Entscheidend für den Beschluss, eine Vorermittlungsbehörde für NS - Straftaten einzurichten, war ein in Ulm stattfindender, aufsehenerregender Strafprozess gegen frühere Angehörige eines im deutsch - litauischen Grenzstreifen operierenden Sonderkommandos, das in den ersten Wochen und Monaten nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion große Teile der jüdischen Zivilbevölkerung massakriert hatte.19 Dieses Verfahren sollte langfristig die öffentliche und wissenschaftliche Wahrnehmung des Holocaust in der Bundesrepublik in entscheidender Weise prägen. Kurzfristig führte es aber vor allem zu einer Wende in der Strafpolitik. Schlaglichtartig hatte der Ulmer Einsatzgruppenprozess, wie das Verfahren in der zeitgenössischen Presse genannt wurde, die Defizite beleuchtet, die durch die kontinuierlich nachlassende Verfolgungsintensität bundesdeutscher Staatsanwaltschaften seit Anfang der 50er Jahre – insbesondere bei der Aufklärung von Genozid - Verbrechen in den ehemals besetzten Ostgebieten – entstanden waren. Infolge der geharnischten Kritik, die sich in Teilen der meinungsführenden Presse, vor allem aber innerhalb der Justiz selbst erhob, war die Politik gefordert, den Missständen möglichst rasch Abhilfe zu schaffen. Auf Empfehlung des Bundes fassten die Justizminister deshalb im Herbst 1958 auf ihrer jährlichen Zusammenkunft den Entschluss, per Verwaltungsvereinbarung eine interföderale Vorermittlungsbehörde zu errichten, die sich schwerpunktmäßig mit der Aufklärung von KZ - und Einsatzgruppenverbrechen jenseits der alten Reichsgrenzen befassen sollte.20 Der von dem Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer geäußerte Rat, eine größere Einrichtung zu gründen, in der Juristen gemeinsam mit Historikern und Archivaren sowohl an der Aufklärung von Straftaten als auch an der politisch - pädagogischen Vermittlung von Geschichte mitwirken sollten, wurde hingegen von der Rechtspolitik verworfen. Obwohl die Ludwigsburger Zentrale Stelle während der ersten sechs Jahre ihrer Existenz niemals über den Status einer Rumpfbehörde hinauskam, erwies sie sich nichtsdestotrotz als überraschend effektiv. Bereits in den ersten zwölf Monaten nach Gründung kamen an die 400, teilweise mehrere Hundert Beschuldigte betreffende Vorermittlungsverfahren in Gang.21 Gegenstand der bearbeiteten Großverfahren waren zunächst ausschließlich Tötungsverbrechen in den von Deutschland annektierten oder besetzten osteuropäischen Staaten.

19 Zur Rezeption des Ulmer Verfahrens vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 10–20; sowie den Beitrag von Claudia Fröhlich in diesem Band. 20 Zur Gründung der Ludwigsburger Zentralen Vorermittlungsstelle vgl. Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS - Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001, S. 43–87; Annette Weinke, Die Verfolgung von NSTätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder : Eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002, S. 82 ff.; von Miquel, Ahnden, S. 146–186. 21 Vgl. Adalbert Rückerl, NS - Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, 2. Auflage Heidelberg 1984, S. 147.

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Zu den Schwerpunkten der Ermittlungsarbeit zählten insbesondere die großen Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka, Belzec, Chelmno und Sobibor. Dieser Aspekt der nationalsozialistischen Politik war zwar in den Nürnberger Prozessen einige Male thematisiert, mit Ausnahme des Lagers Auschwitz jedoch nicht vertieft worden, so dass das kollektive Schicksal der polnischen Juden im Generalgouvernement bis dahin zumindest im Westen Europas keine gesonderte Beachtung gefunden hatte. Abgesehen davon, dass die Zentrale Stelle über keine Exekutivbefugnisse verfügte, wies sie auch einige andere Besonderheiten auf, die sie von einer normalen Staatsanwaltschaft unterschieden. Der wichtigste Unterschied war, dass sie – gestützt auf einen Anfangsverdacht und unter Rückgriff auf die Dokumentensammlung des alliierten Nürnberger Prozesses – zunächst immer eine umfassende historische Sachaufklärung großer Tatkomplexe betrieb, bevor in einem zweiten Schritt die rechtliche Frage geprüft wurde, welche Fälle zwecks Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens an die Staatsanwaltschaften übergeben werden mussten. Aufgrund dieser Methode waren die Ludwigsburger Strafverfolger gezwungen, sich fundierte Hintergrundkenntnisse zu zentralen Ereignissen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik anzueignen, die sich über die Jahre zu einem eindrucksvollen Fundus an sachlichen und biografischen Daten verdichteten.22 Zu den Aufgabenstellungen der Zentralen Stelle gehörte weiterhin, sich in systematischer Weise mit den jeweiligen Verantwortlichkeiten, Handlungsspielräumen und Motiven der Tatbeteiligten zu befassen. Dadurch gelang es, das von vielen Beschuldigten bemühte Entlastungsargument zu widerlegen, sie hätten ihre Verbrechen unter dem Druck eines angeblich drohenden „Befehlsnotstands“ verübt.23 Auch wenn viele dieser Erkenntnisse von den westdeutschen Gerichten nicht aufgegriffen wurden, sind dadurch empirische Grundlagen geschaffen worden, die zumindest theoretisch von der NS Forschung hätten genutzt werden können. Jedoch flossen die staatsanwaltschaftlichen Erkenntnisse erst seit Anfang der 80er Jahre allmählich in die Historiographie ein, als sich das Interesse von eher staatspolitisch und strukturgeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen zu Fragestellungen des Alltags und der Subjekte verschob.24 In den 60er Jahren, und auch dies gehört zu den weiterhin unerforschten Fragen nach der öffentlichen Resonanz auf die Zentrale Stelle, kam es zwar zeitweise zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Justiz und Zeitgeschichte bei der Aufklärung deutscher Besatzungsverbrechen in Osteuropa. Daraus entwickelte sich jedoch weder eine nachhaltige Kooperation, 22 Vgl. Martin Broszat, Juristische und zeitgeschichtliche Bewältigung der Vergangenheit. In : Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat. Hg. von Hermann Graml und Klaus - Dietmar Henke, München 1987, S. 42– 49. 23 Vgl. Erich Haberer, History and Justice : Paradigms of the Prosecution of Nazi Crimes. In : Holocaust & Genocide Studies, 19 (2005), S. 487–519, hier 498. 24 Michael Wildt, Die Epochenzäsur 1989/90 und die NS - Historiographie. In : Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 5 (2008) 3, S. 349–371.

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noch lösten die Ermittlungsergebnisse der Zentralen Stelle einen epistemischen Schub in der westdeutschen Holocaust - Forschung aus.25 Was die gedächtnisgeschichtliche und erinnerungskulturelle Entwicklung betrifft, markierte die Gründung der Zentralen Stelle aber den Beginn eines qualitativen Wandels im Umgang mit der NS - Vergangenheit. Mit der Einrichtung dieser Institution etablierte sich auch ein spezifisches „juridisches Feld“ im Sinne Pierre Bourdieus,26 das für die Aufarbeitungs - und Transformationsgeschichte der alten Bundesrepublik während eines begrenzten Zeitraums besonders einflussreich werden sollte. So war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zumindest in den 60er und 70er Jahren maßgeblich dadurch geprägt, dass Politik, Justiz und Öffentlichkeit als hauptsächliche Akteure der Aufarbeitung auftraten, die sowohl thematische Schwerpunkte vorgeben als auch über sprachliche und visuelle Sagbarkeitsregeln bestimmen konnten. Nicht die Wissenschaft, sondern politische und juristische „Entscheider“ sowie deren mediale Verstärker dominierten während dieser Umbruchphase den Betrieb der westdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“, wie das Phänomen der autochthonen Aufarbeitung in Abgrenzung zur alliierten Entnazifizierungspraxis zeitgenössisch genannt wurde. Aus Sicht der zeitgeschichtlichen Forschung stellt sich somit nicht nur die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen diesen verschiedenen Trägern der Aufarbeitungspraxis, sondern von Interesse ist auch, inwiefern sich dabei langfristige Veränderungen in Bezug auf Einstellungen und Verhaltensmuster feststellen lassen.27 Wie die Forschung herausgearbeitet hat, erfolgte die Einrichtung der Zentralen Stelle in einem öffentlichkeitspolitischen Umfeld, das durch eine zunehmende Sensibilität und Konfliktbereitschaft gegenüber vergangenheitspolitischen Themen geprägt war.28 Verschiedene politische und gesellschaftliche Entwicklungen – zu nennen sind hier vor allem die Folgen von Adenauers Moskau Besuch im September 1955 und die dadurch ausgelöste Heimkehrerwelle, wachsende Probleme bei der Reintegration entlassener Häftlinge aus den alliierten Strafanstalten Landsberg, Werl und Wittlich sowie die Überprüfung sogenannter 131er - Fälle durch die Innenverwaltungen von Bund und Ländern – führten dazu, dass sich die staatlichen Behörden in der zweiten Hälfte der 50er Jahre vermehrt mit der Aufgabe konfrontiert sahen, die Beteiligung einzelner Personen an NS - Verbrechen überprüfen zu müssen. Eine weitere Ursache für die 25 Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt Haberer, History and Justice, S. 494. 26 Pierre Bourdieu, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique. In : Actes de la recherche en sciences sociales, 64/1986, S. 3–19. 27 Vgl. vor allem Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. 28 Vgl. Axel Schildt, Der Umgang mit der NS - Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit. In : Wilfried Loth / Bernd - A. Rusinek ( Hg.), Verwandlungspolitik. NS - Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 19–54; Clemens Vollnhals, Zwischen Verdrängung und Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. In : Ursula Büttner ( Hg.), Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 381–422.

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gestiegene gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die dem Thema der NS - Verbrechen seit Mitte jenes Jahrzehnts zuteil wurde, war ein Generationenwechsel in Politik, Justiz und Medien, wobei damit allerdings noch nichts über den inhaltlichen Fokus der Auseinandersetzung gesagt ist. Die ältere Gründergeneration der Bonner Republik, die den Nationalsozialismus noch aus eigener Anschauung erlebt hatte, begann gegen Ende der 50er Jahre langsam von der politischen Bühne abzutreten, vergleichbare Entwicklungen vollzogen sich in der bundesdeutschen Justiz und in den Redaktionsstuben lokaler und überregionaler Zeitungen. Constantin Goschler hat vor einiger Zeit auf die Folgen aufmerksam gemacht, die sich aus dem Zusammenwirken von generationellem Wandel und dem Entstehen einer neuen politischen Bürgerlichkeit in Bezug auf die westdeutsche Wiedergutmachungspraxis ergaben. Während die Trägerschichten der Wiedergutmachungspolitik, darunter in Weimar geprägte Politiker und Juristen, damit das Ziel einer Wiederherstellung des „Rechtsstaats“ und der „nationalen Ehre“ verfolgt hätten,29 habe die nachfolgende Generation der um 1930 Geborenen ihren Blick nicht mehr in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft gerichtet. Die fehlende biographische Verbundenheit dieser „Generation Schlussstrich“ mit dem Nationalsozialismus ließ sie die Entschädigung der Opfer nicht als moralische Verpflichtung, sondern vor allem als abstrakte Rechtsfrage betrachten.30 Dies habe dazu geführt, dass die Wiedergutmachungsbemühungen Mitte der 60er Jahre abebbten und erst zu Beginn der 80er Jahre, unter gewandelten moralpolitischen und erinnerungskulturellen Bedingungen, wieder aufgenommen worden seien. Angesichts dieser empirischen Befunde erscheint es ebenso auffällig wie erklärungsbedürftig, dass sich bei der strafrechtlichen Konfrontation mit den NS - Verbrechen trotz anhaltendem Hang zur Apologie zumindest teilweise gegenläufige Tendenzen herausbildeten, die Marc von Miquel mit den Begriffen „Distanzierung“ und „Aufklärung“31 umschrieben hat : Ungeachtet stetig anwachsender rechtspopulistischer Strömungen in der westdeutschen Gesellschaft – seit Anfang der 60er Jahre nahm die Akzeptanz für die NS - Prozesse rapide ab, während die 1964 gegründete NPD mit ihrem Kampf gegen den „Ungeist der Unterwerfung und die Anerkennung einer Kollektivschuld“ erfolgreich auf Stimmenfang ging32 – manifestierten sich in dem 1965 gefassten Parlamentsbeschluss zur Verjährungsfrage ( nach einer langen und intensiven 29 Constantin Goschler, Politische Moral und Moralpolitik. Die lange Dauer der „Wiedergutmachung“ und das politische Bild des „Opfers“. In : Habbo Knoch ( Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 138–156, hier 145. 30 Ebd., S. 152. 31 Marc von Miquel, Aufklärung, Distanzierung, Apologie. Die Debatte über die Strafverfolgung von NS - Verbrechen in den sechziger Jahren. In : Norbert Frei / Sybille Steinbacher ( Hg.), Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001, S. 51–70. 32 Zit. nach Axel Schildt, Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005, S. 129.

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Debatte wurde die Verjährungsfrist schließlich um vier Jahre verschoben33) und in der parallel dazu vorgenommenen Kompetenzer weiterung der Zentralen Stelle nicht nur ein verändertes Verständnis vom Gewaltcharakter des Nationalsozialismus, sondern, damit zusammenhängend, auch eine gewandelte politische Moral. Bemerkenswert daran war, dass diese neue Moralität im Umgang mit dem Nationalsozialismus und dessen Verbrechen zwar nicht ausschließlich, aber doch mit größerer Emphase gerade von jüngeren Abgeordneten eingefordert wurde. Von weitreichender Bedeutung für die öffentliche Wahrnehmung der NS - Ermittlungen war zudem, dass in diesem Zusammenhang auch erstmals eine Verknüpfung zwischen dem traditionellen Diskurs der nationalen Ehre und der moralischen Verpflichtung zur Erinnerung stattfand.34 Von den Medien wurden diese semantischen Verschiebungen nicht nur mitgetragen, sondern vielfach überhaupt erst vorbereitet. Bedingt durch die Ablösung einer älteren Journalistengeneration, deren Berufskarrieren vielfach schon unter dem Nationalsozialismus begonnen hatten, wandten sich viele jüngere Medienmacher seit den späten 50er Jahren bewusst und in dezidiert kritischer Absicht dem Problem der „Mörder unter uns“ zu.35 Kontinuierlich neue Nahrung erhielt der „zeitkritische Journalismus“ der sogenannten „45er“ durch die Enthüllungsaktionen der SED - Propaganda, die sich nicht zuletzt gegen NS - belastete Juristen in der bundesdeutschen Rechtspflege richteten.36 In auffälligem Gegensatz dazu stand allerdings, dass die meisten Journalisten – auch die der jüngeren Generation – die restriktiven Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der nationalen NS Prozesse kaum zu kritisieren wagten. Zumindest bis in die 70er Jahre herrschte in der Gerichtsberichterstattung ein konsensualer Ton vor, der – so die Formulierung von Sabine Horn – die Journalisten gewissermaßen „in Richtung Zukunft unter dem Problem der NS - Vergangenheit“ durchtauchen ließ.37 Eine Verknüpfung zwischen den strukturellen Defiziten der NS - Ermittlungen, verkörpert durch das Ludwigsburger Modell, und den vielfach skandalösen Schwurgerichtsurteilen fand deshalb im westdeutschen Mediendiskurs so gut wie nicht statt. Man kann dies als Zeichen anhaltender journalistischer Autoritätsgläubigkeit gegenüber Rechtspolitik und Rechtsprechung bewerten.38 Es ist aber auch möglich, darin einen Schulterschluss von verschiedenen gesellschaftlichen Trägern der autochthonen Aufarbeitung zu sehen : In Anbetracht der starken politischen Polarisierung, die sich aus der allmählichen Auf lösung des Integrationsmodells und der verstärkten Konfrontation mit bestimmten, juridisch -

33 Siehe dazu den Beitrag von Clemens Vollnhals in diesem Band. 34 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 298. 35 Eine vom NDR produzierte Dokumentation zur Reintegration von Angeklagten des Auschwitz - Prozesses trug den Titel „Bleiben die Mörder unter uns ?“. Vgl. Horn, Erinnerungsbilder, S. 154. 36 Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006. 37 Horn, Erinnerungsbilder, S. 248. 38 In diesem Sinne Horn, Erinnerungsbilder, S. 243.

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medial konstruierten Tätertypen ergab, beanspruchte man sowohl für sich selbst als auch für die Justiz die Rolle einer pädagogisch - moralischen Instanz. Es galt, eine mehrheitlich verstockte Bevölkerung davon zu überzeugen, dass eine rechtsstaatliche Bestrafung der Täter im Interesse einer freiheitlichen, westlich orientierten Bundesrepublik lag.39 Schließlich spielten für die öffentlichen Diskussionen um die Zentrale Stelle auch Entwicklungen innerhalb der Justiz selbst eine Rolle. Neuere Forschungen zur Entwicklung der NS - Strafverfolgung haben gezeigt, dass die Gründung der Zentralen Stelle zu einem maßgeblichen Teil auf Anstößen beruhte, die aus der Justiz heraus an die Rechtspolitik herangetragen wurden. Entscheidende Impulse gingen beispielsweise von dem baden - württembergischen Generalstaatsanwalt Erich Nellmann und dessen Mitarbeiter Erwin Schüle aus, die beide an der konzeptionellen Vorbereitung der späteren Ludwigsburger Behörde beteiligt waren. Sie knüpften damit an Kritikpunkte an, die bereits Jahre zuvor in der rechtswissenschaftlichen Fachdiskussion in Bezug auf die Strafverfolgung von NS - Tätern geäußert worden waren.40 Die Initiativen zur Neustrukturierung der NS - Ermittlungen sind daher zum Teil auch als Ausdruck justizinterner Reformströmungen zu interpretieren, die seit Ende der 50er Jahre eine zunehmende Eigendynamik gewinnen sollten. Es mögen an dieser Stelle wenige Stichworte genügen, um zu kennzeichnen, was mit diesen Bestrebungen gemeint ist : Wie vor allem Jörg Requate in seiner profunden Studie zur Transformation der westdeutschen Justiz gezeigt hat, hatte sich das zu Beginn der 50er Jahre innerhalb der Justiz vorherrschende Gefühl einer schweren „Justizkrise“ gegen Ende des Jahrzehnts weitgehend aufgelöst.41 Vor allem die Gründung der Zentralen Stelle hatte zu der politisch gewünschten Kanalisierung der durch die DDR - „Blutrichter“ - Kampagne ausgelösten Debatte über den demokratischen Gesamtzustand der Rechtspflege geführt. Jedoch war damit nur eine kurze Ruhepause verbunden, bevor zu Beginn der 60er Jahre schwelende justizinterne Konflikte offen ausbrachen. Während ein Teil der Richterschaft auf die zunehmenden Spannungen mit der Forderung nach einer „großen Justizreform“ unter konservativen Auspizien reagierte, gab es daneben eine kleine Gruppe bundesdeutscher Justizjuristen, zu der auch der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zählte, die auch außerhalb der juristischen Fachöffentlichkeit Kritik an der „autoritären und bloß formal - demokratischen“ Haltung ihres Berufsstands übten.42 Kennzeichnend für die nach 1960 einsetzenden Justizdebatten war zum einen, dass eine zunehmend justizkritische politische Öffentlichkeit diese Vorwürfe aufgriff und zu einer Skandalisierung nutzte. Zum anderen kam es seit dieser Zeit zu einer Überlappung von verschiedenen Diskussionssträngen : So verstärkte sich 39 Vgl. Annette Weinke, Täter, Opfer, Mitläufer. Vermittlungs - und Bewältigungsstrategien in westdeutschen NS - Prozessen. In : Wamhof ( Hg.), Gericht, S. 55–77. 40 Zur Kritik des BGH - Richters Günther Willms vgl. von Miquel, Ahnden, S. 163. 41 Jörg Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz. Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2008, S. 69. 42 Zit. nach ebd., S. 72.

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innerhalb der Justiz die Kritik am problematischen Grundrechtsverständnis vieler Richter, während die standesmäßige Abschottung und Öffentlichkeitsfeindlichkeit der Justiz zunehmend zum Gegenstand richterlicher Selbstkritik wurde. Die Auseinandersetzungen über den Zustand der Justiz wurden durch einen Kreis sachkundiger Journalisten in Gang gehalten. Kommentatoren wie Ernst Müller - Meiningen jr. („Süddeutsche Zeitung“), Gerhard Mauz („Der Spiegel“), Hans Schueler („Die Zeit“), Karl - Heinz Krumm („Frankfurter Rundschau“), Dietrich Strothmann („Die Zeit“) oder Heiner Lichtenstein ( Westdeutscher Rundfunk ) mischten sich zunehmend in die Belange der Justiz ein und griffen dabei auch Fälle NS - belasteter Juristen, täterfreundliche NS - Urteile oder fragwürdige Wiedergutmachungsentscheidungen auf. Die Diskussion über „Ludwigsburg“ diente somit in diesem Diskurs teilweise auch als Vehikel, mit dem sich prinzipielle Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der westdeutschen Justiz verbinden ließen. Diese Kritik hatte allerdings auch ihre Grenzen : In Abgrenzung zum ostdeutschen Argument des „Alibis“ wurde die liberale Aufarbeitungsstrategie einer selektiven und zeitlich begrenzten Strafverfolgung nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

3.

Elitendiskurse über „Ludwigsburg“

Grundsätzlich war die öffentliche Debatte über die Zentrale Stelle über mehrere Jahrzehnte hinweg durch bestimmte Leitthemen und Grundsatzfragen geprägt. In diesen spiegelten sich vielfach die spezifischen Dilemmata einer Aufarbeitungspraxis wider, die sich in Abgrenzung zu den alliierten Bestrafungsbemühungen und dem in Israel laufenden Verfahren gegen Adolf Eichmann vor wiegend über nationalstaatliche und ethnische Kriterien definierte.43 Dazu zählten vor allem das Problem der Elitenkontinuität (1), die Frage nach den politischen und gesellschaftlichen Zielen der NS - Strafverfolgung (2), die Auseinandersetzung mit den Folgen des Totalitarismus (3) und mit dem Erbe von „Nürnberg“ (4). 1.) Die Kritik an den rechtsstaatlichen Defiziten, die ursprünglich einen entscheidenden Anstoß zur Gründung der Zentralen Stelle lieferte, hatte sich vor allem an zwei Punkten festgemacht : die Verletzung des strafrechtlichen Legitimitätsprinzips durch eine nur sporadisch erfolgende Verfolgung schwerer NS Verbrechen und die Beschädigung der Justiz durch die großzügige Reintegration von NS - Belasteten.44 Nachdem bereits der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann in seinem öffentlichen Plädoyer für eine zentrale Ermittlungs-

43 Zu den Reaktionen auf den Eichmann - Prozess siehe den Beitrag von Peter Krause in diesem Band. 44 Zu dieser Diskussion vgl. Weinke, Verfolgung, S. 76–93.

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stelle davor gewarnt hatte, Schwerbelastete im öffentlichen Dienst unterzubringen, wurde dessen Vorwürfe in den nachfolgenden Wochen und Monaten auch in der Presse aufgegriffen. Es zählt zu den spezifischen Eigenheiten des bundesdeutschen Umgangs mit den NS - Verbrechen, dass dieser Diskurs zwar die politischen und administrativen Meinungsbildungsprozesse, die 1958 zur Gründung „Ludwigsburgs“ führten, indirekt beeinflusst haben dürfte. Dafür spricht, dass die „unbewältigte Justizvergangenheit“ auf den Konferenzen der Justizminister am Rande immer präsent war, auch wenn ein direkter Zusammenhang zwischen den Attacken auf einzelne Justizvertreter und der Notwendigkeit zu verstärkter NS - Strafverfolgung insgesamt geleugnet wurde. Auffällig waren zudem die Diskrepanzen in der Öffentlichkeitspolitik der Bundesregierung : Während man intern stets bestritt, dass sich die schwelende Kontinuitätsproblematik durch strafrechtliche Ermittlungen aus der Welt schaffen ließ, suchte man gegenüber den westlichen Verbündeten – in erster Linie gegenüber den hier besonders interessierten Briten – den unzutreffenden Eindruck zu erwecken, als habe sich mit der Einrichtung der Ludwigsburger Stelle auch die lästige NS - Richterfrage erledigt.45 Trotz oder gerade wegen des öffentlichen Drucks entschieden sich die Rechtspolitiker aber dafür, die Justizproblematik nicht auf zentralem Wege zu lösen, sondern die entsprechenden Ermittlungen weiterhin in der Oberhoheit der Länder zu belassen. Das Ergebnis dieser Festlegungen ist bekannt : Nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden DDR - Attacken blieb das Thema der „unbewältigten Justizvergangenheit“ auch während der folgenden Jahrzehnte von großer politischer Brisanz. Dies traf vor allem in den Jahren nach 1961 zu, nachdem der Versuch einer politischen Lösung durch die Verabschiedung des Paragraphen 116 des Deutschen Richtergesetzes, der für belastete Juristen eine großzügige Regelung der Frühpensionierung vorsah, weitgehend gescheitert war.46 Symptomatisch für die nachfolgenden Diskussionen über die Elitenkontinuität in der Justiz scheinen vor allem zwei Punkte zu sein : Zum einen wurde dieses Problem trotz sich verstärkender Kritik in den Medien kaum mit der Zentralen Stelle in Verbindung gebracht. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Nichtzuständigkeit Ludwigsburgs für NS - Justizverbrechen zweifelsohne eine der Hauptursachen für die schleppend verlaufende Aufarbeitung in diesem Bereich war. Zum anderen blieb auch die Kritik an bekannt gewordenen NS - Belastungen einiger Ludwigsburger Mitarbeiter – so wurde der erste Leiter Erwin Schüle erstmals 1959 scharf von der DDR - Propaganda attackiert, 1966 trat er wegen falscher Angaben zu seiner NSDAP - Mitgliedschaft und dem Vorwurf der Beteiligung an Kriegsverbrechen in der Sowjetunion von seinem Posten zurück47 – weit hinter dem zurück, was bei vergleichbaren Skandalfällen üblich war. Exemplarisch für die Nonchalance, mit der dieses Thema in den westdeutschen 45 Ebd., S. 93. 46 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 82–98. 47 Vgl. Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994, S. 257; Weinke, Gesellschaft, S. 86–99.

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Medien behandelt wurde, war etwa die Reaktion des „Spiegel“ – dieser nannte Schüle den „nützlichsten Pg, den es je gab“.48 Die Gründe für die weitgehende Immunität Ludwigsburgs gegenüber vergangenheitspolitischer Kritik wären noch im Einzelnen herauszuarbeiten, zu vermuten ist aber, dass sich darin wiederum jenes Stabilisierungsparadigma manifestierte, wie es für die bundesdeutsche Gerichtsberichterstattung über die NS - Prozesse insgesamt kennzeichnend war. Bei der Behandlung des Falls Schüle dürfte zudem eine Rolle gespielt haben, dass die Gründung der Zentralen Stelle von dem stillschweigenden Konsens getragen war, Wehrmachtsverbrechen – zumal solche in den besetzten Ostgebieten – aus der Strafverfolgung herauszunehmen. Die Nichtverfolgung hoher und mittlerer militärischer Funktionsträger sowie nachgeordneter Dienstränge unter dem weiterhin wirksamen Topos der „sauberen Wehrmacht“ und die Funktionalisierung des Widerstands vom 20. Juli 1944 für die positive Traditionsbildung der Bundeswehr waren Teile eines „politischen Koppelungsgeschäfts“, mit denen die „Überführung der NS - Volksgemeinschaft in die Leistungsgemeinschaft des Wirtschaftswunders“ gelang.49 Es spricht für die schon erwähnte Verflochtenheit politischer, juridischer und medialer Diskurse, dass Schüle an der Konstruktion entsprechender Selbst - und Fremddeutungen maßgeblich beteiligt war. Noch bevor der ehemalige Reser veleutnant, Kriegsverdienstkreuzträger und Verurteilte der sowjetischen Militärjustiz – während seiner Kriegsgefangenschaft in der UdSSR war Schüle 1949 zum Tode verurteilt, dann jedoch begnadigt worden – von den Ostblock - Behörden angegriffen wurde, hatte er bereits in der Öffentlichkeit mit dem Argument für die Zentrale Stelle geworben, eine Nichtverfolgung von NS - Verbrechen würde „das Ansehen der deutschen Wehrmacht und das Ansehen der Deutschen überhaupt“ beschmutzen.50 In Übereinstimmung mit anderen Aufarbeitungsbefürwortern ging Schüle davon aus, die Wehrmacht sei eine nach „kriegsrechtlichen Regeln kämpfende Truppe“ gewesen, während er die Verantwortung für die rassistische und mörderische deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa ausschließlich bei SS und SD verortete.51 2.) Die öffentliche Diskussion über die Frage, welche rechtspolitischen und gesellschaftlichen Ziele mit den NS - Ermittlungen eigentlich erreicht werden sollten, setzte bereits unmittelbar nach Gründung der Zentralen Stelle ein. Diese Debatte ist – man denke nur an die jüngste Medienkontroverse zum Münchner Prozess gegen Iwan Demjanjuk – im Grunde bis heute nicht abgeschlossen. Ver48 Der Spiegel vom 17. 2. 1965 : „Dornen für den Staatsanwalt“. 49 Bernd Weisbrod, Die „Vergangenheitsbewältigung“ der NS - Prozesse. Gerichtskultur und Öffentlichkeit. In : Eva Schumann ( Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S. 247–270, hier 252. 50 Zit. nach Weinke, Gesellschaft, S. 93. 51 Zit. nach ebd., S. 94.

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einfacht gesagt, lassen sich unter den Befür wortern einer intensivierten strafrechtlichen Aufarbeitung zwei verschiedene Begründungsmuster identifizieren, mit denen sie die Existenz der Zentralen Stelle zu legitimieren suchten. Nachdem sich die politischen Entscheidungsträger zunächst einer streng legalistischen Argumentation bedient hatten, um die Ausnahmestellung Ludwigsburgs gegenüber einer breiten Öffentlichkeit zu rechtfertigen, führte dies schon bald dazu, dass sich ein Gegendiskurs formierte, der zivilgesellschaftliche, religiöse und moralpolitische Gründe für eine konsequentere Verfolgung der Täter ins Feld führte. Für beide Diskurse war kennzeichnend, dass es sich um Expertendiskurse handelte. Seine Träger waren exponierte Rechtspolitiker, politisch engagierte Justizvertreter, jüngere Rechtswissenschaftler sowie eine Reihe von Journalisten, die sich in die schwierige und unübersichtliche Materie der NS Strafverfolgung eingearbeitet hatten. Eine breitere Öffentlichkeit wurde überhaupt nur in Ausnahmefällen erreicht, beispielsweise 1961/62, als es wegen der öffentlichen Kritik der Mannheimer Staatsanwältin und Ludwigsburger Mitarbeiterin Barbara Just - Dahlmann zu einer parlamentarischen Aussprache im Stuttgarter Landtag kam.52 Cum grano salis manifestierten sich in den Diskursen zwei verschiedene Aufarbeitungskonzepte, die – auch dies war typisch für die polarisierende Diskussionskultur der späten 50er und 60er Jahre – von ihren jeweiligen Befür wortern als inkommensurabel betrachtet wurden. Während mit der NS - Strafverfolgung einerseits Vorstellungen von rechtsstaatlicher „Hygiene“ und außenpolitischem Prestigegewinn verknüpft wurden, plädierten die Justizkritiker für einen mediatisierten Gerechtigkeitsbegriff im Sinne einer – auch mit juristischen Mitteln zu rekonstruierenden – historischen Wahrheit und eine Einbindung der NS - Prozesse in die Aufgaben staatsbürgerlicher Erziehung. Diese Konzeption, die im Zeitalter der „transitional justice“ wieder hochaktuell geworden ist,53 wurde in der Bundesrepublik besonders dezidiert von dem Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vertreten. Bauer, der die Aussichten auf eine erfolgreiche Bestrafung der NS - Täter persönlich eher skeptisch beurteilte, hatte die Gründung der Zentrale Stelle zwar begrüßt, gleichzeitig aber auch vor den unerwünschten Rückwirkungen gewarnt, die eine ausschließlich auf Strafverfolgung beschränkte Aufarbeitung nach sich ziehen könne. Es bestehe „die nicht zu unterschätzende politische Gefahr, [...] dass breite Teile der Öffentlichkeit sich in ihrer Wunschvorstellung bestätigt fänden, es sei alles gar nicht so schlimm gewesen, während unzweifelhaft ‚Mörder unter uns‘ sind, und sicherlich in wesentlich größerer Zahl, als die braven Bürger allgemein wahrhaben wollen“.54 Symptomatisch für die transformatorischen Wirkungen, die den NS - Prozessen von ihren Befür wortern zugeschrieben wurden, sind die schon frühzeitig 52 Vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 40–70. 53 Vgl. Mark Osiel, Mass Atrocity, Collective Memory and the Law, New Brunswick1997. 54 Fritz Bauer, Mörder unter uns ! In : Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur, 10 (1958), H. 22 vom 15. 11. 1958, S. 789–792. Vgl. auch Irmtrud Wojak, Fritz Bauer1903–1968. Eine Biographie, München 2009.

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einsetzenden Bemühungen, in Ludwigsburg eine Forschungs - und Dokumentationsstelle einzurichten, wo die Hinterlassenschaften der staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Ahndungsbemühungen für kommende Generationen aufbewahrt werden sollten. Bauer war der erste, der mit entsprechenden Vorschlägen an die Öffentlichkeit trat, sich damit allerdings nicht durchsetzen konnte. In den 60er Jahren griff diese Idee Just - Dahlmann auf, die sich neben ihrer fortlaufenden Tätigkeit als Übersetzerin polnischer Zeugenprotokolle kontinuierlich darum bemühte, für die Bedeutung Ludwigsburgs als Erinnerungs - und Lernort zu werben. Mitte der 60er Jahre arbeitete sie in dieser Hinsicht zeitweise mit dem deutsch - polnisch - jüdischen Historiker Joseph Wulf zusammen. Wulf wollte im Haus der Wannsee - Konferenz ein Dokumentationszentrum errichten, in dem die Gerichtsakten und die „historisch unersetzlichen“ Zeugenprotokolle archiviert und ausgewertet werden sollten.55 Auch dieses Projekt scheiterte jedoch, in diesem Fall aufgrund des Widerstands des Westberliner Senats. Zu den wichtigsten Initiativen, die die Aufarbeitungsbefür worter um Just Dahlmann im Laufe der 60er Jahre entwickelten, zählte die in enger Kooperation mit der Zentralen Stelle entstandene Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland ( EKD ) zu den westdeutschen NS - Prozessen, die am 19. März 1963 in Bethel verlesen wurde.56 Dieses öffentliche Bekenntnis für die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung markierte insofern einen Wendepunkt in der innerkirchlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, als die evangelische Kirche seit Ende der 40er Jahre als einer der wortmächtigsten und politisch einflussreichsten Fürsprecher verurteilter deutscher Häftlinge in alliiertem Gewahrsam aufgetreten war.57 Durch zahlreiche Stellungnahmen und Petitionen hatten protestantische Kirchenfunktionäre und Würdenträger eine Politisierung der „Kriegsverbrecherfrage“ bewirkt. Zwar ging das kirchliche Engagement für verurteilte NS - Täter mit der sukzessiven Freilassung alliierter Häftlinge spürbar zurück. Dies änderte jedoch nichts daran, dass sich einzelne Angehörige des Klerus nunmehr mit gleicher Verve für das Seelenheil von NS - Tätern verwandten, die von der westdeutschen Justiz abgeurteilt worden waren. Wie stark die innerkirchliche Ambivalenz gegenüber den durch Ludwigsburg angestoßenen Prozessen auch zu Beginn der 60er Jahre noch spürbar war, macht das Beispiel von Hermann Schlingensiepen, Ephorus der Wuppertaler Kirchlichen Hochschule, deutlich. Schlingensiepen, ehemaliges Mitglied der Bekennenden Kirche, stand seit den 50er Jahren in regelmäßigem Briefkon-

55 Wulf an Ehepaar Just / Just - Dahlmann vom 12. 11. 1966 ( BAK, N 1415, Band 5). 56 Zu der Diskussion um die EKD - Stellungnahme vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 65–69. 57 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996, passim; Katharina von Kellenbach, Theologische Rede von Schuld und Vergebung als Täterschutz. In : Dies./ Björn Krondorfer / Norbert Reck ( Hg.) : Von Gott reden im Land der Täter : Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Darmstadt 2001, S. 46–67; Clemens Vollnhals, Die Hypothek des Nationalprotestantismus. Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS - Verbrechen nach 1945. In : Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992), S. 51–69.

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Gründung der Zentralen Stelle Ludwigsburg

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takt mit dem Ehepaar Just / Just - Dahlmann. Während er sich mit den beiden Juristen über theologische und ethische Probleme der NS - Strafverfolgung austauschte, pflegte er gleichzeitig eine rege Korrespondenz mit Massenmördern wie Adolf Eichmann und den Angeklagten im Auschwitz - Prozess.58 Auch zu NSHilfsorganisationen wie die „Stille Hilfe“ hielt er Kontakt. Nichtsdestotrotz unterstützte auch er das Wort der EKD von 1963. Dieses scheinbare Paradoxon hat Uwe Kaminsky mit dem Argument zu erklären versucht, Schlingensiepen habe die Verurteilungen in den NS - Prozessen als ersten Schritt zu reuiger Umkehr betrachtet. In der Verbüßung der Haftstrafen habe er jedoch keinen Gewinn erkennen können, da die Täter seiner Ansicht nach als „Stellvertreter einer gemeinsamen Schuld, an der auch die Bekennende Kirche teilhabe,“ verurteilt worden seien.59 Auch wenn Schlingensiepens Positionen nicht als repräsentativ für die innerhalb der Evangelischen Kirche vertretenen Meinungen zu den NS - Prozessen gelten können, macht dieses Beispiel doch einerseits deutlich, wie schwierig der Ablösungsprozess vom dem „volksgemeinschaftlichen“ Selbstverständnis der frühen Nachkriegsjahre war. Andererseits spiegelt sich in den Äußerungen Schlingensiepens ein metaphysisches Verhältnis zu der von Karl Jaspers evozierten „Schuldfrage“ wider,60 das nicht nur in die EKD - Erklärung eingeflossen sein dürfte, sondern das auch für die Haltung der gesellschaftlichen Eliten gegenüber den NS - Prozessen bestimmend war. Denn bis weit in die 70er Jahre fußte deren Akzeptanz zumindest teilweise auf der nationalapologetischen Vorstellung, durch die NS - Prozesse würde es den Deutschen ermöglicht, wieder zu sich selbst zu finden. Diese Beobachtung ver weist zudem auf eine Frage, über die derzeit in der Forschung kontrovers diskutiert wird, die aber hier nicht näher vertieft werden kann. Ausgehend von der Feststellung Dan Diners über die „Gerichtsförmigkeit“ von Holocaust - Diskursen wird danach gefragt, inwieweit mit der Konstruktion Ludwigsburgs und den westdeutschen NS - Prozessen auch ein spezifisch „deutsches“ Geschichtsverständnis vom Judenmord generiert wurde, das – in Übereinstimmung mit der Erfahrungswelt der Täter – in erster Linie nach den Umständen der Tat, nicht aber nach den Motiven der Täter und deren Beziehungen zu den Opfern gefragt habe.61 3.) Vor allem die enge zeitliche und inhaltliche Verknüpfung zwischen der DDR„Blutrichterkampagne“ und der Gründung der Zentralen Stelle brachten es mit sich, dass die Diskussionen über Ludwigsburg und die NS - Strafverfolgung von Anfang an durch die Semantiken des Kalten Krieges geprägt und überlagert wur58 Schlingensiepen an Sieverts vom 28. 5. 1962 ( BArch, N 1415, Band 3). 59 Uwe Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit – Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948–1989), Bonn 2008, S. 28. 60 Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. 61 Dan Diner, Über Schulddiskurse und andere Narrative. Epistemologisches zum Holocaust. In : Jakob Tanner / Sigrid Weigel ( Hg.), Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, Zürich 2002, S. 179–201, hier 186–189. Vgl. auch Wenzel, Gericht, S. 253.

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den. Zeitgenössische populäre Vorstellungen vom Totalitarismus - Begriff, der von einer Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus und der Herrschaft anonymer terroristischer Apparate ausging,62 flossen indirekt auch in die Konstruktion der Zentralen Stelle ein. Bereits im Vorfeld des Gründungsbeschlusses war von Seiten der bayerischen Justiz der Wunsch geäußert worden, die Zuständigkeit Ludwigsburgs auch auf Verbrechen an deutschen Kriegsgefangenen und die nach Kriegsende an Deutschen verübten Vertreibungsverbrechen zu erweitern. Diesen auf den Einfluss der Vertriebenenlobby zurückgehende Vorschlag, der einigen außenpolitischen Sprengstoff barg, hatten die Vertreter von Bund und Ländern einstimmig zurückgewiesen, dabei jedoch keine prinzipiellen Einwände erhoben, sondern nach dem Gesichtspunkt öffentlichkeitspolitischer Opportunität argumentiert.63 Bezeichnenderweise war damit aber die Frage nach einer möglichen Verknüpfung der Ermittlungstätigkeit zu NS - Unrecht und kommunistischem Unrecht noch nicht erledigt. Wie Guillaume Mouralis in seiner Studie zum Umgang mit den Verbrechen der DDR gezeigt hat, geriet das Thema wieder auf die politische Tagesordnung, als im August 1961 die innerdeutsche Grenze abgeriegelt wurde. Der erste Politiker, der sich mit der Forderung nach Gründung einer zentralen Ermittlungsbehörde für SED - Unrecht zu Wort meldete, war der Hamburger CDU - Abgeordnete Erik Blumenfeld – ein Überlebender von Auschwitz und Buchenwald. Blumenfeld plädierte dafür, eine Behörde nach Ludwigsburger Vorbild zu schaffen, die gegen DDR - Tatverdächtige ermitteln sollte. Anders als Ludwigsburg sollte die neu einzurichtende Behörde allerdings nicht auf der Grundlage des bundesdeutschen Strafgesetzbuches tätig werden. Vielmehr setzte sich der Politiker dafür ein, die SED - Oberen nach dem Nürnberger Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzuklagen. Damit griff er einen Vorschlag auf, den der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen ( UfJ ) bereits zu Beginn der 50er Jahre in die Debatte getragen hatte. Die bevorstehenden Bundestagswahlen mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass sich auch die SPD diesen Vorschlägen wenig später anschloss. Am 5. September wandte sich Willy Brandt, Regierender Bürgermeister von Berlin, mit der Forderung an die Minister der Länder, der Ludwigsburger Behörde die Zuständigkeit für die Ermittlungen wegen Straftaten in der „sowjetischen Besatzungszone“ zu übertragen. Zur Begründung führte Brandt an, die Methoden des SED - Regimes und die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten seien „quasi identisch“, so dass Ludwigsburg für die Übernahme eines weiteren Ermittlungsauftrags bestens gerüstet sei.64 Das Projekt scheiterte schließlich an Bedenken des Bundesjustizministe62 Vgl. Anson Rabinbach, Totalitarismus. Konjunkturen eines Begriffs. In : ders., Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid, Göttingen 2009, S. 7– 27. 63 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 178 f. 64 Zit. nach Guillaume Mouralis, Une épuration allemande. La RDA en procès 1949–2004, Paris 2008, S. 243. Vgl. auch Frank Bajohr, Hanseat und Grenzgänger. Erik Blumenfeld – eine politische Biographie, Göttingen 2010.

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riums : Dort war man nämlich der Meinung, Ludwigsburg werde schon aufgrund seines zeitlich begrenzten Untersuchungsauftrags nicht in der Lage sein, sich langfristig Ermittlungen wegen SED - Unrechts zu widmen. Mit dieser Position befand sich das Ministerium allerdings in diametralem Gegensatz zur veröffentlichten Meinung. Von Vertretern der bundesdeutschen Medien wurde nämlich inzwischen über wiegend die Auffassung vertreten, Ludwigsburg werde noch mehrere Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte existieren. Aufgrund eines Vorschlags des niedersächsischen FDP - Justizministers Arvid von Nottbecks, einem Gegner der NS - Strafverfolgung, einigte man sich schließlich auf den Kompromiss, eine zweite Ermittlungsstelle in Salzgitter zu schaffen, die sich ausschließlich der Erfassung und Dokumentation von SED - Unrecht widmen sollte. 4.) Die Gründung der Zentralen Stelle erfolgte nicht nur vor dem Hintergrund eines Erfahrungshorizontes, der stark durch die Zeit der alliierten Besatzungsherrschaft und die alliierten Kriegsverbrecherprozesse geprägt war. Es spricht auch einiges dafür, dass „Ludwigsburg“, zumindest galt dies für die an den Entscheidungsfindungsprozessen beteiligten Rechtspolitiker, auch als eine Art Gegenentwurf zu „Nürnberg“ konzipiert wurde. So stellte die immer wieder beschworene Formel, Versäumnisse der alliierten Besatzungsmächte, vor allem solche bei der strafrechtlichen Aufarbeitung des Judenmords, rückwirkend korrigieren zu wollen, mehr als ein rhetorisches Versatzstück dar, mit dem einzelne zaudernde Ministerpräsidenten und eine überwiegend skeptisch eingestellte Bevölkerung von den Vorzügen neuerlicher Ermittlungen überzeugt werden sollten. Vielmehr drückte sich darin auch ein Wahrnehmungswandel im Hinblick auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen aus, der allerdings erst dann einsetzen konnte, als sich der Schwung der Gnadenkampagnen für die alliierten Häftlinge bereits weitgehend verbraucht hatte. Doch auch in den folgenden Jahren blieb die bundesdeutsche Sicht auf Ludwigsburg stark dadurch geprägt, dass in den Diskussionen immer wieder auf Nürnberg rekurriert wurde. Einerseits diente dieses Ereignis weiterhin als Bezugspunkt für negative Projektionen, indem man beispielsweise der alliierten „Siegerjustiz“ die rechtsstaatliche Verfahrensweise der westdeutschen Aufarbeitung gegenüberstellte. Andererseits kam dem alliierten Experiment aber auch eine Art Vorbildcharakter zu, was sich sowohl in der Bestimmung von Ermittlungskomplexen als auch in der systematischen Form der Materialsuche niederschlug. Betrachtet man die westdeutsche NS - Strafverfolgung aus gedächtnisgeschichtlicher Perspektive, fällt auf, dass es einen Zusammenhang zwischen der nachlassenden Wirkmacht Nürnbergs als einstigem Kristallisationspunkt nationalapologetischer Selbstverständigungsdiskurse und der zunehmende öffentlichen Akzeptanz für Ludwigsburg zu geben scheint. Signifikant für den allmählichen Bedeutungsverlust Nürnbergs als ehemals wichtigster Erinnerungsort der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist beispielsweise, dass die öffentliche Thematisierung Nürnbergs in den 70er und 80er Jahren bereits fast vollständig von den rechten und linken Rändern des politischen Spektrums okkupiert wurde,

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während Ludwigsburg in der veröffentlichten Meinung zumeist unter den Leitmotiven des „Rechtsstaats“, der „Pädagogik der Moral“ und der „historisch - politischen Bildung“ diskutiert wurde.65 Oder anders formuliert : Mit dem wachsenden Erfolg der Zentralen Stelle verblassten nach und nach nicht nur die negativen Erinnerungen an die Nürnberger Prozesse, sondern es erodierten auch jene mentalen Barrieren, die bis dahin eine nähere Beschäftigung mit den Massenverbrechen verhindert hatten.

4.

Ausblick

Dies verweist auf die Frage, wie die Existenz der Zentralen Stelle das Verhältnis der Deutschen zum Völkerrecht beeinflusst hat. Weitgehend unerforscht ist beispielsweise, ob und in welcher Weise sich die öffentliche Einstellung zur Idee eines internationalen Tribunals für schwere Menschenrechtsverletzungen verändert hat, der ja durch die Gründung Ludwigsburgs zunächst einmal eine klare Absage erteilt worden war. Hat Ludwigsburg die Aufgeschlossenheit für die institutionalisierte Völkerstrafgerichtsbarkeit befördert oder wurden dadurch politische und rechtliche Diskussions - und Entscheidungsprozesse verzögert, die erst nach dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit einsetzten ? Hier liegt sicherlich ein reizvolles Feld für künftige zeithistorische Forschungen, zu deren Herausforderungen es gehören wird, die verschiedenen Verbindungslinien zwischen den ersten nationalen Strafprozessen der Weimarer Zeit, den alliierten Ahndungsbemühungen nach Ende des Dritten Reichs, der Gründung Ludwigsburgs, den Prozessen wegen SED - Unrecht und dem derzeitigen deutschen Engagement für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu einer kohärenten Erzählung zusammenzuführen.

65 Vgl. Devin O. Pendas, Law, not Vengeance. Human Rights, the Rule of Law, and the Claims of Memory in German Holocaust Trials. In : Mark Philip Bradley / Patrice Petro (Hg.), Truth Claims, Representation and Human Rights, Brunswick 2002, S. 23–41.

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„Eichmann und wir“. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit und der Jerusalemer Eichmann - Prozess 1961 Peter Krause

Am 23. Mai 1960 trat der israelische Ministerpräsident David Ben - Gurion vor die Knesseth und gab dem Parlament die Gefangennahme eines der meistgesuchten NS - Verbrecher bekannt : „Vor kurzer Zeit wurde Adolf Eichmann, einer der größten Nazikriegsverbrecher, vom israelischen Geheimdienst ausfindig gemacht. Dieser Mann war zusammen mit den Naziführern für das verantwortlich, was sie die ‚Endlösung der jüdischen Frage‘ genannt haben, das heißt die Ausrottung von sechs Millionen europäischer Juden. Adolf Eichmann befindet sich bereits in israelischem Gewahrsam und wird in Kürze nach dem Gesetz gegen Nationalsozialisten und Kollaborateure vor Gericht gestellt werden.“1

1.

Ein Paukenschlag

Die kurze Rede Ben - Gurions wirkte wie ein Paukenschlag. Weltweit sorgte die Nachricht von der spektakulären Gefangennahme des ehemaligen SS - Obersturmbannführers und die Ankündigung, ihn in Israel vor Gericht zu stellen, für Aufsehen. Vor allem in Israel und in Deutschland – in der Bundesrepublik wie in der DDR – wurde der Fall Eichmann über viele Monate hinweg zu einem zentralen historisch - politischen Ereignis. Es beherrschte nicht nur die Nachrichtenseiten der Zeitungen und Zeitschriften, sondern wurde auch zu einem wichtigen Gegenstand politischer und intellektueller Debatten, die über Wochen und Monate andauerten und zum Teil noch heute für Aufregung sorgen.2 Nach einem kurzen Abriss über den Lebens - und Karriereweg Eichmanns und den Jerusalemer Prozess sollen hier die Reaktionen in der bundesdeutschen 1 2

Zit. nach Moshe Pearlman, Die Festnahme des Adolf Eichmann, Frankfurt a. M. 1961, S. 171. Vgl. Peter Krause, Der Eichmann - Prozess in der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 2002; Jürgen Wilke / Birgit Schenk / Akiba A. Cohn / Tamar Zemach, Holocaust und NSProzesse. Die Prozessberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr, Köln 1995; Hans Lamm, Der Eichmann - Prozess in der deutschen öffentlichen Meinung. Eine Dokumentensammlung, Frankfurt a. M. 1961. Sowie jüngst für Belgien und die Niederlande : Nina Burkhardt, Rückblende. NS - Prozesse und die mediale Repräsentation der Vergangenheit in Belgien und den Niederlanden, Münster 2009.

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Öffentlichkeit auf den Prozess sowie auf das Auftreten Eichmanns im Gerichtssaal dargestellt und im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit analysiert werden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Berichterstattung in der Tages - und Wochenpresse sowie auf ausgewählten Stimmen aus Politik und Gesellschaft, welche für die zeitgenössische Debatte über den Fall Eichmann von zentraler Bedeutung waren. Es wird bei den folgenden Betrachtungen davon ausgegangen, dass es sich bei dem Prozess gegen Adolf Eichmann um einen der wichtigsten Strafprozesse gegen NS - Täter handelte. Erstens war dieser Prozess sowohl für die Überlebenden als auch für den Staat Israel – der seinem Selbstverständnis nach der Vertreter und Sachwalter der Interessen der jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik war ( und ist ) – von kaum zu überschätzender Bedeutung. Hier bot sich nicht nur die Gelegenheit, die Schrecken des Holocaust und die Einzigartigkeit dieses Verbrechens der Weltöffentlichkeit in Erinnerung zu rufen und deutlich zu machen, dass viele der Verantwortlichen noch ungeschoren geblieben waren. Auch ermöglichte es der Prozess, den Überlebenden eine Stimme zu geben, was von ebenso großer Bedeutung war. Er regte das auch in Israel als notwendig angesehene Gespräch zwischen den Generationen an und trug zu einem neuen Selbstbild Israels bei.3 Zweitens bot der Prozess gegen Adolf Eichmann einen erneuten Anlass, über die Motive und die Verantwortung der „Schreibtischtäter“ der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie nachzudenken. Der Umstand, dass der ehemalige SS - Obersturmbannführer im Unterschied zum Tribunal von Nürnberg und zum Frankfurter Auschwitz - Prozess alleine auf der Anklagebank saß und seinen kugelsicheren Glaskasten nicht mit vielen anderen teilen musste, ermöglichte es den Prozessbeobachtern, sich ganz auf Eichmann zu konzentrieren und ihn quasi wie unter einem Vergrößerungsglas als ein Musterbeispiel des Schreibtischtäters zu sezieren, was eine besondere Schärfe des Urteils begünstigte. Ein beispielhaftes Resultat dieser einmaligen Situation ist Hannah Arendts prägnantes und bis heute einflussreiches Buch „Eichmann in Jerusalem“. Nur die besondere Situation im Gerichtssaal von Jerusalem bot wohl die Voraussetzung für die Formulierung ihrer eingängigen These von der „Banalität des Bösen“ – wie auch immer man diese beurteilen mag.4 Und drittens schließlich war der Prozess gegen Adolf Eichmann insbesondere für die in der Bundesrepublik geführte Auseinandersetzung mit den Verbrechen des NS - Regimes von großer Bedeutung, denn er führte nicht nur dazu, dass die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, im Besonderen der Mord an den europäischen Juden, in einer seit den Nürnberger Prozessen nicht mehr erlebten Ausführlichkeit vor der deutschen Öffentlichkeit ausgebreitet und diskutiert wurden, sondern er hatte auch zur Folge, dass die Frage nach der Mitverant3 4

Vgl. Gideon Hausner, Gerechtigkeit in Jerusalem, München 1967, S. 444 f. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem Essay von Hans Mommsen, Neuausgabe, 8. Auf lage München 1992 (zuerst 1964).

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Der Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961

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wortung der vielen anderen „kleinen Eichmänner“ – oder „Eichmanns“, wie der Publizist Albert Wucher seinerzeit schrieb5 – in aller Öffentlichkeit und laut vernehmlich gestellt wurde. So wurde der Prozess von Jerusalem zu einer Initialzündung für eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des NS Regimes und trug – lange vor „68“ – dazu bei, das „kommunikative Beschweigen“ ( Lübbe ) der 50er Jahre zu beenden.6

2.

Person, Verbrechen und Prozess

Der 1909 in Solingen geborene Adolf Eichmann war als Leiter des für die Organisation der Deportation und Vernichtung der europäischen Juden zuständigen Referats IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes ( RSHA ) einer der wichtigsten Schreibtischtäter des NS - Regimes.7 Seine „Karriere“ begann er im April 1932 als einfaches Mitglied der österreichischen NSDAP und SS – seine Eltern waren mit ihm 1914 nach Österreich übergesiedelt, so dass er zunächst dort Mitglied der „Bewegung“ wurde. Nach dem Verbot der Partei in Österreich im Juni 1933 entschloss sich Eichmann im Folgemonat nach Deutschland zurückzukehren. Im Oktober 1934 trat er seinen Dienst in der Berliner Zentrale des Sicherheitsdienstes ( SD ) der SS, in der er in rascher Folge die Stufen der Karriereleiter erklomm, an. Zunächst arbeitete er als Hilfskraft beim Aufbau einer „Freimauerkartei“ des SD mit, bevor er im Juni 1935 in das neu geschaffene und ausschließlich für „Judenangelegenheiten“ zuständige Referat II - 112 des SD versetzt wurde. Mit der stetigen Ausweitung der Aufgaben und Kompetenzen dieses Referats, die mit der konsequenten Verschärfung der antisemitischen Maßnahmen des NS Regimes einher ging, erweiterten sich auch Eichmanns Zuständigkeiten. Er organisierte ab März 1938 von Wien aus die „Auswanderung“ genannte Vertreibung der österreichischen Juden und führte hierzu das später sogenannte Wiener Modell ein : Alle an der „Auswanderung“ beteiligten Ämter und Dienststellen wurden in einer „Zentralstelle“ unter seiner Kontrolle zusammengefasst und in einem gemeinsamen Gebäude untergebracht. Dies ermöglichte einen “fließ5 6

7

Albert Wucher, Eichmanns gab es viele. Ein Dokumentarbericht über die Endlösung der Judenfrage, München 1961. Der Eichmann - Prozess reiht sich ein in eine Kette von Strafprozessen gegen NS - Täter, die Ende der 50er bis Mitte der 60er Jahre in der Bundesrepublik durchgeführt wurden und für große Aufmerksamkeit sorgten. Neben dem Prozess gegen Adolf Eichmann waren dies insbesondere der Ulmer Einsatzgruppen - Prozess (1958) und der Frankfurter Auschwitz - Prozess ( Dezember 1963 bis August 1965). Diese drei Prozesse sind in ihrer Wirkung für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik kaum zu überschätzen. In ihrem zeitlichen Zusammenspiel dürfte sich die Wirkung jedes einzelnen Prozesses mit Sicherheit noch um ein Vielfaches verstärkt haben. Vgl. auch die Beiträge von Claudia Fröhlich und Werner Renz in diesem Band. Zum Lebenslauf vgl. David Cesarani, Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder, Berlin 2004.

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bandartigen Schalterbetrieb“,8 wodurch das Prozedere zur Erlangung der für die „Auswanderung“ nötigen Papiere auf wenige Tage verkürzt werden konnte. Am Ende dieses von Eichmann entwickelten Schnellverfahrens standen die zur Auswanderung genötigten Juden nahezu mittellos da, weil sie nicht nur ihr Hab und Gut für einen Spottpreis veräußern mussten, sondern auch für jedes Formular, jeden Stempel und jede Unterschrift eine Gebühr zu entrichten hatten. Für Eichmann selbst war das „Wiener Modell“ ein voller Erfolg. Seine Vorgesetzten waren von seiner Idee und Tatkraft derart angetan, dass nicht nur die Gründung einer „Reichszentrale für die jüdische Auswanderung“ angeordnet, sondern Eichmann auch zum Hauptsturmbannführer befördert und im Sommer 1939 nach Prag abkommandiert wurde, um in der kurz zuvor besetzten Tschechoslowakei die Vertreibung der Juden nach Wiener Vorbild zu organisieren. Nur wenige Monate später, im Oktober 1939, wurde er zum Leiter des Referats IV D 4 ( Räumungsangelegenheiten und Reichszentrale für jüdische Auswanderung ) im kurz zuvor aus SD und Geheimer Staatspolizei ( Gestapo ) gebildeten Reichssicherheitshauptamtes ( RSHA ) ernannt. Die im März 1941 erfolgte Umbenennung des Referats in IV B 4 ( Juden - und Räumungsangelegenheiten ) spiegelt eine entscheidende Veränderung in der Verfolgungs - und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten und somit auch der Aufgaben Eichmanns wider: Mit dem Verbot der jüdischen Auswanderung 1941 und der Ausweitung des Krieges rückte die Vernichtung der europäischen Juden ins Zentrum seines Aufgabenbereichs. Von nun an war er zuständig für die gesamte Organisation der Deportation der Juden Europas in die Ghettos und Vernichtungslager. Er koordinierte die Transporte, sorgte für die Zusammenstellung und die „Auslastung“ der Züge und für ein reibungsloses Funktionieren der Vernichtungsmaschinerie. An seinem Schreibtisch in Berlin achtete er penibel und engagiert darauf, dass alle Zahnräder des Systems ineinandergriffen und möglichst keiner der von ihm als „Feinde“9 bezeichneten Juden der Vernichtung entging. Sein schreckliches „Meisterstück“ – wie es der Publizist Albert Wucher nannte10 – lieferte Eichmann 1944 ab, als er, obschon die Niederlage bereits absehbar war, alles daran setzte, die 400 000 in Ungarn lebenden Juden nach Auschwitz zu deportieren und in den Tod zu schicken. Für die öffentliche Wahrnehmung Eichmanns nach dem Krieg war seine Teilnahme an der berühmt - berüchtigten „Wannsee - Konferenz“ die wichtigste Station seiner „Karriere“. Diese behördenübergreifende Besprechung vom 20. Januar 1942, welche später nach ihrem Tagungsort benannt worden war, 8 Robert Pendorf, Mörder und Ermordete. Eichmann und die Judenpolitik des Dritten Reiches, Hamburg 1961, S. 59. 9 So Eichmann im sogenannten „Sassen - Interview“, jenen mehrere hundert Seiten umfassenden Aufzeichnungen von Gesprächen, die der ehemalige niederländische SS - Mann, Kriegsberichterstatter und nach dem Krieg wieder als Journalist arbeitende William Sassen 1957 mit Adolf Eichmann in Buenos Aires geführt hatte. Vgl. hierzu Irmtrud Wojak, Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt a. M. 2001, hier 53. 10 Wucher, Eichmanns gab es viele, S. 215.

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setzte sich, wie es im Einladungsschreiben des Leiter des RSHA, Reinhard Heydrich, hieß, mit der Umsetzung einer „Gesamtlösung der Judenfrage“ auseinander. Zweck dieser Besprechung, an der neben Vertretern der SS und des Polizeiapparats unter anderem auch ranghohe Mitarbeiter des Justizministeriums und des Auswärtigen Amtes teilnahmen, war es, die Zusammenarbeit zwischen allen an der Deportation und Vernichtung der europäischen Juden beteiligten deutschen Behörden, Ministerien und NS - Organisationen zu verbessern. Eichmanns Aufgabe bei dieser Zusammenkunft bestand vor allem darin, diese vorzubereiten, die Ergebnisse der Besprechung zu fixieren und ein entsprechendes Protokoll zu erstellen. Dieses Protokoll macht deutlich, dass zwischen allen Dienststellen des Reiches Einigkeit darin bestand, dass die angestrebte „Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes“ aufgrund der Kriegssituation nicht mehr mittels der ( Zwangs - )Auswanderung zu erreichen war. Als neuer Weg zur „Endlösung der Judenfrage“ sollte deshalb die „Evakuierung“ aller europäischen Juden „nach Osten“ vorbereitet und durchgeführt werden. Dass dies die Ermordung von Millionen von Männern, Frauen und Kindern bedeutete, wurde nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern war erklärtes Ziel. Für Eichmann waren die Ergebnisse der „Wannsee - Konferenz“ eine direkte Handlungsanweisung. In den nächsten Monaten und Jahren arbeitet er als Leiter des für „Juden - und Räumungsangelegenheiten“ zuständigen Referats im RSHA mit Eifer daran, die Züge in Richtung der Vernichtungslager im Osten rollen zu lassen. Am Ende des Krieges geriet Eichmann unerkannt in amerikanische Gefangenschaft, aus der er aber mit Hilfe anderer Kriegsgefangener fliehen konnte. Danach lebte er unter falschem Namen zunächst in Deutschland, bis er sich 1950 mit Unterstützung katholischer Geistlicher und mit falschen Papieren via Italien nach Argentinien absetzen konnte. Einige Zeit später holte er seine Frau und die drei Söhne nach und lebte unter dem Namen Richard ( Ricardo ) Klement in relativ bescheidenen Verhältnissen in einem Vorort von Buenos Aires. Vieles spricht heute dafür, dass erste Hinweise über den Aufenthaltsort Eichmanns bereits 1957 sowohl den israelischen als auch den deutschen Behörden vorgelegen haben. Inwieweit man diese Hinweise für glaubwürdig hielt, bleibt indes fraglich. Fest steht jedoch, dass der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1957 aus Argentinien den Hinweis erhielt, Eichmann lebe mit seiner Familie unter falschem Namen in Buenos Aires, und dass er diesen Hinweis an den israelischen Geheimdienst weiterleitete.11 Der engagierte Jurist Bauer, der 1936 als Sohn jüdischer Eltern und als engagierter Sozialdemokrat aus Deutschland fliehen musste,12 hatte wenig Vertrauen in die deutschen Behörden und befürchtete, dass es sowohl in den Justizbehörden als auch im Auswärtigen Amt undichte Stellen gab, die Eichmann vor einem möglichen Auslieferungsersuchen hätten warnen können. Bauer zog es darum vor, seine Informationen 11 Vgl. Wojak, Eichmanns Memoiren, S. 26 ff. 12 Zum Lebenslauf vgl. Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biografie, München 2009.

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an die Israelis weiterzuleiten, um auf diesem Weg die Festnahme und ein Gerichtsverfahren zu erreichen. Nach einer längeren Phase der Unentschiedenheit, die die israelische Seite nicht zuletzt dazu nutzte, um die Informationen und Informanten zu überprüfen, entschloss sich die israelische Regierung schließlich dazu, keinen Auslieferungsantrag zu stellen, sondern Eichmann durch den Geheimdienst mittels einer verdeckten und nach internationalem Recht illegalen Aktion gefangen zu nehmen und nach Israel bringen zu lassen, um ihn dort vor Gericht zu stellen.13 Knapp ein Jahr nach der spektakulären Festnahme Eichmanns am 11. Mai 1960 in Buenos Aires und seinem heimlichen Transport nach Israel begann am 11. April 1961 in Jerusalem der Prozess, der am 15. Dezember 1961 mit dem Todesurteil endete. Diesem ersten Verfahren schloss sich ein wesentlich kürzeres Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof Israels an (22. März bis 29. Mai 1962), in dem das erstinstanzliche Urteil bestätigt wurde. Die Hinrichtung Eichmanns wurde daraufhin in der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni vollzogen.14 Im Laufe des Prozesses wurden mehr als einhundert Zeugen gehört und über 1 500 belastende Dokumente vorgelegt. Die Anklage unter der Leitung des israelischen Generalstaatsanwalts Gideon Hausner verfolgte dabei nicht nur das Ziel, die persönliche Schuld Eichmanns nachzuweisen. Aus der Sicht Hausners – wie auch der israelischen Regierung – sollte der Prozess zugleich dazu dienen, die Vernichtung der europäischen Juden in ihrer ganzen Monstrosität zu dokumentieren und so zu einer historischen und moralischen Verurteilung des Antisemitismus beizutragen. Insbesondere die Aussagen der Zeugen, bei denen es sich fast ausschließlich um Überlebende handelte, sollten das ganze Ausmaß des 13 Über die spektakuläre Aktion des israelischen Geheimdienstes MOSSAD sind seit dem Prozess eine Reihe von Büchern publiziert worden, die u. a. auch von Mitgliedern des MOSSAD ( mit )verfasst wurden. Erwähnt seien hier das Buch des ehemaligen Leiters des MOSSAD Isser Harel, Das Haus in der Garibaldistraße, Frankfurt a. M. 1976; sowie die Berichte zweier an der Aktion beteiligter Agenten : Peter Z. Malkin, Ich jagte Eichmann. Der Bericht des israelischen Geheimagenten, der den Organisator der „Endlösung“ gefangen nahm, München 1991, sowie Zvi Aharoni, Der Jäger – Operation Eichmann. Was wirklich geschah, Stuttgart 1996. Nicht uner wähnt sei hier auch das durchaus sehenswerte, am 25. Juli 2010 erstmals im deutschen Fernsehen ausgestrahlte Doku - Drama von Raymond Ley „Eichmanns Ende. Liebe, Verrat, Tod“ über die Hintergründe der Gefangennahme Eichmanns und über dessen Gespräche mit dem ehemaligen niederländischen SS - Mann, Kriegsberichterstatter und Journalisten William Sassen in Argentinien in den späten 50er Jahren. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 7. 2010 : „Wie konnte er sich je unsichtbar machen ?“ von Patrick Bahners. 14 Zum Prozess vgl. vor allem Dov B. Schmorak ( Hg.), Sieben sagen aus. Zeugen im Eichmann - Prozess, Berlin 1962; ders. ( Hg.), Der Eichmann - Prozess. Dargestellt an Hand der in Nürnberg und in Jerusalem vorgelegten Dokumente sowie der Gerichtsprotokolle, Wien 1964; Robert Servatius, Verteidigung Adolf Eichmann. Plädoyer, Bad Kreuznach 1961; Avner Less ( Hg.), Schuldig. Das Urteil gegen Adolf Eichmann, Frankfurt a. M. 1987; Hausner, Gerechtigkeit; sowie auch Hannah Arendt, Eichmann, und Harry Mulisch, Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann - Prozess, Berlin 1987 (zuerst Köln 1963).

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Grauens verdeutlichen.15 Aber dem Staatsanwalt ging es nicht allein darum, den Überlebenden eine Stimme zu geben und die Leiden der Opfer zu offenbaren. Er rief auch Überlebende des Warschauer Ghetto - Aufstandes und Mitglieder jüdischer Partisanengruppen in den Zeugenstand. Sie sollten und konnten belegen, dass es einen jüdischen Widerstand, ein bewaffnetes Aufbegehren gegen die Verfolgung und Vernichtung des eigenen Volkes gegeben hatte. „Ich hielt es für meine Pflicht,“ so schreibt Hausner später in seinem Prozessbericht, „zumindest einem Bruchteil dessen zu zeigen, was die Juden immerhin geleistet hatten, wenn sie eine Gelegenheit fanden, gegen die Deutschen zu kämpfen.“16 Nicht weniger bedeutsam für die öffentliche Wirkung des Prozesses war das Auftreten des Angeklagten im Gerichtssaal. Bereits sein äußeres Erscheinungsbild sorgte für erste Irritationen. Der ehemalige SS - Obersturmbannführer Eichmann entsprach mitnichten dem Bild eines hasserfüllten Nazis, vielmehr erinnerte er an einen mittleren Angestellten und nicht an einen blutrünstigen Massenmörder. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch seine Sprache. Bei seinen Ausführungen vor Gericht erging er sich in zum Teil endlosen Schachtelsätzen, in denen er sich über die Zuständigkeiten der einzelnen Abteilungen und Referate des RSHA oder anderer Behörden und Ministerien ausließ. Mit bürokratischem Duktus versuchte er deutlich zu machen, dass er nie aus persönlichen Motiven heraus, sondern stets nur als weisungsgebundene Amtsperson gehandelt habe. Dieses Fehlen des „Dämonischen“ oder „Bösen“ in seiner äußeren Erscheinung und die scheinbar kalte und bürokratische Sprache Eichmanns erklärt auch, warum er im Laufe des Verfahrens zu einem Musterexemplar des nationalsozialistischen Schreibtischtäters wurde. Nicht nur Hannah Arendt, sondern auch zahlreiche andere Prozessbeobachter und Kommentatoren sahen sich mit der Frage konfrontiert, was diesen so unscheinbar wirkenden Mann zu seinen Taten getrieben hatte : brutaler Antisemitismus oder emotionsloses Bürokratentum ?

3.

Das breite Echo auf den Fall Eichmann

Wie bereits eingangs betont, war die Nachricht von der Gefangennahme Eichmanns eine Sensation, die weltweit für Schlagzeilen sorgte. Für die deutsche Öffentlichkeit kann ohne Zweifel von einem Paukenschlag gesprochen werden, der die Frage nach der Schuld und Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen unerwartet in das Zentrum einer öffentlichen Debatte rückte.

15 In seiner Anklagerede zu Beginn des Prozesses betonte Hausner wiederholt und eindringlich, dass es sein Anliegen sei, während des Prozesses eine umfassende Darstellung des Holocaust zu geben und dabei den persönlichen Anteil Eichmanns hieran herauszuarbeiten. Vgl. insbes. das Protokoll der 6. Sitzung ( Bezirksgericht Jerusalem. Strafsache 40/61) sowie auch Hausner, Gerechtigkeit, S. 494. 16 Ebd., S. 535.

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Dabei ist es bemerkenswert, dass Adolf Eichmann und seine Funktion im „Dritten Reich“ einer breiteren Öffentlichkeit bis dahin vollkommen unbekannt gewesen waren. Zwar wurde sein Name während des Nürnberger Prozesses 1945/46 von verschiedenen Zeugen erwähnt, und unter Historikern konnte die Bedeutung Eichmanns für die Umsetzung der „Endlösung“ durchaus bekannt gewesen sein. Der breiten Öffentlichkeit jedoch war der Name Eichmann kein Begriff. Dies sollte sich mit dem Prozess schlagartig ändern. Das große Aufsehen, das die spektakuläre Gefangennahme durch den israelischen Geheimdienst, die Entführung aus Argentinien und der Prozess in Jerusalem verursachten, machte es unmöglich, den Fall Eichmann zu ignorieren. Nahezu täglich berichtete die deutsche Presse über den Fortgang des Verfahrens, Rundfunk und Fernsehen brachten Sondersendungen und zahlreiche Politiker, Vertreter der Kirchen, Intellektuelle, Publizisten, Künstler und andere Personen des öffentlichen Lebens äußerten sich im Vorfeld, während und nach dem Prozess zum Fall Eichmann.17 Aufgrund der gut zweijährigen Dauer des Verfahrens verlief die öffentliche Debatte über den Fall in Wellen, die ihre Höhepunkte in den Wochen nach der Bekanntgabe der Gefangennahme und während des Prozesses hatten. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass das öffentliche Interesse in der Bundesrepublik über den gesamten Zeitraum auf stetig hohem Niveau blieb, wenn auch die Intensität der öffentlichen Präsenz variierte.

3.1

Der Prozess als Chance

Bereits unmittelbar nach der Nachricht von der Gefangennahme Eichmanns bestand kein Zweifel daran, dass der Prozess gegen ihn sowohl zu einem Kristallisationspunkt als auch zu einem Prüfstein für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik werden würde. So war man sich bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bereits zwei Tage nach Bekanntwerden der Gefangennahme Eichmanns sicher, dass diese Nachricht auf der ganzen Welt die Erinnerung an den Holocaust – „jener noch so nahen Vergangenheit“ – „schmerzlich wieder auf leben ließ“.18 In der deutschen Öffentlichkeit wurde intensiv darüber diskutiert, wie die Deutschen – oder „wir“, wie es des Öfteren hieß – auf diese Konfrontation mit der dunklen Vergangenheit reagieren sollten, denn sehr schnell war deutlich geworden, dass man sich der Debatte, die der Prozess über die Vergangenheit, über Verantwortung und Schuld hervorrief, nicht würde entziehen können. Und ebenso schnell war man sich zumindest in weiten Teilen der Presse darin einig, dass die Deutschen den Prozess als Chance begreifen sollten, selbst zur Bewältigung der Vergangenheit beizutragen, anstatt sich der notwendigen Auseinan17 Vgl. ausführlich Krause, Eichmann - Prozess. 18 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 5. 1960 : „Gericht“ von N. B.

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dersetzung zu verweigern. Neben anderen19 plädierte beispielsweise Gerhard Ziegler in der „Frankfurter Rundschau“ dafür, den Fall Eichmann zum Anlass zu nehmen, um die Erinnerung an die „dunkle Vergangenheit“ wach zu halten und dem „Wohlstand - Vergessen“ der Deutschen entgegenzuwirken.20 Bernd Nellessen, der 1964 auch ein umfangreiches Buch über den Prozess publizierte,21 verwies in Springers Flaggschiff „Die Welt“ wiederholt nicht nur darauf, dass es schlicht unmöglich sei, einen Schlussstrich unter diese Vergangenheit zu ziehen. Er betonte vielmehr, dass nur eine offene und vor allem ehrliche Auseinandersetzung mit der gesamten NS - Vergangenheit die Leiden zu lindern vermöge : „Im Buch der Geschichte gibt es keinen Schlussstrich wie in der Bilanz eines Kaufmanns. Nun zu sagen, es wäre endlich Zeit, Vergangenes ruhen zu lassen und unbefangen eine neue Seite aufzuschlagen, gliche dem Tun eines Mannes, der mit gefälschten Wechseln ein ehrliches Geschäft machen will. Befangenheit ist unser Los. Von ihr werden wir nicht dadurch befreit, dass wir verdrängen oder verschweigen, sondern dass wir uns bemühen, das Vergangene zu verstehen. Wer Auschwitz durch Vergesslichkeit zu erledigen trachtet, wird durch den Großinquisitor der Juden daran gehindert, dem jetzt der Prozess gemacht wird.“22 Wiederholt betonte Nellessen, wie wichtig es für „uns“, die Deutschen, sei, dass jeder einzelne vor sich selbst Rechenschaft ablege und sich der eigenen Vergangenheit, Verstrickung und Verantwortung stelle und sich so an der notwendigen Aufarbeitung der Vergangenheit beteilige. Eben darin, dass der Fall Eichmann hierzu einen Anlass bot, sah er einen wichtigen Aspekt des Prozesses in Jerusalem, der weit über die Person Adolf Eichmanns hinauswies : „Für uns liegt der Wert dieses Prozesses nicht nur darin, dass den ‚mit der Endlösung der Judenfrage Beauftragten‘ die Gerechtigkeit noch einholt. Der Prozess fordert auch uns heraus, die alten Tagebücher durchzublättern. Er wird das Vergangene ( und längst Beweisbare ) wieder dokumentieren. Von dem Geschehenen können wir uns nicht dadurch befreien, dass wir es verdrängen oder dazu schweigen. Nur in dem Bemühen, sich klarzuwerden über das Ungeheuerliche, es verstehen zu wollen, kann überhaupt Geschichte ‚aufgearbeitet‘ werden. Wir glauben, dass auch dieser Prozess ein Beitrag zur Katharsis sein kann.“23 Dass diese von den meisten als unvermeidlich und von vielen auch als notwendig betrachtete Konfrontation mit der Vergangenheit durchaus schmerzhaft und unangenehm sein konnte, darüber war man sich durchaus bewusst. Es fehlte nicht an Stimmen, die im Prozess weniger einen Anlass zur Selbstreflexion sahen, sondern vor allem eine durch äußere Umstände aufgezwungene Prüfung. 19 Ver wiesen sei hier z. B. auf die Beiträge von Conrad Ahlers und Karl Gerold in der „Frankfurter Rundschau“ sowie Ernst Müller - Meiningen jr. in der „Süddeutschen Zeitung“. 20 Frankfurter Rundschau vom 30. 5. 1960 : „Der Fall Eichmann“ von Gerhard Ziegler. 21 Bernd Nellessen, Der Prozess von Jerusalem. Ein Dokument, Düsseldorf 1964. 22 Die Welt vom 11./12. 6. 1960; „Unsere Ehre heißt Treue ...“ von Bernd Nellessen. 23 Die Welt vom 7. 2. 1961 : „Vor dem Prozess“ von Bernd Nellessen.

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Diese würde zu einer neuerlichen schmachvollen Offenlegung der „im deutschem Namen“ begangenen Verbrechen führen, die es vor allem tapfer zu ertragen gelte. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür ist ein Beitrag von Walter Gong in der Wochenzeitung „Die Zeit“. In seinem Artikel vom März 1961 betont er mehrmals, dass der Eichmann - Prozess nicht nur zu einer Verschlechterung des Ansehen Deutschlands in der Welt führen werde, sondern die Konfrontation mit den Verbrechen der Vergangenheit auch eine Demütigung für alle Deutschen mit sich bringen werde : „Wir alle – ob wir wollen oder nicht – werden uns mit dem Fall Eichmann auseinandersetzen müssen. Und natürlich wollen wir eigentlich nicht. Natürlich wollten wir eigentlich, dass die schmähliche Vergangenheit endlich begraben sei, ein für allemal, und es schüttelt uns im voraus, wenn wir daran denken, was uns dieses Jahr des Eichmann - Prozesses – das sechzehnte Jahr nach dem Zusammenbruch des Hitler - und Eichmann - Regimes – an Demütigungen bringen wird – und ich wiederhole : an Demütigungen für uns alle, sofern wir Deutsche sind. Da kann sich niemand drücken – sei er zehnmal ‚dagegen‘ gewesen, aktiv oder passiv.“24 Auffällig an den Ausführungen Gongs ist, dass er im Unterschied zu Nellessen dem Prozess keine positiven Seiten abgewinnen konnte. Er sah im Verfahren gegen Eichmann vor allem eine Demütigung. Eine Chance, sich der Vergangenheit zu stellen und daraus zu lernen, konnte er hingegen darin nicht erkennen. Am Ende blieb für ihn nur die Schlussfolgerung, dass „wir“, „wie es sich für Deutsche gehört, die keine Feiglinge sind“, „die große Bitternis mannhaft schlucken“.25 Zwischen den Positionen von Nellessen und Gong war die Haltung der Bundesregierung angesiedelt, die sich ebenfalls dieser Frage stellen musste. So wandte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer zum Prozessbeginn am 11. April 1961 mit einer Fernsehansprache an die Bundesbürger und brachte den Wunsch der Regierung zum Ausdruck, „dass in diesem Prozess die volle Wahrheit ans Licht“ komme „und dass Gerechtigkeit geübt“ werde. Gleichzeitig betonte er aber auch, dass es im „deutschen Volkskörper“ „heute keinen Nationalsozialismus mehr, kein nationalsozialistisches Empfinden“ mehr gebe.26 Und wenige Tage später nutzte Bundespräsident Lübke eine Rede vor der europäischen Kulturministerkonferenz in Hamburg, um sich zum Thema Eichmann zur äußern. Dabei stellte er u. a. fest, dass der Eichmann - Prozess ein „Symbol“ für die „entsetzlichen Verbrechen, die Hitler und seine Gefolgsleute im deutschen Namen verübten“, sei, und er betonte, dass die Deutschen erfüllt seien von „tiefer Scham, dass Mitglieder unseres Volkes sich an solchen Verbrechen beteiligten“.

24 Die Zeit vom 17. 3. 1961 : „Eichmann, das große Weltgericht und wir“ von Walter Gong. 25 Ebd. 26 Vor Beginn des Eichmann - Prozesses. Eine Erklärung des Bundeskanzlers im Fernsehen vom 11. 4. 1961. Zit. nach Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 11. 4. 1961, S. 641.

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Gleichzeitig unterstrich er aber auch, dass es „grundfalsch“ sei, „Nationalsozialismus und Deutsche gleichzusetzen“.27 Sowohl Adenauers als auch Lübkes Äußerungen lassen das Dilemma erkennen, in dem die Bundesregierung sich sah : Auf der einen Seite galt es angesichts der Ereignisse in Jerusalem deutlich zu machen, dass man selbstverständlich eine konsequente Aufklärung der Verbrechen Eichmanns und des „Dritten Reiches“ insgesamt befür wortete. Andererseits galt es, das Ansehen der Bundesrepublik und der Deutschen zu verteidigen. Weniger abwägend äußerte sich hingegen der Regierende Bürgermeister von Berlin und Hoffnungsträger der SPD Willy Brandt, der selbst vor den Nationalsozialisten hatte fliehen müssen. In einer vom Berliner Radiosender RIAS ausgestrahlten Ansprache rief er am 16. April 1961 die Deutschen dazu auf, sich angesichts des Jerusalemer Prozesses ehrlich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen : „So unbequem auch dieser Prozess vielfach empfunden werden mag, wir sollten das Urteil der Welt nicht fürchten. Wir sollten uns auch an den aufgeworfenen Fragen nicht vorbeidrücken, sondern uns offen und ehrlich mit ihnen auseinandersetzen.“28 Von Seiten der Kirchen gab es ebenfalls prominente Stimmen, die sich mit der Frage des angemessenen Umganges mit dem Prozess auseinandersetzten. Die katholischen Bischöfe verabschiedeten ein gemeinsames Hirtenwort zum Eichmann - Prozess, in dem sie die Deutschen dazu aufriefen, „das Menschenmögliche zu tun, das am jüdischen Volk und an anderen Völkern verübte Unrecht wiedergutzumachen“. Dabei fällt auf, dass – ähnlich wie in der Rede von Bundespräsident Lübke – die Verantwortung für die Verbrechen einzig bei der damaligen „politischen Führung“ gesehen wird, die sich „angemaßt hat, ewige Gesetze Gottes außer Kraft zu setzen“.29 Darüber hinaus verfassten die Bischöfe auf ihrer Frühjahrskonferenz im Mai 1961 auch ein „Gebet für die ermordeten Juden und ihre Verfolger“, das am 11. Juni 1961 in allen katholischen Kirchen gebetet wurde. Das Gebet schloss nicht nur die Bitte um Trost und Heilung für die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen mit ein, sondern bat auch für die Täter sowohl um „Einsicht“ und „Umkehr“, als auch im Sinne der christlichen Lehre um Vergebung für die „unermessliche Schuld, die menschliche Sühne nicht tilgen kann“.30 Die protestantischen Kirchen standen ihren katholischen Glaubensbrüdern bei der Auseinandersetzung mit dem Fall Eichmann in nichts nach. Auch ihre Vertreter verabschiedeten eine gemeinsame öffentliche Erklärung, die im Vergleich zum Hirtenwort der katholischen Bischöfe jedoch stärker die Mitverantwortung und auch Mitschuld der damals lebenden Deutschen an der Ermordung der europäischen Juden betonte : „Wir dürfen angesichts des Frevels, für 27 In Auszügen ist die Rede dokumentiert in Lamm, Eichmann - Prozess, S. I. 28 Zit. nach ebd., S. VII. 29 Erklärung der deutschen Bischöfe zum Eichmann - Prozess. In : Freiburger Rundbrief, XIII. Folge (1960/61), Nr. 50/52, S. 3. 30 Gebet für die ermordeten Juden und ihre Verfolger. In : ebd., S. 3.

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den wir als Volk die Verantwortung tragen, Augen und Ohren nicht verschließen. Alle überlebenden Deutschen, die in urteilsfähigem Alter die Gräuel der Judenvernichtung miterlebt haben, auch die, welche jüdische Mitbürger in ihrer Bedrängnis beigestanden haben, müssen vor Gott bekennen, durch Mangel an wachsamer und opferbereiter Liebe mitschuldig geworden zu sein. In unserer Mitte leben solche, die vorsätzlich und aktiv, wenn auch nur als ‚kleiner Befehlsempfänger‘, an der Ermordung der sechs Millionen Juden mitgewirkt haben.“31 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass maßgebliche Stimmen der bundesrepublikanischen Gesellschaft den Eichmann - Prozess als einen wichtigen Anlass für die Deutschen ansahen, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Daneben lässt sich aber auch ein gewisses Unbehagen erkennen, was den Prozess anbelangt. So plädierte etwa Henri Nannen, der Herausgeber der auf lagenstarken Zeitschrift „Der Stern“, kurz nach Bekanntwerden der Festnahme Eichmanns in seinem wöchentlichen Editorial dafür, den anstehenden Prozess möglichst „rasch“ und „leidenschaftslos“ über die Bühne zu bringen. Eine ausführliche öffentliche Darstellung der grauenvollen Verbrechen hielt er für schädlich, da dies insbesondere die Jugend in Deutschland mit Schuldgefühlen belasten und so zu einem „neuen antisemitischen Komplex“ führen könnte.32 Nannen erhielt jedoch keine Unterstützung, zumindest folgte die veröffentlichte Meinung ihm hier nicht, sondern wandte sich sehr ausführlich dem Fall Eichmann und den vielfältigen, durch den Prozess aufgeworfenen Fragen zu. Und auch ohne die Zeitschrift „Der Stern“ wurde der Jerusalemer Prozess nicht nur ein Medienereignis, sondern auch ein Gegenstand gesellschaftlicher Debatten, der von vielen als Chance gesehen wurde, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

3.2

Wer soll Eichmann vor Gericht stellen ?

Zeitgleich mit der Debatte, ob der Eichmann - Prozess eine Belastung oder Chance für die Deutschen sei, wurde die Frage diskutiert, wer Eichmann vor Gericht stellen dürfe bzw. wo dieser Prozess stattfinden solle. Dies war keine einfache Frage. Eichmann war durch eine Entführung, also durch einen illegalen Akt, in die Hände der israelischen Justiz gelangt. Dass der Staat Israel erst nach dem Krieg gegründet worden war, stellte auch die Anwendbarkeit der israelischen 31 Entschließung der Berliner Synode der EKD zum Eichmann - Prozess. In : ebd., S. 63. 32 Der Stern vom 9. 7. 1960 : „Liebe Sternleser“ von Henri Nannen. Erwähnt sei auch, dass in der Illustrierten zwar eine mehrteilige Artikelserie über Eichmann und vor allem über seine Flucht nach Argentinien, jedoch während der gesamten Dauer des Verfahrens in Jerusalem kein einziger Artikel über den Prozess selbst veröffentlicht wurde. Vgl. Der Stern vom 2. 7. 1960 : „Adolf Eichmann“, S. 14–18, 65–86, 72 f.; Der Stern vom 25. 6. 1960 : „Eichmanns letzte Jahre“ von Robert Pendorf, S. 10–16, 63 f.; Der Stern vom 9. 7. 1960 : „Adolf Eichmann“ von Robert Pendorf, S. 16 f., 58 f.

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Gesetze in Frage, da diese zum Zeitpunkt der Eichmann zur Last gelegten Verbrechen noch gar nicht existiert hatten. Es stand also die Frage im Raum, ob die Bundesregierung einen Auslieferungsantrag stellen sollte, um Eichmann vor ein deutsches Gericht zu stellen. Darüber hinaus galt es zu bedenken, dass ein Prozess in Israel möglicherweise negative Auswirkungen sowohl für das Ansehen der Bundesrepublik als auch für das Ansehen des Staates Israel haben könnte : Für die Bundesrepublik, da die „dunkle Vergangenheit“ wieder ans Licht gelangte. Und für Israel, weil die illegale Festnahme Anlass zu Kritik geben könnte und der Vor wurf drohte, man wolle einen Schauprozess inszenieren. Vor dem Hintergrund dieses komplizierten Geflechts aus juristischen Problemen und politischen Erwägungen verwundert es nicht, dass die Diskussion über den Ort des Prozesses auch in den damaligen Tages - und Wochenzeitungen engagiert geführt wurde. So machten sich beispielsweise Karl Gerold in der „Frankfurter Rundschau“ und Henri Nannen im „Stern“ für eine Auslieferung Eichmanns an die Bundesrepublik stark, um ihm vor einem deutschen Gericht den Prozess zu machen. Dabei ist bemerkenswert, dass die beiden dies unterschiedlich begründeten. Für Gerold war die juristische Abrechnung mit Eichmann und anderen NS - Tätern eine aus der historischen Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen resultierende Verpflichtung der Deutschen : „Dieser Mann hat seine Verbrechen im Namen des deutschen Volkes begangen und uns alle damit belastet. Die Bundesrepublik ist also verpflichtet, alles zu tun, um Eichmann mitsamt seinen Komplicen vor deutsche Gerichte zu stellen.“33 Gerold sah in der Aburteilung Eichmanns und der anderen NS - Täter durch deutsche Richter eine Möglichkeit zu beweisen, dass die Bundesrepublik ein anderes Deutschland geworden sei, das „entschlossen ist, unserem Recht auf Sühne Genugtuung zu geben“. Henri Nannen plädierte aus anderen Gründen gegen einen Prozess in Israel und für eine Überstellung Eichmanns an die Bundesrepublik. Für ihn galt es als ausgemacht, dass die israelische Regierung den Prozess gegen den ehemaligen SS - Obersturmbannführer für politische Zwecke instrumentalisieren würde. Insbesondere, so Nannen, könnte Israel an der neuerlichen öffentlichen Darstellung der „deutschen Schuld“ gelegen sein, „weil eine solche Demonstration die Bundesrepublik moralisch verpflichten müsste, die demnächst auslaufenden Wiedergutmachungszahlungen an Israel fortzusetzen“. Aber nicht nur, dass er der Regierung Ben - Gurion unterstellte, sie würde den Prozess gegen den ehemaligen SS - Obersturmbannführer dazu benutzen, um mehr Geld von der Bundesrepublik zu erhalten. Nannen ging noch einen Schritt weiter. Er suggerierte zudem, dass der Staatsanwalt und die Richter dafür Sorge tragen würden, unangenehme Aussagen Eichmanns zu seinen „jüdischen Mithelfern“ – gemeint waren die sogenannten „Judenräte“ und zionistische Funktionäre, die in den 30er Jahren die Auswanderung der deutschen Juden nach Palästina vorangetrieben hatten – unter den Teppich zu kehren. Aus diesen Gründen war Nannen 33 Frankfurter Rundschau vom 11./12. 1960 : „Der geraubte Mörder“ von Karl Gerold.

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überzeugt, dass Israel nicht der richtige Ort für einen Prozess gegen Eichmann sei. In der Bundesrepublik hingegen würde die „schuldbewusste Befangenheit der Deutschen“ dafür Sorge tragen, dass „sich das Verfahren auf die unmittelbare Verantwortung Eichmanns und seiner Auftraggeber beschränkte“, also nicht für monetäre Zwecke instrumentalisiert werde. Auch seien die deutschen Richter in der Lage, zu gewährleisten, dass die „ganze Wahrheit zutage“ komme, d. h. heißt, dass die „jüdischen Mithelfer“ Eichmanns nicht geschont würden. In Israel hingegen würde ein Schauprozess drohen, der Gefahr liefe, eine „Eichmann - Legende“ zu schaffen.34 Dass die „schuldbewusste Befangenheit der Deutschen“ aber auch dazu führen könnte, die Verantwortung der Deutschen kleiner zu machen, wurde von Nannen nicht problematisiert. Nicht nur in der Tages - und Wochenpresse wurde das Für und Wider eines Prozesses in Israel diskutiert, auch verschiedene Intellektuelle meldeten sich hierzu zu Wort. So sprach sich z. B. Karl Jaspers dafür aus, Eichmann nicht in Israel vor Gericht zu stellen, sondern durch ein internationales Tribunal aburteilen zu lassen. In einem Interview, das er der Zeitschrift „Der Monat“ gab, begründete er diese Position vor allem damit, dass es sich bei den Eichmann zur Last gelegten Verbrechen um Verbrechen eines „neuen Typus“ handele, die in „keinem Strafgesetzbuch klar definiert“ seien. Die Verbrechen wurden im „Rahmen eines Staates“ begangen und waren durch den „politischen Willen dieses Staates“ bestimmt gewesen. Es sei somit nicht von „Mord im üblichen Sinne“ zu sprechen, da persönliche Motive wie Rache oder Eigennutz keine Rolle gespielt hätten. Wie auch Hannah Arendt erkannte er im Holocaust ein Verbrechen gegen die Menschheit, was es letztlich auch erforderlich mache, dass die gesamte Menschheit darüber zu Gericht zu sitzen hätte. Auf der Grundlage dieser Überlegungen entwickelte der Philosoph Jaspers – wohl wissend, dass die politische Wirklichkeit dem entgegenstand – die „Phantasie“, dass eine von der UNO zu schaffende Instanz, eine Art „Tribunal der Menschheit“, das endgültige Urteil über Eichmann fällen und auch vollstrecken sollte. Dies sollte nicht zuletzt aus der Erkenntnis heraus geschehen, dass die Taten Eichmanns „nicht nur die Juden“, sondern alle Menschen anging, „weil in den Juden die Menschheit selber getroffen worden“ sei. Jegliches Misstrauen gegenüber der israelischen Justiz lag ihm dabei vollkommen fern, ihn trieb die Sorge um, dass die schier unfassbare, die nationalstaatlichen Grenzen transzendierenden Dimension des Verbrechens in einem Verfahren vor einem traditionellen nationalstaatlichen Gericht nicht angemessen berücksichtigt würde.35 Andere wiederum, wie etwa der Frankfurter Soziologe und Philosoph Max Horkheimer, hielten einen Strafprozess grundsätzlich für ungeeignet, den Dimensionen des Falles Eichmanns und dem Menschheitsverbrechen des Holocaust gerecht zu werden. Die „Vorstellung“, „dass Eichmann seine Taten ‚süh34 Der Stern vom 25. 6. 1960 : „Liebe Sternleser“ von Henri Nannen. 35 Karl Jaspers zum Eichmann - Prozess. Ein Gespräch mit Francois Bondy. In : Der Monat, 13 (1961) 152, S. 15–19.

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nen‘ könne nach menschlichem Urteil und Richterspruch“, war für Horkheimer, der von den Nazis ins Exil vertrieben worden war, „ein grauenvoll grotesker Hohn“ „auf die Opfer“.36 Diese Erkenntnis, dass Recht in diesem Fall keine Gerechtigkeit schaffen könne, und die Sorge darum, dass der Prozess in Israel neues Ungemach für die Juden in der ganzen Welt bringen könnte, ließen Horkheimer letztlich kapitulieren : „Der Philosoph ist kein Praktiker, er plädiert auf Unzuständigkeit des Gerichts und Rückgabe an das Land, aus dem man ihn entwendet hat. Er meint, von dem Prozess wird nichts Gutes kommen, weder für die Sicherheit und Stellung der Juden in der Welt noch gar für ihr Selbstbewusstsein. Der Prozess ist eine Wiederholung : Eichmann wird eine zweites Mal Unheil stiften.“37 Am Ende blieb die Debatte um die Frage „Wo soll Eichmann vor Gericht gestellt werden ?“ rein „akademisch“, auch wenn sie durchaus Aufschlüsse über die Bereitschaft oder auch Nicht - Bereitschaft einzelner ihrer Protagonisten zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit lieferte. Wie vorherzusehen war, wurde Eichmann weder an die Bundesrepublik ausgeliefert, noch an ein internationales Tribunal überstellt. Die israelische Regierung blieb bei ihrer Entscheidung, Eichmann in Jerusalem den Prozess zu machen – und die Bundesregierung machte freilich auch keinerlei Anstalten, Eichmanns Auslieferung zu erwirken.38 Dass Eichmann dennoch von „deutschen“ Richtern abgeurteilt wurde, entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie : Die drei israelischen Richter, die das Urteil sprachen, stammten entweder aus Deutschland oder hatte dort lange gelebt und studiert, bevor sie von den Nazis vertrieben worden waren.39

3.3

Bürokrat oder Überzeugungstäter – Was war Adolf Eichmann ?

Ein weiterer zentraler Aspekt der öffentlichen Debatte um den Fall Eichmann betraf die Frage : War Eichmann ein Überzeugungstäter oder „nur“ ein Bürokrat? Aufgeworfen wurde diese Frage, die viele Prozessbeobachter umtrieb, durch einen scheinbaren Widerspruch. Einerseits war da der unscheinbare, vor 36 Max Horkheimer, Zur Ergreifung Eichmanns. In : ders., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende. Hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1967, S. 317–320, hier 319. 37 Ebd., S. 320. 38 Vgl. hierzu Christina Große, Der Eichmann - Prozess zwischen Recht und Politik, Frankfurt a. M. 1995. 39 Mosche Landau ( Vorsitzender ), Richter am Obersten Gerichtshof Israels, war in Danzig geboren worden; Benjamin Halevi, Präsident des Bezirksgerichts Jerusalem, und Itzchak Raveh, Richter am Bezirksgericht Tel Aviv, hatten beide in Berlin studiert und promoviert. Vgl. Hausner, Gerechtigkeit, S. 465 f. Der deutsche Hintergrund der drei Richter wurde auch von der zeitgenössischen Presseberichterstattung durchaus zur Kenntnis genommen und thematisiert. Vgl. z. B. Die Zeit vom 2. 6. 1961 : „Die Richter von Jerusalem“ von Robert Pendorf. Dass Eichmanns Verteidiger der Kölner Strafverteidiger Robert Servatius war, rundet das Bild ab.

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Gericht servil auftretende Eichmann, der sich in seinen endlos scheinenden Ausführungen einer von Amtsdeutsch geprägten Sprache bediente. Andererseits saß da ein Mann, dem all diese monströsen Verbrechen vorgeworfen wurden. Es fiel vielen, die den Prozess verfolgten, schwer, beide „Eichmanns“ miteinander in Deckung zu bringen. Es passte nicht zusammen, dass dieser so unscheinbar wirkende Mann mit Brille einer der größten Verbrecher der Geschichte sein sollte: Das Fehlen des „Dämonischen“ war überraschend und verstörend. Der bis heute einflussreichste und zugleich auch umstrittenste Text, der sich mit diesem Aspekt auseinandersetzte, ist Hannah Arendts Schrift „Eichmann in Jerusalem“.40 Das 1963 im amerikanischen Original erschienene Buch beruhte auf einer mehrteiligen Artikelserie, die Arendt im selben Jahr in der amerikanischen Zeitschrift „The New Yorker“ veröffentlicht hatte. Im Auftrag der Zeitschrift hatte sie den Prozess in Jerusalem beobachtet. Ein Jahr später erschien die Erstauf lage der deutschen Übersetzung des Buches. Auf der Grundlage der ihr vorliegenden Dokumente und den Eindrücken, die sie im Gerichtssaal sammeln konnte – wobei betont werden muss, dass sie nicht alle Sitzungen des Prozesses verfolgt hatte –, setzte sich die 1933 aus Deutschland vertriebene Philosophin in ihrem „Bericht von der Banalität des Bösen“, so der Untertitel des Buches, auf grundsätzliche Art mit dem Wesen und den Bedingungen der von ihr als „Verwaltungsmassenmord“41 bezeichneten Ermordung der europäischen Juden und den Motiven der Täter auseinander. Dabei betonte sie vor allem die große Bedeutung der Strukturen des NS - Systems. Sie war der Überzeugung, dass die persönlichen Motive von Tätern wie Eichmann eher von geringerer Bedeutung für die Ausführung der „Endlösung“ genannten Vernichtung der europäischen Juden gewesen seien. Aus ihrer Sicht war Eichmann nicht ideologisch motiviert und im eigentlichen Sinne des Wortes auch nicht wirklich „böse“. Sie sah in Eichmann einen durchschnittlichen Mann von schlichtem Charakter, dessen wichtigstes Bestreben es gewesen sei, möglichst rasch die Karriereleiter zu erklimmen. Im vollkommenen Gegensatz zur israelischen Staatsanwaltschaft war sie sich sicher, dass er kein überzeugter Nazi sei, dessen Taten in seinem tiefen Hass auf die Juden gründeten. Insbesondere seine äußere Erscheinung und seine langen, ermüdenden und bürokratischen Ausführungen zu den Strukturen des NS - Regimes verfestigten Arendts Eindruck, dass Eichmann letztlich ein „Hanswurst“ war, der sich nicht durch kalte Grausamkeit, sondern vor allem durch einen Mangel an Empathie und Vorstellungskraft ausgezeichnet habe.42 Dieses Fehlen einer eigenen, ideologisch fundierten Motivation machte Eichmanns Taten jedoch nicht weniger schrecklich. Diese „Banalität des Bösen“ war für sie auch das Kennzeichen einer neuen und besonderen Radikalität, eines neuen Tätertypus : des Schreibtischtäters, der eingebunden in einen großen bürokratischen Apparat zur Erfüllung seiner Aufgaben in erster Linie Pflicht40 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1992 ( zuerst 1964). 41 Ebd., S. 17. 42 Ebd., S. 83, 78.

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bewusstsein und Gedankenlosigkeit benötigte.43 Hannah Arendt war aber bei Weitem nicht die einzige, die in Eichmann vor allem einen Bürokraten sah und die Strukturen des NS - Regimes, in die er eingebunden gewesen war, als letztlich entscheidend für sein Verhalten ansah. Unabhängig von ihr – und es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sowohl die Artikelserie als auch das spätere Buch die Debatte zur Zeit des Prozesses nicht beeinflussen konnten, da sie erst 1963 bzw. 1964 erschienen waren – war die These, dass Eichmann ein Bürokrat der „Endlösung“ gewesen sei, ein gängiges, ja geradezu das dominierende Narrativ in der Berichterstattung in den deutschen Zeitungen. Bereits im Juni 1960 – also Monate vor dem Beginn des Prozesses und noch bevor Eichmann persönlich in Erscheinung trat – beschrieb Theo Sommer in der „Zeit“ Eichmann als einen „Ver walter, dessen Ressort das Morden“ gewesen sei. Er vertrat die These, dass der „beamtete Unmensch“ aus „purem Zufall“ und keineswegs „aus besonderer Neigung“ zum „Massenmörder der Juden“ geworden sei. Wäre er Mitarbeiter der Organisation „Kraft durch Freude“ gewesen, so Theo Sommer, „wäre er wahrscheinlich ein glänzender Planer und Durchführer von Massen - Erholungsreisen geworden“.44 Und Joachim Schwelien betonte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gut ein Jahr später und noch ganz unter dem Eindruck der ersten Auftritte Eichmanns im Gerichtssaal wie überraschend groß die Diskrepanz zwischen Verbrechen und Person sei. Er kam zu dem Schluss, dass der ehemalige Leiter des für die Organisation der „Endlösung“ zuständigen Referats im RSHA allem Anschein nach tatsächlich davon überzeugt sei, nur ein einfacher Befehlsempfänger gewesen zu sein : 43 Neben diesen Betrachtungen und Thesen zu den Motiven und dem Charakter Eichmanns ging Arendt in ihrem „Bericht von der Banalität des Bösen“ aber noch auf zwei weitere Aspekte des Falles Eichmann und des Jerusalemer Prozesses ein : Zum einen übte sie heftige Kritik an der Prozessgestaltung. Aus ihrer Sicht hatte der Prozess durchaus „Schauspielcharakter“, da die israelische Regierung „eine ganze Reihe politischer Nebenabsichten zu verfolgen gedachte“. Damit zielte sie auf die erklärte Absicht des israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion, den Prozess sowohl dazu zu nutzen, um an die Ermordung von Millionen Juden zu erinnern, als auch um auf die wichtige Rolle Israels für den Schutz der Juden in der Gegenwart hinzuweisen. Ein weiterer zentraler Aspekt des Buches von Arendt waren ihre Angriffe gegen jene jüdischen Funktionäre, die in der Zeit des Schreckens und der Verfolgung gezwungen gewesen waren, Verantwortung zu übernehmen und mit den Mördern ihres Volkes zu verhandeln. Ihnen warf sie vor, nicht selten zum eigenen Vorteil gehandelt zu haben, anstatt die Juden zum Widerstand aufzurufen, was wiederum den Mördern in die Hände gespielt hätte. Bei diesen starken Thesen ist es nicht überraschend, dass Arendts Buch für großes Aufsehen sorgte – auch wenn es erst knapp zwei Jahre nach Ende des Prozesses erschien. Insbesondere in Israel und innerhalb der jüdischen Gemeinschaft stieß es auf zum Teil heftige Ablehnung, die für Arendt zum Teil bittere Konsequenzen hatte. Nicht nur, dass ihr Buch lange Zeit nicht in Israel verlegt wurde, sondern es zerbrachen auch Freundschaften, die zum Teil über Jahre und Jahrzehnte bestanden hatten. Vgl. Peter Krause, Kann das Böse „banal“ sein ? Hannah Arendts Bericht aus Jerusalem. In : Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 6 (2009) 1, S. 153–158. 44 Die Zeit vom 6. 3. 1960 : „Adolf Eichmann, Obstubaf. a. D.“ von Theo Sommer.

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„Er folgte nicht nur der von der Verteidigung durchaus verständlich vorgezeichneten und einstudierten Linie des Leugnens, Abwälzens, Vertuschens oder des Berufens auf den Befehl von höherem Ort, sondern er glaubte sich ganz und gar berufen, seiner, Eichmanns, Wahrheit die Gasse öffnen zu müssen. [...] Das war das Bedrückende, dass man schließlich nicht mehr überzeugt sein konnte, er lüge einfach das Blaue vom Himmel und leugne das hundertfach und ganz vorurteilsfrei Bewiesene : Nein, Adolf Eichmann ist heute tatsächlich überzeugt, das ‚Werkzeug stärkerer Kräfte‘ gewesen zu sein und im Grunde nichts Böses getan zu haben; an den Tötungen sei er unschuldig, an seinen Händen klebe kein Blut. Jedem Versuch, ihm hier zu einem Geständnis zu bewegen, hat er bis zum letzten Augenblick selbstüberzeugten Widerstand entgegengesetzt. [...] Er ging seinen Weg zu Ende, den des bis zum letzten pflichteifrigen Amtgehilfen des Todes, korrekt, rechthaberisch, verständnislos, ein Aktenschrank auf Leichenhügeln.“45

Die größte Übereinstimmung mit der These Hannah Arendts von der „Banalität des Bösen“ findet sich in den Berichten des zunächst für den „Stern“ und später für „Die Zeit“ schreibenden Journalisten Robert Pendorf. Auch er teilte die Auffassung, dass Eichmann nicht durch eine innere Überzeugung zu seinen Taten getrieben worden sei, sondern dass er ein „Mordbeamter“ und „Befehlsausführer“ gewesen war, dessen „hervorstehender Charakterzug“ seine „überdrehte Pedanterie“ sei. Aber gerade diese Eigenschaften machten Eichmann so bedrohlich, denn er stelle den „Prototyp des gehorsamen Mordbeamten“ dar,46 über dessen „Verstand“ es gehe, „dass blindes Gehorchen und Verzicht auf jedes Handeln ohne ‚Weisung‘ nicht genügen kann, ihn von jeder persönlichen Verantwortung freizuhalten“.47 Und, ähnlich wie Arendt, sieht Pendorf darin die erschreckende Lehre, die es aus dem Fall Eichmann zu ziehen gelte : „Das ist es, was viel fürchterlicher ist als hier ein Sadist und dort ein brutaler Schlächter : die unheimliche Fähigkeit von Menschen, sich selbst zu Robotern auch des Schrecklichsten zu degradieren, sich dessen zu entkleiden, was den Menschen zum Menschen macht, nämlich die Verantwortung für das eigene Tun. Dieses kann uns und anderen und überall alle Tage wieder passieren. Das ist das bittere Fazit des Prozesses.“48 Es gab aber auch Stimmen, auch wenn diese weniger präsent und in der Minderheit waren, die in Eichmann einen Überzeugungstäter sahen. Besonders eindringlich vertrat Paul Wilhelm Wenger in der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ die These vom Überzeugungstäter. Er wies darauf hin, dass man nicht durch Untätigkeit und Gleichgültigkeit eine derartige Karriere im NS - Regime machen konnte, wie dies Eichmann gelungen sei. Um ein solcher „Exekutionsingenieur“ zu werden, musste man „nicht nur in die SS und den SD eintreten, sondern man musste auch bereit sein, das Judenreferat im Reichssicherheits-

45 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 7. 1961 : „Eichmanns Wahrheit“ von Joachim Schwelien. 46 Die Zeit vom 24. 4. 1961 : „Ein falscher Angeklagter ?“ von Robert Pendorf. 47 Die Zeit vom 30. 6. 1961 : „Wieder wühlt er in den Akten“ von Robert Pendorf. 48 Die Zeit vom 21. 7. 1961 : „‚Weil ich Treue geschworen habe ...‘ Das Fazit des EichmannProzesses vor den Schlussplädoyers“ von Robert Pendorf.

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hauptamt zu übernehmen. Man musste also zu einer besonderen Art der NS Karriere bereit sein, die man nicht einmal der Masse unterstellen kann.“49 Eichmann sei eben kein kleiner „P. G. Jedermann“50 gewesen, der einfach im Strom der Ereignisse mitgeschwommen sei. Aus seiner Sicht war es zu einfach, ihn zu einem austauschbaren Rädchen im Getriebe der Vernichtung zu machen und seine eigenen Motive und Überzeugungen als zweitrangig anzusehen. Wenn man jemanden wie Eichmann, der nicht nur SS - Obersturmbannführer gewesen war, sondern sogar eine Schlüsselstellung im NS - System inne gehabt hatte, als einen reinen Befehlsempfänger und Mitläufer einstufte, so würde dies zu einer Einebnung und Verwischung der bestehenden Unterschiede zwischen den vielen kleinen Mitläufern und den Überzeugungstätern führen. Wenger war der Überzeugung, dass das individuelle Maß an Schuld von den jeweiligen, damals persönlich zu verantwortenden Handlungen und Entscheidungen abhing. Und Eichmann war eben kein kleiner Landser gewesen, sondern ein hochrangiger Offizier der SS, der freiwillig und engagiert im RSHA seinen Dienst versehen hatte. Letztlich überwogen jedoch die Stimmen, die in Eichmann einen „Mordbürokraten“ sahen, der ohne wirkliche innere Überzeugung in der Mordmaschinerie der Nationalsozialisten ans Werk ging. Einigkeit herrschte aber auch darüber, dass ihn dies nicht von Verantwortung und Schuld freisprach : Der Verweis auf Befehl und Gehorsam wurde im Falle Eichmanns nicht als schuldmindernd akzeptiert, dazu waren seine Taten zu monströs. Bemerkenswert aus heutiger Perspektive ist, dass Hannah Arendt nicht die einzige war, die die Frage aufgriff, ob es sich bei Eichmann um einen seelenlosen Bürokraten oder einen überzeugten Nazi handelte. Die Irritation, die Eichmanns Erscheinung und Auftreten im Jerusalemer Gerichtssaal auslöste, veranlasste nicht nur die Philosophin dazu, eine Antwort auf die Frage nach der scheinbaren Diskrepanz zwischen Person und Verbrechen zu suchen, und nicht wenige gaben eine ähnliche Antwort wie Arendt, indem sie in dem ehemaligen SS - Obersturmbannführer letztlich einen seelenlosen Bürokraten ohne eigenen Antrieb jenseits der Pflichterfüllung und Pedanterie sahen. Was von dieser breit und engagiert geführten Debatte um die Frage „Wer war Adolf Eichmann ?“ blieb, war Hannah Arendts einprägsame Formulierung von der „Banalität des Bösen“, die sich zum Teil aus dem Kontext des ursprünglichen Textes gelöst und durch ihren inflationären Gebrauch an Schärfe verloren hat. Andere, die ähnliche Thesen vertraten, sind heute nahezu vergessen. Die Frage selbst wird immer wieder aufs Neue aufgegriffen und blieb bis heute unbeantwortet.

49 Rheinischer Merkur von Weihnachten 1961 : „Eichmann und Genossen“ von Paul Wilhelm Wenger. 50 Rheinischer Merkur vom 23. 6. 1961 : „Eichmann Jedermann“ von Paul Wilhelm Wenger.

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Die „Eichmänner“

Bereits wenige Wochen nachdem die Nachricht von der spektakulären Gefangennahme Eichmanns die Runde gemacht hatte, wurde in der deutschen Öffentlichkeit noch eine weitere Frage intensiv diskutiert : Wird Eichmann in den Verhören die Namen seiner Komplizen nennen ? Innerhalb kürzester Zeit war der Fall Eichmann nicht mehr allein auf den im israelischen Gefängnis einsitzenden ehemaligen SS - Obersturmbannführer beschränkt, sondern bot Anlass, um nach dem Verbleib der zahlreichen anderen am Massenmord an den Juden beteiligten Täter und Mittäter zu fragen. So gab es nicht nur Spekulationen, dass es zu weiteren Festnahmen kommen werde, sondern man vermutete sogar bereits im Juni 1960 – also knapp ein Jahr vor Prozessbeginn –, dass der anstehende Prozess „viel Staub aufwirbeln wird und die Position nicht weniger ehemaliger Nazis, die sich heute wieder in Amt und Würden befinden, erschüttern wird“.51 Mit dem Näherrücken und schließlich mit dem Beginn des Prozesses wurden diese zunächst recht allgemein gehaltenen Mutmaßungen über die zahlreichen anderen „Eichmänner“ oder auch „Eichmanns“, wie man insbesondere NS Schreibtischtäter nun zu nennen pflegte, deren Rolle im Terrorsystem der Nationalsozialisten und deren Schicksal nach 1945 konkreter und zu einem feststehenden Topos in der Berichterstattung über den Fall Eichmann. Unterstützt wurde dieser Blick über Eichmann hinaus sowohl durch die Strategie der Anklage, als auch durch das Auftreten der Verteidigung im Jerusalemer Gerichtssaal. Indem Generalstaatsanwalt Hausner darum bemüht war, Eichmanns Rolle in der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten genauestens darzustellen und die Institutionen zu benennen, die mit ihm gemeinsam an der Organisation und Durchführung der „Endlösung“ beteiligt gewesen waren, wurde schnell offensichtlich, wie enorm groß die Zahl der Helfer und Helfershelfer Eichmanns gewesen sein musste. Aber auch die Verteidigung und Eichmann selbst weiteten den Blick, indem sie Eichmann nur als Befehlsempfänger und kleines Rädchen im Getriebe des Systems darzustellen versuchten. Auch wenn die Motive nicht die gleichen waren, trugen sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung dazu bei, die Frage nach den anderen „Eichmännern“ zu einem zentralen Gegenstand des Prozesses zu machen. Eichmann saß zwar allein in seinem Glaskasten, aber die Schatten seiner Komplizen waren unübersehbar. Besonders engagiert widmete sich der Publizist Albert Wucher diesem Aspekt des Falles Eichmann. In einer siebenteiligen Artikelserie „Eichmanns gab es viele“, die er im November und Dezember 1960 für die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, versuchte er die vielfältigen Verstrickungen verschiedenster Institutionen, aber auch einzelner Personen in die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden aufzuzeigen und anhand von Dokumenten zu belegen.52 Dabei 51

Frankfurter Rundschau vom 1. 6. 1960 : „Großinquisitor des europäischen Judentums“ von Herbert Freeden. 52 Süddeutsche Zeitung vom 9.11., 11.11., 22.11., 25.11., 20.11., 2.12. und 7. 12. 1960 : „Eichmanns gab es viele. Ein Dokumentarbericht über die Endlösung der Judenfrage“

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scheute er nicht davor zurück, auch bis dahin in der deutschen Öffentlichkeit als relativ „unbelastet“ geltende Institutionen als Helfershelfer und Mittäter zu benennen. So verwies er etwa darauf, dass es Eichmann „glänzend“ verstanden habe, „das Auswärtige Amt in den Dienst seiner Bestrebungen zu stellen“. Die „beteiligten Diplomaten“ wiederum seien aber nicht nur passive Werkzeuge gewesen, sondern hätten es ihrerseits „vortreff lich“ verstanden, „die ausländischen Regierungen zu ‚selbständiger‘ Lösung der Judenfrage anzuregen“.53 Wucher war davon überzeugt, dass es auch im Auswärtigen Amt – und nicht nur dort – „viele Eichmanns“ gegeben habe : „gewissenhafte Werkzeuge der Gewissenlosigkeit“.54 Von dieser Feststellung, dass es „viele Eichmanns“ gegeben hatte, war es dann auch nicht weit zu der Frage, was aus diesen vielen Mördern und Mordgehilfen nach 1945 geworden ist. Und von dort führte nur ein weiterer kleiner Schritt zu der Erkenntnis, „dass“, wie Conrad Ahlers feststellte, „noch viele Mörder und Helfershelfer unter uns leben – friedlicher und ruhiger als Eichmann im argentinischen Untergrund“.55 Für ihn wie auch für andere offenbarte der Fall Eichmann daher die „ungeheuerlichen Versäumnisse“56 der bundesdeutschen Justiz bei der Verfolgung von NS - Tätern. Und Paul Wilhelm Wenger betonte, dass es nicht anginge, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den Fall Eichmann zu beschränken : „Im Gegenteil : Die Legion der Schreibtisch - Mittäter, von der Eichmann mehr weiß als wir, hat verstanden, sich der Verantwortung zu entziehen. Insoweit ist der Eichmann - Prozess nicht das Ende, sondern der Anfang der Reinigung.“57 Konkretisiert wurde diese Forderung nach einer Intensivierung der Vergangenheitsbewältigung und einer personellen „Reinigung“ in der Debatte um den Kommentator der „Nürnberger Rassegesetze“ und späteren Adenauer - Vertrauten und Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Maria Globke.58 Bereits vor dem Prozess stand Globke – und indirekt damit auch Bundeskanzler Adenauer – aufgrund seiner Verwicklung in die Ausarbeitung der antisemitischen Gesetzgebung des „Dritten Reiches“ in der Kritik. Ihm wurde vorgeworfen, durch seine Tätigkeit als Referent im Reichsinnenministerium an der Diskriminierung und Entrechtung der deutschen Juden an zentraler Stelle mitgewirkt zu haben und damit letztlich auch an deren Vernichtung beteiligt gewesen zu sein. Dass Globke nach 1945 trotz dieser „braunen Flecken“ auf seiner Weste zu einem

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von Albert Wucher. Die Artikelserie erschien in wesentlich erweiterter Form 1961 auch als Buch. Ebd. vom 30. 11. 1960 ( Teil V ). Ebd. vom 9. 11. 1960 ( Teil I ). Frankfurter Rundschau vom 24. 4. 1961 : „Noch viele Mörder leben unter uns“ von Conrad Ahlers. Ebd. Rheinischer Merkur von Weihnachten 1961 : „Eichmann und Genossen“ von Paul Wilhelm Wenger. Zu Globke vgl. insbes. Jürgen Bevers, Der Mann hinter Adenauer. Hans Globkes Aufstieg vom NS - Juristen zur Grauen Eminenz der Bonner Republik, Berlin 2009.

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der wichtigsten Ratgeber Adenauers wurde, war für viele unverständlich und wurde als Beleg für die Elitenkontinuität zwischen dem „Dritten Reich“ und der Bundesrepublik gedeutet. Zu seiner Verteidigung wurde u. a. wiederholt vorgebracht, dass er während seiner Zeit im Reichsinnenministerium nicht nur Kontakte zur katholischen Kirche gepflegt und diese mit Informationen über Interna aus dem Ministerium versorgt habe, sondern auch bemüht gewesen sei, mäßigend auf die antijüdische Gesetzgebung Einfluss zu nehmen.59 Im Zuge des Eichmann - Prozesses stand Globkes Vergangenheit erneut im Fokus des öffentlichen Interesses – nicht zuletzt aufgrund der Propaganda der DDR, die nicht müde wurde, Globke als „Eichmann von Bonn“ zu titulieren.60 Wiederholt wurde darüber spekuliert, ob Globke als Referent im Reichsinnenministerium Kontakt zu Eichmann oder dessen Dienststelle im RSHA gehabt oder gar etwaige Richtlinien oder juristische Vorgaben für dessen Tätigkeit ausgearbeitet habe. Mit großer Spannung wartete man darauf, dass der Name Globke im Jerusalemer Gerichtssaal fallen und Eichmann den Kanzleramtschef gar belasten würde. Letztlich war es aber für den Verlauf der Debatte von keiner großen Relevanz, dass Globkes Name tatsächlich genannt wurde. Der „Mann hinter Adenauer“ ( Bevers ) war für den Kanzler und die Bundesregierung bereits zu einer Belastung geworden, und lange bevor der Name in den dem Gericht vorgelegten Akten auftauchte, gab es quer durch die bundesdeutsche Öffentlichkeit Rücktrittsforderungen. Allein die Angst, der Name könne fallen, wurde als Beweis für das „schlechte Gewissen“ der Politik, aber auch der gesamten deutschen Nachkriegsgesellschaft gedeutet. In diese Richtung argumentierte beispielsweise Karl Gerold bereits kurz nach Prozessbeginn in der „Frankfurter Rundschau“ : „Wir stellen fest : Eichmann ist eine deutsche Belastung. Wir stellen weiter fest : Das heutige Deutschland ist nicht mehr dasselbe, das Eichmänner zu ihren verbrecherischen Möglichkeiten emporgetragen hat. Warum aber sprechen unsere führenden Politiker immer wieder davon, der Eichmann - Prozess könnte dem Ansehen der Bundesrepublik schaden ? Warum ? Heißt das, die Bundesrepublik habe nicht alles getan, um die Eichmänner und ihre Helferhelfer aus unserem Staats - und Gesellschaftsleben an führender Stelle nicht wieder zuzulassen [...] ? Wir fürchten nicht nur, wir wissen, dass die Bundesrepublik ein sehr, sehr schlechtes Gewissen hat. Da sind 59 Zur Verteidigung Globkes vgl. z. B. Die Zeit vom 10. 3. 1961 : „Globke im Sturm der Zeiten“ von Theodor Eschenburg. Globke selbst sah sich aufgrund des Aufsehens durch den Jerusalemer Prozess dazu veranlasst, in einem Zeitungsinterview über seine angeblichen Kontakte zu Eichmann und seine Verstrickung in die Verbrechen des NS - Regimes Auskunft zu geben. Dabei betont er erneut, dass er stets darum bemüht gewesen sei, Schlimmeres zu verhüten und letztlich nur auf Wunsch der katholische Kirche im Amt geblieben sei, um weiterhin Informationen aus den Ministerien liefern zu können. Vgl. Die Zeit vom 17. 2. 1961 : „Globke und die Judengesetze – Ein Zeit - Interview mit dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt“ von Robert Strobel. 60 Vgl. Krause, Eichmann - Prozess, S. 208–227; ders., Eichmann und die Deutschen. „Vergangenheitsbewältigung“ in Ost und West am Beispiel der Presse zum Jerusalemer Eichmann - Prozess. In : Deutschland Archiv, 38 (2005) 2, S. 266–273.

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die Globkes [...] und manch anderer Träger des größeren und kleineren Verdienstordens der Bundesrepublik, die gegen uns zeugen.“61 So wie Eichmann zu einem Prototyp des NS - Schreibtischtäters geworden war, so war Globke für viele Prozessbeobachter im Laufe der Berichterstattung über den Jerusalemer Prozess mehr und mehr zu einem Symbol für die Elitenkontinuität geworden. Daher hat der Eichmann - Prozess nicht nur deutlich gemacht, wie groß die Zahl der kleinen und großen „Eichmänner“ in den Ministerien, Behörden, Amtsstuben und in den Kasernen gewesen war, er hat auch entscheidend dazu beigetragen, die vergangenheitspolitische Agenda im Hinblick auf personelle Kontinuitäten in der Bundesrepublik zu verändern und das Problembewusstsein für die personelle Erblast der NS - Regimes zu schärfen.

4.

Fazit

Der Prozess gegen den ehemaligen SS - Obersturmbannführer Adolf Eichmann gehört zu den wichtigsten Strafprozessen gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher. Vieles spricht dafür, dass es sich dabei um den spektakulärsten dieser Prozesse gehandelt hat. Die Umstände des Verfahrens, insbesondere die Gefangennahme Eichmanns in seinem „Exil“ in Argentinien und seine Entführung durch den israelischen Geheimdienst sowie die Tatsache, dass er in Israel von einem israelischen Gericht abgeurteilt wurde, sorgten für ein einzigartig großes und weltweites Interesse an diesem Fall. Sowohl die Strategie der Staatsanwaltschaft, den Prozess zum Anlass zu nehmen, die gesamte Monstrosität des Menschheitsverbrechens der Ermordung der europäischen Juden darzustellen, als auch der Versuch der Verteidigung, Eichmann als einen einfachen Befehlsempfänger und Rädchen im Getriebe der NS - Tötungsmaschinerie erscheinen zu lassen, trugen entscheidend dazu bei, dass der Prozess weit über die Person des Angeklagten und seine persönliche Verantwortung hinaus wies. In der Bundesrepublik sorgte der Fall Eichmann für eine tiefe Verunsicherung. Nahezu niemand blieb von den Ereignissen in Jerusalem unberührt. Der Prozess warf viele unangenehme Fragen auf, Fragen, die lange nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand gestellt und nur zögerlich beantwortet worden waren: Wer waren die Mörder ? Was haben wir gewusst ? Welche Verantwortung und Schuld trägt jeder einzelne ? Und : Warum wurden die ungezählten Mittäter, Helfer und Helferhelfer Eichmanns nicht zur Verantwortung gezogen ? All diese Fragen verlangten nun mit Nachdruck nach Antworten. Der wichtigste Akteur und gleichzeitig der zentrale Ort der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Fall Eichmann war die Presse. Dort wurde nicht nur kontinuierlich über den Fortgang des Verfahrens gegen den ehemaligen SSOberstumbannführer berichtet, vielmehr wurde das Geschehen auch kommentiert. Gerade die Journalisten und Publizisten waren es, die sich fortlaufend mit 61

Frankfurter Rundschau vom 15./16. 4. 1961 : „Die deutsche Belastung“ von Karl Gerold.

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den verschiedenen Aspekten des Falles Eichmann auseinandersetzten und die versuchten, Antworten auf die Fragen zu geben, die der Prozess aufwarf. Dass der Eichmann - Prozess nicht nur auf eine breite Resonanz in den Medien stieß, sondern darüber hinaus von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert wurde, legen entsprechende Unfrageergebnisse nahe. Nach einer Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie hatten im Juni 1960 – nur einem Monat nach der Bekanntgabe der Gefangennahme Eichmanns – 90 Prozent der Befragten von der Ergreifung Eichmanns gehört.62 Und nach den Ergebnissen zweier Umfragen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Mai 1961 bzw. zum Anfang des Jahres 1962 – also kurz nach dem Beginn und nach dem Ende des Prozesses – hatten rund 95 Prozent der Befragten „schon etwas vom Eichmann - Prozess in Israel gehört“.63 Ein bemerkenswertes Ergebnis dieser Meinungsumfragen ist auch, dass eine große Mehrheit der Befragten einen Prozess gegen Eichmann grundsätzlich befürwortete – auch wenn es nicht wenige gab, die es vorgezogen hätten, wenn der Prozess nicht in Israel, sondern in der Bundesrepublik oder gar vor einem internationalen Gerichtshof durchgeführt worden wäre. Und nur zwei Prozent der Befragten, so die Demoskopen aus Allensbach, äußerten die Meinung, Eichmann solle „überhaupt nicht vor Gericht“ gestellt werden.64 Abschließend lässt sich feststellen, dass der Eichmann - Prozess insgesamt als ein frühes Schlüsselereignis und ein Stimulus der bundesdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“ gelten kann. Durch die große und lang anhaltende Resonanz, die der Prozess in der Öffentlichkeit fand, veränderte sich nicht nur der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern auch die politische Kultur der Bundesrepublik. Der Eichmann - Prozess trug nicht nur viel dazu bei, dass sich die deutsche Gesellschaft verstärkt mit der Erblast der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzte. Gleichzeitig sorgte er dafür, dass die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen für sein Handeln auf der gesellschafts - und vergangenheitspolitischen Tagesordnung nach oben rückte.

62 Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann ( Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958–1964, Allensbach 1965, S. 225. 63 Regina Schmidt / Egon Becker, Reaktionen auf politische Vorgänge. Drei Meinungsstudien aus der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1967, S. 108. 64 Noelle / Neumann ( Hg.), Jahrbuch, S. 225.

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Die ehemaligen NS - Verfolgten – Zeugen, Kläger, Berichterstatter Katharina Stengel

Wer sich mit der Frage beschäftigt, wie sich die NS - Verfolgten zur Strafverfolgung der Täter stellten, stößt zunächst auf das Problem, dass sich die Verfolgten nur mit Einschränkungen als ein Personenkreis beschreiben lassen, der durch gemeinsame Interessen verbunden war oder gar gemeinsam agierte. Die Verfolgten waren so heterogen wie die Gründe ihrer Verfolgung durch die Nationalsozialisten, sie interpretierten ihre Verfolgungserfahrungen unterschiedlich, ordneten sie in verschiedene politische oder religiöse Kontexte ein, waren tief gespalten entlang der Gräben des Kalten Kriegs und ihrer unterschiedlichen Lebensoptionen für die Nachkriegszeit. Deutsche Rechtsanwälte jüdischer Herkunft blickten meist anders auf die NSG - Verfahren als Kommunistinnen, die in der VVN organisiert waren, hatten andere Erwartungen, vermutlich auch andere Gerechtigkeitsvorstellungen. Eine gemeinsame Organisation größerer Teile von NS - Verfolgten, die mit der 1946/47 gegründeten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ) angestrebt worden war, scheiterte in Westdeutschland früh an politischen Konflikten, die mit Beginn des Kalten Kriegs rasch eskalierten. Dennoch gab es zumindest rudimentäre Formen einer transnationalen Öffentlichkeit der Verfolgten, repräsentiert durch die zahlreichen Verbände, Lagergemeinschaften und informellen Kontakte, durch die zumindest Teile von ihnen miteinander verbunden blieben, sogar über den „Eisernen Vorhang“ hinweg. Dass die Verfolgten sich mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe – von den tatsächlichen oder potentiellen Angeklagten abgesehen – von den NS - Verfahren persönlich betroffen fühlten, führte immer wieder zu Kooperationen, die Gruppen - und Parteigrenzen überwandten. Die Frage, welche Verbrechen zur Anklage kamen und wie über Schuld oder Unschuld der Angeklagten befunden wurde, musste von den ehemaligen Verfolgten zwangsläufig persönlich aufgefasst werden. Für sie wurde nicht nur in einem abstrakten Sinne Recht gesprochen, es wurden Urteile gefällt, mit denen das von ihnen erfahrene Leid unmittelbar gewichtet und gewertet wurde. Dazu kam, dass viele Verfolgte als Zeugen oft ungeheuerlicher Vorgänge sich in einer persönlichen Verantwortung dafür sahen, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfahre.

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In Zusammenhang mit den NSG - Verfahren traten vor allem zwei Gruppen ehemaliger Verfolgter in Erscheinung : die politisch und die als Juden Verfolgten. Andere Opfergruppen spielten schon deshalb keine Rolle, weil ihre Verfolgungsgeschichte entweder kaum Gegenstand von Strafverfahren wurde oder sie als Zeugen oder Nebenkläger nicht in Betracht gezogen wurden. Das galt für alle gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, die als Kriminelle oder Asoziale verfolgt worden waren, für Homosexuelle, Sinti und Roma, für die Opfer der „Euthanasie“ usw. Es gibt kaum Überlieferungen, die darüber Auskunft geben, wie diese Gruppen der Verfolgten die Verfahren rezipierten. Die ehemaligen Verfolgten waren zum einen oft aufmerksame Beobachter und Kommentatoren der Prozesse, sie traten aber natürlich auch in anderen Rollen auf : vor allem als Zeugen, manchmal als Nebenkläger oder deren Rechtsvertreter, seltener als Staatsanwälte oder Richter; vor allem KZ - Funktionshäftlinge standen zudem gelegentlich auch als Angeklagte vor Gericht. Daneben gab es eine etwas diffuse Zone der Mitwirkung an den Verfahren, die gesetzlich nicht vorgesehen war : relativ eigenständige „Ermittlungen“ gegen einzelne NS - Täter, intensive Zuarbeit zu den teils sehr schleppenden Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaften und eine Art Lobbyarbeit, mit der die Behörden unter Druck gesetzt werden sollten, gegen die Täter vorzugehen. Damit war immer auch Öffentlichkeitsarbeit verbunden, und zwar einmal in Richtung der ehemaligen NS - Verfolgten, die aufgerufen wurden, sich als Zeugen zur Verfügung zu stellen, und im Sinne einer gezielten Information der Öffentlichkeit, die der Aufklärung über die Verbrechen, aber auch der Forcierung eines öffentlichen Drucks auf die Justiz dienen sollte. Das Verhältnis zur Öffentlichkeit in Westdeutschland war dabei ambivalent. Die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft wurde einerseits als die kaum oder nur oberflächlich bekehrte „deutsche Volksgemeinschaft“ wahrgenommen, die den NS - Opfern nach wie vor feindlich gegenüberstand, andererseits war sie eine Instanz, die es zu überzeugen, aufzuklären und zu gewinnen galt. Immer war eine öffentliche Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus eines der wesentlichen Motive für das Engagement der Verfolgten in diesem Bereich. Gerade die Prozesse waren in den Augen der Verfolgten, wie auch einiger engagierter Staatsanwälte oder Journalisten, ein bevorzugtes Medium der öffentlichen Aufklärung. Die Publizität großer Gerichtsverfahren verband sich dabei mit der den Gerichten zukommenden Funktion, Feststellungen zu treffen, die – mehr noch als die Ergebnisse historischer Forschung oder gar die Berichte der Opfer – künftig als Tatsachen gelten konnten. Wenn ein Gericht befand, dass die Aussage eines Zeugen glaubwürdig sei, oder wenn es gar feststellte, dass beispielsweise zwischen Mai und Oktober 1944 in Auschwitz mindestens 500 000 Juden getötet worden waren,1 bekamen diese Feststellungen einen Charakter, der ihre Infragestellung zumindest erschwerte. Gerichte hatten auch 1

So im Frankfurter Auschwitz - Prozess. Vgl. Friedrich - Martin Balzer / Werner Renz ( Hg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz - Prozess (1963–1965), Bonn 2004, S. 85.

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materiell ganz andere Möglichkeiten, Ermittlungen anzustellen, Zeugen zu vernehmen und Gutachter zu beauftragen, als andere Einrichtungen zu dieser Zeit. Auch wenn das ein Thema ist, das bis heute die Phantasie anregt, so gab es Selbstjustiz und Racheaktionen von NS - Verfolgten nur in recht bescheidenem Umfang, jedenfalls auf dem Territorium des ehemaligen „Dritten Reichs“; nahezu alle Opfer delegierten die Ahndung der Taten an die zuständigen Behörden. Von Anfang an bemühten sich die Verfolgten jedoch, an der strafrechtlichen Ahndung der NS - Verbrechen mitzuwirken. Schon unmittelbar nach der Befreiung bildeten sich erste Komitees und Kommissionen, die sich mit der Sammlung von Beweismaterial, der Suche nach Zeugen, der Unterstützung von Strafverfolgungsorganen befassten, wie z. B. die Zentrale Jüdische Historische Kommission in Polen,2 die Jüdische Historische Dokumentation in Wien und verschiedene jüdische Kommissionen in Deutschland.3 Bei den Zielen und Tätigkeiten dieser Organisationen gingen die Dokumentation und Erforschung der Verfolgungsgeschichte mit den Bemühungen um Strafverfolgung der Täter Hand in Hand. Auch in den frühen alliierten Prozessen standen Verfolgte im Zeugenstand, ihre Bedeutung für die Urteilsfindung, vor allem aber der Grad ihrer öffentlichen Wahrnehmung war jedoch meist gering. Trotz der zunächst oft harten Urteile waren viele der NS - Verfolgten mit den Prozessverläufen unzufrieden, wie sich beispielsweise einem Brief von Ravensbrück - Häftlingen an den zuständigen britischen Staatsanwalt von Ende 1946 entnehmen lässt : „Sehr geehrter Herr Staatsanwalt ! Als wir uns bereit erklärten, als Zeugen nach Hamburg zu gehen [...] taten wir es, weil wir es als eine moralische Verpflichtung ansahen, mitzuwirken bei der Verurteilung der Lagerwachen des KZ Ravensbrück. Wir glauben aber, dass wir nicht nur eine Verpflichtung haben, sondern dass wir auch ein moralisches Recht darauf haben, ein Wort mitzureden bei der Verurteilung der Menschen, durch die wir so viel gelitten haben. Und alle Zeugen waren ausnahmslos der Meinung, dass man uns diese Möglichkeit nur in sehr geringem Maße gegeben hat.“4 Was die Zeuginnen beklagten, war eine Erfahrung, die die Verfolgten in den NS - Prozessen regelmäßig machten : Die Gerichtsverfahren gaben ihnen keine Möglichkeit, ihre Kenntnisse und Erlebnisse zusammenhängend darzustellen, gefragt waren konkrete Angaben zu einzelnen 2

3

4

Vgl. Stephan Stach, „Praktische Geschichte“. Der Beitrag der jüdischen Organisationen zur Verfolgung von NS - Verbrechern in Polen und Österreich in den späten 40er Jahren. In : Katharina Stengel / Werner Konitzer ( Hg.), Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS - Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 2008, S. 242–262, hier 246. Vgl. Laura Jockusch, Jüdische Geschichtsforschung im Lande Amaleks. Jüdische historische Kommissionen in Deutschland 1945–1949. In : Susanne Schönborn ( Hg.), Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutsch - jüdischen Geschichte nach 1945, München 2006, S. 20–41. Mahnruf für Freiheit und Menschenrecht vom 31. 1. 1947, S. 13. Zit. nach Helga Amesberger / Kerstin Lercher, Lebendiges Gedächtnis. Die Geschichte der österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück, Wien 2008, S. 45.

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Taten der Angeklagten. Das Bedürfnis der ehemaligen Häftlinge, von ihren Erfahrungen zu berichten, kollidierte jedoch nicht nur mit den Regeln der Strafprozessordnung. Die Wertschätzung und Anerkennung der „Zeugenschaft“ der Überlebenden, auch in einem emphatischeren, nicht rein juristischen Sinn, war in der frühen Nachkriegszeit noch weitgehend unbekannt. Die Verfolgten erhielten Anerkennung als Helden oder Heldinnen des Widerstands, auch als Märtyrer, die für eine gute Sache – ihre Nation, Partei oder religiöse Überzeugung – gelitten hatten, aber nicht als Opfer, Zeugen oder Überlebende.5 Da eine umfassende Darstellung der NS - Verfolgten als Beobachter und Akteure der NS - Prozesse hier nicht zu leisten ist, werde ich mich im Folgenden auf einzelne Aspekte der Rolle von Verfolgten bei den Prozessen in der Bundesrepublik und auf eine kurze Zeitspanne beschränken : die 50er und frühen 60er Jahre, eine Zeit also, in der sich in diesem Bereich bedeutende Veränderungen zugetragen haben. Anhand zweier unterschiedlicher Gruppen von Verfolgten soll auf die Bandbreite möglicher Haltungen zu den Verfahren und auf die Bedingungen ihrer Rezeption eingegangen werden. Ich werde mich zum einen auf die Berichterstattung in der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ konzentrieren und zum anderen die Tätigkeiten des Internationalen Auschwitz - Komitees darstellen.

1.

Berichterstattung über NSG - Verfahren in der „Allgemeinen Wochenzeitung“

Die seit 1949 erscheinende „Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ ( heute : „Jüdische Allgemeine“) war das mit Abstand bedeutendste Presseorgan der Juden in Deutschland.6 Sie war kein Organ des im Juli 1950 gegründeten Zentralrats der Juden, aber eng mit ihm verbunden. Hendrik van Dam, Generalsekretär des Zentralrats, der sich als Anwalt intensiv mit Wiedergutmachungsangelegenheiten befasste und auch Nebenkläger in NSG - Verfahren vertrat, verfasste zu diesen Themen regelmäßig große Leitartikel für die Zeitung. Die „Allgemeine Wochenzeitung“ verstand sich nicht als Publikation eines Opfer verbandes, sondern als Kommunikationsorgan der kleinen jüdischen Gemeinschaft und Sprachrohr ihrer Interessen nach außen. Wenn man die Berichterstattung der „Allgemeinen Wochenzeitung“ als Maßstab dafür nimmt, welche Themen die jüdische Gemeinschaft in der Bundes5

6

Pieter Lagrou hat diese frühen Kennzeichen der Erinnerung an die NS - Vergangenheit am Beispiel einiger Länder Westeuropas herausgearbeitet; viele seiner Ergebnisse lassen sich mit einigen Einschränkungen auf weite Teile Europas übertragen. Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945–1965, Cambridge 2000. Inhaber und Chefredakteur war Karl Marx. Die Zeitung erschien wöchentlich mit einem Umfang von ca. 16 Seiten, zu Feiertagen erschienen Sonderausgaben mit bis zu 60 Seiten.

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republik in den früheren Nachkriegsjahren beschäftigt haben, stellt man fest, dass den NSG - Verfahren jahrelang keine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Im Zentrum standen in den 50er Jahren überwiegend andere Themen : die Wiedergutmachung, der Wiederaufbau der Gemeinden, die aktuellen politischen Entwicklungen in Westdeutschland und die Situation im Nahen Osten. Das korrespondierte einerseits mit der Tatsache, dass es phasenweise kaum Verfahren gab, über die berichtet werden konnte, aber auch mit der Intensität, mit der die Zeitung sich überhaupt mit der NS - Vergangenheit befasste. Nach einer Zeit zwar vorsichtiger, aber beständiger Auseinandersetzung mit der Verfolgungsgeschichte während des Nationalsozialismus in den ersten Jahrgängen nahm dieses Thema ab 1952 immer weniger Raum ein und wurde deutlich zurückhaltender behandelt. Von gelegentlichen Berichten zu den Jahrestagen der KZ - Befreiungen abgesehen,7 gab es kaum mehr Artikel über Konzentrations - und Vernichtungslager. Diese Tendenz spiegelte sich auch im Feuilleton, wo bis 1958 kaum Bücher über NS - Verfolgung rezensiert wurden.8 Die Redaktion wollte ihren Leserinnen und Lesern eine allzu direkte Konfrontation mit der Verfolgungsgeschichte offenbar nicht mehr zumuten. Es war eine Zeit, in der die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas in öffentlichen Debatten kaum Aufmerksamkeit fand; es gab keinen allgemein gebräuchlichen Begriff dafür und kaum eine Vorstellung, das als eigenständige oder gar singuläre Verfolgungsgeschichte zu begreifen. Das mangelnde Interesse für das Thema der NS - Verfolgung im Allgemeinen und für das Schicksal der jüdischen Verfolgten im Besonderen war nicht nur in Westdeutschland, sondern in ganz Europa zu beobachten – und war ein Grund dafür, dass Veröffentlichungen von Erinnerungsberichten jüdischer Überlebenden mit Beginn der 50er Jahre rapide abgenommen hatten. Eine eigene Deutung der Geschehnisse von Seiten jüdischer Verfolgter, ein jüdisches Erinnerungsnarrativ, hatte sich noch kaum etabliert. Das musste zwangsläufig auch auf die Themenschwerpunkte der kleinen jüdischen Gemeinschaft in Westdeutschland zurückschlagen. Während Anfang der 50er Jahre noch umfangreich über NSG - Verfahren geschrieben, Resolutionen verfasst, Kritik an Justizbehörden geübt und Forderungen nach weiteren Ermittlungen erhoben wurden,9 wurde Mitte der 50er Jahre über die – zahlenmäßig stark zurückgegangenen – NS - Prozesse deutlich weniger, zurückhaltender und nüchterner berichtet. 1950/51 waren die Sprecher der Jüdischen Gemeinden und Komitees voller Beunruhigung über die große, öffentliche Kampagne für die in Landsberg einsitzenden NS - Verbrecher, die von US - Militärgerichten z. T. zum Tode verurteilt worden waren und nach dem Willen fast aller Bundestagsparteien, der christlichen Kirchen und vieler Lobby - Gruppen amnestiert oder zumindest vor der 7 8 9

Vgl. z. B. Allgemeine Wochenzeitung vom 15. 4. 1955, S. 3, und 29. 4. 1955, S. 2. Eine Ausnahme war 1955 die Ankündigung des Buches von H. G. Adler, „Theresienstadt. Antlitz einer Zwangsgemeinschaft“ in : Allgemeine Wochenzeitung vom 15. 7. 1955, S. 9. Vgl. z. B. Allgemeine Wochenzeitung vom 10. 11. 1950 und 5. 1. 1951, S. 5.

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Todesstrafe geschützt werden sollten. Diese Kampagne wurde in der „Allgemeinen Wochenzeitung“ – gemeinsam mit den jüngsten Wahlerfolgen neonazistischer Parteien – als Symptom einer „Renazifizierung“ des politischen Lebens10 und als weitverbreitete Verharmlosung der NS - Verbrechen gedeutet und als solche sehr ernst genommen. Eine der ersten Resolutionen des jungen Zentralrats im Januar 1951 befasste sich damit : „Der Zentralrat der Juden in Deutschland erinnert in der Stunde der Demonstrationen und der Appelle für die Landsberger Mörder daran, dass die Männer, für welche Kirchen und politischen Parteien sich einsetzen, Massenmörder sind, die den Tod von Hunderttausenden auf dem Gewissen haben. Männer wie Ohlendorf, Pohl und Genossen [...] haben auf Gnade keinen Anspruch.“11 Trotz der in dieser Sache sehr einsamen Position gab es zu dieser Zeit kaum Scheu vor offenen Worten. Norbert Wollheim, Direktoriumsmitglied des Zentralrats, formulierte in einer Rede Anfang 1951 : „Wenn Europa einen militärischen Beitrag Deutschlands nur dadurch bekommen kann, dass Massenmörder begnadigt werden, dann ist es besser, wenn Europa zugrunde geht.“12 Schon kurze Zeit später kann man in der „Allgemeinen Wochenzeitung“ – und sie entsprach damit auch der Haltung des Zentralrats – eine Änderung im Ton und in der Haltung gegenüber den Behörden feststellen, die mit einer unumgänglichen Neujustierung des Verhältnisses zur bundesdeutschen Politik zusammenhing. Im Mai 1951 gab es erste Ansätze zu einer offiziellen Kontaktaufnahme des Zentralrats zur Bundesregierung, ab 1953 wurde der Zentralrat vom Bund finanziell unterstützt.13 Diese Kontaktaufnahme war in erster Linie eine Folge des absehbaren Endes der Besatzungszeit. Die Alliierten, vor allem die US - Amerikaner, standen nicht mehr als Vermittler und Fürsprecher der Interessen der jüdischen Gemeinden zur Verfügung, die sich gleichzeitig vorsichtig auf einen längeren Verbleib von Juden in Westdeutschland einrichteten. In den folgenden Jahren prägte das Streben nach Normalisierung der Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden die Haltung der Redaktion und die Politik des Zentralrats, der damit aber nicht davon Abstand nahm, nötigenfalls in deutlicher Sprache seine Interessen zu vertreten. Zu diesen Interessen wurde jedoch die Strafverfolgung der NS - Täter zunächst nur mehr am Rande gezählt. Ab etwa 1953 stand das Thema der NS - Prozesse für die „Allgemeine Wochenzeitung“ kaum mehr auf der Agenda. Es wurden aus den Reihen der jüdischen Organisationen nur sehr selten konkrete Forderungen hinsichtlich der Strafverfolgung formuliert oder eigene Aktivitäten ergriffen. Die Berichte über die wenigen stattfindenden Strafverfahren waren meist knapp und zurückhaltend. Besonders auffällig erscheint, wie konsequent es vermieden wurde, zwi10 11 12 13

Vgl. z. B. Allgemeine Wochenzeitung vom 25. 5. 1951, S. 1. Allgemeine Wochenzeitung vom 12. 1. 1951, S. 1. Allgemeine Wochenzeitung vom 26. 1. 1951, S. 5. Vgl. Jürgen Zieher, Weder Privilegierung noch Diskriminierung. Die Politik des Zentralrats der Juden von 1950 bis 1960. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 13 (2004), S. 187–211, hier 194 ff.

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schen den Verfolgungserfahrungen der Juden und den Ergebnissen der Prozesse eine explizite Verbindung herzustellen. Vor allem Hendrik van Dam war für verschiedene „Ausreißer“ aus dieser allgemeinen Tendenz verantwortlich. Im März 1955 verfasste er einen ersten Leitartikel, der sich kritisch und pessimistisch mit der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz auseinandersetzte. Anlässlich eines Freispruchs für zwei Angeklagte, die eine schwangere polnische Zwangsarbeiterin erschossen hatten, schlug er einen großen Bogen bis hin zum Verfahren gegen Philipp Auerbach in München14 und forderte „die markantesten Urteile der Nachkriegsjustiz [...] in einem Weißbuch zusammenzufassen. Die Historiker späterer Tage hätten an diesem Spiegel der Rechtsanwendung unschätzbares Material.“15 Bei seltenen Gelegenheiten nahm die „Allgemeine Wochenzeitung“ bzw. der Zentralrat direkt zu einzelnen Prozessen Stellung : Anlässlich des Freispruchs von Dr. Gerhard Peters, Geschäftsführer des Zyklon - B - Produzenten Degesch,16 Anfang Juni 1955, erschien auf der ersten Seite der Zeitung – in dieser Form ein Novum – eine Stellungnahme des Zentralrats : „Im Andenken an Millionen von Juden, die durch Giftgas in Auschwitz in heimtückischer Weise ermordet wurden, sehen wir uns genötigt, gegen den Freispruch des Chemikers Dr. Gerhard Peters, [...] mit Entrüstung zu protestieren.“17 Es wurde auch die Staatsanwaltschaft angegriffen, die es „nicht für notwendig erachtet“ habe, „sich mit jüdischen Instanzen in Deutschland in Verbindung zu setzen, um [...] in sachgemäßer Umfrage bei ehemaligen Auschwitz - Häftlingen zu prüfen, ob etwas über die Ver wendung des Zyklon B in diesem Vernichtungslager bekannt war“.18 Noch im Oktober desselben Jahres ergriff der Zentralrat erneut eine Initiative und stellte eine Strafanzeige gegen den ehemals in Auschwitz tätigen Arzt Carl Clauberg, der wenig zuvor aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt war. Verbunden war die Strafanzeige mit einem der wenigen Zeugenaufrufe in der Zeitung. Diese Anzeige und der Fall Clauberg fanden unter den ehemaligen NS - Verfolgten starke Beachtung. Van Dam verfasste zu den Menschenversuchen Claubergs in Auschwitz einen großen Leitartikel in der „Allgemeinen Wochenzeitung“, der mit der Frage endete : „Sollen diese Handlungen durch deutsche 14

Auerbach, bayerischer Staatskommissar für die rassisch, politisch und religiös Verfolgten, selbst ehemaliger Auschwitz - Häftling und am Aufbau der jüdischen Gemeinden in der Nachkriegszeit wesentlich beteiligt, wurde Anfang 1951 verhaftet. Ihm wurde v. a. Betrug im Zusammenhang mit der Entschädigung der jüdischen Displaced Persons vorgeworfen; ein Vorwurf, der sich im Verfahren als unhaltbar erwies. Auerbach nahm sich am 14. 8. 1952, noch in Haft, das Leben. Vgl. Constantin Goschler, Der Fall Philipp Auerbach. Wiedergutmachung in Bayern. In : Ludolf Herbst / Constantin Goschler ( Hg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 77–98. 15 Allgemeine Wochenzeitung vom 18. 3. 1955, S. 1. 16 Die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mit Sitz in Frankfurt am Main war Inhaberin des Patents zur Herstellung von Zyklon B. Die Gesellschaft befand sich zu großen Teilen im Besitz der I. G. Farben und der Degussa. 17 Allgemeine Wochenzeitung vom 3. 6. 1955, S. 1. 18 Ebd. Zeugen aus dem Kreis der ehemaligen Häftlinge hat es in dem Verfahren kaum gegeben.

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Gerichte nicht gesühnt werden, weil die Opfer Jüdinnen waren ? Wir glauben, dass nicht nur wir auf Antwort warten.“19 Diese Initiativen und der ungewöhnlich direkte Hinweis auf die mangelhafte juristische Ahndung der Judenverfolgung verwiesen jedoch noch nicht auf eine generelle Änderung in der Haltung zu den NSG - Verfahren. Analog zur sich allmählich verändernden Haltung eines Teils der bundesdeutschen Öffentlichkeit ab etwa 195820 wandelte sich erst zu dieser Zeit auch das Verhältnis der „Allgemeinen Wochenzeitung“ zu den NS - Prozessen deutlich, wenn auch teils aus anderen Gründen. Es war die Zeit des Ulmer Einsatzgruppenprozesses, der beginnenden Verjährungsdebatten, der von der DDR ausgehenden „Blutrichter - Kampagne“21 und der Debatten um die personellen Kontinuitäten in Justiz und Polizei, die auch auf die jüdischen Gemeinden nicht ohne Wirkung geblieben waren. Die Flucht des schwerbelasteten Buchenwalder SS Arztes Dr. Eisele nach Ägypten ließ erneut ernste Bedenken am Verfolgungswillen der Behörden laut werden.22 Es war aber auch – und das war für die Stimmung in der jüdischen Gemeinschaft vielleicht noch wichtiger – die Zeit einiger intensiv diskutierter Skandale um antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit23, die Zeit zahlreicher antisemitischer Vorfälle und zunehmender „Hakenkreuz - Schmierereien“, vor allem in den Jahren 1959 und 1960.24 Diese Welle antisemitischer Äußerungen und Übergriffe in der Bundesrepublik ( und anschließend auch in anderen Staaten ) wurde als ernste Bedrohung angesehen. In der „Allgemeinen Wochenzeitung“ erschienen zahlreiche Artikel, in denen die Behörden zum Handeln aufgefordert und Fragen nach dem Verhältnis von nationalsozialistischer Judenverfolgung und gegenwärtigem Antisemitismus aufgeworfen wurden. Er wurde mit den mangelhaften juristischen Anstrengungen zur Ahndung der Verbrechen an Juden in Verbindung gebracht, aber auch mit den personellen Kontinuitäten im bundesdeutschen Staatsapparat,25 ein Thema, das vor allem die „Blutrichter - Kampagne“ der DDR auf die politische Agenda und ins öffentliche Bewusstsein gehoben hatte. 19 Allgemeine Wochenzeitung vom 28.10. 1955, S. 1. 20 Vgl. Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS - Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001, S. 15 ff. 21 Vgl. Annette Weinke, Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland, Paderborn 2002, insbes. S. 76–140. Siehe hierzu auch die Beiträge von Claudia Fröhlich und Clemens Vollnhals in diesem Band. 22 Vgl. Greve, Umgang, S. 19 ff. 23 Vgl. Allgemeine Wochenzeitung vom 24. 1. 1958, S. 2. 24 Vgl. z. B. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS - Diktatur 1945 bis heute, München 2001, S. 138 ff.; Clemens Vollnhals, Zwischen Verdrängung und Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. In : Ursula Büttner ( Hg.), Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 381–422. 25 In einer Resolution des Zentralrats hieß es dazu beispielsweise : „Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat mit wachsender Besorgnis eine Entwicklung in Deutschland beobachtet, die auch in Erscheinungen des Antisemitismus Ausdruck gefunden hat. Die Rückkehr ehemaliger Naziaktivisten in Schlüsselstellungen des Staates hat hierzu zweifellos beigetragen.“ In : Allgemeine Wochenzeitung vom 26. 6.1959, S. 1.

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Gegen Ende der 50er Jahre verschaffte also ein Konglomerat verschiedener Ereignisse und Debatten nun auch der Frage der Strafverfolgung der NS - Täter wieder vermehrt Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung über die NS - Prozesse in der „Allgemeinen Wochenzeitung“ nahm ab 1958 nicht nur allmählich wieder deutlich mehr Raum ein, auch die Inhalte änderten sich : Aussagen von ehemaligen Häftlingen wurden ausgiebig zitiert, man scheute sich nicht vor konkreten Darstellungen der Gewalttaten, es gab direkte Ver weise auf den Massenmord an Juden. Zu dem im Oktober 1958 beginnenden Prozess gegen Gustav Sorge und Wilhelm Schubert wegen Verbrechen im KZ Sachsenhausen entsandte die Redaktion erstmals einen Sonderkorrespondenten, der von jedem Prozesstag berichtete,26 entsprechend ausführlich wurde die Berichterstattung. Dieser Sonderkorrespondent, der auch über die folgenden, größeren NSG - Verfahren berichtete, war vermutlich Ralph Giordano, der auch vom Zentralrat den Auftrag erhalten hatte, die Prozesse zu beobachten.27 Im Oktober 1959 sprachen Giordano und van Dam in Düsseldorf auf einer Arbeitstagung von Pädagogen, die sich mit der „Bedeutung und Auswirkung der KZ - Prozesse“ befasste.28 Diese Tagung gehörte sicherlich zu den ersten Bemühungen, die NS - Prozesse in die politische Bildung und den schulischen Alltag zu integrieren, und verweist auf die zunehmende Aufmerksamkeit für die Verfahren – Jahre vor Beginn des Auschwitz - Prozesses in Frankfurt 1963. Eine bedeutende Rolle spielte in der Berichterstattung 1961 der Prozess gegen Adolf Eichmann. Die Zeitung entsandte selbstverständlich einen Sonderberichterstatter nach Jerusalem, dem sie umfangreichen Platz für die Berichterstattung einräumte. Der Eichmannprozess hatte erhebliche Auswirkungen auf die folgenden NS - Prozesse, aber vor allem hatte er enorme Bedeutung für die Selbstwahrnehmung der verfolgten Juden als einer spezifischen Opfergruppe, an der unvergleichliche Verbrechen begangen worden waren, und er brachte tiefgreifende Veränderungen in der Wahrnehmung und Funktion der Verfolgten mit sich, die nun zunehmend als „Zeugen“ in Erscheinung traten.29 In der „Allgemeinen Wochenzeitung“ drückten sich die Wirkungen des Prozesses – außer im schieren Umfang der Berichterstattung – auch darin aus, dass sie sich nun anlässlich verschiedener Gedenk - und Befreiungstage viel häufiger und expliziter mit der Geschichte der Judenverfolgung befasste. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland, der Zentralrat und die „Allgemeine Wochenzeitung“ rezipierten die Prozesse zwar in den meisten Phasen 26 Vgl. Allgemeine Wochenzeitung vom 17. 10. 1958, S. 2. 27 Die Artikel sind mit „Peer Gunther“ unterzeichnet; vgl. Allgemeine Wochenzeitung, vom 6. 11. 1959, S. 4. Vgl. auch Ralph Giordano ( Hg.), Narben, Spuren, Zeugen. 15 Jahre Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, Düsseldorf 1961; im Kapitel „Späte Sühne“, S. 394–413, sind einige der größeren Reportagen über NS - Prozesse wiedergegeben. 28 Vgl. Allgemeine Wochenzeitung vom 6. 11. 1959, S. 4. 29 Vgl. Annette Wieviorka, Die Entstehung des Zeugen. In : Gary Smith ( Hg.), Hannah Arendt Revisited. „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen, Frankfurt a. M. 2000, S. 136–159.

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intensiv und kritisch, verstanden sich in der Regel aber nicht als Akteure in diesen Verfahren. Selten wurden sie selbst mit Anzeigen oder Zeugenaufrufen aktiv. Die Idee, von den bundesdeutschen Behörden oder allgemeiner der Nachkriegsgesellschaft die Strafverfolgung der NS - Verbrechen als eine unerlässliche Konsequenz aus der Vergangenheit einzufordern, wurde in den 50er Jahren zunächst immer weniger formuliert. Darin unterschieden sich die „Allgemeine Wochenzeitung“ oder der Zentralrat nicht von ganz anders zusammengesetzten Verfolgtenverbänden wie der VVN oder der FIR.30 Auch bei diesen, sich kämpferisch - antifaschistisch verstehenden Verbänden stand das Thema der Strafverfolgung von NS - Tätern in den 50er Jahren über lange Strecken nicht auf der Agenda.31 Die Berichterstattung der „Allgemeinen Wochenzeitung“ konzentrierte sich in den 50er Jahren viel stärker auf aktuelle antisemitische Vorfälle in der Bundesrepublik, sowie auf alles, was mit dem Fortbestand Israels zu tun hatte. Das Gedenken an die Ermordeten wurde regelmäßig verbunden mit dem Aufruf zur Bestrafung der Täter, aber die wirklich bedeutsame Konsequenz aus der Geschichte des Nationalsozialismus wurde in den Augen vieler Sprecher der jüdischen Gemeinschaft nicht in Deutschland, sondern in Israel gezogen. Die NS - Prozesse wurden zwar als Maßstab für die Demokratisierung der Bundesrepublik angesehen, aber nicht als ein Feld, in dem Juden in Deutschland besonders aktiv werden müssten; – was natürlich nicht heißt, dass nicht Einzelne dabei sehr aktive Rollen übernahmen.

2.

Das Internationale Auschwitz - Komitee

Es gab ehemalige Verfolgte, die ihre Rolle bei den NS - Prozessen grundsätzlich anders bestimmten, die sich die Strafverfolgung der Täter zu einer persönlichen Aufgabe machten. Diese Haltung war nicht auf bestimmte Verfolgtengruppen beschränkt, phasenweise waren Netzwerke sehr unterschiedlicher Verbände und Personen an Bemühungen beteiligt, einzelne Täter vor Gericht zu bringen. Eines der organisatorischen Zentren dieser Aktivitäten war in den Jahren zwischen 1956 und 1961 das Internationale Auschwitz - Komitee ( IAK ) mit seinen Verbündeten.32 30 Die VVN ( Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ) war ein 1946/47 gegründeter Verband von NS - Verfolgten in Deutschland, 1953 in der DDR aufgelöst, von da an nur noch ein westdeutscher Verband; auch in der Bundesrepublik mit diversen Verbotsverfahren überzogen. Die FIR ( Fédération Internationale des Résistants ), 1951 in Wien gegründet, war ein großer Zusammenschluss der europäischen, antifaschistischen Verfolgtenverbände, dominiert von Parteikommunisten. 31 Vgl. etwa die entsprechenden Ausgaben der Zeitschrift der VVN „Die Tat“ oder den von der FIR herausgegebenen „Informationsdienst“. 32 So arbeitete z. B. Hermann Langbein nicht nur mit zahlreichen ehemaligen AuschwitzHäftlingen in ganz Europa und Israel, sondern auch mit dem „Referat NS - Verbrechen“ des VVN - Präsidiums, von dem er sonst Abstand hielt, mit Yad Vashem, der Wiener

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Das IAK wurde 1954 von Auschwitz - Überlebenden als Zusammenschluss nationaler Lagergemeinschaften gegründet. Der Verband war zunächst einem traditionell antifaschistischen Selbstverständnis verpflichtet, bemühte sich aber, im Gegensatz zu vielen vergleichbaren Organisationen, bald um eine thematische und personelle Öffnung und achtete sehr darauf , als unabhängige Vertretung aller Auschwitz - Überlebenden wahrgenommen zu werden. In dieser Phase des Kalten Krieges war das IAK einer der wenigen Verbände, die Mitglieder auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ besaßen und in denen Kommunisten und Nicht - Kommunisten zusammenarbeiteten. Der Österreicher Hermann Langbein, der bis 1960 als Generalsekretär amtierte und bis zu seinem Austritt aus dem Komitee 1961 für den Bereich NSG - Verfahren zuständig blieb, wirkte hier als die treibende Kraft.33 Das IAK hatte sich von Anfang an dazu verpflichtet, die Strafverfolgung der Täter von Auschwitz zu forcieren; allerdings war zu Beginn geplant – ganz im Sinne der bei den kommunistischen Parteien seit Mitte der 30er Jahre vorherrschenden Faschismus - Interpretation – vor allem gegen die Manager der großen Industrieunternehmen, die in Auschwitz KZ - Häftlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt hatten, als „Hauptverantwortliche“ vorzugehen.34 Das Komitee verabschiedete sich jedoch recht schnell von diesem Schwerpunkt und ging dazu über, einerseits die ehemaligen SS - Angehörigen in Auschwitz ins Visier zu nehmen, andererseits jene Personen, die für die Deportationen der Juden nach Auschwitz verantwortlich gewesen waren. Das stellte eine recht weitreichende Schwerpunktverlagerung dar, die dem Massenmord an Juden in Auschwitz deutlich mehr Gewicht beimaß, als das in der herkömmlichen antifaschistischen Interpretation der NS - Verfolgung bis dahin üblich war – zu einer Zeit, in der die Judenvernichtung noch keineswegs allgemein als ein zentrales Ereignis in der Geschichte des Nationalsozialismus angesehen wurde. Ein Ausgangspunkt der Aktivitäten des IAK auf diesem Gebiet war auch hier die Rückkehr von Prof. Carl Clauberg aus sowjetischer Gefangenschaft, der in Auschwitz für mörderische medizinische Versuche an Jüdinnen verantwortlich gewesen war. Das Komitee schloss sich der Strafanzeige des Zentralrats an und war wegen seiner internationalen Struktur in der Lage, in recht kurzer Zeit eine Reihe von wichtigen Zeugenaussagen und Dokumenten gegen Clauberg vorzuLibrary, mit zahlreichen Einzelpersonen und etlichen, überwiegend jüdischen Rechtsanwälten zusammen. 33 Zur Geschichte des IAK vgl. Katharina Stengel, Hermann Langbein und die politischen Häftlinge im Kampf um die Erinnerung an Auschwitz. In : Barbara Distel / Wolfgang Benz ( Hg.), Dachauer Hefte, 25 (2009), S. 96–118, hier 111 f. 34 Vgl. Langbein an Krystyna Żywulska, ZBoWiD, vom 28. 4. 55 ( Österreichisches Staatsarchiv [ ÖStA ] E /1797 : 88). Vgl. auch „Hauptverantwortliche für Auschwitz wieder in Amt und Würden“. Mitteilung über eine Sitzung des IAK in Warschau. In : Der neue Mahnruf, Nr. 6 von Juni 1955, S. 7. Siehe hierzu auch den Beitrag von Jörg Osterloh in diesem Band. ZboWiD, Związek Bojowników o Wolność i Demokrację ( Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie ), war der zentrale polnische Verband der Widerstandskämpfer und NS - Opfer.

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legen.35 Die Möglichkeit, aufgrund der Verbindungen in viele europäische Länder und vor allem über den „Eisernen Vorhang“ hinweg, Dokumente und Zeugenaussagen aus ganz Europa zu beschaffen, bildeten einen Kernpunkt des Engagements und der Bedeutung des Komitees in den folgenden Jahren. Nachdem Clauberg 1957 in Untersuchungshaft gestorben war, versuchte das IAK zunächst, eine Kampagne gegen die SS - Ärzte von Auschwitz zu initiieren. Gegen Johann Kremer, Joseph Mengele, Horst Schumann, Kurt Uhlenbrock u. a. wurden Strafanzeigen gestellt bzw. laufende Ermittlungsverfahren durch Zusendung umfangreicher Beweismittel unterstützt.36 Parallel dazu wurden die Standesorganisationen und Universitäten aufgefordert, die Beschuldigten aus den Verbänden auszuschließen und ihnen ihre Titel abzuerkennen. Immer wieder versuchten IAK - Mitglieder, die Presse in Westdeutschland für das Thema zu interessieren; in Auschwitz inhaftierte Ärztinnen und Ärzte riefen in einem internationalen Appell dazu auf, die Verbrechen der SS - Ärzte nicht ungesühnt zu lassen.37 Bald kamen, als neuer Schwerpunkt, Strafanzeigen gegen Beamte aus dem Reichssicherheitshauptamt ( RSHA ) und dem Auswärtigen Amt hinzu, die an Deportationen von Juden nach Auschwitz beteiligt waren. 1959, nach seinen ersten, vielversprechenden Kontakten mit Erwin Schüle, dem Leiter der Ende 1958 gegründeten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg,38 versuchte Langbein, ein Komplex - Verfahren gegen Hermann Krumey, Adolf Beckerle, Edmund Veesenmayer, Max Merten u. a. wegen ihrer Beteiligung an den Deportationen nach Auschwitz anzuregen; in diesem Zusammenhang stellte er im März 1959 auch Strafanzeige gegen Adolf Eichmann.39 In einem Schreiben an die Zentrale Stelle begründete Langbein diese Bemühungen folgendermaßen : „Es geht unserer Überzeugung nach nicht an, dass man nun wohl diejenigen Verbrecher, die in Auschwitz unmittelbar unzählige Morde mitverschuldet haben, zur Verantwortung zieht; diejenigen aber, die erst durch ihre verbrecherische Tätigkeit die Voraussetzung dafür geschaffen haben, dass die Mordmaschinerie von Auschwitz in einem so erschreckend umfangrei-

35 Vgl. z. B. Langbein an Zbowid vom 26. 10. 1955 ( ÖStA, E /1797 : 88); Langbein an Oberstaatsanwalt in Kiel vom 30. 12. 1955, 24. 1. 1956 und 30. 8. 1956; Oberstaatsanwalt in Kiel an Langbein vom 2. 2. 1956 und 6. 9. 1956, ( ÖStA, E /1797 : 243/3). 36 Vgl. Korrespondenz Langbein mit der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen (ÖStA, E /1797 : 28). Kremer wurde 1960 vor dem Landgericht Münster zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt; Schumann wurde erst 1966 von Ghana ausgeliefert, das Verfahren gegen ihn 1971 wegen Verhandlungsunfähigkeit ausgesetzt; gegen Uhlenbrock wurde nie ein Verfahren eröffnet. Einige SS - Ärzte wurden im Frankfurter Auschwitz - Prozess verurteilt. 37 Vgl. Appell des Comité International d’Auschwitz von Januar 1959 : „An die deutschen Ärzte“ ( ÖStA, E /1797 : 60); Langbein an Bundesärztekammer vom 2. 2. 1959 ( ÖStA, E /1797 : 95). 38 Siehe hierzu den Beitrag von Annette Weinke in diesem Band. 39 Vgl. Langbein an Ormond vom 19. 2. 1959 und 12. 3. 1959 ( ÖStA, E /1797 : 106); Langbein an Schüle vom 5. 5. 1959 ( ÖStA, E /1797 : 28).

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chen Ausmaß in Bewegung gesetzt werden konnte, praktisch straf los bleiben.“40 Der Versuch, noch vor Beginn des Eichmann - Prozesses das Thema der Deportationen aufzugreifen und zu skandalisieren, stieß jedoch weder innerhalb der Justiz noch in der Öffentlichkeit auf größeres Interesse. Obwohl Schüle deutlich machte, dass er rechtlich keine Möglichkeit zu einem Komplexverfahren dieser Art sah,41 gab Langbein seine Versuche nicht auf, ihm die Notwendigkeit eines großen Verfahrens gegen die Deportationsverantwortlichen nahe zu bringen. In diesem Zusammenhang unternahm er mit einigen Verbündeten auch intensive Bemühungen, Heinrich Müller, den Leiter des Amtes IV ( Gestapo ) im RSHA, ausfindig zu machen, von dessen Tod er sich nicht überzeugen lassen wollte.42 Seit 1957/58 „ermittelten“ die Komitee - Mitglieder gegen diverse SS - Angehörige aus Auschwitz. Dass es mit Strafanzeigen und Öffentlichkeitsarbeit allein nicht getan war, war den Beteiligten bald klar. Die NS - Verfolgten im Umfeld des Komitees begannen, teils in Zusammenarbeit mit den Behörden, teils hinter ihrem Rücken, mit eigenen Ermittlungen, die manchmal auch den Charakter verdeckter Recherchen und Obser vationen annahmen.43 Ab 1958, noch vor Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen, also noch in einer Phase, als nirgendwo in Westdeutschland Informationen über NS - Täter zentralisiert wurden, stellte Langbein mit Hilfe zahlreicher anderer KZ - Häftlinge eine umfangreiche Kartei des Auschwitzer SS - Personals zusammen, mit allen verfügbaren Angaben, Beweismitteln und möglichen Zeugen.44 Auszüge daraus wurden zu Forschungs - und zu Ermittlungszwecken international verschickt und verbreitet. Sie gingen an die Hauptkommission zur Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechen in Polen und das Archiv des Museums Auschwitz, aber ebenso an das Institut für Zeitgeschichte in München, an die Wiener Library in London, an die Zentrale Stelle in Ludwigsburg und an Yad Vashem in Jerusalem.45 Die internationalen Verbindungen, vor allem in Richtung Osteuropa, machten das Komitee in den späten 50er und frühen 60er Jahren, also vor einem institutionalisierten Rechtshilfeverkehr mit osteuropäischen Staaten, auch für engagierte Mitarbeiter in bundesdeutschen Behörden interessant. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass Langbein ab Ende 1958 in regem Austausch mit der neugegründeten Zentralen Stelle stand, die oft mehrmals die Woche um die Zusendung von Material, die Herstellung von Kontakten oder die Suche nach Zeugen bat.46 40 Langbein an Zentrale Stelle der Landesjustizver waltungen vom 14. 11. 1959, S. 1 f. (ÖStA E /1797 : 28). 41 Vgl. Schüle an Langbein vom 16. 11. 1959 ( ÖStA, E /1797 : 28). 42 Vgl. Langbein an Schüle vom 5. 7. 1960 ( ÖStA, E /1797 : 28). 43 Vgl. z. B. Korrespondenz Langbein mit Karl Sauer, VVN ( ÖStA, E /1797 : 94). 44 Vgl. Langbein, Kartei Auschwitzer SS ( ÖStA, E /1797 : 168). 45 Vgl. z. B. Langbein an Zentrale Stelle der Landesjustizver waltungen vom 23. 2. 1959 (ÖStA, E /1797 : 28). 46 Vgl. Langbeins Korrespondenz mit der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen ( ÖStA, E /1797 : 28).

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Eine wichtige Funktion übernahm das Komitee auch als Vermittlungsinstanz zwischen den ehemaligen KZ - Häftlingen und den Justizbehörden. Ohne das Engagement und die Überzeugungsarbeit Langbeins und anderer Komiteemitglieder wären wohl viele der späteren Zeugen im ersten Frankfurter AuschwitzProzess, gerade aus Israel und den Ostblockländern, nicht bereit gewesen, vor einem bundesdeutschen Gericht zu erscheinen.47 Die Bedeutung des Komitees für das Zustandekommen des Auschwitz - Prozesses lässt sich jedoch nur schwer beurteilen. Die Einschätzungen der Prozessbeteiligten gehen in diesem Punkt – bedingt auch durch ihr jeweiliges professionelles Selbstverständnis – weit auseinander; unzweifelhaft ist, dass das IAK hartnäckig auf den Beginn der Ermittlungen gedrungen, den größten Teil der Häftlingszeugen benannt und Zugang zu umfangreichem schriftlichen Belastungsmaterial – oft aus Archiven in Polen – verschafft hat. Es gab unter den Mitarbeitern des IAK einen allgemeinen Konsens, dass nicht nur die Verfahren zur Aufklärung der Öffentlichkeit notwendig seien, sondern dass umgekehrt auch eine umfassendere Information der Öffentlichkeit über die NS - Verbrechen eine Voraussetzung für einen positiven Ausgang der Verfahren sei. Ohne eine gesteigerte Sensibilität der Öffentlichkeit sei eine angemessene Verurteilung der Täter nicht zu erwarten. Neben seinen Informationsblättern und Presseerklärungen arbeitete das Komitee deswegen für die publizistische Vorbereitung des Auschwitz - Prozesses an einem umfangreichen Sammelband mit Berichten von Überlebenden, Fotos und Dokumenten. Der Band, die erste umfassendere Darstellung von Auschwitz, die in der Bundesrepublik erschien, wurde 1962 nach ihrer Trennung vom IAK von H. G. Adler, Langbein und Ella Lingens - Reiner unter dem Titel „Auschwitz. Zeugnisse und Berichte“ herausgegeben.48 Ein Jahr später, ebenfalls verfasst in Hinblick auf den kurz darauf beginnenden Auschwitz - Prozess, publizierte Langbein eine erste Bilanz der strafrechtlichen Ahndung der NS - Verbrechen in der Bundesrepublik.49 Gerade hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit zum ersten Frankfurter Auschwitz - Prozess wurden innerhalb des Komitees aber auch früh unterschiedliche Ziele und Vorstellungen deutlich. Das IAK wollte die juristische Ahndung der Verbrechen als Beitrag zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit, als Genug47 Vgl. Dagi Knellessen, Momentaufnahmen der Erinnerung. Juristische Zeugenschaft im ersten Frankfurter Auschwitz - Prozess – Ein Inter viewprojekt. In : Michael Elm / Gottfried Kößler ( Hg.), Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt a. M. 2007, S. 116–138, hier 124 ff. Zum Prozess siehe den Beitrag von Werner Renz in diesem Band. 48 H. G. Adler / Hermann Langbein / Ella Lingens - Reiner ( Hg.), Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Frankfurt a. M. 1962. Zur Entstehung der Publikation und den Konflikten im IAK vgl. Katharina Stengel, Auschwitz zwischen Ost und West. Das Internationale Auschwitz - Komitee und die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes „Auschwitz. Zeugnisse und Berichte“. In : Katharina Stengel / Werner Konitzer ( Hg.), Opfer als Akteure. Inter ventionen ehemaliger NS - Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 2008, S. 174–196. 49 Hermann Langbein, Im Namen des deutschen Volkes. Zwischenbilanz der Prozesse wegen nationalsozialistischer Verbrechen, Wien 1963.

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tuung für die Opfer, als Möglichkeit, die Geschichte des Lagers zu dokumentieren, und dezidiert als Mittel zur Aufklärung der Öffentlichkeit. Eine starke, mit den kommunistischen Parteien in Ost und West verbundene Fraktion innerhalb des Komitees hatte aber auch weitere politische Ziele. Für sie war die Frage des Umgangs mit den Tätern auch eine Arena, auf der die Konflikte des Kalten Kriegs ausgetragen wurden. Es ging für sie weniger um eine Verurteilung einzelner Täter als um eine allgemeine Anklage der westdeutschen Behörden und ihres Umgangs mit der NS - Vergangenheit; dagegen traten die Erfordernisse einer erfolgreichen Verhandlungsführung in einzelnen Prozessen in den Hintergrund. Die Heterogenität des Komitees führte gerade an diesem Punkt zu erheblichen Konflikten. Ein besonders wichtiger Kooperationspartner des IAK war der Frankfurter Rechtsanwalt Henry Ormond, ein remigrierter jüdischer Jurist, der vor allem im Bereich Wiedergutmachung und in NSG - Verfahren tätig war.50 Langbein gewann Ormond Mitte der 50er Jahre als offiziellen juristischen Berater des IAK. Gemeinsam waren sie an den Vorbereitungen verschiedener Gerichtsverfahren, vor allem des ersten Frankfurter Auschwitz - Prozesses, beteiligt. Mehrfach drohte Ormond dem IAK ultimativ mit einer Aufkündigung der Zusammenarbeit, wenn das Komitee seine Veröffentlichungspraxis nicht ändere. Im Frühjahr 1960 schrieb er an Langbein, er habe sich bei einem Aufenthalt in New York mit „den in Frage kommenden Herren“51 ausgiebig über den Auschwitz Prozess beraten. „Man war dort sehr wenig erfreut über die Propagandaarbeit, die Sie in dieser Sache entwickeln. [...] Wir Juristen haben Ihnen gesagt, dass Sie mit der Errichtung eines besonderen Büros unter Abhaltung von Pressekonferenzen der Sache keinen guten Dienst leisten. Sie liefern nur der Verteidigung Argumente für die Annahme, dass hinter dem ganzen Prozess eine östlich gelenkte Propaganda steht. [...] Wenn Sie wirklich vorhaben, in dieser Weise die Sache aufzuziehen, dann können Sie mit meiner Mitwirkung nicht rechnen.“52 Ormond forderte für das Gelingen des Verfahrens, das er durch jede Andeutung einer Unterstützung aus Osteuropa stark bedroht sah, vom IAK eine weitgehende Selbstverleugnung und Schweigen über die Hilfe aus Polen. Das IAK sollte nicht nur darauf verzichten, mit dem Prozess ( parteipolitische ) Propaganda zu betreiben, sondern auch darauf, seinen eigenen Beitrag zu dem Verfahren überhaupt öffentlich zu benennen. Ormond wusste, wie wichtig das Komitee und seine internationalen Kontakte im Vorfeld des Prozesses gewesen waren, aber offenbar hielt er die Vermutung einer Unterstützung aus dem Ostblock für eine so bedeutende Waffe in den Händen der Verteidiger oder von Teilen der Öffentlichkeit, dass er das IAK zum Stillhalten zwingen wollte. Langbein, der zu dieser Zeit bereits große Distanz zum Parteikommunismus und den 50 Vgl. die umfangreiche Korrespondenz zwischen Langbein und Ormond ( ÖStA, E /1797: 106). 51 Gemeint war sicherlich u. a. Nehemiah Robinson vom World Jewish Congress, mit dem Ormond in enger Verbindung stand. 52 Ormond an Langbein vom 11. 4. 1960 ( ÖStA, E /1797 : 106).

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staatlichen Verfolgtenverbänden Osteuropas hatte, entsprach Ormonds Wünschen und setzte sich innerhalb des IAK damit durch. 1961, als Langbein wegen seines 1958 erfolgten Ausschlusses aus der Kommunistischen Partei Österreichs schließlich auch alle Funktionen im IAK verlor, wurde er mit heftigen Vorwürfen konfrontiert, er habe mit seiner Art des Engagements in den NSG - Verfahren nur der öffentlichen Rehabilitation westdeutscher Justizbehörden gedient.53 Mit seinem Engagement in NSG - Verfahren nahm das Internationale Auschwitz - Komitee unter den Verfolgtenverbänden eine Sonderstellung ein. Soweit bekannt, gab es keinen anderen Verband, der in den 50er und 60er Jahren auch nur in annähernd vergleichbarem Umfang auf diesem Gebiet tätig gewesen wäre. Teils ist das sicherlich auf das persönliche Engagement Langbeins zurückzuführen, es muss dabei aber auch die spezielle Positionierung des Komitees zwischen den Fronten des Kalten Kriegs bedacht werden. In einer Landschaft von Verfolgtenverbänden – die sich meist klar zu einer der beiden Seiten bekannten, die entweder explizit als antikommunistisch galten ( wie das Internationale Dachau - Komitee ab Ende der 50er Jahre, der Bund der Verfolgten des Naziregimes und die Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten54) oder als kommunistisch ( wie die internationalen Lagerkomitees von Buchenwald, Mauthausen und Ravensbrück oder die VVN ) – verschaffte sich das IAK mit seinen zeitweiligen Versuchen um größere politische Unabhängigkeit eine Sonderstellung. Auch wenn es immer noch als antifaschistische Organisation wahrgenommen wurde, war es engagierteren bundesdeutschen Staatsanwälten nicht von vorneherein unmöglich, mit ihm zusammenzuarbeiten und seine Vermittlungsdienste in Richtung Osteuropa in Anspruch zu nehmen. Außerdem kann man vermuten, dass weder die prosowjetischen noch die antikommunistischen Verbände zu dieser Zeit größeres Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung einzelner NS - Verbrecher in der Bundesrepublik hatten. Die Parteikommunisten konnten – zynisch formuliert – mehr Kapital aus Verfahren ziehen, die nicht stattfanden. Die Antikommunisten wollten keinesfalls in die Nähe der vom Osten forcierten Kampagnen gegen Nazis in der Bundesrepublik geraten; außerdem fühlten sie sich oft zu sehr mit der bundesrepublikanischen Staatsräson verbunden, um ausgerechnet an diesem heiklen Punkt zu insistieren. So waren es gerade jene ehemaligen Verfolgten, die nicht organisiert waren oder sich einer unmittelbaren Identifikation mit einer der beiden Seiten des Kalten Kriegs entzogen, die sich in meist sporadischen und heterogenen Netzwerken an der Verfolgung der NS - Täter und der öffentlichen Aufklärung über die Verbrechen beteiligten. 53 Die heftigsten Angriffe gegen Langbein kamen aus der DDR und der CSSR, während die polnischen Auschwitz - Überlebenden zunächst versuchten, zu vermitteln. Vgl. Korrespondenz zwischen Langbein und dem IAK - Präsidenten Tadeusz Hołui 1959–1961 (ÖStA, E /1797 : 89). 54 Der der CDU nahestehende Bund der Verfolgten des Naziregimes wie auch die Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten waren Organisationen, die aus dem aus dem Zerfall der VVN hervorgingen.

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„Das ‚einwandfreie‘ Leben des Waffen - SS - Generals Karl Wolff“. Der Münchner Prozess gegen Himmlers Adjutanten 1964 Marcus Riverein

„Das Urteil im Karl - Wolff - Prozess, das auf 15 Jahre Zuchthaus lautet und rein äußerlich schon ein Kompromiss ist zwischen der Forderung der Verteidigung nach Freispruch und der Forderung der Staatsanwaltschaft nach lebenslänglich Zuchthaus, ist der Kompromiss, den ein bundesdeutsches Gericht zwischen seinen eigenen Rechtsnormen und dem Nationalsozialismus geschlossen hat. Wenn sich das Schwurgericht, wie es in der Urteilsbegründung heißt, dessen bewusst war, dass hier nicht die Bestrafung des Regimes im Angeklagten Aufgabe und Pflicht des Gerichtes sei, dass die Strafe vielmehr einen lebendigen Menschen trifft und auf ihn zugeschnitten sein muss, so muss nunmehr festgestellt werden, dass das Regime tatsächlich nicht im Angeklagten bestraft worden ist, sondern dass der Angeklagte entlastet wurde, indem man das Regime bagatellisiert hat.“1 Mit dieser Einschätzung, die Ulrike Meinhof im November 1964 in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ publizierte, machte die 30 - jährige Journalistin ihre Kritik an dem am 30. September 1964 ergangenen Urteil gegen den ehemaligen Adjutanten des Reichsführers SS Heinrich Himmler mehr als deutlich. Sie sah diesen Prozess „in Übereinstimmung mit einem gewissen offiziellen Denken in der Bundesrepublik, mit jenen Denkschablonen“,2 die weiterhin vorhanden seien und das Verhältnis zum Nationalsozialismus bestimmten. In diesem Zusammenhang entsprach Meinhofs Interpretation dieses Prozesses ihrer generellen Einschätzung vom Charakter der Bundesrepublik. Für Meinhof war der Nationalsozialismus noch keineswegs überwunden, sondern vielmehr

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Ulrike Marie Meinhof, Das „einwandfreie“ Leben des Waffen - SS - Generals Karl Wolff. In : Blätter für deutsche und internationale Politik, 9 (1964), S. 906–910, hier 909. Neben diesem Essay liegen von Ulrike Meinhof zwei weitere Beiträge zu dem Prozess vor. Zum einen ist hier ein kurzer Artikel zu nennen : Ein Mann mit guten Manieren – Ein Tag Karl - Wolff - Prozess. In : konkret, 9 (1964), S. 15–17, sowie eine etwa einstündige Radiosendung : Der Adjutant. Karl Wolff oder : Portrait eines anpassungsfähigen Deutschen, ausgestrahlt im Rahmen der Sendereihe „Das Nachtstudio“ im Hessischen Rundfunk am 15. 10. 1964. Meinhof, Leben, S. 910.

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weiterhin existent, die Bundesrepublik somit weniger Nachfolgerin als Fortsetzung des Dritten Reiches.3 Schon während des Prozesses hatte sich Ulrike Meinhof zu Karl Wolff4 geäußert und sich als exponierte öffentliche Anklägerin gegen den hochrangigen SSFührer erwiesen. Ihr publizistisches Engagement gegen den ehemaligen Chefadjutanten Himmlers war aber nur eine Stimme unter vielen, wenn auch die wohl lauteste, die den Prozess „gegen den höchsten NS - Funktionär vor einem deutschen Gericht“5 kommentierte. Vielmehr wurde das Gerichtsverfahren von einer Reihe journalistischer Beiträge und Stellungnahmen begleitet, die in diesem Beitrag nachgezeichnet werden. Dabei sollen drei verschiedene Aspekte des Prozesses und der Reaktionen, die er hervorrief, schlaglichtartig in den Mittelpunkt gestellt werden. Angesichts der schillernden Figur des Angeklagten, dem der gerichtlich bestellte Psychiater „ein gesteigertes Geltungsbedürfnis bescheinigt [ hatte ], das ihn mit zäher Beharrlichkeit darum ringen ließ, die, wie er glaubt, seiner Offiziers - und SS - Vergangenheit angemessene Position zu behaupten“,6 soll die Selbstinszenierung und die daraus folgende Darstellungsweise in der Berichterstattung zunächst untersucht werden. Ein zweiter Abschnitt ist der Rolle der Zeugen gewidmet, die – und dies ist eine Besonderheit des Prozesses – zu einem nicht unerheblichen Teil ebenso wie Wolff hohe Funktionäre der SS gewesen waren. Es stellt sich daher die Frage, wie sich diese Zeugenauswahl auf den Prozess niederschlug und ob diese ihn so sehr prägen konnte, wie der Kommentar Ulrike Meinhofs nahelegt, dass im Verfahren gegen Wolff „die Aufklärung über den Nationalsozialismus [...] durch seine Anhänger [...], nicht durch seine Gegner“7 stattgefunden habe. In einem dritten Punkt wird die eingangs geäußerte Kritik am Urteil aufgegriffen und diskutiert. Anlässlich eines Interviews im Juli 1966, in dem es um die Praxis der Rechtsprechung in NSG - Ver-

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Kristin Wesemann, Ulrike Meinhof. Kommunistin, Journalistin, Terroristin – eine politische Biografie, Baden - Baden 2007, S. 204 f. Von einer Begegnung mit Ulrike Meinhof im Rahmen des Prozesses gegen Wolff berichtet Marcel Reich - Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999, S. 459 f., der als Zeuge gehört worden war und dem Gericht Erkenntnisse über die Lebensbedingungen im Warschauer Ghetto liefern sollte. Aus der Schilderung dieser Begegnung wird auch Meinhofs Betroffenheit angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen deutlich. Zur Biografie des am 13. Mai 1900 in Darmstadt geborenen Wolff vgl. Jochen von Lang, Der Adjutant. Karl Wolff. Der Mann zwischen Hitler und Himmler, München 1985. Es handelt sich hierbei um eine detailreiche, populärwissenschaftliche Arbeit, die jedoch zum Großteil auf veröffentlichten Memoiren, Zeitzeugenbefragungen führender Persönlichkeiten des Dritten Reiches und aus dem Umfeld Adolf Hitlers sowie Interviews mit Wolff selbst beruht. Eine kürzere biografische Skizze stammt von Brendan Simms, Karl Wolff – Der Schlichter In : Ronald Smelser / Enrico Syring ( Hg.), Die SS. Elite unter dem Totenkopf, Paderborn 2000, S. 441–456. Jetzt auch Kerstin von Lingen, SS und Secret Service : „Verschwörung des Schweigens“. Die Akte Karl Wolff, Paderborn 2010. Meinhof, Leben, S. 910. Süddeutsche Zeitung vom 17. 7. 1964 : „Ein ‚Elitemensch‘ steht vor Gericht“. Meinhof, Mann, S. 17.

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Der Münchner Prozess gegen Hitlers Adjutanten

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fahren ging, zählte die Staatsanwältin Barbara Just - Dahlmann8 eine ganze Reihe „gleichermaßen unverständlicher Entscheidungen“ auf, zu denen sie auch das Urteil gegen Karl Wolff zählte.9 Daher stellt sich die Frage, wie dieses Urteil durch die zeitgenössische Berichterstattung gesehen und kommentiert wurde, zumal mit Wolff ein besonders hoher Repräsentant des Dritten Reiches vor Gericht stand. Mit dem Ulmer Einsatzgruppen - Prozess 1958 begann eine neue Phase in der Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit. Da der weitaus größte Teil der deutschen Öffentlichkeit nicht über die Erfahrung verfügte, an einem Prozess teilgenommen zu haben, kam der Berichterstattung für die Vermittlung von NSG - Verfahren eine zentrale Rolle zu.10 Dies gilt sowohl für den Prozess in Ulm, der in der Presse große Beachtung fand und durch den das Ausmaß der Judenvernichtung und generell die große Anzahl ungesühnt gebliebener NS - Verbrechen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte,11 als auch für den EichmannProzess, der für die deutsche Presse „ein wichtiger und spektakulärer Anlass war, nach den zahlreichen anderen Tätern, Mittätern und Helfershelfern zu fragen, die für die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden verantwortlich waren“.12 Im Verlauf dieses Prozesses war im Übrigen schon der Name Karl Wolffs gefallen. So hatte Eichmann Wolff „als Salon - Offizier, der stets bestrebt gewesen sei, seine Hände sauber zu halten, und der nichts von einer Endlösung habe hören wollen“, bezeichnet.13 Trotz der großen Beachtung, die der Jerusalemer Prozess in der Bundesrepublik erfuhr, traf er allerdings auch auf begrenzte Informationsbereitschaft und Betroffenheit.14 Auch kam zeitgleich eine deutliche „Schlussstrichmentalität“ zum Ausdruck, die sich in der Ablehnung weiterer Strafverfolgung äußerte.15 Dies ist allerdings weniger als simple Rechtfertigung der Täter zu 8 Zu der engagierten Staatsanwältin vgl. Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008, S. 40–60. 9 Interview mit Barbara Just Dahlmann im Mannheimer Morgen vom 14. 7. 1966. Zit. nach Barbara Just - Dahlmann / Helmut Just, Die Gehilfen. NS - Verbrechen und die Justiz, Frankfurt a. M. 1988, S. 239–244, hier 241 f. 10 Vgl. Cord Arendes, Teilnehmende Beobachter. Prozessberichterstatter als Vermittler von NS - Täterbildern. In : Georg Wamhof ( Hg.), Das Gericht als Tribunal oder : Wie der NS - Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009, S. 78–97, hier 78 f. Siehe hierzu auch den Beitrag von Claudia Fröhlich in diesem Band. 11 Vgl. Clemens Vollnhals, Zwischen Verdrängung und Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. In : Ursula Büttner ( Hg.), Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 381– 422, hier 395. 12 Peter Krause, Der Eichmann - Prozess in der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 2002, S. 208. 13 Der Spiegel vom 14. 2. 1962 : „Himmlers Wölffchen“, S. 37–39, hier 39. 14 Vgl. Jürgen Wilke / Birgit Schenk / Akiba A. Cohen / Tamar Zemach, Holocaust und NSProzesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Abneigung und Abwehr, Köln 1995, S. 130. 15 Vgl. Jörg Zedler, „Spazierenführen bedeutete Tod“. Die Wahrnehmung von HolocaustTätern in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel der Mauthausen - Prozesse. In :

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verstehen, sondern „als Ausdruck sozialpsychologischer Verdrängungs - und Abwehrmechanismen“.16 Weitgehende Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass die NS - Prozesse der 60er Jahre eine „aufklärerische Funktion“ gehabt haben. Clemens Vollnhals schreibt ihnen eine „eminent öffentliche Funktion“ zu, „die weit über die Aburteilung einzelner NS - Täter hinausging. Im historischen Rückblick wird man die hier geleistete Aufklärungsarbeit über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus kaum unterschätzen können, so unbefriedigend die aus vielerlei Gründen erst spät einsetzende Verfolgung von NS - Verbrechen und das oft kritisierte Strafmaß unter moralischen Gesichtspunkten auch bleiben sollte.“17 Annette Weinke sieht sie als „Geschichtslektionen, die sich an die Staatsbürger einer im Aufbau befindlichen beziehungsweise bereits weitgehend konsolidierten zweiten deutschen Demokratie richteten. Alle erfahrungs - und gedächtnisgeschichtlichen Besonderheiten und Partikularinteressen hatten hinter diesem übergeordneten erzieherischen Aspekt zurückzutreten.“18 Marc von Miquel betont darüber hinaus, dass „die wichtigste Leistung dieser Gerichtsverfahren“ vermutlich darin bestand, „die Vernichtung der europäischen Juden vor einer breiten Öffentlichkeit thematisiert und als das zentrale Verbrechen des Nationalsozialismus überhaupt erst kenntlich gemacht zu haben“.19 Für die Wahrnehmung der NS - Prozesse in der bundesdeutschen Gesellschaft spielten die Prozessberichterstatter eine wichtige Rolle, da sie als Mittler zwischen den Sphären der Justiz und der Öffentlichkeit agierten.20 Zudem lag es vor allem an den journalistischen Beobachtern, den Gegensatz zwischen dem Selbstbild der Täter und dem gesellschaftlichen Bild vom Täter zu vermitteln,21 was im Falle Wolffs, wie zu zeigen sein wird, deutlich zutage tritt. Die gesamte Bandbreite der Berichterstattung erschöpfend zu behandeln, kann nicht Ziel dieses Aufsatzes sein, müsste man doch hierfür auf wesentlich breiterer Quellengrundlage, die verschiedene Medien : Presse, Rundfunk, Fernsehen einschließt, eine Analyse durchführen.22 Basis dieser Untersuchung bildete die „Süddeutsche Zeitung“, die als regionales und überregionales Blatt für den Zeitraum von Mitte Juli bis Anfang Oktober 1964 ausgewertet wurde. In

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Cord Arendes / Edgar Wolfrum / Jörg Zedler ( Hg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006, S. 183–217, hier 206. Vollnhals, Verdrängung, S. 402. Ebd., S. 403. Annette Weinke, Die Justiz als zeithistorische Forschungsstelle. In : Frank Bösch / Constantin Goschler ( Hg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 2009, S. 156–189, hier 188 f. Marc von Miquel, „Wir müssen mit den Mördern zusammenleben !“ NS - Prozesse und politische Öffentlichkeit in den sechziger Jahren. In : Irmtrud Wojak ( Hg.), „Gerichtstag halten über uns selbst ...“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz - Prozesses, Frankfurt a. M. 2001, S. 97–116, hier 99. Arendes, Beobachter, S. 81. Ebd., S. 89. Eine in dieser Hinsicht vorbildhafte Untersuchung ist Zedler, Spazierenführen.

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Der Münchner Prozess gegen Hitlers Adjutanten

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der Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ hatte der Wolff - Prozess den Stellenwert eines wichtigen regionalen Ereignisses, was sich daran zeigt, dass fast alle Artikel im Lokalteil der Zeitung zu finden waren. Lediglich einem Artikel kam eine Sonderstellung zu, fand man ihn doch nicht in der regionalen Berichterstattung, sondern als große Reportage auf Seite drei des Politikteils.23 Ergänzt wurde diese Materialgrundlage um weitere verstreute Artikel und Kommentare. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf der vorliegenden Basis zu charakterisieren, erscheint schwierig, jedoch kann man sich den Auswirkungen der Berichterstattung zumindest annähern, da der Prozess deutliche Spuren in Form von – teilweise auch anonymen – Zuschriften an die Münchner Staatsanwaltschaft hinterlassen hat, die ebenfalls als Grundlage für die Darstellung dienen.24 Auch wenn die Quellen keineswegs repräsentativ für die Einstellung der Öffentlichkeit sind, stellen sie doch ein weites Spektrum von Anfragen und Kommentaren dar, die deutlich zeigen, dass der Prozess in der gesamten Bundesrepublik verfolgt werden konnte, wenn auch die Zuschriften größtenteils aus dem Raum München und Oberbayern stammten. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Anfragen teilweise auf aktuelle Aussagen während eines bestimmten Abschnitts der Verhandlung beziehen und nicht wenige Verfasser sich ausdrücklich darauf berufen, aus der Presse von Wolff und dem Prozess erfahren zu haben. So war es beispielsweise, wie man in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15. Juli 1964 nachlesen konnte, wegen der Darstellung intimerer Details von Wolffs Privatleben schon am zweiten Prozesstag zu einem kleinen Eklat gekommen, als der Angeklagte der Staatsanwaltschaft vorgeworfen hatte : „Es regt mich in dem Verfahren der Staatsanwaltschaft auf, dass sie nur alles Negative gegen mich aufführt. Ich bin in der Anklageschrift der letzte Dreck.“25 Eine aus dem oberbayerischen Bad Aibling stammende Frau reagierte unmittelbar auf diesen Vorwurf Wolffs an die Anklagebehörde, „dass er bei Gericht ‚wie Dreck‘ behandelt würde“, was sie zu einem Vergleich mit der Behandlung der Männer des 20. Juli veranlasste, „aufrechte, verantwortungsbewusste Patrioten, [ die ] damals vor Gericht standen ( ohne Hosenträger, in Sträf lingskleidern )“, die kaum vergleichbar mit dem „Verbrecher - Handlanger“ Wolff seien.26

23 Süddeutsche Zeitung vom 17. 7. 1964 : „Ein ‚Elitemensch‘ steht vor Gericht“. 24 Es handelt sich um die Akten Staatsanwaltschaften 34865/96 und 34865/97 im Staatsarchiv München, die zusammen etwa 80 Zuschriften an die Münchner Justizbehörde enthalten. 25 Süddeutsche Zeitung vom 15. 7. 1964 : „Ich hielt die Erschießungen für legal“. 26 G. R. an Staatsanwaltschaft München II vom 5. 8. 1964 ( Staatsarchiv München [ im Folgenden zitiert als : StAM ], Staatsanwaltschaften 34865/96, o. Bl.). Abgekürzte Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

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Der Prozess

Gegenstand des Verfahrens vor dem Landgericht München II27 im Sommer 1964 gegen „Generaloberst a. D.“28 Karl Wolff wurden zunächst zwei Tatbestände vorgeworfen, derentwegen gegen ihn ermittelt worden war. Im Juli 1942 war er an wichtiger Stelle bei der Vernichtung der Juden im „Generalgouvernement“ beteiligt. Als es durch die hohe Belastung des Eisenbahnnetzes zu Verzögerungen bei der Durchführung der Transporte in die Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ – so der Deckname für die Ermordung der polnischen Juden – kam29, forderte Himmler eine Erhöhung der Transportkapazitäten und wies seinen Chefadjutanten an, sich darum zu kümmern. Wolff wandte sich daraufhin am 16. Juli 1942 an den Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium, Albert Ganzenmüller, der ihm einige Tage später versicherte, dass mittlerweile „täglich ein Zug mit je 5 000 Juden von Warschau nach Treblinka“ fahre.30 Wolffs Antwort an Ganzenmüller, eines der wohl bekanntesten und am meisten zitierten Schriftstücke zum nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden, kam einige Wochen später, als er dem Staatssekretär schrieb : „Mit besonderer Freude habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, dass nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit je 5 000 Angehörigen des auserwählten Volkes nach Treblinka fährt und wir doch auf diese Weise in die Lage versetzt sind, diese Bevölkerungsbewegung in einem beschleunigten Tempo durchzuführen.“31 Ein zweiter Tatbestand des Gerichtsverfahrens betraf Wolffs Anwesenheit bei der Erschießung von mindestens 120 Juden durch Angehörige des Einsatzkommandos 8 am 15. August 1941 in Minsk, die im Rahmen eines Besuchs Himmlers bei der Einsatzgruppe B stattfand.32 Dieser Teil des Verfahrens führte nicht 27 Zur Rechtssprechungspraxis des Landgerichts München II sowie zur zuständigen Staatsanwaltschaft München II vgl. Christoph Bachmann, Schuld und Sühne ? Die Verfolgung von NS - Verbrechen durch oberbayerische Justizbehörden und ihre archivische Aufarbeitung im Staatsarchiv München. In : Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 68 (2005), S. 1135–1179. 28 Strafprozessvollmacht von Karl Wolff an Alfred Seidl vom 22. 1. 1962 ( Zentrale Stelle Ludwigsburg [ im Folgenden zitiert : ZStL ], B 162/5036, Bl. 25). Wolffs erster Anwalt war der spätere bayerische Innenminister Alfred Seidl, den Wolff noch als Verteidiger in den Nürnberger Nachfolgeprozessen kennen gelernt hatte. Zu Seidl vgl. Bachmann, Schuld, S. 1167 ff. Dass Wolff in der Prozessvollmacht diese „Berufsbezeichnung“ gewählt hat, ist kein Alleinstellungsmerkmal. Schon seit den 50er Jahren gab es nicht wenige Waffen - SS - Führer, die die in der Wehrmacht üblichen Rangbezeichnungen verwendeten. Vgl. Bert - Oliver Manig, Die Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2004, S. 536. 29 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1990, S. 515 f. 30 Zit. nach Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 508. 31 Zit. nach Hilberg, Vernichtung, S. 516. 32 Eine kurze Schilderung von Himmlers Reise und den Ereignissen in Minsk liefern Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 552 f., und Martin Cüppers, Wegbereiter der Shoah, Die Waffen - SS, der Kommandostab Reichsführer - SS und die Judenvernichtung 1939–1945, Darmstadt 2005, S. 183. Cüppers betont auch die radikalisierende Wirkung, die solche Besuche Himmlers vor Ort auf die Täter ausübten.

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zu einer Verurteilung, sondern wurde durch Beschluss des Gerichts am 21. September 1964 vorläufig eingestellt, obwohl die Münchner Staatsanwaltschaft davon überzeugt war, dass durch Wolffs Auftreten „Offiziere und Mannschaften des Einsatzkommandos in ihrem Willen zur gehorsamen Ausführung der rechtswidrigen Erschießungen bestärkt“33 worden waren. Wolffs Versuche, einer Verurteilung zu entgehen – hierzu gehören auch die Bemühungen seiner Anwälte, mittels des „Überleitungsvertrags“34 eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen – scheiterten, war doch die Beweislast im Komplex „Aktion Reinhard“ so erdrückend, dass er wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu 15 Jahren Zuchthaus und zur Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für zehn Jahre verurteilt wurde. Zugute gehalten wurde ihm dabei, „dass er persönlich dem Rassenhasse nicht verfallen“35 gewesen sei; auch habe er nicht zu jenem „Personenkreis gehört, dessen Haupt - oder Alleinaufgabe die Durchführung der Judenvernichtung war und der daher auch die Einzelheiten der Massentötungsvorgänge in verschiedenen Vernichtungslagern gekannt hat“.36 Das Gericht stufte ihn auch nicht als Mittäter, sondern vielmehr als Gehilfen ein,37 da es überzeugt war, „dass der Angeklagte im Auftrage Himmlers an Dr. Ganzenmüller mit dem Willen herangetreten ist, Himmler bei der Erfüllung seiner ihm von Hitler übertragenen, ‚geschichtlich notwendigen und im Reichsinteresse liegenden Aufgabe‘ zu unterstützen“.38 Das Gericht war darüber hinaus zu der Einschätzung gelangt, dass Wolff lediglich einmalig auf direkte 33 Protokoll aufgenommen in öffentlicher Sitzung des Schwurgerichts bei dem Landgericht München II, 34. Verhandlungstag am 21. 9. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/12, Bl. 196 f.). 34 Der Überleitungsvertrag von 1955 gab der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet des Rechts die vollständige Souveränität. Ursprünglich konzipiert, um eine Revision alliierter Gerichtsurteile unmöglich zu machen, wurde er entgegen der eigentlichen Zielsetzung zu einer „wirkungsvollen Waffe gegen bundesdeutsche NSG - Verfahren“. Zum Überleitungsvertrag und seiner Auslegung vgl. Bernhard Brunner, Der Frankreich - Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2004, S. 206–224, insbes. 216, wo auch der Fall Wolff behandelt wird. 35 LG München II vom 30. 9. 1964, 1 Ks 1/64. Zit. nach Christiaan Frederik Rüter ( Hg.), Justiz und NS - Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Band 20 : Die vom 12. 4. 1964 bis zum 3. 4. 1965 ergangenen Strafurteile. Lfd. Nr. 569–590, Amsterdam 1979, S. 380–504, hier 497. 36 Ebd., S. 497. 37 Mit der Anwendung der „Gehilfenrechtsprechung“ und der daraus resultierenden Urteilsfindung bewegte sich das Münchner Schwurgericht innerhalb rechtlicher Vorstellungen, die seit geraumer Zeit Gegenstand der Forschung zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen sind. Vgl. etwa Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS - Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001; ders., Täter oder Gehilfen ? Zum strafrechtlichen Umgang mit NS Gewaltverbrechern und der Bundesrepublik. In : Ulrike Weckel / Edgar Wolfrum ( Hg.), „Bestien“ und „Befehlsempfänger“. Frauen und Männer in NS - Prozessen nach 1945, Göttingen 2003, S. 194–221; Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS Verbrechen, Tübingen 2002. 38 Rüter, Justiz, S. 498.

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Weisung Himmlers tätig geworden sei, sich somit zwar „die Zielsetzung der Machthaber des ‚Dritten Reiches‘ zu eigen gemacht hat und damit selbst aus niedrigen Beweggründen gehandelt“39 habe, äußerte aber starke Zweifel daran, dass er die Tat aus eigenem Antrieb heraus begangen hatte. Der eingangs zitierte Vorwurf Ulrike Meinhofs, dieses Urteil sei ein Kompromiss zwischen dem Dritten Reich und seinen Normen und denen der Bundesrepublik, ist sicherlich mehr der Empörung der Verfasserin geschuldet als der Realität. Dennoch lässt sich feststellen, dass das Urteil und die dahinter stehenden Vorstellungen von Täterschaft im Rahmen von NSG - Verfahren, auch wenn sie damals Kritik ausgelöst haben, die Wahrnehmung Wolffs und zahlloser anderer NS - Täter maßgeblich geprägt haben. Wie sehr zeitgenössische Vorstellungen von der Verstrickung der Mehrheitsgesellschaft in die Verbrechen des Nationalsozialismus hier einflossen, zeigte schon die Anklageschrift : „In welcher frivol zu nennenden, jenseits aller rechtlichen und sittlichen Vorstellungen stehenden Weise schon vor Beginn des 2. Weltkrieges die emporgekommenen Führer in Regierung und Exekutive des NS - Regimes ohne das Volk die antijüdischen Maßnahmen vorbereiteten, zeigt deutlich die Niederschrift der unter Vorsitz von Göring am 12. November 1938 im Reichsluftfahrtministerium abgehaltenen Besprechung über die Judenfrage.“40 Demzufolge wird in der Anklageschrift – und später auch im Urteil – durchgehend von einem direkten und umfassenden „Führerbefehl“ zur physischen Vernichtung der europäischen Juden im Frühjahr 1941 ausgegangen.41 Diese mittlerweile von der Forschung gründlich widerlegte Behauptung eröffnete in zahlreichen NSG - Verfahren den Tätern eine Entlastungsstrategie, indem sie sich auf „von oben“ erteilte Befehle berufen konnten.42 Zudem benannten Anklageschrift und Urteil durchweg Hitler, Himmler und Heydrich als die eigentlichen Urheber der Verbrechen.43 39 Ebd., S. 497. 40 Anklageschrift Staatanwaltschaft München II gegen Karl Wolff ( ZStL, B 162/4468, Bl. 74). Zu der hochrangig besetzten Konferenz im Reichsluftfahrtministerium vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band : Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 1998, S. 302–306; sowie Longerich, Politik, S. 208 ff. 41 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München II gegen Karl Wolff ( ZStL, B 162/4468, Bl. 3). 42 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Die Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 555 f. Mittlerweile geht die Forschung von einer Ausweitung der Mordbefehle im Juli / August 1941 aus. Der Ursprung der Berufung auf einen direkten Führerbefehl, der vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion an die Einsatzgruppen gegeben worden sei, liegt in der Verteidigungsstrategie des in Nürnberg angeklagten Otto Ohlendorf. Eingang in die wissenschaftliche Debatte fand diese These besonders durch Helmut Krausnick, der auch im Prozess gegen Wolff als Sachverständiger gehört worden war. Das Gericht schloss sich auch hier seinem Gutachten und der darin vertretenen Ansicht an. Zur Kontroverse zwischen Helmut Krausnick und dem Ludwigsburger Staatsanwalt Alfred Streim bezüglich des „Führerbefehls“. Siehe zusammenfassend Weinke, Justiz, S. 179–186. Einen Forschungsüberblick zu dieser Kontroverse liefert zudem Longerich, Politik, S. 310–320. 43 Vgl. Kerstin Freudiger, Die blockierte Aufarbeitung von NS - Verbrechen in der Bundesrepublik. In : Joachim Perels / Rolf Pohl ( Hg.), NS - Täter in der deutschen Gesellschaft,

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Der Angeklagte

Schon in seinem Bericht vom Prozessauftakt am 13. Juli 1964 charakterisierte der Prozessberichterstatter der „Süddeutschen Zeitung“, Wolfgang Wehner, der die Ereignisse zehn Wochen lang verfolgte, den Angeklagten sehr treffend und arbeitete damit ein Bild Karl Wolffs heraus, das sich im Wesentlichen in der gesamten Berichterstattung wiederfindet : „Wer in Karl Wolff den Typ des schneidigen oder arroganten SS - Offiziers erwartet hat, sieht sich enttäuscht. Er gibt sich jovial - gemütvoll, wozu seine hessisch geprägte Sprechweise ein Übriges tut, ist von außerordentlicher Höf lichkeit, versäumt aber nicht, bei jeder Gelegenheit auf Umstände hinzuweisen, die dem Bild seiner Persönlichkeit sympathische Züge zu geben geeignet sind.“44 Dieser Darstellung von Himmlers ehemaligem Adjutanten schloss sich der erfahrene Prozessberichterstatter Gerhard Mauz im „Spiegel“ mit der Feststellung an : „Die Stimme des Angeklagten ist die erste Überraschung, denn sie kommt nicht vom Kasernenhof, nicht einmal von einem der Inneren Führung, sondern aus dem Salon.“45 Dieses Bild zu pflegen, ja auf dessen Weiterverbreitung hinzuarbeiten, war in Wolffs Interesse. Schon bei seinen ersten Vernehmungen durch die Münchner Staatsanwaltschaft gab er pathetisch anmutende Erklärungen ab, mit denen er sich ausdrücklich auf einen militärischen Ehrenkodex bezog : „Hierdurch verpflichte ich mich auf mein Offiziers - Ehrenwort als ehemaliger GroßherzoglichHessischer Garde - Offizier sowie als ehemaliger Generaloberst der Waffen - SS, während der Dauer der [...] gegen mich verfügten Untersuchungshaft keinerlei Fluchtversuch zu unternehmen.“46 Diese Selbsteinschätzung und - darstellung als Soldat und Angehöriger einer Elite zog sich auch durch alle weiteren Vernehmungen Wolffs sowie das Gerichtsverfahren generell, in dem er mehrfach versuchte, seine Stellung als Verbindungsmann Himmlers zu Hitler47 als militärische Funktion – Verbin-

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Hannover 2002, S. 119–135, hier 124 f.; und Weinke, Justiz, S. 176. Diese Verlagerung der Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen auf die drei genannten und ihre Einstufung als Haupttäter entsprach der Praxis deutscher Gerichte in NSG - Verfahren. Süddeutsche Zeitung vom 14. 7. 1964 : „Die Anklage lautet : Massenmord“. Gerhard Mauz, Himmler nannte ihn „Mein Wölffchen“. In : Der Spiegel vom 22. 7. 1964, S. 34. Der Journalist Gerhard Mauz schrieb häufig im „Spiegel“ zu Justizthemen. So hatte er in der vorangegangenen Ausgabe des Nachrichtenmagazins einen langen Bericht über den Ausschwitz - Prozess vorgelegt : Gerhard Mauz, Wo der Sohn den Vater ertränken muss. In : Der Spiegel vom 15. 7. 1964, S. 32–38. Ehrenwörtliche Erklärung von Karl Wolff vom 9. 4. 1962 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/1, Bl. 98). Aus der Aktennotiz des zuständigen Staatsanwalts geht zudem Wolffs ausdrückliche Bitte hervor, diese Erklärung zu den Akten zu geben. Zu Wolffs Aufgaben als Verbindungsmann zwischen Hitler und Himmler, der er seit Kriegsbeginn 1939 war, vgl. Elisabeth Kinder, Der persönliche Stab Reichsführer - SS. Geschichte, Aufgaben und Überlieferung. In : Heinz Boberach / Hans Booms ( Hg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte, Boppard 1977, S. 379–397, hier 390 f.

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dungsoffizier der Waffen - SS im Führerhauptquartier – darzustellen. Nicht ohne Eitelkeit merkte er in diesem Zusammenhang am ersten Prozesstag an, „der ersternannte Generalleutnant der Waffen - SS“48 gewesen zu sein, und betonte ausdrücklich, dass die SS die Garde des Dritten Reiches gewesen sei.49 Hiervon ließ sich Wolff nicht abbringen. Als der Vorsitzende des Gerichts nach zwei Prozesswochen bemerkte, keine Ideale der SS entdecken zu können, antwortete Wolff ihm selbstbewusst : „Wir sind einmal, und das lasse ich mir von niemandem in dieser Welt rauben, geworben worden in der Kampfzeit, mit dem Ordensgedanken der SS. Ich habe nach diesen Idealen gelebt und habe mich bemüht, im Kriege diesen Idealen treu zu bleiben. Ich hätte mich in Sicherheit bringen können und den Karren allein laufen lassen können. Die Geschichte wird mich rechtfertigen.“50 Diese Charakterisierung der SS – die Betonung ihres Elitecharakters bei gleichzeitiger Marginalisierung ihrer Verbrechen – hatte Wolff schon im Rahmen der Nürnberger Nachfolgeprozesse präsentiert, wo er sich des „Mythos Anständigkeit“51 bedient und mehrfach betont hatte, dass er beim Hauptkriegsverbrecherprozess gerne an Stelle Himmlers angeklagt worden wäre, um so die Ehrenrettung der SS betreiben zu können.52 Wie auch später in München gab er hier an, keine Kenntnis vom Massenmord an den Juden gehabt zu haben, da dies „außerordentlich geheim gehalten und auf den mindestmöglichen Mitwisserkreis beschränkt“ gewesen sei.53 Erleichtert wurden Wolff diese Äußerungen 48 Sitzungsniederschrift in der Hauptverhandlung des Schwurgerichts beim Landgericht München II in dem Strafverfahren gegen Karl Wolff wegen Mordes, 1. Verhandlungstag am 13. 7. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/15, Bl. 2). 49 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 7. 1964 : „Der ‚ersternannte‘ General der Waffen - SS“. In diesem Zusammenhang wurde auch die Weitschweifigkeit von Wolffs Ausführungen deutlich, als er auf die Frage des Vorsitzenden, was eine Garde sei, bei Alexander dem Großen anfing. Seine Zugehörigkeit zur SS war nach eigener Darstellung die logische Fortsetzung seiner Dienstzeit im hessischen Garde - Regiment. 50 Sitzungsniederschrift in der Hauptverhandlung des Schwurgerichts beim Landgericht München II in dem Strafverfahren gegen Karl Wolff wegen Mordes, 8. Verhandlungstag am 27. 7. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/15, Bl. 61). 51 Karin Orth, Die Strafrechtliche Verfolgung der Konzentrationslager - SS nach Kriegsende. In : Irmtrud Wojak ( Hg.), „Gerichtstag halten über uns selbst ...“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz - Prozesses, Frankfurt a. M. 2001, S. 43–60, hier 52. Wie Orth ausführt, ist dieser Mythos auch von vielen Angehörigen der Konzentrationslager - SS angesichts der alliierten Gerichte gepflegt worden, um von den begangenen Verbrechen und der eigenen Schuld abzulenken und vor der Siegermacht Haltung zu bewahren. Er stellte somit eine zentrale Entschuldungs - und Verteidigungsstrategie dar. 52 Aussage Karl Wolffs im Prozess gegen das Wirtschafts - und Verwaltungshauptamt der SS am 4. 6. 1947 ( ZStL, B 162/5038, Bl. 2152). Wolff war keineswegs der einzige Angeklagte, der sogar die Kenntnis von der Judenvernichtung leugnete und behauptete, erst nachträglich davon erfahren zu haben. Zu dieser häufig verwendeten Behauptung vgl. Helge Grabitz, NS - Prozesse – Psychogramme der Beteiligten, 2. Auflage Heidelberg 1986, S. 119–135. 53 Aussage Karl Wolffs im Prozess gegen das Rasse - und Siedlungshauptamt der SS am 5. 12. 1947 ( ZStL, B 162/5038, Bl. 1920).

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und seine Bemühungen nicht zuletzt dadurch, dass er die Strafverfolgung der Alliierten nicht zu fürchten brauchte. Durch die Vermittlung einer Sonderkapitulation in Italien, die er mit dem in der Schweiz operierenden Repräsentanten des amerikanischen Geheimdienstes Office of Strategic Services ( OSS ), Allen W. Dulles, abgeschlossen hatte, hatte sich Wolff persönliche Garantien aushandeln können.54 Diese Verhandlungen kamen auch in München wieder zur Sprache und waren für Wolffs Verteidigung von besonderer Bedeutung,55 wollte er doch herausstellen, wie vielen Menschen er dadurch das Leben gerettet hat, womit er zumindest teilweise Erfolg hatte.56 Anders als bei den Nürnberger Prozessen konnte der amerikanische Geheimdienst jedoch keinen Einfluss auf das Verfahren ausüben, so dass hier keine Aussicht auf Schutz vor der Strafverfolgung bestand.57 Da seine Haltung in Nürnberg – nach Wolffs Lesart „Opfersinn“ – im Laufe des Münchner Prozesses thematisiert worden war, griff Wolfgang Wehner sie in der „Süddeutschen Zeitung“ auf : „Heute nun ist Wolffs ehemaliger Opfersinn zugunsten des Selbsterhaltungstriebes so stark in den Hintergrund getreten, dass nur noch seine ausschließliche Bemühung sichtbar wird, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.“58 Der Berichterstattung im Münchner Prozess bot sich Wolff durch die Präsentation seiner selbst, seine „an Pappblumen überreife Sprache“59 und seine demonstrative Weigerung, auch nur die geringste Kenntnis vom Holocaust zuzugeben, somit geradezu an. Seine Selbstdarstellung, die die eigene Position als wichtig und bedeutend, aber gleichzeitig ohne jede Verantwortung charakterisierte, und die verharmlosende Behauptung, nur als „Briefträger zwischen Himmler und Hitler verwendet“60 worden zu sein, brachte ihm seitens der Pro54 Vgl. Kerstin von Lingen, Conspiracy of Silence : How the „Old Boys“ of American Intelligence Shielded SS General Karl Wolff from Prosecution. In : Holocaust and Genocide Studies, 22 (2008), S. 74–109. 55 Vgl. Michael Salter, Nazi War Crimes, US Intelligence and Selectice Prosecution at Nuremberg. Controversies regarding the role of the Office of Strategic Services, Oxon 2007, S. 172 f. Einen hohen Stellenwert hatte hier die Aussage Gero von Gaevernitz’, einem Beteiligten an der Sonderkapitulation in Italien, der am 7. September 1964 vernommen worden war und von der sich Wolff viel für seine Verteidigung erhoffte. 56 Vgl. anonyme Zuschrift aus Passau an den „Staatsanwalt im Prozess des ehem. SS Generals Wolff“ vom 13. 9. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/97, o. Bl.) : „Vielleicht gehören Sie auch zu den Glücklichen, die infolge der Kapitulation des ehemaligen SS Generals Wolf im Frühjahr 1945 den Krieg überstanden haben – einer vielleicht von den vielen Hunderttausenden, so auch ich – dies wollen Sie bitte bei der Urteilsverkündung im Namen von etlichen hunderttausenden Landsern im Auge behalten. Hochachtungsvoll ‚Einer‘ der nochmal davon gekommen ist !“ 57 Vgl. Salter, Nazi War Crimes, S. 175; und Lingen, Conspiracy, S. 95. 58 Süddeutsche Zeitung vom 17. 7. 1964 : „Ein ‚Elitemensch‘ steht vor Gericht“. 59 Mauz, Wölffchen. 60 Sitzungsniederschrift in der Hauptverhandlung des Schwurgerichts beim Landgericht München II in dem Strafverfahren gegen Karl Wolff wegen Mordes, 1. Verhandlungstag, 13. 7. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/15, Bl. 7).

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zessberichterstatter – allen voran Gerhard Mauz – Hohn und Spott ein. „Er will die Kuh essen und ihre Milch trinken, er will ein verdienstvoller Mann gewesen sein und dennoch ohne Verantwortung.“61 Auch Wehner griff dies in der „Süddeutschen Zeitung“ auf, indem er den Vorsitzenden des Gerichts zu Wort kommen ließ : „Wollen Sie damit sagen, dass Sie nur Briefträger waren, ohne in Dokumente Einblick zu nehmen, mit deren Bearbeitung Sie dienstlich beauftragt waren ? Wenn das so ist, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie Ihren Pflichten nur sehr mangelhaft nachgekommen sind.“62 Auf völliges Unverständnis stieß jedoch Wolffs vermeintliches Unwissen von der Judenvernichtung, was mehr als alles andere dazu führte, dass er in der Berichterstattung als ausgesprochen unglaubwürdig dargestellt wurde, zumal, wie der Vorsitzende des Gerichts anmerkte, selbst Wolffs und Himmlers Chauffeure Bescheid gewusst hätten.63 Wolfgang Wehner stellte in seinem Bericht über den zehnten Prozesstag am 30. Juli 1964 demnach groß heraus, dass Wolff an diesem Tag zum ersten Mal „einer Lüge glatt überführt“ worden war, da ein Dokument zweifelsfrei seine und Himmlers Anwesenheit in Warschau im Januar 1943 belegte, wo auch über die endgültige Auf lösung des Ghettos und die Deportation der letzten dort lebenden Juden gesprochen worden war.64 Als dieser Komplex einige Wochen später nochmals in der Verhandlung thematisiert wurde, merkte Wehner dementsprechend auch an, dass dies „ein schwarzer Tag für Wolff“ gewesen sei.65 Ein Gegensatz zu den Exzesstätern,66 wie sie im Auschwitz - Prozess präsentiert wurden, blieb allerdings bestehen. „Die Hände des Karl Wolff sind freilich rein. Das Blut der 300 000 kam nicht in seine Nähe. Und die 100 sah er nur sterben in Minsk. ‚Mir wurde speiübel‘, und die ‚primitive Art‘ der Erschießung war ‚abstoßend‘, wenn sie auch ‚nur‘ Gesindel widerfahren sein soll und keinesfalls Juden.“67 Wolff entsprach demnach nicht dem Typ des sadistischen Gewalttäters, gehörte aber der gleichen Organisation wie diese an. Wie nahe er dadurch diesen Tätern war, stellte Gerhard Mauz mit Verweis auf Wolffs Prozessanwalt Rudolf Aschenauer68 fest, der im Auschwitz - Prozess den Angeklag61 Mauz, Wölffchen. 62 Süddeutsche Zeitung vom 12. 8. 1964 : „Dokumente über den Massenmord“. 63 Süddeutsche Zeitung vom 16. 7. 1964 : „Wolff : ‚Ich wusste nichts über Massentötungen‘“. 64 Süddeutsche Zeitung vom 31. 7. 1964 : „So starben sie in den Gaskammern von Belzec“. Zu diesem Besuch Himmlers in Warschau vgl. Longerich, Himmler, S. 684. 65 Süddeutsche Zeitung vom 21. 8. 1964 : „Ein schwarzer Tag für Wolff“. 66 Vgl. Zedler, Spazierenführen, S. 187–198. Jörg Zedler identifiziert drei Typen, die das Bild vom NS - Täter maßgeblich geprägt haben. Neben dem Typus des sadistischen „Exzesstäters“ arbeitet er den des „Befehlsempfängers“, der ohne eigene Überzeugung auf Befehl handelte, sowie den „Technokraten“ heraus, der die Ziele des Regimes verinnerlicht hatte, sie ausführte, aber selbst nicht unmittelbar beteiligt war. 67 Mauz, Wölffchen. Die Zitate im Zitat stammen von Wolff. 68 Rudolf Aschenauer war ein aus zahlreichen NSG - Verfahren bekannter Strafverteidiger, der darüber hinaus enge Kontakte zu rechtsradikalen Kreisen unterhielt. Zur Biografie Aschenauers vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 174, Anm. 40. Zu den Verbindungen des

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ten Wilhelm Boger, eben jenen Typus des Exzesstäters, vertrat : „Getrost kann er in München Karl Wolff verteidigen, aber indem er das tut, erinnert er an jene ehemaligen SS - Leute, die ganz unten standen in der Hierarchie der mordenden ‚Elite‘. Und diese Erinnerung macht den Karl Wolff fast unerträglich, ihn, den ehemaligen SS - Obergruppenführer und General der Waffen - SS.“69 Wolffs Selbstdarstellung erreichte damit eher das Gegenteil dessen, was sie erreichen sollte. Schon nach wenigen Tagen des Prozesses stand ein gewisses Täterbild fest. „Man hört einen Mann von pathetischer Geschwätzigkeit, der die Düsternis des Dritten Reiches mit hohlen Phrasen von Rittertum, Tradition und hehrem Idealismus übertönt. Und man erlebt, beinahe schon nicht mehr überrascht, ein Fossil aus den stürmischen Erfolgsjahren des Nationalsozialismus, einen Menschen, dem die abstruse Welt von Rassestolz, Ordensburgen und Herrenmenschentum zum Wesensinhalt geworden ist, dem nicht die Grundlagen, sondern wohl nur der Misserfolg seiner Ideen verabscheuenswert erscheinen.“70 Wie Annette Weinke deutlich macht, geht es bei der Beschäftigung mit NS Verbrechen in den 60er Jahren und der daraus resultierenden Berichterstattung auch immer darum, Grenzen zwischen den als Verbrecher identifizierbaren Tätern und dem Gegenbild der vermeintlich unschuldigen Durchschnittsdeutschen zu ziehen, was in der Darstellung immer mitschwang.71 Marc von Miquel betont hierbei auch die verhängnisvolle Rolle der Justiz mit ihrem Bestrafungsmonopol, die zumeist untere Chargen als Täter beurteilte, mittlere und höhere Verantwortungsträger hingegen fast durch die Bank als Gehilfen einstufte. Dies verfestigte nicht nur das Bild vom abnormen Einzeltäter, sondern auch die damit korrespondierende Vorstellung, dass die NS - Bürokraten den Machthabern hilf los ausgeliefert gewesen seien.72 Zudem boten die in der Berichterstattung vorherrschenden Tätertypen : „sadistische Exzesstäter“, „hörige Befehlsempfänger“ und „Technokraten“ jeweils „anschlussfähige Deutungsangebote zum Problem der Täterschaft im Nationalsozialismus“ und konnten somit sowohl zur Selbstentlastung sowie zur Distanzierung dienen.73 Für die Beschäftigung mit der NSVergangenheit in den 60er Jahren treten somit „Aufklärung, Distanzierung und Apologie gleichzeitig in Erscheinung und überschnitten sich“.74

69 70 71

72 73 74

Anwalts und seinem Engagement für die Freilassung noch inhaftierter Kriegsverbrecher seit Ende der 40er Jahre vgl. etwa Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS - Vergangenheit, München 1996, S. 163 f.; Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004, S. 210 f.; sowie Bachmann, Schuld, S. 1163–1167. Mauz, Wölffchen. Süddeutsche Zeitung vom 17. 7. 1964 : „Ein ‚Elitemensch‘ steht vor Gericht“. Annette Weinke, Täter, Opfer, Mitläufer. Vermittlungs - und Bewältigungsstrategien in westdeutschen NS - Prozessen. In : Georg Wamhof, ( Hg.), Das Gericht als Tribunal oder: Wie der NS - Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009, S. 55–77, hier 76. Vgl. Miquel, Mördern, S. 111 f. Weinke, Gesellschaft, S. 61 f. Annette Weinke orientiert sich ebenfalls an den von Jörg Zedler entwickelten Tätertypen. Miquel, Mördern, S. 99.

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Wendet man diese Überlegungen auf die Darstellung Wolffs in der Berichterstattung an, so entdeckt man auch in diesem Fall eine deutliche Tendenz der Distanzierung : Wolff entsprach zwar keineswegs dem Typus des Exzesstäters, gehörte aber der gleichen „verbrecherischen Organisation“ an. Mit seiner Behauptung, nicht nur keine Schuld an den begangenen Verbrechen zu tragen, sondern noch nicht einmal von ihnen gewusst zu haben, und seinem soldatischelitären Gehabe, das ihn noch immer als einen stolzen Angehörigen der SS auswies, bot er allein schon durch seine herausgehobene Stellung bei Himmler genug Anhaltspunkte, um als einer der Täter identifiziert zu werden. In dieser Hinsicht kann man durchaus feststellen, dass Wolffs Versuche, sich als wichtig, aber frei von jeder Schuld darzustellen, und eine Berichterstattung, die Wolffs Schilderungen Lügen strafte, auch die Bedürfnisse der Berichterstattung und darüber hinaus einer Mehrheitsgesellschaft bediente, sich von Schreibtischtätern wie ihm distanzieren zu können. Wie sehr Empörung und deutliche Distanzierung dabei Hand in Hand gingen, zeigt der wütende Brief eines promovierten Juristen aus Gießen, der „mit ungläubigen Staunen“ aus einem Zeitungsbericht erfahren hatte, „dass dieser hohe Funktionär der größten Verbrecherorganisation der Weltgeschichte von allem nichts gewusst haben will“. Gleichzeitig grenzte er sich – und die breite Mehrheit der Gesellschaft – von den noch lebenden NS - Funktionären ab, die noch heute „dick, feist, vollgefressen und unverschämt mitten unter anständigen Leuten Feste [ feiern ], wie [ er ] es im Keller der Königsburg zu Krefeld unlängst erleben musste“.75

3.

Die Zeugen

Vergleicht man die Beweisführung im Prozess gegen Karl Wolff mit dem zeitgleich ablaufenden Auschwitz - Prozess, fällt zunächst auf, dass das Frankfurter Verfahren in erster Linie auf den Aussagen von Zeugen, mehr als 300 an der Zahl, beruhte, war doch die Dokumentenlage nur als spärlich zu bezeichnen.76 Die Beweisführung im Münchner Prozess fußte dagegen zu einem weitaus höheren Anteil auf Schriftstücken. Die im Auschwitz - Prozess aufgerufenen Zeugen waren in der Mehrheit Überlebende des Konzentrationslagers, die neben ihrer Rolle in dem Strafverfahren mit ihren Aussagen dafür sorgten, dass „die Unzahl der Toten vor einer breiten deutschen Öffentlichkeit der Anonymität entrissen und das Einzelschicksal [...] aus der täglichen ‚Routinearbeit der Mord-

75 I. E. M. an Staatsanwaltschaft München II vom 24. 7. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/96, o. Bl.). 76 Sabine Horn, Der Gerichtssaal als Geschichtsunterricht. Pädagogische Sinngebungspraktiken in der medialen Präsentation von NS - Prozessen. In : Georg Wamhof, ( Hg.), Das Gericht als Tribunal oder : Wie der NS - Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009, S. 101–123, hier 103.

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maschinerie‘ hervor“ trat.77 Erst das Frankfurter Verfahren eröffnete den Zeugen die Möglichkeit, ihre Stimmen zu erheben, da sie bisher in der Nachkriegsgeschichte ungehört geblieben waren.78 Im Prozess gegen Wolff traten ebenfalls zahlreiche Überlebende als Zeugen auf : Marcel Reich - Ranicki79 schilderte ebenso wie mehrere andere die Lebensumstände im Warschauer Ghetto.80 Ein weiterer Zeuge, Überlebender des Vernichtungslagers Treblinka, vermittelte einen Eindruck von den grauenhaften Zuständen dieses Lagers, das er nur dank seiner Flucht überstehen konnte.81 Wolfgang Wehner stellte nach sechs Wochen Prozess fest, dass die erneute Befragung eines Zeugen zum Warschauer Ghetto dem Gericht wenig gebracht habe, was „aber freilich nichts [ änderte ] an der Erschütterung, die von seiner Schilderung persönlicher Erlebnisse ausging“.82 Den Schicksalen dieser überlebenden Zeugen wurde in der Berichterstattung breite Aufmerksamkeit zuteil, ihre Aussagen waren detailliert wiedergegeben, so dass sich der Zeitungsleser ein Bild vom Warschauer Ghetto, der Deportation in die Vernichtungslager und den Mordaktionen dort machen konnte. Insofern kam ihren Aussagen und der Berichterstattung über sie eine ähnliche Funktion für die Vermittlung des Holocaust wie beim Auschwitz - Prozess zu. Auffällig ist allerdings, dass neben diesen „Opferzeugen“ eine große Zahl von „Täterzeugen“83 vor Gericht geladen worden waren, was Ulrike Meinhof zu der Feststellung brachte : „Die Chronistin [...] hat nie so viele ehemalige SS Leute auf einmal gesehen, wie im Zeugenstand des Karl - Wolff - Prozesses, die ihren C&A - Anzug auf kantigen Schultern tragen, immer noch die Hacken – jetzt lautlos – zusammenschlagen, statt Ja ‚Jawoll‘ sagen und sich dann, einer nach dem andern, beim Verlassen des Gerichtssaals, knapp, mit männlich verhaltenem Schneid vor dem Angeklagten verbeugen.“84 Neben einigen Angehörigen des Sonderkommandos 8, jener Einheit, die die Erschießung in Minsk durchgeführt hatte,85 kamen ehemalige Mitarbeiter 77 Irmtrud Wojak, „Die Mauer des Schweigens durchbrochen“. In : Irmtrud Wojak ( Hg.), „Gerichtstag halten über uns selbst ...“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz - Prozesses, Frankfurt a. M. 2001, S. 21–42, hier 26. 78 Vgl. Inge Marszolek, NS - Verbrechen im Radio : Axel Eggebrechts Berichte über den Bergen - Belsen - Prozess 1945 und den Auschwitz - Prozess 1963–1965. In : Frank Bösch / Constantin Goschler ( Hg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 2009, S. 77–104, hier 96. 79 Grabitz, NS - Prozesse, S. 77. Wie Helge Grabitz hervorhebt, haben die Zeugenschilderungen Reich - Ranickis durch die Bekanntheit des Literaturkritikers ein deutlich höheres Gewicht bekommen. 80 Süddeutsche Zeitung vom 26. 8. 1964 : „Ziel der Aussiedlung : Gaskammer“. 81 Süddeutsche Zeitung vom 19. 8. 1964 : „Der Leidensweg des Häftlings Levi“. 82 Süddeutsche Zeitung vom 1. 9. 1964 : „Mit der Straßenbahn zum Massengrab“. 83 Zu dieser Unterscheidung und den unterschiedlichen Funktionen dieser Zeugenaussagen für die Darstellung von Massenverbrechen an den Juden vgl. Just - Dahlmann / Just, Gehilfen, S. 25. 84 Meinhof, Mann, S. 16. 85 Süddeutsche Zeitung vom 28. 7. 1964 : „Es war eine Massenexekution übelster Art“.

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Wolffs aus dem Persönlichen Stab Reichsführer SS86 ebenso zu Wort wie der Leibwächter und der Kraftfahrer Himmlers, die jedoch beide kaum verwertbare Angaben machten und sich auf Erinnerungslücken beriefen.87 Einige Zeugen lieferten entlastende Aussagen für den Angeklagten. So stellte Gerhard Engel, ehemaliger Adjutant der Wehrmacht im Führerhauptquartier, Wolff ein denkbar gutes Zeugnis aus, indem er dessen Verdienste bei der Rettung von Juden her vorhob.88 Auch andere Zeugen stellten dies als besondere Leistungen des ehemaligen Chefadjutanten heraus,89 gab es doch tatsächlich mehrere Verfolgte des NS - Regimes, denen Wolff geholfen hatte.90 Dass dies aber mit den Anschuldigungen wegen Beteiligung am Völkermord nichts zu tun hatte, wurde aus dem Plädoyer der Anklagevertretung deutlich, die sie als „Ausfluss persönlicher Gefälligkeiten“ einschätzte und darüber hinaus konstatierte, dass „Privathilfe [...] nichts mit Gegnerschaft zu tun“ hat.91 Ein nicht unerheblicher Teil der Zeugen waren indes ehemalige hochrangige Funktionäre der SS wie Gottlob Berger und Erich von dem Bach - Zelewski, die selbst in hohem Maße an Verbrechen beteiligt waren. In den Aussagen dieser Zeugen entstand ein anderes Bild vom Dritten Reich und seinen Verbrechen, was der juristischen Aufarbeitung nicht entgegenkam. Ulrike Meinhof folgerte aus der Zeugenauswahl eine echte Herausforderung für das Gericht; es sei ihr nicht gerecht geworden, da es zu viel Zeit hätte aufwenden müssen für die „Richtigstellung historischer Tatsachen, weil das Überangebot an Zeugen, die früher der SS angehörten, zugleich ein Überangebot solcher Phraseologie in den Gerichtssaal trug“.92 Tatsächlich ließen einige dieser Zeugen kaum eine Möglichkeit aus, neben ihrer eigentlichen Aussage, die in den meisten Fällen auf eine Relativierung der eigenen Verstrickung hinauslief, den Prozess auch für die Darstellung des Dritten Reiches in ihrem Sinne zu nutzen. Dies zeigt in markanter Weise die Einvernahme des ehemaligen Marburger Hochschullehrers und SS - Arztes Wilhelm Pfannenstiel am zehnten Verhandlungstag, dem 30. Juli 1964. Pfannenstiel wur86 Süddeutsche Zeitung vom 7. 8. 1964 : „Zeuge brüstet sich : ‚Schwurgericht aufs Kreuz gelegt‘“. 87 Süddeutsche Zeitung vom 4. 8. 1964 : „Der Zeuge Lucas will nichts gesagt haben“. 88 Süddeutsche Zeitung vom 21. 7. 1964 : „Entlastungszeuge für den SS - General“. 89 Süddeutsche Zeitung vom 22. 7. 1964 : „‚Mit SS - General Wolff hat man reden können ...‘“. 90 Protokoll aufgenommen in öffentlicher Sitzung des Schwurgerichts bei dem Landgericht München II, 24. Verhandlungstag am 27. 8. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/12, Bl. 139). So sah es das Gericht als erwiesen an, dass Wolff Carlo Mierendorff und Theodor Haubach, beide prominente Sozialdemokraten, vor Verfolgung bewahrt hatte. An diesem Beispiel zeigt sich auch der private Charakter von Wolffs Hilfeleistung allzu deutlich. Mierendorff und Haubach waren beide nur etwa drei Jahre älter als Wolff und hatten genau wie er das Ludwig - Georgs - Gymnasium in Darmstadt besucht. Es handelte sich daher wohl eher um die Hilfe für zwei ehemalige Mitschüler. 91 Süddeutsche Zeitung vom 22. 9. 1964 : „Staatsanwälte fordern : lebenslänglich für Wolff“. 92 Meinhof, Leben, S. 910.

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de zur Durchführung der Ermordung im Vernichtungslager Belzec befragt, bei der er im August 1942 während eines Inspektionsbesuchs bei Odilo Globocnik, SS - und Polizeiführer im Distrikt Lublin und einer der Hauptverantwortlichen für die „Aktion Reinhard“, zugegen war. Seine eigene Rolle herunterspielend, behauptete er, die Ermordung der Juden in Belzec für ein „Privatunternehmen Globocniks“ gehalten zu haben. Den Gerstein - Bericht,93 aus dem Pfannenstiels Anwesenheit eindeutig hervorgeht, bezeichnete er als „Kolportagebericht“, der „ungeheure Übertreibungen“ enthalte.94 Für die Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ waren diese distanzierenden Äußerungen jedoch kaum von Belang, konzentrierte sich Wolfgang Wehner in seiner Darstellung doch auf das Publikum und seine Reaktion auf den Bericht des Zeugen, der „Erschütterung und Entsetzen“ hervorgebracht habe, was „einmal wegen der dabei enthüllten Grausamkeiten in den Vernichtungslagern [...] und zum anderen durch die kühle und distanzierte Haltung, die der Zeuge zu den Ereignissen einnahm“, entstand.95 Neben der – aus Sicht der als Zeugen geladenen Täter durchaus nachvollziehbaren – Darstellungsweise, sich selbst nicht mit Verbrechen in Verbindung zu bringen, gibt es allerdings auch Hinweise für die Etablierung einer bestimmten Narration, die den vermeintlich rein militärischen Arm der SS, die Waffen - SS, in ein günstigeres Licht tauchen sollte. Wie Oliver von Wrochem gezeigt hat, unternahmen die Spitzen der Wehrmacht in der Nachkriegszeit große Anstrengungen, sich und die Armee, der sie angehört hatten, von den Verbrechen des Nationalsozialismus zu distanzieren und sich auf Kosten anderer Elitenangehöriger insbesondere von NSDAP und SS zu exkulpieren.96 Auch in dieser Hinsicht ist die schon zitierte Aussage Gerhard Engels von Bedeutung, stellte er doch die Wehrmacht als gänzlich unbeteiligt an Verbrechen dar, die ausschließlich durch die SS verübt worden seien.97 Versuche dieser Exkulpation gab es aber auch innerhalb der als Interessenvertretung fungierenden „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen - SS“ ( HIAG), zu deren Standardrepertoire die Ablenkung von Kriegsverbrechen und deren Darstellung als Einzelfälle außerhalb der sonst üblichen Kameradschaft gehörte. Sie war dadurch gekennzeichnet, einige wenige Täter aus dem Kreis von SS, SD und den Einsatzgruppen zu identifizieren, um damit die scheinbar unbelastete 93 Den Gerstein - Bericht, eines der bekanntesten Zeugnisse zum Massenmord im Vernichtungslager Belzec, findet man bei Hans Rothfels, Augenzeugenberichte zu den Massenvergasungen. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1 (1953), S. 177–194. Zur umstrittenen Person Gersteins vgl. Saul Friedländer, Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten, München 2007. 94 Sitzungsniederschrift in der Hauptverhandlung des Schwurgerichts beim Landgericht München II in dem Strafverfahren gegen Karl Wolff wegen Mordes, 10. Verhandlungstag am 30. 7. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/15, Bl. 71). 95 Süddeutsche Zeitung vom 31. 7. 1964 : „So starben sie in den Gaskammern von Belzec“. 96 Oliver von Wrochem, Die Stunde der Memoiren : Militärische Eliten als Stichwortgeber. In : Bösch / Goschler ( Hg.), Public History, S. 105–129, hier 111. 97 Süddeutsche Zeitung vom 21. 7. 1964 : „Entlastungszeuge für den SS - General“.

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Masse der SS - Angehörigen zu schützen. Dies war, wie Thomas Kühne betont hat, „der Sinn des Mottos der HIAG : ‚Wo das Verbrechen anfängt, hört die Kameradschaft auf.‘ Als Verbrechen kamen nur die der anderen in Frage, die des SD, der allgemeinen SS, nicht die der eigenen Truppe.“98 Für eine solche Abgrenzung von der „SS Himmlers“ und der damit einhergehenden, die WaffenSS und ihre Angehörigen entlastende Darstellung kam auch Wolff, sich bekanntermaßen als „General der Waffen - SS“ bezeichnend, in Betracht. Mit Hans Jüttner,99 Richard Schulze - Kossens100 und Felix Steiner101 hatte die Münchner Staatsanwaltschaft gleich mehrere ehemals hochrangige Kommandeure der Waffen - SS – und wichtige Funktionäre der HIAG – als Zeugen geladen, die das Schwurgericht wissen ließen, dass Wolff entgegen seiner Selbstdarstellung niemals eine militärische Funktion innerhalb der Waffen - SS ausgeübt hatte.102 Ob diese Zeugen mit ihrer Darstellung Wolff bewusst schaden wollten, sei dahingestellt, jedoch ist ihr Versuch offensichtlich, Distanz zu Himmlers ehemaligem Chefadjutanten aufzubauen und somit im Sinne der als Interessenvertretung der Waffen - SS handelnden HIAG zu agieren. Der ehemalige Chef des SS - Hauptamtes Gottlob Berger behauptete, dass Himmler wegen der Judenverfolgung auch „heftiger Kritik von Seiten der Waf98 Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 244 f. 99 Süddeutsche Zeitung vom 12. 8. 1964 : „Dokumente über den Massenmord“. Hans Jüttner reklamierte alle Aufgaben, die Aufstellung, Ausbildung und Ausrüstung der WaffenSS - Verbände betrafen, für sich. Wolffs Beförderung zum General der Waffen - SS sei dem Umstand geschuldet gewesen, dass Himmler keinen Adjutanten haben wollte, der „nicht mindestens den Rang eines Generals“ innehatte. 100 Süddeutsche Zeitung vom 17. 8. 1964 : „Wolff war das Ohr Himmlers im Führerhauptquartier“. Richard Schulze - Kossens gab in seiner Aussage an, seit Oktober 1942 für die Belange der Waffen - SS im Führerhauptquartier verantwortlich gewesen zu sein. Zuvor war dies durch Offiziere des Heeres erledigt worden. Wolff habe niemals Weisungen Hitlers für die Waffen - SS erhalten oder weitergeleitet. 101 Süddeutsche Zeitung vom 17. 8. 1964 : „Wolff war das Ohr Himmlers im Führerhauptquartier“. Felix Steiner bezeichnete Wolff gar als zunächst kleinen, dann großen Adjutanten, der keine Führungsaufgaben gehabt habe. 102 Anführen kann man in dieser Reihe auch Paul Hausser und Sepp Dietrich, die zwar nicht im Rahmen des Prozesses, aber während der Ermittlungen befragt worden waren. Dabei gab Hausser an : „Wolff war zwar Teilnehmer des 1. Weltkriegs, seine Beförderungen in der SS bis zum Kriege waren aber Dienstgrade der allgemeinen SS. Im Kriege wurde er dann in der Liste der Waffen - SS geführt. Der Truppe war er unbekannt. Sie konnten ihn auch nicht als militärischen Führer einschätzen.“ Vernehmung von Paul Hausser durch die Staatsanwaltschaft München II am 17. 7. 1962 ( ZStL, B 162/5032, Bl. 582–583). Ähnliches ließ auch Sepp Dietrich bei seiner Vernehmung verlauten, wobei er sogar angab, zu Wolff kein Vertrauen gehabt zu haben, was er mit dessen Dienststellung bei Himmler und dessen „undurchsichtigem Charakter“ begründete. Vernehmung von Sepp Dietrich durch die Staatsanwaltschaft München II am 17. 7. 1962 (ZStL, B 162/5032, Bl. 579–581, hier 579 f.). Paul Hausser hatte bei der Gründung der HIAG eine wichtige Rolle und war ihr langjähriger Vorsitzender. Vgl. Georg Meyer, Soldaten wie andere auch ? Zur Einstellung ehemaliger Angehöriger der Waffen - SS in die Bundeswehr. In : Harald Dickerhof ( Hg.), Festgabe Heinz Hürten zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1988, S. 545–594, hier 554.

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fen - SS“ ausgesetzt gewesen sei. Wolffs Version stützend, dass die Vernichtung der europäischen Juden das Werk einer sehr kleinen Gruppe gewesen sei, sprach Berger zudem von einer strenggeheimen Liste Himmlers, auf der die Namen von 89 Beteiligten an der Judenvernichtung vermerkt gewesen seien. Er könne jedoch nicht sagen, ob der Name Wolffs sich auf dieser Liste befunden habe. „Berger brach bei dieser Gelegenheit eine Lanze für die Fronttruppen der SS, indem er angab, von den über 800 000 Mann der Waffen - SS hätten nur sechs Prozent dem Reichssicherheitshauptamt, zu dem Gestapo und SD zählten, sowie dem KZ - Lager - Personal angehört.“103 Ins gleiche Horn stieß auch der schon genannte Felix Steiner mit seiner Einschätzung, dass „die Soldaten der Waffen - SS mit den polizeilichen Aufgaben ihrer Kameraden nichts zu tun“ haben wollten. Himmler habe darüber hinaus geplant, „die Waffen - SS abzugeben und nur die Polizei zu behalten“.104 Eine Ausnahme stellte hier die Vernehmung Erich von dem Bach - Zelewskis dar, der die SS als „die treibende Kraft bei der Vernichtung der Juden“ bezeichnete und alle Behauptungen zurückwies, die höheren SS - Führer hätten von der Ermordung der Juden nichts gewusst. Er kam Wolff jedoch insofern entgegen, dass er einschränkte, mit ihm niemals über diese Dinge gesprochen zu haben, worauf Wolff „freudig Zustimmung“ bekundet habe. Glaubwürdiger machte dies Wolff und Bach - Zelewski für die Berichterstattung allerdings nicht. Wolfgang Wehner betonte in diesem Zusammenhang, dass dies „mehr als seltsam klingt“, zumal beide Männer gut befreundet seien und Wolff sogar der Pate eines von Bach - Zelewkis Söhnen sei.105 Für die Sichtweise, dass ehemalige Angehörige der Waffen - SS im Windschatten des Prozesses eine Abgrenzung von der Allgemeinen SS vornehmen und den Prozess bzw. die dadurch entstandene Öffentlichkeit als Podium nutzen wollten, lassen sich noch weitere Belege finden. Schon im Vorfeld der Verhandlung waren bei der Staatsanwaltschaft München entsprechende Schriftstücke eingegangen. So erreichte die Anklagebehörde im Februar 1962, fast unmittelbar nach Wolffs Verhaftung, ein anonymes Schreiben und eine gedruckte Broschüre, die, so ihr Titel, „Gerechtigkeit für die Waffen - SS“ forderte. Sie sei „wichtig in dem Ermittlungsverfahren gegen den Höchsten SS - und Polizeiführer Wolf[ sic !] ( nicht General der Waffen - SS ! !)“. Im Interesse einer „klaren Trennung“ der Waffen - SS von der „Allgemeinen - SS und den Einheiten des berüchtigten Herrn Himmler“ bemühte der unbekannte Verfasser hingegen ähnliche Topoi wie Wolff, wenn er angab, sie seien an der Front „um [ ihren ] Idealismus für Deutschland betrogen und zusammengeschossen worden“.106 Ein ähnliches 103 Süddeutsche Zeitung vom 11. 8. 1964 : „Wolff war der treue Diener seines Herrn“. 104 Süddeutsche Zeitung vom 17. 8. 1964 : „Wolff war das Ohr Himmlers im Führerhauptquartier“. 105 Süddeutsche Zeitung vom 25./26. 7. 1964 : „Über Massenmorde wurde nicht gesprochen ...“. 106 Anonyme Zuschrift an Staatsanwaltschaft München II, undatiert, eingegangen am 27. 2. 1962 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/97, o. Bl.).

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Interesse verfolgte ein ehemals kommandierender Offizier der SS - Division „Leibstandarte Adolf Hitler“, indem er mit Joachim Peiper und Werner Grothmann auf zwei potentielle Zeugen verwies, die für „die Ziehung eines klaren Trennstriches zwischen den Soldaten der Waffen - SS einerseits und den SS Organisationen andererseits [...] von außerordentlicher Wichtigkeit“ seien, „zumal beide im Stab von Wolff seit 1940 zeitweise tätig waren“.107 Wie wenig zuverlässig diese „Täterzeugen“ jedoch in der Berichterstattung dargestellt wurden, zeigt insbesondere das Beispiel der Vernehmung Wilhelm Koppes, ehemals Höherer SS - und Polizeiführer im Warthegau. Koppe, nach eigenen Angaben ebenso wie Wolff ohne jede Ahnung von der Judenverfolgung, sei davon ausgegangen, dass „in der Gegend von Lublin ein riesiges Rüstungszentrum mit vorwiegend jüdischen Arbeitskräften aufgebaut werden sollte“.108 Wie später das Gericht feststellte, brüstete er sich nach seiner Aussage im Erfrischungsraum des Justizpalastes gegenüber einem anderen Zeugen damit, „er, Koppe, habe das Gericht aufs Kreuz gelegt; man würde aus ihm nichts herausbekommen“.109 Der Berichterstattung lieferte Koppe damit eine Schlagzeile,110 zu der er auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft sogar schriftlich Stellung nehmen musste.111 Wolfgang Wehner bemerkte im Hinblick auf Zeugen wie ihn fast schon süffisant : „Je weiter der Prozess gegen Wolff fortschreitet, desto mehr müsste man nach den Aussagen höchster SS - Führer den Eindruck gewinnen, dass diese eifrig bemüht waren, die Vernichtung der Juden zu verhindern.“112 Dass diese Darstellungsversuche am Ende wenig Erfolg hatten und die Zeugen von der SS in der Presseberichterstattung kaum besser beurteilt wurden als der Angeklagte des Verfahrens, liegt wohl nicht zuletzt auch daran, dass diejenigen, die sich gegen die „angebliche ‚Entrechtung‘ und ‚Diffamierung‘ des deutschen Soldaten“ stellten, seit Ende der 50er Jahre fast ausschließlich rechtsradikalen Kreisen angehörten.113 Die HIAG hatte sich durch Galionsfiguren wie den als Kriegsverbrecher verurteilten Sepp Dietrich, der in der Organisation hohes Ansehen genoss, in den 60er Jahren mehr und mehr ins gesellschaftliche Abseits begeben.114 Insgesamt, so das Resümee von Bert - Oliver Manig, scheiterte der Versuch einer Gleichstellung von Wehrmacht und Waffen - SS an dem „Anspruch auf öffentliche Respektabilität“.115 Diesem Anspruch dürften die im Prozess 107 R. L. an Staatsanwaltschaft München II vom 11. 12. 1963 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/94, o. Bl.). 108 Süddeutsche Zeitung vom 5. 8. 1964 : „Wichtige Frage : War Wolff in Auschwitz ?“. 109 Protokoll aufgenommen in öffentlicher Sitzung des Schwurgerichts bei dem Landgericht München II, 13. Verhandlungstag am 6. 8. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/12, Bl. 56–57). 110 Süddeutsche Zeitung vom 7. 8. 1964 : „Zeuge brüstet sich : ‚Schwurgericht aufs Kreuz gelegt‘“. 111 Wilhelm Koppe an Landgericht München II vom 10. 8. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/13, Bl. 30). 112 Süddeutsche Zeitung vom 5. 8. 1964 : „Wichtige Frage : War Wolff in Auschwitz ?“. 113 Manig, Politik, S. 584. 114 Vgl. Kühne, Kameradschaft, S. 263. 115 Manig, Politik, S. 554.

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gegen Wolff gehörten Zeugen wie Felix Steiner, Gottlob Berger und andere ebenfalls nicht genügt haben. Zu sehr waren sie dafür in der Öffentlichkeit mit der „verbrecherischen Organisation“ SS verbunden, die im Ganzen das „Stigma des Nürnberger Urteils“116 trug.

4.

Das Urteil

Am 30. September 1964 wurde Karl Wolff durch das Landgericht München II verurteilt. Für die Berichterstattung war der Tag der Urteilsverkündung ohnehin ein Anlass mit Nachrichtenwert, der nur noch dadurch gesteigert wurde, dass aufgrund anonymer Drohungen Polizeikräfte zur Bewachung des Gerichtssaals aufgeboten worden waren.117 Der Journalist Walter Menningen vom Norddeutschen Rundfunk bewertete diese Sicherheitsmaßnahmen als Zeichen von Nervosität und „bis zu einem gewissen Grade auch [...] Unsicherheit darüber, wie die Öffentlichkeit auf das Urteil reagieren wird“. Er sah dies als „Anzeichen dafür, wie wenig wir noch mit unserer jüngeren Vergangenheit im Reinen sind“.118 Die anonyme Drohung sollte sich nach dem Prozess als gegenstandslos erweisen und der Urteilsspruch konnte ohne Zwischenfälle verkündet werden; die Staatsanwaltschaft München dankte der Polizei im Nachhinein sogar ausdrücklich für ihren Anteil an dem störungsfreien Ablauf der Verhandlung.119 In der Berichterstattung nahmen die Urteilsbegründung und die Festlegung des Strafmaßes einen hohen Stellenwert ein. Sowohl die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ als auch die „Süddeutsche Zeitung“ gaben die Ausführungen des Gerichts über lange Passagen annähernd wörtlich wieder. „Wenn auch manches, wie Wolffs hervorragende Dienststellung, sein hoher Rang, das Vertrauen, dass er in der obersten Führungsspitze genoss, und seine Identifizierung mit dem Regime und dessen Zielen für eine Mittäterschaft sprechen, so gäbe es doch gewichtige objektive und subjektive Umstände dafür, dass der Angeklagte nur als Gehilfe anzusehen sei.“120 Dass die Verurteilung Wolffs und die Verhängung der Freiheitsstrafe auch ein Thema für die ausländische Berichterstattung war, lässt sich beispielhaft an einem Artikel in der Londoner „Times“ ersehen, die einen eigenen Korrespondenten nach München geschickt hatte. Das Blatt bemühte sich, seinen Lesern Umstände und Bedeutung des Schuldspruchs zu erläutern. „The court last week ordered the original charge against Wolff as ‚coprincipal‘ in the crimes, which would have meant a life sentence if he had been 116 Kühne, Kameradschaft, S. 262. 117 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 10. 1964 : „Auge und Ohr Himmlers“. 118 Kommentar von Walter Menningen zum Urteil im Wolff - Prozess im Norddeutschen Rundfunk vom 30. 9. 1964 ( Bundesarchiv Koblenz [ im Folgenden zitiert als : BArch ], B 141/17093, o. Bl.). 119 Oberstaatsanwalt beim Landgericht München II Karl Weiß an Polizeipräsidium München vom 8. 10. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/24, Bl. 200.). 120 Süddeutsche Zeitung vom 1. 10. 1964 : „15 Jahre Zuchthaus für Wolff“.

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found Guilty, should be altered to ‚accomplice‘. Today’s sentence was the maximum under this charge.“121 Das Schwurgericht erkannte Wolff zudem Strafmilderungsgründe zu. Neben seinen „unbezweifelbaren Verdiensten um die frühzeitige Kapitulation in Italien“ und seiner Hilfe für Verfolgte des Regimes attestierte ihm das Gericht, „‚ansonsten ein einwandfreies Leben‘ geführt“ zu haben.122 Dies provozierte besonders den Widerspruch Ulrike Meinhofs und veranlasste sie zu der Frage, in wie viele kriminelle Machenschaften ein Mensch verwickelt sein müsse, damit ihm „kein ‚einwandfreies‘ Leben“ bescheinigt werde.123 Die Strafmilderung zeigt, dass Wolff mit seiner Selbststilisierung einen kleinen Erfolg hatte verbuchen können, wenn sie sich im Großen und Ganzen auch deutlich gegen ihn gewandt hatte. Allen vermeintlichen Verdiensten zum Trotz konnte Wolff den Eindruck nicht vermeiden, mit vollem Einsatz und an maßgeblicher Stelle in der SS gestanden zu haben : „Überzeugt davon, dass er seiner ganzen Veranlagung nach zum Führer anderer geeignet sei, bemühte sich Wolff von Anfang an mit Erfolg darum, SS - Führer zu werden.“124 Ebenso stellte das Gericht noch einmal klar, dass Wolffs Erklärungen, nichts von der Ermordung der Juden gewusst zu haben, nichts als Schutzbehauptungen seien, da „Himmler [...] seinen Adjutanten mit allen ‚Spielarten nationalsozialistischer Unmenschlichkeiten‘ vertraut gemacht“ habe.125 Auch hier hatte Wolffs Selbstdarstellung nicht die damit gehegten Hoffnungen erfüllt. Den angestrebten Freispruch hatten Wolff und sein Verteidiger nicht erreichen können. Dementsprechend spielte der Angeklagte selbst in der Berichterstattung geradezu eine Nebenrolle. „Wolff hatte Urteilsspruch und - begründung äußerlich unbewegt mit angehört. Sein Verteidiger, Dr. Rudolf Aschenauer, erklärte, ‚das ist ein Überzeugungsurteil. Die Indizien reichen nicht aus. Ich will es dem Gericht nicht so leicht machen. Aus einer Reihe von Gründen lege ich Revision ein‘.“126 Angesichts von Wolffs Beteiligung an der Ermordung von mindestens 300 000 Menschen wurde in der Berichterstattung auch die Frage diskutiert, ob und wie dies mit juristischen Mitteln überhaupt gesühnt werden könne. Walter Menningen etwa bezog sich auf das Plädoyer Rudolf Aschenauers, der diese Überlegung als Entlastungsargument für Wolff angeführt hatte, um den erhofften Freispruch zu begründen. Menningen stellte fest : Dass das „zur Verteidigung Wolffs gedacht [ war ], aber im Grunde war dies das Eingeständnis, dass unser Strafrecht nicht ausreicht, die Schuld jener zu sühnen, die an den unge-

121 122 123 124 125 126

The Times vom 1. 10. 1964 : „15- Year Sentence on S. S. General“. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 10. 1964 : „Auge und Ohr Himmlers“. Meinhof, Leben, S. 908. Süddeutsche Zeitung vom 1. 10. 1964 : „15 Jahre Zuchthaus für Wolff“. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 10. 1964 : „Auge und Ohr Himmlers“. Süddeutsche Zeitung vom 1. 10. 1964 : „15 Jahre Zuchthaus für Wolff“. Die Entgegnung Rudolf Aschenauers findet sich auch fast wörtlich in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 10. 1964 : „Auge und Ohr Himmlers“.

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heuerlichen Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren, ohne sich nach außen hin direkt als Täter exponieren zu müssen“.127 Der Journalist Walther von La Roche vom Bayerischen Rundfunk verteidigte in seinem Kommentar zum Urteilsspruch die Praxis der Rechtsprechung und führte aus, dass die Einigung auf „eine Art Preisliste [...] für die verschiedenen Täter und Tätertypen, mit denen NS - Prozesse zu tun haben,“ zu einer „schematischen Gleichförmigkeit der Urteile“ führen und dies nur neue Bedenken anstelle der bisherigen her vorrufen würde. Er kam zu dem Schluss, dass – „solange Menschen verurteilt werden von Menschen und nicht von elektronischen Rechenhirnen“ – es auch Urteile geben werde, „die überraschen und zum nachdenken anregen, wie z. B. das heute verkündete“.128 Auch Walter Menningen verteidigte die Rechtsprechung und ihre Praxis, räumte aber ein, dass juristische Unterscheidungen bezüglich der Mitwirkung an Verbrechen „angesichts der entsetzlichen Taten, die auch vor dem Münchner Schwurgericht wieder zur Sprache kamen“, nicht immer verständlich seien. Es melde sich vielmehr „Unbehagen, politisches und moralisches Unbehagen, denn juristisch ist die Sache korrekt“.129 Die Urteilsverkündung muss jedoch vor dem Hintergrund der heftigen Diskussionen über die Verjährungsfrist für Mord seit 1964 betrachtet werden.130 Die Bundesregierung stand der Verlängerung der Verjährung zunächst ablehnend gegenüber. Experten wie der Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, Erwin Schüle, hatten sich wiederholt öffentlich gegen eine Verlängerung ausgesprochen, da die Verjährung aller größeren Verbrechenskomplexe unterbrochen und nicht damit zu rechnen sei, dass neue Straftaten bekannt würden.131 Ein allmählicher Prozess des Umdenkens in der Frage der Verjährung bahnte sich im Spätsommer 1964 – also zum Zeitpunkt des Verfahrens gegen Wolff – auf Initiative einiger SPD - Bundestagsabgeordneter an.132 Schließlich entwickelte sich zum Jahreswechsel 1964/65 breiter gesellschaftlicher Protest, der sich in journalistischen Diskussionen niederschlug.133 Im März 1965 debattierte schließlich der Bundestag vor den Augen der Weltöffentlichkeit über die Frage der Verjährung nationalsozialistischer Mordverbrechen. Dass die Verjährungsdebatte deutlichen Einfluss auf die Wahrnehmung des Prozesses hatte, spiegelt sich wiederum in verschiedenen Schreiben an die 127 Kommentar von Walter Menningen zum Urteil im Wolff - Prozess in der Deutschen Welle vom 1. 10. 1964 ( BArch, B 141/17093, o. Bl.). 128 Kommentar von Walther von La Roche zum Urteil im Wolff - Prozess im Bayerischen Rundfunk vom 30. 9. 1964 ( BArch, B 141/17093, o. Bl.). 129 Kommentar von Walter Menningen zum Urteil im Wolff - Prozess im Norddeutschen Rundfunk vom 30. 9. 1964 ( BArch, B 141/17093, o. Bl.). 130 Vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 71. Weinke betont zudem, dass sich die Verjährungsdebatte binnen eines Jahres von einem „scheinbaren juristischen Spezialproblem zu einem Politikum von internationaler Bedeutung“ entwickelte. 131 Vgl. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS - Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 187. 132 Vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 76. 133 Ebd., S. 78.

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Münchner Staatsanwaltschaft wider, wobei hier die Positionen denkbar weit auseinanderdrifteten. Aus Mönchengladbach erreichte die Anklagevertretung etwa eine Zuschrift, deren Verfasser kritisierte, dass zu viele ehemalige Nationalsozialisten noch im Amt seien. Im Hinblick auf die Verjährungsdebatte und zur Stärkung der Demokratie forderte er schärfere Verfahren bei der Ahndung von NSVerbrechen.134 Diese Ansicht stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung, wie die Stellungnahme eines Ver waltungsjuristen aus Hannover zeigte. Er verlangte, dass endlich Schluss sein müsse „mit allen diesen Verfahren gegen zwar nicht Unschuldige, die nur durch die Zeit zu ihrem Handeln gekommen sind, die sie zum allergrößten Teil niemals als Verbrechen angesehen haben, sondern als ihre Pflicht“. Er führte weiter aus, dass den Juden „übel mitgespielt“ worden sei, aber „kein Hahn [...] danach gekräht“ habe und so das ganze deutsche Volk mitschuldig geworden sei. Sein Plädoyer für einen „Schlussstrich“ schloss er mit der Hoffnung, dass man mit Hilfe der Presse „das Parlament aus seiner Lethargie“ erwecken und zwingen könne, „diesem Wüten – man kann es nicht anders nennen – Einhalt zu gebieten“.135 Neben der politisch motivierten Forderung nach einem Ende der Strafverfolgung wurden in der Berichterstattung auch juristisch - rechtsstaatliche Gründe gegen eine Fristverlängerung geäußert. Walter Menningen sprach sich in seinem Kommentar zum Wolff - Prozess gegen die Verlängerung aus, befürchtete er doch, dass bei mehr als 20 Jahren zurückliegenden Straftaten, „allgemeine Zweifel an den Feststellungen und Ermittlungen der Gerichte auftauchen“ könnten, was wiederum den juristischen und den politischen Zweck der Prozesse gegen NS - Verbrecher ins Gegenteil verkehren würde. Die kommende Debatte vorwegnehmend, schloss Menningen seinen Kommentar mit der Feststellung, dass „es sich um ein ernstes Problem“ handle, „das verschiedene Seiten hat, das darum also gründlich überlegt sein will“.136 Die Öffentlichkeit, die der Prozess gegen Wolff bot, nutzte schließlich ein prominenter und exponierter Kämpfer gegen die Verjährung zu einer Wortmeldung. Der ehemalige Ankläger im Nürnberger Prozess Robert Kempner war im Sommer 1964 auf Vortragsreisen in Deutschland und Österreich unterwegs und warnte mehrmals davor, dass von einer Verjährung etwa 10 000 noch nicht angeklagte Täter profitieren könnten.137 Die Verurteilung Wolffs aufgreifend, sprach sich Kempner am gleichen Tag für eine Verlängerung der Verjährungs-

134 H. P. an Schwurgericht München vom 30. 7. 1964 ( StAM, Staatsanwaltschaften 34865/96, o. Bl.). 135 H. S. an Staatsanwaltschaft München II vom 17. 9. 1964 ( ebd. ). Nach eigenen Angaben war der Verfasser dieser Zuschrift 1903/04 Rechtsreferendar, daher dürfte er 1964 weit über 80 Jahre alt gewesen sein. Seit 1908 bei der Eisenbahnverwaltung tätig, war er 1933 Mitglied des Stahlhelms und „trat zwangsläufig später der Partei bei“. 136 Kommentar von Walter Menningen zum Urteil im Wolff - Prozess in der Deutschen Welle vom 1. 10. 1964 ( BArch, B 141/17093, o. Bl.). 137 Vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 78.

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frist bei Mord um zehn Jahre aus.138 Wie sehr Kempner damit auch das Rechtsempfinden eines Teils der Öffentlichkeit traf, die diese Debatte nicht bloß als juristisches Problem auffasste, sondern ihr vielmehr eine wichtige politische Bedeutung zumaß, zeigt die Demonstration einiger junger Leute. Sie nahmen den Tag der Urteilsverkündung zum Anlass, um vor dem Münchner Justizpalast mit Plakaten gegen die Verjährung von NS - Verbrechen zu demonstrieren.139 Der Prozess gegen Wolff hatte also beachtliche Aufmerksamkeit erregt und diente auch als Bühne für ein solches öffentliches Bekenntnis gegen ein Ende der Strafverfolgung.

5.

Zusammenfassung

Fasst man die Ergebnisse zusammen, ergibt sich folgendes Bild : Der Prozess gegen die „prominenteste Persönlichkeit aus der Führungsschicht des Dritten Reiches“140 war für die Berichterstattung ein willkommener Anlass, zu dem der Angeklagte mit seiner Selbststilisierung einen deutlichen Beitrag leistete. Wolff, sich noch immer als Angehöriger einer Elite – in seinen Worten : „Garde“ – betrachtend, leugnete konsequent jegliche Beteiligung oder auch nur Kenntnis vom nationalsozialistischen Völkermord an den Juden. Selbst am Ende der Verhandlung als längst durch zahlreiche Dokumente seine Beteiligung mehr als bewiesen war, zeigte er kein Anzeichen einer Umkehr. Vielmehr zeigte sein pathetisches Schlusswort das Gegenteil : „Ziel meines ganzen Lebens war, dem Vaterland zu dienen.“141 Mit dieser Haltung erntete Wolff spöttische Kommentare, wie den von Gerhard Mauz, dass „die Bewältigung der Vergangenheit [...] einen Possen - Star gewonnen“ habe,142 oder provozierte wütende Äußerungen, wie die Ulrike Meinhofs, die ihn einen „Blender und Salonlöwen“143 nannte, der versuche, sich als „Mann mit guten Manieren“ zu präsentieren. Das Bild des unglaubwürdigen Angeklagten dominierte demnach auch die Berichterstattung. Mit seiner Selbstdarstellung bot Wolff sowohl den Medien als auch deren Rezipienten eine Möglichkeit zur Distanzierung. Wie die historische Forschung herausgearbeitet hat, erfüllten Täterbilder und deren Weiterverbreitung immer auch diese Funktion. Mit Wolff stand ein Angeklagter vor Gericht, der nicht nur

138 Kommentar von Walter Menningen zum Urteil im Wolff - Prozess in der Deutschen Welle vom 1. 10. 1964 ( BArch, B 141/17093, o. Bl.). 139 Süddeutsche Zeitung vom 1. 10. 1964 : „15 Jahre Zuchthaus für Wolff“. Wie sehr die „Süddeutsche Zeitung“ diesen Protest betonte, kann man auch daran sehen, dass sie neben einer Aufnahme von Wolff, wie er nach der Urteilsverkündung abgeführt wurde, auch ein Foto der Demonstranten abdruckte. 140 Süddeutsche Zeitung vom 14. 7. 1964 : „Die Anklage lautet : Massenmord“. 141 Süddeutsche Zeitung vom 23. 9. 1964 : „Wolff - Verteidiger : keine Schuld nachzuweisen“. 142 Mauz, Wölffchen. 143 Meinhof, Mann, S. 16.

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eine besonders hohe Position im Dritten Reich innegehabt, sondern sich auch durch eine besondere Nähe zum Reichsführer SS ausgezeichnet hatte. Beides konnte der über wiegenden Mehrheit der Gesellschaft erleichtern, sich von Schreibtischtätern wie ihm abzusetzen. Eine Möglichkeit, die Öffentlichkeit des Prozesses gegen Himmlers Adjutanten zur Distanzierung zu nutzen, bot sich aber noch einer weiteren Gruppe, deren Korpsgeist klare Grenzen hatte. Für zahlreiche ehemals hohe Offiziere der Waffen - SS, jetzt wichtige Funktionäre der HIAG, war Wolff keiner von ihnen. Diese Abgrenzung von der „Allgemeinen SS“, der Truppe Himmlers, der die Waffen - SS als rein militärischer Kampfverband gegenübergestanden habe, gehörte in Stellungnahmen der HIAG zu den häufig bemühten Entlastungsstrategien. Wolffs Version, im Führerhauptquartier für die Waffen - SS zuständig gewesen zu sein, auf die er sich maßgeblich berief, wurde von diesen Zeugen zunächst „erheblich erschüttert“, um dann „praktisch widerlegt“ zu werden.144 Dabei ging es wohl nicht darum, Wolff explizit zu schaden; der Prozess bot vielmehr eine günstige Gelegenheit zur Weiterverbreitung der eigenen Narration. Auch hier war es wiederum die Nähe Wolffs zu Himmler, die diese Möglichkeit eröffnete. Dass diese Zeugen ebenso wie der Angeklagte wenig glaubwürdig erschienen und in der Berichterstattung auch so dargestellt wurden, hängt mit der Wahrnehmung der Waffen - SS zusammen, deren Selbstbild einer reinen Kampftruppe an dem „Anspruch auf öffentliche Respektabilität“ ( Bert - Oliver Manig ) scheiterte. So waren diese SS - Führer zwar nicht in diesem Verfahren angeklagt, aber für die Öffentlichkeit gehörten auch sie zu den Schuldigen, von denen man sich distanzieren konnte. Die Verurteilung Wolffs am 30. September 1964 und die folgende Diskussion standen ganz im Zeichen der Verjährungsdebatte. Nicht wenige Stellungnahmen zu dem Urteil nahmen direkten Bezug darauf, um sich für oder gegen ein Ende der Strafverfolgung auszusprechen. Die dabei vorgetragenen Argumente zeugten teilweise von einer eher schlichten „Schlussstrichmentalität“, andere betonten rechtsstaatliche Prinzipien, die es zu wahren gelte, und lehnten daher eine Verlängerung ab; es gab aber auch Stimmen, die die Justiz zu einem schärferen Vorgehen aufforderten, um die Täter nicht straf los davonkommen zu lassen. Dass sich ein zunehmend breiter werdender Widerstand gegen den Eintritt der Verjährung formierte, zeigte auf lokaler Ebene der Protest, der sich am Tag der Urteilsverkündung sichtbar vor dem Münchner Justizpalast erhob. Innerhalb weniger Monate sollte sich eine heftig geführte öffentliche Kontroverse entwickeln, die schließlich dafür sorgte, dass die Verjährungsdebatte zu einer hochpolitischen Angelegenheit wurde und der Bundestag die Verschiebung der Verjährungsfrist für Mord beschloss.145 Neben dem noch laufenden AuschwitzProzess beeinflussten auch Verfahren wie jenes gegen den Himmler - Adjutanten Karl Wolff zweifelsohne die öffentliche Meinung. 144 Süddeutsche Zeitung vom 17. 8. 1964 : „Wolff war das Ohr Himmlers im Führerhauptquartier“. 145 Siehe auch den Beitrag von Clemens Vollnhals in diesem Band.

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Der 1. Frankfurter Auschwitz - Prozess 1963–1965 und die deutsche Öffentlichkeit. Anmerkungen zur Entmythologisierung eines NSG - Verfahrens Werner Renz

Zum 100. Geburtstag Fritz Bauers meldeten sich Verehrer und Kritiker zu Wort. Der Journalist und Jurist Heribert Prantl meinte in der „Süddeutschen Zeitung“ ehrerbietig, Bauer habe den Gerichtssaal „zum Klassenzimmer der Nation“1 gemacht; der Jurist und Rechtsphilosoph Gerd Roellecke hielt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ dem hessischen Generalstaatsanwalt vor, „Volksaufklärung durch Strafrechtstheater“2 betrieben zu haben. Inwiefern beide Autoren Bauers Intentionen angemessen darstellen, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. Befasst man sich in kritischer Absicht mit dem Frankfurter Auschwitz - Prozess (1963–1965) und seiner Historiografie, dann hat man es auch mit Mythen zu tun, die den sachlichen und nüchternen Blick auf das Verfahren verstellen. Zwei Mythen sind hierbei hervorzuheben. Da ist zum einen der Mythos Fritz Bauer, die verklärende und überhöhende Darstellung der Rolle des hessischen Generalstaatsanwalts hinsichtlich der Konzeption und der Architektur des AuschwitzVerfahrens. Und da ist zum anderen der Mythos der volkspädagogischen Aufklärung durch NS - Prozesse. Fritz Bauer (1903–1968) kommt das überragende Verdienst zu, in den Jahren 1956 bis 1968 im Bundesland Hessen die Bedingungen dafür geschaffen zu haben, dass durch seine eigene, am Oberlandesgericht ( OLG ) Frankfurt am Main angesiedelte Behörde und durch die ihm unterstellten Staatsanwaltschaften der insgesamt neun Landgerichte eine Vielzahl von NSG - Verfahren eingeleitet und zum Teil erfolgreich durchgeführt werden konnten. Der Stellenwert der „altpolitischen“ Fälle in Bauers Generalstaatsanwaltschaft und die Rolle des obersten Anklägers in seinem Dienstverhältnis zu den ihm nachgeordneten Strafverfolgungsbehörden werden aber häufig verkannt. Aus Unkenntnis der Aufgabenverteilung in Bauers Behörde, der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungstätigkeit, der Besonderheiten der Beweiserhebung in 1 2

Süddeutsche Zeitung vom 16. 7. 2003 : „Der Gerichtssaal als Klassenzimmer der Nation“ von Heribert Prantl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 7. 2003 : „Aber wehe, wenn ihr euch diesmal nicht bessert !“ von Gerd Roellecke.

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NSG - Verfahren und der Unabhängigkeit eines Schwurgerichts ist zudem oft von konzeptioneller Planung und Vorbereitung des Auschwitz - Prozesses die Rede, wo es schlicht um die Durchführung eines Strafverfahrens nach Recht und Gesetz geht. In seinem in der Emigration verfassten Werk „Die Kriegsverbrecher vor Gericht“, dessen schwedische Originalausgabe bereits 1944 erschienen war und das ein Jahr später in deutscher Übersetzung publiziert wurde, hat Bauer seine Auffassungen hinsichtlich der im Buch unterschiedslos „Kriegsverbrecher“ genannten NS- Täter dargelegt. Bauer ging es bei der Ahndung der NS - Verbrechen weder um den Strafzweck der Vergeltung noch um den der Sühne. Ganz der Schüler Gustav Radbruchs lehnte er retrospektives Recht der Repression ab. Bauer hatte eine strikt instrumentalistische Sicht auf die Prozesse. In den Verfahren gegen „Kriegsverbrecher“ spiele der einzelne Angeklagte – so Bauer nicht ohne Rigorosität – „nur die Rolle eines Mittels zum Zweck“. Der vor Gericht stehende Verbrecher diene „einem höheren Ziel“.3 In NS - Prozessen ging es Bauer nicht um die Täter, sondern „um das Verbrechen als solches und die Aufrechterhaltung der Normen, die die Gemeinschaft zum Schutz ihrer Existenz und Entwicklung aufgestellt hat. Die Wirklichkeit dieser Normen, das geltende Recht, muss unterstrichen werden.“4 Größten Wert legte der Emigrant Bauer auf die öffentliche Wahrnehmung der bevorstehenden Prozesse. Von ihrer Wirkung insbesondere auf die Deutschen versprach er sich viel. Ganz die Zweckstrafe im Blick, führte er aus : Die Strafe in den Verfahren gegen NS - Verbrecher sei „ein Mittel, die Rechtsauffassung des Volkes zu klären und zu vertiefen“.5 Sie solle „in Form des Strafgesetzes, des Strafprozesses mit den damit zusammenhängenden Folgen wie öffentliche Verhandlung, Referate in der Presse usw. und dem Vollzug der Strafe auf die allgemeine Vorstellungswelt einwirken“.6 Dem Patrioten Bauer – als Jude und Sozialdemokrat verfolgt und zur Flucht gezwungen, in Dänemark nur knapp den Exekutoren der Shoah entkommen – ging es im Exil um das gefallene deutsche Volk, das nach seiner Ansicht von einer unbedingt zu heilenden Krankheit infiziert war.7 Ersichtlich zog Bauer zu diesem Zeitpunkt seines Wirkens spezialpräventive Maßnahmen für NS - Verbrecher kaum in Erwägung. Weder ging es ihm um die 3 4 5 6 7

Fritz Bauer, Die Kriegsverbrecher vor Gericht. Mit einem Nachwort von H. F. Pfenninger, Zürich 1945, S. 205. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 210. In seiner Auseinandersetzung mit Vertretern des Schuldstrafrechts schrieb Bauer in einem Leserbrief auf Paul Bockelmanns Artikel „Straf losigkeit für nicht mehr gefährliche Schwerverbrecher ?“ ( Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 1. 1964) von der „autoritär - totalitären Infektion“, vom „Bazillus der Menschenverachtung“ bei den Deutschen ( Fritz Bauer, Professor Bockelmann und die Strafrechtsreform. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 1. 1964).

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Besserung der Delinquenten, noch um vorbeugende Abschreckung der schuldig gewordenen Rechtsbrecher vor künftigen Taten. Auch negative Generalprävention, den abschreckenden und vorbeugenden Effekt von Strafe auf die Gesamtgesellschaft, hatte er nicht im Sinn. Der Exilant Bauer erhoffte sich von Strafprozessen einen sozialpädagogischen Beitrag zur Wandlung der Deutschen in demokratiefähige Menschen. Akzeptanz der rechtsstaatlichen Ordnung, Normanerkennung, Achtung der Menschenrechte galt es, den am Nationalsozialismus erkrankten Deutschen zu lehren. Man kann mithin davon sprechen, dass Bauer – durchaus modern – den Strafzweck der positiven Generalprävention sich auf seine Fahnen geschrieben hatte. In der Bundesrepublik seit 1950 Generalstaatsanwalt, befand sich der Strafverfolger Bauer in seinem Bestreben, das deutsche Menschheitsverbrechen vor Gericht zu bringen, in einer wenig komfortablen Situation. Die NS - Verbrechen waren mit einem Strafrecht zu ahnden, das er aufs heftigste bekämpfte. Der unentwegt und lautstark ein Maßnahmenrecht fordernde Jurist, der vehemente Kritiker des alten Vergeltungs - und Schuldstrafrechts, musste mit einem Instrument hantieren, das ihm vollkommen veraltet erschien. Über Bauers Braunschweiger Jahre (1950–1956) ist in Sachen Ahndung von NS- Verbrechen in der Literatur leider wenig zu finden.8 Die von ihm am OLG Braunschweig geleitete Behörde und ihr Amtsbereich waren recht klein, offenbar auch der ihm gesteckte justizpolitische Rahmen. Anders stellten sich die Verhältnisse ab 1956 in Hessen dar. In Ministerpräsidenten Georg August Zinn (1901–19769), der in Personalunion von 1951 bis 1963 auch Justizminister war, fand Bauer einen Dienstherrn, der seine strafrechtsreformerischen und kriminalpolitischen Auffassungen unterstützte. Der politische Beamte Bauer konnte in Frankfurt am Main mit Wiesbadener Rückendeckung die justizadministrativen Voraussetzungen schaffen, durch Strafverfahren gegen NS - Täter gesellschaftspädagogisch und kriminaltherapeutisch zu wirken. Seine Behörde und die hessischen Staatsanwaltschaften machte er mit großer Konsequenz zu einem vergangenheitspolitischen Instrument. Bauer erkannte früh, der Ulmer Prozess gegen das Einsatzkommando Tilsit (28. 4. 1958 – 29. 8. 1958) diente ihm sicher als exemplarisches Beispiel, dass die Einleitung von Sammelverfahren zur Aufklärung von Verbrechenskomplexen sowohl hinsichtlich der Kontextualisierung der Einzeltaten als auch der Schwierigkeiten der strafrechtlichen Zurechnung individueller Schuld von überragender Bedeutung war.10 Im Braunschweiger Remer - Prozess ( März 1952) hatte der Ankläger Bauer zudem anhand der Sachverständigengutachten die Erfahrung 8 Matthias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS - Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden 2001; Claudia Fröhlich, „Wider die Tabuisierung des Ungehorsams“. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS - Verbrechen, Frankfurt a. M. 2006; Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903– 1968. Eine Biographie, München 2009. 9 Zinn war von 1951–1969 hessischer Ministerpräsident. 10 Siehe hierzu den Beitrag von Claudia Fröhlich in diesem Band.

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gemacht, dass die Darlegung historisch - politischer Hintergründe für die Wahrheitsfindung von großer Bedeutung war. Auch im Ulmer Verfahren hatten zeitgeschichtliche Expertisen zur Aufklärung des Gesamtgeschehens und zur Erforschung der verhandelten Tatbestände entscheidend beigetragen. Man kann mithin davon sprechen, dass sich Bauer Ende der 50er Jahre ein Konzept für NSG - Verfahren zurechtgelegt hatte. Die nachfolgende knappe Darlegung der Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz - Prozesses11 rekonstruiert Bauers Prozesskonzept, die kurze Darstellung der Verlaufsgeschichte des Verfahrens macht aber auch deutlich, wie wenig praktikabel Bauers Vorstellungen im vorgegebenen rechtlichen Rahmen waren. Als Bauer Anfang 1959 von einem Journalisten der „Frankfurter Rundschau“ ein paar vergilbte Papiere12 erhielt, auf denen die Namen von „auf der Flucht“ erschossenen Auschwitz - Häftlingen sowie die Namen der SS - Schützen aufgeführt waren, wandte er sich nicht nur an die Ende 1958 gegründete Zentrale Stelle der Landesjustizver waltungen ( in Ludwigsburg ), sondern auch an den Generalbundesanwalt in Karlsruhe mit dem Ersuchen, beim Bundesgerichtshof ( nach § 13a StPO ) den Gerichtsstand klären zu lassen.13 Bauer überließ es mithin nicht – was nahegelegen hätte – Ludwigsburg, Vorermittlungen gegen Auschwitz - Täter durchzuführen, d. h., Tatverdächtige zu finden und Beweismittel zusammenzutragen; er strebte vielmehr an, dass Karlsruhe das Landgericht Frankfurt am Main für zuständig erklärt und somit dessen Staatsanwaltschaft, die unter Bauers Dienstaufsicht stand, die Ermittlungen durchführen kann. Bauers Handeln ist sicher nicht als Misstrauen gegenüber der jungen Behörde in Ludwigsburg zu verstehen. Einerseits geht aus den Akten nicht hervor, ob er Kenntnis von den in Stuttgart und Ludwigsburg anhängigen Verfahren gegen Wilhelm Boger u. a. hatte; andererseits finden sich in einem Artikel Bauers zur Gründung der Zentralen Stelle14 Überlegungen, die ihn möglicherweise davon abhielten, allzu sehr auf die begrenzten Kompetenzen von Ludwigsburg zu set11

Siehe Werner Renz, Der 1. Frankfurter Auschwitz - Prozess. Zwei Vorgeschichten. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 50 (2002), S. 622–631. 12 Thomas Gnielka (1928–1965) an Bauer vom 15. 1. 1959 ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 2, Bl. 72). Vgl. auch Gnielkas Artikel „Die Henker von Auschwitz. Ein Prozess und seine Vorgeschichte“. In : Metall, Nr. 16 von 1961, S. 6, und den Artikel „Wie der Prozess nach Frankfurt kam. Ein Gespräch mit Thomas Gnielka – Er entdeckte belastende SS - Dokumente“. In : Die Tat vom 9. 11. 1963, S. 11. Bauer hat sich an die Vorgeschichte des Verfahrens nicht mehr richtig erinnert. Vgl. seine korrekturbedürftige Darstellung in : Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt a. M. 1998, S. 81, 104. 13 Die wichtigsten Dokumente zur Vorgeschichte und zum Verlauf des Auschwitz - Prozesses finden sich auf der DVD - ROM - Publikation : Der Auschwitz - Prozess. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. DVD - ROM. Hg. vom Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz - Birkenau, 3. Auf lage Berlin 2007. Zur Gründung der Zentralen Stelle siehe den Beitrag von Annette Weinke in diesem Band. 14 Fritz Bauer, Mörder unter uns ! In : Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur vom 5. 11. 1958, S. 790–791; Nachdruck in : Bauer, Humanität, S. 97–100.

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zen. Wäre der Auschwitz - Komplex von der Zentralen Stelle vorermittelt und an ein Landgericht abgegeben worden, dann hätte er – so Bauers Sorge – seitens des beauftragten lokalen Strafverfolgungsorgans unangemessen bearbeitet werden können. Diese Ungewissheit wollte Bauer offensichtlich ausschließen und veranlasste, das Verfahren nach Frankfurt am Main zu ziehen. Mit seinem Vorhaben hatte Bauer Erfolg. Der Bundesgerichtshof beschloss im April 1959, „die Untersuchung und Entscheidung“ der Strafsache gegen frühere Angehörige des Konzentrationslagers Auschwitz „dem Landgericht in Frankfurt am Main zu übertragen“.15 Mit dem Beschluss hatte Bauer viel erreicht, aber noch nicht gewonnen, denn die Frankfurter Staatsanwaltschaft war trotz der Karlsruher Entscheidung keineswegs gewillt, ein Auschwitz - Verfahren einzuleiten. Für die Unwilligkeit der Strafverfolgungsbehörde lagen durchaus gute Gründe vor.16 Zum einen hatte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart bereits im März 1958 aufgrund einer Strafanzeige eines ehemaligen AuschwitzHäftlings ein Verfahren gegen Boger eingeleitet und nach nicht geringen Anlaufschwierigkeiten die Ermittlungen auf weitere Beschuldigte ausgedehnt. Zum anderen hatte die Zentrale Stelle Ende 1958 ein Vorermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Auschwitzer Lager - Gestapo sowie gegen SS - Angehörige wegen Erschießungen von Häftlingen „auf der Flucht“ begonnen. Auch gegen vormalige SS - Ärzte von Auschwitz waren Nachforschungen eingeleitet worden. Die Ludwigsburger Vorermittlungen waren breit angelegt und liefen auf ein oder mehrere Sammelverfahren hinaus. Der Verbrechenskomplex Auschwitz befand sich mithin bei der Zentralen Stelle in guten staatsanwaltschaftlichen Händen. Die wiederholt zu lesende, von wissenschaftlicher und journalistischer Seite gemachte Feststellung, ohne Bauer hätte es den Auschwitz - Prozess nicht gegeben, ist demnach ins sachgerechte Licht zu rücken. Aus Vermerken, die sich in den Handakten der Frankfurter Staatsanwaltschaft finden, geht hervor, dass die Behördenleitung und der zuständige Abteilungsleiter davon ausgingen, dass Stuttgart bzw. Ludwigsburg das Auschwitz Verfahren durchführen, dass Frankfurt / M. trotz des ergangenen – von Bauer ohne Unterrichtung der Frankfurter Strafverfolgungsbehörde herbeigeführten – BGH - Beschlusses die Sache nicht übernimmt.17 Bauer ignorierte das Desinteresse der Anklagebehörde und machte sein Weisungsrecht geltend. In Unterredungen mit den zuständigen Beamten der Staatsanwaltschaft18 entschied er, 15 Zuständigkeitsbeschluss des BGH vom 17. 4. 1959 ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 2, Bl. 15–19). 16 Vgl. Werner Renz, Die unwillige Frankfurter Anklagebehörde. In : Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts, Nr. 26 von Herbst 2004, S. 13–16. 17 Vgl. die Verfügung vom 23. 5. 1959 ( EStA Dr. Großmann i. A.), Handakten ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 243, Bl. 28–30). 18 Leiter der Staatsanwaltschaft Frankfurt / M. ( fortan : StA Frankfurt ), OStA Heinz Wolf (1908–1984), sowie der Leiter der Politischen Abteilung, EStA Dr. Hanns Großmann (1912–1999).

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dass Stuttgart und Ludwigsburg ihre Verfahren abgeben und die Frankfurter Staatsanwaltschaft ein Komplexverfahren einleitet. Das Vorhaben des hessischen Generalstaatsanwalts war gewiss nicht ohne Risiko. Im Jahr 1959 gab es bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft so gut wie keine in NSG - Verfahren erprobten und erfahrenen Staatsanwälte. Bauer setzte seine Hoffnung auf junge, unbelastete Juristen. In Staatsanwalt Georg Friedrich Vogel (1926–2007)19 und Gerichtsassessor Joachim Kügler ( geb. 1926)20 wählte Bauer zwei Strafverfolger seines Vertrauens aus.21 Wie gestaltete sich die Arbeit der beiden Ermittler, die keineswegs gut ausgestattet waren ?22 Wie lässt sich Bauers Rolle23 bei der Durchführung des Ermittlungsverfahrens, das nach zwei Jahren mit dem Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung abgeschlossen war, darstellen ? Die beiden Sachbearbeiter Vogel und Kügler absolvierten zunächst während eines mehrwöchigen Aufenthalts in Ludwigsburg ( Juni / Juli 1959) einen Einführungskursus in den Tatkomplex Auschwitz. Mitte 1959 hatten sie neben recht unzureichenden Beschuldigtenlisten24 und den Akten der Stuttgarter und Ludwigburger Verfahren25 sowie kleineren Aktenbeständen von mehr oder weniger dilatorisch geführten Einzelverfahren recht wenig in der Hand. Ludwigsburg stattete die beiden Ermittler mit Auschwitz - Literatur26 aus, der belesene Generalstaatsanwalt versorgte die Dezernenten mit Literaturhinweisen, sodass sie eine umfangreiche Buchbestellung aufgeben konnten.27 Zu Beginn der Ermitt19 Vogel hat bereits seit 1956 NSG - Verfahren bearbeitet und war auf Antrag Bauers nach Frankfurt a. M. abgeordnet worden. 20 Kügler war seit 1958 als Gerichtsassessor in der Politischen Abt. der StA Frankfurt tätig, im Dezember 1959 wurde er Staatsanwalt. 21 In seinem Artikel zur Gründung der Zentralen Stelle meinte Bauer im Hinblick auf die erforderliche Abordnung von Staatsanwälten : „Persönliche Neigung und Eignung der Beamten ist aber selbstverständliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit der Zentrale“ ( Bauer, Mörder unter uns !, S. 790; Nachdruck in : Bauer, Humanität, S. 98). 22 In einem Brief vom 1. 12. 1959 an RA Henry Ormond schrieb Hermann Langbein : „Die beiden jungen Staatsanwälte, die sich mit dem Komplex befassen, arbeiten unter so primitiven Umständen, dass sie mit der Aufarbeitung der Aussagen und immer neu auftauchenden Angaben nicht nachkommen“ ( ÖStA, NL Langbein E /1797 :106). 23 Vgl. den Leserbrief von Joachim Kügler ( Die Zeit vom 2. 7. 2009, S. 38) in Reaktion auf eine Besprechung der Bauer - Biografie von Irmtrud Wojak ( Die Zeit vom 18. 6. 2009, S. 51), in der der Rezensent Bauers Rolle im Auschwitz - Verfahren vollkommen überdimensioniert dargestellt hat. 24 Von den im BGH - Beschluss vom 17. 4. 1959 genannten 94 SS - Angehörigen waren mindestens 21 bereits verstorben. 25 Frankfurt übernahm neun Aktenbände mit insgesamt 1453 Blatt sowie eine Vielzahl von Beiakten. Vgl. Schreiben der Zentralen Stelle an StA Frankfurt vom 30. 6. 1959 ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 11, Bl. 1454–1456). 26 Anlage zum Vermerk StA Frankfurt( Gerichtsassessor Kügler ) vom 25. 6. 1959 : Liste der übergebenen Bücher ( ebd., Band 1, Bl. 37). Anfang November 1959 sprach RA Henry Ormond bei StA Vogel vor und bot der StA die Nutzung seiner Fachbibliothek und seiner Fotokopiergeräte an ( Vermerk StA vom 4. 11. 1959, Handakten; ebd., Band 243, Bl. 128). 27 Vgl. Verfügung der StA Frankfurt vom 14. 7. 1959 ( ebd., Band 11, Bl. 1529).

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lungstätigkeit hatte Bauer für die Herstellung transnationaler Kontakte erhebliche Bedeutung. Der hessische Generalstaatsanwalt kannte keine politischen Berührungsängste, im Kalten Krieg tradierte Tabus ignorierte er souverän. Eine Zusammenarbeit mit Stellen in Polen und in der DDR war somit möglich.28 Bauer holte in Wiesbaden die erforderliche Zustimmung ein und gab den Sachbearbeitern freie Hand. Die Behördenleitung, so scheint es, hat keine Bedenken geltend machen wollen oder können.29 Auf die weitere Ermittlungstätigkeit der beiden Sachbearbeiter hatte der Generalstaatsanwalt jedoch keinen Einfluss mehr. Neben dem Auffinden von Beweisurkunden war die Ermittlung von Tatzeugen ein großes Problem. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main regte Zeugenaufrufe in zahlreichen Presseorganen im In- und Ausland an, bat Institutionen wie zum Beispiel den World Jewish Congress (New York ), das Jüdische Historische Institut in Warschau, den Zentralrat der Juden in Deutschland und zahlreiche Überlebenden - Vereinigungen um Mitarbeit. Für Hinweise auf gesuchte Beschuldigte wurden beträchtliche Summen ausgelobt. Ohne die Unterstützung von Hermann Langbein (1912– 1995), bis Mitte 1960 Generalsekretär des Internationalen Auschwitz Komitee ( IAK ), wäre es den Ermittlern mit Sicherheit nicht gelungen, so viele Opferzeugen zu finden und sie dazu zu bewegen, sich vernehmen zu lassen.30 Die Ermittlungsarbeit der beiden Sachbearbeiter orientierte sich trivialer weise nicht an einem vorgegebenen Konzept, nicht an einer geplanten Verfahrensstruktur. Bestimmt war die Arbeit jedoch erklärtermaßen von der Absicht, ein Komplexverfahren durchzuführen. Die Aufklärung der Massenmorde in Auschwitz erforderte, möglichst viele Beschuldigte zu ermitteln, die für die gesamte Organisationsstruktur des Lagers stehen konnten. Den beiden Strafverfolgern ist dieses Vorhaben weitgehend gelungen. Mitte 1961 waren die Ermittlungsergebnisse so weit gediehen, dass Vogel und Kügler den Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung stellten. Der Eröffnungsantrag, eine Vorform der späteren Schwurgerichtsanklage, enthält bereits einen allgemeinen historischen, von Staatsanwalt Vogel abgefassten Teil und führt 24 Beschuldigte31 auf, von denen sieben zu Beginn der Hauptverhandlung ( Dezember 1963)

28 Hilfeersuchen sollten aber über die Zentrale Stelle abgewickelt werden, so das Schreiben der StA Frankfurt an die Zentrale Stelle vom 8. 10. 1959 ( ebd., Band 243, Bl. 97). 29 Vermerk vom 8. 3. 1960, StA Frankfurt : Treffen mit Sehn am 1. 3. 1960 ( Wolf, Großmann, Bauer, Schüle, Vogel ) ( ebd., Band 28, Bl. 4510–4512). 30 Langbein wurde aus politischen Gründen auf der Generalversammlung des IAK (25.– 27. 6. 1960) „in einer Kampfabstimmung“ als Generalsekretär abgewählt ( Langbein an Raja Kagan vom 7. 7. 1960; ÖStA, NL Langbein E /1797 :52). Siehe hierzu den Beitrag von Katharina Stengel in diesem Band. 31 1. Richard Baer, 2. Robert Mulka, 3. Victor Capesius, 4. Kurt Uhlenbroock, 5. Willy Frank, 6. Willi Schatz, 7. Franz Hofmann, 8. Oswald Kaduk, 9. Stefan Baretzki, 10. Johann Schoberth, 11. Bernhard Rakers, 12. Heinrich Bischoff, 13. Jakob Fries, 14. Wilhelm Boger, 15. Hans Stark, 16. Pery Broad, 17. Klaus Dylewski, 18. Max Lustig, 19. Josef Klehr, 20. Hans Nierzwicki, 21. Emil Hantl, 22. Arthur Breitwieser, 23. Emil Bednarek, 24. Alois Staller.

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wegen Tod, Krankheit, Verfahrenseinstellung etc. ausgeschieden waren.32 Im Verlauf der gerichtlichen Voruntersuchung ( August 1961–Oktober 1962) kamen jedoch durch Ausdehnungs - und Verbindungsanträge fünf weitere Angeschuldigte33 hinzu. Das Engagement von Untersuchungsrichter Heinz Düx ( geb. 1924), der sich die von Bauer angestrebte Ahndung der NS - Verbrechen mit großer Tatkraft zu eigen gemacht hatte, kann hier nur erwähnt werden. Seine über 14 Monate sich erstreckende gerichtliche Voruntersuchung diente auf herausragende Weise der Beweissicherung und Beweisermittlung.34 Als am 20. Dezember 1963 im Frankfurter Rathaus die Hauptverhandlung eröffnet wurde, standen 22 Angeklagte vor Gericht. Der Versuch der Staatsanwaltschaft, den vormaligen Leiter der Abteilung Verwaltung ( SS - Sturmbannführer Wilhelm Burger ) sowie einen weiteren Mitarbeiter der Politischen Abteilung von Auschwitz ( SS - Oberscharführer Josef Erber ) in das Verfahren einzubeziehen, wurde vom LG Frankfurt am Main abgelehnt. Von Seiten des Landgerichts war das Bestreben deutlich erkennbar, das von der Anklagebehörde beabsichtigte Großverfahren möglichst zu begrenzen. Untersuchungsrichter Düx hat in Vermerken, die er nicht zu den Akten gab, niedergelegt, welche Widerstände dem Verfahren seitens des Landgerichts entgegengebracht wurden.35 Wie ausgeführt, hatte Bauer die vor bundesdeutschen Gerichten in den 50er Jahren durchgeführten NS - Prozesse kritisch verfolgt und deren Unzulänglichkeit nur zu gut erkannt. Ein Mittel, die Verfahren auf eine solide, nicht nur am Einzelfall orientierte Basis zu stellen, sah er in der Erstattung von zeithistorischen Gutachten. Bereits im Dezember 1959 besprachen Bauer und Langbein die Gutachterfrage. Der Generalsekretär des IAK schlug vor, Historiker von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ( Jerusalem ) und von Staatlichen Museum AuschwitzBirkenau als Sachverständige zu bestellen. Bauer befürwortete die Vorschläge und ergänzte, auch Wissenschaftler des Instituts für Zeitgeschichte ( IfZ ) in München sollten hinzugezogen werden.36 Im April 1961 erörterte EStA Großmann 32 Es handelte sich um : Richard Baer ( am 17. 6. 1963 in der Untersuchungshaftanstalt an einem Herz - und Kreislaufversagen gestorben ), Max Lustig ( am 9. 1. 1962 verstorben ), Kurt Uhlenbroock, Bernhard Rakers, Jakob Fries und Alois Staller ( Verfahren eingestellt ), Hans Nierzwicki ( Verfahren wegen Krankheit abgetrennt ). 33 Karl Höcker, Franz Lucas, Gerhard Neubert, Herbert Scherpe und Bruno Schlage. 34 Vgl. Eröffnungsverfügung vom 9. 7. 1961 ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 54, Bl. 9628–9671); Schließungsverfügung vom 9. 10. 1962 ( ebd., Band 75, Bl. 13799–13809). 35 Vgl. Heinz Düx, Die Beschützer der willigen Vollstrecker. Persönliche Innenansichten der bundesdeutschen Justiz. Hg. von Friedrich - Martin Balzer, Bonn 2004. 36 Gedächtnisprotokoll Langbeins vom 21. 12. 1959 ( Auschwitz - Museum, APMA - B : Mat./79, Band 196, K. 178). Vgl. auch Langbein an Kurt May vom 18. 1. 1960 ( URO ) (ÖStA, NL Langbein E /1797 :85) und sein im Mai 1960 abgefasster „Bericht des Büros des IAK zur Generalversammlung des Internationalen Auschwitz - Komitees 25.–27. Juni 1960 in Warschau“, in dem Langbein schreibt : „Es wurde ferner mit dem Generalstaatsanwalt vereinbart, dass dem Prozess Sachverständige zugezogen werden. Es ist daran gedacht, je einen Sachverständigen des Museums von Auschwitz, des Instituts Yad

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in München mit Hans Buchheim die Frage, ob das IfZ in dem in Frankfurt „anhängigen Großverfahren anhand der dortigen umfassenden literarischen und sonstigen Erkenntnisse Gutachten“37 erstellen könne. Buchheim erklärte sich „hierzu grundsätzlich bereit“. Hinweise darauf, warum Langbeins Vorschlag, Historiker aus Israel und Polen beizuziehen, nicht realisiert wurde, finden sich in den Akten nicht. Bauers Behörde organisierte sodann im November 1962 eine Besprechung der sogenannten altpolitischen Dezernenten, d. h. der Sachbearbeiter in NS - Verfahren ( der Generalstaatsanwaltschaft und der Staatsanwaltschaften von Frankfurt und Wiesbaden ), an der neben zwei Mitarbeitern der Zentralen Stelle auch Helmut Krausnick, Hans Buchheim, Martin Broszat und Helmut Heiber vom IfZ sowie Hans Boberach vom Bundesarchiv teilnahmen. Hinsichtlich der mündlichen Gutachten hatte Bauer im Sinne der von ihm angestrebten politischen Aufklärung ganz bestimmte Wünsche an die Historiker. Die Gutachten sollten laut Besprechungsprotokoll „lebendig“ und „auch dem breiten Publikum verständlich sein“, „ein akademischer Vortrag“ war im Interesse der angestrebten Breitenwirkung „zu vermeiden“. Um die erwünschten historischen Lektionen im Gerichtssaal für das Publikum und die Pressevertreter leichter nachvollziehbar zu machen, sollten „wichtige Urkunden, evtl. vorhandene Bilder [...] an die Wand projiziert werden“.38 Wenige Wochen vor Beginn des Auschwitz - Prozesses führte Bauer auf einer Tagung der Leiter der von den Landeskriminalämtern gebildeten Sonderkommissionen gar aus : „Selbst auf die Gefahr hin, dass der Staatsanwaltschaft die Veranstaltung eines Schauprozesses vorgeworfen werden könnte, soll die Verhandlung ein großes Bild des Gesamtrahmens der angewandten Politik geben. Dazu würden die vorkommenden Dokumente im Gerichtssaal nicht nur vorgelesen, sondern auf eine riesige Leinwand projiziert, so dass sie von allen Anwesenden betrachtet werden könnten.“39 Wie ernst es Bauer war, im Gerichtssaal eine Geschichtsstunde abhalten zu lassen, zeigt auch ein Schreiben von Rechtsanwalt Henry Ormond (1901–1973) von Januar 1963, in dem es heißt : „Dr. Bauer möchte mit den modernsten Mitteln und allem zur Verfügung stehenden Anschauungsmaterial die Anklage geführt wissen, wobei Schaubilder, Filme etc. durchaus eine Rolle spielen sollen.“40

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Vashem in Jerusalem und des Instituts für Zeitgeschichte in München heranzuziehen“ ( S. 4). Vermerk vom 3. 5. 1961, Handakten ( HStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 247, Bl. 865). Vermerk über eine Besprechung der altpolitischen Dezernenten der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht und der Staatsanwaltschaften Frankfurt ( M.) und Wiesbaden vom 7. November 1962 bei Herrn Generalstaatsanwalt Dr. Bauer ( HHStAW, Abt. 631a, Nr. 1800, Band 84, Bl. 89). Protokoll der 4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS - Gewaltverbrechen vom 21. 10. 1963 ( HHStAW, Abt. 503, Nr. 1161, S. 21). Ormond an Sehn vom 18. 1. 1963 ( NL Sehn – Auswahl von Kopien –, Band 1, Bl. 17; Fritz Bauer Institut ). Der NL Sehn liegt im Instytut Pamięci Narodowej / Warszawa.

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Aus all diesen Vorhaben ist nichts geworden. Die zeithistorischen Gutachten fielen selbstverständlich nicht so aus, dass sie dem Gerichtspublikum oder den Medienkonsumenten leicht eingängige Aufklärung über den SS - Staat geboten hätten. Die vier Anklagevertreter haben in Inter views und Gesprächen nicht bestätigen können, dass die Umsetzung von Bauers Konzept der didaktischen Justizveranstaltung ernsthaft erwogen worden wäre.41 Die meist zu Beginn der Beweisaufnahme erstatteten Gutachten hatten für die Hauptverhandlung gleichwohl eine große prozessuale Bedeutung. Kein Verteidiger konnte unter Hinweis auf die Begrenzung des verhandelten Gegenstands relevante historische Tatsachen aus dem Verfahren ausschließen, den Verfahrensstoff zu Gunsten der Angeklagten minimieren. Eng verknüpft mit Bauers Überlegungen zur Durchführung von NSG - Verfahren ist seine Rechtsauffassung in Sachen NS - Verbrechen. Bauers Rechtsansicht ist freilich mit seinem vergangenheitspolitischen Konzept wenig vereinbar. Bauer zufolge war die Beweisaufnahme in den Verfahren gegen nationalsozialistische Täter überaus einfach. Sachverständigengutachten steckten den geschichtlichen Rahmen ab, in dem die Angeklagten agiert hatten. Das Gesamtgeschehen war dadurch Gegenstand des Verfahrens, verhandelbarer Prozessstoff. Urkunden, nicht Zeugen – so meinte Bauer –, bewiesen die Präsenz der Angeklagten in den Vernichtungszentren bzw. an den Mordstätten.42 Einer weiteren Wahrheitserforschung bedurfte es nach Bauer nicht. Die Angeklagten waren als Mittäter abzuurteilen. Auf der „4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS - Gewaltverbrechen“ führte Hessens oberster Ankläger wenige Wochen vor Prozessbeginn aus : Der Auschwitz - Prozess könne „in drei bis vier Tagen erledigt sein“. Seine die Tagungsteilnehmer gewiss überraschende Ansicht begründete er folgendermaßen : „Es gab die Wannseekonferenz mit dem Beschluss zur Endlösung der Judenfrage. Sämtliche Juden in Deutschland sollten vernichtet werden. Dazu gehörte eine gewisse Maschinerie. Alle, die an dieser Vernichtung bzw. bei der Bedienung der Vernichtungsmaschine mehr oder minder beteiligt waren, werden daher angeklagt wegen Mitwirkung an der ‚Endlösung der Judenfrage‘.“43 Die Massenvernichtung in Auschwitz war nach Bauer als eine Tat im Rechtssinne, als natürliche Handlungseinheit zu betrachten. Wer kausal an dem Gesamtverbrechen im Wissen um den Zweck der Mordeinrichtung beteiligt war, ließ sich seiner Meinung nach ohne weitere Zurechnung von individuellen Tatbeiträgen als Mittäter qualifizieren. Die prozessökonomische Auswirkung seiner Rechtsauffassung hat Bauer hervorgehoben. Im Rückblick auf das Auschwitz - Verfahren, das nach Einschätzung aller Prozessbeteiligter viel zu lange gedauert hatte, meinte er : „Die Annahme

41 Neben Großmann, Vogel, Kügler auch Gerhard Wiese ( geb. 1928). 42 Vgl. Bauer, Humanität, S. 108. 43 Protokoll der 4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS - Gewaltverbrechen vom 21. 10. 1963, S. 22 f. ( HHStAW, Abt. 503, Nr. 1161).

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einer natürlichen Handlungseinheit trägt bei den sich in aller Regel über viele Monate, ja Jahre erstreckenden Prozessen zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren wesentlich bei.“44 Bauers Konzept des kurzen Prozesses mit NS - Tätern stand – wie bereits hervorgehoben – im Gegensatz zu seinen volkspädagogischen Intentionen. Da die Verfahren „Schule“45 und „Unterricht“46 sein sollten und den Deutschen notwendige Lehren47 zu erteilen hatten, war das Auftreten der Überlebenden wichtig. Wie wenig kompatibel seine Vorstellung der umstandslosen Aburteilung der Holocaust - Täter mit seinem Willen zur politischen Aufklärung, zur Menschenrechtserziehung durch NS - Verfahren, zur Re - Demokratisierung der Deutschen war, ist Bauer anscheinend bewusst gewesen. Den Widerspruch zwischen seiner Rechtsansicht und seinen aufklärerischen Absichten schien er aber nicht auf lösen zu wollen. So meinte Bauer nach dem Verfahren gegen Mulka u. a. : „Der Auschwitzprozess war gewiss der bisher längste aller deutschen Schwurgerichtsprozesse, in Wirklichkeit hätte er einer der kürzesten sein können, womit freilich nicht gesagt sein soll, dass dies aus sozialpädagogischen Gründen auch wünschenswert gewesen wäre.“48 Da Bauer fest entschlossen war, mit dem Auschwitz - Prozess die Anstrengung zu unternehmen, die herrschende Rechtsprechung zu ändern, das geltende Recht durch Rechtsschöpfung so zu erweitern, dass es seinem Verständnis nach für die angemessene Qualifizierung der NS - Verbrechen geeigneter war, veranlasste er – durchaus zum Ärger des Schwurgerichts – am Ende der Beweisaufnahme die Anklagevertretung, seine Rechtsauffassung in das Verfahren noch einzuführen. Die Staatsanwälte folgten Bauers Weisung widerstrebend.49 Sie richteten ihre bereits vorbereiteten Schlussvorträge darauf ein und beantragten nach Ende der Beweisaufnahme, das Gericht möge den Angeklagten die rechtliche Belehrung erteilen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine natürli-

44 Fritz Bauer, Ideal - oder Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen ? In : Juristenzeitung, 22 (1967), S. 628. 45 Fritz Bauer, Nach den Wurzeln des Bösen fragen. In : Die Tat vom 7. 3. 1964, S. 12. 46 Fritz Bauer, Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit. In : Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten. Hg. von Helmut Hammerschmidt, München 1965, S. 301–314, hier 302; Nachdruck in : Bauer, Humanität, S. 97– 100, hier 78. 47 Beitrag Bauers zum Thema „NS - Verbrechen vor deutschen Gerichten. Versuch einer Zwischenbilanz“. In : Diskussion. Zeitschrift für Fragen der Gesellschaft und der deutsch- israelischen Beziehungen, 5 (1964) Nr. 14, S. 4; ebenso in : Freiheit und Recht. Zentralorgan der Widerstandskämpfer und Verfolgtenverbände, 11 (1965) Nr. 1, S. 9. 48 Bauer, Namen des Volkes, S. 307; ebenso in : Bauer, Humanität, S. 83. 49 So Joachim Kügler in Gesprächen mit dem Verf. Nach Küglers Erinnerung hat Großmann zunächst Vogel angewiesen, den Antrag zu schreiben. Vogel bat wiederum seinen Kollegen Kügler darum. Beide haben sodann, wie Kügler sich erinnert, den Antrag vom 6. 5. 1965 abgefasst.

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che Handlungseinheit gesehen werden könne.50 Bauers Vorgehensweise muss ver wundern und stieß sogar bei den Rechtsbeiständen der Opfer, bei den Nebenklagevertretern Henry Ormond und Christian Raabe ( geb. 1934), auf harsche Kritik. War die Anwesenheit in Auschwitz als natürliche Handlungseinheit ( im Sinne des § 73 StGB ) zu betrachten, dann hätten die in der Beweiserhebung über 100 Verhandlungstag lang geführten individuellen Tatnachweise, allein durch intensive und die Überlebenden belastende Zeugenbefragung erhoben, nicht erbracht werden müssen. Für die Urteilsfindung des erkennenden Gerichts waren die Zeugenaussagen bei Zugrundelegung von Bauers Rechtsauffassung nur noch insofern von Relevanz, als sie die innere Tatseite beleuchteten. Die Auffassung, die Mitwirkung an den Massenmorden in den Vernichtungslagern rechtlich als eine Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit zu betrachten, führte indes nicht dazu, wie Bauer offenbar meinte, die Angeklagten wegen gemeinschaftlichen Mordes als Mittäter abzuurteilen. Im Chełmno - Prozess gegen Laabs u. a. vor dem Landgericht Bonn (26.11. 1962–30. 3. 1963; 5. 7. 1965–23. 7. 1965)51, dem Treblinka - Prozess gegen Franz u. a. vor dem Landgericht Düsseldorf (12. 10. 1964–3. 9. 1965)52 sowie im Sobibór - Prozess gegen Frenzel u. a. vor dem Landgericht Hagen (6. 9. 1965–20. 12. 1966)53 qualifizierten die Tatrichter die Beteiligung an den Massenmorden als einheitliche Handlung. Sie verurteilten die Angeklagten jedoch nicht wegen täterschaftlichen Handelns, sondern wegen Beihilfe. Das Auschwitz - Verfahren hat ein großes Medienecho gefunden. Tages - und Wochenzeitungen ließen von durchweg guten und engagierten Journalisten über die Verhandlungstage berichten. Nach der Studie von Wilke u. a. haben allein

50 Laut Sitzungsprotokoll vom 3. 5. 1965 (153. Verhandlungstag ) beantragte die StA, „die Angeklagten gemäß § 265 StPO darauf hinzuweisen, dass nicht nur § 74 StGB, sondern auch § 73 StGB bei der Urteilsfindung mit herangezogen werden kann“ ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 125, Bl. 1445). Am darauffolgenden Verhandlungstag beantragte die StA erneut, gemäß ihrem Schriftsatz vom 6. 5. 1965 die Angeklagten zu belehren. Der von Kügler unterzeichnete Antrag lautete : „Ich beantrage, die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB gesehen werden kann, die sich rechtlich, je nach den subjektiven Voraussetzungen im Einzelfall, als psychische Beihilfe oder Mittäterschaft zu einem einheitlichen Vernichtungsprogramm qualifiziert“ ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 37638, Band 125, Anl. 1 zum Protokoll vom 6. 5. 1965). Bemerkenswert ist die Differenzierung der Staatsanwaltschaft („je nach den subjektiven Voraussetzungen im Einzelfall“). Anders als Bauer war die Anklagevertretung nicht der Auffassung, die Angeklagten seien per se Mittäter. Funktionsrang und innere Tatseite spielten für die Anklagevertretung durchaus eine Rolle. 51 Urteil vom 30. 3. 1963 und vom 23. 7. 1965. In : Justiz und NS - Verbrechen, Amsterdam 1981, Band XXI, S. 220–344, hier 240, 332. 52 Urteil vom 3. 9. 1965. In : Justiz und NS - Verbrechen, Amsterdam 1981, Band XXII, S. 1–220, hier 177. 53 Urteil vom 20. 12. 1966. In : Justiz und NS - Verbrechen, Amsterdam 2001, Band XXV, S. 52–233, hier 216.

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Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

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die vier Tageszeitungen „Die Welt“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ im Zeitraum von 22 Monaten insgesamt 933 Beiträge über die Strafsache gegen Mulka u. a. veröffentlicht.54 Rundfunk und Fernsehen brachten Dokumentationen.55 Investigative Journalisten wie Thomas Gnielka nutzten ihre guten Kontakte zu Überlebenden und zu Juristen und publizierten bereits vor Prozessbeginn ausführliche Artikelserien über Auschwitz. Publizisten wie Hermann Langbein hielten Vorträge und machten Radiosendungen mit Auschwitz - Überlebenden und Verfahrensbeteiligten. Vor Eröffnung der Hauptverhandlung hatte die Staatsanwaltschaft Presseinformationen herausgegeben, Bauer hatte in Interviews die Bedeutung des NS - Prozesses hervorgehoben. Selbst als die Hauptverhandlung lief, sprach er in Vorträgen über Sinn und Zweck der Verfahren gegen Holocaust - Täter.56 Hat die beeindruckende Medienpräsenz des Frankfurter Verfahrens zu einem Bewusstseinswandel bei den Deutschen geführt ? Wurden Bildungsprozesse angestoßen ? Kam die viel beschworene „Selbstaufklärung der deutschen Gesellschaft“ zustande ? Die Fragen lassen sich nur recht spekulativ beantworten. Anders als beim Jerusalemer Eichmann - Prozess (1961) hat die empirische Sozialforschung beim Auschwitz - Verfahren die Hände weitgehend in den Schoß gelegt. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung, das zum Verfahren gegen den Transportspezialisten des Reichssicherheitshauptamtes noch zwei Umfragen57 durchgeführt hatte, blieb untätig, ebenso die Meinungsforschungsinstitute.58 Auch das in Frankfurt am Main ansässige Sigmund - Freud - Institut zeigte kein Interesse, am Gerichtsort Deutsche zum Beispiel nach verdrängten Schuldgefühlen zu fragen. Einzig das DIVO - Institut für Wirtschaftsforschung, Sozialforschung und Angewandte Mathematik ( Frankfurt a. M.) führte im Juni 1964 eine Erhebung durch. Der Befund war wenig erfreulich. Die Repräsentativbefragung der erwachsenen Bevölkerung ergab, dass 40 Prozent keine Kenntnis von dem Auschwitz - Verfahren hatten und generell der Meinung waren, man solle die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. In einer Meinungsstudie zum Eichmann Prozess und in Hinblick auf die DIVO - Umfrage zum Auschwitz - Verfahren führten zwei Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung aus, dass ein „Absinken des allgemeinen Interesses“ und „ein Ansteigen offener Ablehnung gegenüber

54 Jürgen Wilke / Birgit Schenk / Akiba A. Cohen / Tamar Zemach, Holocaust und NS - Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr, Köln 1995, S. 53. 55 Vgl. hierzu die Studie von Sabine Horn, Erinnerungsbilder. Auschwitz - Prozess und Majdanek - Prozess im westdeutschen Fernsehen, Essen 2009. 56 Fritz Bauer, Nach den Wurzeln des Bösen fragen. In : Die Tat vom 7. 3. 1964, S. 12. 57 Vgl. Regina Schmidt / Egon Becker, Reaktionen auf politische Vorgänge. Drei Meinungsstudien aus der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1967, S. 108. 58 Infas ( Institut für angewandte Sozialwissenschaft, Bonn - Bad Godesberg ), Institut für Demoskopie ( Allensbach ) und Emnid.

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der gerichtlichen Verfolgung und Verurteilung nationalsozialistischer Verbrechen“59 Mitte der 60er Jahre zu konstatieren war. Einen Trost konnten die Sozialwissenschaftler gleichwohl verzeichnen : Ein Anwachsen des Antisemitismus war nicht festzustellen – ein Rückgang freilich auch nicht.60

59 Schmidt / Becker, Reaktionen, S. 116. 60 Ebd. und Regina Becker - Schmidt, Reaktionen der westdeutschen Bevölkerung auf den Auschwitz - Prozess. In : Informationen. Hg. vom Studienkreis Deutscher Widerstand, 29 (2004) Nr. 60, S. 9.

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„Vergangenheitsbewältigung“ in der DDR. Zur Rezeption des Prozesses gegen den KZ - Arzt Dr. Horst Fischer 1966 in Ost - Berlin Christian Dirks „Bei uns wurde der angeklagte KZ - Arzt zum Tode verurteilt. Das ist, glaube ich, eine Demonstration gegenüber der unglaublichen Lässigkeit der Gerichte auf der anderen Seite.“1

Diese Charakterisierung der Ende der 50er Jahre in die DDR ausgewanderten österreichischen Schriftstellerin und Journalistin Maxie Wander (1933–1977) in ihrem Tagebuch ist für die Rezeption des Prozesses gegen den KZ - Arzt Dr. Horst Fischer vor dem Obersten Gericht der DDR im Jahr 1966 in mehrfacher Hinsicht interessant. Sie zeigt zum einen, dass dieses Verfahren in der DDR eine große Aufmerksamkeit genoss, auch in intellektuell - künstlerischen Kreisen. Und zugleich wird deutlich, dass man sich – jenseits der offiziellen Prozessinterpretation – in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung durchaus darüber im Klaren war, dass dieses Verfahren eine eindeutige Stoßrichtung hatte : Mit der Aburteilung eines NS - Verbrechers in einem Schauprozess wollte man auf die Defizite bei der Ahndung im anderen deutschen Staat hinweisen.2 Über die Reaktionen auf die verstärkte Strafverfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen in Westdeutschland seit den frühen 60er Jahren wissen wir schon seit längerer Zeit einiges; diese Debatten wurden schließlich auch öffentlich geführt und es gibt demoskopische Daten hierzu. Als Fazit könnte man etwa festhalten, dass in der Bevölkerung eine massive Skepsis gegenüber dieser Strafverfolgung vorherrschte und die Forderung nach einem „Schlussstrich“ populär war. Die euphemistische Titulierung der NS - Verbrecher als „Kriegsverurteilte“ ist hierfür nur ein Beispiel. In der Bundesrepublik existierte eine breite gesellschaftliche Ablehnung der alliierten Strafverfolgung bereits seit Nürnberg, 1 2

Maxie Wander, Ein Leben ist nicht genug. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Hg. von Fred Wander, Frankfurt a. M. 1990, S. 112. Ich danke John Cramer für den Hinweis auf diese Passage. Dieser Aufsatz ist die aktualisierte Version meines Beitrags : Schlussstrich Ost ? Reaktionen auf den Auschwitz - Prozess der DDR. In : Georg Wamhof ( Hg.), Das Gericht als Tribunal oder : Wie der NS - Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009, S. 124–139.

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und entsprechende Debatten fanden etwa unter Juristen und Historikern statt. Die politische Unterstützung der Inhaftierten reichte bis in die Volksparteien, die Kirchen und informelle Hilfskomitees wie den Heidelberger Kreis u. a., so dass man mit Norbert Frei von einer überparteilichen und quasi gesamtgesellschaftlichen Koalition zur Abräumung der Hinterlassenschaften alliierter Säuberungspolitik sprechen kann.3 Hinsichtlich der gesellschaftlichen Reaktionen auf die wieder einsetzende Strafverfolgung von NS - Tätern in den 60er Jahren in der DDR tappen wir allerdings nach wie vor eher im Dunkeln. Auch hier war die Ahndung, wie in Westdeutschland, Mitte der 50er Jahre fast komplett zum Erliegen gekommen. Die Quellenlage gestaltet sich für den Osten Deutschlands allerdings ungleich diffiziler; unabhängige, veröffentlichte Meinungsumfragen existieren selbstredend nicht, und angesichts der Allgegenwart des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS ) erscheint eine dem Westen entsprechende, öffentlich zum Ausdruck kommende Stimmungslage auch eher als unwahrscheinlich. Gleichwohl können diese Reaktionen anhand einiger Überlieferungen ansatzweise beschrieben und am Beispiel des Prozesses illustriert werden. Möglich ist dies anhand von Zuschriften an die verschiedenen staatlichen Organe, wie etwa an die Generalstaatsanwaltschaft und das Oberste Gericht, sowie von Stimmungsberichten, deren Adressat das MfS war.

1.

Dresden – Berlin – Auschwitz – Spreenhagen

Einige knappe Hinweise zu Fischers Lebensweg, zu seiner Beteiligung an den Verbrechen im KZ Auschwitz und zum Verfahren gegen ihn in der DDR sollen an dieser Stelle genügen.4 Horst Fischer wurde 1912 in Dresden geboren und erlebte nach dem frühen Tod beider Eltern die Jahre der Weimarer Republik als prägende Krisenjahre. Er war durch einen Onkel, bei dem er nach dem Tod der Eltern in Berlin lebte, nationalistisch und völkisch indoktriniert worden, darüber hinaus jugendbündisch organisiert. Zu Beginn seines Studiums trat er 1933 der SS bei, 1937 schließlich auch der NSDAP. Der Eintritt in die SS lässt sich als bewusste politische Richtungsentscheidung interpretieren, die nicht zuletzt mit Karrierehoffnungen verbunden war. 1939 eingezogen, durchlief Fischer verschiedene Stationen quer durch Europa und nahm als Truppenarzt der SS - Division Wiking am Überfall auf die Sowjetunion teil. Ende 1942 wurde er als junger SS - Mediziner mit 29 Jahren nach Auschwitz abkommandiert. Dort begann ein rasanter Aufstieg in der SS - Hierarchie des Vernichtungslagers. Ein persönliches Netzwerk zwischen den SS - Ärzten beförderte diese Kar3 4

Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS - Vergangenheit, München 1996. Ausführlich hierzu Christian Dirks, „Die Verbrechen der anderen.“ Auschwitz und der Auschwitz - Prozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZ - Arzt Dr. Horst Fischer, Paderborn 2006.

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riere. So war die Freundschaft mit dem Standortarzt Eduard Wirths Voraussetzung für die schon im Jahr 1943 erfolgte Einsetzung Fischers zu dessen Stellvertreter und zum verantwortlichen SS - Lagerarzt aller knapp vierzig Nebenlager von Auschwitz, darunter dem größten und besonders kriegswichtigen Lager der IG Farben in Monowitz. In den verschiedenen Lagerteilen des Komplexes Auschwitz war Fischer zwischen 1942 und 1945 an der „Selektion“5 genannten Aussonderung und der anschließenden Ermordung von etwa 70 000 Menschen unmittelbar beteiligt. Der SS - Arzt war karrierehungrig und zugleich chirurgisch unerfahren, er nutzte aber konsequent die sich ihm in Auschwitz bietenden Möglichkeiten. So führte er etwa Operationen gemeinsam mit erfahrenen Häftlingsärzten durch, denen er assistierte und deren Behandlungsmethoden er sich abschaute und aneignete. Mit der Durchführung von Elektroschockversuchen in Monowitz versuchte er, sich als SS - Mediziner zu profilieren und eine Nachkriegskarriere vorzubereiten.6 Daneben führte der SS - Arzt Fischer mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern ein „normales“ Familienleben im unmittelbaren Umfeld des Konzentrations - und Vernichtungslagers Auschwitz. Der Alltag des Lagerpersonals dort bildete, darauf haben die Herausgeber der Standort - und Kommandanturbefehle hingewiesen, gleichsam „den Rahmen, der den Massenmord ermöglichte“.7 Fischer hatte quasi unbeschränkten Zugriff auf alle Ressourcen, die Auschwitz bot : so beispielsweise auf Lebensmittel wie Obst und Gemüse, das von KZ - Häftlingen angebaut wurde, auf die lagerinternen „Dienstleister“ wie Schneiderwerkstätten und Friseure, aber auch auf die Anfertigung von Kinder wagen und Kin-

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Ungeklärt ist bislang die Genese des Terminus „Selektion“. Auf Täterseite wurde von „Rampendienst“, „Aussortierung“ bzw. in den Krankenrevieren von „Visiten“ gesprochen. Offenbar wurde der Begriff „Selektion“ von den Opfern geprägt und entsprach dem Lagerjargon der Häftlinge. Er taucht weit verbreitet erst nach 1945 in Aussagen der Überlebenden auf. Vgl. etwa die Aussage Stefan Heymanns, der davon berichtet, dass er erst in Auschwitz den Terminus Selektion kennen gelernt habe; Kommissarische Vernehmung Stefan Heymann vom 21. 2. 1966 vor dem Stadtbezirksgericht Berlin - Mitte ( BStU, ZA, ZUV 84, HA Band 20, Bl. 171). Dagegen beteuert der ehemalige Sanitätsdienstgrad in Monowitz, Gerhard Neubert, der Begriff Selektion sei damals nicht üblich gewesen und ihm erst im Laufe der gegen ihn geführten gerichtlichen Voruntersuchung bekannt geworden. So richterliche Vernehmung Gerhard Neubert vom 21. 7. 1971 ( Fritz Bauer Institut, Sammlung Auschwitz - Prozess, Strafsache ./. Ontl u. a. [4Js 798/64], Band 7, Bl. 1267). Vgl. auch Eugen Kogon / Hermann Langbein / Adalbert Rückerl ( Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1983, S. 212; sowie Benno Müller - Hill, Selektion. Die Wissenschaft von der biologischen Auslese des Menschen durch Menschen. In : Norbert Frei ( Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS - Zeit, München 1991, S. 137–155, hier 137 ff. Vgl. Dirks, Verbrechen der anderen, S. 134 ff. Norbert Frei, Einleitung. In : ders./ Thomas Grotum / Jan Parcer / Sybille Steinbacher / Bernd C. Wagner ( Hg.), Standort - und Kommandanturbefehle des Konzentrationslagers Auschwitz 1940–1945. Hg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte, München 2000, S. III.

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derspielzeug. Daneben machte der junge KZ - Arzt Urlaub mit der Familie in einem oberschlesischen „SS - Resort“, idyllisch gelegen an einer Talsperre des Flusses Sola – und natürlich bedient von Häftlingen, die auch diese Unterkünfte gebaut hatten.8 Fischer konnte außerdem in Haus und Garten über die Arbeitskraft von KZ - Insassen verfügen und hatte über das Arbeitsamt ein polnisches Kindermädchen einstellen lassen. Zudem musste eine Häftlingsfrau, die als Zeugin Jehovas interniert war, bei den Fischers als Zugehfrau arbeiten. Horst Fischer war in Auschwitz nach Aussagen des polnischen Kindermädchens, der damals 14 - jährigen Aleksandra Stawarczyk aus dem Nachbarort Brzeszcze, ein sehr häuslicher, familiärer Mensch. Pünktlich um 13.00 Uhr erschien Fischer in der Regel zum Mittagessen. Er sorgte immer dafür, dass ausreichend Lebensmittel im Haus waren. „Bei den Fischers fehlte es an nichts“, erinnerte sich Stawarczyk, „die Mahlzeiten waren abwechslungsreich und die Partys prachtvoll.“9 Abseits des „Dienstes“ fanden regelmäßige private, gesellige Zusammenkünfte der Mediziner samt ihrer Frauen statt, die sich gegenüber den anderen Offizieren abschotteten und ein autonomes soziales Leben jenseits der Rampe führten. Fischer „funktionierte“ reibungslos bis zum grausamen Schluss im Januar 1945, als er die von der SS „Evakuierung“ genannte Verschleppung der Häftlinge auf Todesmärsche durchführte. Größere innere Konflikte sind bei ihm nicht erkennbar. Nach 1945 lebte Fischer zunächst in der sowjetischen Besatzungszone, später in der DDR unter seinem richtigen Namen, aber mit falscher Legende. So gab er an, als Arzt in Königsberg tätig gewesen zu sein, alle Unterlagen seien bei einem Luftangriff verbrannt worden. Seine SS - und NSDAP - Mitgliedschaft verschwieg er, ebenso seinen Einsatz im Lagerkomplex Auschwitz. Nachfragen oder gar Nachforschungen gab es keine. Seit Ende der 40er Jahre praktizierte Fischer als Landarzt in dem kleinen ostbrandenburgischen Dorf Spreenhagen bei Fürstenwalde. Er galt als höf licher, zurückhaltender und gebildeter Mann, war allseits beliebt, mit hohem beruf lichem Engagement unter wegs und für seine Patienten zu jeder Tages - und Nachtzeit erreichbar. Der Landarzt führte mit seiner Frau und den inzwischen vier Kindern ein bürgerliches Leben. Man feierte mit Freunden und Bekannten Feste und half sich bei den wiederkehrenden Tücken des DDR - Alltags. Fischer arbeitete zwar 8

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Im Januar 2007 ist dem United States Holocaust Memorial Museum ( USHMM ) ein Fotoalbum übergeben worden, dass verschiedene SS - Männer und - Frauen während eines „Erholungsurlaubs“ an der „Sola - Hütte“ zeigt. Das Album stammt aus dem Besitz von SS - Obersturmführer Karl Höcker, dem Adjutanten des Auschwitz - Kommandanten Richard Baer. Ein ehemaliger Angehöriger der US - Army, Mitglied des Counter Intelligence Corps ( CIC ), hatte es nach Angaben des USHMM 1946 in Frankfurt a. M. in einer verlassenen Wohnung an sich genommen. Vgl. Auschwitz through the lens of the SS : Photos of Nazi leadership at the camp, URL : http ://www.ushmm.org / research / collections / highlights / auschwitz ( Aufruf vom 23. 8. 2010). Bericht Aleksandra Stawarczyks vom 17. 4. 1974 ( Archiv des Staatlichen Museums Oświęcim, Osw / Stawarczyk /1853); Interview mit Aleksandra Stawarczyk in Brzeszcze am 27. 3. 2001.

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in der Gewerkschaftsgruppe „Gesundheit“ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes mit, hielt sich aber ansonsten von politischen Angelegenheiten fern. Mit der politischen Entwicklung in der DDR war er zwar teilweise nicht einverstanden ( so etwa mit der Kollektivierung in der Landwirtschaft ), aber aufgrund seiner an sich zufriedenstellenden Situation sowie der Angst vor einer Enttarnung zog er es vor, in Ostdeutschland zu bleiben und nicht in Richtung Westen überzusiedeln. Er fühle sich, so Fischer in einem Gespräch zu einem Freund der Familie, der sich aber als MfS - Spitzel entpuppen sollte, in Spreenhagen sehr wohl, da er, „wie ein König in seinem Reich“ leben könne. Er werde von jedermann respektiert und habe erheblichen Einfluss.10 Schließlich wähnte Fischer sich, nachdem er die ersten Nachkriegsjahre unbehelligt überstanden hatte und die großen NS - und Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Dresden vorüber waren, relativ sicher im sozialistischen Teil Deutschlands. Die Festnahme des Auschwitz - Arztes im Jahr 1965 war dann auch eher ein Produkt von Zufällen. Intensive Kontakte zur Verwandtschaft in Westberlin wurden ihm zum Verhängnis. Durch eine simple und routinemäßige Überprüfung der Personalien im Zentralarchiv des MfS stieß man auf den KZ - Mediziner; dort lagen unter anderem Originalunterlagen aus Auschwitz vor, in denen Fischers Name auftauchte ( es handelte sich hierbei um sowjetische Beuteakten, die in den 50er Jahren an die Sicherheitsorgane der DDR übergeben worden waren ). Ein Blick in die damals vorliegende Auschwitz - Literatur11 hätte allerdings genügt, um auch schon zuvor auf Fischer stoßen zu können. Eine systematische Strafverfolgung von NS - Verbrechen existierte aber in der SBZ / DDR nicht. Zugleich war die Festnahme Fischers ein propagandistischer Coup ganz im Sinne der SED. Zum einen wollte man über ihn, der in Monowitz verantwortlicher Lagerarzt gewesen war, die IG Farben als eine Triebfeder des NS - Regimes auf die Anklagebank setzen. Zum anderen sollte die Bundesrepublik mit ihrer Staats - und Gesellschaftsform als Nachfolgestaat des NS - Staates desavouiert werden. Das Ziel bestand darin, eine Art „Gegenverfahren“ zum ersten Frank10 Bericht des GM ( Gesellschaftlicher Mitarbeiter des MfS ) „Sulky“ vom 23. 2. 1965 (BStU, ASt. Frankfurt / O., AIM 1602/77, Band II /2, Bl. 163). 11 Schon 1945 hatte der ehemalige Funktionshäftling in Monowitz, Stefan Heymann, von einem SS - Hauptsturmführer Fischer berichtet, der dort selektiert habe. Vgl. seinen Bericht „Von Buchenwald nach Auschwitz verschleppt“. In : David A. Hackett ( Hg.), Der Buchenwald - Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, München 2002, S. 386–391, hier 389. Dieser Bericht ging auch in Kogons frühes Werk „Der SS - Staat“ ein. Vgl. Eugen Kogon, Der SS - Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 7. Auflage München 1994, S. 278. Im Jahr 1949 hatte der ehemalige Häftlingsschreiber des SS - Standortarztes in Auschwitz, Hermann Langbein, Fischer in seinem Bericht „Die Stärkeren“ ( Wien 1949) mehrfach ausführlich erwähnt. Auch in der Schrift von Milos Nový, Návrat nezádoucí [ Rückkehr uner wünscht ], Prag 1949, taucht Fischer auf. Schließlich erschien 1962 im Ostberliner Dietz - Verlag Oszkár Betlens „Leben auf dem Acker des Todes“, in dem auf Fischer ausführlich eingegangen wird. Auch in den Heften der polnischen „Przegląd Lekarski“ wurde Fischer genannt, so z. B. bei Władysław Fejkiel, Das Gesundheitswesen im Konzentrationslager Auschwitz I (Hauptlager ). In : Przegląd Lekarski 17, Heft 2/1962.

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furter Auschwitz - Prozess zu führen. Zugleich wollte man auf Seiten der DDR Einfluss auf den zweiten Auschwitz - Prozess in Frankfurt am Main nehmen, wo Gerhardt Neubert, ehemals SS - Sanitätsdienstgrad in Monowitz und einst Fischer direkt unterstellt, angeklagt war. Im Zuge dieses zweiten Frankfurter Auschwitz - Verfahrens wurde Fischer in Ostberlin in Gegenwart eines Staatsanwalts aus der Mainmetropole vernommen. Seine Aussagen trugen in erheblichem Maße zur Verurteilung der im zweiten Frankfurter Auschwitz - Prozess angeklagten ehemaligen SS - Männer bei. Ein Vergleich dieser beiden Verfahren lag auf der Hand und war unvermeidlich.12 Der Prozess gegen Horst Fischer wurde als Schauprozess an nur zehn Verhandlungstagen vor dem Obersten Gericht der DDR in Ostberlin geführt. Das MfS war Ideengeber und Regisseur des gesamten Verfahrens, das Urteil stand im Vorfeld bereits fest und wurde ebenfalls von der Geheimpolizei vorgegeben. Fischer selbst war vor Gericht und auch schon zuvor in der Untersuchungshaft voll geständig. In diesem Verfahren kamen die mit Abstand ausführlichsten Aussagen eines SS - Arztes zu seinem unmittelbaren Tätigkeitsfeld zustande, die uns heute vorliegen. Auch die Zeugenaussagen während des Prozesses waren eindeutig, die Beweislage mithin erdrückend. Dennoch wurden Entlastungszeugen, wie etwa Fischers ehemaliger Häftlingsschreiber Hermann Langbein, nicht zugelassen. Nach internationalem Völkerrecht ( Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Artikel 6c des Londoner Statuts ) wurde Fischer wegen der Mitverantwortung an der Ermordung von 70 000 Menschen in Auschwitz zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 8. Juli 1966 in Leipzig mit der in der DDR „Fallschwertmaschine“ genannten Guillotine vollstreckt.13 12 Vgl. insgesamt Dirks, Verbrechen der anderen, S. 223 ff. Vgl. den Beschluss des Landgerichts Frankfurt a. M. in der Strafsache gegen Burger, Erber und Neubert vom 30. 8. 1965 ( BArch, N 2503, W - Ka 207). Neubert war aufgrund des Eröffnungsbeschlusses vom 7. 10. 1963 des Schwurgerichtes bei dem Landgericht Frankfurt a. M. einer der Angeklagten im ersten Frankfurter Auschwitz - Prozess. Das Verfahren gegen ihn wurde durch Beschluss des Schwurgerichts vom 23. 7. 1964 wegen Verhandlungsunfähigkeit abgetrennt. 13 Die Hinrichtungsmethoden differierten im Osten Deutschlands in der unmittelbaren Nachkriegszeit : Als Vollstreckungsformen existierten parallel nebeneinander das Erhängen, das Enthaupten sowie das Erschießen, was zumeist den örtlichen Gegebenheiten geschuldet war. Wenn in der Provinz keine Guillotine vorhanden war, konnte man sich in Berlin eine ausleihen. Während die Todesurteile der sowjetischen Militärgerichte durch ein Erschießungskommando vollstreckt wurden, setzte sich die „Fallschwertmaschine“ in der SBZ / DDR als gängige Hinrichtungsmethode durch. Vgl. Richard Evans, Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987, Berlin 2001, S. 961 f. Die Todesstrafe wurde in der DDR durch einen Beschluss des Staatsrats ( Gesetzblatt der DDR, 1987, S. 301) mit Wirkung vom 18. 7. 1987 abgeschafft. Die letzte Hinrichtung fand 1981 statt. – Wie für alle Todeskandidaten, wurde auch für den ehemaligen SS - Lagerarzt ein Totenschein mit fingierter Todesursache ausgestellt. Die Leichname der Hingerichteten wurden in der Regel zu einem auf dem Gelände des Leipziger Südfriedhofs gelegenen Krematorium gebracht und dort als „Anatomieleiche“ erfasst. „Angaben über Ort und Zeit der Einäscherung entfallen“, forderte die Vollstreckungsanordnung. Die Asche der Hingerichteten wurde nicht beerdigt, sondern auf einer Wiese des Friedhofs verstreut oder mit den Sandvorräten eines angrenzenden Baustoff lagers vermischt.

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Reaktionen auf Verhaftung und Urteil

Nach der plötzlichen Verhaftung Fischers im Juni 1965 war man in und um Spreenhagen – jenem kleinen Dorf bei Fürstenwalde in der ostbrandenburgischen Provinz, in dem Fischer mit seiner Familie lebte und immerhin fast 20 Jahre als Landarzt tätig gewesen war – zunächst einmal verstört. Der Nachfolger als Landarzt in Spreenhagen schildert den Ruf, den Fischer in der Region genoss: Als „altgedienter Landarzt wusste er Rat und Antwort, wenn er gefragt wurde. Im Kreis der Kollegen sprach man von dem ‚Fischer da draußen‘, wie von einem in weiter Ferne, aber jeder schätzte seine treffsicheren Diagnosen, wenn er Patienten zu uns einwies.“ Der Landarzt sei ein „Praktiker alten Stils“ gewesen und habe seinen Patienten immer zur Verfügung gestanden. Seine Einsätze bei akuten Notfällen – im Sommer mit dem Motorrad und umgehangener Bereitschaftstasche, auf dem schmalen Grad des Oder - Spree - Kanals fahrend, im Winter mitunter auch schon einmal auf Skiern querfeldein über die Äcker und Wiesen eilend – seien Legende gewesen. „Fischer konnte so gut wie alles und wusste so gut wie alles. Er behandelte Kinder und Greise, Hühneraugen und Herzleiden. Brachte man ihm um Mitternacht auf einen Handwagen eine blutende Frau, machte er sich sogleich an eine Kürettage.“14 Wilde Gerüchte über die Gründe für die Verhaftung machten die Runde, die Spekulationen reichten vom verbotenen Handel mit Medikamenten aus dem Westen über die illegale Abtreibung von Kindern bis hin zu der Mutmaßung, Fischer sei ein Westspion gewesen. Nachdem die erste Pressemeldung über die Verhaftung erschienen war, änderte sich das Stimmungsbild.15 Nun war eine Gruppe innerhalb der Bevölkerung in der Region Fürstenwalde bereit, der Argumentation von Staatsanwaltschaft und Ermittlungsorganen zu folgen. Wenn alles das stimme, was man ihm vor werfe, so habe er sich hierfür zu verantworten : „Den Fischer müsse man erschießen, denn was der an Verbrechen begangen hat, kann er nicht verantworten“, so gab beispielsweise ein Inoffizieller Mitarbeiter ( IM ) der Staatssicherheit die Äußerung einer Einwohnerin eines Nachbardorfes an die Geheimpolizei weiter. Offenbar waren es vielfach Personen, die selbst einen Verfolgungshintergrund besaßen oder im Familienkreis NS Opfer zu beklagen hatten, die sich in diese Richtung äußerten. Eine zweite Gruppe, die in den Berichten an das MfS als „Hauptrichtung“ bezeichnet wurde, stellte in erster Linie das positive Wirken Fischers nach 1945 in den Vordergrund und brachte Unverständnis für die Festnahme zum Ausdruck. Fischer sei ein Arzt mit außerordentlichem Engagement, viele Leute in der Region hätten ihm ihr Leben zu verdanken, er habe jederzeit ein offenes Ohr für die Probleme der Patienten gehabt und sei Tag und Nacht für sie unter 14

Unveröffentlichte autobiographische Aufzeichnungen Dr. Lothar Sonnemanns ( Frankfurt an der Oder ), S. 76 und 85, im Archiv des Verfassers. 15 Vgl. für das Folgende Bericht des IM „Bernhard“ vom 16. 6. 1965 betr. : Diskussionen zur Festnahme des Dr. Fischer ( BStU, ASt Frankfurt / O., AIM 944/75). Ganz ähnlich der Bericht der KD Fürstenwalde des MfS vom 20. 6. 1965 ( ebd.).

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wegs gewesen, so der Tenor dieser Berichte. Und schließlich müsse nach zwanzig Jahren doch auch einmal Schluss sein; damals sei Krieg gewesen, man müsse auch die besonderen Umstände berücksichtigen. Die Formulierung vom „Schlussstrich“ ist mehrfach in diesen IM - Berichten vermerkt. Die auf die Reaktionen in der Bevölkerung angesetzten IM berichteten aber darüber hinaus auch von Stimmen, die Fischers Verbrechen ausdrücklich guthießen, etwa mit folgender Argumentation : „Es gibt einige Skeptiker, die sagen“ – so ein Bericht, der als Abschrift eines Tonbandes erhalten ist und der in seinem eigenartigen Stil ausführlicher zitiert werden soll – „dass natürlich damals in der Nazizeit, dass was Fischer getan hätte, prinzipiell nichts Unmoralisches gewesen sei, sondern darüber hinaus sogar moralisch, denn er hätte ja dazu beigetragen, die Pest der Menschheit, die Juden, nach der Meinung der Nazis von der Welt mitauszurotten [ sic !]. Sein Beweggrund wäre also letztlich von einem gewissen ethischen Prinzip getragen gewesen, wenn dieses ethische Prinzip auch auf dem Nazisystem und seiner Ideologie basierte. Diese Skeptiker meinen dazu, dass natürlich im Prinzip auch der Fischer aus diesen Gründen strafrechtlich kaum zur Verantwortung gezogen werden könne. [...] Man meint darüber hinaus, dass der ganze Prozess sicherlich mit dem Todesurteil enden würde und dass man ihn zu einem gewissen Schauprozess machen würde, [...] um damit klar herauszustellen, dass eben die DDR ein antifaschistischer Staat sei, in dem auch die Gräueltaten der Nazis eine entsprechende Sühne fänden.“16 Im Weiteren berichtete der Stasi - IM über Hinweise auf ehemalige Funktionäre des NS - Regimes in der DDR, die ja bekanntlich Unterschlupf in der Nationaldemokratischen Partei ( NDPD ) gefunden hätten, und er referierte Mutmaßungen über die Gründe für den Zeitpunkt des Prozesses, der offenbar gut in die politische Landschaft passe und angesichts der Frankfurter Auschwitz Prozesse ein positives Licht auf die ostdeutsche Strafverfolgungspraxis fallen lassen solle. Die Ausführungen schloss der IM, indem er den Personenkreis, aus dem heraus diese Äußerungen gefallen waren, näher identifizierte : Seine Gesprächspartner seien „Angehörige der medizinischen Intelligenz, der Sportärztlichen Beratungsstelle Berlin, Künstler, ein Regisseur sowie Studenten“. Nach dem Prozess gegen Fischer und dem gegen ihn verhängten Todesurteil nahm die aus Sicht der SED und des MfS kritische Stimmungslage weiter zu. Dass das Gericht dem Landarzt seine Tätigkeiten nach 1945 im Urteil nicht zugutegehalten hatte und stattdessen ausschließlich die Verbrechen des KZ - Arztes zur Sprache gekommen waren, empfanden viele Menschen rund um Fürstenwalde, aber – das zeigen die Herkunftsorte der Zuschriften – auch aus anderen Teilen des Landes als ungerecht. Die Unzufriedenheit über das Urteil ging sogar so weit, dass man sich in und um Spreenhagen überlegte, eine Unterschriftensammlung zugunsten des ehemaligen SS - Arztes zu organisieren. Der Rechtsanwalt Fischers, Dr. Wolfgang Vogel, wusste dies jedoch zu verhindern. 16 GM „Sulky“, Information über Meinungen zum Fischer - Prozess vom 23. 3. 1966 ( BStU, ZA, ZUV 84, HA Band 6, Bl. 248 f.). Folgendes Zitat ebd.

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Auch nach der Urteilsverkündung riss der Strom der Zuschriften an die Justizbehörden nicht ab. Zahlreiche Briefe gingen an die Generalstaatsanwaltschaft, das Oberste Gericht oder auch persönlich an die Justizministerin. In nicht - anonymisierten Briefen wurde darum gebeten, von der Vollstreckung der Todesstrafe abzusehen. Immer wieder wurde auch auf die im Rahmen der SEDKampagnenpolitik in Ostberlin verhandelten Schauprozesse gegen die bundesdeutschen Politiker Theodor Oberländer und Hans Globke ver wiesen. Diese beiden Schreibtischtäter seien doch nicht weniger verantwortlich für die Verbrechen des Faschismus, so die Argumentation, und hätten aber nur eine lebenslängliche Zuchthausstrafe erhalten – freilich in absentia. Auf Einwände gegen die Begründung des Strafurteils und Bitten einzelner Bürger, den Richterspruch auf dem Gnadenwege in lebenslängliches Zuchthaus zu ver wandeln, reagierte das Oberste Gericht der DDR mit ausführlichen Repliken. In einem exemplarischen Antwortschreiben des Gerichtspräsidenten Dr. Heinrich Toeplitz hieß es : Fischer habe im Ermittlungsverfahren bereits umfassend ausgesagt, daher sei der Einwand, er könne noch weitere wichtige Aussagen machen, für die Strafzumessung nicht ausschlaggebend. Es sei bei dem Urteil gegen Fischer auch „keine Rücksicht auf die westdeutschen Verhältnisse“ genommen worden, betonte Toeplitz und versicherte, die Gerichte der DDR sprächen ihre Urteile „ausschließlich auf Grund des vorliegenden Sachverhalts“ aus. Darüber hinaus bestehe zwar in der DDR keine Wiederholungsgefahr; allerdings sei schwer zu beurteilen, „was ein Fischer mit seinen KZ - Erfahrungen in der Bundesrepublik machen würde“, spekulierte der Präsident des Obersten Gerichts mit Blick auf die bundesdeutsche „Unterstützung der USA - Aggression in Vietnam“. Auch habe sich Fischer nach 1945 nicht um 180 Grad gewendet. Er habe sich vielmehr von der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR ferngehalten und mit Westdeutschland sympathisiert, erklärte Toeplitz einer Bürgerin, die sich in einem Schreiben für Fischer eingesetzt hatte.17 Unruhepotential drohte auch von einer anderen Seite. Der Tag der Urteilsverkündung gegen Fischer fiel zusammen mit der Eröffnung der Synode der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Halle. Angesichts einer lebhaften Diskussion über den Fischer - Prozess in den evangelischen Gemeinden der DDR sahen sich die dortigen Kirchenoberen genötigt, Stellung zum Urteil gegen eines ihrer Gemeindemitglieder zu nehmen. In einem von Lothar Kreyssig, dem Leiter der „Aktion Sühnezeichen“ und Altpräses der Landessynode, initiierten Antrag wurde dafür plädiert, das Urteil gegen Fischer „als Frage an das Gnadenamt der Kirche“ wahrzunehmen und zu prüfen, inwieweit eine Begnadigung zu einer lebenslänglichen Haftstrafe „der Sinnesänderung des Verurteilten Raum schaffen“ könne. Von Versöhnung sei keine Schuld ausgenommen, unterstrich Kreyssig.18 17 Toeplitz an Christa D. vom 7. 9. 1966 ( BStU, ZA, ZUV 84, BA / GA, Band 32, Bl. 18 f.). 18 Antrag Kreyssigs zur Generalaussprache, o. D. ( Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg, Rep. C 1, Provinzialsynode, 5. Synode, 4. Tagung). Zur frühen Haltung der evangelischen Kirche gegenüber den NS - Tätern vgl. Eike Wol-

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Die in dem Antrag formulierte Aufforderung nach Begnadigung Fischers löste eine heftige Diskussion in der Synode aus. Schließlich beschloss man, in besonderer Form zum Fall Stellung zu nehmen und ein „grundsätzliches Wort, das zu den Fragen, die der Prozess gegen Dr. Fischer unter uns Christen“ aufwerfe, an die Gemeindekirchenräte, Beiräte und Arbeitskreise der evangelischen Kirche zu leiten. Darin hieß es, dass jedes von ordentlichen Gerichten gegen NSVerbrecher ergangene Urteil alle Deutschen treffe, die während der nationalsozialistischen Zeit „das ihnen Mögliche nicht gesagt, versucht oder getan haben, dem Unrecht entgegenzutreten“. Allerdings, so der Hinweis der Synode, eröffne erst die Vergebung Gottes dem „Leben wieder Sinn und Hoffnung“. Keine Schuld sei hier von ausgeschlossen. Dies gelte auch demjenigen, der „mit schwerster Strafe büßen soll, was er für seine Person zu verantworten“ habe.19 Abschließend formulierte die Synode : „Uns allen aber gilt : Keiner halte sich selbst für schuldlos ! Jeder getröste sich der Vergebung ! Wohl dem, der im Gewissen dazu getrieben wird, sich wegen begangener Verbrechen auch den Gerichten zu stellen ! Brecht den Bann des Schweigens zwischen den Älteren, die damals versagt haben, und Jüngeren, die heimlich nach der Schuld ihrer Eltern fragen, damit Gott das Herz der Väter bekehre zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern, solange es Zeit ist ( Maleachi 3, 24).“ In seinem Schlusswort zum Ende der Synode berichtete der Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Johannes Jänicke, davon, dass er nach diesem Beschluss von einigen Synodalen um eine persönliche Petition für Fischer gebeten worden sei. Für ihn seien die Taten Fischers jedoch „zu ungeheuerlich und komplex“, als dass er diesem Wunsch habe entsprechen können.20 Wohlgemerkt : In den meisten Diskussionen nach der Urteilsverkündung ging es offenbar weniger um die Strafverfolgung an sich, als vielmehr um das Strafmaß. Man setzte sich für die Begnadigung Fischers und eine lebenslange Zuchthausstrafe ein. Ein Beispiel aus einem Brief an den Präsidenten des Obersten Gerichts sei hier angeführt : „Sehr geehrter Herr Präsident ! Im Zusammenhang mit der Verhandlung gegen Herrn Dr. med. Fischer und durch die mangelhafte und einseitige Information aus unserer Tagespresse sind Unklarheiten und Fragen bei mir aufgetaucht, um deren Klärung und Beantwortung ich Sie sehr eingehend bitte : gast, Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/46), Heidelberg 2001, S. 226 ff.; Clemens Vollnhals, Die Hypothek des Nationalprotestantismus. Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS - Verbrechen nach 1945. In : Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992), S. 51–69. 19 Protokoll des Theologischen und Berichtsausschusses der Synode der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen vom 30. 3. 1966 ( Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg, Rep. C 1, Provinzialsynode, 5. Synode, 4. Tagung). 20 Entschließung der Evangelischen Synode der Kirchenprovinz Sachsen in Halle vom 30. 3. 1966 ( BStU, ZA, ZUV 84, BA / GA, Band 32, Bl. 372); auch abgedruckt in Neue Zeit vom 7. 4. 1966.

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1.) Wie lebte und was und wie arbeitete Herr Dr. med. Fischer in der Zeit von 1945 bis 1965 ? 2.) Sind die Verbrechen des Angeklagten durch eine Todesstrafe zu sühnen ? 3.) Wo und unter welchen Umweltbedingungen lebte Herr Dr. Josef Streit [ der Generalstaatsanwalt der DDR, der die Anklage vertreten hatte ] in der Zeit von 1933 bis 1945, dass er nicht zu wissen scheint, wie leicht ein Mensch auf einen falschen Weg kommen kann, von dem es kein Zurück mehr gibt ? 4.) Wann, wie und wo werden bei uns in der DDR Todesurteile vollstreckt ?“ Der Schreiber fuhr fort : „Wem ist gedient oder wird geholfen durch ein Todesurteil ? Lassen Sie ihn weiterarbeiten ( evtl. im Krankenhaus einer Haftanstalt ) zum Nutzen unserer Gesellschaft. Wir sind stark genug zu verhüten, dass derartige Verbrechen wiederholt werden können“, war er sich sicher. „Gestatten Sie mir bitte noch eine abschließende Frage“, schloss der Briefschreiber an den Präsidenten des Obersten Gerichts : „Wie soll ich verstehen, dass ein Mensch 9 Monate in Untersuchungshaft gehalten wurde und innerhalb von ca. 14 Tagen abgeurteilt wird ?“21 Damit hatte der Autor dieses erstaunlichen Briefes eine ganze Reihe von heiklen Punkten angesprochen, die in der Bevölkerung diskutiert wurden und die SED, MfS und Justizbürokratie schließlich dazu zwangen, auf die damit zum Ausdruck gebrachte Stimmung zu reagieren. Mit Hilfe von „Auswertungsveranstaltungen“ versuchte man, die staatlicherseits als negativ bewerteten Diskussionen in andere Bahnen zu lenken. Die Zielgruppen waren dabei insbesondere Angehörige der medizinischen Berufe, ansonsten handelte es sich um öffentliche Veranstaltungen. Während dieser Foren traten Vertreter der am Prozess beteiligten Institutionen und Parteifunktionäre auf, um der Bevölkerung die offiziell erwünschte Sicht auf den Prozess näher zu bringen und über die Hauptschuldigen für die Verbrechen des NS - Staates zu informieren. Dabei handelte es sich aus Ostberliner Perspektive um die IG Farben. Bei dieser Art der Auswertung des Verfahrens ging es dann im Wesentlichen auch darum, eine direkte Linie aufzuzeigen, die von Auschwitz nach Bonn führte. Dies gelang mit den Veranstaltungen, die in zahlreichen Bezirken der DDR abgehalten wurden, aber nur unzureichend. Auch eine eigens organisierte Ausstellung mit dem Titel „Wenn Fischer kam, kam der Tod“, in der die Verbrechen der SS und die Mitverantwortung der IG Farben thematisiert wurden, änderte nichts an diesem Zustand. Die von der für die Untersuchung von NS - Verbrechen zuständigen MfS - Hauptabteilung IX /10 in Zusammenarbeit mit der Abteilung Agitation des MfS erarbeiteten Schautafeln wurden in einer Fürstenwalder Gaststätte gezeigt.22 21 Handakte Dr. Horst Fischer ( BArch, DP 3 IA – 3/66); sowie BStU, ZUV 84, BA / GA, Band 32. 22 Vgl. Handakte Dr. Horst Fischer, Bl. 567 ( BArch, DP3 IA – 3/66). Der Titel der Ausstellung war einer Aussage des Zeugen Rafal Dominic während der Hauptverhandlung im Fischer - Prozess entlehnt, der berichtet hatte : „Jedes Zusammentreffen mit Fischer

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Mitunter fielen der Partei - und Staatsführung die vergangenheitspolitischen Hinterlassenschaften aus der Besatzungszeit und der frühen DDR auch auf die eigenen Füße. So kamen im Zuge der Auswertungsveranstaltungen brisante Themen zur Sprache, über die man eigentlich nicht hatte reden wollen, etwa das Verschwinden von Familienangehörigen in den sowjetischen Speziallagern auf ostdeutschem Boden. Ein deutscher Opferdiskurs war sicherlich das letzte, was die SED in dieser Situation erreichen wollte. Die Reaktionen vieler Menschen in der ostbrandenburgischen Region ( und nicht nur dort ) auf den Fischer - Prozesses glichen gesellschaftlichen Eruptionen. Hier hatte sich einiges an Unmut über die neuerliche Strafverfolgung von NS Verbrechen aufgestaut, die zwanzig Jahre nach der Tatzeit wieder einsetzte. Die Forderungen nach einem Schlussstrich waren auch im Osten Deutschlands existent, allerdings verblieben sie in der Regel unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle. Eine derartige Forderung glich einem Tabubruch und stellte aus Sicht der SED und des MfS eine Gefahr für das antifaschistische Selbstbild des Arbeiter - und Bauernstaates dar. Gleichwohl gelang den staatlichen Organen der DDR die Kanalisierung der aufgebrachten Stimmungslage in der Bevölkerung nach dem Fischer - Urteil nicht. Zu registrieren ist des Weiteren, dass der antisemitische Wertekanon der NS - Volksgemeinschaft auch in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung nach wie vor virulent war. Die dahinter liegende Mentalität war aber ein gesamtdeutsches Phänomen als Reaktion auf die Intensivierung der justiziellen Ahndungsbemühungen in den 60er Jahren.

war ein Zusammentreffen mit dem Tode.“ Stenographisches Protokoll der Hauptverhandlung, 5. Verhandlungstag, 15. 3. 1966 ( BStU, ZA, ZUV 84, GA, Band 30, Bl. 314).

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„Über Auschwitz aber wächst kein Gras.“ Die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag Clemens Vollnhals

„Entschuldigen Sie“, rief Werner Maihofer nach mehreren Zwischenrufen aufgebracht, „über Mord wächst irgendwann einmal Gras, und zwar im Regelfall schon nach einer Generation. Über Auschwitz aber wächst kein Gras, noch nicht einmal in 100 Generationen.“1 Diese spontane Erwiderung fiel, als sich der Deutsche Bundestag am 29. März 1979 zum vierten Mal mit der Frage befassen musste, wie die Strafverfolgung von ungesühnten NS - Verbrechen mit den Gesetzesvorschriften zur Verjährung in Einklang zu bringen sei. Der frühere Bundesjustizminister Maihofer ( FDP ) vertrat in dieser Debatte eine differenzierte Position : Er unterschied zwischen Mord aus privaten Motiven, der gemäß althergebrachten Grundsätzen der Verjährung unterliege, und dem staatlich organisierten Massen - und Völkermord, für den es keine Verjährung geben dürfe. Der Bundestag lehnte diesen Antrag, der der Spezifik der NS - Verbrechen Rechnung trug, allerdings ab und beschloss am 3. Juli 1979 mit knapper Mehrheit (255 zu 222 Stimmen2), die Verjährung für Mord gänzlich aufzuheben. Damit folgte der Bundestag seiner alten Argumentationslinie, dass für die justizielle Bewältigung der NS - Verbrechen kein Sonderrecht geschaffen werden dürfe, obwohl allen Beteiligten ebendiese Verbrechen vor Augen standen. Mit der Zustimmung des Bundesrates am 7. Juli nahm das 16. Strafrechtsänderungsgesetz schließlich auch die letzte Hürde. Damit kam nach zwei Jahrzehnten eine quälende Debatte zum Abschluss, deren Verlauf den Wandel der politischen Kultur widerspiegelt : von einer trotzigen, moralisch verstockten Abwehrhaltung zum selbstkritischen Umgang mit der eigenen NS - Vergangenheit. Es war ein langer, steiniger und schmerzhafter Weg, bis die Einsicht reifte und im politischen Raum mehrheitsfähig wurde, dass die moralisch gebotene Ahndung der unge-

1

2

Rede Maihofers in der Bundestagssitzung am 29. 3. 1979. In : Zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen. Dokumentation der parlamentarischen Bewältigung des Problems 1960–1979. Hg. vom Presse - und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Bonn 1980, S. 510–519, hier 517. Von den ( nicht voll stimmberechtigten ) Berliner Abgeordneten stimmten 16 mit Ja und vier mit Nein. Vgl. Verjährung, S. 809. Die große Mehrheit der SPD und mehrere Abgeordnete der CDU und FDP sprachen sich für, die Mehrzahl der CDU / CSU und der Großteil der FDP - Abgeordneten gegen die Aufhebung der Verjährungsfrist aus.

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heuren NS - Verbrechen nicht am tradierten Rechtsinstitut der Verjährung scheitern dürfe.

1.

Die fatale Entscheidung : die Verjährung von Todschlag 1960

Mit der Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg hatte die Politik Ende 1958 ein Signal gesetzt, das nicht zuletzt gegenüber dem Ausland den energischen Willen zur Strafverfolgung der NS - Verbrechen dokumentieren sollte.3 Tatsächlich stieß die Tätigkeit der neuen Behörde auf vielfältige Widerstände und Hemmnisse, so dass der neuerliche Schub der Strafverfolgung im Wesentlichen dem unermüdlichen Engagement einiger Staatsanwälte und Justizpolitiker zu verdanken war. Zudem stand die Vorermittlungstätigkeit der Zentralen Stelle unter dem Vorbehalt der Ver waltungsvereinbarung, dass sie nur für die Aufklärung von Straftaten in Konzentrationslagern, Ghettos oder durch Einsatzgruppen „gegenüber Zivilpersonen außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen“ zuständig sein sollte, die außerhalb der alten Reichsgrenzen begangen worden waren. Auch sollte ihre Existenz nur von „vorübergehender Dauer“ sein. Schließlich liefen die im Strafgesetzbuch von 1871 verankerten Verjährungsfristen für Totschlag (15 Jahre ) im Mai 1960 und für Mord (20 Jahre ) fünf Jahre später ab.4 Für die systematische Ermittlung der zahllosen ungesühnt gebliebenen NS Verbrechen stand also nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung, zumal es innerhalb der FDP ( um den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion Erich Mende ) und der Deutschen Partei auch weiterreichende Pläne einer Generalamnestie für NSVerbrechen gab, die sich allerdings als illusorisch erweisen sollten.5 Denn zum Jahreswechsel 1959/60 erschütterte eine Welle antisemitischer Synagogen - und Friedhofsschändungen die Öffentlichkeit, was in zahlreichen besorgten Rundfunk - und Zeitungskommentaren als Ausdruck einer mangelnden gesellschaft3

4

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Zur Zentralen Stelle vgl. Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008; Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004, S. 146–186; Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS - Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001, S. 43–87. Als Erfahrungsbericht vgl. Barbara Just - Dahlmann / Helmut Just, Die Gehilfen. NS - Verbrechen und die Justiz nach 1945, Frankfurt a. M. 1988. Siehe auch den Beitrag von Annette Weinke in diesem Band. Aufgrund des Stillstandes der Rechtspflege im Dritten Reich ließ der bundesdeutsche Gesetzgeber die Verjährungsfristen mit dem 8. Mai 1945 beginnen ( § 69 StGB a. F.). Vgl. auch § 5 Abs. 1 des Ersten Gesetzes zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. 5. 1956 ( Bundesgesetzblatt, Teil I, S. 437 f.). Zu den unterschiedlichen Regelungen in den westlichen Besatzungszonen vgl. die Ausführungen in der Begründung des Initiativantrags des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg vom 14. 1. 1965. In : Verjährung, S. 63 f. Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 186 ff.

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lichen Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit gewertet wurde.6 Hinzu kamen die Debatte um die „ungesühnte Nazijustiz“, die eine Ausstellung des Sozialistischen Studentenbundes erstmals thematisierte,7 und die ostdeutsche Kampagne mit einem Schauprozess in absentia gegen den Vertriebenenminister Theodor Oberländer, die Anfang Mai 1960 zu seinem Rücktritt führte.8 All diese Ereignisse bewirkten eine gewisse Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Allerdings waren die großen Gerichtsverfahren – der Eichmann - und der Auschwitz - Prozess – noch nicht eröffnet, so dass die Verjährungsdebatte 1960 mehr ein interner Disput zwischen den zuständigen Rechtspolitikern, Ministerialbeamten und Justizstellen blieb. Die Initiative ergriff die SPD - Bundestagsfraktion, als sie am 23. März 1960 einen Gesetzesentwurf vorlegte, der die drohende Verjährung von Totschlag verhindern sollte. Der Vorschlag lautete die Verjährungsfrist nicht mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945, sondern erst am 15. September 1949, der Wahl des ersten Bundeskanzlers, einsetzen zu lassen. Zur Begründung hieß es, erst mit der Amtsaufnahme der Bundesregierung sei der Stillstand der Rechtspflege in „vollem Umfang“ überwunden gewesen.9 Diese Argumentation war historisch nur bedingt stichhaltig : Denn trotz aller im Antrag aufgeführten Hemmnisse hatten deutsche Gerichte in den Besatzungsjahren mehrere Tausend NS - Verfahren durchgeführt, während nach der Gründung der Bundesrepublik der Wille zur Strafverfolgung merklich nachließ.10 Der Antrag der SPD - Fraktion wurde vom Plenum des Bundestages am 4. Mai ohne Aussprache an den Rechtsausschuss überwiesen. Massive verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Verschiebung der Verjährungsfrist äußerte innerhalb der SPD - Fraktion vor allem Adolf Arndt, der als Kronjurist seiner Partei hohes Ansehen genoss, aber in dieser Frage überstimmt wurde. Obwohl als „Halbjude“ selbst verfolgt, vertrat Arndt unbeirrt die Auffassung : „Er persönlich nehme es lieber in Kauf, dass eine Reihe von Totschlägern straffrei bleibe, als dass an den Grundsätzen der Verfassung gerüttelt werde.“11 Ebenso argumentierte im Rechtsausschuss bei einer ersten Diskussion der Thematik Bundesjustizminister Fritz Schäffer ( CSU ), der einige Monate im KZ Dachau inhaftiert gewesen war : Eine Verschiebung der Verjährungsfrist sei 6 Vgl. Werner Bergmann, Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Schmierwelle im Winter 1959/60. In : ders./ Rainer Erb ( Hg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 253–277. 7 Vgl. Stepahn Alexander Glienke, Die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ (1959– 1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, Baden- Baden 2008. 8 Vgl. Philipp Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt a. M. 2000, S. 283–328. 9 Entwurf eines Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 23. 3. 1960. In : Verjährung, S. 10 f. 10 Vgl. den Beitrag von Edith Raim in diesem Band. 11 So Arndt auf der Sitzung des Rechtsausschusses am 17. 3. 1960. Zit. nach von Miquel, Ahnden, S. 196.

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„eine Verschlechterung der Rechtslage für den Täter. Es wäre gefährlich, einen solchen Weg zu beschreiten.“12 Das hohe Gut unbedingter Rechtssicherheit nach der Willkürherrschaft des Dritten Reiches war das zentrale Argument all jener, die sich für die Verjährung aussprachen und im Rechtsausschuss die Mehrheit stellten. Ebenso gab es einen breiten, alle Parteien übergreifenden Konsens, dass zur Ahndung der NS - Verbrechen kein Sonderrecht geschaffen werden dürfe. Als erstes Gremium votierte die Konferenz der Landesjustizminister am 8. April einstimmig ( bei einer Enthaltung ) für den Eintritt der Verjährung. Neben verfassungsrechtlichen Bedenken, dass eine Verschiebung der Verjährungsfrist gegen das im Grundgesetz verankerte Rückwirkungsverbot verstoße, argumentierte man vor allem mit der erfolgreichen Ermittlungstätigkeit der Zentralen Stelle. Sie habe die Voraussetzungen dafür geschaffen, „dass die bis dahin ungesühnt gebliebenen nationalsozialistischen Gewaltverbrechen systematisch, umfassend und rechtzeitig vor Eintritt der Verjährung aufgeklärt werden können“.13 Mithin bestand, so suggerierte die Presseerklärung, kein Grund zur Beunruhigung. Dabei handelte es sich um Wunschdenken, wenn nicht gar um eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit. Denn tatsächlich befand sich die systematische Ermittlungstätigkeit der Zentralen Stelle noch im Anfangsstadium, auch funktionierte die Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften keineswegs reibungslos. Nur bei „ganz wenigen“ von ihnen, so hatte sich der Leiter der Ludwigsburger Ermittlungsbehörde, Erwin Schüle, noch im Januar 1960 gegenüber dem baden - württembergischen Justizministerium beklagt, sei die Bereitschaft vorhanden, die Verfahren in ganzen Tatkomplexen zu ermitteln. Insgesamt habe sich die Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften in letzter Zeit „unerfreulich“ entwickelt.14 Aufgrund politischer Restriktionen im Gefolge der Hallstein - Doktrin hatte die Zentrale Stelle die umfangreichen Archivbestände in osteuropäischen Staaten, speziell in Polen und der Sowjetunion, aber auch der DDR, bislang nicht auswerten dürfen; selbst die in den USA archivierten Unterlagen standen ihr zum Zeitpunkt der Bundestagsdebatte nicht zur Verfügung.15 Weitgehend ohne Resonanz verblieben ein Protestschreiben des israelischen Justizministers, eine Petition von 49 Abgeordneten der britischen Labour und der Liberal Party sowie ein eindringliches Schreiben des Generalsekretärs des Internationalen Auschwitz - Komitees an den Bundestagspräsidenten und die Bundesregierung : „Soll nun in einer Woche ein solcher Zustand eintreten, dass ein SS - Mann, der Häftlinge in Auschwitz derart misshandelt hat, dass sie gestorben sind, wegen Verjährung nicht mehr verfolgt werden kann, nur weil erst jetzt 12 Ebd. 13 Presseerklärung der Justizministerkonferenz in Wiesbaden vom 8. 4. 1960. Zit. nach ebd., S. 198. 14 Schüle an baden - württembergisches Justizministerium vom 25. 1. 1960. Zit. nach Greve, Umgang, S. 90. 15 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 198 ff.

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Beweise für seine Verbrechen bekannt geworden sind ?“16 Einen Meinungsumschwung riefen diese Eingaben jedoch nicht hervor. Auch in der Presse waren kritische Stimmen nur selten zu vernehmen. Eine Ausnahme bildeten die Berichterstattung des Journalisten Thomas Gnielka in der linksliberalen „Frankfurter Rundschau“ und die Stellungnahmen von Ernst Müller - Meiningen jr. Letzterer kommentierte in der „Süddeutsche Zeitung“ am 7. Mai, dass „von jetzt ab eine wahrscheinlich in etliche Tausende gehende Zahl von bisher unbekannten Verbrechern [...] unverfolgt und ungestraft in unserer Mitte weiterleben kann“.17 Zwei Tage vor Ablauf der Verjährung, am 6. Mai, beschloss das Bundeskabinett unter Konrad Adenauer, den SPD - Antrag abzulehnen. In der Sitzung des Rechtsausschusses wenige Tage später stimmten die Abgeordneten der CDU / CSU, Deutschen Partei und FDP geschlossen gegen die Gesetzesinitiative : „Jede Verlängerung einer Verjährungsfrist, die auf in der Vergangenheit begangene Straftaten Anwendung finden soll, wäre eine rückwirkende Verschlechterung der Rechtsposition des Täters. [...] Auch wenn man in der Verjährung keine Einrichtung des materiellen Strafrechts sieht, wäre die Verfassungsmäßigkeit einer rückwirkenden Verlängerung der Verjährungsfristen zumindest zweifelhaft. Zahlreiche Mitglieder des Ausschusses vertraten den Standpunkt, dass die Verjährung als materielles Strafrecht oder als zugleich prozessrechtliche und materiellrechtliche Institution zu verstehen sei und dass deshalb eine rückwirkende Verlängerung nach Artikel 103 Abs. 2 des Strafgesetzbuches [ muss heißen : Grundgesetzes ] verfassungswidrig sei.“18 Diese Begründung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert : Zum einen hatte der SPD - Entwurf keine Verlängerung der Verjährungsfrist als solche, sondern nur eine zeitliche Verschiebung ihres Beginns vorgesehen : Also exakt jene juristische Konstruktion, die der Bundestag als kleinsten Kompromiss fünf Jahre später beschließen sollte, als 1965 die Verjährung von Mord anstand. Die SPD brachte darauf hin einen Änderungsantrag ein, der eine Verschiebung des Verjährungsbeginns auf den 30. Juni 1946 ( bzw. bei Verbrechen im Ausland auf den 30. Juni 1947) vorsah. Doch auch dieser Antrag sowie ein weiterer Kompromissvorschlag, die Fristhemmung nur bis zum 31. Dezember 1945 auszuweiten, wurden von der Mehrheit des Rechtsausschusses auf einer Sondersitzung am 20. Mai abgelehnt.19 In der Bundestagsdebatte am 24. Mai, deren Ausgang klar abzusehen war, stand der Initiator des SPD - Antrages, der am linken Spektrum beheimatete Abgeordnete Walter Menzel, auf einsamen Posten. Auch die am Vortag bekannt

16 Zit. nach Walter Menzel, der dieses Schreiben in seiner Bundestagsrede am 24. 5. 1960 zitierte. In : Verjährung, S. 23 f. Vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 5. 1960: „Auschwitz - Komitee an Schäffer“. 17 Süddeutsche Zeitung vom 7. 5. 1960 : „Es sind noch Totschläger unter uns“. 18 Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfrist vom 12. 5. 1960. In : Verjährung, S. 11–13, hier 12. 19 Zum Verlauf vgl. von Miquel, Ahnden, S. 204 f.; Änderungsantrag der SPD - Fraktion vom 18. 5. 1960. In : Verjährung, S. 14.

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gewordene Festnahme Adolf Eichmanns änderte daran nichts. Wenn die Verjährung eintrete, so beschwor Menzel die Abgeordneten, dann würden „alle jene, die ihm als Gehilfen oder Werkzeug, als Massentotschläger geholfen haben, ab morgen frei sein“.20 Eingehend befasste sich Menzel auch mit den verfassungsrechtlichen Bedenken des Rückwirkungsverbots und zitierte aus einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1952 den einschlägigen Satz : „Art. 103, Abs. 2 GG steht daher einem Gesetz, das die Bestimmungen über die Hemmung der Strafverfolgungsverjährung mit Wirkung auch für bereits begangene Taten ergänzt, nicht entgegen.“21 Mit anderen Worten : Das Bundesverfassungsgericht rechnete das Institut der Verjährung nicht dem materiellen Recht zu, das hinsichtlich des Straftatbestandes und der Strafandrohung dem Rückwirkungsverbot unterliegt, sondern zu den strafprozessualen Vorschriften. Diese klare und eindeutige Feststellung, die die zeitliche Festlegung der Verfolgbarkeit ( Verjährung ) von festgelegten Straftaten in das Ermessen des Gesetzgebers stellte, spielte in der gesamten Debatte jedoch kaum eine Rolle, obwohl den zuständigen Ministerialbeamten im Bundesjustizministerium die juristische Fragwürdigkeit ihrer Argumentation durchaus bewusst war.22 Zumal auch der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 22. April 1952 unmissverständlich festgestellt hatte : „Die Länge der gesetzlichen Verjährungsfrist ist nichts, worauf der Täter, der das Strafgesetz verletzt hat, einen unabänderlichen, verfechtbaren Anspruch gegen den Staat besäße. Ihre spätere gesetzliche Verlängerung verletzt das Verbot rückwirkender Bestrafung nicht.“23 Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Verve in der gesamten Debatte verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht wurden, die die obersten Bundesgerichte längst ausgeräumt hatten. Die Mehrheit des Bundestages folgte den Ausführungen von Bundesjustizminister Schäffer, der sich im Interesse der „inneren Befriedung“ für das pünktliche Eintreten der Verjährung aussprach und den Abgeordneten versicherte, „dass besonders in den letzten Jahren alles Menschenmögliche geschehen ist, um die Ermittlungen so weit vorwärtszutreiben, dass die Strafverfahren unbehelligt von der Verjährung zu Ende geführt werden können“. Eine Verschiebung sei überflüssig, da „alle bedeutsamen Massenvernichtungsaktionen der Kriegszeit systematisch erfasst und weitgehend erforscht sind. Die Gefahr, dass ein größerer Tatsachenkomplex aus diesem Bereich unentdeckt und deswegen ins20 Rede Menzels in der Bundestagssitzung am 24. 5. 1960. In : Verjährung, S. 17–24, hier 19. 21 Menzel zitierte aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 9. 1952 zum hessischen Ahndungsgesetz ( BverfGE, Band 1, S. 423). Vgl. auch Stefan Zimmermann, Strafrechtliche Vergangenheitsaufarbeitung und Verjährung : rechtsdogmatische und - politische Analyse mit vergleichenden Ausblicken nach Tschechien, Ungarn und Frankreich, Freiburg 1997, S. 77 ff. 22 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 196 ff. Dazu mag auch beigetragen haben, dass der maßgebliche Referent Eduard Dreher selbst als Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck Todesurteile beantragt hatte. Vgl. Greve, Umgang, S. 360 f. 23 Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Strafsachen, Band 2, S. 300.

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gesamt von der Verjährung bedroht ist, besteht nach meiner Überzeugung heute nicht mehr.“ Vielmehr hätten „das deutsche Volk und das deutsche Rechtssystem“, so Schäffer abschließend, „das Bestmögliche zur Verfolgung der Verbrechen aus der Nazizeit bereits getan“.24 Diese Auskunft überzeugte auch einige kritische Geister in der CDU - Fraktion. So gab Franz Böhm, der frühere Leiter der Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel und stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Wiedergutmachung, in einer bemerkenswerten Rede zu Protokoll : Er teile die Sorge der SPD - Fraktion und halte auch eine Verschiebung der Verjährung prinzipiell für rechtens. Es zähle allein die Frage, ob die großen Tatkomplexe noch rechtzeitig erfasst und durch richterliche Unterbrechung der Verjährung bewältigt werden könnten. Im Vertrauen auf die beruhigenden Auskünfte des Bundesjustizministers, der Landesjustizver waltungen und des Leiters der Zentralen Stelle habe er seine Skepsis abgelegt; andernfalls hätte er gemeinsam mit einigen Parteifreunden für den SPD - Antrag gestimmt.25 Die Entscheidung der breiten Mehrheit des Bundestages stand noch ganz in der Kontinuität der vergangenheitspolitischen Entscheidungen der 50er Jahre, für die auch Bundeskanzler Adenauer bürgte. Die Befürworter der Verjährung argumentierten mit dem hohen Gut des Rückwirkungsverbots und der Rechtssicherheit, die auch für NS - Verbrecher gelten müsse, wobei sich vielfältige Motive mischten : Persönliche Überzeugung und juristische Grundsatztreue, parteitaktische Rücksichtnahme auf die populäre Schlussstrich - Mentalität und gelegentlich wohl auch unverhohlenes Schielen auf den rechten Wählerrand. Die Auswirkungen dieser Entscheidung waren jedenfalls gravierend, stellte doch die Verjährung von Totschlag das größte Hindernis der weiteren Strafverfolgung dar. Sehr viele NS - Täter konnten nun nicht mehr belangt werden, da nur mehr eine Verurteilung bei Mord möglich war. Also nur noch, wenn der Angeklagte im Sinne des § 211 StGB vorsätzlich, grausam, heimtückisch oder aus niedrigen Beweggründen getötet hatte; waren diese Merkmale nicht nachweisbar, so galt die Tat als Totschlag, weshalb das Verfahren wegen eingetretener Verjährung eingestellt werden musste.26 Die letztlich fatale Entscheidung des Bundestages rief 1960 in der Öffentlichkeit keine große Aufmerksamkeit hervor; sie ging nahezu unbeachtet über die Bühne. Auch die führenden Tageszeitungen registrierten die Ablehnung des SPD - Antrages „allenfalls mit durchschnittlichem Interesse“.27 Allerdings markierte der SPD - Vorstoß das Ende des vergangenheitspolitischen Konsenses und der „schwarz - roten Abstimmungskoalition“, die die 50er Jahre so maßgeblich 24 Rede Schäffers in der Bundestagssitzung am 24. 5. 1960. In : Verjährung, S. 24–29, hier 27, 29. 25 Rede Böhms in der Bundestagssitzung am 24. 5. 1960. In : ebd., S. 30–35. 26 Statistische Angaben zu den Einstellungsverfügungen infolge der Verjährung von Totschlag liegen nicht vor. Fallbeispiel zur Rechtsprechung der Gerichte bei Greve, Umgang, S. 93 ff. 27 Von Miquel, Ahnden, S. 207.

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geprägt hatten.28 Ebenso signalisierten die Ausführungen Böhms einen aufbrechenden Dissens innerhalb der CDU - Fraktion, der 1965 offen zutage treten sollte.

2.

Die gescheiterte „Sternstunde“ des Parlaments : die Verschiebung der Verjährungsfrist für Mord 1965

1965 hatte sich die Welt grundlegend verändert, auch wenn dies die Bundesregierung Erhard lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Insbesondere in den USA und in Israel warnten einflussreiche jüdische Organisationen seit dem Frühjahr 1964 vor der drohenden Verjährung für NS - Verbrechen, was das außenpolitische Ansehen der Bundesrepublik wesentlich stärker zu schädigen drohte als die Kampagnen Ostberlins, die im Anfang Juli 1965 der Öffentlichkeit präsentierten „Braunbuch“ einen zwischenzeitlichen Höhepunkt fanden.29 Auch in der Bundesrepublik stießen die vielfach milden Urteile zunehmend auf Kritik. So hatte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bereits im März 1963 ein kritisches „Wort zu den NS - Verbrecherprozessen“ verabschiedet, das die „Zeit“ in vollem Wortlaut publizierte. Es forderte eine entschiedene Strafverfolgung zur Wiederherstellung des Rechts und beklagte die „noch immer fortdauernde Verwirrung der Gewissen in weiten Kreisen unseres Volkes“.30 Scharfe Kritik an der Gehilfenrechtsprechung übte vor allem der Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich - jüdische Zusammenarbeit.31 Und nicht zuletzt sorgte Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“, das zum meistgespielten Stück der Theatersaison 1963/64 avancierte, für eine erregte öffentliche Diskussion.32 All dies waren Anzeichen eines veränderten geistigen Klimas, einer größeren moralischen Sensibilität im Umgang mit der belastenden NS - Vergangenheit. 28 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996. 29 Braunbuch. Kriegs - und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin. Staat, Wirtschaft, Ver waltung, Armee, Justiz, Wissenschaft, Berlin ( Ost ) 1965. Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 224 ff., S. 249 ff. 30 In : Die Zeit vom 22. 3. 1964; Reinhard Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht. Mit einer Einleitung von Kurt Scharf, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, und einem Beitrag von Jürgen Baumann hg. von Dietrich Goldschmidt, Stuttgart 1964, S. 339–342. Zu der Diskussion um die EKD - Stellungnahme vgl. Weinke, Gesellschaft, S. 65 ff. 31 Vgl. Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich - jüdische Zusammenarbeit an alle Strafrechtler der deutschen Universitäten zu den Prozessen gegen nationalsozialistische Gewalttäter vom 12. 3. 1963. In : Henkys, Gewaltverbrechen, S. 346–349; Just Dahlmann / Just, Gehilfen, S. 161–167. Vgl. auch Greve, Umgang, S. 211 ff. 32 Vgl. Jan Berg, Hochhuths „Stellvertreter“ und die „Stellvertreter“ - Debatte. „Vergangenheitsbewältigung“ in Theater und Presse der sechziger Jahre, Kronberg / Ts. 1977. Zum Wandel des geistigen Klimas vgl. auch Clemens Vollnhals, Zwischen Verdrängung und Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. In : Ursula Büttner ( Hg.), Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 381–422.

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Gleichwohl sprachen sich im Oktober 1963 noch 54 Prozent und im Januar 1965 ( vor dem Hintergrund des Frankfurter Auschwitz - Prozesses ) 52 Prozent der Bevölkerung für einen Schlussstrich aus, während 34 bzw. 38 Prozent meinten, aufgespürte NS - Verbrecher müssten bestraft werden. Direkt auf die Verjährung angesprochen, plädierten im Januar 1965 60 Prozent der Befragten für und nur 29 Prozent gegen die Verjährung.33 Ungeachtet der zunehmenden internationalen Proteste, legte sich die Bundesregierung auf maßgebliches Betreiben des Justizministers Ewald Bucher (FDP ) allerdings darauf fest, die Verjährungsfrist für Mord nicht zu verlängern und mit einer stillen Lösung, das leidige Problem der NS - Prozesse aus der Welt zu schaffen. Zwar hatte sich Bundeskanzler Ludwig Erhard öffentlich für eine Verlängerung ausgesprochen, doch auf der Sitzung des Kabinetts am 5. November 1964 stimmten ihm nur zwei CDU - Minister34 zu, so dass sich die starre Haltung des Justizministers durchsetzte. Auch wollte man, wie Regierungssprecher von Hase erklärte, „auf alle Fälle“ verhindern, dass es im Parlament zu einer „kontroversen Diskussion“ komme.35 Zur diplomatischen Imagepflege publizierte das Justizministerium Mitte November eine stolze Erfolgsbilanz der Strafverfolgung.36 Zugleich wandte sich die Bundesregierung am 20. November 1964 mit einem Aufruf an die Weltöffentlichkeit : „Entschlossen, nationalsozialistisches Verbrechen zu sühnen und verletztes Recht wiederherzustellen, fordert die Regierung der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Tatsache, dass die Verjährung der vor dem 9. Mai 1945 begangenen Verbrechen aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht verlängert werden kann, nunmehr alle Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen im In - und Ausland auf, in ihrer Hand befindliches Material über Taten und Täter, die bisher in der Bundesrepublik noch nicht bekannt sind,“ der Zentralen Stelle in Ludwigsburg zur Verfügung zu stellen.37 Tatsächlich erfolgte dieser Aufruf und die Genehmigung von Recherchen in ostdeutschen und osteuropäischen Archiven viel zu spät; er sollte lediglich, wie jüdische Organisationen 33 Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann ( Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965–1967, Allensbach 1967, S. 165 f. 34 Laut einem Bericht des Spiegels („NS - Verjährung“) vom 16. 12. 1964 waren dies Theodor Blank ( Arbeitsminister ) und Paul Lücke ( Wohnungsbauminister ). Ehrhard hatte am 25. 9. 1965 auf einer Pressekonferenz erklärt : „Für mich wäre es unerträglich, wenn solche brutalen und gemeinen Massenmörder nicht mehr der Strafe unterworfen wären.“ Er wolle sich deshalb dafür einsetzen, „für bestimmte Kategorien von Morden generell die Verjährungsfrist“ zu erhöhen. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 26. 9. 1964 : „Längere Verjährungsfrist ?“. 35 So Regierungssprecher Karl - Günther von Hase im Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 13. 11. 1964, S. 1539. Vgl. auch Greve, Umgang, S. 293; von Miquel, Ahnden, S. 243. 36 Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten im Gebiet der Bundesrepublik seit 1945 (aktualisierte Fassung vom 26. 2. 1965 in : Verjährung, S. 88–143). Vgl. Frankfurter Rundschau vom 13. 11. 1964 : „Fast alle NS - Mörder bekannt“; Süddeutsche Zeitung vom 13. 11. 1964 : „Dokumentation über NS - Verbrechen“. 37 In : Verjährung, S. 141. Vgl. auch von Miquel, Ahnden, S. 235 ff.

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in den USA sofort mutmaßten, „der Bundesregierung ein Alibi verschaffen und die Schuld für das eventuelle spätere Auftauchen von bisher unbekannter Naziverbrecher anderen aufbürden“.38 Heftige Vorwürfe erhob auch der Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer - und Verfolgtenorganisationen (ZDWV ). „Wir erwarten“, so Georg Ott auf der Jahreshauptversammlung Anfang 1965, „dass die Verantwortlichen im Bundesjustizministerium und in den Länderministerien wegen ihrer Nachlässigkeit oder ihres Unvermögens bei der Aufklärung und Verfolgung der NS - Verbrechen in den letzten zehn Jahren zur Verantwortung gezogen werden.“ Es sei ganz offensichtlich, dass sich die Justiz der „naiven Illusion“ hingebe, „der Ablauf der Verjährungsfrist werde ohne jedes Aufsehen über die Bühne gehen“.39 Die Absicht der Bundesregierung, die Verjährung ohne eingehende Parlamentsdebatte einfach durchzuwinken, war jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits gescheitert. Widerstand regte sich nicht nur in der SPD - Fraktion, sondern auch innerhalb der CDU. Hier war es vor allem der junge Berliner CDU - Abgeordnete ( und spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts ) Ernst Benda, der die rechtspolitische Argumentation des Justizministers in Zweifel zog und eine eigene Gesetzesinitiative zur Fristverlängerung ankündigte.40 Auch führende Rechtswissenschaftler traten dafür ein, die Verjährungsfrist für Mord generell anzuheben. So hielt Günter Düring, Professor für Verfassungsrecht in Tübingen, Bucher vor, dass weder die „herrschende Lehre“ noch das Bundesverfassungsgericht von einem Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot ausgingen; die ständige Rede von der Verfassungswidrigkeit sei daher schlichtweg „unverständlich“.41 Noch im November publizierte Dietrich Strothmann in der „Zeit“ eine große Reportage mit dem Titel „Bleiben die Mörder unter uns ?“,42 ebenso kritisch äußerte sich Volker Hoffman in der „Frankfurter Rundschau“.43 Harsche Kritik am Kabinettsbeschluss übten auch die Leitartikel der großen Tageszeitungen – mit Ausnahme der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die im Namen der Rechtsstaatlichkeit jegliche Sonderregelung für NS - Täter ver warf und an dieser Auffassung konsequent festhalten sollte.44 Bemerkenswert war in diesem 38 So Botschafter Karl Heinrich Knappstein an das Auswärtige Amt vom 18. 12. 1964. Zit. nach von Miquel, Ahnden, S. 253. 39 Münchner Merkur vom 18. 1. 1965 : „‚Unvermögen der Justiz‘“. 40 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 11. 1964 : „Auch ein CDU - Abgeordneter gegen Verjährung“. Seine Rechtsposition erläuterte Ernst Benda in der Anfang 1965 erschienenen Schrift : Verjährung und Rechtsstaat. Verfassungsprobleme der Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen, Berlin 1965. 41 Frankfurter Rundschau vom 25. 11. 1964 : „Jurist widerspricht der Regierung“. Vgl. auch die Kritik des Strafrechtsprofessors Horst Schröder in der Frankfurter Rundschau vom 24. 11. 1964 : „Verjährungsfrist noch umstritten“ und die Stellungnahme des Hamburger Seminars für Strafrecht und Kriminalistik in : Die Zeit vom 5. 2. 1965 : „Verjährung: Frist verlängern !“. 42 Die Zeit vom 27. 11. 1964. 43 Frankfurter Rundschau vom 17. 11. 1964 : „Die Zahl der Täter ist nicht abzuschätzen“ und vom 20. 11. 1964 : „Das ‚Klassenziel‘ wurde nicht erreicht“. 44 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 11. 1964 : „Kein Sondergesetz“.

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Kontext die Haltung der „Welt“, dem Flaggschiff des Springer - Verlages. Hier kommentierte Gustav Trampe, bei diesem Thema sollte die „Frage der Ethik, der moralisch - politischen Sensibilität“ Vorrang haben, nicht das formaljuristische Rechtsverständnis des Bundesjustizministers.45 Die „moralische Notwendigkeit“ einer Fristverlängerung unterstrich auch Müller - Meiningen jr. in der „Süddeutschen Zeitung“.46 Die starre Haltung der Bundesregierung bereitete auch zahlreichen Abgeordneten Unbehagen und führte zu einem gemeinsamen Antrag der CDU / CSU und der SPD - Fraktion, dem sich bei der Abstimmung im Bundestag am 9. Dezember 1964 nur der Koalitionspartner FDP entschieden widersetzte. In seinem Beschluss forderte der Bundestag die systematische Auswertung aller verfügbaren Unterlagen ( insbesondere der osteuropäischen Archive ), eine Kompetenzerweiterung der Zentralen Stelle und die Vorlage eines Berichts der Bundesjustizministers bis zum 1. März 1965, „ob in allen in Betracht kommenden Mordfällen Ermittlungen eingeleitet sind und die Unterbrechung der Verjährung sichergestellt ist“.47 Diesem Beschluss, den man auch als Warnschuss verstehen kann, folgte am 19. Januar 1965 der angekündigte Gesetzentwurf Bendas, der eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord auf 30 Jahre vorsah und von 49, teils prominenten, CDU - Abgeordneten unterstützt wurde, was die Spaltung der Fraktion und die Distanz zur Haltung der eigenen Regierung dokumentierte.48 Bereits einige Tage zuvor hatte der Senat der Hansestadt Hamburg einen inhaltlich entsprechenden Initiativantrag im Bundesrat eingebracht, dem sich die ebenfalls SPD - geführten Länder Hessen und Berlin anschlossen.49 Justizminister Bucher drohte daraufhin in einem „Spiegel“ - Interview mit seinem Rücktritt, falls das Kabinett seine Entscheidung nachträglich revidiere.50 Zugleich erhöhte sich der internationale Druck, der sich in zahlreichen Protestkundgebungen und mehreren Parlamentsresolutionen äußerte,51 so dass Bundeskanzler Erhard am 24. Februar 1965 im Kabinett einen Kompromiss herbeiführte und durch den Regierungssprecher erklären ließ : Die Bundesregierung werde den Bundestag „in seinem Bemühen unterstützen, unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze eine Möglichkeit zu schaffen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird“. Mit dieser vagen „Willenserklärung“, die alles offen ließ, schob die Bundesre45 Die Welt vom 25. 11. 1964 : „Mord ohne Sühne“. Vgl. auch die Kommentare vom 26. 11. 1964 : „Missgriff“ und vom 9. 12. 1964 : „Verjährungsfrist“. 46 Süddeutsche Zeitung vom 14. 11. 1964 : „Verjährung der NS - Verbrechen ?“. 47 Antrag der Fraktionen der CDU / CSU, SPD betr. Verfolgung von NS - Mordtaten vom 8. 12. 1964. In : Verjährung, S. 50 f. 48 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 290 f. 49 Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Strafverfolgungsverjährung bei Mord und Völkermord vom 14. 1. 1965. In : Verjährung, S. 61–66. Zur Debatte im Bundesrat am 12. 2. 1965, ebd., S. 66–87. 50 Der Spiegel vom 27. 1965 : „‚Es ist unser Schicksal, mit Kaduks zu leben‘. Gespräch mit Bundesjustizminister Dr. Ewald Bucher“, S. 22–29, hier 22. 51 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 249–264.

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gierung die Verantwortung an das Parlament ab. „Das ist unser Richtlinienkanzler Ludwig Erhard, wie er leibt und lebt“, spottete die „Frankfurter Rundschau“, „alles andere, nur keine Entscheidung treffen !“52 Die umstrittene Verjährungsfrage nahm jetzt – anders als 1960, und nicht zuletzt aufgrund der massiven Proteste bei den westlichen Verbündeten – einen hohen Stellenwert in der politischen Berichterstattung ein. Allein in der Zeit vom 1. Januar bis 3. April 1965 publizierte die „Welt“ nicht weniger als 95 kleinere oder größere Meldungen, die „Süddeutsche“ 77, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 68 und die „Frankfurter Rundschau“ 66. Auch in den Kommentarspalten gab sich die „Welt“ mit 18 Leitartikeln am meinungsfreudigsten, gefolgt von je elf Kommentaren in der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Frankfurter Allgemeinen“ sowie der „Frankfurter Rundschau“ mit acht.53 Bemerkenswert war, dass sich neben der „FAZ“54 vor allem die linksliberale „Frankfurter Rundschau“ mehrfach gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist aussprach, was vor allem auf den Einfluss des innenpolitischen Ressortleiters Karl Hermann Flach, dem früheren FDP - Bundesgeschäftsführer, zurückzuführen sein dürfte : Jede Fristverlängerung sei eine Sondergesetzgebung, die mit dem Gedanken des Rechtsstaats unvereinbar sei und einen späten Sieg Hitlers darstelle. „Zwanzig Jahre nach seinem Selbstmord“ zwinge er „die demokratische Bundesrepublik noch zur Rechtsmanipulation.“55 Alle anderen meinungsführenden Zeitungen argumentierten gegenteilig und betonten vor allem die politisch - moralische Verpflichtung zur Ahndung der NSVerbrechen. „Die Kassandrarufe unter dem Motto ‚Rechtsstaat in Gefahr‘ sind unbegründet“, urteilte beispielsweise Müller - Meiningen jr. in der „Süddeutschen Zeitung“.56 Entsprechend war auch der Tenor der Berichterstattung im „Spiegel“, der „Zeit“ und dem konservativ - katholischen „Rheinischen Merkur“, ja selbst in der „Bild“ - Zeitung. Als Fazit lässt sich festhalten, dass diesmal die großen, meinungsbildenden Blätter mehrheitlich gegen die populäre Schlussstrich - Mentalität anschrieben und für eine weitere Strafverfolgung eintraten. Während sich in der Bevölkerung einer Umfrage der Tübinger Wickert - Institute zufolge 63 Prozent der Männer und 76 Prozent der Frauen dafür ausspra52 Frankfurter Rundschau vom 25. 2. 1965 : „Durch die Hintertür“. Vgl. auch Frankfurter Rundschau vom 26. 2. 1965 : „Streit um ‚Willenserklärung‘ zur Verjährungsfrage“. 53 Angaben nach Jörg Lesczenski, Verjährungsdebatten und öffentliche Meinung in der BRD. Die Diskussionen 1965 und 1979 im Spiegel ausgewählter Presseorgane, Magisterarbeit Bochum 1997, S. 74 f. Ich danke Herrn Lesczenski, dass er mir ein Exemplar zur Verfügung gestellt hat. Vgl. allg. Ulrich Kröger, Die Ahndung von NS - Verbrechen vor westdeutschen Gerichten und ihre Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit 1958 bis 1965 unter besonderer Berücksichtigung von „Spiegel“, „Stern“, „Zeit“, „SZ“, „FAZ“, „Welt“, „Bild“, „Hamburger Abendblatt“, „NZ“ und „Neuem Deutschland“, Diss. phil. Hamburg 1973. 54 Vgl. z. B. den Leitartikel des Mitherausgebers der FAZ Johann Reißmüller in der Ausgabe vom 25. 2. 1965 : „Das Grundgesetz ist auch ein Stück Moral“. 55 So Karl Hermann Flach in der Frankfurter Rundschau vom 11. 3. 1965. Zit. nach Lesczenski, Verjährungsdebatten, S. 78. 56 Süddeutsche Zeitung vom 19. 1. 1965 : „Verjährte Morde ?“.

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chen, mit der Verfolgung von Nazi - Verbrechern aufzuhören. „Das ist“, wie der „Spiegel“ bissig kommentierte, „fast die gleiche Mehrheit der Deutschen, die für die Todesstrafe für Taximörder und Sittenstrolche eintritt.“57 Wie sehr die Verjährungsfrage kritische Geister aus dem gesamten politischen Spektrum bewegte, zeigt die Dokumentation einer Umfrage, die Simon Wiesenthal im Frühjahr 1965 unter dem Titel „Verjährung ? 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sagen ‚Nein‘“ publizierte.58 Unter ihnen : die Schriftsteller Heimito von Doderer, Ingeborg Drewitz, Wolfgang Hildersheimer, Uwe Johnson und Hans Werner Richter; die Verleger Kurt Neven DuMont, Ernst Klett und Heinz Ullstein; die Professoren Wolfgang Abendroth, Iring Fetscher, Walter Jens, Golo Mann, Gotthold Rhode und der Nobelpreisträger Max Born; sowie die Theologen Martin Niemöller, Karl Rahner und Joseph Ratzinger. Große Aufmerksamkeit erzielte nicht zuletzt die von Horst Ehmke, damals Professor in Freiburg, initiierte Resolution von 76 Staats - und Strafrechtslehrern, die die konservative „Welt“ kurz vor der Bundestagsdebatte publizierte. Erklärten doch die Gelehrten, dass nach ihrer „wissenschaftlichen Überzeugung“ einer Verlängerung der laufenden Verjährungsfrist „keine verfassungsrechtlichen Bedenken“ entgegenstünden. Vielmehr machten die unter dem NSRegime begangenen zahllosen Mordtaten, insbesondere an den Juden, eine „Verlängerung der Verjährungsfrist aus Gründen der Gerechtigkeit unerlässlich. Die Unmöglichkeit, derart beispiellose Taten zu verfolgen, müsste das Rechtsbewusstsein aufs tiefste verletzen.“59 Am Vorabend der Debatte behandelte der „Spiegel“ das Thema in einer ausführlichen Titelgeschichte und publizierte zudem ein langes Interview mit Karl Jaspers, der bereits 1946 eine vielbeachtete Abhandlung zur Schuldfrage veröffentlicht hatte.60 Mit Verve argumentierte der Heidelberger Philosoph in dem Gespräch mit Rudolf Augstein, dass es für Völkermord, einem „Verbrechen gegen die Menschheit“, keine Verjährung geben könne. Der NS - Staat sei der Verbrecherstaat schlechthin gewesen, der „Verwaltungsmassenmord ein neues Verbrechen ohne Vorbild in der Geschichte“. Zur anstehenden Parlamentsdebatte erklärte Jaspers : Es dürfe jetzt nicht taktiert werden, vielmehr müsse „das allgemeine, sittlich - politische Bewusstsein“ entstehen : „Es ist ganz selbstverständlich – diese Art von Verbrechen, die uns hier deutlich gemacht sind, können keine Verjährung haben.“61 57 Der Spiegel vom 10. 3. 1965 : „Verjährung. Gesundes Volksempfinden“, S. 30–44, hier 31. 58 Frankfurt a. M. 1965. 59 In : Die Welt vom 8. 3. 1965 : „Appell an den Bundestag. Hochschullehrer fordern spätere Verjährung von NS - Verbrechen“. Zu den Unterzeichner zählten u. a. so prominente Juristen wie Otto Bachhof, Ernst Friesenhahn, Werner Maihofer, Claus Roxin und Hans Welzel. Zur juristischen Debatte vgl. Greve, Umgang, S. 308 ff. 60 Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, Heidelberg 1946; Neuausgabe : München 1965. 61 Der Spiegel vom 9. 3. 1965 : „Für Völkermord gibt es keine Verjährung. Gespräch mit dem Philosophen Karl Jaspers“, S. 49–71. Vgl. auch die Titelgeschichte „Verjährung. Gesundes Volksempfinden“, S. 30–44.

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Die Erwartungen und das öffentliche Interesse waren hoch gespannt, als der Bundestag am 10. März in die erste Beratung eintrat, die von Rundfunk und Fernsehen live übertragen wurde. Die SPD - Fraktion hatte sich erst spät festgelegt und präsentierte aufgrund interner Differenzen gleich zwei Gesetzesentwürfe : Der erste Antrag sah die generelle Aufhebung der Verjährung von Mord und Völkermord vor; der zweite zielte in dieselbe Richtung, verband dies aber, um den Bedenken Arndts Rechnung zu tragen, mit einer Änderung des Grundgesetzes, wozu eine ( politisch völlig unrealistische ) Zweidrittelmehrheit nötig gewesen wäre.62 Durch diese Anträge und den publizistischen Zuspruch ermutigt, brachte Benda ebenfalls am Vorabend der ersten Lesung mit 16 weiteren CDU - Abgeordneten einen neuen Antrag ein, der die Aufhebung der Verjährung im Zuge eines einfachen Gesetzgebungsverfahrens beinhaltete.63 Die siebenstündige Debatte wurde durch einen Bericht des Bundesjustizministers eingeleitet, der die umfassenden Ermittlungen der deutschen Justiz hervorhob, allerdings nicht mehr ausschließen konnte, dass nach Eintritt der Verjährung bisher unbekannte Verbrechen entdeckt werden könnten. Außer Bucher ergriff kein Minister das Wort, auch nicht Bundeskanzler Erhard. Dem „beredten Schweigen auf der Regierungsbank“64 stand die vom Fraktionszwang befreite Aussprache im Bundestag gegenüber. Ernst Benda plädierte, juristisch versiert, für die Aufhebung der Verjährung, was verfassungsrechtlich möglich sei. Abseits aller juristischen Spitzfindigkeiten müsse deshalb die Erwägung im Vordergrund stehen, „dass das Rechtsgefühl eines Volkes in unerträglicher Weise korrumpiert werden würde, wenn Morde ungesühnt bleiben müssten, obwohl sie gesühnt werden könnten“. In seiner später vielfach gewürdigten Rede, die Brücken bauen wollte, distanzierte er sich von national - apologetischen Tönen. Diese sollten freilich andere Abgeordnete, unter ihnen der CDU - Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel, in der Debatte bedienen. An den Schluss seiner Ausführungen stellte Benda ein Zitat aus der Gedenkstätte Yad Vashem : „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“65 Martin Hirsch, der die von der SPD eingebrachten Anträge begründete, lobte seinen Vorredner als „Sprecher unserer jungen deutschen Generation“, mit dem man sich in der Sache einig sei. Es liege „im Interesse des deutschen Vol62 Beide Anträge der SPD - Fraktion vom 9. 3. 1965. In : Verjährung, S. 145 f. Zur Diskussion innerhalb der SPD - Fraktion vgl. von Miquel, Ahnden, S. 293 ff. 63 Antrag der Abgeordneten Benda, Dr. Wilhelmi, Stingl und Genossen vom 9. 3. 1965. In: ebd., S. 144. Vgl. auch Ernst Benda, Bewältigung der Vergangenheit – die Verjährungsdebatte des 10. März 1965. In : Rainer Barzel ( Hg.), Sternstunden des Parlaments, Heidelberg 1989, S. 163–181. 64 So Benda, Bewältigung, S. 174. 65 Rede Bendas in der Bundestagssitzung am 10. 3. 1965. In : Verjährung, S. 152–166, hier 160, 166. Zur gesamten Debatte vgl. auch Greve, Umgang, S. 314 ff., und sehr kritisch in der Interpretation von Miquel, Ahnden, S. 96 ff. Wenig ergiebig ist die rechtshistorische Dissertation von Anica Sambale, Die Verjährungsdiskussion im Deutschen Bundestag. Ein Beitrag zur juristischen Vergangenheitsbewältigung, Halle ( Saale ) 2002.

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kes und auch der über wiegenden Mehrheit derer, die einmal Anhänger des Nationalsozialismus gewesen sind, wenn wir uns befreien von den Verbrechern, von den Mördern, und alles tun, um möglichst nicht mit den Mördern leben zu müssen“.66 Die Gegenposition vertrat erwartungsgemäß Justizminister Bucher: „Es ist meine Überzeugung, dass man dadurch, dass man den geltenden Gesetzen ihren Lauf lässt, letzten Endes auch der Gerechtigkeit am besten dient.“67 Diese Position stützte auch der frühere Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP ), der in einer respektablen Rede die „Qual des Gewissens“68 jedoch wesentlich glaubwürdiger darzustellen vermochte als Bucher, der selbst der NSDAP und der SA angehört hatte. Zu den Höhepunkten der Debatte zählten neben der Rede Bendas zweifellos die Ausführungen Adolf Arndts. Er warb als profilierter Jurist nicht nur für die Aufhebung der Verjährung im Zuge einer Grundgesetzänderung, sondern brach auch das individuelle Schweigen über die Vergangenheit. Die Behauptung, man habe nichts gewusst, sei eine nachträgliche Ausflucht. Eindringlich erklärte Arndt, der sich als junger Anwalt für verfolgte jüdische Mandanten eingesetzt hatte : „Ich weiß mich mit in der Schuld. Denn sehen Sie, ich bin nicht auf die Straße gegangen und habe geschrien, als ich sah, dass die Juden aus unserer Mitte lastkraftwagenweise abtransportiert wurden. Ich habe mir nicht den gelben Stern umgemacht und gesagt : Ich auch ! [...] Ich kann nicht sagen, dass ich genug getan hätte. Ich weiß nicht, wer das von sich sagen will. Aber das verpflichtet uns, das ist unser Erbe.“ Es gehe nicht allein um die Aburteilung der Mörder, „sondern wir haben auch den Opfern Recht zuteil werden zu lassen, schon allein durch den richterlicher Ausspruch, dass das hier ein Mord war. Schon dieser Ausspruch ist ein Tropfen, ein winziger Tropfen Gerechtigkeit, der doch zu erwarten ist zur Ehre aller derer, die in unbekannten Massengräbern draußen in der Welt liegen.“ Man dürfe dem „Gebirge an Schuld und Unheil“ nicht den Rücken kehren, vielmehr müssten sich die Abgeordneten dieser Last als „Kärner der Gerechtigkeit“ stellen.69 Kennzeichnend für die Aussprache war die moralische Ernsthaftigkeit, das persönlich glaubwürdige Ringen um Recht und Gerechtigkeit und der gegenseitig bezeugte Respekt der Diskutanten, weshalb diese Debatte später als „Sternstunde“ des Parlaments70 in die zeithistorische Erzählung einging, auch wenn 66 Rede Hirschs in der Bundestagssitzung am 10. 3. 1965. In : Verjährung, S. 166–173, hier 166, 172 f. Vgl. auch Martin Hirsch, Anlass, Verlauf und Ergebnis der Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag. In : Jürgen Weber / Peter Steinbach ( Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren ? NS - Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 40–50. 67 Rede Buchers in der Bundestagssitzung am 10. 3. 1965. In : Verjährung, S. 177–185, hier 181. 68 Rede Dehlers in der Bundestagssitzung am 10. 3. 1965. In : ebd., S. 193–199. 69 Rede Arndts in der Bundestagssitzung am 10. 3. 1965. In : ebd., S. 203–214, hier 213 f. 70 Vgl. z. B. Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutsches Bundestages, München 1999, S. 105; Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS - Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 188.

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es an apologetischen Untertönen in einigen Redebeiträgen nicht gefehlt hatte. Der eigentliche Wettstreit zwischen FDP und CSU um die rechtskonservative Wählerschaft fand allerdings nicht im Bundestag statt, sondern in Bierzelten und verräucherten Hinterzimmern lokaler Parteiveranstaltungen. Die „Zeit“ kommentierte denn auch auf der Titelseite : Das Parlament habe nach dem politischmoralischen Versagen der Regierung ein „unpopuläres Thema“ angepackt und es „mit Freimut und Verve“ diskutiert; es habe sich „ohne Vorbehalte und Winkelzüge der deutschen Vergangenheit gestellt“.71 Auch die westeuropäische Presse würdigte die Debatte sehr positiv,72 die parteiübergreifend einen neuen, selbstkritischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit anzukündigen schien. Über die Anträge stimmte der Bundestag in dieser Sitzung nicht ab, sondern überwies sie zur weiteren Beratung an den Rechtsausschuss. Der Bundesrat kam am 12. März zu der Auffassung, dass eine Strafverfolgung von noch nicht verjährten Mordtaten auch nach dem 8. Mai 1965 möglich sein müsse, legte jedoch keinen eigenen Gesetzesantrag vor.73 Im Rechtsausschuss verflüchtigte sich das hohe Pathos der Bundestagsdebatte. Als erstes lehnte die Mehrheit die beiden SPD - Anträge ab, weshalb Benda wieder auf die ursprüngliche Fassung seines Antrages zurückgriff, der eine Verlängerung der Verjährungsfrist um zehn Jahre vorgesehen hatte. Diese Fassung wurde als Entwurf eines Achten Strafrechtsänderungsgesetzes vom Rechtsausschuss mit knapper Mehrheit angenommen und sollte damit dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt werden.74 Ferner stimmte der Rechtsausschuss einem während der Beratungen erarbeiteten Gesetzesentwurf zu, der maßgeblich von Max Güde ( CDU ), dem früheren Generalbundesanwalt, vertreten wurde. Er konstatierte eine Hemmung der Strafverfolgung und sah eine Verschiebung des Verjährungsbeginns auf den 1. Januar 1950 vor. Erst ab diesem Zeitpunkt sei die deutsche Justiz berechtigt gewesen, auch NS - Verbrechen an Angehörigen der alliierten Nationen zu verfolgen, was im Wesentlichen der Begründung des gescheiterten SPD - Antrags von 1960 und einer neuerlichen Anregung Adenauers entsprach.75 Allerdings verfolgten die Verfasser, die zuvor vor allem als Verfechter für den Eintritt der Verjährung aufgetreten waren, noch ein anderes Ziel : Sie wollten eine weitgehende Amnestie für NS - Täter erreichen. So sollte nur noch bei „dringendem“, statt wie bisher hinreichendem Tatverdacht Anklage erhoben werden. Weiterhin sollten bei Beschuldigten, die „bei Begehung der Tat in untergeordneter Stellung Anweisungen oder Befehle von Vorgesetzen befolgt“ hatten und deren Schuld daher im Hinblick auf ihre „beschränkte Entschlussfreiheit erheblich 71

Die Zeit vom 19. 3. 1965 : „Strich unter die Vergangenheit ? Was die Bonner Verjährungsdebatte bedeutet“. 72 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 303. 73 Entschließung des Bundesrates am 12. 3. 1965. In : Verjährung, S. 86. 74 Zu den Beratungen im Rechtsauschuss am 18./19. 3. 1965 vgl. von Miquel, Ahnden, S. 305 ff.; Greve, Umgang, S. 318 ff., 323 ff. 75 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 3. 1965 : „Die Verjährungsfrist vor dem Rechtsausschuss“ und vom 20. 3. 1965 : „Nur noch Haupttäter sollen verfolgt werden“. Zur Haltung Adenauers vgl. Benda, Bewältigung, S. 170 f.

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gemindert“ sei, von einer Klageerhebung abgesehen und bereits laufende Prozesse durch Beschluss eingestellt werden; dies jeweils in Abstimmung zwischen dem zuständigen Generalstaatsanwalt und dem Oberlandesgericht.76 Im Lichte der mit großem Pathos geführten Bundestagsdebatte ist es höchst bemerkenswert, dass dieser Entwurf, der die Fristverschiebung mit einer verdeckten Amnestie für untergeordnete NS - Täter koppelte, auch die Zustimmung Bendas und der anwesenden SPD - Mitglieder des Rechtsausschusses fand. Es war, so von Miquel, ein „abenteuerliches Votum“, das die flammenden Reden im Bundestag weitgehend desavouierte.77 Die selektive Strafverfolgung sollte sich nach diesem Antrag auf nicht näher bestimmte „Haupttäter“ beschränken, was in der Bevölkerung gewiss wesentlich populärer war. Die Einschränkung des Legalitätsprinzips befür wortete auch ein Antrag des Landes Baden - Württemberg, den Ministerpräsident Georg Kiesinger ( CDU ) im Bundesrat begründete.78 All dies erweckt den Eindruck, dass manche Politiker, die bei anderer Gelegenheit mit großer Lautstärke ihre juristische Prinzipientreue verkündeten, doch ein sehr flexibles Verhältnis zum Recht besaßen. Wie die Abgeordneten in der entscheidenden Bundestagssitzung am 25. März votieren würden, war bis zum Vorabend trotz zahlreicher Beratungen in und zwischen den Fraktionen völlig offen. Alles schien auf eine Kampfabstimmung zwischen den Befürwortern einer Fristverlängerung von 20 auf 30 Jahre und jenen Abgeordneten hinzudeuten, die für eine Verschiebung des Verjährungsbeginns auf 1950 bei gleichzeitiger Einschränkung des Täterkreises waren. Ein eindeutiges Stimmungsbild gab es nur in der CSU und FDP, die entschieden an der bisher gültigen Frist festhielten und mit rechtspopulistischen Parolen auf Wählerfang gingen. Die Entscheidung führte schließlich eine Vereinbarung der Fraktionsführer von CDU / CSU, SPD und FDP am Tag der Abstimmung herbei. Dabei erreichte die SPD, dass die in ihrer Fraktion heftig umstrittenen Amnestiebestimmungen aus dem Antrag zur Fristverschiebung gestrichen wurden, während die CDU die Zusage erhielt, man werde den Gruppenantrag Bendas, den dieser trotz großen Drucks aus den eigenen Reihen aufrechterhalten hatte, nicht zu unterstützen. Auf kurzfristig anberaumten Fraktionssitzungen wurden die überraschten Abgeordneten vor der Bundestagssitzung über die Einigung informiert und auf Linie gebracht.79 Angesichts der neuen Lage blieb Benda nichts anderes übrig, als seinen Antrag zurückzuziehen; zumal nun auch Altkanzler Konrad Adenauer bei den Hinterbänklern für die Zustimmung zur

76 § 3 des Entwurfs eines Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen und zur Änderung des Strafverfahrensrechts. In : Verjährung, S. 254 ff. 77 Von Miquel, Ahnden, S. 307. Benda selbst übergeht in seiner Darstellung („Bewältigung der Vergangenheit“) die Beratungen im Rechtsausschuss. Auch Steinbach geht in seiner Darstellung der Verjährungsdebatten nicht darauf ein. Vgl. Peter Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, Berlin 1981, S. 54–68. 78 Vgl. Verjährung, S. 314 ff. 79 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 311 ff.

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Fristhemmung warb, die er seit längerem ins Spiel gebracht hatte : „Dann ist die Judenschaft zufrieden“, dann stehe der Bundestag „in der Weltöffentlichkeit und vor seinem eigenen Gewissen gerechtfertigt da“.80 Die Bundestagsdebatte am 25. März besaß keinen Glanz mehr. Ging es doch vor allem um die Rechtfertigung des gefundenen Kompromisses, weshalb die Notwendigkeit einer breiten, überparteilichen Konsenslösung umso mehr betont wurde. Dem in zweiter und zugleich dritter Lesung verabschiedeten „Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen“, das als Stichtag für den Beginn der Verjährungsfrist den 1. Januar 1950 festlegte und damit die strafrechtliche Verfolgung bis zum 31. Dezember 1969 verlängerte, stimmten bei vier Enthaltungen 361 Abgeordnete ( und 20 Berliner Abgeordnete ) zu, während 96 gegen den Gesetzesentwurf votierten.81 Von der SPD stimmten fast alle Abgeordnete für den Antrag, während sich 37 Abgeordnete aus CDU / CSU und 59 aus der FDP dagegen aussprachen. Aufgrund dieser Entscheidung trat Justizminister Bucher, der bereits im Vorfeld jegliche Veränderung abgelehnt hatte, von seinem Amt zurück und löste damit eine kurzfristige Koalitionskrise aus. Vor dem Hintergrund der im September anstehenden Bundestagswahl dürfte auch das passive Verhalten von Bundeskanzler Erhard und die öffentliche Zurückhaltung Adenauers, aber auch das Taktieren des SPD - Fraktionsführers Fritz Erler zu verstehen sein, der einer polarisierenden Kampfabstimmung im Parlament lieber aus dem Weg ging. Der neu ernannte Bundesjustizminister Karl Weber ( CDU ) hatte denn auch keine Probleme, den Bundestagsentschluss im Bundesrat als eine „verfassungsrechtlich meines Erachtens mögliche und einwandfreie Entscheidung“ zu vertreten. Denn damit blieben „nicht nur NS - Morde, sondern auch die schwersten Verbrechen, die an Deutschen im Zusammenhang mit ihrer Verfolgung aus der Heimat begangen wurden“, weiterhin „verfolgbar“.82 Gemessen an der mit großem moralischen und juristischen Pathos geführten Debatte vom 10. März, war das Ergebnis eine „mut - und kraftlose Lösung“83 – ein Kompromiss, der das grundsätzliche Problem lediglich um viereinhalb Jahre vertagte. Karl Jaspers zog denn auch in einer schonungslosen Analyse der politischen Rhetorik der Bundestagsdebatte das bittere Fazit : Es sei offenkundig, dass der Bundesrepublik das gemeinsame sittlich - politische Fundament immer noch fehle. Die Entscheidung für den „juristischen Trick“ der Fristverschiebung sei „die Preisgabe jeder grundsätzlichen Überzeugung“. Und über die Rolle 80 Protokoll der CDU / CSU - Fraktionssitzung am 25. 3. 1965. Zit. nach von Miquel, Ahnden, S. 313. 81 Verjährung, S. 311. Aus der FDP stimmten lediglich die Abgeordneten Oswald Kohut und Willy Rademacher zu. Dokumentation der Debatte, ebd., S. 257–311. Die Zustimmung des Bundesrates erfolgte am 9. 4. 1965. Abdruck des Gesetzes, ebd., S. 328. 82 Rede Webers auf der Sitzung des Bundesrats am 9. 4. 1965. In : ebd., S. 320–323, hier 320. 83 So urteilte schon Walter Lewald, der Herausgeber der Neuen Juristischen Wochenschrift: Die Bilanz der öffentlichen Verjährungsdebatte. In : Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/1965, S. 324–330, hier 330.

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Ernst Bendas urteilte er gar : „So konnte er den Weg zeigen oder den Weg sich zeigen lassen, der das Wider wärtige im Gewand eines großartigen sittlichen Aktes zu tun ermöglichte.“84 Auch wenn dieses harsche Verdikt den Intentionen Bendas gewiss nicht gerecht wird, so war doch die Enttäuschung und Verbitterung verständlich. Denn anstelle der ursprünglich beantragten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord hatte die vielzitierte „Sternstunde“ des Parlaments nur ein klägliches Ergebnis erbracht : den Kunstgriff der Fristhemmung, die – juristisch gesehen – keine Verlängerung, sondern nur eine Verschiebung des Verjährungsbeginns darstellte. Das Ergebnis kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ mit den Worten : „Ein beherzter Akt nationaler Selbstreinigung ist es nicht geworden. Nur ein Kompromiss.“85 Der Deutsche Gewerkschaftsbund bewertete die Entscheidung ebenfalls als eine unbefriedigende Übereinkunft, die dem hohen politischen und moralischen Niveau der ersten Bundestagsdebatte nicht gerecht werde. Dies war auch die Ansicht zahlreicher jüdischer Organisationen, während der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Hendrik van Dam, die Entscheidung ausdrücklich begrüßte.86 Ohne die massive Sorge um den drohenden außenpolitischen Reputationsverlust wäre die Zustimmung zu dieser Lösung, die innenpolitisch den kleinsten politischen Nenner bildete, gewiss noch verhaltener ausgefallen, wie die hohe Anzahl der Gegenstimmen ausweist. Allerdings wurde nunmehr der Personalbestand der Zentralen Stelle erheblich aufgestockt, was zu einer deutlichen Intensivierung der Strafverfolgung führte. So wurden von März 1965 bis Ende 1967 gegen mehr als 15 000 Personen neue Ermittlungsverfahren wegen Mord eröffnet; hinzu kamen 600 noch in Ludwigsburg anhängige Vorermittlungsverfahren87 – ein Anstieg, wie es ihn seit Gründung der Bundesrepublik nicht gegeben hatte. Zugleich nahm die Kritik an einer milden Urteilspraxis auch aus Reihen der Justiz zu. So verabschiedete der Essener Juristentag im September 1966 nach langem Ringen eine Erklärung, in der es hieß : „Die Bewährung der Rechtsordnung und der Schutz des menschlichen Lebens erfordern die Verfolgung und Bestrafung der NS - Gewaltverbrechen. Die Mitverantwortung der Gesellschaft für die geschehenen Verbrechen darf nicht dazu führen, dass gegenüber diesen Taten eine unangebrachte Milde geübt wird.“88

84 Karl Jaspers, Die Bundestagsdebatten vom 10. und 25. März 1965 über die Verjährung von Morden des NS - Staates. In : ders., Wohin treibt die Bundesrepublik ? Tatsachen – Gefahren – Chancen, München 1966, S. 47–123, hier 89, 114. 85 Süddeutsche Zeitung vom 26. 3. 1965 : „Das Verjährungsgesetz“. 86 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 3. 1965 : „Zwiespältiges Echo auf Verjährungsentscheidung“ und vom 30. 3. 1965 : „Über Verjährungsbeschluss enttäuscht“. 87 Angaben nach von Miquel, Ahnden, S. 318. Vgl. auch Weinke, Gesellschaft, S. 81 ff. 88 Verfolgung und Ahndung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Erklärung des 46. Deutschen Juristentages vom 27. 9. 1966. In : Just - Dahlmann / Just, Gehilfen, S. 261– 264, hier 263. Zum Diskussionsverlauf und der positiven Presseresonanz vgl. Greve, Umgang, S. 230 ff.; Weinke, Gesellschaft, S. 110 ff.

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Verlängerung und „kalte Verjährung“ : die Verjährungsdebatte 1969

1969 musste sich der Bundestag zum dritten Mal mit der Problematik auseinandersetzen. Denn weder hatte sich die Hoffnung erfüllt, fast alle NS - Verbrechen bis zum Ablauf der Verjährungsfrist am 31. Dezember aufklären zu können, noch ließ der außenpolitische Druck nach. Vielmehr hatte die Vollversammlung der Vereinten Nationen im November 1968 die „Konvention über die Nichtanwendbarkeit der gesetzlichen Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verabschiedet, was die Position der Bundesrepublik nachhaltig unter Druck setzte.89 Nicht zuletzt in Hinblick auf die internationale Öffentlichkeit hatte der sozialdemokratische Bundesjustizminister Gustav Heinemann bereits im August 1968 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der auf die Aufhebung der Verjährung für Mord ( § 211 StGB ) und Völkermord ( § 220a StGB ) abzielte. Innerhalb der Großen Koalition unter Georg Kiesinger gingen die Meinungen jedoch weit auseinander, so dass der Entwurf mit Rücksicht auf die Stimmungslage in der CDU / CSU monatelang nicht im Kabinett behandelt wurde. In der CDU / CSU, die sich auch durch die Erfolge der NPD am rechten Wählerrand unter Druck gesetzt sah, kursierten verschiedene Modelle, die die außenpolitisch gebotene Fristverlängerung oder Aufhebung der Verjährung mit einer Teilamnestie für NS - Gehilfen verknüpfen wollten. So präsentierte etwa der frühere Bundesjustizministers Richard Jaeger ( CSU ) im Februar 1969 den Vorschlag : Alle Strafverfahren, bei denen keine höhere Strafe als vier Jahre Zuchthaus zu erwarten seien, einzustellen und folgerichtig auch alle Mordgehilfen zu amnestieren, die bis zu vier Jahre Zuchthaus verurteilt worden waren. Diesem Vorschlag schloss sich der CDU - Parteivorstand an.90 Andere Politiker wie Güde und Bucher warben weiterhin für den Eintritt der Verjährung und wussten dabei die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. So sprachen sich im April 1969 55 Prozent der Befragten für eine fristgemäße Verjährung von NS - Morden aus, während gleichzeitig 71 Prozent gegen eine Verjährung von Taxi - und Sexualmorden waren.91 Aber auch innerhalb und zwischen den Parteien gingen die Meinungen im Vorfeld der parlamentarischen Debatte stark auseinander. Für den Entwurf Heinemanns waren, so die Einschätzung Dietrich Strothmanns, der für die „Zeit“ zahlreiche NS - Prozesse beobachtete, im April „fast alle SPD - Abgeordneten, mit Ausnahme zum Beispiel 89 Vgl. von Miquel, Ahnden, S. 323 f. Nach Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts. Allerdings stieß die in der Konvention geforderte Aufhebung auch bereits abgelaufener Verjährungsfristen auf große Vorbehalte, weshalb sich zahlreiche westliche Staaten der Stimme enthalten hatten. 90 Vgl. Der Spiegel vom 21. 4. 1969 : „Verjährung. Um die Ecke“. Vgl. auch Greve, Umgang, S. 356 ff.; von Miquel, Ahnden, S. 344 ff. 91 Angaben nach Die Zeit vom 18. 4. 1969 : „Verfolgt in alle Ewigkeit ? Unter den Verjährungsstreit muss ein Schlussstrich gezogen werden“.

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von Adolf Arndt, einige CDU - Mitglieder wie der Bundesinnenminister Benda und manche Freie Demokraten; gegen seinen Plan sind geschlossen die CSU, große Teile der CDU und der FDP“.92 Andererseits blieb die massive Kritik des Auslands nicht ohne Eindruck, zumal die Sowjetunion seit Herbst 1969 ihre Archive für die Zentrale Stelle geöffnet und Polen die Übersendung von Belastungsmaterial gegen 40 000 mutmaßliche NS - Täter angekündigt hatte. Am 23./24. April beriet das Bundeskabinett verschiedene Vorschläge einer „differenzierenden Lösung“ für NS - Gehilfen, denen sich aber Justizminister Horst Ehmke ( SPD ) als Nachfolger Heinemanns vehement widersetzte und sogar mit seinem Rücktritt drohte.93 Nach langer, kontroverser Debatte verabschiedete das Kabinett schließlich bei einer Gegenstimme den Entwurf Heinemanns und leitete ihn umgehend dem Bundesrat zu.94 Einen inhaltlich entsprechenden Initiativantrag hatte bereits Anfang März das Land Hamburg im Bundesrat eingebracht und damit auch die Bundesregierung unter Zugzwang gesetzt. Im Bundesrat wandte sich Ehmke nochmals entschieden gegen eine gesetzliche Normierung einer differenzierenden Strafverfolgung zwischen „Hauptschuldigen“ und „kleinen Gehilfen“, wofür insbesondere das Land Baden - Württemberg und die Bayerische Staatsregierung plädierten. In expliziter Wiederaufnahme der 1965 gescheiterten Lex Güde erklärte Ministerpräsident Hans Filbinger ( CDU ), dass „Täter mit geringerer Schuld von der Verfolgung ausgenommen werden“ sollten.95 Dass Filbinger selbst als Marinerichter an drei Todesurteilen mitgewirkt hatte, weshalb er 1978 zurücktreten musste, gibt diesem Plädoyer einen besonderen Beigeschmack. Als der Bundestag am 11. Juni 1969 zusammentrat, lagen ihm drei verschiedene Gesetzesentwürfe vor : Der Antrag der Bundesregierung, dem der Bundesrat auf seiner Sitzung am 9. Mai mehrheitlich zugestimmt hatte, der aber in gewisser Weise schon überholt war. Denn am Vorabend der Beratung hatte die SPD - Fraktion einen Entwurf eingebracht, nach dem Völkermord nicht verjähren sollte, alle anderen Mordtaten – also auch die NS - Gewaltverbrechen – aber nach 30 Jahren.96 Die CDU / CSU - Fraktion verfolgte dieselbe Intention, nur lehnte sie ihren Antrag an die am 9. Mai 1969 vom Bundestag beschlossene große Strafrechtsreform an, die im Oktober 1973 in Kraft treten sollte.97 In dieser Reform hatte der Bundestag für künftige Taten ( also nicht für NS - Gewaltverbrechen ) die Verjährung von Völkermord aufgehoben und bei Mord die Verjährungsfrist auf 30 Jahre festgelegt. Die CDU / CSU wollte das Inkrafttreten dieser Bestimmungen nun vorziehen und die Verjährungsfrage von NS - Verbrechen damit im Rahmen der Strafrechtsreform regeln. Im Unterschied zu den frühe92 Ebd. 93 Vgl. Der Spiegel vom 28. 4. 1969 : „Verjährung. Dicke Fälle“; von Miquel, Ahnden, S. 348 ff. Dagegen stimmte CSU - Postminister Werner Dollinger. 94 Entwurf eines Neunten Strafrechtsänderungsgesetzes. In : Verjährung, S. 363 ff. 95 Rede Filbingers auf der Bundesratssitzung am 9. 5. 1965. In : ebd., S. 375. 96 Antrag der Fraktion der SPD vom 10. 6. 1969. In : ebd., S. 380. 97 Antrag der Fraktion der CDU / CSU vom 10. 6. 1969. In : ebd., S. 379.

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ren Debatten spielten verfassungsrechtliche Bedenken nur noch eine untergeordnete Rolle, da das Bundesverfassungsgericht im Februar 1969 in einer eindeutigen Entscheidung die 1965 beschlossene Fristverschiebung für verfassungskonform erklärt hatte. Die dadurch „bewirkte Verlängerung der Verjährungsfristen“, so der Kernsatz, „verstößt nicht gegen den Art. 103 Abs. 2 GG“.98 Überschattet wurde die Verjährungsdebatte von der Novellierung des § 50 Abs. 2 StGB, die seit Oktober 1968 im Rahmen des unscheinbaren Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten in Kraft getreten war und eine „kalte Verjährung“ für Mordgehilfen bewirkte : „Fehlen besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände ( besondere persönliche Merkmale), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern.“99 Diese Bestimmung hatte für NSG - Verfahren weitreichende, vom parlamentarischen Gesetzgeber nicht bedachte Auswirkungen. Denn die zwingende Strafmilderung für Mordgehilfen führte in NSG - Verfahren zu einer Veränderung der Verjährungsfristen, sofern der Gehilfe selbst nicht aus niedrigen Beweggründen und ohne Täterwillen gehandelt hatte. Die Milderung lebenslanger Haft bedeutete, dass eine zeitige Freiheitsstrafe zu verhängen war, die höchstens 15 Jahre betragen durfte. Derartige Strafen unterlagen jedoch der 1960 wirksam gewordenen Verjährung. In der Praxis bedeutete dies, dass in solchen Fällen Mordgehilfen strafrechtlich nicht mehr zu belangen waren, deren Verjährungsfrist erst nach dem 8. Mai 1960 durch richterliche Handlungen unterbrochen worden war. Adalbert Rückerl, der Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle, kommentierte denn auch entsetzt : „Die Kleinen, die geschossen haben, kriegt man über Heimtücke oder Grausamkeit wohl auch weiter ran. Aber die Großen, die die Morde ja nicht eigenhändig begangen haben, sind nur zu belangen wegen Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen. Da man ihnen diese Beweggründe selbst aber heute kaum nachweisen kann, sind sie es, die jetzt am besten dran sind.“100 Diese kleine Gesetzesänderung führte zur Amnestierung von zahlreichen NSGehilfen, zumal der 5. Senat des Bundesgerichtshofes in einer umstrittenen Entscheidung am 20. Mai 1969 die Auslegung der niedrigen Beweggründe als täterbezogenes Merkmal bekräftigte und die Einstellung eines NSG - Verfahrens wegen Verjährung anordnete.101 Davon profitierten vor allem Schreibtischtäter, bei denen es sich nach der Rechtsprechung lediglich um Mordgehilfen handelte, 98 Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 2. 1969. In : ebd., S. 329–345, hier 338. 99 Zit. nach Greve, Umgang, S. 359. Dort auch ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte und der Auswirkungen auf die weitere Strafverfolgung. Vgl. auch von Miquel, Ahnden, S. 327 ff. 100 Zit. nach Der Spiegel vom 13. 1. 1969 : „NS - Verbrechen. Kalte Verjährung“. 101 Zum BGH - Urteil ( Neue Juristische Wochenschrift 1969, S. 1181 ff.) vgl. Greve, Umgang, S. 376 ff. Pressekommentare : Frankfurter Rundschau vom 21. 5. 1969 : „Zufall“; Süddeutsche Zeitung vom 22. 5. 1969 : „Chance für Mordgehilfen“; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 5. 1969 : „Spielraum eingeengt“.

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da sie schließlich auf Befehl gehandelt hätten. So brach etwa das große, penibel vorbereitete Berliner Ermittlungsverfahren gegen Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes, der Zentrale des NS - Terrors, kurz vor der Anklageerhebung zusammen. „Die Verfolgung zahlreicher NS - Verbrechen wurde vereitelt, langjährige Ermittlungen zunichte gemacht.“102 Die Frage, ob es sich bei der Novellierung des § 50 Abs. 2 StGB um eine gesetzgeberische Panne handelte, deren Folgen weder gewollt noch absehbar gewesen seien, so Justizminister Ehmke im Bundestag,103 oder um eine „Amnestie durch die Hintertür“, die von einigen Referenten im Bundesjustizministerium absichtlich herbeigeführt wurde, ist bis heute umstritten. Angesichts des großen juristischen Sachverstands der Ministerialbürokratie erscheint die Version eines ungewollten Versehens allerdings wenig überzeugend.104 Jedenfalls dürfte die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vielen Abgeordneten in der CDU / CSU - Fraktion die Zustimmung zur Fristverlängerung erleichtert haben. Die Aussprache eröffnete Bundesjustizminister Ehmke mit einem Plädoyer für den Antrag der Bundesregierung, wobei er ausdrücklich betonte, dass die Aufhebung der Verjährung für Völkermord für die Verfolgung von NS - Verbrechen „keine praktische Bedeutung“ besitze. Dieser Straftatbestand, der erst 1954 in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde, sei aufgrund des Rückwirkungsverbotes nicht auf NS - Gewaltverbrechen anwendbar, die allein nach dem Tatbestand des gemeinen Mordes verfolgt werden könnten.105 Eindeutig wandte sich Ehmke gegen eine gesetzlich geregelte Differenzierung der an NS - Gewaltverbrechen beteiligten Personen, da in der juristischen Praxis längst so verfahren werde, wobei er auch auf die umstrittene Entscheidung des Bundesgerichtshofes zur Auslegung des § 50 Abs. 2 StGB einging, die vom Gesetzgeber so nicht gewollt gewesen sei. Namens der CDU / CSU - Fraktion sprach sich der ehemalige Bundesjustizminister Richard Jaeger für eine Verlängerung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre aus und rückte ebenfalls die moralische Verpflichtung in den Vordergrund : „Ein ungesühnter Massenmord schreit nach meiner Überzeugung zum Himmel. Ein Volk, das freiwillig mit erkannten Massenmördern zusammenlebt, würde sein Gesicht verlieren, nicht nur gegenüber dem Ausland, auch gegen sich selbst.“ Zur umstrittenen Entscheidung des Bundesgerichtshofes, die er im Prinzip begrüßte, bemerkte er, diese Auswirkung auf die Verjährungsfristen für Gehilfen habe der Gesetzgeber bei der Novellierung nicht beabsichtigt. Die BGH - Entscheidung habe „alles überholt, was in meiner Fraktion und in der 102 Gerhard Werle / Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz - Urteils, München 1995, S. 26. 103 Rede Ehmkes in der Bundestagsdebatte am 11. 6. 1969. In : Verjährung, S. 385. Vgl. auch die Ausführungen des früheren Bundesjustizministers Jaeger, ebd., S. 398 f. 104 Vgl. Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS - Täter in der Bundesrepublik, München 1994, S. 434 ff.; Hubert Rottleuthner, Hat Dreher gedreht ? In : Rechtshistorisches Journal, 20 (2002), S. 665–679; Greve, Umgang, S. 358 ff.; von Miquel, Ahnden, S. 333 ff.; Weinke, Gesellschaft, S. 135 ff. 105 Rede Ehmkes in der Bundestagssitzung am 11. 6. 1969. In : Verjährung, S. 381–390, hier 382.

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Öffentlichkeit an Erwägungen angestellt worden ist. So konnten wir auf einen solchen Gesetzgebungsvorschlag verzichten, weil der Bundesgerichtshof eine Unterscheidung getroffen hat.“106 Mit Verweis auf die eben verabschiedete Strafrechtsreform warb auch Martin Hirsch als Sprecher der SPD - Fraktion für die Fristverlängerung auf 30 Jahre, um NS - Täter nicht besser zu stellen. Zugleich appellierte er an die Justiz, Schreibtischtäter häufiger als Täter und nicht als Gehilfen zu beurteilen, um die Folgen der fatalen BGH - Entscheidung abzumildern.107 Abschließend erklärte Hermann Busse für die FDP - Opposition, dass seine Fraktion eine rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist aus rechtsstaatlichen Gründen weiterhin ablehne, wofür er von der rechtsextremen Presse viel Beifall erhielt.108 Nach dieser relativ kurzen Aussprache verwies der Bundestag die drei Anträge zur weiteren Beratung an den Rechtsausschuss. In der Presse galt die sich abzeichnende Kompromisslösung als ein „vertretbares Ende“ der Debatte, auch wenn etwa, wie Müller - Meiningen jr. in der „Süddeutschen“ kommentierte, die Aufhebung der Verjährung konsequenter wäre.109 Die Gegenposition nahm in der Publizistik seit langem Friedrich Karl Fromme von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein. Aber auch er hielt die Verlängerung für einen „hinnehmbaren Kompromiss“, mit dem der Verjährungsstreit „jetzt zu einem nicht guten aber doch erträglichen Ende“ komme. Er warnte allerdings hellsichtig : „Ein Verjährungskarussell, das 1979 wieder in Gang gesetzt würde, würde die Entscheidung von jetzt der Schmach des schieren Opportunismus preisgeben.“110 Während die „Frankfurter Rundschau“ kritisch bemerkte : „Aber das Ringen um die bestmögliche Formel war nicht das, was es hätte sein sollen : die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Eher musste man den Eindruck gewinnen, nur allzu viele der mitredenden und mithandelnden Politiker hätten an nichts mehr Interesse, als mit diesen leidigen Kapiteln möglichst schnell und geräuschlos zu Ende zu kommen.“111 Generell überwog in den Presse - und Rundfunkkommentaren die Erleichterung, dass sich die Große Koalition noch vor dem anstehenden Bundestagswahlkampf auf einen Kompromiss geeinigt hatte, „der zwar nicht voll befriedigt, aber immerhin akzeptabel erscheint“.112

106 Rede Jaegers in der Bundestagssitzung am 11. 6. 1969. In : ebd., S. 390–401, hier 393 f., 399. 107 Rede Hirschs in der Bundestagssitzung am 11. 6. 1969. In : ebd., S. 401–407. 108 Rede Busses in der Bundestagssitzung am 11. 6. 1969. In : ebd., S. 408–412. Vgl. z. B. Deutsche Nationalzeitung vom 20. 6. 1969 : „Feste Ver wurzelung im Recht und der Rechtsidee“. 109 Süddeutsche Zeitung vom 12. 6. 1969 : „Der Verjährungs - Kompromiss“. Vgl. auch Die Welt vom 11. 6. 1969 : „Das letzte Wort“. 110 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 6. 1969 : „Dreißig Jahre – List der Vernunft“. 111 Frankfurter Rundschau vom 12. 6. 1969 : „Die moralische Antwort blieb aus“. 112 Deutschland - Funk vom 11. 6. 1969. Zit. nach Rolf Vogel ( Hg.), Ein Weg aus der Vergangenheit. Eine Dokumentation zur Verjährungsfrage und zu den NS - Prozessen, Frankfurt a. M. 1969, S. 192. Dort auch zahlreiche weitere Kommentare.

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Im Rechtsausschuss unternahm eine Minderheit um den Abgeordneten Güde einen letzten erfolglosen Versuch, doch noch eine gesetzlich geregelte Freistellung der kleinen Täter, der sogenannten Gehilfen, vom Verfolgungszwang zu erreichen, also die Masse der Beihilfetaten verjähren zu lassen.113 Stattdessen entschied sich der Rechtsausschuss mehrheitlich für den SPD - Antrag, die Verjährungsfrist auf 30 Jahre festzulegen. Am 26. Juni 1969 debattierte der Bundestag den Entwurf in zweiter und dritter Lesung, wobei sich in einer kurzen Aussprache vor allem die Befür worter der Verjährung zu Wort meldeten. So erklärte Friedrich Zimmermann namens der CSU und Bucher für die FDP, dass ihre Fraktionen gegen Entwurf stimmen werden. Von 411 voll stimmberechtigten ( und 21 Berliner ) Abgeordneten votierten in namentlicher Abstimmung 279 ( und 18 Berliner ) für das Neunte Strafrechtsänderungsgesetz, 126 ( und zwei Berliner ) dagegen, ferner gab es fünf Enthaltungen.114 Im Vergleich zu 1965 hatte damit die Befür wortung einer weiteren Strafverfolgung von NS - Verbrechen merklich abgenommen. Neben nahezu allen FDP - Abgeordneten sprach sich auch fast die Hälfte der CDU / CSU - Fraktion gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist aus; weiterhin hatten 61 FDP - und CDU / CSU - Abgeordnete an der Sitzung erst gar nicht teilgenommen. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 10. Juli 1969 ohne Diskussion und Gegenstimmen zu, das nach der Verkündung im Gesetzblatt am 6. August in Kraft trat.

4.

Resümee

Überblickt man die Verjährungsdebatten der 60er Jahre, so zeigt sich ein beklemmendes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, das den gesellschaftlichen Widerwillen gegen eine konsequente Strafverfolgung der NS - Täter widerspiegelt. Die populäre Schlussstrich - Mentalität, die ihren Blick lieber nach vorn richtete, bedeutete allerdings keine Rechtfertigung der Täter, sondern ist als Ausdruck sozialpsychologischer Verdrängungs - und Abwehrmechanismen zu verstehen. Klaus Harpprecht beschrieb diese Reaktion 1965 unter Bezug auf den Auschwitz - Prozess : „So tief ist die Betroffenheit, die bohrende Qual, ist das Leiden an dem Entsetzen, das der Prozess vor uns ausbreitet, dass ein erschreckend hoher Prozentsatz der Bevölkerung keinen anderen Rat weiß, als sich in die Forderung zu flüchten, nun müsse ‚endlich Schluss‘ sein. [...] Sie billigen die Scheußlichkeiten nicht, sie rechtfertigen nicht die Verbrechen, und es wäre ungerecht, sie einer heimlichen Sympathie mit den Mördern zu verdächtigen. Es ist die eigene Betroffenheit, die sie zu defensiven Gesten herausfordert, es ist die

113 Vgl. Bericht des Rechtsausschusses vom 19. 6. 1969. In : Verjährung, S. 413 ff.; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 6. 1969 : „Justizminister Ehmke zur Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen. Neuer Vorschlag Güdes“. 114 Verjährung, S. 434. Dokumentation der Debatte, ebd., S. 419–434. Verzeichnis der namentlichen Abstimmung in : Vogel ( Hg.), Weg, S. 186 ff.

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Furcht vor dem eigenen Anteil an der kollektiven Verantwortlichkeit [...], die sie mit Trotz, Misstrauen und vielleicht sogar mit einem neuen heimlichen Hass erfüllt.“115 Die Ablehnung weiterer NS - Prozesse beruhte auf der stillen Übereinkunft, die Gegenwart nicht mit bohrenden Fragen nach der individuellen Schuld und Verantwortung jedes Einzelnen zu belasten, was als indirektes Eingeständnis einer kollektiven Verstrickung in den Nationalsozialismus interpretiert werden kann. Die lautstarke Kritik an der alliierten Siegerjustiz, der beständige Verweis auf die „Verbrechen anderer“ und das selbst im Krieg erlittene Leid war ein Reflex kollektiver Abwehr und entsprang nicht zuletzt einem gedemütigten Nationalgefühl, dem Stigma, Angehöriger einer Nation zu sein, die beispiellose Verbrechen begangen hatte. Zugespitzt formuliert : Die deutsche Nachkriegsgesellschaft stand noch weithin „im Schatten der Volksgemeinschaft“,116 was angesichts der trägen Beharrungskraft kollektiver Mentalitäten nicht verwunderlich ist. Die Auseinandersetzung mit der ( eigenen ) NS - Vergangenheit war deshalb von einer charakteristischen Kluft zwischen der offiziellen politisch - moralischen Distanzierung und dem Fortleben zählebiger Stereotypen und verharmlosenden Erzählungen im familiär - privaten Geschichtsbewusstsein geprägt. Wie eine Umfragereihe des Emnid - Instituts belegt, sprachen sich noch 1978 mehr als zwei Drittel der 65 - Jährigen und älteren Jahrgänge dafür aus, „einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen“, während fast 40 Prozent der bis 40Jährigen für eine Weiterverfolgung von NS - Verbrechen votierten. Ein Jahr später stimmte jedoch, unter dem Eindruck starker Betroffenheit durch die Fernsehserie „Holocaust“,117 erstmals die Hälfte der Befragten für eine Weiter verfolgung der NS - Verbrechen. In allen Umfragen lag der Prozentsatz der Befürworter bei den Jüngeren deutlich höher als bei den Älteren, was im Kontext einer generell kritischeren Sicht auf die NS - Vergangenheit im Zuge des Generationenwechsels zu sehen ist.118 Bei Gründung der Bundesrepublik hatten rund zwei Drittel der über 15 - jährigen Bevölkerung ihre politische Sozialisation noch während der Weimarer Zeit oder im späten Kaiserreich erfahren; ihr Anteil sank bis Ende der 70er Jahre auf fast ein Viertel. Die Generation der nach 1935 Geborenen, die unter bundesdeutschen Nachkriegsverhältnissen

115 Klaus Harpprecht, Die Deutschen und die Juden. In : Die Neue Gesellschaft, 12 (1965), S. 703–710, hier 709. 116 So eine Kapitelüberschrift bei von Miquel, Ahnden, S. 143. Vgl. auch Barbara Wolbring, Nationales Stigma und persönliche Schuld. Die Debatte über Kollektivschuld in der Nachkriegszeit. In : Historische Zeitschrift, 289 (2010), S. 325–364. 117 Vgl. Peter Märthesheimer / Ivo Frenzel, Im Kreuzfeuer : Der Fernsehfilm Holocaust. Eine Nation ist betroffen, Frankfurt a. M. 1979. 118 Emnid - Info, Nr. 11/12 (1978), S. 9 ff., und Nr. 2 (1979), S. 11 ff. Angaben nach Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung als Problem unserer politischen Kultur. Einstellungen zum Dritten Reich und seine Folgen. In : Jürgen Weber / Peter Steinbach ( Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren ? NS - Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 145–163, hier 158.

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politisch sozialisiert wurde, stellte 1968 etwas mehr als ein Drittel, zehn Jahre später die Hälfte und 1986 57 Prozent der Bevölkerung.119 In diesem Umfeld beschloss der Bundestag 1979 die endgültige Aufhebung der Verjährung für Mord, was bereits der Antrag der SPD - Fraktion und der Gruppenantrag Bendas aus Reihen der CDU 1965 zum Ziel gehabt hatten. Im parlamentarischen Raum war jedoch jeweils nur die kleinstmögliche Lösung durchsetzbar – und dies nicht zuletzt aus Sorge um die außenpolitische Reputation der Bundesrepublik. Das moralisch Gebotene wurde zwar in den großen Debatten mit Emphase betont, doch zu einem eindeutigem Votum des Gesetzgebers fehlte es der bekundeten Einsicht in den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch lange an der nötigen Kraft, vielleicht auch am politischen Gestaltungswillen. Insofern spiegelten die eingegangenen Kompromisse in den Verjährungsdebatten der 60er Jahre auch das gesellschaftliche Klima wider, das in der großzügigen Gehilfenrechtsprechung und den ständigen Vorstöße der Amnestielobby zugunsten der „kleineren“ NS - Täter seinen Ausdruck fand. Bei aller Kritik, die aus zeitgenössischer Sicht am schärfsten und moralphilosophisch überzeugend von Karl Jaspers vorgetragen wurde, darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich der Bundestag auch mit seinen halbherzigen Entscheidungen jeweils gegen die vorherrschende Stimmung der bundesdeutschen Bevölkerung stellte. Erst 1979 stimmten im Zuge des Generationenwechsels Souverän und Volksvertreter in der Auffassung überein, dass es für die Massenverbrechen des Nationalsozialismus, „diese Freveltaten wider die Menschlichkeit“,120 keine Verjährung geben könne. Es war ein langwieriger, schmerzvoller Prozess gesellschaftlicher Selbstvergewisserung von bemerkenswerter Dauer und Intensität, bis sich ein tiefgreifender Einstellungswandel in breiten Kreisen der Gesellschaft vollzogen hatte und die Erkenntnis des verbrecherischen Charakters des Nationalsozialismus die weitere Strafverfolgung von NS - Tätern zwingend geboten erscheinen ließ.

119 Vgl. Peter Reichel, Politische Kultur der Bundesrepublik, München 1981, S. 112; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, S. 62. 120 So der CDU - Abgeordnete Erik Blumenfeld in der Bundestagssitzung am 29. 3. 1979. In: Verjährung, S. 574.

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Die Rezeption von NS - Prozessen in Österreich durch Medien, Politik und Gesellschaft im ersten Nachkriegsjahrzehnt Claudia Kuretsidis - Haider

Die Hauptlast der Ahndung von NS - Verbrechen in Österreich trugen zwischen 1945 bis 1955 österreichische „Volksgerichte“, die nicht nach alliierten, sondern nach österreichischen Gesetzen Recht sprachen. Es handelte sich dabei um eine Sondergerichtsbarkeit auf der Basis von Sondergesetzen, die jedoch über weite Strecken unabhängig von direkter Beeinflussung durch die alliierten Besatzungsmächte und deren Gerichtsbarkeit agieren konnte. Nach der Abschaffung der Volksgerichtsbarkeit 1955 ( nach Abzug der Alliierten bzw. dem Abschluss des Staatsvertrages, der die Souveränität der Republik Österreich festlegte ) und der Übertragung der Ahndung von NS - Verbrechen an die ordentliche Gerichtsbarkeit gab es nur noch wenige Urteile : 23 477 in den Jahren zwischen 1945 und 1955 stehen 35 nach 1955 gegenüber. Das letzte Urteil datiert aus dem Jahr 1975. Seit diesem Zeitpunkt ist die Ahndung von NS - Verbrechen fast völlig zum Erliegen gekommen.1 Die 1998 gegründete „Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz“2 fokussiert ihre Forschungs - und Dokumentationsarbeiten in erster Linie auf die Ahndung von NS - Verbrechen durch die Volksgerichte. Das liegt einerseits daran, dass die 137 829 Verfahren archivarisch kaum erschlossen waren (und teilweise auch noch sind ), dass gerade jene frühen Aktenbestände einem starken Zerfall preisgegeben waren ( weshalb durch die mit einer formalen und inhaltlichen Erschließung verbundene Mikroverfilmung einer großen Anzahl ausgewählter Prozesse eine Nutzung für die wissenschaftliche Forschung auf Dauer gewährleistet werden kann ) und dass diese frühen Prozesse kaum in der wissenschaftlichen Forschung rezipiert worden waren. Mittler weile ist es gelun-

1

2

Vgl. Claudia Kuretsidis - Haider, Die strafrechtliche Verfolgung von NS - Verbrechen durch die österreichische Justiz. In : Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching (Hg.), Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS - Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009, S. 74–83. Vgl. Claudia Kuretsidis - Haider, Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. In : Finger / Keller / Wirsching ( Hg.), Vom Recht zur Geschichte, S. 238–242.

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gen – nicht zuletzt durch die Tätigkeit der Forschungsstelle und ihren Publikationen – viele Forschungs - und Dokumentationslücken zu schließen. Während also die frühen NS - Prozesse in Österreich mittler weile vergleichsweise gut dokumentiert sind, bestehen für die Verfahren nach 1955 noch zahlreiche Desiderate. Zwar wurden die großen, mit Urteil abgeschlossenen Prozesse in mehreren wissenschaftlichen Aufsätzen dargestellt,3 doch viele Hundert, teilweise sehr umfangreichen Ermittlungsverfahren sind bis heute noch nicht vollständig aufgearbeitet. In Summe sind die österreichischen Nachkriegsprozesse mittler weile allerdings gut dokumentiert. Eine gesellschaftspolitische Einordnung in die österreichische Nachkriegsgeschichte ist bislang aber nur in Ansätzen erfolgt. Ein Projekt der Forschungsstelle beschäftigte sich zwischen 2001 und 2004 mit der „Entwicklung der rechtlichen Grundlagen, dem öffentlichen Echo und der politischen Auseinandersetzung um die Ahndung von NS - Verbrechen in Österreich“. Eine Publikation der Endergebnisse ist aus finanziellen Gründen bislang nicht erfolgt. Für die Zeit der Volksgerichtsbarkeit hat der Journalist Hellmuth Butter weck Zeitungsberichte zu einer großen Anzahl von Prozessen ausgewertet und auszugsweise publiziert,4 für die Verfahren nach 1955 liegt von Sabine Loitfellner eine Materialsammlung vor.5 Der nachfolgende Aufsatz kann die bestehenden Forschungslücken nicht füllen, sondern greift u. a. auf die Ergebnisse des genannten Projekts, an dem die Autorin als Sachbearbeiterin mitarbeitete, zurück,6 und beschränkt sich außerdem auf die Zeit zwischen 1945 und 1955, als der Großteil der NS - Prozesse in Österreich stattfand.

1.

Sondergesetze und Volksgerichtsbarkeit

1.1

Die Diskussion um die Bestrafung von NS - Verbrechen im Provisorischen Kabinettsrat

Bezugnehmend auf die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943, verkündete die österreichische Provisorische Regierung in ihrer Regierungserklärung vom 27. April 1945, dass „jene, welche [...] ein Regime der Gewalttätigkeit, des Spitzeltums, der Verfolgung und Unterdrückung [...] aufgerichtet und erhalten, welche das Land in diesen abenteuerlichen Krieg gestürzt und es der Ver wüs3 4 5 6

Vgl. beispielsweise Thomas Albrich / Winfried Garscha / Martin Polaschek ( Hg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht – Der Fall Österreich, Wien 2006. Hellmut Butter weck, Verurteilt & begnadigt. Österreich und seine NS - Straftäter, Wien 2003. Vgl. http ://www.nachkriegsjustiz.at / prozesse / geschworeneng / rezeption.pdf [ download 23. 2. 2010]. Vgl. außerdem Claudia Kuretsidis - Haider, „Das Volk sitzt zu Gericht“. Österreichische Justiz und NS - Verbrechen am Beispiel der Engerau - Prozesse 1945–1954, Wien 2006.

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tung preisgegeben haben, auf keine Milde rechnen können“. Den „Mitläufern“ hingegen wurde versichert, dass jene, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen und in die Gemeinschaft des österreichischen Volkes zurückkehren wollten, nichts zu befürchten haben würden.7 Bereits drei Tage später, am 30. April 1945, präsentierte Staatssekretär Adolf Schärf ( SPÖ ) in der zweiten Sitzung des Kabinettsrates den Entwurf eines sogenannten Verbotsgesetzes. In der daran anschließenden Diskussion trat Staatskanzler Karl Renner ( SPÖ ) für ein „Verbot der Nationalsozialisten“ ein.8 Die kommunistischen Staatssekretäre Johann Koplenig und Franz Honner forderten für jene, die sich weiter nationalsozialistisch betätigten, die Todesstrafe.9 Zudem sollte ein „Volksgerichtshof beim Justizamt“ eingerichtet werden.10 Zur Ausarbeitung des Gesetzes wurde ein Komitee gebildet, das dem Proporz entsprechend aus Vertretern der drei Gründungsparteien der Zweiten Republik – SPÖ, ÖVP und KPÖ –, darunter den Staatssekretären für Justiz (Dr. Josef Gerö11, parteilos ) und Inneres ( Franz Honner, KPÖ ) bestand. Ergebnis war der Vorschlag eines „Verfassungsgesetzes über das Verbot der NSDAP“ – als „Vergeltungsgesetz“ bezeichnet.12 Adolf Schärf und Josef Gerö erhielten die Ermächtigung, die endgültige Fassung des Gesetzes vorzubereiten und präsentierten diese in der vierten Sitzung des Kabinettsrates, der das Verbotsgesetz am 8. Mai – wenige Stunden vor der Kapitulation der Wehrmacht – beschloss.13 Die Bezeichnung „Vergeltungsgesetz“ war mittler weile wieder fallen gelassen worden. Staatssekretär Ernst Fischer ( KPÖ ) mahnte an, dass das Verbotsgesetz durch ein Gesetz „gegen die Schwerstverbrecher der NSDAP, die Kriegsverbrecher“, die grundsätzlich zum Tode verurteilt werden sollten, ergänzt werden müsse.14 An einem Entwurf dafür wurde bereits seit Amtsantritt von Justiz - Staatssekretär Gerö intensiv gearbeitet. Begleitet wurde die Arbeit an einem sogenannten 7 StGBl., Nr. 3/45, 1. Stück, Regierungserklärung vom 27. 4. 1945. 8 Gertrude Enderle - Burcel / Rudolf Jeřábek / Leopold Kammerhofer ( Hg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1, Horn 1995, S. 6 f. 9 Ebd., S. 140, sowie Adolf Schärf, Zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Österreichs Einigung und Wiederaufrichtung im Jahre 1945, Wien 1950, S. 105. 10 Enderle - Burcel / Jeřábek / Kammerhofer, Protokolle des Kabinettsrates, S. 9 f. 11 Der parteiunabhängige, aber der SPÖ zugerechnete Dr. Josef Gerö war zwischen dem 27. 4. und dem 20. 12. 1945 Staatssekretär für Justiz und anschließend bis 11. 10. 1949 sowie vom 1. 9. 1952 bis zum seinem Tod am 28. 12. 1954 Bundesminister für Justiz. 1938 als Erster Staatsanwalt im österreichischen Justizministerium tätig, wurde Gerö nach dem „Anschluss“ in Schutzhaft genommen. In der Folge war er mehrere Monate Häftling in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald. Auf eigenes Ersuchen wurde der nach den „Nürnberger Gesetzen“ als „Halbjude“ Geltende, nach seiner Entlassung in den Ruhestand versetzt. Nach dem Attentat auf Adolf Hitler im Juli 1944 befand er sich noch einmal für kurze Zeit in Haft. 12 Enderle - Burcel / Jeřábek / Kammerhofer, Protokolle des Kabinettsrates, S. 14. 13 Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP ( VerbotsG – VG ). In: StGBl., Nr. 13/45 vom 6. 6. 1945, 4. Stück. 14 Enderle - Burcel / Jeřábek / Kammerhofer, Protokolle des Kabinettsrates, S. 24.

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Kriegsverbrechergesetz ( KVG ) von heftigen Diskussionen um die Formulierung mancher Paragrafen. Als besonders umstritten erwiesen sich die in einigen Paragrafen enthaltene rückwirkende Bestrafung einiger Delikte sowie die Legitimation der Schaffung eines eigenen Sondergesetzes zur Ahndung von NS Verbrechen, die kollektive Bestrafung einzelner Personengruppen sowie die Verhängung der Todesstrafe.

1.2

Auseinandersetzungen um das Verbotsgesetz

Das am 8. Mai 1945 verabschiedete „Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP“ ( Verbotsgesetz – VG )15 erklärte im § 1 die NSDAP, ihre Wehr verbände, Gliederungen und angeschlossenen Verbände sowie alle sonstigen nationalsozialistischen Organisationen und Einrichtungen für aufgelöst und verbot ihre Neubildung. § 3 VG untersagte jegliche nationalsozialistische Betätigung. Als Höchststrafe für den Verstoß dagegen war die Todesstrafe vorgesehen. Die „Illegalen“ ( jene, die bereits zwischen dem 1. Juli 1933, dem Tag der Wirksamkeit des Verbots der NSDAP in Österreich durch das Dollfuß - Regime am 20. Juni 1933, und dem 13. März 1938, dem Tag des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich, nach Vollendung des 18. Lebensjahres zumindest zeitweilig der NSDAP angehört und sich während dieser Zeit oder später für die Partei betätigt hatten ) wurden wegen „Verbrechens des Hochverrates“ mit fünf - bis zehnjähriger Freiheitsstrafe bedroht. Staatssekretär Adolf Schärf, der, wie dargestellt, maßgeblich an der Abfassung des Gesetzestextes beteiligt gewesen war –, zeichnete verantwortlich für die mit weitreichenden Folgen verbundene Aufnahme der „Illegalen“ in das Verbotsgesetz und deren – rückwirkende – Verfolgung als „Hochverräter“ gemäß § 58 des österreichischen Strafgesetzes. Die Frage der „Illegalen“ war es auch – neben der Problematik der rückwirkenden Bestrafung –, auf die sich die in den folgenden Jahren immer wieder einsetzenden Debatten konzentrierten. Kritik kam beispielsweise von Vertretern der ÖVP, die in der generellen Erfassung der „Illegalen“ einen Kollektivschuldvor wurf sahen. Vielmehr sollte „ein scharfer Trennungsstrich zwischen den schuldigen ehemaligen Angehörigen der NSDAP einerseits und der großen Masse der Mitläufer andererseits gezogen werden“.16 Da die ÖVP in der Provisorischen Regierung allerdings nicht die Mehrheit stellte, konnte sie „nur mit Staunen über so viel Kurzsichtigkeit und mit Widerwillen über so viel Ungerechtigkeit mit ansehen, wie der Gedanke der Kollektivschuld wahre Orgien feierte“.17 Mit dieser Thematik setzte sich auch ein Aufsatz in der „Österreichischen Juristenzeitung“ auseinander. Der Autor bezeichnete die Kollektivschuld als 15 StGBl., Nr. 13/45 vom 6. 6. 1945, 4. Stück. 16 Alfred Kasamas, Programm Österreich. Die Grundsätze und Ziele der österreichischen Volkspartei, Wien 1949, S. 98. 17 Ebd.

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einen „juristischen Krampus18 unserer Tage, der angeblich überall in den Gerichtssälen herumspukt und mit den Ketten rasselt, über dessen Aussehen aber offenbar niemand mit hinreichender Deutlichkeit Auskunft geben kann“. Dort, „wo sich der gesetzliche Tatbestand auf das Formaldelikt der Mitgliedschaft bzw. auf die Tätigkeit für oder in einem verbotenen oder verbotene Zwecke verfolgenden Verband beschränkte, [ könne ] weder prozessual noch materiell von Kollektivschuld gesprochen werden“.19 Die schärfste Polemik gegen das Verbotsgesetz führte der Völkerrechtler Theodor Veiter, indem er es, gemäß der ursprünglichen Bezeichnung, ein „Vergeltungsgesetz“ nannte, das die politische und wirtschaftliche Ausschaltung aller früheren NSDAP - Mitglieder und ihrer Gliederungen aus der staatlichen Gemeinschaft bedeute.20 Er sprach der Provisorischen Regierung des Jahres 1945 überhaupt die Legitimität für die Erlassung eines derartigen Gesetzes ab und sah es als problematisch an, dass jene, auf die das Gesetz abzielte ( nämlich die ehemaligen Nationalsozialisten ), zum Zeitpunkt des Erlasses vom allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen gewesen waren. Auch sollten die „Illegalen“ überhaupt nicht bestraft werden, da das Verbot der NSDAP am 20. Juni 1933 von einem nicht legalen Regime ausgesprochen worden war.21 Außerdem seien damals auch die KPÖ und die SPÖ verboten worden, und somit wären die ehemaligen Nationalsozialisten nicht die einzigen „Illegalen“, sondern auch die Kommunisten und Sozialisten.22

1.3

Das Volksgericht23

Im Verbotsgesetz ( § 24) wurde zur Aburteilung der nach seinen Bestimmungen strafbaren Handlungen mit dem Volksgericht ein neuer Gerichtstypus geschaffen. Dieses war allerdings kein selbständiges Gericht, sondern lediglich eine 18 Der Krampus ist u. a. im alpenländischen Adventsbrauchtum eine Schreckgestalt in Begleitung des Heiligen Nikolaus. Während der Nikolaus die braven Kinder beschenkt, werden die unartigen vom Krampus bestraft. Der Krampus ähnelt somit in der Funktion dem Knecht Ruprecht. 19 Gustav Kafka, Zum Problem der Kollektivschuld. In : Österreichische Juristen - Zeitung ( ÖJZ ), 4 (1949) H. 2, S. 34–36, hier 34 f. 20 Vgl. das Kapitel : „Der Unrechtsgehalt des Verbotsgesetzes“ in : Theodor Veiter, Gesetz als Unrecht. Die österreichische Nationalsozialistengesetzgebung. Eine kritische Untersuchung mit einem internationalen Rechtsvergleich, Wien 1949, S. 9–12. 21 Das Verbot der NSDAP hatte die durch die Ausschaltung des österreichischen Parlaments im März 1933 an die Macht gekommenen Regierung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ausgesprochen. 22 Theodor Veiter, Gesetz als Unrecht, S. 22 f. 23 Vgl. die Ausführungen von Ludwig Viktor Heller / Edwin Loebenstein / Leopold Werner, Das Nationalsozialistengesetz. Das Verbotsgesetz 1947. Die damit zusammenhängenden Spezialgesetze, Wien 1948, S. II /149 – II /152. Später folgende Publikationen wie beispielsweise jene von Karl Marschall, Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich. Eine Dokumentation, 2. Auf lage Wien 1987, bezogen sich ebenfalls auf diese Publikation. Vgl. weiterhin Winfried R.

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Form der Ausübung der Gerichtsbarkeit in Erster Instanz. Senate der Volksgerichte befanden sich bei den Landesgerichten am Sitz der Oberlandesgerichte (ab 1945 in Wien und seit dem Frühjahr 1946 in Graz, Linz und Innsbruck ). Für das volksgerichtliche Verfahren galten die Vorschriften der österreichischen Strafprozessordnung. Der Volksgerichtssenat bestand – anders als beim „normalen“ Schöffengericht – aus zwei Richtern, von denen einer den Vorsitz führte, und drei Schöffen sowie einem Schriftführer. Das Volksgericht konnte auch einen Vermögensentzug verhängen.24 Wie generell die Institution des Volksgerichts per se war auch diese Maßnahme nicht unumstritten. Für einen der schärfsten Kritiker der österreichischen Volksgerichtsbarkeit, Prof. Dr. Theodor Rittler, stellte der sowohl im Verbotsgesetz als auch im Kriegsverbrechergesetz vorgesehene Verfall des gesamten Vermögens ein Strafmittel – „dem nationalsozialistischen Vorbild folgend“25 – dar, das eigentlich im Laufe des 19. Jahrhunderts aus den Strafgesetzbüchern des europäischen Kulturkreises bereits verschwunden sei.26 Was Rittler zur erwähnen vergaß, ist, dass auch der austrofaschistische „Ständestaat“ (1933 – 1938) nationalsozialistische Gewalttäter mit dem Entzug des Vermögens bestrafte. Nicht geklärt ist, weshalb die Provisorische Regierung für das Gericht, welches das Kriegsverbrecher - und Verbotsgesetz anwenden sollte, den Namen „Volksgericht“ wählte. Erstmals ver wendete der kommunistischen Staatssekretär Honner diesen Begriff, als er bei der zweiten Kabinettsratssitzung während der Diskussion um das Verbotsgesetz handschriftlich notierte : „Strafmaßnahmen, [...], Volksgerichtshof bei Justizamt.“27 Damit gebrauchte Honner den gleichen Namen wie das nationalsozialistische Regime für sein Gericht zur Aburteilung politischer Gegner. Ob dies mit Absicht geschah, um zu signalisieren, dass mit den Personen, die der Vergehen nach den beiden Ausnahmegesetzen beschuldigt wurden, mit gleicher Härte vorgegangen werden würde, oder ob sich Honner eines im damaligen Sprachgebrauch geläufigen Namens bediente, geht aus den zahlreichen Diskussionen um die Volksgerichtsbarkeit und ihrer gesetzlichen Grundlagen nicht her vor. Eine Äußerung des Präsidenten der Provisorischen Tiroler Landesversammlung Adolf Platzgummer bei einer Sitzung

24 25

26 27

Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS - Verbrechen. In : Emmerich Talos / Ernst Hanisch / Wolfgang Neugebauer / Reinhard Sieder ( Hg.), NS - Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2001, S. 852–883, hier 861–864. Verfassungsgesetz vom 19. 9. 1945 über das Verfahren vor dem Volksgericht und den Verfall des Vermögens ( Volksgerichtsverfahrens - und Vermögensverfallsgesetz ). In : StGBl., Nr. 177/45. Tatsächlich haben nationalsozialistische Gerichte nur selten den Verfall des gesamten Vermögens ausgesprochen, die österreichischen Volksgerichte in sehr vielen Fällen hingegen schon. Vgl. Claudia Kuretsidis - Haider / Andrea Steffek, Vermögensentzug bei politisch verfolgten Personen. Eine Untersuchung am Beispiel jener 304 Prozesse, in denen der nationalsozialistische Volksgerichtshof oder das Oberlandesgericht ( OLG ) Wien die „Einziehung von Tatwerkzeugen“ verfügte, Wien 2004. Theodor Rittler, Lehrbuch des österreichischen Strafrechts, 1. Band : Allgemeiner Teil, 2. Auf lage Wien 1954, S. 321 f. Enderle - Burcel / Jeřábek / Kammerhofer, Protokolle des Kabinettsrates, S. 10.

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des Tiroler Landtages im Oktober 1945 deutet auf beabsichtigte Vergeltung hin: Die Ähnlichkeit in der Namensgebung „hat uns nichts zu bedeuten. Wir wissen genau, dass diese [ nationalsozialistischen ] Volksgerichte bei uns nichts mehr zu sagen haben, die anderen [ die Nationalsozialisten ] aber sollen sich daran erinnern, sie haben es uns auch angetan.“28 In der von der ÖVP herausgegebenen Zeitschrift „Monatshefte“ wurde die Vermutung ausgesprochen : „Immerhin soll der Ausdruck wohl besagen, dass es sich dabei um ein gerichtliches Forum handelt, bei welchem der Wille und die Stimme des Volkes den Ausschlag geben.“29 Der Wirtschaftshistoriker Dieter Stiefel meinte in seiner Arbeit über die „Entnazifizierung in Österreich“ pragmatisch, dass der Begriff „Volksgericht“ keiner besonderen Interpretation bedürfe, sondern ganz einfach daher komme, dass die Laienrichter nicht nur über die Schuld, sondern auch über das Strafausmaß mitbestimmen konnten.30 Er sprach damit das in der österreichischen Strafprozessordnung allerdings bereits seit 1919 verankerte erweiterte Mitspracherecht der Laienrichter bei der Schöffengerichtsbarkeit im Gegensatz zur Geschworenengerichtsbarkeit an, wo lediglich ein Wahrspruch über die Schuldfrage durch die Laienrichter gefällt wird.31 Der Herausgeber einer kommentierten Ausgabe des Nationalsozialistengesetzes, Walter Prager, schrieb zur Benennung des Volksgerichts : „Volksgerichte gab es vor dem Jahre 1938 in Österreich nicht. Man hat diese Einrichtung – wenn auch etwas umgestaltet – aus der Nazizeit beibehalten, in der Absicht, diese Verfahren rascher durchführen zu können, und zwar unter starker Beteiligung und Einflussnahme des Laienelements, weil es sich um Straftaten handelt, die, wenn auch im Einzelnen begangen, doch für das ganze Volk von verheerender Wirkung waren und es in Zukunft noch sein können.“32 Jedenfalls stellte Österreich keine Ausnahme dar. Die Bezeichnung „Volksgerichte“ sowie die Schaffung eigener Gesetze zur Ahndung von NS - Verbrechen gab es in einigen, nicht nur osteuropäischen, Ländern ( etwa in den Niederlanden ). In Österreich selbst dürfte die Bezeichnung „Volksgericht“ ziemlich unumstritten gewesen sein, nicht hingegen bei den westlichen Alliierten. Der amerikanische Rechtsberater Oberstleutnant Eberhard Deutsch etwa kritisierte die Bezeichnung, „da in England und Amerika die öffentliche Meinung diesen Begriff wegen des zu ähnlich lautenden Namens noch immer mit dem nazisti28 Stenografische Berichte des Tiroler Landtages. 5. Sitzung der provisorischen Landesversammlung am 10. 10. 1945. Protokolle der provisorischen Tiroler Landesversammlung, S. 118. Zit. nach Klaus Eisterer, Französische Besatzungspolitik. Tirol und Vorarlberg 1945/46, Innsbruck 1991, S. 253. 29 Gustav Chamrath, Das österreichische Volksgericht. In : Österreichische Monatshefte. Blätter für Politik, Nr. 10 von Juli 1946 S. 423. 30 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981, S. 248. 31 Zur Geschworenengerichtsbarkeit siehe Sepp Rieder, Erfahrungen mit der Laiengerichtsbarkeit in der Zweiten Republik. In : Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976–1993. Hg. von Erika Weinzierl / Oliver Rathkolb / Rudolf G. Ardelt / Siegfried Mattl, Band 2, Wien 1995, S. 102–109. 32 Walter Prager, Das Nationalsozialistengesetz, Wien o. J., S. 55.

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schen Volksgerichtshof identifiziere und ver wechsle“. Justizstaatssekretär Gerö erklärte ihm, dass die Provisorische Regierung ein Gericht geschaffen habe, dass im Gegensatz zum nationalsozialistischen Volksgerichtshof ein wahres Volksgericht sein sollte, an dem das Volk durch die drei Schöffen die Mehrheit bei der Rechtsprechung haben werde.33 Sehr umstritten war in Österreich hingegen die Tätigkeit der Volksgerichte, die im Laufe der Jahre immer mehr als „unzeitgemäß“ eingestuft wurde.34 Einer ihrer heftigsten Kritiker war der bereits erwähnte Jurist Theodor Rittler, der seine Ablehnung nicht zuletzt in seinem vielgenutzten Lehrbuch des österreichischen Strafrechts deutlich machte; aber auch in den „Juristischen Blättern“ und in der „Österreichischen Juristenzeitung“ finden sich immer wieder kritische Stellungnahmen aus Justizkreisen dazu. Herausragend in der Polemik ist aber auch hier wieder Theodor Veiter, der in seinem Pamphlet „Gesetz als Unrecht“ meinte, dass die Volksgerichte in ihrer Zusammensetzung Ausnahmegerichtshöfe wären, deren Objektivität und Unbefangenheit nicht gesichert sei. So würden für die Volksgerichtssenate nur Richter zugelassen, die keine ehemalige Nationalsozialisten wären, wohl aber Opfer des Nationalsozialismus, weshalb sie von vornherein als befangen bezeichnet werden müssten.35

1.4

Die Debatte um das Kriegsverbrechergesetz und seinen rückwirkenden Charakter36

Das Verbotsgesetz wurde am 26. Juni 1945 durch das „Verfassungsgesetz über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten“ ( Kriegsverbrechergesetz – KVG ) ergänzt und galt – mehrfach novelliert und 1947 im Nationalsozialistengesetz ( NSG )37 wieder verlautbart – bis 1957. Das KVG war ein rückwirkendes Gesetz. Seine Tatbestände konnten zu dem Zeitpunkt, als es in 33 Amtserinnerungen vom 5. 9. 1945, Präs. 209/45. Zit. nach : Erika Weinzierl, Die Anfänge des Wiederaufbaus der österreichischen Justiz 1945. In : Justiz und Zeitgeschichte, S. 273–316, hier 279. 34 Vgl. Eva Holpfer, Die Auseinandersetzung der österreichischen politischen Parteien mit den ehemaligen Nationalsozialisten und der Frage der Lösung des sogenannten Naziproblems im Nationalrat und in den Parteizeitungen 1945–1975 ( Zwischenbericht und Endbericht des Projekts „Gesellschaft und Justiz – Entwicklung der rechtlichen Grundlagen, öffentliches Echo und politische Auseinandersetzungen um die Ahndung von NSVerbrechen in Österreich“ an den Jubiläumsfonds der österreichischen Nationalbank ), unveröff. Manuskript, Wien 2002/03. 35 Veiter, Gesetz als Unrecht, S. 38–46. 36 Vgl. Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich. Vortrag, gehalten am 25. Mai 1994 vor der „Wiener Katholischen Akademie“, 1994, S. 8–13, sowie Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung, S. 864–872. Auf die Diktion der Debatten der Jahre 1945/46 kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. 37 In der juristischen Literatur werden das Nationalsozialistengesetz und das Verbotsgesetz meist als NSG 1947 oder VG 1947 bezeichnet.

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Kraft trat, nicht mehr ver wirklicht werden, sondern waren nur auf während der NS - Herrschaft begangene Taten zugeschnitten. Obwohl diese Problematik in Juristenkreisen immer wieder Anlass für Auseinandersetzungen bot, war die Zustimmung in der Öffentlichkeit – wie sich beispielsweise in zahlreichen Leserbriefen zeigte – ungleich größer als für das Verbotsgesetz. In einer ersten Reaktion bezeichnete das „Neue Österreich“ ( die Zeitung der drei Regierungsparteien ) die Verlautbarung dieses Gesetzes als einen „gewaltigen Schritt zur inneren Konsolidierung. [...] Es wird endlich ein klarer Trennungsstrich gezogen zwischen den Unmenschen, die wir aus unserer Mitte entfernen müssen, und den anderen, die österreichische Menschen sind oder es sein wollen.“38 Dennoch herrschte vor allem Erklärungsbedarf, weshalb der Gesetzgeber nicht mit dem gängigen Strafgesetz ausgekommen war, sondern sich zur Schaffung eines eigenen Gesetzes zur Ahndung von NS - Verbrechen entschlossen hatte. In einem Inter view des Staatssekretärs für Justiz, Dr. Josef Gerö, mit dem „Neuen Österreich“ beantwortete dieser die Frage dahingehend, dass „das österreichische Strafgesetz [...] mit Menschen [ rechnen würde ], aber nicht mit Nationalsozialisten. Es bestraft den ‚bösen Vorsatz‘, der Menschen zum Verbrechen treibt. Die nazistischen Untaten jedoch verraten eine solche Bestialität, dass man ihnen mit den bisher geltenden Strafparagrafen nicht gerecht werden kann. Durch diese Bestialität ist das neue Gesetz erzwungen worden.“39 Auch die Verfasser des Kommentars zum Nationalsozialistengesetz Ludwig Heller40, Edwin Loebenstein41 und Leopold Werner42 hielten Kritikern des Gesetzes entgegen, dass das Kriegsverbrechergesetz erklärtermaßen ein „Sühnegesetz“ sei : „es soll die von den Nationalsozialisten begangenen Taten einer gerechten Strafe zuführen. Demnach fällt bei dem Kriegsverbrechergesetz der wesentliche Zweck jeder Strafdrohung, strafbare Handlungen zu verhüten, weg. Das Kriegsverbrechergesetz ist seiner Natur und seinem Zwecke nach ein Strafgesetz, das in der Vergangenheit liegende Handlungen verfolgt, dem also rückwirkende Kraft innewohnt.“ Die Rechtswidrigkeit der rückwirkenden Gesetzgebung sei zwar unbestritten, weshalb das KVG auch nur als eine Ausnahmeerscheinung verstanden werden sollte. Es sei aber ebenso unbestritten, dass es „die Rechtssicherheit, die Idee der Freiheit notwendig macht, die Rechtsunter worfenen rechtzeitig darüber zu unterrichten, was erlaubt, was verboten und was strafbar ist. [...] Katastrophen bedingen außerordentliche Maßnahmen, gleichgültig, ob sie sich in der Natur oder im Leben eines Staates oder Volkes 38 Neues Österreich vom 28. 6. 1945 : „Gespräch über das Kriegsverbrechergesetz“. 39 Ebd. 40 Dr. Ludwig Viktor Heller war zwischen 1958 und 1965 Präsident des Obersten Gerichtshofes. 41 Der in der NS - Zeit entlassene Dr. Edwin Loebenstein war zwischen 1973 und 1980 Präsident des Verfassungsgerichtshofes. 42 Dr. Leopold Werner war zwischen 1969 und 1975 Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes.

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ereignen. Taten, wie sie die Nationalsozialisten setzten, konnten vom Standpunkt der Idee des Sittlichen nicht ungesühnt bleiben. Aus ethischen Gründen musste eine Reaktion erfolgen. Österreich hat den Weg einer gesetzlichen Ahndung gewählt, in der Absicht, neue Erschütterungen des eben wieder zum Leben erweckten Staatswesens zu vermeiden. Das Kriegsverbrechergesetz stellt also den Versuch dar, eine sittliche Forderung im Wege eines Strafgesetzes zu erfüllen.“43 Österreich entschied sich also mit der Einführung des Verbots - und Kriegsverbrechergesetzes für die rückwirkende Bestrafung einzelner Straftatbestände – wie es etwa auch das am 20. Dezember 1945 erlassene Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates für Deutschland ( KRG 10) vorsah – und beschritt damit einen anderen Weg als die westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Zwar gab es keinen Zweifel an der Besonderheit der nationalsozialistischen Verbrechen, aber auf der anderen Seite war das Rückwirkungsverbot („nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege“) seit der Französischen Revolution Grundlage des modernen Rechtssystems, dessen Wert gerade erst wieder durch seine Verletzung seitens der NS - Gesetzgebung deutlich geworden war. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung in Deutschland stellte die von Gustav Radbruch entwickelte These – die sogenannte Radbruch’sche Formel44 – dar, die von der Frage ausging, ob die Beschlagnahme jüdischen Vermögens, Denunziationen und Gerichtsurteile, die sich auf NS - Gesetze stützten, rechtsgültigen Charakter hatten. Demnach sei die Ahndung und Bestrafung von NS - Verbrechen möglich : „Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewusst verleugnen, [...] dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen.“45 Die Diskussion um Recht - oder Unrechtmäßigkeit der rückwirkenden Bestrafung im rechtstheoretischen Sinn ist allerdings nur die eine Seite. Die andere Seite ist deren politisch - moralische Bedeutung, wie Telford Taylor, Mitglied der amerikanischen Anklagevertretung in Nürnberg ( und Hauptankläger in den Nürnberger Nachfolgeprozessen ), in seinem Memorandum „Eine Stellungnahme zur Vorbereitung der strafrechtlichen Verfolgung von strafbaren Handlungen der Achsenmächte“ (2. Juni 1945) feststellte.46 Er schrieb darin, dass es eine politische Entscheidung sei, ein Prinzip des Völkerrechts zu verkünden und anzuwenden.47 Die These, dass die Grundnormen des Völkerrechts, aber auch die „Rechtmäßigkeit“ der Befolgung von innerstaatlichen Rechtsnormen – d. h. des „statu43 Heller / Loebenstein / Werner, Das Nationalsozialistengesetz, S. II /128. 44 Clea Laage, Die Auseinandersetzung um den Begriff des gesetzlichen Unrechts nach 1945. In : Die juristische Aufarbeitung des Unrechtsstaates. Hg. von der Redaktion Kritische Justiz, Baden - Baden 1998, S. 265–297, hier 266. 45 Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945). In : ders., Rechtsphilosophie, 8. Auf lage Stuttgart 1973, S. 328. 46 Telford Taylor, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1994, S. 70 f. 47 Ebd.

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tengemäßen Verhaltens“ – von den politischen Rahmenbedingungen abhängen, vertrat im Übrigen auch der mitunter als „Kronzeuge“ des Rechtspositivismus herangezogene Schöpfer der österreichischen Verfassung Hans Kelsen, der die rückwirkende Bestrafung auch rechtstheoretisch rechtfertigte. Er konstatierte, dass „eine Rechtsnorm, die an die Bedingung eines bestimmten Verhaltens einen Zwangsakt als Sanktion knüpft, bestimmen [ kann ], dass ein Mensch, der nicht nach, sondern vor Setzung der Rechtsnorm ein bestimmtes Verhalten an den Tag gelegt hat, bestraft werden soll, wodurch das Verhalten als Delikt qualifiziert wird“.48 Der politisch - moralischen Bedeutung im rechtsethischen Sinn waren sich auch die Proponenten des österreichischen Verbots - und Kriegsverbrechergesetzes, Justizstaatssekretär Josef Gerö und Unterstaatssekretär Adolf Schärf, bewusst, die im Kabinettsrat der Provisorischen Regierung trotz heftiger Diskussionen beide Gesetze durchsetzten. So räumte Gerö zwar bei der 13. Sitzung des Kabinettsrates am 19./20. Juni 1945 in seinem Bericht über das Kriegsverbrechergesetz ein, dass es ein „Schönheitsfehler des Gesetzes“ sei, dass es zurückwirkt, „wir beruhigen aber unser Gewissen damit, dass die Übeltäter in ihrem inneren Gewissen sich sagen mussten, dass ihre Untaten nicht ohne Sühne bleiben können und die Welt in unzähligen Radiosendungen gesagt hat, dass sie für ihre Kriegsverbrechen werden büßen müssen“.49 Die österreichische Lösung sah schließlich so aus, dass ein Kompromiss zwischen der strikten Anwendung des positiven Rechts zur Tatzeit und der Anwendung des rückwirkend erlassenen Verbots - und Kriegsverbrechergesetzes gefunden wurde. Einerseits hatten die beiden Gesetze nicht in ihrer Gesamtheit rückwirkenden Charakter, sondern nur einzelne Paragrafen, andererseits zogen die Volksgerichte bei Tatbeständen aus dem Bereich der Tätigkeitsdelikte zumeist zusätzlich zum KVG auch die entsprechenden Paragrafen des österreichischen Strafgesetzes sowie manchmal des Reichsstrafgesetzbuches heran. Einer der prominentesten Befür worter der Sondergesetze mit rückwirkendem Charakter war der Vizepräsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Wilhelm Malaniuk.50 In seinem 1947 erschienenen „Lehrbuch des Strafrechts“ verteidigte er Verbotsgesetz und Kriegsverbrechergesetz und begründete die Zulässigkeit der Nichtanwendung des Rückwirkungsverbots, indem er sich auf das ( nach damaliger österreichischer Lehrmeinung ) völkerrechtliche Fortbestehen des österreichischen Staates zwischen 1938 und 1945 bezog.51 Malaniuk verzichtete auf eine formalrechtliche Argumentation, etwa den Hinweis darauf, dass das österreichische Strafgesetz vom NS - Staat formell nie außer Kraft

48 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auf lage Wien 1960, S. 13. 49 Enderle - Burcel / Jeřábek / Kammerhofer, Protokolle des Kabinettsrates, S. 261. 50 Der in der NS - Zeit entlassene Dr. Wilhelm Malaniuk war zwischen 1955 und 1964 Präsident des Landesgerichts Wien. 51 Wilhelm Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, 1. Band : Allgemeine Lehren, Wien 1947, S. 113.

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gesetzt wurde, und begründete die Ausnahme vom Rückwirkungsverbot ausschließlich politisch und moralisch. Er bezog sich dabei auf einen Aufsatz des Zweiten Präsidenten des Obersten Gerichtshofes Otto Leonhard, der feststellte, dass „eine rückwirkende Strafbestimmung dann ihre moralische Rechtfertigung [ findet ], wenn anders die dem Rechtsgefühl schuldige Sühne einer Tat nicht gefunden werden kann“.52 Im Bewusstsein der Problematik der Aufhebung des Rückwirkungsverbotes argumentierten sowohl Malaniuk als auch Leonhard dahingehend, dass das Verbots - und das Kriegsverbrechergesetz gar keine rückwirkenden Gesetze seien, da sie „nur eine formelle und keineswegs materielle Ausnahme von dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der mangelnden Rückwirkung von Strafgesetzen“ darstellten.53 Auf die Radbruch’sche Formel bezog sich auch Staatsanwalt Wilhelm Größwang, Anklagevertreter bei zahlreichen Volksgerichtsprozessen in Linz – ohne sie explizit zu nennen –, wenn er konstatierte, dass derjenige keine Probleme mit einer rückwirkenden Bestrafung haben könne, „der ein Recht anerkennt, das über den Völkern stehend allgemein gültig und unabdingbar ist und über das sich kein Staat hinwegsetzen darf, ohne sich selbst aus der Gemeinschaft der Zivilisation auszuschließen [...]. Jedes staatliche Gebot oder Verbot hat seine letzte Begründung in jener überstaatlichen Rechtsordnung, die wir als ‚Sittengesetz der Zivilisation‘ bezeichnen.“ Unter diesen Umständen brauche „ein rückwirkendes Strafgesetz keineswegs die Ungeheuerlichkeit zu sein [...], als die es von allen Seiten verschrien wird“.54 Nicht nur der Staat habe eine moralische Verantwortung, sondern auch jedes einzelne Individuum, von dem verlangt werden könne, den Unrechtscharakter von Gesetzen und Verordnungen zu erkennen, bzw. dürfe nicht angenommen werden, dass ein vom Staat erlassenes Ge oder Verbot vom Staatsbürger kritiklos hinzunehmen sei, dass eine von der Staatsgewalt gesetzmäßig erlassene Vorschrift das eigene Denkvermögen des Bürgers von vornherein ausschalten würde.55 Entschiedener und prominentester Gegner der rückwirkenden Bestrafung war der bereits mehrfach erwähnte Innsbrucker Strafrechtsprofessor Theodor Rittler. Er erhob seine Stimme jedoch nicht sofort nach der Einführung von Verbots - und Kriegsverbrechergesetz. In den ersten Nachkriegsjahren bestimmten die Befür worter den Diskurs. In der „Österreichischen Juristenzeitung“ und in den „Juristischen Blättern“ überwogen die positiven Stimmen. Die Gegner argumentierten größtenteils in anderen Publikationen, Theodor Rittler etwa in seinem Lehrbuch des österreichischen Strafrechts. Dieser von vielen Studierenden der Jurisprudenz genutzte Studienbehelf wurde in weiterer Folge mehrfach wie-

52 Otto Leonhard, Rechtsetzung und Rechtsanwendung zwischen Krieg und Frieden. In : Juristische Blätter ( JB ), 68 (1946), S. 381–385, hier 385. 53 Malaniuk, Lehrbuch, S. 124; Leonhard, Rechtsetzung, S. 385. 54 Wilhelm Größwang, Die Präsumtion der Rechtswidrigkeit bei Tatbeständen nach dem Kriegsverbrechergesetz. In : ÖJZ, 3 (1948) H. 4, S. 75–80, hier 78. 55 Ebd., S. 77.

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der aufgelegt, während das Lehrbuch seines „Kontrahenten“ Wilhelm Malaniuk aus den Lehrmitteln für die österreichische Juristenausbildung verschwand. Rittlers Herangehensweise an die Ahndung von NS - Verbrechen war eine ausschließlich rechtstheoretische. In der Einleitung seines Strafrechts - Lehrbuches stellte er dezidiert fest, dass „die Rückwirkung eines Strafgesetzes auf Handlungen, die mit dem staatlichen Recht der Tatzeit in Einklang standen, [...] unter allen Umständen vermieden werden [ sollte ]. Sinnvoll können nur solche Handlungen bestraft werden, die schon im Zeitpunkt ihrer Verübung verboten waren. Der Gesetzgeber gibt das Fundament preis, auf dem er selbst steht, will er anders vorgehen. Es lässt sich [...] kein ärgerer und das Rechtsgefühl beleidigenderer Widerspruch denken, als eine Handlung ex post mit Strafe zu belegen, die zur Zeit ihrer Begehung mit dem damals geltenden Recht in Einklang, vielleicht sogar von ihm geboten war.“56 Rittler kritisierte in diesem Zusammenhang besonders das Kriegsverbrechergesetz, „das den ungewohnten Anblick einer Strafvorschrift biete, die noch nicht galt, als sie übertreten werden konnte, und die nicht mehr übertreten werden kann, seitdem sie gilt“.57 Rittler war sich allerdings der politischen Bedeutung der Gesetzgebung zur Ahndung von NS - Verbrechen bewusst, denn er konstatierte, dass das Gericht unter dem Gesetzgeber stehe. Treffe also eine Staatsautorität die Entscheidung, „mit ihrem Strafgesetz auch ein dem Recht seiner Zeit gemäßes Verhalten“ zu ahnden, so bleibe dem Gericht nichts anderes übrig, als sich unterzuordnen. Doch könnten die ausgesprochenen Sanktionen „niemals als Strafe im Rechtssinn gewertet werden. [...] Es handelt sich vielmehr bei diesem neuen ‚Strafgesetz‘ um nichts anderes als eine justizförmige und abgemessene Racheübung der neu im Staat zur Herrschaft gelangten gesellschaftlichen Schicht an ihren Widersachern von ehedem.“58

2.

Frühe NS - Prozesse und Zeitungsberichterstattung

Die Prozesse der österreichischen Volksgerichte waren öffentlich. Über sie berichteten Tageszeitungen und informierten die Bevölkerung auf diese Weise über den Umgang der österreichischen Justiz mit NS - Verbrechen. Die Berichterstattung im „Neuen Österreich“59 der zunächst einzigen Tageszeitung unmittelbar nach der Befreiung, räumte in den ersten Wochen ihres 56 Rittler, Lehrbuch, S. 38. 57 Ebd., S. 39. 58 Ebd. Ähnlich argumentierte er bereits 1948 in einer Rezension des Lehrbuches von Wilhelm Malaniuk in den Juristischen Blättern, 70 (1948) 13, S. 325 f. 59 Als erste österreichische Tageszeitung erschien ab dem 23. April 1945 das „Neue Österreich“, offizielles Organ der drei republiksgründenden Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ. Erster Chefredakteur ( bis 1947) war der Staatssekretär für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten Ernst Fischer von der KPÖ. Danach entwickelte sich die Zeitung zum Koalitionsblatt der beiden staatstragenden Parteien SPÖ und ÖVP. 1963 musste die Zeitung an einen Privatverlag verkauft und im Januar 1967 eingestellt

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Erscheinens den Fragen des Umgangs mit den Nationalsozialisten, der anzugehenden Entnazifizierung und Berichten über NS - Verbrechen und mutmaßlichen Tätern viel Platz ein und machte zahlreiche Verbrechen in groß aufgemachten Beiträgen öffentlich bekannt. Der Beginn der Arbeit der österreichischen Volksgerichte wurde in der Öffentlichkeit ungeduldig erwartet. Zwar fokussierte das Interesse vor allem auf die Dinge des täglichen Überlebens, der Versorgungslage und die Probleme mit den Besatzungsmächten, einige Kommentare im „Neuen Österreich“ betonten aber auch den starken Willen der österreichischen Bevölkerung, nationalsozialistische Verbrechen gesühnt sehen zu wollen.60 Die mancherorts kritisierte lange Dauer der gerichtlichen Ermittlungen bis zum ersten Volksgerichtsprozess verteidigte das „Neue Österreich“ mit dem Hinweis darauf, dass noch in keinem europäischen Land Kriegsverbrecher abgeurteilt worden seien. Zudem wurde betont, auf die „altösterreichische Rechtspflege“ setzen zu wollen, dass man nationalsozialistische Schnelljustiz ablehne und die Prozesse auf rechtsstaatlicher Grundlage abzuwickeln gedenke.61 Die Zeitung der sowjetischen Besatzungsmacht, die „Österreichische Zeitung“,62 beanstandete hingegen das langsame Arbeiten des Justizapparates und die zu nachsichtige Behandlung der Nationalsozialisten.63 Bereits im August 1945 fand das erste Verfahren vor dem Volksgericht Wien statt. Der 1. Engerau - Prozess, geführt wegen – von vorwiegend Wiener SA - Männern und NSDAP - Funktionären in dem zur NS - Zeit zur „Ostmark“ gehörigen Stadtteil Engerau ( heute Petržalka ) in Bratislava – begangenen Verbrechen an ungarisch - jüdischen Zwangsarbeitern zu Kriegsende, stieß auf sehr großes nationales und internationales Interesse. Die Sekretariate der drei demokratischen Parteien erhielten jeweils ein Kontingent Einlasskarten.64 Ansonsten war der Prozess für die Allgemeinheit aufgrund des erwarteten Besucherandranges nicht zugänglich, was sowohl bei der „Österreichischen Volksstimme“65 als auch bei

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werden. Vgl. Katharina Wladarsch, Die Wiener Besatzungspresse, Dipl. Wien 2002, S. 3 und 87, sowie http ://www.aeiou.at / aeiou.encyclop.n / n377551.htm ( download : 25. 2. 2010). Vgl. z. B. Neues Österreich vom 11. 5. 1945 : „Tod den Kriegsverbrechern !“; Neues Österreich vom 28. 6. 1945 : „Scharfe Abrechnung mit den Naziführern“. Neues Österreich vom 17. 7. 1945 : „Die Volksgerichte gegen die Kriegsverbrecher“. Der Zweite Weltkrieg und die NS - Herrschaft bedeuteten für das Zeitungswesen in Österreich eine tief einschneidende Zäsur. In das Informationsvakuum unmittelbar nach der Befreiung stieß als erstes die sowjetische Besatzungsmacht mit ihrer Tageszeitung „Österreichische Zeitung“. Die erste Nummer erschien am 15. April 1945, eine Woche nach der letzten Ausgabe einer nationalsozialistischen Zeitung und zwei Tage nach Beendigung der Kämpfe um Wien. Im Zentrum der Berichterstattung standen Mitteilungen über die Rolle der Roten Armee, Nachrichten aus der Sowjetunion sowie internationale Themen, es gab aber auch einen ausführlichen Kulturteil. Vgl. Peter Muzik, Die Zeitungsmacher. Österreichs Presse, Macht, Meinung und Milliarden, Wien 1984, S. 104 f., sowie Wladarsch, Wiener Besatzungspresse, S. 29 und 32. Österreichische Zeitung vom 7. 8. 1945 : „Vom Grauen Haus zum Justizpalast“. Neues Österreich vom 5. 8. 1945 : „Die Prozesse vor dem Wiener Volksgericht“. Am 21. Juni 1945 erhielt Staatskanzler Karl Renner die Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht zur Gründung von Parteizeitungen. Am 5. August 1945 erschienen

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der „Österreichischen Zeitung“ auf heftige Kritik stieß.66 Als Vertreter der österreichischen Regierung befanden sich der Staatssekretär für Justiz Josef Gerö sowie die Unterstaatssekretäre Karl Altmann ( KPÖ ) und Max Scheffenegger (ÖVP ) im Gerichtssaal. Die Rundfunkanstalt RAVAG berichtete über jeden Verhandlungstag in einer eigenen Abendsendung, womit die unmittelbare Öffentlichkeit wenigstens auf diesem Wege gewahrt blieb. Richter und Staatsanwälte wohnten der Verhandlung ebenfalls bei. Auch die alliierten Besatzungsmächte entsandten Beobachter, um zu überprüfen, ob die österreichische Justiz in der Lage sei, NS - Verbrechen wirksam zu verfolgen. Vertreter verschiedener in - und ausländischer Zeitungen sowie englischer, amerikanischer und sowjetischer Pressefotografen und Zeichner befanden sich ebenfalls im Publikum. Die Berichterstattung war sehr umfangreich; während der dreitägigen Dauer der Hauptverhandlung erschienen in allen Zeitungen Artikel zumeist auf der Titelseite bzw. auf den beiden nachfolgenden Seiten. Die Schlagzeilen der „Arbeiter Zeitung“ stellten sowohl den Charakter der neuen Gerichtsbarkeit als auch „Vergeltung“ für die begangenen Verbrechen in den Vordergrund.67 Das „Kleine Volksblatt“ berief sich auf die Rechtmäßigkeit der neuen justiziellen Ordnung im wiedererrichteten demokratischen Österreich.68 Im „Neuen Österreich“ wie in der „Österreichischen Volksstimme“ standen die Verbrechen selbst im Mittelpunkt, während die „Österreichische Zeitung“ ihr Augenmerk auf die Täter legte.69 Der erste Volksgerichtsprozess überschattete damit sogar kurzfristig das mediale Interesse am Abwurf der amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August, an der Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan am 8. August und an der Kapitulation Japans am 11. August. Innenpolitisch standen zur gleichen Zeit neben der angespannten Versorgungslage vor allem die Errichtung des sowjetischen Heldendenkmals auf dem Wiener Schwarzenbergplatz ( damals Stalinplatz ) und damit verbunden der Dank an die UdSSR für die Befreiung Wiens sowie Themen, die den Wiederaufbau und die Alliierten betrafen, im Mittelpunkt der Zeitungsberichterstattung.

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zeitgleich erstmals die „Arbeiter Zeitung“ ( das traditionsreiche Parteiorgan der SPÖ wurde ab 1989 als parteiunabhängige Zeitung geführt und 1991 eingestellt ), „Das Kleine Volksblatt“ ( ÖVP, 1970 eingestellt ) und die „Österreichische Volksstimme“ ( KPÖ, 1991 eingestellt ). Vgl. Parteipresse in Österreich. Die ersten Entwicklungen in der Nachkriegszeit von 1945 bis 1946. Seminararbeit von Martin Hasenöhrl, Michaela Fuchs, Christian Schernthaner und Manuela Weinberger ( Universität Salzburg, Institut für Kommunikationswissenschaft ), Sommersemester 2002. Österreichische Zeitung vom 16. 8. 1945 : „Die Opfer fordern Sühne“; Österreichische Volksstimme vom 15. 8. 1945 : „Das Volksgericht tagt“. Arbeiter Zeitung vom 14. 8. 1945 : „Das Volk sitzt zu Gericht“; Arbeiter Zeitung vom 15. 8. 1945 : „Wir urteilen nach Recht und Gesetz“; Arbeiter Zeitung vom 18. 8. 1945 : „Sühne für die Engerauer Massenschlächterei“. Das Kleine Volksblatt vom 17. 8. 1945 : „Wir gehen den Weg des Rechtes ! Der Volksgerichtsprozess gegen die Massenmörder von Engerau“. Neues Österreich vom 14. 8. 1945 : „Das Judenmassaker von Engerau“; Österreichische Volksstimme vom 14. 8. 1945 : „Der Massenmord von Engerau“; Österreichische Zeitung vom 16. 8. 1945 : „Der Prozess gegen die vier SA - Schergen“.

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In allen Zeitungen wurden Passagen der Anklageschrift ausführlich wiedergegeben und die Hauptverhandlung bisweilen über weite Strecken wörtlich zitiert. Grundtenor in allen Zeitungen, die den 1. Engerau - Prozess vielfach vor dem Hintergrund der justiziellen Ahndung von NS - Verbrechen generell sahen und diesbezüglich richtungweisende Impulse erwarteten, war : – die Abgrenzung vom „Rechts“system des NS - Regimes; – dass die Angeklagten nicht zur österreichischen „Volksgemeinschaft“ gehörten, sondern „Desperados“ waren, die aus der neu zu errichtenden demokratischen Gesellschaft entfernt gehörten; – dass eine „radikale politische Säuberung“ nicht nur in Österreich erwartet würde; – dass der 1. Engerau - Prozess der Öffentlichkeit und vor allem dem Ausland gezeigt habe, wie ernst es Österreich mit der Aburteilung der NS - Verbrecher sei und er einen großen Vorbildcharakter aufweise; – dass die österreichische Volksgerichtsbarkeit keine Rache - und Vergeltungsjustiz sei. Nachdem die Urteile ( dreimal Todesstrafe und eine Freiheitsstrafe von acht Jahren ) in diesem ersten österreichischen NS - Prozess gefällt worden waren, flaute das öffentliche Interesse an der Ahndung von NS - Verbrechen merklich ab. Ein Grund ist wohl darin zu suchen, dass sich das Volksgericht Wien nunmehr mit zahlreichen „kleinen“ Prozessen hauptsächlich gegen sogenannte „Illegale“, Ortsgruppenleiter und andere Parteifunktionäre beschäftigen musste. In rascher Folge wurden im Laufe der Zeit zwar mehrere Senate des Volksgerichts Wien eingerichtet, um möglichst viele Prozesse gleichzeitig führen zu können. Auf der anderen Seite erlahmte die Intensität der Berichterstattung sehr rasch und erschöpfte sich bald nur mehr in Notizen von wenigen Zeilen. Bis Anfang November ergingen lediglich in zwei weiteren Prozessen Höchsturteile ( also Todesstrafen ). Die von 11. bis 17. September 1945 durchgeführte Hauptverhandlung gegen den Professor am Chemischen Institut der Universität Wien Dr. Jörn Lange,70 der zum Tode verurteilt wurde ( und unmittelbar vor der Hinrichtung Selbstmord verübte ), erregte großes öffentliches Interesse.71 Lange hatte am 5. April 1945 seine beiden Universitätsassistenten Dr. Kurt Horeischy und Dr. Hans Vollmer ( beide Angehörige der Widerstandsbewegung ) erschossen, die die Zerstörung des damals äußerst modernen, teuren und nur in Wien vorhandenen Elektronenübermikroskops verhindern wollten.72 Anders hinge70 LG Wien Vg 1a Vr 720/45. 71 Vgl. z. B. die Berichterstattung im Neuen Österreich vom 9. 9. 1945 : „Naziprofessor als Saboteur und Doppelmörder“; vom 12. 9. 1945 : „Der Mordprozess gegen den Naziprofessor Lange“; vom 13. 9. 1945 : „Der Zeugenaufmarsch im Mordprozess Lange“; vom 15. 9. 1945 : „Der Tod der Opfer fordert Sühne“; vom 16. 9. 1945 : „Todesurteil über den Doppelmörder Lange, Das Verbrechen ohne Rechtfertigung. Zum Todesurteil über Professor Lange“. 72 Neues Österreich vom 27. 4. 1945 : „Ein Naziprofessor vernichtete Elektronenübermikroskop. Und ermordete zwei Menschen“.

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gen der Prozess gegen Johann Hölzl, den das Volksgericht wegen der Ermordung von ungarischen Juden beim „Südostwall“ - Bau im Lager Güns ( Ungarn ) zum Tode verurteilte : Über dieses Urteil ist in den Zeitungen jeweils nur eine kurze Anzeige zu finden.73 Als vom 12. bis 15. November 1945 der 2. Engerau - Prozess stattfand, beherrschten andere Ereignisse das öffentliche Interesse, nämlich die anstehenden Nationalratswahlen und die damit verbundenen Frage, ob ehemalige Nationalsozialisten wahlberechtigt sein sollten oder nicht. Das „Kleine Volksblatt“ brachte die umfangreichste Prozessberichterstattung, allerdings nicht mehr an prominenter Stelle. In der „Österreichischen Zeitung“ und im „Wiener Kurier“74 erschienen ausführliche Artikel über den Verlauf der Hauptverhandlung. Die anderen Zeitungen standen hingegen schon im Bann des bevorstehenden Urnenganges. Alle Printmedien fassten die Urteile des 1. Engerau Prozesses detailliert zusammen. Auch diesmal wurden Passagen aus der Hauptverhandlung teilweise wörtlich wieder gegeben. Gegen Ende der viertägigen Hauptverhandlung flaute aber auch bei den genannten Zeitungen das Interesse merklich ab. Es ist auffallend, dass die Urteilsverkündung – immerhin verhängte das Gericht zwei Todesstrafen – nur mehr in kurzen Notizen abgehandelt wurde. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen vielmehr die Wahlergebnisse in anderen europäischen Ländern und der Jahrestag der Gründung der Ersten Republik am 11. November 1918. In den darauf folgenden Monaten überschattete der von November 1945 bis Oktober 1946 andauernde Nürnberger Prozess die Berichterstattung über die Ahndung von NS - Verbrechen. Es wurde jeden Tag mehr oder weniger ausführlich über den Verlauf der Hauptverhandlung berichtet, und es ist auffallend, dass die Intensität der Berichterstattung über österreichische Prozesse damit im Zusammenhang stand. Denn es waren nunmehr die sogenannten „Hochverräter“ am österreichischen Volk, die als die eigentlichen „Kriegsverbrecher“ apostrophiert wurden. Als der „erste Kriegsverbrecherprozess“ überhaupt – obwohl bis dahin schon sieben Todesurteile v. a. wegen Verbrechen an Juden gefällt worden waren – wurde der Prozess gegen Dr. Rudolf Neumayer angesehen.75 Dieser war ab Februar 1934 Leiter des Finanzamtes der Stadt Wien gewesen. Vom November 1936 bis März 1938 gehörte Neumayer der Regierung Kurt Schuschniggs als Finanzminister und nach dem „Anschluss“ in dieser Funktion auch der Regierung Arthur Seyß - Inquart an. Der Anklagevor wurf lautete u. a. : Mitwirkung an 73 LG Wien Vg 1a Vr 1010/45. 74 Der „Wiener Kurier“ befand sich im unmittelbaren Einflussbereich der Information Service Branch ( ISB ), die für die Medienpolitik zuständige Abteilung der amerikanischen Besatzungsver waltung in Österreich. Die erste Nummer erschien im August 1945. Vgl. Muzik, Zeitungsmacher, S. 109. 75 Arbeiter Zeitung vom 27. 1946 : „Morgen erster Kriegsverbrecherprozess in Wien. Beginn des Hochverratsprozesses Neumayer“; Neues Österreich vom 27. 1. 1946 : „Der Hochverratsprozess gegen Dr. Neumayer. Die erste Verhandlung gegen einen Hauptkriegsverbrecher vor dem Volksgericht“.

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der Beschlussfassung des sogenannten Anschlussgesetzes vom 13. März 1938 und Überleitung der österreichischen Finanzver waltung in die deutsche Reichsfinanzver waltung. Von Juni 1938 bis zu seiner Entlassung im Dezember 1945 war er Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherungsgesellschaft gewesen. Am 2. Februar 1946 erhielt Neumayer eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er wurde aber im Dezember 1947 auf Grund schwerer Erkrankung entlassen, und der Bundespräsident sah ihm 1951 die Reststrafe sowie die mit der Verurteilung verbundenen Rechtsfolgen nach. Das Urteil ist 1957 durch Tilgung erloschen. Große Aufmerksamkeit erregte im Mai 1946 der Prozess76 gegen den Sachbearbeiter für „Kommissionierungen“ in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien Anton Brunner („Brunner II“77), der nicht nur für die administrative Abwicklung der Deportation der Wiener Juden sorgte, sondern im Zuge dieser Tätigkeit, u. a im Lager Malzgasse, auch zahlreiche Menschen teilweise zu Tode misshandelte. Die Staatsanwaltschaft klagte Brunner als Verantwortlichen für die Deportation von rund 48 000 Österreichern nach Auschwitz, Riga, Minsk und Theresienstadt an.78 Brunner wurde am 10. Mai 1946 zum Tode verurteilt und nur vier Tage später hingerichtet. Ebenfalls groß war das Interesse an den Prozessen gegen Ärzte sowie gegen Angehörige des Pflegepersonals wegen ihrer Beteiligung an der „Euthanasie Aktion“ in zwei Abteilungen des Psychiatrischen Krankenhauses Am Steinhof („Am Spiegelgrund“ sowie in der „Arbeitsanstalt für asoziale Frauen“) und in der Psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt. Insbesondere die Tötung von Kindern „Am Spiegelgrund“ rief große Empörung in der Öffentlichkeit her vor.79 Von 15. bis 18. Juli 1946 standen der Facharzt für „Ner ven - und Geisteskrankheiten“ Dr. Ernst Illing sowie die beiden Ärztinnen Dr. Marianne Türk und Dr. Margarethe Hübsch vor dem Volksgericht Wien. Der Prozess80 endete mit einem Todesurteil für Illing, Türk erhielt eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren, Hübsch wurde mangels an Beweisen freigesprochen. 76 LG Wien Vg 1g Vr 4574/45. 77 Obwohl das Todesurteil gegen Anton Brunner vollstreckt worden war, erlangte sein Namensvetter Alois Brunner („Brunner I“) weitaus größere Berühmtheit. Dieser war 1941/42 Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ und 1942 bis 1944 maßgeblich an der Deportation von Juden aus Berlin, Griechenland, Frankreich und der Slowakei beteiligt gewesen. Nach dem Krieg flüchtete Brunner nach Syrien; Auslieferungsansuchen von europäischen Staaten lehnte die syrische Regierung stets ab. Brunner I wurde in Frankreich wegen seiner führenden Mitwirkung an der Ermordung der französischen Juden 1954 zwei Mal in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 2001 erhielt er, ebenfalls in Abwesenheit, in Paris eine lebenslängliche Kerkerstrafe. Es ist nicht eindeutig geklärt, ob Alois Brunner noch am Leben ist. 78 Wiener Zeitung vom 7. 5. 1946 : „49 000 Juden verschickt. Brunner II vor dem Volksgericht“; Neues Österreich vom 7. 5. 1946 : „Der ‚Sachbearbeiter‘ des Todes. Brunner II vor seinen Richtern“; Österreichische Volksstimme vom 7. 5. 1946 : „Der Judenschlächter von Wien vor dem Volksgericht“. 79 Arbeiter Zeitung vom 18. 7. 1946 : „Ärzte als Mörder“; Neues Österreich vom 14. 7. 1946: „Die Kindermörder vom Steinhof vor Gericht“ und „Die Kindermörder vom Steinhof auf der Anklagebank“. 80 LG Wien Vg 1 Vr 2365/45.

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Ein ähnliches Medienecho wie der 1. Steinhofprozess in Wien erregte ein Verfahren des Außensenates des Grazer Volksgerichts in Klagenfurt81 gegen den Primararzt der Psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt Dr. Franz Niedermoser, dem vorgeworfen wurde, in mindestens 400 Fällen die Tötung von Patienten veranlasst zu haben.82 Bemerkenswert an diesem Prozess ist, dass auch zwei Todesurteile gegen Frauen ergingen, nämlich gegen die Krankenpflegerin Antonie Pacher, die mindestens 200 Patienten getötet hatte, und die Oberschwester Ottilie Schellander, der die Tötung von mindestens 20 Personen nachgewiesen werden konnte. Das Todesurteil gegen Niedermoser ist am 24. Oktober 1946 vollstreckt worden, die beiden Frauen wurden nicht hingerichtet, sondern ihre Urteile in eine lebenslange Freiheitsstrafe bzw. eine Kerkerstrafe von 20 Jahren umgewandelt. Von 5. bis 30. August 1946 fand vor dem Volksgericht Wien83 der sogenannte Stein - Prozess gegen Leo Pilz und 14 Mitangeklagte statt, über den die Zeitungen besonders ausführlich berichteten. Am 6. April 1945 waren auf Weisung des Direktors des Zuchthauses Stein / Donau Dr. Franz Kodré mehr als 200 Häftlinge zur Entlassung bestimmt worden. Als sich diese zur Entgegennahme von Zivilkleidung im Gefängnishof versammelten, drang der SA - Standartenführer Leo Pilz mit SS - und Volkssturmeinheiten in den Gefängnishof ein und verübte ein furchtbares Massaker an den Gefangenen. Direktor Kodré und vier Beamte, die ihn unterstützt hatten, wurden im Zuge eines „Standgerichtsverfahrens“ zum Tode verurteilt und sofort erschossen.84 Bereits am 2. Mai 1945 – also nur knapp einen Monat nach dem Massaker – hatte das „Neue Österreich“ einen ausführlichen Bericht über das Verbrechen gebracht.85 Nach Prozessbeginn am 4. August 1946 – in Paris fand gerade die große Friedenskonferenz der Alliierten statt – berichteten die Zeitungen in großer Aufmachung über die Hauptverhandlung. So druckte etwa das „Neue Österreich“ auf Seite eins ein Foto von Leo Pilz und zwei seiner Mitangeklagten ab, die wie die Angeklagten des Kriegsverbrecherprozesses in Nürnberg mit Nummerntafeln gekennzeichnet waren. Die ersten drei Prozesstage standen im Zeichen der Einvernahme der Angeklagten, wobei Leo Pilz im Zentrum des Interesses der Zeitungsberichterstatter stand : „Die Bestie mit schwachem Gedächtnis“.86 Pilz wur-

81 LG Graz ( Außensenat Klagenfurt ) Vg 18 Vr 907/45. 82 Neues Österreich vom 21. 3. 1946 : „Die Massentötungen im Klagenfurter Irrenhaus. Beginn der Verhandlungen gegen Dr. Niedermoser und seine Helfer“; Arbeiter Zeitung vom 22. 3. 1946 : „Die Massenmörder von Klagenfurt“; Österreichische Volksstimme vom 23. 3. 1946 : „Die Massenmorde im Klagenfurter Siechenhaus“. 83 LG Wien Vg 1a Vr 1087/45. 84 Zum Stein - Prozess vgl. Gerhard Jagschitz / Wolfgang Neugebauer ( Hg.), Stein, 6. April 1945. Das Urteil des Volksgerichts Wien ( August 1946) gegen die Verantwortlichen des Massakers im Zuchthaus Stein, Wien 1995. 85 Neues Österreich vom 2. 5. 1945 : „Das Blutbad in der Strafanstalt Stein“. 86 Das Kleine Volksblatt vom 6. 8. 1946.

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de als Gewohnheitsverbrecher mit krimineller Vergangenheit beschrieben,87 der seine Taten verharmlose.88 Am Ende der Angeklagtenverhöre nahm der spätere Chefredakteur des „Neuen Österreich“ Rudolf Kalmar89 unter Ver wendung des Kürzels „r. k.“ Bezug zum Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg. In einem Kommentar90 auf Seite eins und zwei stellte er die „paar verkommenen Burschen“, die vor dem Volksgericht Wien standen, den „feinen Herren der Waffen - SS“, die sich in Nürnberg zu verantworten hatten, gegenüber. Er wies darauf hin, dass im SteinProzess Exzesstäter vor Gericht standen, die die „Gefangenen ohrfeigten“, die „brüllten anstatt zu sprechen“ und die „täglich ihr unflätiges Register ordinärer Beschimpfungen leierten“, während in Nürnberg die „feinen Herren“, die „Führer“ vor Gericht standen, die sich nicht selbst die Hände schmutzig gemacht hatten.91 In einem zweiten Kommentar beschrieb er in pathetischen Worten die Angeklagten als jämmerliche Biedermänner, die beispielhaft dastünden für einen Typus von Tätern aus der NS - Zeit : „Auf den Bänken vor dem Richtertisch sitzen, wenn man genauer hinsieht, nicht die Herren Pilz und Pomaßl, Sperlich, Seitner und Ettenauer. Hier sitzt in seiner 15fachen Wiederholung ein Typus, den die Zeit ohne Gnade aus ihrem Ungeist geschaffen hat. Er war uniformiert in den Gestapobüros und den Konzentrationslagern, er war in den Gefängnissen des Dritten Reiches und an den Baustellen der Zwangsarbeiter zu finden. Seiner schrankenlosen Macht entkleidet, schrumpft er auf das Format eines harmlosen Spießers zusammen. Augen ohne Glanz, ein kokettes Hitlerbärtchen, Ledergamaschen und eine feldgraue Hose nach militärischem Zuschnitt unter dem friedlich blökenden Steirersakko.“92 Gegen Ende des Beweisverfahrens flaute das Interesse in den Redaktionsstuben ab, was sich an den nur mehr wenige Zeilen umfassenden Zeitungsberichten zeigte. Mit Spannung wurde schließlich das Plädoyer von Staatsanwalt Dr. Wolfgang Lassmann erwartet, der in einer emotionalen Rede Parallelen zum Prozess in Nürnberg zog, bei dem er mehrmals als Beobachter persönlich anwesend gewesen war. Das Urteil im Stein - Prozess wurde – nach einer mehr als drei Wochen andauernden Hauptverhandlung – am 30. August 1946 gefällt. Das Volksgericht Wien verurteilte Leo Pilz und vier Mitangeklagte zum Tode, fünf weitere Angeklagte erhielten eine lebenslange Freiheitsstrafe. Der Große Schwurgerichtssaal im Landesgericht Wien war bis auf den letzten Platz gefüllt. „Auf dem Richtertisch horchten für den Rundfunk und die Wochenschau zwei 87 Österreichische Volksstimme vom 6. 8. 1946 : „Massenmörder Pilz war achtmal vorbestraft“. 88 Das Kleine Volksblatt vom 6. 8. 1946 : „Ich habe nur zugesehen“. 89 Rudolf Kalmar (1900–1974), Journalist, war 1938 bis 1944 Häftling im KZ Dachau. 90 Neues Österreich vom 8. 8. 1946. 91 Der Kommentar bezog sich auf die Einvernahme des ehemaligen Generals der WaffenSS Günther Reinecke vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal. Vgl. Neues Österreich vom 8. 8. 1946 : „Geständnis des obersten SS - Richters. ‚Es wurden schreckliche Grausamkeiten begangen‘“. 92 Neues Österreich vom 11. 8. 1946.

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Mikrophone mit. Hinter der Geschworenenbank und auf dem Verteidigersitz summten die Apparate der Kinooperateure und immer wieder stand ein anderer Sektor des Saales im Strahlenkegel der Jupiterlampen.“93 „Im Barreau sah man zahlreiche Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte sowie Vertreter der Wiener und Auslandspresse.“94 Die Medien quittierten die Urteile mit Genugtuung : „Der Steiner Massenmord gesühnt.“95 Besonders positiv her vorgestrichen wurde die Rolle des Vorsitzenden Richters OLGR Dr. Otto Hochmann.96 Das „Neue Österreich“ brachte auf Seite eins sogar ein Foto und würdigte seine Verhandlungsführung in einem eigenen Kommentar, den einmal mehr Rudolf Kalmar verfasste.97 Die Zeitungsberichterstattung zum Stein - Prozess war eine der ausführlichsten über Volksgerichtsprozesse, die mit einem Höchsturteil endeten. Zusammenfassend lässt sie sich folgendermaßen charakterisieren : – Für die „linken“ Zeitungen, zu denen neben der „Arbeiter Zeitung“ und der „Österreichischen Volksstimme“ auch das „Neue Österreich“ gezählt werden kann, stand der politische Charakter des Prozesses im Vordergrund, während die übrigen Zeitungen neutral und teilweise kommentarlos über den Prozessverlauf berichteten. – Allen Zeitungen gemeinsam war die Betonung des rechtsstaatlichen Charakters des Prozesses, der sich insbesondere im Agieren des Vorsitzenden Richters Hochmann und des Staatsanwaltes Lassmann manifestiert hätte. – Der Stein - Prozess wurde als Pendant zum dem sich in der Endphase befindlichen Nürnberger Prozess gesehen, wobei zahlreiche Parallelen zwischen den österreichischen und den deutschen Tätern gezogen wurden. – Mehrfach her vorgehoben wurde der kriminelle Charakter der Verbrechen und die Qualifizierung der Täter als Massenmörder. Auf der anderen Seite sah man aber auch das System des Nationalsozialismus vor Gericht stehen. Nach Prozessende sei nunmehr der letzte Vorhang gefallen, und es könne ein Schlussstrich gegenüber den Verbrechen und generell der NS - Zeit gezogen werden. Die „neue“ österreichische Gesellschaft habe mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun. Als in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zu Ende ging, stand Siegfried Seidl, 1941 bis 1943 Kommandant des KZ Theresienstadt, 1943/44 Kommandant des KZ Bergen - Belsen und 1944/45 stellvertretender Leiter des Sondereinsatzkommandos - Außenstelle Wien und dabei zuständig für die nach Wien und Niederösterreich verschickten ungarischen Juden, vor dem 93 Neues Österreich vom 31. 8. 1946 : „Der letzte Akt des großen Prozesses. Die Urteilsbegründung und der Schluss der Verhandlung“. 94 Das Kleine Volksblatt vom 31. 8. 1946 : „Urteil im Steiner Massenmordprozess“. 95 Wiener Zeitung vom 31. 8. 1946. 96 Zur Person von Dr. Otto Hochmann vgl. Kuretsidis - Haider, Engerau - Prozesse, S. 345– 349. 97 Neues Österreich vom 31. 8. 1946 : „Hart und gerecht“.

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Volksgericht Wien. Zwar lag ein Auslieferungsbegehren der Tschechoslowakei vor, doch das Volksgericht wollte sich die Chance, einen großen Prozess gegen einen der prominentesten österreichischen NS - Täter führen zu können, offenbar nicht entgehen lassen. Das Wiener Volksgericht reklamierte seine Zuständigkeit mit der Begründung, dass gerade nach Theresienstadt besonders viele Juden aus Wien deportiert worden waren. Der Aufsehen erregende Prozess evozierte ebenfalls großes nationales und internationales Interesse. Bei der Hauptverhandlung im Landesgericht Wien befanden sich der britische Staatsminister für die besetzten Gebiete in Deutschland und Österreich John Hynd, der österreichische Justizminister Dr. Josef Gerö, der Präsident des Landesgerichts Wien OLGR Dr. Otto Nahrhaft, der Chef der „Austrian Legal Unit“ in der Alliierten Kommission für Österreich, Major Wolfgang Lasky, und andere hohe englische Militärs zeitweise im Auditorium.98 Nach einwöchiger Verhandlung wurde Seidl am 4. Oktober 1946 zum Tode verurteilt.99 Seine Hinrichtung erfolgte am 4. Februar 1947. Kurz nach dem Seidl - Prozess fand von 16. Oktober bis 2. November 1946 der 3. Engerau - Prozess statt. Gleichzeitig führte ein britisches Militärgericht in Graz einen Prozess wegen der Ermordung von ungarischen Juden in Eisenerz durch. Die „Arbeiter Zeitung“ und die „Österreichische Volksstimme“100 zogen zwischen den beiden Gerichtsverfahren Parallelen ( in beiden Fällen waren ungarisch - jüdische Zwangsarbeiter die Opfer ) und sahen im Engerau - Prozess gleichsam das Pendant zum britischen Versuch eines „Nürnberger Prozesses“, wie der Eisenerz - Prozess bezeichnet wurde, in Österreich.101 Am 18. Oktober 1945 fällte das britische Militärgericht ein Todesurteil gegen Herbert Neumann wegen der Ermordung von sieben ungarischen Juden mittels Genickschüsse. Vier Tage später wurde ein Mitangeklagter freigesprochen, zwei Tage darauf ein weiterer Beschuldigter zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Am 23. Oktober verhängte das Gericht schließlich noch ein weiteres Todesurteil. Der 3. Engerau - Prozess endete mit vier Todesurteilen, fünf zeitlichen Freiheitsstrafen und einem Freispruch. Er fiel in die Zeit der Haupttätigkeit der österreichischen Volksgerichtsbarkeit, als zahlreiche Verfahren dieser Größenordnung stattfanden, über die jedoch nicht mehr auf den Titelseiten berichtet wurde. Dort waren stattdessen zahlreiche Meldungen und Kommentare zu den Nürnberger Urteilen zu finden. Der „Wiener Kurier“ stellte in kürzeren Artikeln zahlreiche – auch kleinere – Volksgerichtsprozesse dar, während sich die „Österreichische Zeitung“ hauptsächlich auf die großen Prozesse („Steinhofprozess“, Siegfried Seidl, Deutsch 98 Wiener Kurier vom 28. 9. 1946 : „Kriegsauszeichnungen galten im KZ nichts – Grauenvolle Einzelheiten aus dem Zeugenverhör im Seidl - Prozess“. 99 LG Wien Vg 1b Vr 770/46. 100 Österreichische Volksstimme vom 17. 10. 1946 : „Der Massenmord von Engerau und Präbichl“. 101 Eleonore Lappin, Die Ahndung von NS - Gewaltverbrechen im Zuge der Todesmärsche ungarischer Juden durch die Steiermark. In : Kuretsidis - Haider / Garscha, Keine „Abrechnung“, S. 35 f.

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Schützen, Engerau ) konzentrierte, diesen dafür aber einen weitaus umfangreicheren Raum zubilligte, als die übrigen Presseorgane. Außerdem erfuhr der Leser hier viel über andere europäische Kriegsverbrecherprozesse, die in den übrigen österreichischen Zeitungen so gut wie gar nicht behandelt wurden. Von den Parteimedien berichtete die „Österreichische Volksstimme“ am ausführlichsten, während sich die „Arbeiter Zeitung“ auf die größeren Prozesse konzentrierte. Gemeinsam war allen die uneingeschränkte positive Bewertung der Volksgerichtsbarkeit, die in dieser Zeit noch nicht in Frage gestellt wurde. Das Ende des Nürnberger Prozesses bedeutete eine Zäsur in der Prozessberichterstattung der Zeitungen. Es gab in der Folge nur noch ganz wenige Prozesse, die ein breiteres öffentliches Echo her vorriefen. Einer davon war der Prozess gegen Dr. Guido Schmidt, 1928 Kabinettsvizedirektor von Bundespräsident Wilhelm Miklas und am Zustandekommen des deutsch - österreichischen Juliabkommens 1936 maßgeblich beteiligt. In diesem Jahr wurde er von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg zum Staatssekretär für Äußeres ernannt, in Seyß - Inquarts „Anschlusskabinett“ bekleidete er zwei Tage lang die Funktion des „Außenministers“. Der Prozess dauerte von Februar bis in den Juni 1947 und zog eine umfangreiche Zeitungsberichterstattung, oftmals auf den Titelseiten, nach sich. Im Mittelpunkt des Interesses stand zunächst die Rolle Schmidts im Zuge des Anschlusses 1938. Er wurde als Verräter angesehen,102 schuldig der „Auslieferung“ Österreichs an Nazi - Deutschland.103 Anfang März 1947 trat Bundeskanzler Leopold Figl in den Zeugenstand, dessen Aussagen Schmidt kein gutes Zeugnis ausstellten.104 Umso empörter reagierten die linken Zeitungen schließlich auf seinen Freispruch : „Proteststurm in der Bevölkerung. Die Schuldigen am Freispruch“,105 „Proteststreiks gegen den Freispruch. Demonstrationen in Krems und Sankt Pölten. Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Guido Schmidt gefordert“,106 „Im Namen der Opfer des Faschismus. Bundesverband der politisch Verfolgten protestiert gegen den Freispruch Guido Schmidts“.107 Dieser Freispruch war aber nur die logische Konsequenz der damals gepflogenen österreichischen Selbstdarstellungspolitik. Denn die Verurteilung eines am „Anschluss“ 1938 maßgeblich beteiligten österreichischen Politikers durch ein österreichisches Gericht hätte dem zur selben Zeit konstruierten Opfermythos ( Österreich als erstes Opfer des NS - Regimes ) diametral entgegengestanden. 102 Wiener Zeitung vom 27. 2. 1947 : „Geltungsbedürfnis und Ehrgeiz führten zum Verrat“. 103 Österreichische Volksstimme vom 27. 2. 1947 : „Guido Schmidt vor dem Volksgericht : Wie Österreich Hitler in die Hände gespielt wurde“. 104 Österreichische Volksstimme vom 7. 3. 1947 : „Das Volk war zum Widerstand bereit. Aussage des Bundeskanzlers im Prozess gegen Guido Schmidt“; Wiener Zeitung vom 7. 3. 1947 : „Bundeskanzler Dr. h.c. Ing. Figl gibt Zeugenschaft. Interessante Details über den 11. März – Konzentrationslager oder Industrieposten ? – Eine lebhafte Schlussszene“. 105 Österreichische Volksstimme vom 13. 6. 1947. 106 Österreichische Volksstimme vom 14. 6. 1947. 107 Österreichische Volksstimme vom 15. 6. 1947, S. 1.

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Ende 1947, Anfang 1948 erschütterte die Aufdeckung einer „weit verzweigten Naziverschwörung“108 die politische Landschaft, die in einem der am längsten andauernden Prozesse der österreichischen Volksgerichtsbarkeit mündete. Vor dem Volksgericht Graz mussten sich von März bis Mai 1948 Theodor Soucek, Dr. Hugo Rössner, Amon Göth und weitere Mitangeklagte wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung verantworten.109 Der Prozess begann unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit. Neben zahlreichen inländischen Reportern befanden sich auch ausländische Korrespondenten, darunter von der Londoner „Times“, im Gerichtsaal.110 Die mediale Berichterstattung war von einer Diskussion über die Verstrickung der politischen Parteien in diese Verschwörung gekennzeichnet.111 Nachdem aber die von vielen erwartete Sensation, nämlich die Aufdeckung der Involvierung von bekannten Politikern in die Verschwörung ausblieb, ging das Interesse der Presse bald zurück und es finden sich nur mehr in den regionalen Zeitungen umfangreichere Berichte.112 Am 15. Mai 1948 wurden die drei Hauptangeklagten Theodor Soucek, Dr. Hugo Rössner und Amon Göth zum Tode verurteilt, die Urteile aber in der Folge 1949 per Entschluss des Bundespräsidenten in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Nach diesem, vor allem aufgrund seiner politischen Brisanz, für die Medien zunächst interessanten Volksgerichtsprozess, war die Ahndung von NS - Verbrechen in den Zeitungen nur noch punktuell ein Thema. Vielmehr wurde immer öfter über die Diskussion um die Abschaffung und das Versagen der Volksgerichte berichtet.

3.

Die Abschaffung der Volksgerichtsbarkeit

Im Juni 1948 kündigte Justizminister Josef Gerö im Nationalrat die bevorstehende Abschaffung der Volksgerichte an. Das hatte zur Folge, dass in der österreichischen Öffentlichkeit über die Zweckmäßigkeit weiterer Volksgerichtsverfahren – nach dem Motto „Die Zeit für Vergeltungs - und Hassmaßnahmen ist vorüber“113 – diskutiert wurde. SPÖ - Justizsprecher Otto Tschadek ( später selbst Justizminister ) beklagte die Notwendigkeit politischer Prozesse, „die immer ein 108 Österreichische Volksstimme vom 20. 12. 1947. 109 Vgl. ausführlich Martin F. Polaschek, Im Namen der Republik Österreich ! Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955, Graz 1998, S. 205–222 und 291–295. 110 Ebd., S. 212. 111 Vgl. z. B. in der Österreichischen Volksstimme vom 4. 1. 1948 : „Das politische Programm von den Naziverschwörern an Renner und Schärf gesandt“; vom 7. 1. 1947 : „Politisches Bekenntnis der ÖVP zu Naziverschwörung. Aufsehenerregende Stellungnahme des Zentralorgans der ÖVP“; vom 14. 4. 1947 : „Die Lüge über KP - Verhandlungen mit Naziverschwörern zusammengebrochen“. 112 Polaschek, Volksgerichte, S. 213. 113 ÖVP - Abgeordneter Frisch in der Beratung des Kapitels „Justiz“ des Budgetvoranschlags 1949 im Finanz - und Budgetausschuss des Nationalrates. Zit. nach Die Presse vom 10. 11. 1948.

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Krankheitssymptom am Volkskörper“ seien.114 Die Debatte um die Beendigung der von den Volksgerichten durchgeführten NS - Prozesse ist im Zusammenhang mit den seit 1947 im Nationalrat vorgetragenen Bemühungen zu sehen, immer weiterreichende Amnestieregelungen für die ehemaligen Nationalsozialisten durchzusetzen, obwohl der Alliierte Rat mehrere dieser Bemühungen blockierte.115 Es war vor allem der Verband der Unabhängigen ( VdU; die Vorläuferpartei der heutigen FPÖ ), der die Aufhebung der Volksgerichtsbarkeit verlangte und die von den Volksgerichten Verurteilten als „politische Gefangene“ bezeichnete.116 Unmittelbar vor den Nationalratswahlen im Herbst 1949 forderte auch Bundeskanzler Leopold Figl, „dass die Volksgerichte mit Ende des laufenden Jahres aufhören sollen“.117 Nach den Wahlen schlugen die Koalitionsparteien ÖVP und SPÖ dem Nationalrat in einer Regierungsvorlage vor, per 1. Januar 1951 die Volksgerichte aufzulösen und die NS - Verfahren der Zuständigkeit von Geschworenengerichten zu übertragen.118 Am 22. November 1950 beschloss der Nationalrat mit den Gegenstimmen der KPÖ eine Regierungsvorlage für ein „Bundesgesetz über die Aufhebung der Volksgerichte und die Ahndung der bisher diesen Gerichten zur Aburteilung zugewiesenen Verbrechen“,119 doch versagte der Alliierte Rat am 15. Dezember 1950 dem Gesetz seine Zustimmung, sodass es nicht in Kraft treten konnte.120 Ein nach den Nationalratswahlen 1949 veröffentlichter Artikel in der Zeitung „Wiener Morgen“ wirft ein Schlaglicht auf die Erwartungshaltung, die in weiten Kreisen der Bevölkerung vorhanden war : Es sei „hoch an der Zeit, die Volksgerichte nun, mehr als vier Jahre nach Kriegsende, endlich zu liquidieren [...] Es fragt sich, welcher von unseren Staatsmännern es vor dem Volk wird verantworten können, wenn man unentwegt nach dem Grundsatz ‚wie du mir so ich dir‘ handelt, die gemeinsame staatspolitische Notwendigkeit eines inneren Friedens angesichts der von außen drohenden Gefahr aber längst erkannt hat.“121 Heftige Kritik am Ansinnen der Abschaffung der Volksgerichtsbarkeit gab es nur von Seiten der KPÖ ( die in einem Bündnis mit den „Linkssozialisten“ nach wie vor im Nationalrat vertreten war ). So sprach sich der kommunistische Abgeordnete Franz Honner in der oben genannten Nationalratsdebatte gegen die Aufhebung der Volksgerichte aus, weil „die Kriegsverbrecher und Kollaborateure unbedingt durch Volksgerichte abgeurteilt werden müssten“.122 Honner

114 115 116 117 118 119 120 121 122

Ebd. Ausführlich dargestellt von Stiefel, Entnazifizierung, S. 300–314. Wiener Montag vom 26. 5. 1953 : „Vier Anträge gegen das Unrecht“. Wiener Kurier vom 12. 9. 1949. Wiener Zeitung vom 7. 11. 1950. Sten. Prot., 34. Sitzung, VI. GP, 22. 11. 1950, S. 1337. Stiefel, Entnazifizierung, S. 258. Wiener Morgen vom 12. 12. 1949 : „Die Volksgerichte arbeiten wieder“. Neues Österreich vom 23. 11. 1950 : „Die Aufhebung der Volksgerichte beschlossen“.

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kritisierte auf der anderen Seite jedoch auch die Volksgerichtsbarkeit, weil sie die ihr zugewiesenen Aufgaben nicht erfüllt hätte.123 Zum letzten Mal rief ein Volksgerichtsprozess im Juli 1954 eine große öffentliche Resonanz her vor. Es handelte sich dabei einmal mehr um einen Engerau Prozess,124 mittler weile um den sechsten. Die Presse war zahlreich vertreten und berichtete vor allem vom ersten Verhandlungstag zum Teil sehr ausführlich. Die meisten Journalisten hatten aber offenbar nicht gründlich recherchiert, denn die Artikel strotzten nachgerade vor Fehlern. So war beispielsweise in den Redaktionsstuben bereits in Vergessenheit geraten, dass in dieser Strafsache in den vergangenen neun Jahren schon fünf Prozesse stattgefunden hatten, wobei ein Blick in das eigene Archiv genügt hätte, denn die „Arbeiter Zeitung“, die „Österreichische Volksstimme“ und das „Neue Österreich“ hatten seinerzeit ausführlich vor allem von den ersten drei Engerau - Verfahren berichtet. Es war aber in den meisten Artikeln nur von zwei Prozessen in den Jahren 1945/46 die Rede. Im Gegensatz zu den ohnehin nur mehr sehr spärlich durchgeführten Verhandlungen der Volksgerichte widmeten die meisten Zeitungen nunmehr diesem „letzten Engerau - Prozess“125 wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Peter Acher, des 161–fachen Mordes angeklagt, wurde als einer der größten österreichischen NS - Verbrecher bezeichnet, mit beteiligt an den schwersten in Österreich während der NS - Zeit begangenen Verbrechen.126 Das Gericht verurteilte ihn nach viertägiger Hauptverhandlung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Er befand sich bis 1972 in Haft. Obwohl die alliierten Besatzungsmächte de facto keinen direkten Einfluss auf die praktische Tätigkeit der Volksgerichte ausübten, beendete ihr Abzug im Oktober 1955 die Sondergerichtsbarkeit zur Ahndung von NS - Verbrechen in Österreich.127 Der Nationalrat ersuchte die Bundesregierung einstimmig, so rasch wie möglich den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Aufhebung der Volksgerichte einzubringen, damit diese mit 31. Dezember 1955 ihre Tätigkeit einstellen könnten.128 Mit dem Nationalratsbeschluss vom 20. Dezember 1955 über die Abschaffung der Volksgerichte129 wurde die Ahndung von NS - Verbrechen den Geschworenengerichten übertragen. Es waren einmal mehr nur die Kommunisten, die heftige Kritik daran übten. Franz Honner erklärte in der 123 124 125 126

Österreichische Volksstimme vom 23. 11. 1950 : „Die Volksgerichte haben versagt“. LG Wien Vg 1a Vr 194/53. Wiener Zeitung vom 29. 7. 1954 : „Zeugen belasten Peter Acher schwer“. Österreichische Volksstimme vom 30. 7. 1954 : „Die schwersten Verbrechen, die je in Österreich verübt wurden“. 127 Siehe Brigitte Bailer - Galanda / Winfried R. Garscha, Der österreichische Staatsvertrag und die Entnazifizierung. In : Arnold Suppan / Gerald Stourzh / Wolfgang Mueller ( Hg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität. The Austrian State Treaty 1955. International Strategy, Legal Relevance, National Identity, Wien 2005, S. 629–654. 128 Sten. Prot., 91. Sitzung, 7. GP, 20.12.1955. 129 Bundesgesetz vom 20. 12. 1955 über die Aufhebung der Volksgerichte ( BGBl., Nr. 285/ 55).

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Nationalratsdebatte im Dezember 1955, dass dieses Gesetz zu jenen Maßnahmen gehöre, die unter dem Titel der sogenannten „Befriedung“ einen Strich unter die Vergangenheit ziehen und die Kriegsverbrecher reinwaschen wollen.130 Das „Bundesverfassungsgesetz womit Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes abgeändert oder aufgehoben werden ( NS - Amnestie 1957)“131 vom 14. März 1957 bedeutete schließlich das endgültige Aus des auf besonderen Gesetzen beruhenden Engagements österreichischer Gerichte gegen die NS - Kriminalität. § 13 Absatz 2 hob das Kriegsverbrechergesetz auf. Eine nach dem KVG strafbare Handlung sollte nur noch insoweit verfolgbar sein, als sie auch unter eine andere strafgesetzliche Vorschrift fiel,132 alle übrigen Strafen waren nachzusehen. Zahlreiche Verfahren wurden eingestellt oder abgebrochen, Freiheitsstrafen nachgesehen, nicht verbüßte Strafen und Strafreste in Zusammenhang mit Verurteilungen wegen Formaldelikten nachgelassen, rechtsgültige Verurteilungen galten als getilgt.133 Von der NS - Amnestie profitierten all jene, die wegen sogenannter Formaldelikte nach dem Verbotsgesetz ( Ausübung einer höheren Funktion in den nationalsozialistischen Organisationen, ohne dass die betreffende Person ein tatsächlich mit Strafe bedrohtes Verbrechen begangen hatte ) und dem Kriegsverbrechergesetz ( wenn die verhängte Strafe nicht mehr als fünf Jahre betrug ) verurteilt worden waren.

4.

Fazit

Die Zeitungsberichterstattung über die NS - Prozesse im ersten Nachkriegsjahrzehnt spiegelt den Stellenwert und den politischen Willen zur Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen – sowohl im Justizapparat als auch in der österreichischen Politik und Gesellschaft generell – wider. Nach der Durchführung einiger großer Prozesse in der unmittelbaren Nachkriegszeit, und vor allem nach dem Ende des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher in Deutschland sollte ein Schlussstrich gezogen werden. Die Volksgerichtsbarkeit wurde per se immer mehr in Frage gestellt und die Ahndung von NS - Verbrechen als notwendiges Übel angesehen, das mit dem Abzug der Alliierten seinen 130 Österreichische Volksstimme vom 21. 12. 1955 : „Will man die Kriegsverbrecher reinwaschen ?“. 131 BGBl., Nr. 82/57. Vgl. den Aufsatz von Norbert Janowski, Einige Gedanken zur Amnestie 1957 und zu den strafrechtlichen Bestimmungen der NS - Amnestie 1957. In : JB, 79 (1957), Nr. 10 vom 18. 5. 1957, S. 253–255. 132 Vgl. Heinrich Gallhuber und Eva Holpfer über das Kriegsverbrechergesetz In : Rundbrief ( hg. vom Verein zur Erforschung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und ihrer Aufarbeitung und Verein zur Förderung justizgeschichtlicher Forschungen ), Nr. 1 von Juni 1999, S. 9–15, hier 10 f. 133 Vgl. Josef Markus, Die Strafverfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und die völkerrechtliche Verantwortung Österreichs. In : Sebastian Meissl / Klaus - Dieter Mulley / Oliver Rathkolb ( Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien 1986, S. 152 f. und 162.

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Abschluss finden sollte. Die Abschaffung des Kriegsverbrechergesetzes sowie weiter Teile des Verbotsgesetzes und schließlich die NS - Amnestie 1957 hatten die Einstellung einer ganzen Reihe noch offener Verfahren zur Folge. Zwischen 1956 und 1975 fanden nur mehr 35 Prozesse gegen 49 Angeklagte wegen NS - Verbrechen statt, wovon 30 mit einem rechtskräftigen Urteil abgeschlossen wurden (20 endeten mit einem Schuldspruch, 23 mit einem Freispruch). 2005 wurde das bislang letzte Verfahren wegen Tod des Angeklagten eingestellt.

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Anhang

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Auswahlbibliographie

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– / Kohlstruck, Michael ( Hg.) : Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999. Glienke, Stepahn Alexander : Die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ (1959– 1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, Baden - Baden 2008. Grabitz, Helge : NS - Prozesse – Psychogramme der Beteiligten, Heidelberg 1985. – / Bästlein, Klaus / Tuchel, Johannes ( Hg.) : Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Berlin 1994. Greve, Michael : Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS - Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001. Große, Christina : Der Eichmann - Prozess zwischen Recht und Politik, Frankfurt a. M. 1995. Haase, Norbert / Sack, Birgit ( Hg.) : Münchner Platz, Dresden. Die Straf justiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001. Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu den Nazi - und Kriegsverbrechen. Hg. vom Generalstaatsanwalt der DDR, Berlin ( Ost ) 1965. Hausner, Gideon : Gerechtigkeit in Jerusalem, München 1967. Heberer, Patrica / Matthäus, Jürgen ( Hg.) : Atrocities on Trial. Historical Perspectives on the Politics of Prosecuting War Crimes, Lincoln 2008. Herbert, Ulrich / Groehler, Olaf ( Hg.) : Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS - Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992. Herf, Jeffrey : Zweierlei Erinnerung. Die NS - Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998. Hilger, Andreas ( Hg.) : „Tod den Spionen !“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ / DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006. – / Schmeitzner, Mike / Schmidt, Ute ( Hg.) : Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003. – / Schmidt, Ute / Wagenlehner, Günther ( Hg.) : Sowjetische Militärtribunale, Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001. Horn, Sabine : Erinnerungsbilder : Auschwitz - Prozess und Majdanek - Prozess im westdeutschen Fernsehen, Essen 2009. Just - Dahlmann, Barbara / Just, Helmut : Die Gehilfen. NS - Verbrechen und die Justiz, Frankfurt a. M. 1988. Kittel, Manfred : Nach Nürnberg und Tokio. „Vergangenheitsbewältigung“ in Japan und Westdeutschland 1945 bis 1968, München 2004. Knigge, Volkhard / Frei, Norbert ( Hg.) : Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005. Kramer, Helmut / Uhl, Karsten / Wagner, Jens - Christian ( Hg.) : Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um die Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007. Krause, Peter : Der Eichmann - Prozess in der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 2002. Kröger, Ulrich : Die Ahndung von NS - Verbrechen vor westdeutschen Gerichten und ihre Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit 1958 bis 1965 unter besonderer Berücksichtigung von „Spiegel“, „Stern“, „Zeit“, „SZ“, „FAZ“, „Welt“, „Bild“,

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Anhang

„Hamburger Abendblatt“, „NZ“ und „Neuem Deutschland“, Diss. phil. Hamburg 1973. Krösche, Heike : Zwischen Vergangenheitsdiskurs und Wiederaufbau. Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46, den Ulmer Einsatzgruppenprozess und den Sommer- Prozess 1958, Diss. phil. Oldenburg 2009. Kuretsidis - Haider, Claudia : „Das Volk sitzt zu Gericht“. Österreichische Justiz und NS - Verbrechen am Beispiel der Engerau - Prozesse 1945–1954, Wien 2006. Kuretsidis - Haider, Claudia / Garscha, Winfried ( Hg.) : Keine „Abrechnung“. NS - Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig 1998. Lamm, Hans : Der Eichmann - Prozess in der deutschen öffentlichen Meinung. Eine Dokumentensammlung, Frankfurt a. M. 1961. Langbein, Hermann : Im Namen des deutschen Volkes. Zwischenbilanz der Prozesse wegen nationalsozialistischer Verbrechen, Wien 1963. Leide, Henry : NS - Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der Staatssicherheit, 3. Auf lage Göttingen 2007. Leipzig – Nürnberg – Den Haag : Neue Fragestellungen und Forschungen zum Verhältnis von Menschenrechtsverbrechen, justizieller Säuberung und Völkerstrafrecht. Hg. vom Justizministerium des Landes NRW, Düsseldorf 2008. Less, Avner ( Hg.) : Schuldig. Das Urteil gegen Adolf Eichmann, Frankfurt a. M. 1987. Lessing, Holger : Der erste Dachauer Prozess 1945–1946, Baden - Baden 1993. Lichtenstein, Heiner : Majdanek. Reportage eines Prozesses, Frankfurt a. M. 1979. Litzinger, Heike / Horstmann, Thomas : An den Grenzen des Rechts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS - Verbrechen, Frankfurt a. M. 2006. Loth, Wilfried / Rusinek, Bernd A. ( Hg.) : Ver wandlungspolitik. NS - Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998. Lukaßen, Dirk : „Menschenschinder vor dem Richter“. Kölner Gestapo und Nachkriegsjustiz. Der „Hoegen - Prozess“ vor dem Kölner Schwurgericht im Jahr 1949 und seine Rezeption in den lokalen Tageszeitungen, Siegburg 2006. Maier, Regina : NS - Kriminalität vor Gericht. Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Kassel 1945–1955, Darmstadt 2009. Meiser, Hans : Der Nationalsozialismus und seine Bewältigung im Spiegel der Lizenzpresse der britischen Besatzungszone von 1946–1949, Diss. phil. Osnabrück 1980. Meusch, Matthias : Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS - Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden 2001. Meyer - Seitz, Christian : Die Verfolgung von NS - Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998. Miquel, Marc von : Ahnden oder amnestieren ? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004. Moisel, Claudia : Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004. Paul, Gerhard / Schoßig, Bernhard : Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen 2010. Pauli, Gerhard ( Red.) : Die Zentralstellen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Versuch einer Bilanz. Hg. vom Justizministerium des Landes NRW, Düsseldorf 2001.

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Auswahlbibliographie

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Pearlman, Moshe : Die Festnahme des Adolf Eichmann, Frankfurt a. M. 1961. Pendas, Devin O. : The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965. History, Genocide and the Limits of the Law, Cambridge 2006. Perels, Joachim / Pohl, Rolf ( Hg.) : NS - Täter in der deutschen Gesellschaft, Hannover 2002. Pöschko, Hans H. ( Hg.) : Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Berlin 2008. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947– 1949. Radlmaier, Steffen ( Hg.) : Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern, Frankfurt a. M. 2001. Radtke, Henning / Rössner, Dieter / Schiller, Theo / Form, Wolfgang ( Hg.) : Historische Dimensionen von Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, Baden - Baden 2007. Reichel, Peter : Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS - Diktatur von 1945 bis heute, München 2001. – : Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München 2004. – : Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NSDiktatur in Politik und Justiz, München 2007. – / Schmid, Harald / Steinbach, Peter ( Hg.) : Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Über windung – Deutung – Erinnerung, München 2009. Ross, Martin / Quandt, Helen : „... und hinter den Gesichtern ...“ Biographische Notizen zu den Beteiligten am Majdanek - Prozess 1975–1981. Hg. von der Mahn - und Gedenkstätte Düsseldorf für die Opfer nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, Düsseldorf 1996. Rückerl, Adalbert ( Hg.) : NS - Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung : Möglichkeiten – Grenzen – Ergebnisse, Karlsruhe 1971. – : Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979. – : NS - Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982. Rüter, Christiaan F. ( Hg.) : Justiz und NS - Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteil wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Amsterdam 1968 ff. Schmidt, Regina / Becker, Egon : Reaktionen auf politische Vorgänge. Drei Meinungsstudien aus der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1967. Schmorak, Dov B. ( Hg.) : Sieben sagen aus. Zeugen im Eichmann - Prozess, Berlin 1962. – ( Hg.) : Der Eichmann - Prozess. Dargestellt an Hand der in Nürnberg und in Jerusalem vorgelegten Dokumente sowie der Gerichtsprotokolle, Wien 1964. Schneider, Christof : Nationalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks 1945–1948, Potsdam 1999. Schreiber, Gerhard : Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter – Opfer – Strafverfolgung, München 1996. Schuldig. NS - Verbrechen vor deutschen Gerichten. Hg. von der KZ - Gedenkstätte Neuengamme, Bremen 2005.

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Anhang

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Auswahlbibliographie

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Zimmermann, Volker : NS - Täter vor Gericht. Düsseldorf und die Strafprozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, Düsseldorf 2001. Zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen. Dokumentation der parlamentarischen Bewältigung des Problems 1960–1979. Hg. vom Presse - und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Bonn 1980.

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Anhang

Abkürzungsverzeichnis a. F. AKW AOFAA ASt AWJ BArch BGH BMI BMJ BStU BVN CDU( D ) CND CSU DDR DEFA DJV EStA FAZ FDGB FDP FO GBl Gestapo GG GStA HHStAW HStA HV IAK IfZ IM IMT KdF KG KPD KPÖ KRG KVG KZ LDP( D ) LG LHASA MD LHASA MER MfS

alte Fassung Anhaltische Kohlewerke AG Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche Außenstelle Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland Bundesarchiv Bundesgerichtshof Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Justiz Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bund der Verfolgten des Naziregimes Christlich Demokratische Union ( Deutschlands ) Christlicher Nachrichtendienst Christlich Soziale Union Deutsche Demokratische Republik Deutsche Film - AG Deutsche Justizverwaltung Erster Staatsanwalt Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Demokratische Partei Foreign Office Gesetzblatt Geheime Staatspolizei Grundgesetz Generalstaatsanwalt Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Hauptstaatsarchiv Hauptverwaltung Internationales Auschwitz - Komitee Institut für Zeitgeschichte Inoffizieller Mitarbeiter des MfS International Military Tribunal Kanzlei des Führers Kommanditgesellschaft Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei Österreichs Kontrollratsgesetz Kriegsverbrechergesetz Konzentrationslager Liberal - Demokratische Partei ( Deutschlands ) Landgericht Landeshauptarchiv Sachsen - Anhalt, Abteilung Magdeburg Landeshauptarchiv Sachsen - Anhalt, Abteilung Merseburg Ministerium für Staatsicherheit

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Abkürzungsverzeichnis MWD

441

Ministerstwo wnutrennich del ( Innenministerium der UdSSR ) NARA National Archives and Records Administration ND Neues Deutschland NKWD Narodnyj kommissariat wnutrennich del ( Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR ) NL Nachlass NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSG Nationalsozialistische Gewaltverbrechen OdF Opfer des Faschismus ÖJZ Österreichische Juristenzeitung OLG Oberlandesgericht OMGUS Office of Military Government for Germany, United States OSO Osoboje Soweschtschanije ( Besondere Beratungen des sowjetischen Innenministeriums ) OStA Oberstaatsanwalt ÖStA Österreichisches Staatsarchiv Pg. Parteigenosse POLAD Political Advisory RA Rechtsanwalt RSHA Reichssicherheitshauptamt SA Sturmabteilung SächsHStAD Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden SAPMO - BArch Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen in der DDR im Bundesarchiv SBZ Sowjetische Besatzungszone SD Sicherheitsdienst der SS SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SG Sondergericht SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMAS Sowjetische Militäradministration in Sachsen SMT Sowjetisches Militärtribunal SNB Sowjetisches Nachrichtenbüro SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Schutzstaffel StA Staatsanwalt( schaft ) StAM Staatsarchiv München StAN Staatsarchiv Nürnberg StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung SZ Süddeutsche Zeitung TASS Telegrafnoje agentstwo Sowjetskogo Sojusa ( Telegraphenagentur der Sowjetunion ) TNA The National Archives UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Ukaz Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjet UNO United Nations Organization

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442 URO USHMM VdDBT VP VVN ZA ZBoWiD ZDWV ZK ZSt

Anhang United Restitution Organization United States Holocaust Memorial Museum Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Stenographische Berichte Volkspolizei Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Zentralarchiv Związek Bojowników o Wolność i Demokrację ( Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie ) Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen Zentralkomitee Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg

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Personenregister

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Personenregister Abendroth, Wolfgang 387 Aber, Felix 48 Abusch, Alexander 108 Acher, Peter 428 Ackermann, Hildegard 196, 198, 202, 204 Adenauer, Konrad 53 f., 237, 244, 257, 270, 292 f., 303 f., 379, 381, 390–392 Adler, Hans Günther 320 Adorno, Theodor W. 264 f. Ahlers, Conrad 303 Altmann, Karl 417 Aly, Götz 110 Ambros, Otto 121 f. Anger, Erich 173, 175, 177 f. Ankermüller, Willi 242 Arendes, Cord 21 Arendt, Hannah 284, 289, 296, 298–301 Arlet, Paul 213, 215 Arndt, Adolf 377, 388 f., 395 Aschenauer, Rudolf 141 f., 245, 334, 344 Auerbach, Philipp 313 Augstein, Rudolf 387 Bach - Zelewski, Erich von dem 338, 341 Baetke, Walter 112 Baganz, Carina 26 Bartel, Walter 121 Barth, Max 213 Barzel, Rainer 388 Bauer, Fritz 13, 20, 28, 237, 268, 273, 277 f., 287, 349–361 Baumeyer, Franz 199 Baumgartner, Hans 231 Baur, Wilhelm 260 Bayerlein, Friedrich 227 f. Bebel, August 159 Becher, Johannes R. 114 Becker, F. 101, 105 Becker, Walter 215 Beckerle, Adolf 318 Behrendt, Franz 260

Benda, Ernst 29, 384 f., 388–391, 393, 395 Ben - Gurion, David 283 Benjamin, Hilde 186, 229 Berger, Gottlob 338, 340 f., 343 Berthold, Herbert 213, 215 Bevers, Jürgen 304 Beyer, Rudolf 174 Beyerle, Josef 58 Biberstein, Ernst 147 Binding, Karl 202 Bitzer, Eberhard 248 f. Blobel, Paul 144 Blösche, Josef 231 Blücher, Franz 144 Blumenfeld, Erik 280 Boberach, Hans 357 Boger, Wilhelm 335, 352 f. Böhm, Boris 26 Böhm, Franz 381 f. Böhme, Hans - Joachim 247, 259 f. Bonhoeffer, Dietrich 60 Bonitz, Bernhard 47 Bormann, Martin 111 Born, Max 387 Bouhler, Philipp 189 Bourdieu, Pierre 270 Brack, Viktor 194 f. Bradfisch, Otto 50 Brandt, Helmut 224 Brandt, Karl 189, 194 f. Brandt, Willy 96, 98, 280, 293 Brauer, Max 44 Braune, Werner 144 Brindlinger, Wilhelm 260 Bronson, Richardson 124 Broszat, Martin 357 Brundert, Willi 13 Brunner, Anton 420 Bucher, Ewald 383, 385, 388 f., 392, 394 Buchheim, Hans 13, 357 Bücher, Hermann 127 Bücking, Walther 173 Bülow, Friedrich von 128 Burger, Wilhelm 356

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Anhang

Burkart, Odilo 115 f., 120 Busse, Hermann 398 Bütefisch, Heinrich 121 f. Butterweck, Hellmuth 404 Canaris, Wilhelm 60 Clauberg, Carl 69 f., 313, 317 f. Clay, Lucius D. 120, 131, 135, 137, 139 f., 144 Coing, Helmut 183, 187 Cramer, John 11, 23 Dam, Hendrik George van 48, 310, 313, 315, 393 Dämming, Fritz 172 Daumiller, Oskar 141 Dehler, Thomas 58, 389 Demjanjuk, Iwan 276 Deutsch, Eberhard 409 Dewey, Thomas E. 140 Dietrich, Sepp 134, 342 Dimitroff, Georgi 108 Diner, Dan 279 Dinkelbach, Heinrich 127 Dirks, Christian 20, 29 Dobbeck, Clemens 205 Doderer, Heimito von 387 Dohnanyi, Hans von 60 Dönitz, Karl 111 Drewitz, Ingeborg 387 Drexel, Joseph 99, 105 DuBois jr., Josiah E. 122 Dullenkopf, Otto 260 Dulles, Allen W. 333 Dulles, John Foster 140 DuMont, Kurt Neven 387 Düre, Arno 160 Düring, Günter 384 Dürrfeld, Walther 121 f. Düx, Heinz 356 Ebert, Gerhard 213, 215 Eckmann, Fritz 135 Eggebrecht, Axel 17, 78 f., 88 Ehmke, Horst 387, 395, 397 Ehrenburg, Ilja 97 Eichmann, Adolf 20, 27, 274, 279, 283–306, 315, 318, 325, 380

Eichmüller, Andreas 23 Eisele, Hans 242 f. , 252, 314 Eisele, Walter 71 Eisenhower, Dwight D. 132 Endres, Anton 146 Engel, Gerhard 338 f. Erber, Josef 356 Erhard, Ludwig 383, 385 f., 388, 392 Erler, Fritz 293 Ettenauer, Franz 422 Fechner, Max 229 Felfe, Hermann 193, 198, 204 f. Fernau, Walter 65 Fetscher, Iring 387 Figelius, Alfred 213 f., 219 Figl, Leopold 425 Filbinger, Hans 36, 395 Fischer, Ernst 405 Fischer, Hans 173 Fischer, Hermann 59 Fischer, Horst 29, 363–373 Fischer, Martin 197 f. Fischer, Rudolf 199, 201 Fischer - Schweder, Bernhard 233, 239 f., 246 f., 254 f., Flach, Karl Hermann 386 Flanner, Janet 97 Flick, Friedrich 24, 109 f., 112, 115–121, 123, 125, 127–129 Franco, Francisco 128 Frank, Hans 111 Franke, Hellmuth 215 Franz, Kurt 360 Frei, Norbert 364 Frenzel, Karl 360 Frick, Wilhelm 111 Friedensburg, Ferdinand 114 Friedrich, Jörg 241 Friedrich, Klara 198, 204 Friedrich, Martha 198, 204 Friedrichs, Rudolf 185 Frings, Josef 136, 140 Fritzsche, Hans 111, 113 Fröbel, Heinz 174 Fröhlich, Claudia 27 Fromme, Karl Friedrich 398

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Personenregister Fröschmann, Georg 142 Funk,Walther 111 Furby, Charles 35 Gäbler, Erhard 193, 198, 204 f. Ganzenmüller, Albert 328 f. Gattineau, Heinrich 121 Gentz, Werner 209 f. Gerö, Josef 405, 410 f., 413, 417, 424, 426 Gerold, Karl 100, 295, 304 Giordano, Ralph 315 Glaser, Fritz 182–184, 187, 197 Globke, Hans Maria 303–305, 371 Globocnik, Odilo 339 Gnielka, Thomas 261, 379 Goebbels, Joseph 78 Goerdeler, Carl 43 Goethe, Johann Wolfgang von 92 Gong, Walter 292 Göring, Hermann 111, 330 Goschler, Constantin 271 Göth, Amon 426 Greese, Irma 92 Greve, Michael 19 Größwang, Wilhelm 414 Grotewohl, Otto 223 Grothmann, Werner 342 Grüber, Heinrich 223 Güde, Max 390, 394, 399 Habe, Hans 97 f., 104 Hacke, Gerald 25 Hamm - Brücher, Hildegard 79 Handy, Thomas T. 144 Hänsel 212 Harlan, Veit 43, 60 Harpprecht, Klaus 14, 399 Härtel, Erich 173, 177 Hartlich 212 Hase, Karl - Günther von 383 Haug, Martin 238 Haupold, Helmut 210 Hausen, Herbert 70 Haußmann, Wolfgang 238, 254–256 Hausner, Gideon 288 f., 302 Havemann, Robert 114 Hechtel, Hans 59

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Heiber, Helmut 357 Heinemann, Gustav 394 f. Heinicker, Ernst 217, 219, 227 f. Heinze, Hans 163 Heinze, Hildegard 224, 229 Heller, Ludwig 411 Helm, Rolf 211 Henning, Karl 198 Hersmann, Werner 245, 247, Herzer, Robert 193, 198, 204 Hess, Rudolf 111 Heuss, Theodor 247 f. Heyde, Erich von der 121 Heyde, Werner 195 Heydrich, Reinhard 245, 287, 330 Hildersheimer, Wolfgang 387 Hille, Herbert 220 Hilse, Herbert 215 Himmler, Heinrich 28, 115, 245, 323 f., 328–334, 336, 338, 340 f., 344, 348 Hirsch, Martin 388, 398 Hitler, Adolf 24, 26, 78, 90, 108, 110, 112 f., 115, 117, 120, 124, 128, 156, 167, 189, 196, 209, 245–247, 249, 257, 261, 292, 329–331, 333 Hoche, Alfred 202 Hochhuth, Rolf 14, 382 Hochmann, Otto 423 Hodenberg, Christina von 17 Hoessler, Franz 75 Hoffman, Volker 384 Hölzl, Johann 419 Honner, Franz 405, 408, 427 f. Hoppe, Paul - Werner 67 f. Horeischy, Kurt 418 Horkheimer, Max 296 f. Horn, Sabine 20 f., 272 Hübsch, Margarethe 420 Hugenburg, Alfred 126 Huppenkothen, Walter 60 Hynd, John 424 Illing, Ernst 420 Isenburg, Helene Elisabeth von 142 Ivy, Andrew Conway 194

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Anhang

Jackson, Robert H. 96 Jacob, Richard 175 Jaeger, Richard 394, 397 Jäger, Karl 73 Jähnichen, Rudolf 209, 211, 213 Jahrreis, Otto 196 f. Jänicke, Johannes 372 Jankowski, Christel 231 Janowitz, Moris 90 Jansen, Friedrich 125 Jaspers, Karl 88 f., 279, 296, 387, 392, 401 Jeckeln, Freidrich 156 Jens, Walter 387 Jodl, Alfred 111 Johnson, Uwe 387 Jones, Frederick Elwyn 123 Joppich, Adalbert 141 Jordan, Rudolf 163 Joseph, Hermann 46 Jung, Heinz 174 Jürß, Ulla - Erna 231 Just, Helmut 279 Just - Dahlmann, Barbara 261, 277– 279, 325 Jüttner, Hans 340 Kaindl, Anton 162 Kaletsch, Konrad 115 f., 120 Kalmar, Rudolf 422 f. Kaltenbrunner, Ernst 111 Kaminsky, Uwe 279 Kant, Immanuel 92 Karassjow, Jakow Afanessewitsch 194 Karsch, Walther 100 Kastner, Hermann 184, 200 Kaufmann, Erich 141 Keitel, Wilhelm 111 Kelsen, Hans 413 Kempner, Robert M.W. 17, 45, 64, 238, 346 f. Kesselring, Albert 65 Kiesinger, Kurt Georg 260, 391, 394 Kirdorf, Emil 112 Klein, Fritz 75 Kleinichen, Friedrich

Kleist, Karl 195 Klement, Richard ( Ricardo ) 287 Klemperer, Victor 182 Klett, Ernst 387 Knieriem, August von 121 Koch, Ilse 60 Koch, Justus 142 Kodré, Franz 421 Köhler, Horst 264 Kohn, Karl 199, 203 Kollander, Mortimer 131 Konitzer, Paul 165 Koplenig, Johann 405 Koppe, Wilhelm 342 Kopper 92 Köst, Fritz 177, 212, 215 Kramer, Hans 245 Kramer, Josef 75 f., 91 f. Kranzbühler, Georg 142 Krauch, Carl 121 f. Krause, Peter 20, 27 Krausnick, Helmut 246, 357 Kremer, Johann 318 Kreyssig, Lothar 371 Kröger, Ullrich 18 Krösche, Heike 19, 24 Krujatz, Willy 214 Krumey, Hermann 318 Krumm, Karl - Heinz 17, 274 Krupp von Bohlen und Halbach, Alfried 24, 110, 112, 117, 121, 125–129 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 111, 115, 118, 126 f., 129 Kübler, Stella 159 Küchler, Kurt 213 f. Kügler, Joachim 354 f. Kuhn, Harry 222 Kühne, Thomas 340 Kulaszewski, Willy 175 Kuretsidis - Haider, Claudia 30 Kutzner, Hans 215 La Roche, Walther von 345 Laabs, Gustav 360 Lahusen, Diedrich 48 Langbein, Hermann 317–322, 355– 357, 361, 368

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Personenregister

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Lange, Hans 215 Lange, Jörn 418 Langer, Günther 193, 198, 204 Larius, Kurt 228 Lasky, Wolfgang 424 Lassmann, Wolfgang 422 f. Laternser, Hans 142 Lauser, Heinz 250 Lautenschläger, Carl Ludwig 121 Lautz, Ernst 69 Lehmann, Helmut 113 Lemmer, Ernst 114 Lempe, Edwin 197, 203 Lenin, Wladimir Illitsch 152 Leonhard, Otto 414 Leonhardt, Ernst 192 f., 198, 204 f. Leschner, Erich 184, 187 Lessing, Johann Gottfried 92 Leverenz, Bernhard 255 Ley, Robert 111 Lichtenstein, Heiner 17, 236, 274 Liebknecht, Karl 127, 159 Liebmann, Hermann 210 Liebs, Heinrich 215 Lindner, Kurt 214 Lindow, Kurt 63 Lingens - Reiner, Ella 320 Loebenstein, Edwin 411 Loeser, Ewald 125 Lohagen, Ernst 171 Lohmeyer, Ernst 165 Loitfellner, Sabine 404 Löwenthal, Hermann 159, 164 f. Lübbe, Hermann 51, 285 Lübke, Heinrich 292 f. Lukys, Pranas 247

Mauz, Gerhard 17, 274, 331, 334, 347 McCloy, John Jay 142, 144, 147, 238 McClure, Robert A. 100, 103 McCormick, Anne O’Hare 97 Meer, Fritz ter 121 f. Meier I 212 f. Meier II 212 f. Meinhof, Ulrike Marie 28, 323 f., 330, 337 f., 344, 347 Meiser, Hans 18 Meißner, Gerhard 198 Mende, Erich 237, 376 Mengele, Joseph 318 Menningen, Walter 343–346 Menzel, Walter 379 f. Merten, Max 318 Meuschel, Hans 49 Meyer - Seitz, Christian 177 Miklas, Wilhelm 425 Miquel, Marc von 19, 271, 326, 335, 391 Mittag, Arthur 190 Montgomery, Bernard L. 76 Morgenstern, Max 213, 217, 219 Morris, James 122 Mouralis, Guillaume 280 Mueller, Karl 173, 176 Mulka, Robert 46, 359, 361 Müller, Erich 125 Müller, Gebhard 238 Müller, Heinrich 319 Müller - Meiningen jr., Ernst 17, 62, 71, 249–253, 274, 379, 385 f., 398 Mutschmann, Martin 156, 163, 210

Maier, Regina 21 Maihofer, Werner 375 Malaniuk, Wilhelm 413–415 Manig, Bert - Oliver 342, 348 Mann, Erika 89, 96 Mann, Golo 387 Manstein, Erich von 245 Marianczyk, Georg 213 f. Martin, Benno 63 Mauersberger, Werner 193

Nahrhaft, Otto 424 Nannen, Henri 294–296 Nathan, Harry 77 Naumann, Erich 144 Nellessen, Bernd 291 f. Nellmann, Erich 71, 254 f., 273 f. Neubert, Gerhardt 368 Neuhäusler, Johannes 24, 135, 139– 141 Neumann, Herbert 424 Neumayer, Rudolf 419 f.

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Anhang

Neurath, Konstantin Freiherr von 111 Ney, Hubert 256 Niedermoser, Franz 421 Niemöller, Martin 24, 135, 387 Nitsche, Paul 191, 193, 197 f., 204 f. Noack, Werner 214 Nollau, Günter 202 f. Norden, Albert 117, 256 Normann, Alexander von 49 Nothaft, Amalie 41 Nothaft, Maria 41 Nottbeck, Arvid von 281 Oberländer, Theodor 371, 377 Oelßner, Fred 223 Ohlendorf, Otto 144, 245, 312 Ormond, Henry 321 f., 357, 360 Osterloh, Jörg 24 Ott, Georg 384 Pacher, Antonie 421 Papen, Franz von 111, 113 Paul, Erich 176 Pauli, Gerhard 255 Pchalek, Gerhard 232 Peiper, Joachim 134, 342 Peitsch, Helmut 228 Pendas, Devin O. 20 Pendorf, Robert 300 Peters, Gerhard 45, 313 Petrov, Nikita 161 Pieck, Wilhelm 233 Pfannenstiel, Wilhelm 338 f. Pfeiffer, Richard Arwed 199 Pieck, Wilhelm 107 f., 223 Pilz, Leo 421 f. Pinski, Johannes 215, 220 Pitum, Fanny 254, Platzgummer, Adolf 408 Poensgen, Ernst 127 Pohl, Oswald 144, 312 Pokrowski, Juri 160 Pomaßl, Anton 422 Prager, Walter 409 Prantl, Heribert 349 Priemel, Kim C. 21

Puschmann, Marie - Luise 193, 198, 204 Raabe, Christian 360 Radbruch, Gustav 183, 187, 350, 412 Rademacher, Franz 60, 64 Radlmaier, Steffen 19 Raeder, Erich 111 Rahner, Karl 387 Räpke, Paul 193, 198, 204 Ratzinger, Joseph 387 Raymond, John M. 131 Reich - Ranicki, Marcel 337 Reinicke, Eduard 172, 176 Remmlinger, Heinrich 159 Renner, Karl 405 Renner, Sigmund von 208 Renz, Werner 28 Requate, Jörg 273 Rhode, Gotthold 387 Ribbentrop, Joachim von 16, 111 Richter, Erich 177, 199 Richter, Hans Werner 387 Riehle, Johannes 215 Rietzsch, Ernst 163 Rittler, Theodor 408, 410, 414 f. Riverein, Marcus 28 Robinson, Joseph 128 Roellecke, Gerd 349 Römisch, Kurt Emil 169 Rosenberg, Alfred 111 Rosenblum, Heinrich 48 Rössner, Hugo 426 Rost, Paul 193 Royall, Kenneth C. 138–140 Rückerl, Adalbert 18, 235, 236, 250 f., 396 Rudaitis, Ona 254 Rüdin, Ernst 200 Ruscheweyh, Herbert 38 Sachse, Elsa 193, 198, 204 Sakuth, Edwin 259 Salomon, Ernst von 65 Sammler, Hans 165 Sandberger, Martin 238 Sauckel, Fritz 111

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Personenregister Schacht, Hjalmar 111 Schäfer, Oswald 61 Schäffer, Fritz 144, 255 f., 377, 379 Schallermair, Georg 144 Schärf, Adolf 405 f., 413 Scharnetzky, Julius 26 Scheffenegger, Max 417 Schellander, Ottilie 421 Schirach, Baldur von 111 Schlange - Schöningen, Hans 127 Schlingensiepen, Hermann 278 f. Schmeitzner, Mike 25 Schmid, Carlo 238 Schmidt, Guido 425 Schmidt, Hans 144 Schmidt, Paul Carl 16 Schmidt - Hammer, Werner 259 Schmitz, Hermann 121 Schneider Christian 121 Schneider, Fritz 244 f. Schneider, Gerhard 215 Schneller, Albert 172 f. Schnitzler, Georg von 121 f. Schönfeld, Ernst 113 Schörner, Ferdinand 68 Schraermeyer, Paul 48 Schroeder, John Ulrich 176, 179 f., 193, 199, 209, 211 Schubert, Wilhelm 69 f., 315 Schueler, Hans 17, 274 Schüle, Erwin 233, 235, 245, 250 f., 273, 275 f., 318 f., 345, 378 Schulte, Regina 95 Schulz, Alfred 190, 193, 227 f. Schulze, Herbert 193, 198, 204 Schulze, Richard 173, 176 f. Schulze - Kossens, Richard 340 Schumann, Horst 318 Schuschnigg, Kurt 419, 425 Schwärzel, Helene 43 Schwelien, Joachim 299 Seidl, Alfred 59 Seidl, Siegfried 423 f. Seraphim, Hans - Günther 246 Seitner, Johann 422 Seydewitz, Max 185 Seyß - Inquart, Arthur 111, 419 Sigel, Robert 24

449

Sikora, Felix 216 f. Simon, Max 69 Skorzeny, Otto 133 Sommer, Martin 70, 240, 242, 248, 253 Sommer, Theo 299 Sorge, Gustav 69 f., 315 Soucek, Theodor 426 Speer, Albert 111 Spender, Stephen 34 Sperlich, Karl 422 Stachowski, Kurt ( Staak ) 216 Stalin, Josef 152, 223 Stangl, Franz 20 Staudte, Wolfgang 252 f. Stawarczyk, Aleksandra 366 Steinbach, Alfred 214 f. Steinbach, Peter 18, 236 Steinbrinck, Otto 115 f. Steiner, Felix 340 f., 343 Steinhausen, Carl 247, 250 Stengel, Katharina 28 Stiefel, Dieter 409 Stiller, Alexa 21 Stinnes, Hugo Hermann 112 Streicher, Julius 111 Streit, Josef 373 Stroop, Jürgen 133 Strothmann, Dietrich 17, 274, 384 Studnitz, Hans Georg von 16 Süskind, Wilhelm E. 100, 105 Taubert, Hertha 212 Taylor, Telford 115, 123, 125 f., 412 Terberger, Hermann 115 f., 120 Teubner, Hans 183, 203 f. Thaler, Elfriede 199 Thomas, Kurt M. 45 Thomas, Paul 216 Thyssen, Fritz 112 Tippelskirch, Xenia von 95 Toeplitz, Heinrich 371 Tolsdorff, Theodor 65 f., 70 Trampe, Gustav 385 Trobisch, Horst 213, 215 Truman, Harry S. 140 Tschadek, Otto 426 Tüngel, Richard 16

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Anhang

Türk, Marianne 420 Uhle, Reinhard 168, 170 Uhlenbrock, Kurt 318 Ulbricht, Walter 108, 126, 222 f. Ullstein, Heinz 387 Veesenmayer, Edmund 318 Veiter, Theodor 407, 410 Vogel, Georg Friedrich 354 f. Vogel, Wolfgang 370 Vögler, Albert 126 f. Volkenrath, Elisabeth 75 Vollmer, Hans 418 Vollnhals, Clemens 29, 326 Wahl, Eduard 142 Walser, Martin 241 Walther, Esther 193, 198, 204 Wander, Maxie 363 Wandres, Thomas 235 f. Warnke, Hans 223 Weber, Karl 392 Wedel, Marie 198, 204 Wehner, Wolfgang 240, 331, 333 f., 337, 339, 341 f. Weidauer, Walter 172 Weigert, Hans 41, 48 Weiland, Wilhelm 177 Weinke, Annette 19, 27, 111, 235, 326, 335 Weiss, Peter 14 Weiß, Bernhard 115 f.

Welich, Karl 212, 214 Wenger, Paul Wilhelm 71, 300 f., 303 Werkentin, Falco 26 Werle, Gerhard 235, 236 Werner, Johannes 193 Werner, Leopold 411 Wetzel, Edmund 246, 248, 257 Wiesenthal, Simon 387 Wilke, Jürgen 360 Winkler, Horst 212, 214 Wirth, Eduard 365 Wittmann, Rebecca 20 Wojak, Irmtrud 20 Wolf, Markus 111 Wolf, Richard A. 50 Wolff, Karl 28, 323–338, 340–348 Wollheim, Norbert 312 Wrochem, Oliver von 339 Wucher, Albert 17, 285 f., 302 f. Wulf, Joseph 278 Wurm, Theophil 139 f. Wurster, Carl 121 Zaisser, Wilhelm 222 Zehrer, Hans 248 Zeigner, Erich 113 Ziegler, Gerhard 291 Zimmermann, Friedrich 399 Zimmermann, Volker 20 f. Zimmermann, Wilhelm 200, 203 Zinn, Georg August 351

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Autorinnen und Autoren

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Autorinnen und Autoren Carina Baganz, geb. 1970, Dr. phil., M. A., Studium der Neueren Geschichte und der Neueren Deutschen Philologie, 2005 Promotion; 2005 wiss. Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung im Forschungsprojekt „Geschichte der Konzentrationslager“, seit 2009 Leiterin des Forschungsprojektes „Vertriebene Wissenschaft an der Technischen Hochschule Berlin 1933 bis 1945“, Vorstandsvorsitzende des Fördervereins der Mahn - und Gedenkstätten Wöbbelin. Veröffentlichungen u. a. : Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ ? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–34/37, Berlin 2005; Zehn Wochen KZ Wöbbelin. Ein Konzentrationslager in Mecklenburg 1945. Hg. von den Mahn - und Gedenkstätten Wöbbelin, 2. Auflage 2005; Lager für ausländische zivile Zwangsarbeiter. In : Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9, München 2009, S. 248–270. Boris Böhm, geb. 1960, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte, 1992 Promotion; 1994 wiss. Mitarbeiter am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden, 1995 wiss. Mitarbeiter des Kuratoriums Gedenkstätte Sonnenstein e. V., seit 1999 Leiter der Gedenkstätte Pirna - Sonnenstein. Veröffentlichungen u. a. : Autor mehrerer Beiträge in : Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen. Hg. von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden 2004; ders./ Gerald Hacke ( Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit“. Der „Euthanasie“- Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947, Dresden 2008; „Wollen wir leben, Das Leben !“ Elfriede Lohse - Wächtler 1899–1940. Eine Biografie in Bildern, Dresden 2009. John Cramer, geb. 1971, Dr. des., M. A., Studium der Neueren Geschichte und Neueren Englischen Literatur, 2008 Promotion; seit 2008 Schul - und Bildungsreferent des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. im Bezirksverband Lüneburg / Stade. Veröffentlichungen u. a. : Selbstbehauptung oder Kollaboration ? Die Gerichtskommission des KZ Bergen - Belsen. In : Ralph Gabriel / Elissa Mailänder - Koslov / Monika Neuhofer / Else Rieger ( Hg.), Lagersystem und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Tübingen 2004, S. 87–99; „Tapfer, unbescholten, mit reinem Gewissen“. KZ - Aufseherinnen im ersten Belsen - Prozess eines britischen Militärgerichtes 1945. In : Simone Erpel ( Hg.), Im Gefolge der SS : Aufseherinnen des Frauen KZ Ravensbrück, Berlin 2007, S. 103–113; Der erste Bergen - Belsen - Prozess gegen Josef Kramer, den letzten Kommandanten von Auschwitz. In : Joachim Perels ( Hg.), Auschwitz in der deutschen Geschichte, Hannover 2010, S. 111– 126. Christian Dirks, geb. 1971, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie, 2004 Promotion; 2004 Kurator der Ausstellung „rela-

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tiv jüdisch. Albert Einstein – Jude, Zionist, Nonkonformist“, 2005 Projektkoordinator der Stiftung Jüdisches Museum Berlin, seit 2008 Geschäftsführer der Agentur BERGZWO communication + concepts, Berlin. Veröffentlichungen u. a. : „Die Verbrechen der anderen“. Auschwitz und der Auschwitz - Prozess der DDR. Das Verfahren gegen Dr. Horst Fischer, Paderborn 2006; ... auf dem Dienstweg. Die Verfolgung von Arbeitern, Angestellten und Beamten der Stadt Berlin 1933–1945, Berlin 2010. Andreas Eichmüller, geb. 1961, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, 1994 Promotion; 1994 freiberufliche Tätigkeit v. a. in Projekten zur historischen Erforschung von Rüstungsaltlasten, seit 1999 wiss. Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Veröffentlichungen u. a. : Landwirtschaft und bäuerliche Bevölkerung in Bayern. Ökonomischer und sozialer Wandel 1945–1970, München 1997; „I hab’ nie viel verdient, weil i immer g’schaut hab’, daß as Anwesen mitgeht“. Arbeiterbauern in Bayern nach 1945. In : Thomas Schlemmer / Hans Woller ( Hg.), Bayern im Bund, Band 2 : Gesellschaft im Wandel 1949–1973, München 2002, S. 179–268; Die Strafverfolgung von NS - Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 56 (2008), S. 621–640. Claudia Fröhlich, geb. 1971, Dr. phil., M. A., Studium der Politikwissenschaft, 2004 Promotion; seit 1999 wiss. Mitarbeiterin am Fachbereich Politik - und Sozialwissenschaften der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a. : dies./ Michael Kohlstruck ( Hg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999; Die Gründung der „Zentralen Stelle“ in Ludwigsburg – Alibi oder Beginn einer systematischen justitiellen Aufarbeitung der NS - Vergangenheit ? In : Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum ( Hg.), Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität, Berlin 2003, S. 213–249. Gerald Hacke, geb. 1966, Dr. des., M. A., Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, 2009 Promotion; wiss. Mitarbeiter der Gedenkstätte Münchner Platz in Dresden. Veröffentlichungen u. a. : ders./ Anette Weinke, U - Haft am Elbhang. Die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Dresden 1945 bis 1989/90, Dresden 2004; ders./ Boris Böhm ( Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit“. Der „Euthanasie“ - Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947, Dresden 2008; Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR. Feindbild und Verfolgungspraxis, Göttingen 2011. Peter Krause, geb. 1965, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft und Biologie, 1999 Promotion; 1999 Persönlicher Referent der Präsidentin der Europa Universität Viadrina, 2004 Leiter der an der Berlin - Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Geschäftsstelle der Förderinitiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Wissen für Entscheidungsprozesse – Forschung zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“, 2008 wiss. Koordinator am Simon - Dubnow - Institut für jüdische Geschichte und

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Autorinnen und Autoren

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Kultur e. V., seit 2010 Referent der Geisteswissenschaftlichen Sektion der Universität Konstanz. Veröffentlichungen u. a. : Kann das Böse „banal“ sein ? Hannah Arendts Bericht aus Jerusalem. In : Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 6 (2009), S. 153–158; Eichmann und die Deutschen – „Vergangenheitsbewältigung“ in West und Ost am Beispiel der Presse zum Jerusalemer Eichmann - Prozess. In : Deutschland Archiv, 38 (2005), S. 266–273; Der Eichmann - Prozess in der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 2002. Heike Krösche, geb. 1975, Dr. des., M. A., Studium der Geschichte und Germanistik, 2009 Promotion; 2002 wiss. Mitarbeiterin im Projekt „eLernen und eLehren in der Lehreraus - und Weiterbildung“ am Historischen Seminar der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2008 Mitarbeit am Projekt „Haus der Geschichten“ für das Kulturhauptstadtjahr Linz09, seit 2008 Lehrbeauftragte an der FH Oberösterreich. Veröffentlichungen u. a. : „Ja. Das Ganze noch mal“. Lion Feuchtwanger : deutsch - jüdisches Selbstverständnis in der Weimarer Republik, Oldenburg 2004; „Die Justiz muss Farbe bekennen“. Die öffentliche Reaktion auf die Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen“ 1958. In : Zeitschrift für Geschichte, 56 (2008), S. 338–357; Im Zweifel für den Angeklagten ? Verteidigungslinien und - motive im OKW - Prozess am Beispiel Hans Laternser. In : Kim Priemel / Alexa Stiller ( Hg.), Verhandelte Vergangenheit. Deutsche und amerikanische Perspektiven in den Nuremberg Military Tribunals, 1946–1949 ( im Druck ). Claudia Kuretsidis - Haider, geb. 1965, Dr. phil., Studium der Geschichte und Geografie, 2003 Promotion; seit 1993 Mitarbeiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und Mitherausgeberin der Reihe „Veröffentlichungen der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz“, seit 1995 Co - Leiterin der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. Veröffentlichungen u. a. : „Das Volk sitzt zu Gericht“ : österreichische Justiz und NS - Verbrechen am Beispiel der Engerau - Prozesse 1945–1954, Insbruck 2006; dies./ Winfried R. Garscha, Gerechtigkeit nach Diktatur und Krieg. Transitional Justice 1945 bis heute : Strafverfahren und ihre Quellen, Graz 2010; Die strafrechtliche Verfolgung von NS - Verbrechen durch die österreichische Justiz. In : Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching (Hg.), Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS - Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009, S. 74–83. Jörg Osterloh, geb. 1967, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, 2004 Promotion; 1995 wiss. Mitarbeiter am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden, 2004 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr - Universität Bochum bzw. an der Friedrich - Schiller - Universität Jena im Projekt „Flick im 20. Jahrhundert“, seit 2008 wiss. Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a. : Ein ganz normales Lager. Das Kriegsgefangenen - Mannschaftsstammlager 304 ( IV H ) Zeithain bei Riesa / Sa. 1941 bis

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Anhang

1945, Leipzig 1997; Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, München 2006; Mitautor von Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009; ders./ Wolf Gruner ( Hg.), Das „Großdeutsche Reich“ und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten, Frankfurt a. M. 2010. Edith Raim, geb. 1965, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte und Germanistik, 1991 Promotion; 1991 DAAD - Lektorin an der University of Durham ( Großbritannien ), seit 1999 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Veröffentlichungnen u. a. : Die Dachauer KZ - Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg am Lech 1992; Die Strafverfahren wegen der Deportation der Juden aus Unter - und Mittelfranken nach 1945. In : Wege in die Vernichtung. Die Deportation der Juden aus Mainfranken 1941–1943. Begleitband zur Ausstellung des Staatsarchivs Würzburg und des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin, München 2003, S. 178–192; Überlebende von Kaufering. Biografische Skizzen jüdischer ehemaliger Häftlinge. Materialien zum KZ Außenlagerkomplex Kaufering, Berlin 2008. Werner Renz, geb. 1950, M. A., Studium der Neueren Deutschen Philologie, Linguistik und Philosophie; seit 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a. : ders./ Friedrich - Martin Balzer ( Hg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz - Prozess (1963–1965), Bonn 2004; Tonbandmitschnitte von NS - Prozessen als historische Quelle. In : Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching ( Hg.), Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS - Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009, S. 142–153; Auschwitz vor Gericht. Zum 40. Jahrestag des ersten Frankfurter Auschwitz - Prozesses. In : Hefte von Auschwitz, 24 (2009), S. 191–299. Marcus Riverein, geb. 1976, M. A., Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Neueren Deutschen Literaturwissenschaft; 2005 Mitarbeit am Historischen Institut der Deutschen Bank, seit 2007 wiss. Mitarbeiter am Historischen Seminar der Goethe - Universität Frankfurt a. M., arbeitet derzeit an einem von der DFG geförderten Dissertationsprojekt zu einer Biografie Karl Wolffs. Veröffentlichungen : „Der Loki im Walhall der Wissenschaft“. Die Darstellung von Leo Frobenius in der Presseberichterstattung. In : Karl - Heinz - Kohl / Editha Platte (Hg.), Gestalter und Gestalten. 100 Jahre Ethnologie in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 2006, S. 61–91; ders./ Heilwig Gudehus - Schomerus / Marie Luise Recker ( Hg.), „Einmal muß doch das wirkliche Leben wieder kommen !“ Die Kriegsbriefe von Anna und Lorenz Treplin 1914–1918, Paderborn 2010. Julius Scharnetzky, geb. 1985, B. A., Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Kunstgeschichte, zur Zeit Masterstudium; seit 2005 freier Mitarbeiter der Gedenkstätte Pirna - Sonnenstein. Veröffentlichungen : ders./ Boris Böhm, Vorgeschichte und Verlauf des Dresdner „Euthanasie“ - Prozesses. In : Boris Böhm / Gerald Hacke ( Hg.), „Fundamentale Gebote der Sittlichkeit“. Der

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Autorinnen und Autoren

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„Euthanasie“ - Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947, Dresden 2008, S. 63–76; „Die Meldebogen sind dem Herrn Reichsminister des Inneren bis zum 1. 4. 1940 einzureichen“. Über die Einbeziehung Thüringer Psychiatriepatienten in die nationalsozialistischen Krankenmorde auf dem Pirnaer Sonnenstein. In : Zur Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen. Hg. vom Kuratorium der Gedenkstätte Sonnenstein e. V., Pirna 2010, S. 79–94. Robert Sigel, geb. 1947, Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft, 1976 Promotion; Gymnasiallehrer in Dachau, seit 1998 Vertreter der Kultusministerkonferenz in der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research. Veröffentlichungen u. a. : Die Geschichte der Zweiten Internationale 1918–1923, Frankfurt a. M. 1986; Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945–1948, Frankfurt a. M. 1998; ders./ Ludwig Eiber ( Hg.), Dachauer Prozesse. NS - Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau, Göttingen 2007. Mike Schmeitzner, geb. 1968, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte und Germanistik, 1999 Promotion; seit 1998 wiss. Mitarbeiter am Hannah Arendt Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden, 2010/11 Gastprofessor für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Veröffentlichungen u. a. : ders./ Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD / SED in Sachsen 1945–1952, Köln 2002; ders./ Andreas Hilger / Ute Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003; ( Hg.), Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007; Doppelt verfolgt. Das widerständige Leben des Arno Wend, Berlin 2009. Katharina Stengel, geb. 1965, M. A., Studium der Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft; seit 2000 Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut in Frankfurt a. M., arbeitet derzeit an einem von der Thyssen - Stiftung geförderten Dissertationsprojekt zu Hermann Langbein und die Auschwitz - Überlebenden in den politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit. Veröffentlichungen u. a.: Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2007; Auschwitz zwischen Ost und West. Das Internationale Auschwitz - Komitee und die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes „Auschwitz. Zeugnisse und Berichte“. In : dies./ Werner Konitzer ( Hg.), Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS - Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 2008, S. 174–196; Hermann Langbein und die politischen Häftlinge im Kampf um die Erinnerung an Auschwitz. In : Dachauer Hefte, 25 (2009), S. 96–118. Clemens Vollnhals, geb. 1956, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, 1987 Promotion; 1989 wiss. Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin, 1992 Fachbereichsleiter in der Abteilung für Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats-

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sicherheitsdienstes, seit 1998 stellv. Direktor des Hannah - Arendt - Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte. Veröffentlichungen u. a. : Evangelische Kirche und Entnazifizierung. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989; Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen, München 1991; ( Hg.), Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002; ders./ Andreas Hilger / Mike Schmeitzner ( Hg.), Sowjetisierung oder Neutralität. Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955, Göttingen 2006. Annette Weinke, geb. 1963, Dr. phil., M. A., Studium der Geschichte, Publizistik und Kunstgeschichte, 2001 Promotion; 2006–2009 wiss. Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Ludwigsburg und Mitarbeiterin in der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Zeit des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik, seit 2009 wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Friedrich - Schiller - Universität Jena. Veröffentlichungen u. a. : Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder : Eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002; Die Nürnberger Prozesse, München 2006; Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008. Falco Werkentin, geb. 1944, Dr. rer. pol., Studium der Soziologie, 1982 Promotion; 1972 Assistent an einem Lehrstuhl für Strafrecht in Frankfurt a. M., diverse Lehraufträge mit dem Schwerpunkt Kriminalsoziologie, 1975–1991 Forschungsprojekte zur Politik innerer Sicherheit der Bundesrepublik und zeitweilig Redakteur der Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei ( CILIP )“, 1993 bis 2007 wiss. Mitarbeiter beim Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Veröffentlichungen u. a. : Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung, Frankfurt a. M. 1984; Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression, Berlin 1995; Recht und Justiz im SED - Staat, Bonn 2000; ( Hg.), Der Aufbau der „Grundlagen des Sozialismus“ in der DDR 1952/53, Berlin 2007.

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