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German Pages 232 Year 2014
Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Dramen der Moderne
Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 4
2009-12-15 12-39-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0346228712477386|(S.
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Editorial Ästhetische Wahrnehmung, Erfahrung und Praxis sind Weltzugänge eigener Art, die sich von naturwissenschaftlich-technischen, hermeneutisch-geschichtlichen, strategischen und diskursiv-normativen Weltzugängen unterscheiden. Alle öffentlichen und privaten Handlungsfelder, sozialen Gruppen und soziokulturellen Milieus sind auf grundlegende Weise durch ästhetische Prozesse mitbestimmt. Dies gilt ebenso für die Entwicklung und Darstellung von Identität, die Erfahrung des Eigenen und des Fremden, die Artikulation und kulturelle Ausgestaltung existentieller Lebenserfahrungen oder den Lebensalltag und dessen Transzendenz. Die Reihe Ästhetik und Bildung will die historischen, theoretischen, empirischen und methodischen Grundlagen, die institutionellen Rahmenbedingungen sowie die unterschiedlichen Praktiken im Bereich von Ästhetik und Bildung darstellen und diskutieren. Vor diesem Hintergrund werden die Möglichkeiten ästhetischer Bildung als spezifische Modi der Weltwahrnehmung, des Umgangs mit Anderen und der Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gerückt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den ästhetischen Dimensionen der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit, der Gefühle und des Geschmacks, der Bildlichkeit und des Performativen sowie den Prozessen ästhetischer Wahrnehmung, Gestaltung und ästhetischen Urteilens. Darüber hinaus werden Fragen der Kulturpolitik, der sozialen Bedeutung ästhetischer Haltungen und Praxen sowie der praktischen Bedeutung ästhetischer Bildung in unterschiedlichen Institutionen untersucht. Die strikt interdisziplinär und interkulturell ausgerichtete Reihe ist ein innovatives Forum der Diskussion des Theorie-Praxis-Zusammenhangs von ästhetischer Bildung, der Thematisierung unterschiedlicher – kultureller, sozialer, pädagogischer etc. – Ebenen sowie der Fokussierung der Praxis ästhetischer Bildung in heterogenen Handlungsfeldern. Die Reihe wird herausgegeben von Eckart Liebau und Jörg Zirfas.
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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.)
Dramen der Moderne Kontingenz und Tragik im Zeitalter der Freiheit
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sebastian Ruck, Jörg Zirfas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1436-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Einleitung Jörg Zirfas Kontingenz und Tragik. Eine moderne Figur und ihre ästhetischen Konsequenzen.......... 9
Begriffliche Zugänge Peter Bernhard Zufall als Unglück…………………………………......................... 33 Peter Bubmann Kontingenz und Tragik aus theologischer Perspektive............... 49 Peter Ackermann Spiel, Arbeit und Kontingenz in japanischer Perspektive.......... 63
Künste des Zufalls Henri Schoenmakers Geplanter Zufall – Kontingenz und theatrale Events….............
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Eckhard Roch Logik und Zerfall. Kontingente Strukturen in Gustav Mahlers 3. Symphonie......... 103 Konrad Klek LiederTrost……………………………………………..................... 129 Jörg Zirfas Zeit und Endlichkeit, Tragik und ästhetische Erfahrung. Kunst als Kontingenzbewältigungskontingenz............................ 141
Einbruch der Kontingenz Gert Schmidt Technik-Kaputt. Ein Essay………………….................................. 163 Eckart Liebau Erziehung und Freiheit……………................................................. 183 Michael von Engelhardt Biographie und Trauma………....................................................... 201
Autorenverzeichnis…………….…………………………..…….... 231
Einleitung
Jörg Zirfas
Kontingenz und Tragik Eine moderne Figur und ihre ästhetischen Konsequenzen „Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen!“ Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft „Die Schande der modernen Welt ist nicht die Fülle ihrer Tragödien, darin unterscheidet sie sich kaum von früheren Welten, sondern allein das unerhöhrte Moderieren, das unmenschliche Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlung.“ Botho Strauss, Anschwellender Bocksgesang
Kontingenz als moderne Erfahrung Wann immer in jüngerer Zeit von der Moderne die Rede ist, fällt der Begriff Kontingenz. Kontingenz ist – neben Pluralität, Komplexität, Offenheit, Unvorhersehbarkeit und Flexibilität – einer der wichtigsten, wenn nicht der zentrale Schlüsselbegriff der Moderne. Das zunehmende Kontingenzbewusstsein, das mit der Ambivalenz von Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und Risiko auf der einen und von Freiheit, Spiel und Ermöglichung auf der anderen Seite verbunden ist, ist ein Produkt der modernen Welt. In diesem Sinne ist etwa die Rede von der „Kontingenzgesellschaft“ (Greven) mit ihren Ambivalenzen und Unsicherheiten, von der „Risikogesellschaft“ (Beck) mit ihren Freisetzungen und Unbestimmtheiten, von der „betreuten Gesellschaft“ (Brumlik) mit ihren Unsicherheiten und Hilflosigkeiten oder vom „konjunktivischen Existenzmodus“ (Gross) mit seinen Alternativen und Zufälligkeiten. Die moderne Gesellschaft ist grundsätzlich durch Reflexivitäten und Paradoxien gleichermaßen gekennzeichnet, denn mit den wachsenden Freiheitsspielräumen steigen auch die Orientierungsnotstände und mit der Disponibilität von Ordnungsfunktionen wächst auch der Zwang zur Dezision. So erscheint die moderne Situation nicht nur
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EINLEITUNG
„[...] als wünschenswerte Erweiterung des technischen und sozialen Handlungsbereichs, und damit nicht nur als Gewinn neuer Möglichkeiten menschlicher Freiheit, als Ermöglichungsnexus emphatischer Selbstverwirklichung erfahren, sondern von Anfang an auch als akute Orientierungslosigkeit und bodenlose Unsicherheit, weil der Bereich des Auch-anders-sein-Könnens, der Bereich der Kontingenz – so oder so –, prinzipiell keine definitive Grenze mehr hatte, sofern er mit jeder Wirklichkeit auch jede Ordnung, und damit jede Form sozialer Ordnung erfasste“ (Makropoulos 1998: 70).
Kontingenz ist, etymologisch betrachtet, die lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs der ƾǎDždžǘǝǍdžǎǐǎ, endechomenon, das den Bedeutungsumfang von endechomenai, annehmen, hinnehmen, zulassen hat (vgl. Brugger/Hoering 1976). Analysiert man die Bedeutungsebenen von Kontingenz, so ergeben sich sehr vielfältige Perspektiven: Analytisch bezeichnet Kontingenz eine doppelte Verneinung als dasjenige, was weder notwendig, noch unmöglich ist (Aristoteles); zufallstheoretisch ist Kontingenz Widerfahrnis oder auch historische Innovation (Marquard); im Blickpunkt der Handlungstheorien steht die Spontaneität oder das Setzen von Wirklichkeit (Kant); aus anthropologischer Perspektive rückt die Vergänglichkeit und die Exzentrizität des Menschen in den Mittelpunkt (Plessner), kulturtheoretisch bezieht sie sich auf verschiedene kulturelle Definitionen und Deutungen (der Gegenwart) (Blumenberg); in der politischen Wissenschaft bezeichnet Kontingenz vor allem die Grundlage von Dezision (Schmitt); in der Organisationstheorie geht es entsprechend um kontingente Entscheidungsprozesse (Ortmann), in der Pädagogik um Risiko, Wagnis und Scheitern in der Erziehung (Bollnow), in der Theologie um die Konnektivitäten von Determination/Freiheit und Gutes/Böses sowie um die Kontingenz von Welt und Gott (Jüngel), in der Geschichtswissenschaft um die Gesetzmäßigkeiten von Natur und Handlung (Koselleck), in der Epistemologie um Fragen der Relativität und Ironie (Rorty) oder um das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem (Adorno) und schließlich rücken in der Ästhetik Fragen der Kreativität und Pluralität in den Blick (Eco). 1
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Aus der mittlerweile kaum mehr zu überblickenden Literatur zur Kontingenzthematik vgl. vor allem: Gamm 1994; Makropoulos 1997;
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Es ist – nicht zufällig – Immanuel Kant, der vermutlich derjenige war, der Kontingenz mit Zufälligkeit übersetzt hat, der die Vorstellung eines absoluten Grundes einer kontingenten Welt in der Moderne wohl am nachhaltigsten erschüttert hat, indem er darauf hinweist, dass das Denken der Letztursache nicht mit ihrer Existenz einhergeht, „dass kein Glied der Reihe von Bedingungen sei, davon man nicht immer die empirische Bedingung in einer möglichen Erfahrung erwarten, und, so weit man kann, suchen müsse, und nichts uns berechtige, irgend ein Dasein von einer Bedingung außerhalb der empirischen Reihe abzuleiten, oder auch es als Reihe selbst für schlechterdings unabhängig und selbstständig zu halten“ (Kant 1982: 508, B 589f., Herv. JZ). 2
Doch während Kant einen kategorisch-regulativen Gebrauch der Vernunft, die angesichts dieses Befundes aufgefordert scheint, sich „einen intelligibelen Grund der Erscheinungen [...] und denselben befreit von der Zufälligkeit der letzteren (zu) denken“ (ebd.: 509, B 592) noch fixieren konnte, und damit einen absoluten Grund hatte, der wiederum als Bestimmungsgrund menschlichen Handelns verstanden werden muss, ging dieses Vertrauen in einen absoluten Grund spätestens mit der Romantik, namentlich mit Schopenhauer und Nietzsche, verloren (vgl. Safranski 2007). Für die Antike und das Mittelalter lässt sich Kontingenz – etwa einer Handlung in einer Situation – durch den ethisch und kosmologisch feststehenden Kontext kompensieren; doch wird dieser ontologische Ordnungsrahmen in der Moderne selbst kontingent. Es zeigt sich also ein geringeres Maß an Kontingenz in historischen Situationen, in denen die politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Rahmenbedingungen für die Menschen nur ein begrenztes Maß an stabilen Handlungsmöglichkeiten bereitgestellt haben, weil die bedeutsamen metaphysischen Sachverhalte als konstant betrachtet wurden. So bleibt bis weit in die Neuzeit hinein der religiöse und politische Kosmos ein Ort absoluter Not-
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v. Graeventiz u.a. 1998; Holzinger 2007; Neue Hefte für Philosophie 1985; Schäfer/Wimmer 2004. Kant unterscheidet empirische Zufälligkeit (die Änderung von bestimmten Ursachen) von intelligibler Zufälligkeit (keine Widersprüchlichkeit der Nichtexistenz) und logischer Zufälligkeit (Trennung von Existenz und Begriff).
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EINLEITUNG
wendigkeit, in der die Kontingenz nur einen geringen Spielraum Raum hatte. Kurz: Wer metaphysisch denkt, beseitigt die Kontingenz, wer nachmetapysisch denkt, erzeugt sie. Wenn es in der Moderne, „einen guten Grund nur als kontingenten gibt“ (Deleuze/Guattari 1996: 107), so verändert sich der Charakter des Kontingenten, insofern sich diese nicht mehr wie ehedem auf die Akzidenz des Substantiellen, sondern auf die Substantialität selbst bezieht. In der Moderne werden Zufall und Kontingenz nicht mehr aus dem Wesen abgeleitet; vielmehr entstehen – spätestens mit der Evolutionstheorie – die Formen und Substanzen aus dem Kontingenten. Dass der Ursprung selbst kontingent wird, heißt, ihn zu einem nomadischen und rhizomatischen Ort zu machen: Kontingenzen der stratifizierten und funktional differenzierten Ordnung, Fluktuationen, Verkettungen, Wucherungen, heterogene Serien etc. im ontologischen Spiel zuzulassen. Von Anfang wird mit dieser Begründungslosigkeit in der Moderne vor allem eine Orientierungs- und Perspektivlosigkeit sowie eine bodenlose Unsicherheit akut, weil der Bereich des Auch-anders-seinKönnens, der Bereich der Kontingenz, mit jeder Wirklichkeit auch jede Ordnung, und damit jede Form sozialen und individuellen Lebens erfasst. Doch entbehrt auch der Begriff der Kontingenz in der Moderne nicht den Bezug zu seinem anderen: So kann zum einen nur etwas vor dem Hintergrund einerObjektivität, einer Regel, einer Ordung oder eines Notwendigen kontingent sein. Zum andern lässt sich der vom Handelnden angetroffene Zustand zwar als historisch kontingent begreifen, für den Handelnden selbst aber nur als nicht-kontingent verstehen. Drittens hängt zwar der Gegenstand der Kontingenz von den menschlichen Möglichkeiten der Wahrnehmung von Kontingenz ab, und insofern kommt ihm selbst ein kontingentes Moment zu, doch bezeichnet Kontingenz im radikalen Sinne dasjenige, was nicht konstruierbar ist, was sich außerhalb der Verfügungsmacht des Subjekts befindet, das als das Mögliche und Neue, bedrohlich und glückhaft, in das Dasein einbricht, es zerstört oder bereichert. Und schließlich: Die Kontingenz etabliert wiederum eine Regel, eine Tradition, eine Ordnung – allerdings eine andere, neue. In allen genannten Zusammenhängen ist Kontingenz immer auf Nicht-Kontingenz bezogen. Kontingenz und Zufall sind Relationsphänomene, Über- und Grenzgänge zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. 12
JÖRG ZIRFAS: KONTINGENZ UND TRAGIK
Bezogen auf den Alltag der Menschen erscheint daher allemal das Denken einer relativen Kontingenz als eine solche, die nichts über den Gegenstand an sich aussagt, sondern die betreffenden Sachverhalte unter spezifischen Perspektiven als kontingent vorstellt, sinnvoll zu sein: eine „je nach Lebenssphäre, sozialer Lage und persönlicher Situation variable Mischung aus Gewissheit und Möglichkeit, Festgelegtem und Aufhebbarem, Geplantem und Zufälligem, Geschlossenem und Offenem“ (Hondrich 1985: 60). Denn noch die verlässlichste Regel, die stabilste Tradition, die erfolgreichste Strategie muss revidierbar, d.h. kontingent bleiben, denn nimmt man dem Menschen die Kontingenz, so nimmt man ihm auch die Möglichkeiten der Verfehlung und Korrektur, des Scheiterns, der Alternativen und Möglichkeiten, der glücklichen Fügung – und des tragischen Schicksals.
Tragik als moderne Erfahrung Während der Begriff der Kontingenz zum Grundbegriff der Moderne zu avancieren scheint, ist es um den Begriff der Tragik eher still geworden (vgl. Menke 2005). Dabei ist die Tragik bzw. das Tragische lange Zeit nicht nur als ästhetischer Grundbegriff, sondern auch als eine anthropologische Bestimmung gehandhabt worden, die einen unausweichlichen Konflikt zwischen Werten oder Gewalten betraf, in dem die beteiligten Personen sich notwendigerweise mit Leiden, Schuld und Vernichtung konfrontiert sahen – ohne dass in der Konfrontation der Konflikt selbst gelöst worden wäre. Die Tragik kennzeichnet den vergeblichen, in gewisser Weise sinnlosen Kampf gegen das Verhängnis und die Verhältnisse. Denn der tragische Konflikt ist der schicksalsbedingte, unausweichliche und unlösbare Kampf zwischen zwei gleichberechtigten Repräsentanten, der nichtsdestotrotz mit dem Untergang des Helden enden muss. Doch umgekehrt gilt auch, dass die Tragik notwendig, ja sinnvoll ist, denn die Konfrontation mit der Unerbittlichkeit des Geschehens entspringt nicht kontingenten Ursachen, sondern religiösen, kosmologischen, ethischen, anthropologischen etc. Notwendigkeiten. Auch gingen die Alten davon aus, dass nicht jeder Mensch Tragik erfahren kann, bildeten doch spezifische Haltung und Charakter des Betroffenen die Vorraussetzungen für einen tragischen Konflikt.
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EINLEITUNG
In einem Zeitalter der Kontingenz aber lässt sich Tragik auf den ersten Blick kaum wahrnehmen. Woraus sollte die tragische Verstrickung bestehen, wenn es weder absolute objektive und subjektive Notwendigkeiten, noch objektive und subjektive Unmöglichkeiten zu geben scheint? Wo der „Abschied vom Prinzipiellen“ (Marquard 1981) vollzogen wurde, scheint sich auch die Tragik verabschiedet zu haben, die gerade in der Konfrontation des Prinzipiellen bestand. Oder besteht die Meta-Tragik der Moderne darin, selbst keine solchen Prinzipien mehr zu kennen? Lässt sich die Tragik der Moderne somit darin sehen, dass es keine trennscharfen Differenzen zwischen dem Notwendigen, Unmöglichen und Kontingenten mehr gibt und damit zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, Glück und Unglück, Fortschritt und Zerstörung etc. kaum zureichend differenziert werden kann? Sollte dieser Befund zutreffen, so würde die „alte“ Funktion der Tragik, über die letzten Daseinsfragen der Menschheit Aufschluss zu vermitteln, noch einmal neu akzentuiert. Zwar lässt sich mit dem Anspruch auf universelle Plausibilität oder Begründbarkeit kaum mehr sagen, wie Charakter und Schicksal zusammenhängen oder wie Freiheit und Notwendigkeit miteinander verkettet sind, doch bleibt auch in der Moderne die Funktion der Tragik, Möglichkeiten von Grenzbestimmungen des Menschlichen auszuloten, erhalten. Allerdings „demokratisiert“ sich sozusagen die Tragik, da sie aus dem Bereich des Heroischen ins profane Fach des Alltags wechselt. Daher ist auch aus der Moderne die Tragik nicht wegzudenken, wenn sie auch ihren Ort gewechselt hat, ist sie doch buchstäblich überall anzutreffen – in den Katastrophen, die die Menschen durch Naturgewalten und Unfälle erfahren, in den Schicksalsschlägen, die Krankheiten und Familien heimsuchen und in den Traumata, die die Menschen durch die Nichtbewältigung des Ödipuskomplexes und durch Gewalterfahrungen erleiden. Weil die Kontingenz die Ontologie des Alltags erfasst hat, erscheint jedes Handeln nicht nur potentiell kontingent, sondern auch potentiell tragisch zu sein, kann es doch als Grenzverletzung verstanden werden. Kierkegaard wusste das: „Der Augenblick der Entscheidung ist ein Wahnsinn“ (Kierkegaard z.n. Derrida 1976: 53). 3 3
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Für Kierkegaard bildet die ästhetische Sphäre die genuin tragische Welt, da sie die Mitte zwischen absoluter Substantialität und absolu-
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Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die modernen Menschen zunehmend die biographischen Kontrollen verlieren, ihr Dasein als flüchtig und kontingent erleben und immer weniger dazu in der Lage sind, ihre Lebensgeschichte in eine – wie auch immer geartete – kohärente Erzählung zu bringen. 4 Die Bedingungen der neuen kapitalistischen Kultur erzeugen Bindungsverluste, Orientierungsdefizite. Verhaltensunsicherheiten und -zwänge sowie Standorterosionen. Der flexible Mensch ist ein „Driver“, der das Vertrauen in die Institutionen und in sich selbst eingebüßt hat. „Gibt es Grenzen, wieweit Menschen verbogen werden dürfen? Kann der Staat den Menschen etwas wie Dehnfestigkeit eines Baumes geben, so dass wir unter dem Druck der Verhältnisse nicht zerbrechen“ (Sennett 1998: 66)? Was bedeutet es für die Menschen, keine definitiven Ziele mehr zu haben und ständig neu beginnen zu müssen? Welche Auswirkungen haben die Entwertung der Erfahrungen, das immer neue life long learning, die nicht mehr eliminierbare Angst vor dem Versagen? Führt die moderne Erfahrung von Kontingenz ob ihrer Unübersichtlichkeiten nicht auch zu Depressionen – zu einer „fatigue de soi“, einer Trägheit und Müdigkeit des Selbst, das die Kontingenzen nicht als Chancen, sondern als Risiken von biographischen Stilisierungsoptionen begreift (vgl. Ehrenberg 2000)? Wie kann man mit dem individuellen Scheitern umgehen, wenn dieses nur ein Zufall ist? Führen diese Entwicklungen schlussendlich zu dem Gefühl, der Mensch sei selbst nur ein kontingentes Etwas, ein homo aleator? Ist es die Tragik der Moderne, keine ontologische, sondern nur noch eine kontingente Tragik zu kennen? Hat das klassische Schicksal ausgedient? Noch Goethe behauptete zu Beginn des 19. Jahrhunderts, „dass der Zufall wohl pathetische, niemals aber tragische Situationen hervorbringen dürfe; das Schicksal hingegen müsse immer fürchterlich
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ter Subjektivität, zwischen Schuldlosigkeit und Schuld betrifft (vgl. Schepers 1998: 1340). Den wohl eindeutigsten Beleg für diese These liefert die „Autobiographie“ von Fernando Pessoa aus dem beginnenden 20. Jahrhundert: „Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne Wunsch nach Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe“ (Pessoa 2008: 25).
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EINLEITUNG
sein und werde im höchsten Maße tragisch, wenn es Schuldige und Unschuldige, voneinander unabhängige Taten in eine unglückliche Verbindung bringt“ (Goethe 1961: 419).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich diese Einschätzung radikal geändert. So schreibt Gottfried Benn 1930: „Es gibt kein Schicksal mehr, die Parzen sind als Direktricen bei einer Lebensversicherung untergekommen, im Acheron legt man eine Aalzucht an, die antike Vorstellung von dem Furchtbaren des Menschen wird bei der Hygieneausstellung stehend unter allgemeiner Teilnahme, während die deutschen Ströme in verschiedenfarbigen Gewändern vorüberziehen, in großer Ergriffenheit auf ihren Normalgehalt zurückgeführt“ (Benn z.n. Safranski 2007: 341).
Ist hier die Desillusionierung schon theoretisch greifbar, so wird sie in den Erfahrungen des Nationalsozialismus gleichsam politisch und anthropologisch ausbuchstabiert. Nicht zu vergessen ist in diesem Kontext auch Aldous Huxley, der uns 1953 in der „Brave new World“ darüber belehrt, dass die moderne Tragik darin besteht, keine Tragik mehr zu kennen, und dessen „Held“ deshalb ein Recht auf Unglück und Schicksal einfordert (Huxley 1977). Wie schwierig eine Bestimmung und Bewertung des Schicksals in der Moderne erscheint, lässt sich vermutlich am ehesten an jenen Ereignissen verdeutlichen, die mit großen politischen und kulturellen Umbrüchen einhergehen – wie etwa die Wende von 1989 oder auch die nationalsozialistische Diktatur von 1933-1945. So lässt Imre Kertész (2005) im „Roman eines Schicksalslosen“ seinen jugendlichen „Helden“ nach den Erfahrungen von Auschwitz und Buchenwald zu folgender Erkenntnis kommen: „Auch ich habe ein gegebenes Schicksal durchlebt. Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt – und ich begriff nicht, warum es ihnen nicht in den Kopf ging, dass ich nun eben etwas damit anfangen, es irgendwo festmachen, irgendwo anfügen musste, dass es jetzt nicht mehr genügen konnte, mir zu sagen, dass es ein Irrtum war, ein Unfall, so eine Art Ausrutscher, oder dass es eventuell gar nicht stattgefunden hat, womöglich. [...] Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich: wenn es aber [...] die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal, das heißt also [...], wir selbst sind das Schicksal – dahinter war ich plötz-
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lich gekommen, und zwar in diesem Augenblick mit einer solchen Klarheit wie bisher noch nie“ (Kertész 2005: 283f.).
Wenn schicksalhaft jene Sachverhalte genannt werden können, die auch anders sein könnten, aber gerade nicht durch den Menschen veränderbar sind 5 , so hatte der jugendliche Held ein Schicksal, war nicht „schicksalslos“. Bindet man die Schicksalsfähigkeit aber an die Freiheit der Veränderbarkeit, so trifft die Schicksalslosigkeit des Helden zu. KZ-Häftlinge können in diesem Sinne kein Schicksal haben, weil zwischen ihrem Handeln und ihrem Leiden ein fundamentaler Riss klafft – sie haben ihr eigenes Unheil nicht subjektiv hervorgebracht. 6 Während allerdings das Schicksal in der Antike die Sehenden wie Blinde führt – bzw. auch zu Blinden macht, siehe den „Ödipus“ von Sophkles – und oftmals nur die Blinden selbst diejenigen sind, die das Schicksal richtig sehen, weil sie es verstehen, sind in der Moderne die sehenden Blinden selbst zu Subjekten des Schicksals geworden – allerdings oftmals ohne es zu verstehen. Denn das Schicksal in der Moderne kommt nicht bloß zum Menschen, sondern auch von ihm. Auch wenn die Menschen in der Moderne oftmals in gebührender Selbstüberschätzung davon ausgehen, dass Kontingenz nicht in der Natur oder der Welt, sondern nur in ihrer Konstruktion und Zuschreibung zu finden ist, wird die Sache nicht einfacher, erscheinen die Individuen doch gleichermaßen als Subjekte und Objekte der Kontingenz. Indem das Subjekt der Neuzeit Gott als Schicksalsdenker und lenker abgelöst hat, wurde das Schicksal von ihm selbst abhängig; 5
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v. Graeventiz/Marquard (1998) differenzieren zwischen Beliebigkeits- und Schicksalskontingenz: Beliebig ist das, was auch anders sein könnte, weil es durch den Menschen veränderbar ist; schicksalhaft sind jene Sachverhalte, die auch anders sein könnten, aber gerade nicht durch den Menschen veränderbar sind. So ließe sich ausgehend vom Begriff der Kontingenz einerseits von einer glücklichen Kontingenz als dem Umstand sprechen, dass die Ereignisse, ohne durch den Menschen grundsätzlich verursacht worden zu sein, sich letztlich so fügen, dass sie den Wünschen und Erwartungen des Menschen entsprechen. Andererseits und demgegnüber kann man kann man mit dem Begriff der tragischen Kontingenz den Sachverhalt bezeichnen, dass selbst das individuelle Eingreifen in den Lauf der Dinge eine Verkettung von Umständen nicht davon abhalten kann, dass der Eingreifende letztlich katastrophale Folgen zu erleiden hat.
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EINLEITUNG
damit ging eine vermeintliche Depotenzierung des Schicksals zum Zufall einher, denn so könnte man sagen, man glaubt in der Moderne in vielen Fällen nicht mehr an ein (objektives) Schicksal, sondern, wenn überhaupt an den Unfall, den Unglücksfall oder das Pech. Doch dies ist ein Irrtum: „Resultat der modernen Entmächtigung ist nicht nur der offizielle Triumph der menschlichen Freiheit, sondern auch die inoffizielle Wiederkehr des Schicksals“ (Marquard 1982: 75; vgl. Marquard 1986). So werden die Menschen selbst mehr und mehr zum „Täter der Teleologisierung des Unglücks“, sie werden Täter und Opfer des Glücks und des Unglücks, und hoffen doch – wie im Märchen – darauf, dass sie ihr Schicksal und ihr eigenes Handeln nicht im Stich lässt (Zirfas 1993: 144ff.). Dazu werden Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Statistiken bemüht, die das zum Risiko depotenzierte Schicksal als eine Verkettung von quasi kausalen Konstellationen verstehen, die mit einer gewissen Erwartungssicherheit auftreten können. 7 Doch Kalkulationen von Risiken, Technikfolgenabschätzungen und Zukunftsprognosen aller Art sind – und auch diese Einsicht gehört mittlerweile zum Erfahrungs- und Reflexionsbestand der Moderne – nur unzureichende Versuche, mit der prinzipiellen Kontingenz umzugehen.
Umgang mit Kontingenz und Tragik Lässt sich die Moderne als Zeitalter der Kontingenz verstehen und ist darüber hinaus das Kontingenzbewusstsein mit extremen Ambivalenz- und Orientierungsproblemen verknüpft, so erhellt, warum sich die Moderne auch als Zeitalter der Reflexion, Gestaltung, Bewältigung und Bannung von Kontingenz verstehen lässt. Denn das grundlos fixierte Ausgeliefertsein an anonyme sozialfunktionale, aber auch an natürliche Prozesse und die unvollständige Bestimmbarkeit menschlichen Lebens eröffnen einen Raum des Potentiellen, dessen Risiken mittlerweile die Chancen zu 7
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Gelegentlich teilt auch das moderne Risiko die Härten des antiken Schicksals, wenn auch die Schuldzusammenhänge und die Adressaten andere sind. Das antike Schicksal ist immer das grausame, feindliche, düstere und drohende „Gegenüber“ des Menschen; es wird verhängt wie ein Strafrecht, wird zum „Schuldzusammenhang des Lebendigen“ (Benjamin 1977). In der Antike haben die „Menge“ und die Götter kein Schicksal.
JÖRG ZIRFAS: KONTINGENZ UND TRAGIK
übersteigen scheinen. Mit der Potentialisierung des Realen und der Unbestimmbarkeit des Ungewissen rücken Endlichkeit und Vergänglichkeit, Verlust und Sterblichkeit, Freiheit und Simulation verstärkt in den Blick. Die Suche und die Sucht nach Bearbeitungsmustern für Unfälle, Katastrophen und Risikoszenarien wachsen. Weil immer alles auch nicht bzw. alles auch anders sein könnte, weil – und obwohl – alles möglich ist (anything goes) und trotzdem – oder deswegen – vieles nicht mehr geht (rien ne va plus), wird Kontingenzgestaltung und -bewältigung zur zentralen Problematik der Moderne. 8 Neben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno oder auch Niklas Luhmann hat vor allem Zygmunt Bauman auf die Moderne als Zeitalter der Reduktion und der Eliminierung von Kontingenz hingewiesen. So sieht Bauman Ambivalenz und Kontingenz vor dem Hintergrund einer durchgängigen Rationalisierung und Planung des Lebens durch Politik und Technik gleichsam als „Abfall der Moderne“ (Bauman 1996: 30). Denn lässt sich das andere der Moderne als „Polysemie, kognitive Dissonanz, polyvalente Definitionen, Kontingenz“ (ebd.: 21) verstehen, so widerspricht dieses andere den sauberen Klassifikationen, der durchgängigen Kontrolle, der Beseitigung des Fremden und der Unkalkulierbarkeit von Zukunft. 9 Denn wer Ordnung und Eindeutigkeit herstellen will, muss Ambivalenzen und Kontingenzen beseitigen, da sie sich der binären Logik von Sein und Nicht-Sein nicht fügen. Darin, dass die binäre Logik von Notwendigkeit (des Seins) und Unmöglichkeit (des Nicht-Seins), durch die Möglichkeit der Kontin-
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Dieser Sachverhalt lässt sich anthropologisch formulieren: Die Menschen halten die Kontingenz nicht aus und flüchten in die Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Und: Die Menschen halten die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit nicht aus und flüchten in die Kontingenz. Anthropologisch geht es um eine doppelte Entlastung, als eine von der Kontingenz und als eine vom Notwendigen und Unmöglichen (vgl. Zirfas 2007). Man könnte auch argumentieren, dass in der Moderne gelegentlich der (soziale, politische, anthropologische etc.) Ausschluss des Anderen gelingt, mit dem Effekt, dass es kein Gegenüber gibt – wie Heidegger vermutete. Insofern bestände die Tragik der Moderne im Verlust des Anderen. Man könnte aber auch sinnvollerweise behaupten, dass die Tragik der Moderne darin zu sehen ist, das jeder Ausschluss des Fremden und Anderen prinzipiell misslingen muss, weil diese im Ausschluss gleichsam wieder integriert werden.
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EINLEITUNG
genz (zu sein oder nicht zu sein) dekonstruiert wird, gerät die Moderne aus den Fugen. Hierin liegt auch ihr tragisches Moment. Da von Anfang der Moderne an vor allem die Orientierungsund Perspektivlosigkeit und eine bodenlose Unsicherheit akut werden, weil der Bereich des Auch-anders-sein-Könnens, der Bereich der Kontingenz, mit jeder Wirklichkeit auch jede Ordnung, und damit jede Form sozialen und individuellen Lebens erfasst, wird das Leben zunehmend als riskant und tragisch empfunden. In diesem Sinne sind Kontingenz und Tragik unmittelbar aufeinander bezogen. Die Unerbittlichkeit des Geschehens erscheint allerdings nicht mehr nur aus höheren, göttlichen, natürlichen etc. Gesetzmäßigkeiten ableitbar, sondern auch aus technologischen, sozialen, individuellen etc. Zufällen, d.h. kontingent, rekonstruierbar. Die Tragik des modernen Menschen besteht in dieser Verschränkung von Nicht-Kontingenz und Kontingenz – die eigentliche Tragik darin, ein nicht tragisches und nicht kontingentes Verhältnis zu dieser Mischung gewinnen zu müssen – und doch nicht zu können. Denn in der Moderne erscheint die Tragik nicht in einem absoluten, sondern in einem zugleich schicksalsbedingten wie handlungsbedingten, unausweichlichen wie veränderbaren, unlösbaren wie auflösbaren Konflikt. Die Tragik liegt somit im Ende der Eindeutigkeit der Differenzierungen; diese Uneindeutigkeit muss nunmehr ausgehalten werden. Doch ist mit der Moderne und – paradoxerweise mit dem Versuch, die Kontingenzen zu bannen – auch die Einsicht verbunden, dass die Grenzziehungs- und Bannungsversuche selbst kontingent sind. Diese Einsicht lässt sich auch daran ablesen, dass man z.B. zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen dem Globalen und dem Lokalen, zwischen den verschiedenen Modernisierungsprozessen und, horrible dictu, auch zwischen dem Notwendigen, Unmöglichen und Kontingenten kaum eine hinreichende Differenz fixieren kann – ist doch die Differenzierung selbst kontingent. Der Umgang mit der Kontingenz führt zu einem kontingenten Umgang. In der Regel präferiert die Moderne daher eine Stabilisierung von Kontingenzen auf einem für die Individuen erträglichen Niveau. Eine Möglichkeit, mit Kontingenz umzugehen, besteht in der Bannung von Kontingenz. Doch diese Strategie birgt wiederum ein bestimmtes Risiko:
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JÖRG ZIRFAS: KONTINGENZ UND TRAGIK
„Je mehr wir in den alltäglichen sozialen und technischen Beziehungen Unbestimmtheiten und Risiken bannen, indem wir sie eingrenzen und in ihrer verkleinerten und entschärften Form abfangen, umso ungeübter und hilfloser stehen wir da, wenn dieser Eingrenzungsmechanismus einmal nicht funktioniert und Risiken in ihrer elementaren Wucht hereinbrechen“ (Hombrich 1985: 76).
Und Gerhard Gamm erinnert an drei mit der Kontingenzvermeidungsstrategie verbundene Kontingenzen: an 1. dasjenige, was sich der Planung entzieht, das Unverfügbare und Zufällige, an 2. dasjenige, was mit der Planung sich als unverfügbar zu erkennen gibt und an 3. dasjenige, was durch die Planung als kontingent entsteht (Gamm 1994: 37). Der moderne Versuch, Kontingenz zu minimieren, verweist auf die Grenzen dieses Versuchs, offenbart weitere Kontingenzen und bringt – paradoxerweise – selbst neue Kontingenzen hervor. Denn: „Nicht alles, was geschah, hatte auch eine Ursache, und wer tat, als wenn das anders wäre, der griff vergebens in das Getriebe der Welt ein, was allerhand Kummer heraufbeschwören konnte. Manche Dinge sind eben, wie sie sind“ (McEwan 2002: 213). Daher scheint die andere Möglichkeit, die schon von Nietzsche im „Zarathustra“ vorgeschlagen wurde, sinnvoller zu sein: Diese besteht in der rückhaltlosen Bejahung der Kontingenz (Nietzsche 1999: 197ff.). 10 Es gilt, die Kontingenz und den Zufall anzuerkennen und zu wertschätzen, die kontingente Notwendigkeit des Grundes festzulegen, „im Zufall die Notwendigkeit und in der Notwendigkeit den Zufall [zu] bejahen“ (Balke 1999: 56). Agnes Heller schreibt dazu: „Ein Individuum hat seine oder ihre Kontingenz in sein oder ihr Geschick verwandelt, wenn diese Person zu der Überzeugung gekommen ist, das Beste aus seinen oder ihren praktisch unendlichen Möglichkeiten gemacht zu haben. Eine Gesellschaft hat ihre Kontingenz in ihr Geschick verwandelt, wenn die Angehörigen dieser Gesellschaft zu der Überzeugung kommen, dass sie an keinem anderen Ort und zu keiner anderen Zeit lieber leben würden als hier und jetzt“ (Heller z.n. Bauman 1996, S. 285). 10 Hierbei wird auf die berühmte Stelle aus dem Kapitel „Vom Gesicht und Rätsel“ Bezug genommen, in dem Nietzsche seine Ideen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und des Ergreifens des Augenblicks propagiert.
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EINLEITUNG
Nietzsche war es auch, der auf die Kunst als denjenigen Bereich menschlichen Lebens hingewiesen hat, der den Umgang mit der Kontingenz einüben kann: Hier können wir große Kontingenzen en miniature bewältigen, kleine Unbestimmtheiten in große oder auch reale in artifizielle überführen und durchspielen; in der und durch die Kunst kann man lernen, sich inszenierten Ernstfällen auszusetzen und existentielle Tragik zu ertragen.
Kunst und Ästhetik Die Kunst der Antike und des Mittelalters ist nicht durch die Kontingenz, sondern durch die Un-Möglichkeit der Kontingenz geprägt. So ist in der Antike und im Mittelalter die Kunst weitgehend eine techne (ǕƾǘǖLj), ein praktisches, auf Herstellung zielendes Wissen, ein regelorientiertes Handwerk (Zirfas u.a. 2009). Die Kunst hat nicht – wie seit dem Beginn der Neuzeit – die Funktion, die Möglichkeiten des Lebens zu vervielfältigen, sondern sie soll das Zweckmäßige und Notwendige hervorbringen. Wird die Kunst in der Moderne oftmals auf das Veränderliche, bloß Mögliche und Virtuelle reduziert, kommt ihr in der Antike Verbindlichkeit, Strenge, Kodifizierung und Verpflichtung zu. Kunst soll die Wirklichkeit nicht verwandeln, noch am (ästhetischen) Vollzug des Lebens selbst teilhaben, sondern das Leben so stabilisieren, dass dieses sich auf das Wahre, Gute und Schöne hin ausrichtet. Für diese Form der Kunst ist Mimesis der entscheidende Begriff, die Darstellung und Nachahmung einer natürlichen oder göttlichen Ordnung, während für die moderne Kunst Kreativität, Erneuerung, Expressivität und Schöpferisches im Vordergrund stehen, d.h. diese Kunst hat es mit Kontingenz und Zufall zu tun (vgl. Gendolla/Kamphusmann 1999). Für die Griechen ist der Kosmos ein Ort absoluter Notwendigkeit, in der die Kontingenz keinen Raum hat. Selbst Aristoteles, für den die Kontingenz im Rahmen menschlicher Handlungen und in den Naturvorgängen noch gilt – „Die Kunst liebt den Zufall und der Zufall die Kunst“, so zitiert Aristoteles zustimmend Agathon in der Nikomachischen Ethik (Aristoteles 1984: 1140a 20) –, glaubt an eine unvergängliche, unveränderbare, sich selbst gleich bleibende Struktur des Alls. Im Bereich des alltäglichen Lebens können die Kontingenzen durchaus ihre Rolle spielen, und die Zufälle des Daseins ihre Berechtigung haben, doch auf kosmologi-
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scher Ebene wird die Kontingenz durch die tyche und den logos aufgehoben. Die fundamentale Ordnung der Welt lässt sich weder durch logische, kausale oder temporale Kontingenzen in Frage stellen. Diese logische Ordnung soll durch Kunst dargestellt werden. Kunstwerke in der Moderne sind dagegen Ausdruck von Kontingenz auf allen ästhetischen Ebenen, auf der motivationalen, produktiven, rezeptiven und auf der Werkebene. So rekurriert die Kunst auf den motivationalen Zufall, ist doch das Kunstwollen „dem Willen des Einzelnen entzogen“ (Ullrich 2005: 192); sie verwendet die Kontingenz in ihren Produktionen, wenn sie mit verschiedenen Werkformen, Materialien und Medien jongliert, so dass das Kunstschaffen zu einem Experiment wird (in dem sich die Kunst zugleich selbst reflektiert); und auch in das „Werk“ selbst ist die Kontingenz mit eingebaut, nicht nur deshalb, weil es nicht mehr feststeht, was alles zu einem „Werk“ eines Künstlers gehört und ob dieses „wirklich“ Kunst ist, sondern auch, weil in dieses der Zufall in Form von vergänglichen Materialien, körperlichen Vergänglichkeiten und technischen Zufallsgeneratoriken involviert ist; und schließlich ist der Zufall auch auf der Rezeptionsebene virulent, insofern ästhetische Wirkungen von Wahrnehmungs-, Erfahrung-, Reflexions- und Phantasieprozessen nicht kalkulierbar sind bzw. deren Kontingenzen geradezu provoziert werden. Nicht nur das Wahrgenommene, die Wahrnehmung von Kontingenz ist selbst kontingent – wie uns die Erfahrung mit Kippbildern belehrt. In diesem Sinne gilt in der Moderne: „Kein Kunstwerk verdient seinen Namen, welches das seinem eigenen Gesetz gegenüber Zufällige von sich weghielte“ (Adorno 1985: 329). Aber auch hier gilt: Kunstwerke sind nicht absolut kontingent. Thematisiert und produziert Kunst Kontingenz, so handelt es sich nicht um bloße, sondern um eine bestimmte, geformte Kontingenz. Vielfach treffen wir auf kalkulierte Zufälligkeit, auf für eine spezifische Werkkonzeption vorgedachte und vorgeformte Aleatorik. 11 11 Zur Bestimmung des Zufalls und zur Differenzierung des Zufalls von Kontingenz: „Der Zufall der Aleatorik ist eben gerade kein Zufall im Sinne des alltagssprachlichen Verständnisses, sondern ein wohlkalkuliertes Konzept des Generativen.“ […] Insofern ist der Zufall „eher eine Umschreibung der Steigerung von Potentialitäten, Kontingenzen und vor allem der Aspekt-Unterscheidungen. […]
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EINLEITUNG
Kunstwerke verdichten auf der einen Seite Wahrnehmungen und erzeugen auf der anderen Seite Erfahrungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit und Kontingenz. Das Kunstwerk, als Einheit von Mannigfaltigkeit, liefert in seiner Redundanz Varietät, in seiner Komposition Komplexität, in seiner Symbolik Unausdeutbarkeit und durch seine Ordnung den Beweis dafür, dass auch im strukturierten Kosmos Möglichkeiten der Kontingenz vorhanden sind. Man könnte fast sagen, die moderne Kunst beharrt auf ihrem kontingenten Charakter, richtet sich ihre Argumentation doch vor allem darauf, dass alle Interpretationsmöglichkeiten offen bleiben und dass das unausschöpfliche Reservoir an informativen Relationen aufrechterhalten wird (Eco 2002). Kunst ist nicht mehr der maßvolle Umgang mit dem Notwendigen, sondern der nichtkontingente Umgang mit der Kontingenz – und wird daher gelegentlich als Ausdruck des Authentischen verstanden (Frohne 2002). Man erwartet im Umgang mit Kunst – paradoxerweise – nicht mehr das Vorhersehbare, sondern das Unerwartete, den Zufall. Man erwartet, in eine Kontingenz hineingestürzt zu werden, in der man seine eigene unverwechselbare, keiner Objektivität verpflichtete Wahl treffen kann. Hierfür entwickelt die Kunst tentative, experimentelle Maßstäbe. Im Surrealismus, Happening, Fluxus, Imformel, in der arte povera und in den diversen Perfomance- und Installationskünsten lebt man geradezu vom Zufall – bzw. von den Zufällen, da hier wohl von unterschiedlichen ästhetischen Kontingenzen die Rede sein muss. Kurz: Kunst ist nicht mehr Imitatio des Notwendigen, sondern Mimesis des Kontingenten. Dem sich in der Moderne radikalisierenden Bewusstsein von Kontingenz kann Kunst somit die paradoxe Verschränkung von nicht kontingenten Zusammenhängen mit Kontingenz entgegenhalten, Erlebnisse der unverhofften Kontur des Eigenen und des Fremden trotz aller biographischen und kulturellen Brüche:
Zufall unterscheidet sich von Kontingenz möglicherweise durch ein Moment der Magie, das aus der subjektiven Anstrengung herrührt, Signifikanz im Nicht-Signifikanten um jeden Preis herzustellen“ (Reck 1999: 125, 184, 187). – Mit einem Wort: Während Zufälle immer einen Zusammenhang stiften (vgl. Utz 2005), stiften Kontingenzen immer Differenzen.
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„In einer Welt, in der die Diskontinuität der Phänomene die Möglichkeit für ein einheitliches und definitives Weltbild in Frage gestellt hat, zeigt sie [die Kunst, JZ] uns einen Weg, wie wir in diese Welt, in der wir leben, sehen und damit anerkennen und unsere Sensibilität integrieren können“ (Eco 2002: 164f.).
Mit ihren Montage-, Collage- und Performancetechniken reagiert die Kunst auf die Fragmentarisierungen, Pluralisierungen und Widersprüchlichkeiten des modernen Lebens. Moderne Kunst ist eine Antwort auf den Sachverhalt, dass sich Subjektivität, Sozialität und Welt nicht mehr umfassend erleben und begreifen lassen. Zentral ist hier, dass die Kunst rößere Wahrnehmungs-, Wahl-, Entscheidungs- und Handlungsspielräume gegenüber sich schnell wandelnden sozialen und kulturellen Konstellationen gestattet. Kunst ist Realisierung von Kontingenz als Austarierung und Konturierung des Lebens. Die Kunst ist Maßgebung der Kontingenz als Ausschluss und Formung von Möglichkeiten: Kunst ist Kontingenzstilisierung, -gestaltung, -bewältigung – und -erzeugung. Die moderne Kunst lässt sich beschreiben als ein Spiel mit der Kontingenz, als Spiel mit Bedeutungen, mit der Integration und Desintegration von Zeichen und Elementen der Performance, mit kulturellen Rahmungen und Wahrnehmungsformen. Dementsprechend liegt der Wert der Kunst heute in dem Versuch über die Kontingenz von Selbst- und Weltverhältnissen anhand von besonderen, nämlich sinnlich materiellen Gegenständen und Geschehnissen, zu reflektieren (vgl. Bertram 2005). In den unübersichtlichen und unübersehbaren, den überdeterminierten und fragmentierten Strukturen moderner Kunstwerke werden manifest oder latent krisenhafte Prozesse der Verständigung inauguriert. Der Umgang mit Kunst nun übt den Umgang mit der Kontingenz ein; denn in ihr hat das „Unkalkulierbare, Unvorhersehbare, Unwägbare und Unplanbare“ (Bilstein 2007: 169) seinen Ort. Daher erscheint es sinnvoll, ästhetische und künstlerische Bildungsprozesse nicht auf funktionalisierbare Nützlichkeiten für ökonomische, politische etc. Belange zu beziehen, sondern auf den Umgang mit Kontingenz selbst. Kunst und Ästhetik können sich in der Moderne gerade durch ihre Nutzlosigkeit legitimieren, indem sie Menschen eine „Ahnung vermitteln, dass es eine Welt jenseitig der Zweckmäßigkeiten gibt: eine reiche, bunte und vielfältige
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EINLEITUNG
Welt der Bilder, der Klänge, der gestalteten Dinge“ (ebd.: 176). Der Umgang mit Kunst vermittelt so ein Gefühl für die reiche Welt der Kontingenz. Zu dieser reichen Welt gehört auch die moderne Form der Tragik. Dabei nähert sich die tragische Kunst in der Moderne der Tragikkomödie an. Hierfür sind die Dramen von Beckett, Ionesco und Bernhard oder auch die Romane von Kafka, Auster und McEwan einschlägige Beispiele. In ihnen halten sich Tragik und Komik, Grauen und Lachen die Waage; in ihnen ist alles möglich, obwohl oder weil alles unmöglich oder notwendig ist. Während die klassische Tragödie die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, und die Antwort verweigert, stellt die moderne Tragik die existentielle Frage im Hinblick auf eine Vielzahlt von Antworten: Nun weiß man nicht mehr, ob man lachen oder weinen soll. Die tragische Erfahrung der modernen Kunst ist die Erfahrung einer tragischen Ironie (Rorty 1992), in der das unverschuldete Schicksal und die selbstverschuldeten Handlungen notwendigerweise in ein Unglück münden (Menke 2005). Wenn unter der Moderne das Zeitalter verstanden werden kann, das das Absolute profanisiert und pervertiert hat, so erscheint es nicht nur sinnvoll, das Tragische komisch zu sehen, sondern auch, in der Komik die Tragik zu entdecken. Die moderne Tragik ist eine der metaphysischen Obdachlosigkeit, der „ontologischen Leere“ (Ionesco). Der Mensch avanciert zu einer tragischen Figur, die ihren Grund nicht mehr in ihrem (religiös, autonom etc. verankerten) Selbst, sondern in den kontingenten Bedingungen ihrer kulturellen Deutungsmuster und Zeichen finden muss. Dabei führen die ästhetische Wahrnehmung von Kontingenz und der ästhetische Umgang mit ihr nicht notwendigerweise zu einer kontingent-tragischen Haltung, zu Ironie und Sarkasmus oder zu Nihilismus und Agnostizismus. Man könnte auch umgekehrt argumentieren: Wenn die Kunst deutlich machen würde, dass es nur Möglichkeiten gäbe, gäbe es keine Möglichkeiten mehr; wenn sie uns vorführen würde, dass es nur Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten gäbe, wäre sie überflüssig.. Insofern ist sie ein Spiel mit den und eine Gestaltung der Kontingenzen und ein Spiel mit den und eine Gestaltung der Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten. Die Kunst besteht darin, diese Gestaltungen in
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der Schwebe zu halten, ohne sie nach einer Seite auflösen zu wollen: Das kann man komisch finden – oder tragisch nennen. Im Folgenden geht es um dieses Dual: Die Kontingenz als eine moderne Form der Tragik und die Tragik als eine moderne Form der Kontingenz zu verstehen. Unternehmen wir dabei den Versuch, „das, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“ (Musil 1981: 16). Denn: „Wenn alles geschehen kann, ist alles wichtig“ (McEwan 2005: 289). 12
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12 An dieser Stelle soll Sebastian Ruck für die sorgfältige Erstellung
der Druckvorlage des Bandes herzlich gedankt werden.
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EINLEITUNG
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JÖRG ZIRFAS: KONTINGENZ UND TRAGIK
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EINLEITUNG
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Begriffliche Zugänge
Peter Bernhard
Zufall als Unglück „Glück und Unglück ist dasselbe. Beides ist der Zufall, der durch das Geschehen einen Menschen verändert.“ Kurt Schwitters
1. Unglück im Zeitalter des Zufalls Bis zum Beginn der Neuzeit herrschte die Überzeugung, dass der Zufall als eine anarchisch-ephemere Erscheinung keinen Gegenstand der Wissenschaft bilden könne. So war Pascal der Erste, der auf diesem Gebiet Gesetzmäßigkeiten entdeckte, freilich angeregt und zunächst bezogen auf Fragen nach der Gewinnmaximierung beim Glücksspiel, einer als marginal und minderwertig betrachteten Angelegenheit. Doch die kurz darauf einsetzende rasante Entwicklung des Kapitalismus machte präzise Risikoabschätzungen unabdingbar, so dass das Interesse an systematischen Untersuchungen von Zufallsereignissen schnell zunahm. Mit der neuen Wirtschaftsordnung begann sich abzuzeichnen, was durch die Französische Revolution dann ins allgemeine Bewusstsein drang: dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auf keiner unabänderbaren Notwendigkeit, sondern letztendlich auf Zufälligkeit beruhen. Die Evolutionstheorie erweiterte dann den Einflussbereich des Zufalls von der menschlichen auf die allgemein biologische Sphäre, indem sie zufällige Mutationen als den bestimmenden Faktor der Entwicklung des Lebens ansah. Schließlich wurde durch die Quantenphysik dieser Bereich auf das Materielle schlechthin ausgedehnt und Zufälligkeit zu einer objektiven, physikalischen Größe erklärt. Die neuzeitliche Wissenschaft, die den Zufall überall als zugrunde liegend ausmacht (vgl. Scheibe 1985; Mainzer 2007), fügt sich nicht nur nahtlos an das alltägliche Erleben, für das Zufälligkeit eine fundamentale Kategorie bildet, sondern verdrängt zugleich ursprünglich geltende Sinnzusammenhänge. Damit kann die Moderne geradezu als „Kontingenzkultur“ charakterisiert werden (vgl. Makropoulos 1997). So gelten Glück und Unglück heute als Produkte eines blinden Zufalls, dem man sich grundlos ausgeliefert sieht. Dieses Befinden wirkt sich in erster Linie auf 33
BEGRIFFLICHE ZUGÄNGE
den Umgang mit Unglück aus. Zwar ist auch Glück mitunter leichter zu genießen, wenn es etwa als Lohn der Tugend angesehen wird. Aber vor allem kann nun erfahrenes Unglück nicht mehr dadurch abgemildert werden, dass es in einen übergeordneten Sinnzusammenhang – Gottesprüfung, ausgleichende Gerechtigkeit, Karma etc. – gestellt wird. Die durch das Verschwinden der Sinnhorizonte eingeleitete Auflösung einer allgemein anerkannten „Kontingenzbewältigungspraxis“ (vgl. Lübbe 1998) hat die konkret gemachten Erfahrungen von Unglück von jeglicher Handlungsorientierung entkoppelt. Angesichts der damit einhergehenden sozialen und psychologischen Verwerfungen sehen sich alle diejenigen, die bisherige Sinnstiftungsversuche als obsolet erachten, vor die Frage gestellt, wie mit Unglück im Zeitalter des Zufalls umzugehen ist. Um mich einer Antwort darauf zu nähern, möchte ich nachfolgend zunächst verschiedene Bedeutungen des Begriffes „Zufall“ explizieren. Danach erläutere ich zwei dieser Bedeutungen etwas ausführlicher, um daran die mir wesentlich scheinenden Merkmale von Unglück darzulegen. Abschließend gebe ich meine Einschätzung, inwiefern ästhetische Bildung in diesem Zusammenhang eine Relevanz besitzt.
2. Die vielfältigen Bedeutungen von „Zufall“ Der Begriff des Zufalls umfasst eine große Anzahl von Bedeutungen und kontextvarianten Nuancen. Das liegt zum Teil an der damit bezeichneten Sache selbst, ist aber auch durch die Geschichte dieses Begriffes bedingt (vgl. Kranz 2004; Wetz 1998). Die erste, eigenständige Untersuchung des Zufalls stammt von Aristoteles. In Buch II der Physik (Kap. 4–6) diskutiert er die Frage, ob der Zufall eine selbstständige Ursachenkategorie bildet. Aristoteles verneint diese Frage, indem er Zufälle zu unbeabsichtigten Nebenfolgen erklärt. Als Beispiel nennt er einen Menschen, der aufgrund seines Ganges zum Markt unerwartet Geld erhält, weil er dort seinen Schuldner antrifft. Die Begleichung der Schuld ist nach Aristoteles dann als zufällig anzusehen, wenn weder der Gläubiger noch der Schuldner mit dem Zusammentreffen rechnen konnten, wenn das Ereignis also weder notwendig noch wahr-
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PETER BERNHARD: ZUFALL ALS UNGLÜCK
scheinlich war. 1 Den Bereich des Zufalls unterteilt Aristoteles weiterhin mit Hilfe der Begriffe automaton und tyche. Dabei bildet automaton den übergeordneten Begriff; er gilt von Ereignissen, die von selbst (kath auto) eintreten, die sich also auf keine Ursache zurückführen lassen. Hierbei ist zu beachten, dass Aristoteles auch Finalursachen kennt, so dass zufällige Ereignisse sowohl grund- als auch zwecklos sind, 2 wie in dem Beispiel eines herunterfallenden Schemels, der insofern zufällig auf seinen Füßen landet, als er nicht deswegen heruntergefallen ist. Tyche reserviert Aristoteles in der Physik für diejenigen Ereignisse, die sich auf ein Handlungsziel fördernd oder hemmend auswirken. Während also automaton für die gesamte Natur gilt, bezieht sich tyche ausschließlich auf den Bereich der menschlichen Praxis. In der Hermeneutik verwendet Aristoteles tyche in Zusammenhang mit Aussagen über zukünftige Ereignisse, die nicht aufgrund einer Naturnotwendigkeit eintreten (die also auch nicht eintreten könnten), 3 wie in dem hinlänglich bekannten Beispiel der anderntags stattfindenden Seeschlacht. Seit dem Kommentar von Boethius, der die hier angesprochene Form von Zufälligkeit mit dem lateinischen contingens übersetzte, wurden die sog. contingentia futura zum Gegenstand einer bis heute andauernden Auseinandersetzung in der Philosophie (vgl. Weidemann 1994, ergänzend Becker-Freyseng 1938). Nach Aristoteles ist diesbezüglich lediglich die Feststellung erlaubt, dass ein zukünftiges, kontingentes Ereignis notwendig eintritt oder nicht eintritt, nicht erlaubt ist dagegen die Behauptung, dass dieses Ereignis notwendig eintritt oder notwendig nicht eintritt. Mit dieser Problematik eng verwandt sind die Untersuchungen, die Aristoteles in den Analytica Priora anstellt. Dort führt er die Formulierung „es kann sein, dass“ im Sinne von „es ist möglich, aber nicht notwendig, dass“ als einen modallogischen Satzoperator ein. In diesem Zusammenhang spricht Aristoteles aber nicht von tyche oder automaton, sondern von endechomenon, was 1 2 3
Die fehlende Regelhaftigkeit ist ein Grund für Aristoteles, weshalb der Zufall kein Gegenstand des Wissens sein kann. Vgl. auch Aristoteles 1969: B 11 f., wo er allerdings nicht zwischen tyche und automaton unterscheidet. Diese den Zufall definierende Form der Möglichkeit, zu sein und nicht zu sein, bezeichnet man als „zweiseitige“ bzw. als „symmetrische“ Möglichkeit (im Gegensatz zur „einseitigen“ Bestimmung der Möglichkeit als Gegenteil von Unmöglichkeit).
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BEGRIFFLICHE ZUGÄNGE
später jedoch ebenfalls mit contingens übersetzt wurde. Schließlich diskutiert Aristoteles in der Metaphysik den ontologischen Status des Zufalls, den er dort als symbebekos bezeichnet, also als das Zusammengekommene oder das Zusammengetroffene. Er charakterisiert symbebekos als ein Nebensächliches und Unwesentliches. So ist es in diesem Sinne ein Zufall, wenn ein Gebildeter eine weiße Hautfarbe hat, da im Begriff der Bildung die Hautfarbe nicht enthalten ist, d.h. Hellhäutigkeit und Gebildetheit können, müssen aber nicht zusammen angetroffen werden. 4 Seit dieser Zufallsbegriff mit dem lateinischen accidens übersetzt wurde, spricht man diesbezüglich von „akzidentellen Eigenschaften“ oder kurz von „Akzidenzien“, was mit „zufällige Eigenschaften“ übersetzt wird. Aristoteles beschreibt den Zufall also mit vier Begriffen: mit symbebekos als das Zusammenkommende oder das Zusammentreffende, mit endechomenon als dasjenige, was sein kann, aber nicht sein muss, mit automaton als das von selbst Eintretende und mit tyche als dasjenige, was das Erreichen eines Handlungszieles unvorhergesehen unterstützt (bzw. herbeiführt) oder behindert (bzw. verhindert). Im außerwissenschaftlichen Sprachgebrauch wurde Tyche seit dem Hellenismus zu einer Göttin personifiziert (vgl. Koster 1996). Diese Gestalt wurde von den Römern unter dem Namen Fortuna übernommen. Daneben besitzt das Lateinische mit casus aber auch ein Wort für die profane Zufälligkeit. Fortuna und casus wurden dann ab dem 17. Jahrhundert mit dem Wort „Zufall“ übersetzt, welches abgeleitet ist von dem mittelhochdeutschen Verb „zuovallen“, was sowohl „zustoßen“ als auch „zuteil werden“ bedeutet. Die philosophische Literatur wurde indes geprägt durch Boethius’ Aristotelesübersetzungen, wo tyche und endechomenon als contingens wiedergegeben werden, während symbebekos schon früher mit accidens übersetzt wurde. Kant behielt accidens als Fachbegriff bei, statt contingens verwendete er allerdings „Zufall“ und bürgerte dieses Wort damit in die philosophische Fachterminologie ein. Vor diesem begriffsgeschichtlichen Hintergrund lässt sich zweierlei feststellen: Zum einen kann trotz der Tatsache, dass in 4
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Der Umstand, dass der Zufall für diejenigen Merkmale verantwortlich ist, die nicht zum Wesen oder zur Natur der entsprechenden Sache gehören, ist ein weiterer Grund für Aristoteles, ihn aus dem Bereich der Wissenschaft auszuschließen.
PETER BERNHARD: ZUFALL ALS UNGLÜCK
das deutsche Wort „Zufall“ mehrere Begriffe eingegangen sind, von einer „Verarmung der Sprache“ nur bedingt die Rede sein, da sich die Bedeutungen dieser Begriffe darin wiederfinden. 5 Zum anderen ist ersichtlich, dass das Wort „Kontingenz“ nicht einfach der (präzisere) philosophische terminus technicus für das umgangssprachliche Wort „Zufall“ ist. Hier ist freilich die Frage anzuschließen, ob eine in den letzten Jahren geforderte Trennung von „Zufall“ und „Kontingenz“ für die philosophische Fachsprache überhaupt sinnvoll durchzuführen wäre (vgl. z. B. Seifen 1992). Mit einer gewissen Vagheit tolerierenden Liberalität ließe sich diesbezüglich allenfalls konstatieren, dass Kontingenz eine Eigenschaft von (lange andauernden) Sachverhalten meint (etwa dem, dass der Planet Jupiter größer ist als der Planet Saturn), wohingegen Zufälligkeit eine Eigenschaft von (kurzen) Ereignissen bezeichnet (z. B. dass jemand gerade dann am Fenster vorbei lief, als keiner hinschaute). 6 Wenn also nachfolgend das zufällige Unglück betrachtet wird, dann soll es (in weitgehender Übereinstimmung mit dem Alltagssprachgebrauch) vorrangig um das Ereignis des Unglücksfalles und nur vermittelt um den Zustand des Unglücklichseins gehen.
3. automaton und tyche als Glück und Unglück Die aristotelische Unterscheidung von tyche – Zufall im Bereich der bewussten Teleologie des Menschen – und automaton – Zufall im Bereich der unbewussten Teleologie der Natur – versucht man in deutschen Übersetzungen mit Hilfe der Wörter „(Schicksals)Fügung“ für tyche und „(blinder) Zufall“ für automaton zu verdeutlichen. Grundsätzlich ist allerdings zu beachten, dass nach Aristoteles der Mensch als Teil der Natur auch dem blinden Zufall im Sinne von automaton ausgeliefert ist. Dabei fällt die Zuordnung zu einer der beiden Zufallsarten nicht immer leicht, zumal dassel5
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Sehr umfassend gibt Hartmann (1938) insgesamt fünf Bedeutungen von „zufällig“ an: (1) unbeabsichtigt, ungewollt, unbezweckt, (2) unerwartet, unvorhergesehen, überraschend, (3) undurchschaubar, unberechenbar, (4) unwesentlich, nebensächlich, (5) grundlos. Eine andere Position möchte den Begriff der Kontingenz ausschließlich für sprachlogische Zusammenhänge reservieren, etwa als Eigenschaft von Propositionen (neben tautologisch und kontradiktorisch) oder als Operator in der Modallogik (neben notwendig und möglich).
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be Ereignis sich je nach Perspektive nicht nur als ein positives oder ein negatives darstellen kann (was u. a. das deutsche Sprichwort „des einen Freud’ ist des andern Leid“ ausdrückt), sondern eben auch als tyche oder automaton. 7 Dementsprechend sind für das aristotelische Beispiel der Begegnung von Gläubiger und Schuldner auf dem Marktplatz mehrere Fälle zu unterscheiden. So kann der Gläubiger aus einem ganz anderen Grund zum Markt gegangen sein, etwa um einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen oder um sich eine Theateraufführung anzusehen. Unter diesen Umständen ist das Zusammentreffen für ihn ein Glücksfall im Sinne von automaton. Sollte er hingegen seinen Schuldner auf dem Marktplatz gesucht haben, obwohl dieser sehr selten dort anzutreffen ist, dann hatte er Glück im Sinne von tyche (also eutychia). Diese Fallunterscheidung ist nicht ohne Weiteres auf den Standpunkt des Schuldners übertragbar. 8 Für ihn ist die Begegnung zwar in jedem Falle negativ, aber als atychia wäre sie nur dann zu charakterisieren, wenn sie sich auf das Ziel des Schuldners auswirkte, welches hier nur als ein negatives bestimmt werden kann, wenn er also zum Markt gegangen wäre, um seinem (dort selten anzutreffenden) Gläubiger nicht zu begegnen. Der Fall, dass sich die beiden nicht begegnen, bildet ebenfalls keine einfache symmetrische Erweiterung, bei der lediglich die Zuschreibungen von Glück und Pech vertauscht werden müssen. Als vorgelagertes Problem taucht hier die Frage auf, ob man auch dann von einem Zufall sprechen sollte, wenn ein Ereignis (unerwartet) nicht stattfindet (mit all den damit zusammenhängenden Verstrickungen bezüglich der Interpretation negativer Tatsachen). Unstrittig scheint für diesen Fall nur die atychia des Gläubigers, wenn er zum Markt gegangen sein sollte, um dort seinem für gewöhnlich anzutreffenden Schuldner zu begegnen. Wäre der Gläubiger aber aus einem anderen Grund zum Markt gegangen, dann läge das Nichtzusammentreffen mit seinem Schuldner weder im Bereich von tyche noch im Bereich von automaton. Ob dies auch mit umgekehrtem Vorzeichen vom Schuldner gilt, hängt davon ab, wie man einen Glücksfall näher bestimmt – vor 7 8
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Diese doppelte Verwobenheit des Menschen nutzt bereits die griechische Mythologie zur Erzeugung von Tragik und Komik. Charlton (1970) rät ganz davon ab, dem Schuldner hier Glück bzw. Unglück zuzusprechen.
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allem in Hinblick auf das subjektive Wissen. So könnte der Schuldner von Glück sprechen, wenn er wüsste, dass sein Gläubiger ihn auf dem Markt (wo er, der Schuldner, für gewöhnlich auch anzutreffen sei) vergebens gesucht hatte. Unabhängig vom Wissen des Schuldners könnten Dritte in Kenntnis der Situation diese aber auch als eutychia für den Schuldner ansehen. Im Gegensatz dazu stünde etwa die Definition eines Glücks- bzw. Unglücksfalles als einem Zufall, der den Betreffenden (unmittelbar) glücklicher bzw. unglücklicher macht. Aristoteles geht auf Fälle dieser Art nicht ein. Wichtig für ihn ist, dass tyche nur bei Wesen auftreten kann, die über einen freien Willen verfügen. Deshalb schließt er unbelebte Dinge, Tiere und kleine Kinder als Adressaten dafür aus. Die deutsche Sprache verfügt über keine spezielle Bezeichnung für diese Form des Glücks bzw. Unglücks. Sie verfügt jedoch über ein Wortpaar, welches das Erreichen oder Verfehlen eines Zieles unter Beteiligung des Zufalls beschreibt. Es sind die Verben „glücken“ und „missglücken“, die sich wie tyche auf rationale Handlungen beziehen und zugleich auf eine irrationale Komponente verweisen, wodurch sie sich von dem verwandten Paar „gelingen/misslingen“ abgrenzen. Auf diese Weise bringen „glücken“ und „missglücken“ auch zum Ausdruck, dass aufgrund der aktiven Verfolgung eines Zieles Ereignisse dadurch eine Bedeutung erlangen können, dass sie das Intendierte befördern oder behindern. Die den Ausgang der Handlung bestimmenden Zufälle „fügen sich“ insofern in diese Handlung ein, als sie für diese bedeutsam werden – diese Zufälle erhalten einen (auf diese Handlung bezogenen) Sinn. Eine geglückte Handlung beruht demzufolge auf Glück, aber eine missglückte Handlung ist nicht notwendig auf ein Unglück zurückzuführen. Während also eutychia dasjenige Glück meint, aus dem ein Glücken folgt, entspricht atychia nicht dem deutschen Wort „Unglück“, sondern eher dem Wort „Glücklosigkeit“ (gleichwohl es in manchen Situationen freilich „Unglück“ oder – häufiger – „Pech“ bedeuten kann). Ein Unglück trifft einen Menschen unabhängig von seinen aktuellen Zielen und Plänen (wobei es diese vereiteln kann); es ist ein Ereignis im Sinne von automaton. Im Gegensatz zum Glück hat Unglück deshalb keinen relativen (auf Handlung bezogenen) Sinn. Unglück ist demzufolge auch nicht das kontradiktorische Gegenteil von Glück, sondern das konträre Gegenteil; d.h. es gibt Ereignisse, die weder als Glück noch als 39
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Unglück zu bezeichnen sind, es gibt aber kein Ereignis, das zugleich (und in der selben Hinsicht) einen Glücksfall und einen Unglücksfall darstellt. 9 Dieses begriffslogische Verhältnis wird durch den neurophysiologischen Befund unterstützt, dass Glücksund Unglücksgefühle in unterschiedlichen Hirnarealen erzeugt werden. Aus diesem Grund kann man gleichzeitig glücklich und unglücklich sein (allerdings nicht in Bezug auf dieselbe Sache). 10 Die Ansicht, dass Glück und Unglück kontradiktorisch seien, gründet sich vor allem auf der Neigung, das Nichteintreten von möglich gewesenen Unglücksfällen als Glück aufzufassen, z.B. die Verschonung eines Hauses bei einem Erdbeben oder der Beinahezusammenstoß zweier Flugzeuge. Generell gilt: je größer das nicht eingetretene Unglück (das Unglück, dem man entgangen ist), desto eher ist man bereit, von Glück zu sprechen. Ein sehr großes, die Öffentlichkeit tangierendes Unglück wird auch als „Katastrophe“ bezeichnet (juristisch unterscheidet man das Unglück als „unvorhergesehenes Schadensereignis“ von der Katastrophe als einem „Großschadensereignis“). Dagegen nennt man das kleine, persönliche Unglück häufig auch „Pech“. Für diese auf Ereignisse bezogene negative Klimax „Pech – Unglück – Katastrophe“ gibt es auf der Glücksseite keine Entsprechung.
4. Ästhetische Bildung im Hinblick auf Unglück Wenn man die Existenz transzendenter Sinnhorizonte nicht anerkennt und Unglücksfällen deshalb keinen immanenten (handlungsbezogenen) Sinn zuzusprechen bereit ist, dann müssen diese als gänzlich sinnlos betrachtet werden. Die nahe liegende Vermutung, dass sich damit eine pessimistische Weltsicht begründen lie9
Freilich ist es möglich, etwas zunächst als Unglück und zu einem späteren Zeitpunkt als Glück aufzufassen (und vice versa), etwa wenn man sich ein Bein bricht und dann im Krankenhaus seinen zukünftigen Lebenspartner kennen lernt. In diesem Falle kann man den Beinbruch als den „Glücksfall seines Lebens“ ansehen und ihn im Hinblick auf den geplatzten Geschäftsabschluss trotzdem als Unglück betrachten. 10 Angesichts dieser weitgehenden Eigenständigkeit der Begriffe „Glück“ und „Unglück“ ist es bemerkenswert, dass die meisten philosophischen Wörterbücher zwar zu „Glück“, nicht aber zu „Unglück“ einen Eintrag besitzen.
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ße, beruht auf zwei Voraussetzungen: Erstens auf der Annahme einer Präferenz von Glück gegenüber Unglück und zweitens auf der Unterstellung eines Zusammenhanges von Unglück haben und unglücklich sein. Beide Präsuppositionen finden in der Geschichte Fürsprecher und Kritiker. Für Aristoteles ist das Streben nach Glück eine den Menschen konstituierende Eigenschaft und somit ein zentraler Bestandteil jeder Ethik. Dabei setzt er das vordergründige Glück der eutychia in Kontrast zum wahren Glück der von jedem Zufall unabhängigen eudaimonia (siehe z. B. Aristoteles 1962: 1 [= EE I, 1]) Das glückliche Leben ist für ihn vor allem ein autarkes Leben, gerade auch in Bezug auf äußerliche Zufälligkeiten. Die Gegenüberstellung von eutychia und eudaimonia bildet seit der Antike einen Topos philosophischer Glückstheorien, die sich wie Aristoteles stets zugunsten der eudaimonia entscheiden (eine Ausnahme bildet Angehrn 1997). Aufgrund des konträren Verhältnisses von Glück und Unglück kann sich zwar schon früh (etwa im Stoizismus oder auch im Buddhismus) eine alternative Position entwickeln, die nicht das Streben nach Glück, sondern das Vermeiden von Unglück zur zentralen Maxime eines gelingenden Lebens erklärt. Im christlichen Mittelalter bleibt aber der Fokus auf das Glück gerichtet, welches durch die Vorstellung einer paradiesischen Glückseligkeit weiterhin uneingeschränkt positiv bewertet wird. Erst zu Beginn der Moderne wird dieser Konnex aufgelöst und im Zuge dessen das Glück auf seinen theoretischen Gehalt befragt. So moniert Hegel die „unbestimmte, hohle Reflexion“, die den „Worten Wohl und Glückseligkeit“ zugrunde liegt (Hegel 1970: 236). Diese kritische Distanz zum Glücksbegriff verwandelt sich im Rahmen von Nietzsches Umwertung aller Werte in offene Ablehnung, wenn er in seiner Götzendämmerung feststellt: „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das“ (Nietzsche 1969: 55). Schließlich lässt (der Engländer) Aldous Huxley angesichts der sich abzeichnenden Möglichkeit einer Verwirklichung aller säkularisierten Glücksversprechen die Hauptfigur der Brave New World ein Recht auf Unglück fordern. Huxleys in Romangestalt entfaltete These, dass Glück nur möglich ist, wenn und soweit Unglück möglich ist, scheint für das Projekt einer aufgeklärten Glückstheorie in gewisser Hinsicht einen Abschluss zu markieren, die dem Unglück zudem den säkularen Sinn verleiht, Glück zu ermöglichen (vorausgesetzt man anerkennt Glück als einen er41
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strebenswerten Zustand). So beurteilt auch Odo Marquard die Entwicklung, die er als das „Glück-im-Unglück-Paradigma“ beschreibt, dessen schwache Version er auf die Formel „Glück trotz Unglück“ und dessen starke Version er auf die Formel „Glück durch Unglück“ bringt (vgl. Marquard 1978). Schon Adorno lehnt allerdings Huxleys Disjunktion von der glücksrealisierenden Barbarei und der unglücksimplizierenden Kultur als ideologische Legitimationsgrundlage für einen falschen Konformismus ab (vgl. Adorno 1955). Der zugrunde liegende Widerstreit zwischen einem objektives Unglück evozierenden subjektiven Glück und einem subjektives Unglück voraussetzenden objektiven Glück ist für ihn lediglich ein Indiz für die Dialektik des bürgerlichen Individuumsbegriffes, wonach der Einzelne, weil er das Prinzip der Eigentumsordnung abgibt, alles und, weil er als bloßer Träger des Eigentums absolut ersetzbar ist, gleichzeitig nichts ist. So sind es nach Adorno letztendlich die ökonomischen Verhältnisse, die mit dem Individuum zugleich die davon abhängigen Kategorien von Glück und Unglück begründen. Eine Theorie des Unglücks (und des Glücks) ist damit wieder dem Bereich der philosophischen Anthropologie zugeordnet. Die in der bürgerlichen Gesellschaft liegende Dialektik von Glück und Unglück entspricht nach Adorno der falschen Hierarchisierung von Mittel und Zweck. Ein Gegenmodell dazu zeige die Kunst auf, indem sie durch das freie Spiel mit Mitteln neue Zwecke setzen könne. Dieses freie Spiel ist demnach ein Zulassen des Zufalls, das nicht verwechselt werden sollte mit der Inszenierung des Zufalls. Das Zulassen des Zufalls führt vielmehr dazu, das Notwendige des Zufälligen aufzuzeigen, wie Adorno in seiner Ästhetischen Theorie die Rolle der Kunst bestimmt. Da er dort auch das Zufällige als das vom Begriff Ausgegrenzte auffasst, ermöglicht Kunst für Adorno den Ausblick auf eine andere Vernunft, die bislang als das Andere der Vernunft die Grenzen bürgerlicher Wissenschaft markiert. Denn in Wahrheit ist „das Nichtaufgehen des Seienden in seiner begrifflichen Bestimmung zugleich Trug. […] [D.h.] nur im Verblendungszusammenhang hat die Kontingenz ihre Schrecken“ (Adorno 1971: 90). Dabei soll sich Zufälliges letztendlich nicht einfach als Notwendiges erweisen, wie in dem Konzept der subjektiven Wahr42
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scheinlichkeit, wo das Zufällige das noch nicht Gewusste bedeutet. Die Kunst soll vielmehr einen Raum eröffnen, in dem die Kategorien des Zufälligen und des Notwendigen gleichermaßen ihre Gültigkeit verloren haben. Die mit dieser emphatischen Kunstkonzeption behauptete Möglichkeit von Glück ohne Unglück beinhaltet die rückhaltlose Anerkennung von Unglück als eines durch keinen tröstenden Seitenblick zum Glück abzumildernden rein negativen Eingriffs in das Leben eines Menschen. Adorno macht dadurch deutlich, dass eine Theorie, die auf unglücklosem Glück beharrt, das Unglück nicht relativieren kann. Zugleich bestimmt er Glück formal als das Erstrebenswerte. Jede inhaltliche Bestimmung ist aufgrund der Abhängigkeit von den sozioökonomischen Verhältnissen freilich nicht mehr möglich, was jedoch den (ideologischen) Umschlag von der Utopie in die Antiutopie verhindert. Die damit einhergehende implizite Unterscheidung von wahrem und falschem Glück bzw. Unglück besitzt bei den konkreten Erfahrungen von Unglücksfällen allerdings keine phänomenologischen Entsprechungen – Unglücksfälle werden in dem einen wie in dem anderen Fall als unvermittelte Schläge mit erheblichen psychischen und physischen Auswirkungen erlebt, oder besser: erlitten. Die Unglück evozierende Kraft von Unglücksfällen lässt sich aber erst auf einer fundamentaleren Ebene fassen, wenn man sie als einen Verlust von Möglichkeiten begreift: es ist die Einschränkung des eigenen Möglichkeitsraumes (der Entzug von Mitteln), was unglücklich macht. An diesem Punkt des Überganges von Unglück haben zu unglücklich sein kann eine ästhetische Bildung einsetzen, die sich als Sinnesschulung nicht nur auf die fünf physiologischen Sinne beschränkt, sondern auch die „feineren Sinne“ mit einbezieht, wie den seit Musil sog. „Möglichkeitssinn“. „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“ (Musil 1981: 16).
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Anhand dieser Charakterisierung kontrastiert Musil den Möglichkeitssinn mit dem „Wirklichkeitssinn“ „als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglichkeiten“ (Musil 1981: 16). Der Wirklichkeitssinn sei damit ganz der Gegenwart verhaftet und erfasse deshalb Zukunft nur als ein Fortschreiben dieser Gegenwart. Da ein Unglück die Erschwernis oder Verunmöglichung einer Fortsetzung des Gegenwärtigen bedeutet, ist es also der Wirklichkeitssinn, der es wahrnimmt, wenn nicht gar konstituiert. Der Möglichkeitssinn hingegen antizipiert nach Musil eine von der Gegenwart unabhängige „mögliche Wirklichkeit“. Dadurch kann dieser Sinn zwar zu einer spezifischen Unglücksresistenz beitragen. Andererseits kann er aber auch die sprichwörtliche „Qual der Wahl“ erhöhen, bzw. in Gestalt der Sorge einen unmittelbaren Anlass zum Unglücklichsein geben. Auch Musils Vorschlag, den Möglichkeitssinn als „bewussten Utopismus“ aufzufassen, macht nach Faschismus und Kommunismus eine ungebrochene Anknüpfung unmöglich. Dieses Fatum hat bereitsAdorno zusammen mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung für jegliches utopische Denken begründet, freilich um später dessen humanistischen Kern in einer hermetischen Verweigerungskunst zu retten (wo die bestehende Gesellschaft im Schein des Schönen als eine mögliche sich bewusst werden soll). Um die dadurch betretene Sackgasse wieder zu verlassen, wirbt Rorty für eine „liberale Utopie“ als einer Konsequenz eines Möglichkeitssinnes in seiner heute gebotenen reflexiven Gestalt eines ausgeprägten Sinnes für die eigene Kontingenz. Das Ziel markiert dabei den Punkt, „wo wir nichts mehr verehren, nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache, unser Bewußtsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall behandeln. Diesen Punkt zu erreichen, würde […] heißen, den Zufall für würdig halten, über unser Schicksal zu entscheiden’“ (Rorty 1991: 50 f.).
Damit plädiert Rorty für einen „Kontingenzhumanismus“, den sowohl Marquard im Auge hat, wenn er konstatiert, dass wir Menschen „stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl“ sind (Marquard 1986: 131), als auch Martin Seel, wenn dieser sich gegen das „Bedürfnis nach durchgehend kontingenzaufhebender Sinnsätti-
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gung“ wendet (Seel 1985: 332). Anknüpfungspunkte für seine Vision findet Rorty bei Deweys pragmatistischem Kunstverständnis. In Deweys Konzept einer „Kunst als Erfahrung“ unterscheiden sich ästhetische und alltägliche Erfahrungen lediglich in der Dichte oder Feinheit. Kunstwerke bilden demnach Objekte oder Formen intensivierter Erfahrung, die von anderen Wahrnehmungsgegenständen nicht grundsätzlich, sondern nur graduell verschieden sind. Mit diesem egalitären Ansatz liefert Dewey eine philosophische Fundierung für die Avantgardeforderung der 1910er und 1920er Jahre, die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben (vgl. Bernhard 2005). Zugleich betont er die sittliche Funktion der Kunst. Konsequent ersetzt er dabei den Philosophen durch den Dichter, weil dieser nicht mittels universalistischer Theorien versuche, imperativische Aussagen über das Moralische aufzustellen, sondern anhand des kontingenten Einzelfalles die nicht verallgemeinerbare Moralität des konkreten Handelns aufzeige. Ein dichtes Netz solcher Erzählungen macht laut Rorty aus der liberalen Utopie eine „poetisierte Kultur“. Dabei räumt bereits Dewey wie später Adorno dem Zufall bei der Produktion von Kunst eine herausragende Rolle ein. Nur wenn ein für den Künstler unvorhergesehenes Moment hinzutrete, könne aus einem Objekt ein Kunstwerk werden. Kunstwerke sind demnach geglückte Gegenstände und insofern das Ergebnis eines Zufalls im Sinne von tyche. Da sie in ihrer endgültigen Gestalt aber selbst vom Künstler nicht vorhersehbar sind, bilden sie zugleich Zufallsprodukte im Sinne von automaton. 11 Eine ästhetische Bildung, die diese doppelsinnige Zufälligkeit des Künstlerischen berücksichtigt, schult die Sinne mit dem Ziel, im Allgemeinen das Kontingente zu erblicken. 11 Eine besondere Verbindung von Zufall, Glück und Kunst findet sich in Zusammenhang mit der antiken Lehre der Ataraxie. Als Anhänger dieses Modells verwendet der Skeptiker Sextus Empiricus den Begriff der tyche zur Beschreibung dieser spontan sich einstellenden Seelenruhe als einer Folge von Gleichmütigkeit. Er veranschaulicht dies mit dem Erlebnis des Malers Apelles. Bei dem Bild eines schäumenden Pferdes misslang Apelles trotz mehrerer Versuche die Darstellung des Schaumes, so dass er schließlich resignierte und den Schwamm, mit dem er für gewöhnlich die Pinsel reinigte, gegen das Gemälde schleuderte. So wie dieser auftraf, habe er eine Nachahmung des Pferdeschaumes hervorgebracht (vgl. Sextus 1968: 100 [= P I, 26–29]; diesen Hinweis verdanke ich Rosario La Sala).
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BEGRIFFLICHE ZUGÄNGE
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Peter Bubmann
Kontingenz und Tragik aus theologischer Perspektive 1
1. Die Rede vom Tragischen – eine Zumutung für die christliche Theologie? „Der Gebildete hat Augen im Kopf, der Ungebildete tappt im Dunkeln. Aber ich erkannte auch: Beide trifft ein und dasselbe Schicksal“ – so heißt es resignativ in Koh 2,14. Und in der Tat: Bildung, auch ästhetische Bildung, schützt nicht vor dem „Schicksal“ bzw. dem „Zufallsgeschick“, wie das hebräische Wort „mikräh“ wortgetreuer übersetzt werden kann. Abgesehen von dieser Stelle schweigt sich die Bibel über das „Zufallsgeschick“ aus. Offensichtlich taten sich bereits die Theologen, denen wir die biblischen Texte zu verdanken haben, mit dem Schicksalhaften und dem Tragischen schwer. Nach Eugen Drewermann ist das Tragische durch drei Merkmale gekennzeichnet: (Drewermann 1984: 20): 1. das machtlose Ausgeliefertsein und der Charakter der Unabwendbarkeit des Schicksals, 2. das Verstricktsein in ein kollektives Verhängnis und 3. das moralische Scheitern, d.h. Schuld, die gegen das eigene Wollen auf sich genommen werden muss. Nach einer solchen Bestimmung besteht das Tragische: „[...] mithin in einem Konflikt zwischen dem individuellen Bewusstsein und den Zwängen des Allgemeinen: Das moralische Wollen des einzelnen scheitert an den Notwendigkeiten des Schicksals, und das Böse, das er schließlich begehen muß, ist die Konsequenz eines Zusammenhanges, den er selbst zwar nicht verursacht hat, dem er aber doch unentrinnbar zugehört und verhaftet bleibt“ (ebd.).
In anderen Begriffsbestimmungen des Tragischen werden darüber hinaus die Gesichtspunkte der Erfahrung von Sinn- und Ausweg1
Für die Überarbeitung des Vortragstextes und für Anregungen zur Ergänzung danke ich herzlich meiner Assistentin Dr. Tanja Gojny.
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losigkeit und das Scheitern von Bewältigungsversuchen mit geläufigen Deutungsmustern betont (vgl. z.B. Bernhardt 2003: 249). Traditionellerweise hat die Theologie – trotz der Erbsündenlehre – ihre Schwierigkeiten mit dem solcherart verstandenen Tragischen. Selten wurde und wird es zum Zentrum eigenständiger Überlegungen – auch wenn es Ausnahmen gibt, etwa das Werk „Theodramatik“ von Hans Urs von Balthasar, in dem die Begriffe des Dramatischen und Tragischen theologisch fruchtbar gemacht werden, oder auch Überlegungen Karl Rahners und des britischen Philosophen und Theologen Donald MacKinnon (vgl. Zaborowski 2005: 129, 132). Wenn das Tragische thematisiert wird, dann in der Regel kritisch-ablehnend. Dies mag zum einen darin liegen, dass dieser Begriff „dem griechischen Theater [...] und der sich damit auseinandersetzenden Philosophie entstammt“ – und zum anderen der Tatsache, „dass die Rede vom Tragischen ein Wirklichkeitsverständnis voraussetzt, in dem die Prinzipien sowohl der Kontingenz als auch der Notwendigkeit einen so grossen Rahmen einnehmen, dass die Herrschaft Gottes über Natur und Geschichte dabei zugunsten eines ‚anonymen‘ Zufalls- oder Schicksalsprinzips eingeschränkt wird“ (Bernhardt 2003: 249).
Dem Ausgeliefertsein ans Schicksal wird in der sogenannten Dialektischen Theologie, der stark christozentrisch denkenden Theologie Karl Barths und auch Dietrich Bonhoeffers, keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das tragische Sein wird dort nicht als legitimes Thema theologischen Nachdenkens verstanden, weil es als bereits grundsätzlich überwunden gilt. Karl Barth schreibt: „Strenggenommen ist der ‚Tragik der menschlichen Existenz‘ jegliches Interesse zu verweigern: Solch ‚göttliches Leiden‘ ist uns durch Jesus Christus ‚nicht nur abgenommen, sondern als Anmaßung, als eine im Grund übermütige Tragik verboten‘; unser eigenes Leiden an Sünde und Schuld kann ‚nur noch eine Erinnerung an sein Leiden sein’“ (Barth 1940: 421f.).
In ähnlicher Weise wendet sich Dietrich Bonhoeffer dagegen, der Tragik menschlichen Lebens zu viel Aufmerksamkeit zu schenken: Das „letztlich Ernstzunehmende“ sei „nicht die Unentrinn50
PETER BUBMANN: KONTINGENZ UND TRAGIK
barkeit der Schuld, sondern das einfältige Leben aus der Versöhnung, nicht das Schicksal, sondern das Evangelium als die letzte Wirklichkeit des Lebens“ (Bonhoeffer 1992: 265). Walter Sparn – der den einzigen großen Lexikonartikel zum Begriff der Tragik verfasst hat und einer der wenigen ist, die in der Theologie überhaupt über Tragik nachdenken – fasst diese theologische Kritik am Tragischen wie folgt zusammen: „Das Evangelium von Jesus Christus setzt der tragischen Konstellation, die es unter Sündern vorfindet, kraft seiner wirksamen Gegenwart im Glauben an die Vergebung persönlicher und schicksalhafter Schuld ein Ende“ (Sparn 2002: 759).
2. Das Tragische im Horizont christlichen Glaubens Die Annahme, das Tragische sei durch die Botschaft der Erlösung in Jesus Christus überwunden, greift aber nach Sparn zu kurz. Vielmehr sei aus christlicher Perspektive festzuhalten, dass es trotz der Proklamation des Evangeliums in der Welt nach wie vor Verstrickungen und tragische Elemente der menschlichen Existenz gebe. Die völlige Versöhnung stehe noch aus (vgl. ebd.). In ähnlicher Weise weist auch Reinhold Bernhardt darauf hin, dass mit dem Wort der Tragik eine menschliche Grunderfahrung zum Ausdruck gebracht wird und es auch „von vielen Christen für ihre Existenzdeutung in Anspruch genommen wird“ (Bernhardt 2003: 250). Die bleibende Unterworfenheit unter die Mächte der Sünde wird bei Martin Luther klassisch so bearbeitet, dass er (in einem Brief an Melanchthon vom 1.8.1521) dazu aufruft, zwar tapfer zu sündigen, sich aber um so mehr der Gnade Gottes anzuvertrauen: „Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi“ (Luther 1931: Nr. 424, 372). Es ist also die Sündenlehre, in der das Tragische seinen Ort haben könnte, was aber nur selten in diesem Zusammenhang bedacht wurde. Eine Ausnahme stellt Paul Tillich dar, der Sünde als Entfremdung vom Grund des Seins – also von Gott – versteht. Diese Entfremdung habe den „Charakter universalen menschlichen Schicksals“ (Tillich 1958: 64f.). Und genau dafür benutzt Tillich den Beg-
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riff des Tragischen. Tragik bedeutet für ihn „Universalität der menschlichen Entfremdung und ihre Unausweichlichkeit, obwohl der Mensch für seine Entfremdung verantwortlich bleibt“ (Tillich 1966: 114). Elemente dieser Entfremdung sind – so Tillich – Hybris (Selbsterhebung) und Konkupiszenz. Aber warum gibt es diese tragische Entfremdung? Warum das Schicksal? Die traditionelle Antwort lautete immer wieder: Zur Prüfung und Läuterung der Glaubenden. Diese Antwort schwingt noch beim bekanntesten Erlanger Systematiker des 20. Jh. nach, bei Paul Althaus. Seiner Meinung nach ist auch das Leiden am Schicksal als Teil der Vorsehung und väterlichen Fürsorge Gottes zu sehen. Als Mittel, „in das wahrhaftige Leben mit Gott hineinzuführen, hört es auf, ein unbedingtes Übel zu sein, und wird ein Gut, das der Christ mit Freude empfängt (Röm. 5,3; Jak. 1,2)“ (Althaus 1948: 445). Gott fordere den Verzicht auf unseren menschlichen Eigenwillen. Althaus geht zwar der Frage nach, ob sich Gott damit nicht selbst widerspreche (vgl. ebd.), verneint diese aber mit einem Hinweis darauf, dass „nur die Selbstaufgabe in Gottes Willen (nach Mk 14,36)“ der richtige Weg und daher das Leiden „das unerlässliche Mittel zum Heil in Gottes Hand“ (ebd.) sei. Allerdings erschließe sich der Sinn des Schicksals nur, wenn man Gott „fragend und empfangsbereit zugewandt“ (Althaus 1948: 446) sei. Dazu gehöre aber auch, gegen den Satan und die Verfehlung des Lebenssinns mit anzukämpfen. Diese Erläuterungen können heute kaum mehr überzeugen. Eine schlichte pädagogische Instrumentalisierung des Tragischen macht es sich zu einfach. Auch Eugen Drewermann, der an der Notwendigkeit der Rede vom Tragischen festhält, wendet sich gegen eine solche Deutung des Tragischen als einer Vorsehung des Schicksals eines jeden durch Gott (vgl. Drewermann 1984: 75f.). Darüber hinaus kritisiert er aber grundsätzlicher, dass im Christentum die Tragik des menschlichen Lebens weithin geleugnet werde, um die Erlöstheit des Daseins in Christus zu betonen. Dabei wendet sich Drewermann vor allem auch gegen ethisch optimistische Theorien, die dem Menschen und seiner Freiheit zutrauen, die Schuld zu überwinden. Seiner Meinung nach sollte man: „statt also im Grund rein pelagianistisch die Tragödien des menschlichen Lebens für einen Mangel an gutem Willen, für eine vermeidbare
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Schuld zu erklären, [...] vielmehr zugeben, dass eine Welt, die nicht das Reich Gottes und nicht das Paradies ist, ipso facto voller Tragödien, voller Notwendigkeiten zum Bösen sein muß“ (ebd.: 66).
Drewermann unterscheidet zunächst zwei Formen bzw. Ursprünge des Tragischen: Zum einen könne Tragik in dem „Konflikt des Unbewussten mit dem Sittlichen“ wurzeln, der letztlich in einer Spaltung der Persönlichkeit bzw. in einer Neurose enden könne (ebd.: 22). Zum anderen könne Tragik aber auch dem „Konflikt der Verantwortung jenseits des Verantwortbaren – die Spaltung der Sittlichkeit selbst“ (ebd.) entspringen. Als Beispiele dafür nennt er Abtreibung und den gerechten Krieg und spitzt den Gedanken dahingehend zu, dass Leben überhaupt heiße, schuldig zu werden (vgl. ebd.: 51f.). Darüber hinaus gibt es, so Drewermann, auch die Form des schuldlosen Versagens – die Tragik der Überforderung (vgl. ebd.: 71): Dort, wo der Lebensauftrag und das Vermögen dazu, unverhältnismäßig auseinanderklaffen, ist die „Schuld des Schicksals selbst“ – oder auch die „Tragik Gottes“ (ebd.: 72). Drewermann betont: „Sie anzuerkennen, fällt der Religion am schwersten, obwohl doch nur die Religion den Menschen fähig machen könnte, gerade mit dieser Art des Tragischen zu leben“ (ebd.). Nachdrücklich wendet er sich gegen die theologische Lehrmeinung, Gott erweise jedem Menschen so viel Gnade, dass er nicht in Sünde fallen müsse (vgl. ebd.: 72f.). Wenn die Wechselfälle des Lebens Menschen in Situationen treiben, die ihre moralischen und charakterlichen Fähigkeiten übersteigen und sie so zu Schuldigen werden, dann trage nicht der Einzelne die Schuld, sondern „die Einrichtung der Welt, wenn überhaupt jemand die Schuld trägt. Diese Form des Tragischen ist ein Teil der Schöpfung selbst, und sie ist zutiefst eine Tragik des Schöpfers“ (ebd.: 77). Entgegen der Karikatur des christlichen Gottesglaubens vor allem in der französischen Philosophie, die Gott als Zuschauer des Weltgeschehens als überflüssig erscheinen lässt und lächerlich zu machen sucht, fragt er, ob die solcherart in das Tragische verstrickten Menschen vielleicht gerade einen Gott brauchen, „der jenseits des faktischen Scheiterns den ohnmächtigen Willen des einzelnen schon für die Tat und die zu späte Reue für seine eigentliche Wahrheit nimmt, und der in den Zeitmaßen der Ewigkeit ergänzt, was in der Zeit der einzelne für sich versäumt“ (ebd.).
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Schon in der Kunstform der Tragödie gehe es ja nach Schiller um Mitleid, Rührung und Verständnis jenseits eines moralischen Rigorismus. Umso mehr ginge es bei der Daseinsform des Tragischen darum, „dass ein Gott dem Schauspiel des menschlichen Scheiterns zuschaut, der fähig und willens ist, dem Menschen inmitten seiner tragischen Schuld durch sein verzeihendes Erbarmen seine Unschuld zurückzugeben“ (ebd.: 78). Die Tragik Gottes zielt insofern letztlich darauf, die Herzen der Menschen zu rühren und sie dazu zu nötigen, „an eine Vergebung jenseits des Scheiterns, jenseits der Vergeblichkeit und jenseits des Versagens zu glauben“ (ebd.: 78).
3. Spezifisch theologische Varianten der Deutung von Kontingenz und Tragik: Christologie und Pneumatalogie Theologie – jedenfalls die protestantische – versucht heute, Gott selbst mit Kontingenz zusammen zu denken. Das war in Zeiten überflüssig, wo Gott metaphysisch als das allein notwendige Sein gedacht war. Denkt man Gott aber nicht als übergeschichtliches notwendiges Sein, sondern als Fülle der Wirklichkeit, dann gehört die Kontingenz, nämlich die Selbstoffenbarung in der Geschichte des Volkes Israel und am Kreuz Jesu von Nazareth, zum Gottesbegriff dazu (vgl. Dalferth/Stoellger 2000: 38). Nur indem sich Gott ins Kontingent-Geschichtliche hineinbegibt, kann er wirklich die Fülle des Seins durchdringen und neu qualifizieren. Bereits die Reformatoren versuchten, die „vorbehaltlose Selbsthingabe Gottes an die Kontingenz der verkehrten Welt zu denken“ (ebd.). So erhält die Schöpfung ihre Ehre wieder zurück. Nach Eberhard Jüngel führt die Entdeckung, dass Gott weltlich nicht notwendig ist, zu der „Entdeckung der Weltlichkeit der Welt als legitimer Spielraum der Kontingenz, der den Geschöpfen von Gott frei eingeräumt wird“ (ebd.: 39). Gott wird also letztlich als Wurzel der weltlichen Kontingenz verstanden. Dies hat zur Folge, dass diese weltliche Kontingenz ebenso wenig beliebig sein kann wie Gott selbst. „Der blinde Zufall ist vom bestimmten zu unterscheiden, und der bloße Zufall von der bedeutsamen Kontingenz“ (ebd.). Kontingenz ist also nach theologischem Verständnis anderes als blinder Zufall. Beide Begriffe gehören zu verschiedenen Sprachspielen, wobei der „Zufall“ unbestimmter ist
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als die „Kontingenz“. Bei ihr handelt es sich um „das Zuspiel oder den Entzug von Möglichkeiten, die sich Gott verdanken und deren Zuspiel oder Entzug auf Gott zurückgeht. Das macht sie nicht weniger kontingent, aber zum Gegenteil eines ‚blinden Zufalls’“ (ebd.: 4). Kontingenz ist bedeutsam und qualifiziert für den von ihr Betroffenen. Eine Sicht auf Kontingenz aus der Beobachterperspektive ist daher unangemessen. Nach Jüngel ist daran festzuhalten, dass das Kreuz Jesu ein kontingentes, aber zugleich eben auch ein nicht beliebiges Ereignis ist. Als solches wird es zum Ausgangspunkt aller theologischen Geschichtsdeutung (vgl. ebd.: 40f.). In gewisser Hinsicht wird Gott auf diesem Wege natürlich selbst kontingent (vgl. ebd.: 42f.). Zum einen wird ernst genommen, dass Gott nur in Differenz „zu allem menschlichen Wünschen, Wollen, Brauchen und Erklären“ zu denken ist. Zum anderen wird Gott gedacht in seiner: „kontingenten Selbstvergegenwärtigung für und bei jedem Einzelnen […], die diesen [sic!] gänzlich ‚gratis’ und in diesem Sinn ganz ‚passiv‘ widerfährt, für diese und ihr Leben aber gerade so nicht beliebig, sondern wesentlich und folgenreich ist. […] Indem Gott sich jedem einzelnen Wesen vergegenwärtigt, wird er für es so passiv, empfänglich und empfindlich, dass er sich dessen Kontingenz zu eigen macht und dieses damit umgekehrt durch seine göttliche Präsenz als unverwechselbares Selbst individuiert und ihm als prinzipiell Anderem als Gott in freiem Gegenüber zu Gott zu existieren ermöglicht. Die Andersheit des Anderen wird von Gott nicht nur respektiert, sondern konstituiert und gefördert, indem er seine Kontingenz kontingent forciert“ (ebd.: 43).
Gott nimmt dabei die Spuren der kontingenten Leben in sein eigenes Leben auf. Christliche Endzeithoffnung hofft darauf, „dass Gott in der Prägung durch die Kontingenz des Kreuzes auch in der Vollendung diese Spuren der Kontingenz in seinem Leben nicht tilgt, durch die er sich in der Geschichte mit seinen Geschöpfen prägen ließ“ (ebd.: 44). Sieht man Gott selbst als kontingent, so ist auch sein Heilshandeln ein kontingentes glückliches Ereignis, für ihn wie für die Menschen: „Die Gnade der Schöpfung, die des Christusgeschehens und die der finalen Vollendung, ist keine allmächtige Handlung und kein Prozeß der
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Notwendigkeit, sondern ein glückliches Ereignis, für Gott wie für uns“ (ebd.).
Diese Ereignishaftigkeit des Wirkens Gottes und seines Seins wird in den Sprachspielen der Pneumatologie, der Lehre vom Heiligen Geist, thematisiert. Der Heilige Geist heilt, stärkt und tröstet, stiftet Sinn noch im Leiden und richtet die Existenz neu auf. Dabei weht er, wo er will, ist weder notwendig noch logisch aufweisbar oder herbeizuzwingen. Insofern ist der unverfügbare Heilige Geist eine kontingente Erscheinung. Das erhoffte Wirken des Heiligen Geistes steht im Zentrum der christlichen Kontingenzkultur und des Umgangs mit den bleibenden tragischen Verstrickungen in die Mächte dieser Welt.
4. Christliche Kontingenzkultur – Befähigung zur Bewältigung und Steigerung der Erfahrung von Kontingenz In manchen Entwürfen der Religionssoziologie wird Religion darauf reduziert, Kontingenz zu bewältigen. Als Beispiel genannt werden kann der Entwurf von Hermann Lübbe, dem etwa Thomas Luckmann, Peter L. Berger und Niklas Luhmann bezüglich seiner Auffassung von Religion als Mittel zur Kontingenzbewältigung folgen. Einseitig kommen bei diesen Autoren allerdings nur gefährdende, negative Kontingenzerfahrungen und die Verarbeitung beunruhigender Unordnung in den Blick. Zu Recht wenden die Theologen Ingolf U. Dalferth und Philipp Stoellger dagegen ein, dass dies dazu führe, dass Religion in den entsprechenden soziologischen Theorien vornehmlich als „eine Stabilisierung gegen die Gefährdung, etwa als sozialer Ordnungs- und Integrationsfaktor“ (Dalherth/Stoellger 2000: 17), wahrgenommen werde. Unterstellt werde dabei in der Regel „eine ‚konventionelle’ Religion, wie sie etwa der Katholizismus darstellt“ (ebd.). Religion kann aber auch vorhandene, allzu harmonische Gesellschaftsordnungen aufsprengen und zum Wanken bringen. Religion gibt nicht nur einen Rhythmus vor, dem sich Menschen überlassen können, sie bringt auch aus dem Takt. Eine solche „kritische, individualisierende und nicht nur stabilisierende, sondern wesentlich labilisierende Religion wie der Protestantismus“ (ebd.) zielt gerade nicht darauf, sinnlos wirkende Überkomplexität auf
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ein ordentliches Maß zu reduzieren und somit Kontingenz zu bewältigen. Statt Kontingenz durch vereindeutigende Reduktion, Bewältigung oder bloßes Akzeptieren letztlich zum Verschwinden zu bringen, vermag sie es, „die konkreten Daseins- und Soseinskontingenzen des Lebens im Glauben zu kultivieren in seinen symbolischen Formen“ (ebd.: 18). Kontingenz wird so praktisch wie theoretisch im Umgang mit ihr bewahrt (vgl. ebd.: 19). Im religiösen Umgang mit Kontingenz geht es dabei keineswegs nur um negative Erfahrungen. Nach Dalferth und Stollger „gehört gerade zur Pointe religiöser Kontingenzerfahrung, dass auf jeden Fall glückliche Kontingenz als Gabe, Geschenk, Gnade u.ä. erfahren wird, und zwar ‚eindeutig’“ (a.a.O.: 18). Das Danken für erfahrene Begabung, für Heilserfahrung und Segen ist ein religiöser Grundvollzug. Darin wird gerade das Kontingente aufgewertet als Ort der Gotteserfahrung. Dem steht die Klage über tragisches Unheil gegenüber. Beides: Dankgebet wie Klagegebet, sind Urformen der religiösen Kontingenzkultur. Darüber hinaus sind die Formen religiösen Umgangs mit Kontingenz keineswegs auf die absoluten Formen von Kontingenz, also auf Geburt und Tod, beschränkt, auch wenn hier mit Taufe und Beerdigung in der Tat besondere Kasualformen einer Kontingenzkultur existieren. Ohne diese absolute Kontingenz gering schätzen zu wollen, weisen Dalferth und Stoellger darauf hin, dass diese „‚lediglich’ die Verdichtungen des Kontingenzverhältnisses“ seien, das unser gesamtes Leben duchzieht“ (a.a.O.: 22). Es geht also nicht allein um die Daseinskontingenz, sondern auch um die Soseinskontingenz.
5. Die ästhetische Dimension einer christlichen Kultur des Umgangs mit dem Kontingenten und dem Tragischen Die Form der Auseinandersetzung mit Tragik war im antiken Griechenland die ästhetische Form der Tragödie. Sie hat einen pädagogischen Sinn, ist mithin eine Urform ästhetischer Bildung. Im Christentum bricht diese Tradition zunächst ab: „Im Mittelalter verschwindet die Tragödie zugunsten der Mysterienspiele und der szenischen Darstellung biblischer Stoffe. Christliche Heilsgewissheit und die Verkündigung der vergebenden Gnade Gottes
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lassen tragische Weltsicht nicht mehr zu. Selbst die Passionsspiele sind nur Überleitung zum Ostergeschehen“ (Hirsch 2002: 753).
Eine ästhetische Theologie wird die ästhetische Dimension der Kontingenzkultur und des Umgangs mit Tragik zu thematisieren haben. Sie fragt nach den performativen Formen einer sinnvollen Ausrichtung des Lebens in Situationen des Scheiterns und der scheinbaren Sinnlosigkeit. Der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar, der sich in seinem Werk um eine Rehabilitation des Dramatischen und des Tragischen bemüht, nennt in seinem Hauptwerk „Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik“ die Schönheit das erste Wort der Theologie (vgl. v. Balthasar 1961: 16). Das Strahlen der Schönheit Gottes, seiner Herrlichkeit, soll sich im ganzen Menschen, seiner Gestalt, spiegeln; dem christlichen Sein soll eine schöne Lebensform entsprechen. In ähnlicher Weise geht es in der Schrift des evangelischen praktischen Theologen Rudolf Bohren „Daß Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik“ (1975) darum, dass wir Gottes Aufführungen seiner Schönheit in unserem Leben wahrnehmen lernen und also ein neues und darin schönes Leben ergreifen. Selbstverständlich zielt dies nicht darauf, das Leben insgesamt als in sich geschlossenes schönes Gesamtkunstwerk wahrzunehmen bzw. zu gestalten. Die zunächst vor allem von Henning Luther betonte Bruchstückhaftigkeit des Lebens, die bereits in dessen unplanbarem Ende angelegt ist (vgl. Luther 1985: 324), gilt es ernst zu nehmen. Ein Grundvollzug ästhetischer Theologie ist, sich, auch angesichts dieser Fragmentarität, ein Bild vom schönen, guten und wahren Leben zu machen. Für eine solche „Ein-Bildung“ gibt es drei Möglichkeiten: x Die erste Möglichkeit besteht in der Entwicklung einer Ordnungsästhetik höherer Ordnung, in der sich das Kontingente zum Notwendig-Schönen fügt. Auch wenn diese harmonische Ordnung noch nicht sichtbar ist, wird sich diese im Jenseits zeigen. Zu einer solchen Lösung tendierte die metaphysische Theologie des Mittelalters. Eine solche Ordnungsästhetik kann auch als priesterliche Variante der Kontingenzkultur beschrieben werden, da in ihr das Ritual – insbesondere das Opfer – als ein die Seinsordnung stabilisierendes Element von besonderer Bedeutung ist.
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x
Als zweite Möglichkeit des Umgangs einer ästhetischen Theologie mit dem Kontingenten und dem Tragischen ist die Differenzästhetik zu nennen. Sie rechnet mit der Durchbrechung falscher irdischer Ordnungen und des schönen Scheins durch Transzendenzerfahrungen, die mitten in die Welt der Sünde eindringen: Durch aufbrechende Blitze (oder auch Hörstürze) anderer Wirklichkeit mitten im Diesseits kann tragische Verstrickung und kontingente Beliebigkeit überwunden werden. Insofern kann diese Variante der Kontingenzkultur als prophetische verstanden werden. Die Bildungsästhetik stellt die dritte Möglichkeit eines theologischen Umgangs mit Tragik und Kontingenz dar: Das Kontingente wie das Tragische werden durch reflexive Interpretation in einen Rahmen des gelingenden Lebens gestellt. Das ist die weisheitliche Variante der Kontingenzkultur. Sie entspricht dem, was heute die philosophische Lebenskunst zu leisten versucht.
Diese drei Linien christlich-ästhetischen Umgangs mit Tragik und Kontingenz stellen keine Alternativen dar. Vielmehr verbinden sie sich in Jesus Christus. Das Handeln Jesu enthält insofern priesterliche Elemente, als er – z.B. durch seine Heilungen – immer wieder Menschen in heilsame Ordnungen hinein- bzw. zurückführt. Das Prophetische seiner Existenz erweist sich darin, dass mit ihm etwas hereinbricht, was nicht von dieser Welt ist und daher einen ganz neuen Blick auf das Bestehende ermöglicht. Sichtbar wird dieser Aspekt des Handelns Jesu etwa in der Erzählung von der Tempelreinigung. Sein Auftreten als Rabbi und Lehrer der Menschen – z.B. in der in Joh 8 beschriebenen Situation der bevorstehenden Steinigung einer Ehebrecherin – kann als weisheitliches Handeln verstanden werden. In diesem Sinne ist Jesus Christus das zentrale Symbol einer zugleich priesterlichen, prophetischen und weisheitlichen Kontingenzkultur. Eine christliche Kontingenzkultur ist Wahrnehmungs-, Deutungs- und Gestaltungskunst. Es geht darum, die kontingente Wirklichkeit anders lesen zu lernen und im Leben einen angemessenen Umgang mit dem Kontingenten zu finden. Von entscheidender Bedeutung für eine solche Veränderung der Wahrnehmung sind christliche Symbole und Erzählungen, die kontrafaktische Deutungen anbieten. Sie ermöglichen auch angesichts sinnlos 59
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erscheinender Kontingenz bzw. niederschmetternder Tragik noch die Artikulation von Sinn. Sie können im Sinne einer eschatologischen Hermeneutik das „Tragische“ als vorläufig-überholt entlarven oder aber das Kontingente im Sinne einer Inkarnationshermeneutik zum Ort göttlicher Präsenz und damit zum Ort ewiger Gültigkeit im Endlichen werden lassen. Die Formen, die begegnende Kontingenz zu kultivieren, sind dabei ästhetisch-literarische und musisch-liturgische Formen: Zunächst ist die „Erzählung eine genuine Form der Kontingenz wahrenden Kontingenzkultur, wie sie für die Religion kennzeichnend ist“ (Dalfehrt/Stoellger 2000: 21) Wie auch das Gleichnis und die Metapher bleiben diese Sprachgestaltungen auf glückende Verständigung in besonderer Weise angewiesen. Die Form der Auseinandersetzung mit Kontingenz verweist in sich auf kontingentes Kommunikations-Geschehen. Es sind also nicht die metaphysisch-begrifflichen und reflexiven Sprachformen, sondern deutungsoffenere Sprachformen, in denen die Betroffenen ihre Sicht kontingenter Ereignisse berichten. Eine Sonderform der Erzählung sind Heiligen- und Märtyrer-Legenden. Das tragische Ende des Guten durch die Mächte des Bösen wird so gewendet, dass daraus Stärkung im Glauben für die Nachgeborenen erwächst. Im Buch Hiob ist es die Form der Rede, in der die Versuche einer Erläuterung der Schicksalsschläge eingekleidet sind. Am Ende aber redet Gott selbst. In diesen Reden wird ein großartiges Bild der guten Schöpfung gemalt (Hiob 38f.). Die ästhetische Suggestion der Großartigkeit der Schöpfung bringt die Klage über die tragischen Schicksalsschläge schließlich zum Verstummen. Das Gebet, insbesondere das Klagegebet, wendet die eigene Ohnmacht nach außen, wirft sie Gott vor die Füße. Im Gebet ringt der Mensch um eine Sprache für das, wofür er keine Erklärung und keine angemessene Deutung findet. So heißt es im Ps 22 2.f: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe.“
Aber auch das Dankgebet ist eine Form der Kontingenzkultur. Der Betende deutet das, was ihm zufällt, eben nicht als Zufall, sondern entdeckt das Handeln Gottes darin:
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„Nun lobt den Herrn, den Gott des Alls, der Wunderbares auf der Erde vollbringt, der einen Menschen erhöht vom Mutterschoß an und an ihm handelt nach seinem Gefallen“ (Jes Sir 50,22f.).
Ganz ähnlich heißt es in einem bekannten Kirchenlied (EG 321) von Martin Rinckart: „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen, der große Dinge tut an uns und allen Enden, der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an unzählig viel zu gut bis hierher hat getan.“
Die religiöse Musik ist im Christentum weithin zur vorrangigen Kunstform geworden, die dazu hilft, eine Kontingenzkultur zu gestalten und tragische Verstrickungen erträglich zu halten. Sie ist Medium des Trostes und der Trauer, der Klage und der Anklage. Wo alle Worte fehlen angesichts der Wucht hereinbrechenden Unglücks (etwa nach der Tsunami-Katastrophe), helfen Klänge und Gesänge zur Auseinandersetzung mit dem Kontingenten. Aber auch christliche Kunst und religiöses Theater dienen dazu, das Mitleiden Gottes mit seiner Schöpfung zu thematisieren. Das kontingente oder tragische Dasein wird heilsam unterbrochen und so werden neue Interpretationsspielräume der Wirklichkeitssicht gewonnen. In den Liturgien der Kirche verbinden sich alle diese Elemente. Die Liturgie kann daher als der zentrale Ort einer KontingenzKultur und der Auseinandersetzung mit dem Tragischen gelten. Im Zentrum der Liturgie steht dabei das Abendmahl: Hier wird einerseits eines letzten Opfers gedacht, der Selbsthingabe Jesu. Dieses hohepriesterliche Handeln stiftet die Hoffnung auf eine neue Gemeinschaft, auf ein „schönes neues Zusammenleben“. Andererseits wird das kontingente oder tragisch-verstrickte Leben in diesem Ritual bereits gegenwärtig aufgehoben in ein Festmahl eines schönen und guten gemeinsamen Lebens. Im Abendmahl wird Gott gerade am Ort der tragischen Verstrickung als in der Kontingenz erschienener Gott gefeiert. Damit wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die Tragik überwindbar ist, indem Gott selbst durch seine Anteilnahme am tragischen Dasein dieses Sein von innen her umwendet.
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BEGRIFFLICHE ZUGÄNGE
Literatur Althaus, Paul (1948): Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 2. Gütersloh: Bertelsmann. Balthasar, Hans Urs von (1961): Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Einsiedeln: Johannes-Verlag. Barth, Karl (1940): Kirchliche Dogmatik II/1. Zürich: Theologischer Verlag Zürich. Bernhardt, Reinhold (2003): „Die Erfahrung des Tragischen als Herausforderung für die Theologie. Versuch zur Theodizee“. In: Theologische Zeitschrift 59, H. 3 (2003), S. 248-270. Bonhoeffer, Dietrich (1992): Werke. Hg. v. Bethge, Eberhard u.a. Ethik, Bd. 6. München: Kaiser. Dalferth, Ingolf/Philipp Stoellger (2000): Vernunft, Kontingenz und Gott (Religion in Philosophy and Theology 1). Tübingen: Mohr Siebeck. Drewermann, Eugen (1984): Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd. 1: Angst und Schuld. Mainz: Grünewald. Hirsch, Walter (2002): „Tragik/Tragödie I. Philosophisch“. In: TRE, Bd. 33 (2002), S. 751-754. Luther, Henning (1985): „Identität und Fragment – Praktischtheologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen“. In: Theologia Practica 20, H. 4 (1985), S. 317338. Luther, Martin (1931): Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel, Bd. 2. Weimar: Böhlaus Nachfolger. Sparn, Walter (2002): „Tragik/Tragödie II. Systematischtheologisch“. In: TRE, Bd. 33 (2002), S. 755-762. Tillich, Paul (1955: Bd. 1, 1958: Bd. 2, 1966: Bd. 3): Systematische Theologie. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk. Zaborowski, Holger (2005): „Tragik und Erlösung des Menschen. Hans Urs von Balthasars ‚Theodramatik‘ im Kontext“. In: Communio 34, H. 2 (2005), S. 128-135.
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Spiel, Arbeit und Kontingenz in japanischer Perspektive
Der Begriff des Gegensatzes Als erstes eine lapidare – und deshalb im Einzellfall vielleicht ganz unzutreffende – Feststellung: Das Japanische fokussiert nicht auf Gegensätze, die – einfach so – statisch im Raum stehen, also auch nicht auf einen Gegensatz von Spiel und Arbeit. Insofern zielt auch die Frage ins Leere, ob etwas nicht gegenteilig sein könnte, anders als es ist. Von einer Tragik des Ausgeliefertseins an das Schicksal, das nun mal so ist und nicht anders, kann folglich nicht die Rede sein. Fahren wir mit lapidaren Feststellungen fort. Wenn Gegensätze nicht intensiv wahrgenommen werden und der Blick nicht darauf gerichtet wird, wie und wo die Welt etwaige Alternativen bietet, dann zielt das Interesse auf die Frage, wie denn diese Welt hier am besten zu bewältigen sei – und nicht auf irgendeine Gegen- oder anders denkbare Welt. Es gilt, zum eigenen Vorteil, mit dieser und keiner anderen Welt klarzukommen. Was bedeutet aber „mit der Welt zurecht zukommen“? Die Welt, das ist ein mit den Sinnen spürbares dynamisches Kräftefeld, das aus mir besteht, und aus den anderen, die um mich herum netzwerkartig angeordnet sind. Der Mensch steht im Mittelpunkt: Er allein verfügt über die Kraft, die Welt zu „bewältigen“, d.h. so zu gestalten, dass die komplexen Verknüpfungen von unzähligen Eigenvorteilen im Gleichgewicht gehalten werden. Der Mensch gestaltet dabei re-aktiv sich selbst durch Anpassung, und dann aktiv andere, in einem gewissen, ihm zustehenden Umfang. 1 1
Als Quelle für die hier dargestellten Grundsätze dient vor allem der Einblick in Anweisungsbücher für korrektes Verhalten beim Eintritt in den Status des „gesellschaftsfähigen Erwachsenen“ („shakaijin“), normative Regeln für „anständiges Verhalten“, wie sie etwa in Schul- oder Lehrerhandbüchern fassbar sind, eine Fülle von Notizen
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Und nun die dritte lapidare Feststellung: Die Gestaltungsprozesse der eigenen Person und fremder Personen funktionieren grundsätzlich als ästhetische Prozesse; jede andere Form von Bemühung wäre untauglich, weil sie der Wirklichkeit argumentativ eine Alternative gegenüberstellt, die die Energie zur Bewältigung dieses Lebens absaugt. 2 Die Beständigkeit der Warnungen vor der Gefahr des Verlusts der Körperenergie im Verlauf der japanischen Geschichte bildet ein deutliches Zeugnis für den entscheidenden japanischen Diskurs über den Sinn des Lebens als Anpassung an das Diesseits. Darüberhinaus kann hier auch auf die sprachpragmatische Ebene des Japanischen verwiesen werden: Es ist außerordentlich umständlich, westliche Sätze im Irrealis ins Japanische zu übersetzen, und wenn man es doch versucht, verstößt das Resultat oft gegen die Regeln des kommunikativen Anstands; man belästigt sein Umfeld nicht mit Sätzen im Irrealis. Betrachten wir nun einen Punkt unserer lapidaren Feststellungen etwas genauer: Es wurde behauptet, das Japanische fokussiert nicht auf Gegensätze, weil ihm die Gestaltung der menschlichen Energie, und nicht das „Zerfleddernlassen“ dieser Energie, oberstes Gebot ist. Dabei dürfen wir nun nicht übersehen, dass das mechanistische ostasiatische Weltbild alles, was überhaupt ist, axiomatisch als Teil eines Gegensatzpaars versteht. Steht das nicht im Widerspruch zur behaupteten Gegensatzlosigkeit? Das Gegensatzpaar, das allem, was es auf der Welt gibt, seine Eigenschaft verleiht, ist dasjenige von Yin und Yang, weiblich und männlich, dunkel und hell, kalt und heiß, ab- und aufsteigend, unten und oben, empfangend und gewährend. Diesem Gegensatzpaar – das ist entscheidend – fehlt jedoch die Dimension der beliebigen Alternative. Etwas ist entweder Yin oder Yang (genau genommen: zu so-und-so-vielen Anteilen Yin und zu so-und-so-
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zu Massregelungen in intra-japanischen Kommunikationsfeldern ebenso wie in Interaktionssituationen mit Nicht-Japanern, sowie in die deutlich buddhistisch geprägten Definitionen von Sinnhorizonten des Lebens im Kontinuum von Werden und Vergehen. Hier sei auf die zentrale Bedeutung der Frage nach dem physischen Wohlbefinden (Gesundheit, langes Leben, innere Entspannung, sichere Kindergeburt, Erfolg u.a.m.) verwiesen, die allen „Lehren“ in Japan unterliegt und die eine gemeinsame Klammer bildet um Phänomene, die wir als eher „buddhistisch“ bzw. eher „daoistisch“ bezeichnen können, wobei aber solche Zuordnungen für die Lebenspraxis weitgehend irrelevant sind.
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vielen Anteilen Yang). In seinem Handeln wird sich der Mensch deshalb darum bemühen, die eigene Eigenschaft kompromisslos zu betonen, um sich erfolgreich mit dem dazu passenden Gegenpol verbinden zu können. Die Realität erfordert damit nicht Kontigenzbewältigung, sondern die Bemühung um eindeutige Gestaltung dessen, was ist, und um Einfügung seiner selbst in einen Kontext, der die Regeln des Handelns diktiert.
Abb. 1: Yin und Yang Nichts zeigt diesen gleichzeitigen Prozess von Selbstgestaltung und Kontextorientierung so deutlich wie die kommunikativen Strukturen des Japanischen, die stets der betonten Charakterisierung einer gegebenen Bipolarität bedürfen, um die entsprechenden Bezüge herstellen zu können. Solche Kommunikation ist in hohem Maße ästhetischer Natur, weil es um die formale Herausstellung einer Konstellation gegensätzlicher Eigenschaften und deren Einfügung in einen dynamischen Fluss von Empfangen und Gewähren geht, was nichts weniger als die Fortsetzbarkeit von Leben garantiert. Hier sei ein einfacher Dankesbrief eines jungen Ehepaars an die Eltern des Ehemanns vorgestellt, nachdem es diese an Neujahr besucht hat (Orange Page Mook 2006: 64):
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BEGRIFFLICHE ZUGÄNGE
„Seit gestern abend fällt auch hier ungewöhnlicherweise Schnee und häuft sich auf; die Landschaft erscheint wie eine Welt in Silber (a). In Hirosaki wird die Kälte wohl erst recht streng sein (b). Als wir Ihnen zu Neujahr zur Last fielen (c), haben Sie sich außerordentlich um uns gekümmert, und dafür danken wir Ihnen. Dankenswerterweise ließen Sie es möglich werden, dass wir (in niedriger Stellung) mit (verehrtem) Vater und (verehrter) Mutter (d) gemeinsam eine wirklich freudige Zeit verbringen konnten (e). Heimat (f) ist doch wirklich etwas Schönes, meinen Sie nicht (g)?! Noch immer fühlen wir (in niedriger Stellung) uns eingetaucht in ein wohliges Gefühl. Die eingemachten Gemüse von (verehrter) Mutter schmeckten wirklich gut, und zusammen mit Herrn Masahiro (h) erinnern wir uns (in niedriger Stellung) an alles mit dem Gefühl, ‚Gell, wir wollen wieder zu Ihnen welches essen gehen!’ Das nächste Mal sind wir an der Reihe, um Ihren (verehrten) Besuch zu erhalten. Wir beide (sic) (i) sind (in niedriger Stellung) darauf wartend, und sobald es warm geworden ist, bitte, machen Sie sich auf, nicht wahr?! Die Jahreszeit der Kälte dauert noch eine Weile an, und wir bitten Sie, dass Sie Ihren (verehrten) Körpern Ihre Sorge zukommen lassen. Bloß ein Dankesschreiben (j). 10. Januar Masahiro Kanako (Verehrtem) Vater (Verehrter) Mutter.“ 3 3
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Anmerkungen: (a) Jeder Brief muss als erstes den Bezug zum jahreszeitlichen Kreislauf herstellen. (b) Anschliessend muss Bezug genommen werden auf die Befindlichkeit der angeschriebenen Person; Hirosaki ist eine Stadt im Norden Japans. (c) „Zur Last fallen“ ist die übliche Umschreibung von „besuchen, das Haus oder Zimmer einer Person betreten“. (d) Gemeint sind die Eltern des Ehemanns; die Aufgabe der Wahrung des häuslichen Gleichgewichts durch korrekte Beziehungspflege – hier durch Verfassen des Dankesbriefes – obliegt der Ehefrau. (e) Im Prinzip lassen sich alle japanischen Ausdrücke bei Bedarf – mit lexikalischen, morphologischen oder syntaktischen Mitteln – kennzeichnen als „zur Sphäre einer Person in niedrigerer Stellung“ oder „zur Sphäre einer Person in höherer Stellung“ gehörend. (f) Der Begriff „furusato“ bezeichnet traditionellerweise den Geburtsort, oder den Geburts- oder Lebensort der Eltern und der Vorfahren. (g) Der hohe Formalitäts- und Höflichkeitsgrad schließt die Verwendung von Ausdrücken nicht aus, die
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Jemand, der sich über die ästhetischen Regeln für die Zusammenfügung unterschiedlicher Eigenschaften hinwegsetzt, indem er zum Beispiel nicht gewillt ist, sich selber mit bestimmten Eigenschaften wie etwa Alter, Geschlecht, oder Status zu identifizieren, setzt sich leicht dem Vorwurf aus, konstellationszerstörend zu sein; ein japanischer Ausdruck dafür ist „rikutsuppoi“, d.h. die Person setzt abstrakte Argumente über notwendige Gegensatzbezüge und drängt damit anderen egoistisch individuelle Ansichten auf, zulasten der Einhaltung sozialer Regeln. Es ist nicht ganz unverständlich, wenn auch in Japan selbst ein solcher Umgang mit dem „Anderen“, das im Rahmen einer bipolaren Bezogenheit stets verortet werden kann und muss, als Zeichen einer grundlegend feudalen Denkstruktur gedeutet wird. Das „Andere“, und vor allem der andere Mensch, wird nämlich in ein festes, naturgesetzliches Bezugssystem eingebaut, in dem das Untenstehende nach oben schaut und sich empfangend verhält, und das Obenstehende nach unten schaut und sich gewährend verhält. 4 Wiederum mit Blick auf die japanische Sprache sei darauf verwiesen, dass ein höflicher Japaner nicht sagt „ich studiere in Deutschland“, sondern „Deutschland – höherstehend – gewährt mir die Möglichkeit, da zu studieren“; und ein Ausländer sollte wissen, dass ein Studienaufenthalt in Japan nichts Selbstverständliches ist, sondern, dass ihm Japan – höherstehend – dies nur gewährt.
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Intimität kommunizieren. (h) „Herr Masahiro“ ist die respektvolle Verwendung des Vornamens des Ehemanns im Brief an dessen Eltern; die niedrige Stellung der Schreibenden wird anschließend im Verb zum Ausdruck gebracht. (i) Die Herabsetzung des Ausdrucks „wir beide“ erscheint im Originaltext durch Versetzung der Schriftzeichen aus der Mittelachse. (j) Es ist höflich, anzugeben, wozu der Brief dient. Die Schriftzeichen des Briefes sind vertikal angeordnet, so dass die Namen der Absender (Masahiro und Kanako) ganz unten erscheinen, die Empfänger ganz oben an letzter Stelle. In der Tat baut die bis 1867 gültige, sich auf „shushigaku“ (Die Lehre des Zhu Xi/Chu Hsi, 1130-1200) stützende Feudalordnung auf interpersonalen Beziehungen auf, die verstanden werden als Spiegelung des „Prinzips“ („ri“) der kosmischen Ordnung; insbesondere richtet sich das Augenmerk der Lehren von Chu Hsi auf die Vier Bücher (die vier kanonischen Bücher der konfuzianischen Lehre), Lunyü (Die Analekten; Lehrgespräche des Konfuzius), Daxue (Das Grosse Lernen), Zhongyong (Das Buch von Mass und Mitte) und das Buch des Mengzi (vgl. de Bary 1981).
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Abb. 2 und 3: Der Kreislauf des Universums
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Erweitern wir das Netz von komplementären Bezügen von Empfangen und Gewähren, so entsteht ein vollkommen in sich geschlossener Kreis, der jedes Kettenglied in seiner Relativität zum andern verortet, entsprechend jede Einzelhandlung in ihrer Relativität zur Gesamtkette festlegt und die Stabilität des Ganzen mit dem Hinweis auf die Gewährleistung eines Gesamtwohls legitimiert. Gerade das ästhetische Merkmal dieses Kreises, nämlich dass er rund und geschlossen bleiben muss, übt auf seine Einzelelemente kraftvollen Zwang aus, nicht auszuscheren. Innerhalb des Kreises herrscht eine als logisch wahrgenommene, sichtbar und spürbar lebenserhaltende Struktur, in der das Einzelelement zuerst „genährt“ wird und dann selber die andern „nährt“. 5 Und die Welt außerhalb des Kreises? Theoretisch kann es in einer Vorstellung eines in sich geschlossenen Kosmos eine Welt „außerhalb“ gar nicht geben. In der Lebenspraxis jedoch führt die Fokussierung auf „Lebenskreise“ eher dazu, Welten „außerhalb“ auszuklammern und sie als irrelevant zu empfinden; Welten „außerhalb“ öffnen nicht unbedingt Räume, sondern tendieren eher dazu, kraft ihres ungeheuren eigenen Bindungspotentials Schwachstellen anderer Kreise unerbittlich auszunützen.
Abb. 4: Der Orientierungskreis des Menschen, wenn er in eine Firma eintritt 5
Eine Reihe aussagekräftiger Darstellungen und Schemata dazu findet sich bei Bungsche (2004).
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Abb. 5: Der Kreislauf jeglichen Gelingens Nicht überraschend zeigt sich in Japan die Angst vor der Bedrohlichkeit fremder Kreise häufig und gerade auch wieder im kommunikativen Verhalten, wo der Abwehrkraft von lückenloser ästhetischer Durchgestaltung („Inszenierung“) des eigenen Kreises höchste Priorität eingeräumt wird.
Spiel – Arbeit Das „Andere“, solange es für mich relevant ist, ist also stets das, wozu eine Beziehung aufgebaut wird; es ist nie eine Alternative. Das Andere kann mein Vorgesetzter sein, der mir etwas gewährt, oder ein Schneefall, auf den ich durch eine ausgetüftelte Fahrweise und eine noch sorgfältigere Reifenwahl re-agiere. Im Rahmen einer so verstandenen Gegenpoligkeit zwischen dem Eigenen und dem Anderen hat nun ein Gegensatzpaar wie „Spiel – Arbeit“ keinen Platz, denn Spiel verhält sich im japanischen Verständnis nicht komplementär zu Arbeit. Arbeit definiert sich umgangssprachlich – mögen japanische Gesetzesregelungen aussehen wie sie wollen – nicht als Teilaspekt menschlicher Alltagsgestaltung, der sich komplementär zu etwas verhält und neben dem sich etwa ein Raum für Nicht-Arbeit auftun würde (vgl. Ackermann 1998). Viele Japaner haben die abendländische Bipolarität Arbeit – Nicht-Arbeit mit staunendem Unverständnis wahrgenommen
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und allerlei Interpretationen versucht. Eine solche geht dahin, dass im Westen alttestamentliche Stellen Arbeit als Strafe definieren und als Schicksal verstehen, das sich durch die Vertreibung aus dem Paradies ergeben habe. Demgegenüber finde sich in Japan nirgendwo eine Verknüpfung von Arbeit und Strafe – im Gegenteil: die Sonnengöttin selbst hat den Menschen das Arbeiten auf dem Feld gelehrt und mit ihrem eigenen Körper die Kunst der Seidenherstellung hervorgebracht. So könne denn Entfernung von der Arbeit und die Suche nach Freiräumen außerhalb der Arbeit keinen Menschen zu einem tief glücklichen Leben führen (Asahi Shinbun 2001). Auf der Grundlage von Kerndefinitionen des Menschseins in den Lehrerhandbüchern, betont Japan die Würde der Arbeit und die Gleichwertigkeit aller Arbeit, durch die alle Bürger zum Wohle des Landes beitragen. Die entsprechenden Kerndefinitionen finden sich etwa im Fachbereich ‚Tugend’ eines Lehrerhandbuchs für Mittelschulen des Erziehungsministeriums (Monbushô [Erziehungsministerium] 1991: 27-39) wie folgt ausformuliert: „Dass man hier und jetzt lebt, ist eine Folge davon, dass unzählige andere Menschen für eben diese Tatsache gesorgt haben. Durch gegenseitige enge Verflechtung und vertieftes gegenseitiges Verstehenlernen innerhalb seiner jeweiligen Gruppe reift man als Mensch heran. Damit das Leben in der Gruppe (,shûdan-seikatsu‘) sich stets höher entfaltet, ist das Wahren von Regeln notwendig. Das bedeutet wiederum, dass jeder von sich aus seine Rolle erfüllt und Verantwortung trägt. Wir Menschen führen ein Leben in der Gemeinschaft; keiner kann losgelöst von der Gemeinschaft leben. Indem jeder einzelne arbeitet, entsteht gegenseitige Abhängigkeit. [...] Jedes Gesellschaftsmitglied lernt die Würde der Arbeit kennen und leistet mittels seiner Arbeit seinen Beitrag zur Entfaltung und Verbesserung des gesellschaftlichen Lebens. Der Mensch existiert innerhalb des Stromes von Leben, welches [wir] von der Vergangenheit her bis heute gewahrt haben. Die Tatsache, dass es mich selber gibt, ist eine Folge davon, dass es meine Eltern und meine Großeltern gibt. Wenn wir in die [weitere] Gesellschaft hinaustreten, begegnen wir unzähligen Lehrern [...]. Es vertieft sich so unsere Verehrung für diejenigen, die uns im Leben vorangegangen sind (,jinsei no sempai‘) und uns nun leiten.“
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Arbeit ist also definiert als Summe von Handlungen, durch die ich in einen Bezug zu anderen trete und diesen so – letztlich – das Überleben ermögliche; dieser Bezug zu anderen bildet die Voraussetzung für mein eigenes Ueberleben. Die eigene Arbeit ist so eine Reaktion auf die Arbeit anderer. Auch wo sogenannte ‚Freizeit’ beschrieben wird, richtet sich der Blick nicht auf Dimensionen von Nicht-Arbeit, sondern auf die Tatsache, dass es auch diese nicht gäbe ohne die Arbeit von Menschen etwa in Hotels, als Busfahrer, oder als Angestellte in einem Reisebüro. Arbeit im Japanischen kann vielleicht verstanden werden als eine durchgestaltete Ausübung von Energie, die das Leben eines Kreises von komplementär aufeinander bezogenen Personen gewährleistet. Kann man sich denn einer so verstandenen Arbeit entziehen? Sich aus einem Kreis von komplementär aufeinander bezogenen Personen ausklinken? Aufhören, Lebensenergie zu generieren? Gibt es Raum für etwas, das „Spiel“ genannt werden kann? Und wie soll man sich im Übrigen die geradezu erschlagende Dynamik von Spiel-Welten in Japan erklären? Auch hier erscheint es sinnvoll, den Blick auf größere historische Zusammenhänge zu richten, die bestimmte, heute eher unbewusst vollzogene Wertzuweisungen generiert haben. Unter dem heute allgemein gebräuchlichen Begriff für „Spiel“ – „asobi“ – dürfte demnach eigentlich das erotische Spiel zu verstehen sein. So ist es nicht überraschend, dass bis in die jüngste Gegenwart die Meinung sehr häufig war, dass nur Männer „asobi“ machen. Spiel in diesem Sinn kann dem Begriff Arbeit nicht gegenübergestellt werden, weil sich erotisches oder sinnliches Spiel als solches nicht auf Arbeit beziehen lässt; der Begriff des Spiels wird seit jeher dem Verlust von Vermögen und Gesundheit gegenübergestellt, was soziales Leid zur Folge haben kann. Spiel im Japanischen besitzt auch heute eine starke sinnliche Komponente und wird nach wie vor mit einem Kontext assoziiert, in dem man etwas tut, das dem sinnlichen, körperlichen Wohlbefinden dient: Baden in einer heißen Quelle, gut Essen, Reiswein trinken, aus Leibeskräften singen, oder auch sich an einem Rennauto-Automaten austoben, oder sich in den Boutiquen der großen Städte amüsieren.
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Abb. 6 und 7: In der heissen Quelle das Bad geniessen, dann gut essen 73
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Spiel und Arbeit stehen jedoch nicht in einem Gegensatzverhältnis; beides – Spiel und Arbeit – ist zudem in der Regel im selben Gesamthandlungsrahmen angesiedelt, in dem sich gerade auch die anderen Mitglieder der eigenen Arbeitswelt befinden. Dass es sich nicht um Gegensätze handelt, wird auch deutlich bei der Betrachtung der Begriffe, die für Spiel und Arbeit umgangssprachlich gebräuchlich sind: „Spiel“ („ㆆasobi“; „yû“) impliziert „seinen Sinnen folgend“, „sich gehen lassen“. ㆆist dabei nicht das Gegenteil von Arbeit, sondern ein ganz andersartiger psychischer und physischer Zustand. Für „Arbeit“ gibt es bezeichnenderweise zunächst keinen umgangssprachlichen Begriff; das am häufigsten verwendete Wort – „shigoto“ – heißt bloß „das, was ich tue“, daneben spricht man von „hataraku“ („sich physisch einsetzen“). Auf einer etwas formelleren Sprachebene finden sich im Wesentlichen fünf Schriftzeichen, die in unterschiedlichen Zusammensetzungen charakteristische Merkmale von Arbeit hervorheben: x „ㆆ shoku“ – amtlicher Rang, was man in einer Organisation zu tun hat x „ㆆkin” – geistig-physischer Einsatz x „ㆆrô“ – bei einer Tätigkeit müde werden, sich physisch einsetzen x „ㆆnin“ – etwas anvertraut bekommen, etwas aushalten x „ㆆmu“ – sich in einem Dienstverhältnis voll einsetzen, eifrig sein. Diese Begriffe decken nicht einen Teilaspekt des Lebens namens Arbeit ab, sondern unterstreichen bloß die innere Haltung, mit der man sich ins Leben einbringt. Spiel und Arbeit, so können wir zusammenfassend feststellen, sind keine Gegensätze im Sinne von Alternativen, und sie stehen vor allem nicht in einem bipolaren Verhältnis zueinander, d.h. sie bedingen sich nicht wechselseitig. Wenn allerdings Spiel stattfindet, dann ist es in einer spezifischen Art und Weise mit Arbeit verknüpft: Befindet sich nämlich eine Person „unten“ – hat sie also an einem Arbeitsplatz andere zu bedienen – dann besteht kein eigenes Anrecht auf „Spiel“, d.h. auf sinnliche Befriedigung; befindet sich eine Person dagegen „oben“ – ist sie also Empfänger der Arbeit anderer – dann besteht ein solches Anrecht sehr wohl. Das heißt, Spiel ist untrennbar mit der Frage verbunden, wessen 74
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Arbeit wem zu seiner sinnlichen Befriedigung zu dienen hat. Im Kreislauf des Nährens und Genährtwerdens ist im Zustand des Nährens demnach keine Befriedigung statthaft, im Zustand des Genährtwerdens dagegen wohl. Dieser Aspekt wirft Licht auf die Funktionsweise spielerischer Gestaltung im Japanischen, die da zum Tragen kommt, wo es um die Befriedigung anderer geht – traditionell im Bereich der Erotik, heute vor allem sichtbar im Bereich von Service oder Design. Ohne die Arbeit der einen Seite ist das Spiel der anderen, ohne Verzicht auf sinnlichen Genuss auf der einen ist die Erfüllung des sinnlichen Genusses der anderen Seite nicht möglich.
Kontingenz: Tragik? – Eine objektive Sicht Die Frage ist schon angeschnitten worden, inwiefern in der bipolar strukturierten japanischen Denkweise Gegenteile in Form von Alternativen – in Form von etwas, das auch denkbar wäre – wahrgenommen werden. Ich habe behauptet, solche Alternativen würden nicht wahrgenommen, wodurch der Mensch sich ganz auf seine Einbettung in Kreisläufe des Nährens und Genährtwerdens als entscheidende Voraussetzung für ein erfülltes Leben fokussieren kann. In der Tat ist die Geschlossenheit vieler kleiner – wie allerdings oben dargestellt, sich in der Praxis voneinander isolierender, sich aber dennoch als strukturell gleichartig erkennender – Lebenswelten ein äußerst auffälliges Merkmal der japanischen Gesellschaft. Was geschieht jedoch, wenn diese Geschlossenheit zerbricht? Wenn die Einfügung in einen geschlossenen Kreislauf nicht gelingt? Als erstes gilt es darauf hinzuweisen, dass sich heute oft ein geradezu verzweifeltes Bestreben zeigt, das mechanistische Weltbild von berechenbarem Empfangen und Gewähren aufrecht zu erhalten. Zur Stützung der Forderung nach Berechenbarkeit komplementärer Austauschprozesse betonen vor allem etablierte Personen die Unerbittlichkeit des globalen Wettbewerbs mit seinen immer selektiveren Evaluationskriterien; dabei kann es niemals um eine Alternative zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit gehen. Die Penetranz, mit der heute Schulen, Firmen und Politik nach ordentlicher Einfügung in komplementäre Beziehungen aufrufen 6 , blen6
Vgl. weiterführend zu diesbezüglichen Fragestellungen: Ackermann 2004.
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det Fragen nach irgendeinem übergeordneten Sinn des Lebens aus; Kontingenz als Problem kann sich da nicht artikulieren. Dieses Muster der Lebensbewältigung, das den Blick nicht hinter irgendwelche Grenzen und auf Alternativen lenkt, sondern von der Möglichkeit der Erfüllung eines überschaubaren Existenzfeldes ausgeht, fußt letztlich in der Erkenntnis, dass nur so Tragik vermieden und durch den Ausgleich von Nehmen und Geben ein unter dem Strich für alle gerechtes Leben gewährleistet werden kann. Das Wissen um die Energien, die ein solches Welt- und Lebensbild dem Individuum schenkt, ist es denn auch, was diesem traditionellen ostasiatischen Lebensverständnis seine fast ungebrochene Legitimität weiterverleiht; es handelt sich nicht bloß um ein konservatives Hängen an feudalen und sogenannten „vormodernen“ Strukturen. Dennoch: Nicht wenige japanische Autoren machen aufmerksam auf die dumpfen Gefühle vieler junger Menschen, die gelähmt sind von der Ahnung, dass sich das Sich-Einbringen in ein komplementäres System vielleicht nicht mehr lohnt, da die Rechnung des Nehmens und Gebens, die unter dem Strich stets Ausgleich garantieren sollte, allzu häufig nicht mehr aufgeht. 7 Leicht lockt dann das Spiel am Spielautomaten, der Kaufrausch oder der Alkohol. Japan wird – davon gehe ich aus – die Sinnfrage jedoch auf seine Weise lösen. Wenn das Andersseinkönnen und das Zufällige keine lebensbestimmende und somit auch keine lebensbedrohende Dimension darstellen, dann liegt es nahe, dass sich das Individuum immer wieder von neuem einer letztlich ästhetischen, d.h. sinnlich-körperlich empfundenen Bemühung hingibt, sich in einen Kreis einzufügen, der ihm den Energiefluss von Nehmen und Geben spüren lässt und ihm damit Lebenssinn schenkt; der allgegenwärtige japanische Begriff für diese Bemühung lautet „gambaru“. Die Alternative wäre – und ist für einige – eine selbstbestimmte Welt der Aussichtslosigkeit.
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Der Titel eines Buches von Yamada (2004), das die japanische Gesellschaft in dieser Frage besonders hellhörig gemacht hat, lautet: „Kibô kakusa shakai – Makegumi no zetsubôkan ga nihon wo hikisaku (Gesellschaft der (immer größer werdenden) Kluft zwischen Lebensperspektiven – Das Gefühl der Aussichtslosigkeit der Verlierer in der Gesellschaft reißt Japan in Stücke).“
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Kontingenz: Tragik? – Die subjektive Sicht Welche Vorstellungen machen sich die Individuen selbst konkret vom Schicksal, vom Zufälligen und Bedrohlichen? Wie verarbeitet man die Enttäuschungen und Entmutigungen bei der Erkenntnis, dass die Welt sich der menschlichen Planbarkeit entzieht? Solche individuellen Deutungsmuster geben fast immer Einblicke in die historischen Gestaltungs- und Legitimationskräfte, die sie geformt haben und untermauern. Im Gespräch zeigt sich oft, dass die Frage zunächst nicht verstanden wird. Andersseinkönnen und Beliebigkeit sind zunächst gar kein Problem, weil das menschliche Handeln in einer vernetzten Welt zuallererst re-aktiv ist und nicht aus isolierter Aktivität besteht. Wie sich das Individuum relativ zur Welt verhält ist entscheidend; der Sinn einer unerbittlich auf einen zukommenden Welt ist jedoch nicht ergründbar. Sind Japaner demnach einfach schicksalsergeben? Bei der Frage, was unter „Schicksal“ eigentlich verstanden wird, zeigte es sich, dass man nicht Dinge assoziierte, die gegen das Individuum gerichtet sind – die mich frustrieren, weil ich etwas anders will –, also nicht Schläge und Enttäuschungen. Bei Schicksal dachte man vielmehr an Begegnungen, Kreuzungen der Wege zweier Menschen oder Sachverhalte („meguriai“). Solche Begegnungen werden als Neukonstellation von Kräften aufgefasst, zu denen man in ein neues komplementäres Verhältnis treten kann; es sind also keineswegs „Schicksalsschläge“, auch wenn man kurze Zeit Trauer oder Ärger empfinden mag. Es sei daran erinnert, dass – und in welcher Form – der Begegnung in den Lehrerhandbüchern entscheidende Bedeutung zukam: „Wenn wir in die [weitere] Gesellschaft hinaustreten, begegnen wir unzähligen Lehrern [...] Es vertieft sich so unsere Verehrung für diejenigen, die uns im Leben vorangegangen sind und uns nun leiten“ (Monbushô [Erziehungsministerium] 1991: 39). Besonderes interessant ist die Art, wie jüngere japanische Studierende ihren Umgang mit der Unerbittlichkeit der Realität auf den Punkt brachten: Schicksal und Begegnungen, meinten sie, sind durch das „zensei“ bestimmt, d.h. durch das vorangegangene Leben im Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt. Meist folgen ein etwas verlegenes Lächeln und die Entschuldigung, dass man eigentlich so etwas heute nicht mehr glaubt. Dennoch: Wir können
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durchaus schließen, dass das Muster der japanischen Lebensbewältigung fest in den buddhistisch-daoistischen Lehren vom Kreislauf der Dinge in einer transzendenten Ordnung begründet ist. Der Mensch lebt in dieser Ordnung re-aktiv, d.h. er passt ihr seine inneren Gefühle an und bemüht sich selber, der Vernetztheit aller Dinge genüge zu tun, im Wissen um die Tatsache, dass kein Ding isoliert existiert und existieren kann. Der Blick richtet sich konkret und intensiv auf das Verhältnis des jeweils nehmenden zum jeweils gebenden Teil in einer Konstellation, und der Ausgleich zwischen den beiden Teilen ist grundsätzlich ein ästhetisches, sinnliches Geschehen, d.h. es kann nicht über das Bewusstsein laufen oder vom Bewusstsein her beliebig interpretiert werden.
Zum Abschluss 1. Das gestellte Thema, den japanischen Wahrnehmungsformen des Andersseinkönnens, des Grundlosseins, der Unmöglichkeit des Ausweichens, obwohl die Dinge ebensogut anders sein könnten, nachzuspüren, führt auf eine Reflexionsebene, die im Japanischen mit kommunikativen Tabus belegt ist; sie würde ablenken von der Erfüllung der Aufgaben, die die Realität stellt. Wir können damit feststellen, dass im Japanischen der Gegensatz zum Bestehenden – also das Andersseinkönnen – zwar selbstverständlich gedacht werden kann, in der Regel aber keine bestimmende Größe darstellt. 2. Zentral ist die Ausrichtung des Denkens und Handelns auf das Gesetz der Bipolarität, d.h. auf dasjenige Andere, das in einer komplementären Beziehung zum Eigenen steht. Die Ausgangsposition ist dabei nicht das auf sich selbst zurückgeworfene, isoliert aktive – und damit Enttäuschungen ausgesetzte – Individuum, sondern der geschlossene Kreis, der als Summe der in ihm enthaltenen Kräfte den Ausgleich des Nehmens und Gebens von Energie gewährleistet. 8 Dies garantiert, dass jeder so viel bekommt, 8
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Welche einschneidende Bedeutung – im Vergleich zum Japanischen – der Personifizierung der Größe, die Kontingenz aufheben soll, in einer dörflichen Wertegemeinschaft im christlichen Kontext zukommt, zeigt der untenstehende Text; hier erscheint diese Größe ansprechbar, allerdings wird von ihr auch erwartet, dass sie – im Unterschied zu einem „Prinzip“ – wie ein Mensch plant, denkt und
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wie er gibt. Somit stellt sich grundsätzlich nur die Frage nach den Gestaltungsstrategien dieses Nehmens und Gebens. 3. Arbeit und Spiel stellen keine Gegenpole dar, und lassen sich somit schon sprachlich nicht in einem Atemzug nennen wie im Deutschen oder Englischen (work and play). Somit zielt auch die Frage, wie sich Arbeit und Spiel grundsätzlich zueinander verhalten, ins Leere. Im Einzelfall bestehen klare Regeln, wer sich wann dem sinnlichen Spiel hingeben kann. Arbeit ist grundsätzlich Dienst, und sie kann dann spielerische Elemente aufweisen, wenn dies eine adäquate Reaktion auf Erfordernisse darstellt. So geht die japanische Industrie davon aus, dass ein Käufer von wahrnimmt; würde die Menschengestalt oder das „Menschliche“ der Kontingenz-Aufhebungsgrösse in Frage gestellt, wäre keine Aufhebung von Kontingenzempfinden mehr möglich – wohingegen die mechanistische japanische Vorstellung von Ordnung ein hartes, aber allgemein konsensfähiges Selbstverortungssystem bildet. In Karl Walter Dählers Geschichte „Ou das het’s ggä [Auch das hat es gegeben]“ ist der Vater von Meieli gestorben, woraufhin diese jeden Tag viele Stunden auf seinem Grab verbringt, um ihm seine „Körperwärme“ zukommen zu lassen. Dem Pfarrer gelingt es, Meieli endlich von solchen Vorstellungs-„Auswüchsen“ zu befreien: „Won i i ds Hus cho bi, für däm verwaiste Meitschi mys härzleche Byleid uszdrücke, het's abgwehrt [Als ich in das Haus kam, um dem verwaisten Mädchen mein herzliches Beileid auszudrücken, wehrte es ab]. [...] Die merkwürdig herte Züg vo sym Gsicht, syre Stimm hei mi erchlüpft [Die merkwürdig harten Züge von seinem Gesicht, seine Stimme erschreckten mich]. [...] Das da isch öpper (gsi), [...] wo haderet mit em Schicksal und mit ere ysige Entschlosseheit ds Unabänderleche wott rückgängig mache [Das war jemand, der mit seinem Schicksal hadert und mit einer eisernen Entschlossenheit das Unabänderliche rückgängig machen will]. [...] Meieli isch uf dä sonderbar Gedanke cho, was em Vatter fähli, syg nume Körperwermi, und die chönn und wöll es ihm gäh [Meieli war auf den sonderbaren Gedanken gekommen, was dem Vater fehle, sei bloß Körperwärme, und die könne und wolle es ihm geben] [...] Ganz im stille han i em Herrgott danket, wo i syre Schöpfigsornig settigne Uswüchs e Riegel gschobe het [Ganz im Stillen habe ich dem Herrgott gedankt, der in seiner Schöpfungsordnung solchen Auswüchsen einen Riegel vorgeschoben hat]. [...] Wenn du jitz frei worde bisch vo däm Zwang, geng ufe Friedhof z loufe, so überleg dir, zu was der lieb Gott dir die freji Zyt schänkt [Wenn du jetzt frei geworden bist von dem Zwang, immer auf den Friedhof zu gehen, dann überleg dir, wozu der liebe Gott dir (nun) die freie Zeit schenkt]“ (Dähler 1997: 39ff.).
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technischen und elektronischen Geräten Spielerisches liebt, und reagiert entsprechend darauf. Spiel verweist im Japanischen allerdings nicht auf etwas, das „spielerisch“ ausgeführt wird; Spiel ist sinnliches Genießen, und dieses steht an und für sich in keinem Verhältnis zu Arbeit. 4. Die Verortung des Menschen und seines Schicksals in einem Kreis von sich kreuzenden Energiebahnen – Energie, die auf mich zukommt, und Energie, die von mir ausgeht – ist ein ästhetisch bestimmtes, sinnlich spürbares Bild von Realität. Die entsprechende Ästhetik spiegelt sich etwa in der Struktur japanischer Planungsdiskussionen oder in den Gestaltungsstrategien sozialer Beziehungen. Da der Sinn des Daseins, interpretiert vor dem Hintergrund der Legitimationskraft buddhistisch-daoistischer Lehren, im Aufnehmen und Abgeben von Energie besteht, die die Aufrechterhaltung und Weitergabe von Leben gewährleistet, kommt der formalen Durchgestaltung dieser Austauschprozesse als essenzielle Vorbedingung für Leben entscheidende Bedeutung zu. Somit ist Arbeit, als Inganghaltung eben dieser Austauschprozesse definiert, im Prinzip ästhetischer Natur. Gibt es eigentlich ein Gegenteil von ästhetisch gestalteter, sorgfältiger Arbeit im sozialen Netz? Vielleicht ja: Es könnte sein, dass die ästhetisch raffinierte Verhüllung von nicht ganz sorgfältiger Arbeit die japanische Antwort auf die tragische Entdeckung von Kontingenz ist.
Literatur Ackermann, Peter (1998): „Respite from Everyday Life. Kôtô-ku (Tokyo) in Recollections“. In: Frühstück, Sabine/Linhart, Sepp (Eds.): The Culture of Japan as Seen through its Leisure. Albany: State University of New York Press, S. 27-40. Ackermann, Peter (2004): „How Japanese teenagers cope: social pressures and personal responses“. In: Mathews, Gordon/ White, Bruce (Eds.): Japan’s Changing Generations. Are young people creating a new society? London/New York: Routledge Curzon, S. 67-82. Asahi Shinbun (2001): „Nihon shinwa ga wakaru [Die japanischen Mythen verstehen]“. In: Aera Mook, 11/2001. S. 7f.
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de Bary, William Theodore (1981): Neo-Confucian Orthodoxy and the Learning of the Mind-and-Heart. New York: Columbia University Press. Bungsche, Holger (2004): From Freshman to Middle Management. München: Iudicium. Dähler, Karl Walter (1997): Ou das het’s ggä [Auch das hat es gegeben]. Bern: Licorne,. Monbushô [Erziehungsministerium] (Hg.) (1991): Chûgakkô Shidôsho, Dôtoku-hen [Lehrerhandbuch für Mittelschulen, Fachbereich ‚Tugend’]. Tokyo: Ôkura-shô. Orange Page Mook (82006): o-tsukiai no manâ [Manieren im interpersonalen Umgang]. Yamada, Masahiro (2004): Kibô kakusa shakai – Makegumi no zetsubôkan ga nihon wo hikisaku [Gesellschaft der (immer größer werdenden) Kluft zwischen Lebensperspektiven – Das Gefühl der Aussichtslosigkeit der Verlierer in der Gesellschaft reißt Japan in Stücke]. Tokyo: Chikuma Shobô.
Abbildungsnachweise Bilder 1 u. 2: Eigene Fotographien einer Scheibe aus dem SeimeiSchrein in Kyoto (2008). 9 Bild 3: Kiba, Akeshi(1997): In: Yô Go Gyô [Yin, Yang und die 5 Elemente ]. Kyoto (Tankôsha), S. 159. Bilder 4. u. 5.: Shakai keizai seisansei honbu (2000): Shigoto no susume kata [etwa: Wie man seine Arbeit verrichtet]. Tokyo: Seisansei shuppan, S. 5, 37. Bilder 6 u. 7: Kantô Shûhen Onsen Super Resort, 1996.
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Der Seimei-Schrein ehrt Abe no Seimei (10. Jh.), wichtiges Mitglied der Staatsregierung und als „onmyô-Meister“ (d.h. Meister des Yin und Yang) verantwortlich für kalendarische Berechnungen und die Regulierung politischen und gesellschaftlichen Handelns im Einklang mit dem Kreislauf des Universums.
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Künste des Zufalls
Henri Schoenmakers
Geplanter Zufall – Kontingenz und theatrale Events
Einleitung: Nicht-dramaturgischer Zufall und theatrale Events Es ist kein Zufall, dass – abgesehen von einigen theatralen Genres wie Theatersport oder Commedia dell’arte – die einzelnen Aufführungen der gleichen Inszenierung meistens sehr ähnlich aussehen, auch wenn in den dargestellten fiktionalen Welten Zufall manchmal eine große Rolle spielen kann oder sogar philosophisch die Kontingenz der Welt dargestellt wird. In diesen Welten ist aber von Simulation von Kontingenz oder Zufall die Rede: Figuren kommen vorbei und erzählen Geschichten, die für andere Figuren unerwartet oder nicht erwünscht sind, wodurch die Pläne und Ziele der Figuren oder das ganze Geschehen eine unerwartete Wendung nehmen. Ein berühmtes Beispiel einer solchen Dramaturgie ist natürlich König Oidipous von Sophokles. Auf der Realitätsebene des Theaters, der Ebene der Theaterarbeiter – wie Schauspieler, Inspizienten, Beleuchtungstechniker usw. – wird aber so viel Zufall wie möglich ausgeschlossen, in der Erwartung, dass dadurch Zufall und Kontingenz in der fiktiven Welt so überzeugend wie möglich gestaltet werden können. Darum bereiten Theaterautoren und Theatermacher ihre geplanten Veranstaltungen genau vor. Selbst dann kann aber auf dieser Realitätsebene etwas Unerwartetes passieren, weil – wie in jeder Realität – manchmal auch andere Einflüsse oder Faktoren eine Rolle spielen, die die geplanten Veranstaltungen beeinflussen oder sogar zerstören können. Der berühmte englische Komiker Tommy Cooper bekam auf der Bühne einen Herzschlag. Unter lautem Gelächter der Zuschauer starb er, weil diese dachten, dass er einen Herzschlag spielte. Mit der Möglichkeit, dass er während der Show tatsächlich einen richtigen Herzschlag bekommen würde, hatten sie nicht gerechnet. Zufällig war das der Fall.
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KÜNSTE DES ZUFALLS
Erfahrene Theaterbesucher kennen viele solcher Geschichten. Und bestimmte theatrale Events haben sogar den Ruf, von Unfällen begleitet zu werden. Laut abergläubigen Theatermachern handelt es sich in solchen Fällen nicht um Zufall, sondern um einen Fluch. Shakespeares Macbeth soll seit der ersten Aufführung (7. August 1606) von einem solchen Fluch begleitet werden. Eine Stunde vor der Uraufführung dieses Stückes wurde der boy actor, der Lady Macbeth spielen sollte, von einem mysteriösen Fieber heimgesucht und noch während der Aufführung starb er in der Garderobe (Billington 1982: 78). Englische Schauspieler wissen, dass man diesen Fluch vermeiden kann, wenn man den Namen des Stückes nie ausspricht. Darum sprechen sie von dem „Scottish Play“ oder von dem „Bard’s Play“. Und wenn man im Theater versehentlich doch den Namen ausgesprochen hat, muss man – so ist der (Aber-) Glaube – nach draußen gehen, sich drei Mal herumdrehen, furzen oder derartige Geräusche hervorbringen, an die Tür klopfen und bitten, wieder hereingelassen zu werden (ebd.). Auch eine Oper wie Tosca wird von so vielen zufälligen Unfällen begeleitet, dass auch hier manchmal an einen Fluch gedacht wird. Als zum Beispiel bei einer bestimmten Aufführung dieser Oper die Hauptfigur Tosca entdeckt, dass der Leiter der Polizei sein Versprechen, Toscas Geliebten nicht zu töten, gebrochen und ihn doch ermordet hat, stürzt sie sich von dem Balkon der Engelburg in Rom. Zuschauer hörten dann aber einen lauten, sehr wenig musikalischen Schrei. Zwar im richtigen Moment der Geschichte, aber zu realistisch für die Ästhetik der Inszenierung. Die Erklärung erhielten die Zuschauer später, als sie hörten, dass Inspizienten vergessen hatten, die Matratzen hinzulegen, die den Sturz der Sängerin auffangen sollten. Sie landete ungebremst auf dem realen Bühnenboden. Es war also nicht die Figur Tosca, die die Zuschauer schreien hörten, sondern die Sängerin. Weniger tragisch und schmerzhaft, aber eben doch dramaturgisch peinlich, war der folgende Zwischenfall bei der gleichen Szene: Übereifrige Inspizienten versuchten den Sturz von dem Balkon für die Sängerin so bequem wie möglich zu machen. Anstelle von Matratzen benutzten sie ein Trampolin, mit der Folge, dass die Theaterzuschauer die Figur der Tosca nach ihrem vermeintlichen Sturz in die Tiefe noch einige Male in uneleganten Haltungen hoch fliegen sahen, bevor sie definitiv in der Tiefe des Tiber verschwunden war. 86
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Meistens sind solche Zufälle, die einen ungestörten Ablauf der geplanten Handlungen zumindest für die Schauspieler unmöglich machen, viel weniger dramatisch. Sie können sogar die Dramaturgie der Handlungen intensivieren oder unterstützen. In einer ehemaligen Schießpulverfabrik am Rande von Paris haben einige Theatergruppen, u.a. das berühmte Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine, Theaterräume gebaut. Am Ende einer Aufführung des Don Juan von Molière durch das Théâtre de L’espérance brach gerade in der Szene, in der Don Juan mit dem Steinernen Gast zum Abendessen verabredet ist, bevor er in der Hölle verschwinden wird, ein heftiges Donnerwetter los. Im ersten Moment ist man als Zuschauer dazu geneigt, dies als einen von den Theatermachern organisierten Soundeffekt zu betrachten. Wenn man aber die Dialoge nicht mehr verstehen kann und die Beleuchtungsanlagen ausfallen, weil Wasser durch den Dachboden fließt, fängt man an zu verstehen, dass die Natur der Kunst überlegen ist, und dass man es nicht mit einem simulierten, sondern mit einem realen Donnerwetter zu tun hat. Dieser Zufall wird richtig ironisch, wenn Don Juan wegen des Abbruchs der Aufführung an diesem Abend nicht in der Hölle verschwindet, sondern die Zuschauer sich im höllischen Schlamm und Schlagregen ihren Weg nach Hause suchen müssen. Solche zufälligen Geschehnisse können eine Aufführung komplett zerstören, oder kurzfristig nicht beabsichtigtes Gelächter auslösen, wie in einem Fall, als außerhalb des Theaters ein Krankenwagen zu hören war, gerade nachdem Hamlet Polonius erstochen hatte. Dieser Aufsatz wird aber nicht solche zufälligen Geschehnisse auf der Ebene der Realität des Theaters behandeln, sondern die Beziehung zwischen Dramaturgie, Zufall und Kontingenz und die mit diesen Begriffen zusammenhängenden Begriffe wie Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit anhand der folgenden Themen ausloten: x Zufall als produktionsdramaturgisches Verfahren. x Die Thematisierung von Kontingenz in den simulierten Welten des Theaters. x Zufall und Kontingenz in der traditionellen Dramaturgie.
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KÜNSTE DES ZUFALLS
Zufall als produktionsdramaturgisches Prinzip – Happenings Der Anfang von Zufall als produktionsdramaturgisches Prinzip wird oft beim Anfang des Happenings gesucht. In dem Aufsatz Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur beginnt Erika Fischer-Lichte mit einer ausführlichen Beschreibung des Events, das in den meisten Büchern über modernes Theater als das erste Happening betrachtet wird: das sogenannte Untitled Event, das John Cage 1952 in Black Mountain College in den Vereinigten Staaten, im Staat North Carolina, organisierte. Der Pianist David Tudor, der Komponist Jay Wats, der Maler Robert Rauschenberg, der Tänzer Merce Cunningham und die Dichter Charles Olsen und Mary Caroline Richards nahmen neben John Cage an diesem Event teil. Es wurde nicht geprobt. Die Teilnehmer bekamen einen Ablaufplan mit Zeitangaben, innerhalb derer jeder der Teilnehmer selbst bestimmen konnte, was er vorführen wollte. So sollten laut John Cage kausale Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Aktionen des Events vermieden werden. An der Decke des Speisesaals des Colleges, wo das Event stattfand, hingen Gemälde von Robert Rauschenberg, der auch alte Schallplatten drehte, während John Cage eine „Komposition mit einem Radio“ vorführte; die beiden Dichter trugen eigene Gedichte vor, während Rauschenberg Wasser aus einem Eimer in einen anderen Eimer goss. Cunningham tanzte mit seinen Tänzern um die und zwischen den Zuschauern. Und ein aufgeregter Hund beteiligte sich unkoordiniert an den unterschiedlichen Aktionen. 1 Wie erwähnt, wird dieser Event in der Literatur über Happenings als das erste Happening betrachtet, auch wenn Allan Kaprow erst einige Jahre später das Wort Happening im Titel seines 18 Happenings in Six Parts in der Reuben Galery in New York zum ersten Mal benutzt. In einem Versuch das Phänomen Happening theoretisch zu analysieren, nimmt Darko Suvin (1995) eine Einteilung vor, bei der „aleatorische Szenen“, d.h. Happenings, die Zufall als Produktionsprinzip benutzen, eine der vier Kategorien von Happenings ausmachen. Zufall kann also zwar als ein Merkmal von bestimmten Happenings bezeichnet werden, kann aber sicherlich nicht als bestimmend für alle Arten von Happe1
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Eine viel ausführlichere Beschreibung gibt Erika Fischer-Lichte 1998: 1f.
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nings gelten. Was Suvin in seiner Analyse von durch Zufall bestimmten Happenings nicht berücksichtigt, ist der Unterschied zwischen (a) dem Zusammenwirken von unterschiedlichen Kunstdisziplinen und (b) dem Verwenden von einzelnen Elementen innerhalb einer Disziplin. Für unsere Diskussion über Kontingenz werden wir diese zwei Verfahren unterscheiden. Zufall als Mittel, um unterschiedliche Disziplinen zusammenwirken zu lassen Das Zusammenfügen von unterschiedlichen Künsten, wobei nicht versucht wird einen Zusammenhang oder Kohärenz zu planen oder zu beabsichtigen, bedeutete einen Bruch mit den vielen anderen Versuchen seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, die Disziplin-Grenzen zu überschreiten und unterschiedliche Künste in einem neuen Konzept eines Gesamtkunstwerkes zusammenzubringen. Solche Versuche gab es bei Richard Wagner, der Oper als Gesamtkunstwerk unterschiedlicher Disziplinen entwickelte, oder auch bei Alexander Tairow, der von synthetischen Kunstwerken sprach, in denen die unterschiedlichen Kunstdisziplinen einander verstärken sollten. Bei diesen Beispielen handelte es sich um Versuche, neue, explizit kohärente theatrale Welten zu gestalten. Die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Künsten stellen sich als Komplementarität dar: sie ergänzen einander. Anders als bei solchen Versuchen gibt es auch Formen von Montagetheater, in denen unterschiedliche Disziplinen zusammengetragen werden, zum Beispiel im politischen Theater von Erwin Piscator oder von Bertolt Brecht. Dabei sieht der Zuschauer zum Beispiel bei Brecht, neben den von Schauspielern vorgeführten Handlungen, auf den Hintergrund projizierte Zeichnungen (z.B. bei seiner Aufführung von Mahagonny, 1927), die einen Interpretationsrahmen für die Handlungen der Schauspieler bieten und so eine Kontrastwirkung zwischen dieser von den Theatermachern vorgegebenen Interpretation und dem, was man tatsächlich sieht, auslösen. Bei Piscator sind es oft Projektionen von Dokumenten und historischen Filmaufnahmen, die einen visualisierten Kontext für die von Schauspielern dargestellten Handlungen schaffen. Solche Arbeitsweisen von Brecht und Piscator sind vergleichbar mit Montage- und Kollageprinzipien, die auch in den Bildenden Künsten (von Picasso bis John Heartfield) angewandt
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wurden, und bei denen unterschiedliche Materialien oder Elemente bei der Herstellung eines Kunstwerkes benutzt und zusammengetragen wurden. In solchen Fällen könnte man von impliziter Kohärenz sprechen. Die Beziehungen zwischen den Elementen auf der Bühne sind die von Diskrepanz oder Opposition. Erst im Kopf der Zuschauer sollte die von den Theatermachern beabsichtigte Kohärenz erfahren werden. Ganz anders als bei den Formen von Gesamtkunstwerken mit expliziter Kohärenz und dem Montagetheater mit impliziter Kohärenz in Bedeutung und Wirkung, war bei dem Event im Black Mountain College nicht von einer solchen intendierten Kohärenz die Rede. Der Zufall sollte ungeplante und unerwartete Effekte aufgrund der zufällig zusammenwirkenden oder zusammenstoßenden Disziplinen erzeugen. Zufall als Prinzip, um die einzelnen Elemente innerhalb einer Disziplin zu strukturieren Die zweite Möglichkeit, die auch bei der Aufführung im Black Mountain College angewandt wurde, ist Zufall zu benutzen, um die einzelnen Elemente innerhalb einer Disziplin zu strukturieren. Das kann sowohl auf der Ebene der Strukturierung von einer Reihe von Handlungen als auch auf der Ebene der einzelnen Zeichen stattfinden. Allan Kaprow benutzte bei seinen 18 Happenings in Six Parts Zufallslisten und andere Zufallsmethoden um die Texte von Monologen herzustellen (Kirby 1995: 4). Und bereits einige Jahre vorher, bei dem erwähnten Event im Black Mountain College, war der Tänzer Merce Cunningham beteiligt, der seitdem als einer der wichtigsten Vertreter von Theatertanz gilt, bei dem Zufallsprinzipien dramaturgisch eingesetzt werden. Cunningham (geboren 1919) war zwar ein Schüler der bekanntesten Vertreterin des expressionistischen Tanzstils, Martha Graham, er revoltierte aber gegen ihre Prinzipien, die in den vierziger und fünfziger Jahren im modernen Tanz dominant waren (Utrecht 1988: 172ff.). Er entwickelte eine Art von Tanz, bei dem nicht jede Bewegung und jede Sequenz von Bewegungen bedeutungsschwanger wirken sollte. Wegen dieser Versuche, sich von psychologisierenden Tanzprinzipien zu verabschieden und pure Bewegung als Thema des Tanzes zu akzeptieren und zu gestalten, wird er als der Initiator des postmodernen Tanzes betrachtet. Als Anfangsjahr für diesen
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postmodernen Tanz gilt tatsächlich das erste Happening im Black Mountain College, 1952. Der Tanzwissenschaftler Luuk Utrecht (1988: 287ff.) fasst die Merkmale von Cunningham in sieben Prinzipien zusammen. Die für unsere Diskussion wichtigsten lauten: x Jede Bewegung kann als Tanzschritt oder Tanzthema benutzt werden. x Jeder Teil des Körpers kann als Tanzelement benutzt werden. Kennzeichnend für Cunningham sind die sogenannten Isolationen, wobei ein Teil des Körpers selbstständig bestimmte Bewegungen ausführt, zum Beispiel Kopf- oder Armbewegungen, während der Rest des Körpers nicht mitmacht. Diese Technik, die in der westlichen Welt zwar als „CunninghamTechnik“ bekannt wurde, ist bereits seit Jahrhunderten ein Merkmal von bestimmten fernöstlichen Tanzformen. x Choreographie, Musik, Kostüm, Dekorationen und Beleuchtung sind Teile eines Tanzstückes, die – wie bei den unterschiedlichen Disziplinen beim Event im Black Mountain College – autonome Funktionen erfüllen können. x Jedes Procedere kann als Kompositionsmethode benutzt werden. Besonders hier werden vor allem auch Zufalls- oder aleatorische Prinzipien benutzt. Cunningham warf dann zum Beispiel einen Würfel oder eine Münze, um die Reihenfolge von einzelnen Tanzschritten zu bestimmen. In den siebziger Jahren benutzte er das Zufallsprocedere auch, um die Reihenfolge von Teilen von Tanzstücken oder die Programmgestaltung von Tanzstücken an einem bestimmten Abend zu bestimmen. Eine Variation solcher Procedere während eines Tanzstückes bot das Verfahren, bei dem zum Beispiel einer der Tänzer während der Aufführung hörbar Instruktionen gibt, wodurch andere Tänzer, anhand von einer Reihe verabredeter Bewegungsthemen, Variationen in ihren Bewegungen oder in der Richtung ihrer Bewegungen vornehmen müssen. Durch dieses Prinzip werden die bei den anderen Prinzipien genannten Tanz- und Inszenierungselemente in unzähligen Kombinationen und Variationen aufgeführt. Die auf diese Weise hergestellten Tanzmerkmale gelten noch immer als kennzeichnend für das, was als „Absoluter Tanz“ bezeichnet wird. 2 2
Die anderen Prinzipien sind: (5) Jeder Tänzer kann als Solist auftreten; (6) Jeder Raum kann als Tanzumgebung benutzt werden; (7)
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Ähnlichen Prinzipien begegnen wir in vielen Formen von Happenings und auch in Theaterformen, die sich auf solche Prinzipien stützen, wie zum Beispiel der Theaterarbeit von Jan Fabre. John Cage (1995) hat betont, wie solche Zufallsverfahren dazu beitragen, dass Zuschauer sich nicht unmittelbar in Bedeutungen von Zeichen verlieren. Semiotisch gesehen sollte auf diese Weise eine Verlagerung von den Bedeutungen zu den Zeichenträgern selbst stattfinden, was zu einer Sensibilisierung der Wahrnehmung führt, so dass die Materialität der Zeichen wieder wahrgenommen und erfahren wird. So versuchen Künstler eine direkte ästhetische Erfahrung beim Wahrnehmenden auszulösen, ohne tiefere Bedeutungen, die in Geschichten oder Botschaften zusammen zu fassen sind. Vorläufer der Zufallsdramaturgie Für die meisten Innovationen im Theater seit dem Zweiten Weltkrieg gilt, dass es sich meistens um Wiederentdeckungen oder ReInnovationen handelt. Auch dem Zufall als Element begegnen wir bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel bei Dada, bei der Merzbewegung von Kurt Schwitters und bei den Italienischen Futuristen. Die ersten Events der Dadaisten in Zürich hatten auffällig viele Gemeinsamkeiten mit dem Event in Black Mountain College. Auch das Wort Dada basiert auf Zufall. Der Dadaist Tristan Tzara präsentierte Gedichte aus Worten, die er auf Karten geschrieben und in einem Hut durcheinander gemischt hatte. Jean Arp und Marcel Duchamp kreierten ihre Gemälde und Konstruktionen mit Hilfe von Zufallsprinzipien. Auch bei der Merzbewegung von Schwitters war das Wort Merz (als Teilelement von KomMERZ) zufällig gewählt. Unterschied zwischen dieser ersten Avantgardewelle und der zweiten ist höchstens – aber dieser Unterschied ist nur graduell –, dass bei Dada und bei den Serate der Italienischen Futuristen die Provokation des Publikums im Vordergrund stand (vgl. Kirby1995).
Tanz handelt primär und prinzipiell vom menschlichen Körper und seinen Bewegungsmöglichkeiten.
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Thematisierung von Zufall: Die Kontingenz der Welt und absurdes Theater Zwei Jahre vor dem Happening in Black Mountain College, 1950, wurde im Théâtre des Noctambules in Paris, im Théâtre de la Huchette, Die Kahle Sängerin (La Cantatrice Chauve) von Ionesco uraufgeführt, ein Theaterstück, in dem die Darstellung von Zufall in der fiktiven Welt auffällig ist. Diese Darstellung von Zufall in der Aufführung ist aber nicht auf eine Zufallsdramaturgie gestützt: Ionesco hat alle Zufallselemente, Unwahrscheinlichkeiten und das Fehlen der alltäglichen Logik in seinem Text genau angegeben. Dabei zeigt der Dramentext eine Reihe von Merkmalen, die im Theater schwierig oder nicht zu realisieren sind. So schlägt die Wanduhr siebenmal, dann dreimal und danach – laut der Regieanweisung – keinmal. Wie man letzteres in einer Aufführung gestalten sollte, wird nicht erwähnt. Auch ist in den RegieAnweisungen zum Beispiel von „[einem] lange[n] englische[n] Schweigen“ die Rede und von einer Wanduhr die „siebzehn englische Schläge“ schlägt. Zufall ist offenbar auch wirksam als Frau Smith, die zusammen mit ihrem Mann in einem „englische[n] Interieur mit englischen Fauteuils“ sitzt, nachdem die Wanduhr „siebzehn englische Schläge“ geschlagen hat, die Schlussfolgerung zieht: „Sieh mal an, es ist neun Uhr.“ Die übliche kausale Beziehung zwischen den Schlägen einer Wanduhr und die Interpretation, wie spät es ist, funktionieren hier jedenfalls für die Zuschauer nicht mehr. Es ist der Anfang einer langen Reihe von Ungereimtheiten, mit denen Leser und Zuschauer konfrontiert werden und ins Reine kommen müssen, mit dem logischen Resultat der Interpretation, dass die Welt kontingent ist. Auffällig ist aber, dass die Figuren im Stück diese Kontingenz nicht wahrnehmen. Das Funktionieren der Uhren wird vom Zufall beherrscht, ohne dass die Figuren sich darüber erstaunen oder aufregen. Offenbar haben die Figuren andere Kriterien bezüglich kausaler Beziehungen. Dabei scheinen auch referentielle Hinweise und Beziehungen zwischen Namen oder Worten und Objekten von Zufallsprinzipien beherrscht zu werden. So erwähnt Mr. Smith, „dass Bobby Watson gestorben ist“. Als seine Frau erstaunt reagiert, fragt er: „Warum bist du so erstaunt? Du wusstest doch, dass er seit zwei Jahren tot ist. (…) Wir waren bei seiner Beerdigung vor anderthalb
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Jahren.“ Und über die Familie von Bobby Watson hören wir: „Und Bobby Watsons Tante, die alte Bobby Watson, könnte sich ihrerseits auch sehr gut um die Erziehung der Bobby Watson, der Tochter der Bobby Watson, kümmern. So könnte Bobby, Bobby Watsons Mama, wieder heiraten […]. Von welchem Bobby Watson sprichst du?“ fragt Mr. Smith, als das so weiter geht. Und Mrs. Smith antwortet: „Von Bobby Watson, dem Sohn des alten Bobby Watson, dem zweiten Onkel des Bobby Watson, der tot ist.“ Für die Sprecher selbst, sind ihre Äußerungen allerdings offenbar sehr klar. Aber es gibt auch Szenen, in denen die Figuren sich über Zufälligkeiten erstaunen. In einer Szene, in der Mr. und Mrs. Smith weggehen um sich umzukleiden, lässt das Dienstmädchen, Mary, die Gäste Mr. Martin und Mrs. Martin herein. Hier fängt eine lange Szene (Vierte Szene) an, in der Herr und Frau Martin entdecken, dass sie einander kennen: Mr. Martin: Verzeihung, gnädige Frau, es kommt mir vor – wenn ich mich nicht irre – als wäre ich Ihnen bereits irgendwo begegnet. Mrs. Martin: Mir auch, mein Herr, es kommt mir vor, als wäre ich Ihnen bereits irgendwo begegnet.
Als sie entdecken, dass sie beide in Manchester wohnen rufen sie aus: „Mein Gott, was ein Zufall!“ Sie entdecken auch, dass sie beide vor fünf Wochen Manchester verlassen haben, dass sie beide in dem gleichen Zug nach London gesessen haben, dass sie beide in der zweiten Klasse gefahren sind, auch wenn es keine zweite Klasse gibt, dass sie im Wagen Nummer 8 im sechsten Abteil gesessen haben, jetzt in Bromfieldstreet 19 in London in der 8. Wohnung wohnen, im gleichen Zimmer schlafen und eine Tochter haben, die zwei Jahre alt ist, und ein weißes und ein rotes Auge hat. Nach jeder Entdeckung rufen sie „Was ein Zufall“, und nach der letzten Entdeckung über die Merkmale des Töchterchens, ruft Mr. Martin: „Elisabeth, ich habe dich wieder!“ und Frau Martin: „Donald, bist du’s Liebling!“ Die ganze Szene kann man als eine Parodie auf klassische Wiedererkennungsszenen betrachten. Die logischen und wahrscheinlichen Schlussfolgerungen, dass Herr und Frau Martin offenbar verheiratet sind, werden von dem Dienstmädchen aber wieder komplett untergraben, als sie sich ans Publikum wendet 94
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und sagt, dass Elisabeth nicht Elisabeth ist und Donald nicht Donald, weil Donalds Töchterchen ein weißes Auge rechts und ein rotes Auge links hat, während die Tochter der Elisabeth ein rotes Auge rechts und ein weißes Auge links hat. Auch wenn die Zuschauer sich dauernd mit Kommunikationsproblemen in der dargestellten Welt konfrontiert sehen, bedeutet dies noch nicht, dass die Figuren in dieser Welt die gleichen Probleme erfahren. Die Welt in den absurden Dramen ist oft für die in dieser Welt auftretenden Figuren keine absurde und keine tragische Welt. Tragische Gefühle über die Kontingenz der Welt entstehen vor allem oder nur auf der Seite der Zuschauer. Dies lässt sich anhand von verschiedenen Stücken von Samuel Beckett illustrieren. In Warten auf Godot (En Attendant Godot), das 1953, ein Jahr nach dem Event in Black Mountain College im Théâtre de Babylone in Paris uraufgeführt wurde, haben die beiden Hauptfiguren, Wladimir und Estragon, offenbar kein Problem damit, ihre Tage mit Warten zu verbringen. Sie beklagen sich nicht über die Unklarheit der Verabredung, und über die Tatsache, dass sie bei einem Baum an einer Landstrasse auf Godot warten sollen. Sie beklagen sich auch nicht darüber, dass es überhaupt nicht sicher ist, ob Godot tatsächlich kommt oder dass die einzige Quelle, die etwas über die Existenz Godots zu wissen scheint, der kleine Junge, nicht sehr zuverlässig ist. Die Figuren verbringen die Zeit mit dem, was wir als Zuschauer als „nichts tun“ betrachten würden: Spielereien. Wir sehen keine Art von Handeln, bei dem die Figuren versuchen bestimmte Ideale, Pläne oder Ziele zu realisieren; sie warten einfach, haben dabei aber keine oder sehr wenige Texte, die etwas von Tragik über ihre Existenz ausdrücken. Wir finden nichts von dem, was wir in der westlichen Kultur als wesentlich betrachten, nämlich Pläne, Ziele oder ein Streben, bestimmte Handlungen durchzuführen, um hier in dieser Welt oder in einer Welt, die nach dieser Welt kommen könnte, etwas zu erreichen. Noch extremer ist die Situation in Endspiel von Beckett, das 1957 im Royal Court Theatre in London uraufgeführt wurde. In diesem Stück, das sich laut Regieanweisungen in einem „Innenraum ohne Möbel“ abspielt, sehen wir „Vorne links […] zwei mit einem alten Bett verhüllte Mülleimer nebeneinander.“ In diesen Mülleimern sitzen – so wird erst später klar –, die Alten Nagg und Nell. Ein stärkeres Symbol für die Nutzlosigkeit der älteren Leute 95
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in unserer Gesellschaft ist kaum denkbar. Aber tragische Dimensionen in Hinblick auf die Figuren selbst fehlen meistens. Die Figuren akzeptieren die Kontingenz der Welt, wie folgender kurzer Dialog illustriert: Hamm: Ich werde dir nichts mehr zu essen geben. Clov: Dann werden wir sterben. Hamm: Ich werde dir gerade soviel geben, dass du nicht sterben kannst. Du wirst die ganze Zeit Hunger haben. Clov: Dann werden wir nicht sterben. Pause. Ich hole das Tuch.
Kennzeichnend für einen solchen Dialog ist wieder, dass die Figuren selbst nicht die übliche Reaktion zeigen, mit der die Zuschauer im sogenannten dramatischen Theater vertraut geworden sind. In dieser Art von Theater würde Clov, als er hört, dass er nichts zu essen bekommt, Hamm emotionalisiert anflehen. Im Endspiel hören und sehen wir ganz trockene, unemotionale logische Schlussfolgerungen, wobei die Zufälligkeit und die Willkür der möglichen Aktionen Hamms von Clov akzeptiert werden. Ebenso wenig wie in der Kahlen Sängerin und wie in Warten auf Godot liegt die Tragik bei den Figuren; sie liegt auf der Seite der Zuschauer, die mit einer Welt ins Reine kommen müssen, in der Figuren ohne die üblichen Pläne, Ziele oder Ideale – und damit ohne die üblichen damit verbundenen Konflikte – gezeigt werden. So weit es Konflikte gibt, haben diese nur einen sehr momentanen Charakter. Sie bestimmen nicht die Spannungsstruktur des ganzen Dramas. In diesen absurden Dramen fällt auf, dass die Figuren in diesen Welten offenbar keine Probleme haben mit der Tatsache, die wir aus der Wahrnehmungsperspektive der Zuschauer erfahren, nämlich dass die Welt nicht sehr sinnvoll ist. Wir als Zuschauer haben Probleme mit einer solchen Welt. Es gibt denn auch berühmte Aufsätze, die versuchen klar zu machen, inwiefern Warten auf Godot eigentlich ein Stück über Hoffnung, ist, die von Godot symbolisiert wird. Vor allem christliche Interpreten haben eine solche Bedeutung bevorzugt. Wenn wir unsere eigenen Hoffnungen in diese sinnlosen Welten und Handlungen hineininterpretieren, dann sehen wir sie auch. Die Tatsache, dass es in den erwähnten Stücken nicht die Figuren sind, die mit der Sinnlosigkeit der Welt kämpfen, bedeutet, dass die Handlungen in absurden Dra96
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men als eine kritische Metapher der Situation der Menschen allgemein, die die Kontingenz der Welt oft nicht wahrnehmen, betrachtet werden können. Die Konfrontation der Zuschauer mit dieser Kontingenz der Welt bedeutet auch, wie Existenzphilosophen wie Sartre und Camus klarmachten, dass wir selbst über unsere Haltung zu dieser Welt Entscheidungen treffen müssen. Auch wenn die Tragik vor allem auf der Zuschauerseite gesucht werden muss, ist es eine Tragik, die nicht ausschließt, dass man viel Freude haben kann über die Bilder, die Metaphern und die Dialoge, mit denen es Dramenautoren gelungen ist, die kontingente Welt darzustellen und zu thematisieren. Gerade bei Beckett fällt auf, dass die Inszenierung von Warten auf Godot, die er selbst in Berlin gemacht hat, lustiger ist, als die von vielen anderen Regisseuren.
Zufall und Kontingenz in der traditionellen Dramaturgie Zufall als Element in der Dramaturgie stammt nicht aus dem 20. Jahrhundert. Relativ schnell nach der Erfindung des Theaters wurden Zufallselemente benutzt. Bekannt ist natürlich das Phänomen des Deus ex Machina in Tragödien, zum Beispiel in Euripides’ Medea. Am Ende des Stückes rettet Medeas Vater, der Sonnengott Helios, sie aus ihrer gefährlichen Lage in Korinth. Er sendet aus dem Himmel einen Wagen, mit dem Medea aus Korinth wegfliegen kann. Wahrscheinlich war das das erste Mal, dass ein Hebekran für einen solchen spektakulären Effekt benutzt wurde, wobei der Schauspieler, der Medea spielte, aus der Orchestra gehoben und über die Skene transportiert wurde. Für die negative Bewertung von Zufall in der traditionellen Dramaturgie – jedenfalls bei der Tragödie, sein Buch über die Komödie ist leider verloren gegangen – ist Aristoteles verantwortlich. Er betont die Bedeutung von Kausalität als wesentliches dramaturgisches Prinzip. Vor allem das neunte und fünfzehnte Buch seiner Poetik handeln von solchen Prinzipien. Im Buch 9 schreibt Aristoteles über die Aufgabe des Dichters: „es [ist] nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] dadurch, dass
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der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“ (Aristoteles 1982: 29).
In Buch 15 weist Aristoteles im Hinblick auf die Charaktere und den Plot noch speziell auf ein solches Prinzip hin: „Man muss auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse – stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d.h. darauf, dass es notwendig oder wahrscheinlich ist, dass eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und dass das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt. Es ist offenkundig, dass auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst vorgehen muss“ (ebd.: 49).
So kritisiert Aristoteles Euripides’ Medea als eine Tragödie, bei der die Lösung der Handlung nicht aus der Handlung selbst hervorgeht, sondern aus dem Eingriff eines Gottes (vgl. ebd.). Seitdem wird in der Theatergeschichte eine Dramaturgie benutzt, die ein Zufallsprinzip, wie den Deus ex Machina, ablehnt. Übrigens lehnt Aristoteles einen Deus ex Machina nicht in allen Fällen ab: man darf „den Eingriff eines Gottes nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung liegt, oder was sich vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr ereignen wird und was der Vorhersage und Ankündigung bedarf – den Göttern schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken“ (ebd.).
Die traditionelle Dramaturgie – die Bertolt Brecht bekanntlich als „aristotelische Dramaturgie“ bezeichnete – hat als Hauptmerkmal die Simulation einer Welt, in der kausale und logische Beziehungen zwischen den Handlungen und Szenen den Eindruck erwecken, dass die Handlungen nicht konstruiert und nicht erfunden sind. Bertolt Brecht ironisiert solche Prozesse von logischen und kausalen Beziehungen, zum Beispiel in seiner Dreigroschenoper als der Verbrecher Macheath, genannt Mackie Messer, aufgehängt werden soll. Versuche einen Konstabler mit vierhundert Pfund zu bestechen, gelingen nicht. Auch als Mackie Messer seinen Freund und obersten Polizeichef Londons, Brown, bittet, ihn aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit in Indien freizulassen, scheitert er (Brecht 1967: 477ff.). Nachdem Mackie Messer sich von den
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Anwesenden, die seiner Hinrichtung beiwohnen, verabschiedet hat, sagt sein Schwiegervater Peachum: „Verehrtes Publikum, wir sind soweit Und Herr Macheath wird aufgehängt Denn in der ganzen Christenheit Da wird dem Menschen nichts geschenkt. Damit ihr aber nun nicht denkt Das wird von uns auch mitgemacht Wird Herr Macheath nicht aufgehängt Sondern wir haben uns einen anderen Schluss ausgedacht. Damit ihr wenigstens in der Oper seht Wie einmal Gnade vor Recht ergeht. Und darum wird, weil wir’s gut mit euch meinen Jetzt der reitende Bote des Königs erscheinen“ (ebd.: 484f.).
Die Zuschauer sehen dann, wie das, was im Text „Drittes Dreigroschen-Finale“ heißt, mit dem projizierten Titel „Auftauchen des reitenden Boten“ anfängt. Auf diese Art und Weise ironisiert Bertolt Brecht Konventionen im Theater, wobei vermeintliche „Gesetze“ aus der Wirklichkeit, auf Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit gestützt, in der traditionellen Dramaturgie nachgeahmt werden. Noch ausführlicher werden die sogenannten Gesetze von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit von Bertolt Brecht ironisiert und diskutiert in seinem Lehrstück Die Ausnahme und die Regel von 1929/30, allerdings nicht als dramaturgisches Prinzip, sondern als Thematik. In diesem Drama wird eine Gerichtsverhandlung vorgeführt, weil ein Kaufmann seinen Kuli getötet hat. Als der Kuli dem Kaufmann in der Wüste eine Wasserflasche darreichen wollte, hatte der Kaufmann diese Bewegung als einen Versuch, ihn mit einem Stein zu töten, interpretiert und daraufhin den Kuli unmittelbar erschossen. Die Frau des ermordeten Kulis hat den Kaufmann bei Gericht angeklagt. Der Kaufmann verteidigt sich mit den Worten: „Aber ich konnte nicht annehmen, dass es eine Wasserflasche sei. Der Mann hatte keinen Grund, mir zu trinken zu geben. Ich war nicht sein
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Freund. […] Der Mann war durch mich geschädigt worden, unter Umständen für die Zeit seines Lebens. Der Arme! Es war nur richtig von ihm, wenn er es mir zurückzahlen wollte. […] Man muss sich an die Regel halten und nicht an die Ausnahme“ (ebd.: 818f.).
Der Richter bestätigt dies: „Ja, das ist es: Welchen Grund sollte dieser Kuli gehabt haben, seinem Peiniger zu trinken zu geben?“ (ebd: 819), worauf der Richter singt: „Die Regel ist: Auge um Auge! Der Narr wartet auf die Ausnahme. Dass ihm sein Feind zu trinken gibt Das erwartet der Vernünftige nicht“ (ebd.).
Nach ihrer Beratung geben die Richter dem Kaufmann Recht. Ihr Urteil lautet: „Der Kaufmann konnte nicht an einen Akt der Kameradschaft bei dem von ihm zugestandenermaßen gequälten Träger glauben. Die Vernunft sagte ihm, dass er aufs stärkste bedroht sei. […] Der Angeklagte hat also in berechtigter Notwehr gehandelt, gleichgültig, ob er bedroht wurde oder nur sich bedroht fühlen musste. Den gegebenen Umständen gemäß musste er sich bedroht fühlen. Der Angeklagte wird also freigesprochen, die Frau des Toten mit ihrer Klage abgewiesen“ (ebd.: 821).
Mit diesem Stück Die Ausnahme und die Regel zeigt Brecht überzeugend, dass Konzepte von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, nicht ideologiefrei sind, sondern dass es sich um ideologisch konnotierte Konzepte eines Weltbildes handelt. Das Gleiche gilt denn auch für Gedanken über Ausnahme und Regel, das heißt über Unwahrscheinlichkeiten und Zufall. Zurückblickend ist es eigentlich erstaunlich, wie viele Jahrhunderte die aristotelischen Prinzipien von Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit gehalten haben.
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Epilog Es ist sinnvoll mit Bezug auf die Beziehung zwischen Theater und Kontingenz zu unterscheiden zwischen der produktionsdramaturgischen Verwendung von Zufall einerseits und der thematischen und dramaturgischen Simulation von Kontingenz in den fiktionalen theatralen Welten andererseits. Produktionsdramaturgischer Zufall hat vor allem zum Ziel, die Aufmerksamkeit der Wahrnehmenden auf die Benutzung der theatralen Mittel, der Zeichenträger, ihre Materialität und deren unmittelbare Wirkung zu lenken, ohne gleich durch die Bedeutungen abgelenkt zu werden. Diese Verfahrensweise soll vermeiden helfen, dass wir von unseren Voraussetzungssystemen und damit von unseren Erwartungshaltungen so dominiert werden, dass wir nur sehen, was wir gelernt haben zu sehen, oder nur sehen, was wir sehen wollen, und dadurch nicht mehr richtig wahrnehmen können. Bei der thematischen Verwendung von Kontingenz, zum Beispiel im absurden Drama und Theater, ist von simulierter oder konstruierter Kontingenz die Rede. Dabei fällt auf, dass wenn eine solche Kontingenz im Theater gezeigt wird, diese Kontingenz nicht selbstverständlich auch von den Figuren selbst wahrgenommen wird. Die Erfahrung der Kontingenz und ihrer möglichen Tragik wird oft nur auf der Zuschauerseite erfahren. Aber auch umgekehrt kann man feststellen, dass nicht nur die tragische Seite der Darstellung einer kontingenten Welt für die Zuschauer dominiert, sondern gerade auch die fröhliche Seite im absurden Theater hervorgehoben wird. Aber ebenso wie die Tragik, ist auch die Fröhlichkeit vor allem oder ausschließlich auf der Zuschauerseite zu suchen. Schließlich kann festgehalten werden, dass bei der dramaturgischen Verwendung von Kontingenz oder Zufall Ideologien über das, was notwendig, wahrscheinlich und zufällig ist, eine große Rolle spielen. Es sind gerade diese Aspekte, die in Verbindung mit Begriffen wie Fatum oder poetischer Gerechtigkeit (Poetic Justice) interessante Forschungsperspektiven bieten.
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Literatur Aristoteles (1982): Poetik. Übersetzt u. hg v. Fuhrmann, Manfred. Stuttgart: Reclam. Beckett, Samuel (1974): Endspiel/Fin de Partie/Endgame. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beckett, Samuel (1952): En attendant Godot. Paris: Editions de Minuit. Beckett, Samuel (1981): Dramatische Dichtungen in drei Sprachen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Berghaus, Günter (2005): Avant-garde Performance. Live Events and Electronic Technologies. London: Palgrave Macmillan. Billington, Michael (1982): The Guiness Book of Theatre Facts & Feats. London: Guiness Superlatives Ltd. Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke Band II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1967): „Die Dreigroschenoper“. In: Ders. Gesammelte Werke, Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 393-497. Brecht, Bertolt (1967): „Die Ausnahme und die Regel“. In : Ders. Gesammelte Werke, Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 791822. Fischer-Lichte, Erika (1998): „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“. In: Fischer-Lichte, Erika/Kreuder, Friedemann/Pflug, Isabel (Hg.): Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. München: UTB, S. 1-19. Ionesco, Eugene (1964): La Cantatrice chauve. Paris: Gallimard. Kirby, Michael (1995): „Happenings: An Introduction“. In: Sandford, Mariellen R. (Hg.): Happenings and other acts. London and New York: Routledge. Kirby, Michael/Schechner, Richard (1995): „An interview with John Cage“. In: Sandford, Mariellen R. (Hg.): Happenings and other acts. London and New York: Routledge, S. 51-71. Sandford, Mariellen R. (Hg.) (1995): Happenings and Other Acts. London and New York: Routledge. Suvin, Darko (1995): „Reflections on Happenings“. In: Sandford, Mariellen R. (Hg.): Happenings and other acts. London and New York: Routledge, S. 285-309.
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Eckhard Roch
Logik und Zerfall Kontingente Strukturen in Gustav Mahlers 3. Symphonie
Sind Sie musikalisch? – Musikalisch? Nein. Aber ich liebe Musik! So oder ähnlich verlaufen häufig die Gespräche über Musik und Musikalität. Bei vielen Musikfreunden – wenn sie nicht gerade professionelle Musiker sind – kann man eine merkwürdige Scheu, über ihre musikalischen Fähigkeiten zu reden, beobachten. Wer hingegen würde z.B. so schnell zugeben, mathematisch unbegabt zu sein? Das wäre peinlich. Aber bei Musik? Da zieht man sich gern auf die bescheidene Position des Nur-Musikfreundes zurück. Woher kommt dieses eigenartige Verhalten? Fast scheint es, als ob Musikalität im öffentlichen Bewusstsein von vornherein mit außergewöhnlicher Begabung oder gar Genialität zu tun hätte und man sie deshalb schon aus Bescheidenheit leugnen müsse. Aber hat diese Bescheidenheit wirklich mit Musikalität zu tun (von der erst zu klären wäre, worin sie überhaupt besteht) – oder hat sie vielleicht gar nicht mit dem Gegenstand Musik, sondern vielmehr nur mit dem Reden über diesen Gegenstand zu tun? Das Reden über Musik steht – mehr noch als die anderen Künste – vor dem Problem, im Medium der Wortsprache ein Phänomen behandeln zu müssen, das selbst weder sprachlich erfassbar, noch anschaulich ist. Wie soll man über Musik kommunizieren? Lässt sich in der Wortsprache überhaupt musikalisch Relevantes aussagen, oder reden wir nur über anderes „Reden über Musik“, niemals aber über die Musik selbst? – Und doch: so groß die Bedenken auch sein mögen – wir kommen bei musikalischer Kommunikation an der Wortsprache nicht vorbei. Gerade deshalb ist eine Vorverständigung über musikalische Begrifflichkeit so wichtig. Denn unser Reden über Musik wird – wie in anderen Künsten auch – so gut sein, wie unsere Begriffe es sind. Die Geschichte der Symphonie ist eng mit dem Aufschwung der Instrumentalmusik als autonomer, absoluter Musik gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbunden. Zwar hatte es auch zuvor
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schon Instrumentalmusik verschiedener Gattungen, darunter auch Symphonien, gegeben, aber sie waren durch ihre Funktion etwa als Vor-, Zwischen-, oder Nachspiele in Oper und Schauspiel legitimiert gewesen. Nun, da die Symphonie losgelöst von diesen Kontexten im Konzertsaal im Mittelpunkt des Geschehens selbst stand, tauchte notwendigerweise die Frage auf, ob diese Musik eine Bedeutung habe, ob sie mehr als nur „bloßes Stimmengetös“ (Schubart z.n. Dahlhaus 1978: 16) und „nicht unangenehmes Geräusch“ (Sulzer 1967: Bd. 3, 431f.) sei. Wenn die von der Sprache losgelöste Musik eine Bedeutung haben sollte, so musste sie selbst eine Art Sprache sein. So versteht der Jenaer Frühromantiker Friedrich Schlegel 1798 in einem Athenäums-Fragment die Musik als „tönenden Diskurs“ (Schlegel 1967: 254), und Johann Abraham Peter Schulz bezeichnet in Sulzers Theorie der schönen Künste die Triosonaten von Carl Philipp Emanuel Bach als „leidenschaftliche Tongespräche“ (Sulzer 1967: Bd. 2, 1180). Von Johann Friedrich Reichardt stammt die bekannte Metapher vom Streichquartett als „Gespräch unter vier Personen“, ein Bild, das Goethe aufgriff: man höre vier vernünftige Leute sich miteinander unterhalten, glaube ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen. Die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung ist zugleich die Frage nach der Logik von Musik, und so kommt Ludwig Tieck in seinem Aufsatz Die Töne (1797) zu dem bedeutsamen Schluss: Sowohl in der Musik als auch der Wortsprache könne der Mensch nur hantieren und spielen. Sei es da nicht gleichgültig, ob er in Gedanken oder Instrumentestönen denkt? – Damit scheinen Musik und Wortsprache endlich auf eine gemeinsame Ebene gehoben zu sein. Musik hat nun auch eine Logik. Ja, Tieck kehrt das Verhältnis sogar zugunsten der Musik um: Gewiss würde die Musik als dunklere und feinere Sprache dem Menschen oft mehr als die Wortsprache genügen (Tieck 1984: 348). Plötzlich ist die Musik der Wortsprache sogar überlegen. Was soeben noch ein Nachteil der Musik gegenüber der Wortsprache gewesen war – die Unbestimmtheit ihrer „Gedanken“ – wird umgedeutet in einen Vorzug. Die Musik allein ist es, welche das Unsagbare darzustellen vermag! Die führenden Musiker der Zeit eignen sich dieses neue Selbstbewusstsein sofort an, allen voran Beethoven, der sich gern einen „Tondichter“ nannte. Er finde, dass die Sprache doch gar 104
ECKHARD ROCH: LOGIK UND ZERFALL
nichts vermag, klagt er wiederholt in seinen Briefen (vgl. Beethoven 1957: 19): Nur in Tönen könne er sich ausdrücken! Beethoven, an dessen musikalischer Logik sich das gesamte 19. Jahrhundert messen lassen sollte, greift hier einen Topos auf, der aus der Zeit der Empfindsamkeit stammte. Für den Empfindsamen, der gegen den Rationalismus der Aufklärung revoltierte und den Syllogismen der Sprachlogik die Musik als „Sprache des Unaussprechlichen“ entgegensetzte, schien die Musik mit ihrer Unbestimmtheit gerade das rechte Medium zu sein. Doch die Legitimation der Instrumentalmusik durch ihre Sprachähnlichkeit blieb unbefriedigend. Zwar hörte sich ein Streichquartett an wie eine geistreiche Unterhaltung von vier Individuen. Worüber aber sprachen sie? Man „glaube ihren Diskursen etwas abzugewinnen“ hatte Goethe bedeutsam formuliert. Der Vergleichspunkt der Metapher blieb unvollkommen. Denn was ist die Botschaft, der Inhalt, die Aussage von Instrumentalmusik? Musik besitzt keinen Darstellungsgegenstand wie die anderen Künste, keine Botschaft wie die Wortsprache. Es fehlt ihr – modern ausgedrückt – der Dualismus von Significans und Significatum, Bezeichnendem und Bezeichnetem. Auch Empfindungen oder Gefühle sind nicht ihr Inhalt, wie Eduard Hanslick schon 1896 in seinem Buch Vom Musikalisch Schönen zu Recht proklamierte (vgl. Hanslick 1896: 24). „Die Musik spricht nicht bloß durch Töne, sie spricht auch nur Töne“ (ebd.: 207). Sie ist daher nur „tönend bewegte Form“, ein Spiel von Zeichen, die auf nichts anderes, als auf sich selbst verweisen. Diese Zeichenhaftigkeit von Musik, ohne „Zeichen für etwas“ zu sein, ist semiotisch gesehen bis heute ein Problem. Musikalische Denker wie Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann fanden jedoch schon an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einen erstaunlich progressiven Erklärungsansatz, der das semiotische Problem der Selbstreferentialität von Musik genial umgeht. Laut Tieck können die Symphonien ein so „buntes, mannigfaltiges, verworrenes und schön entwickeltes Drama darstellen, wie es der Dichter niemals zu geben vermag“ (Tieck 1984: 354). Nicht Sprache, sondern „Drama der Instrumente“! Das Drama ist für die Musik das bessere Erklärungsmodell. Warum? Weil auch das Drama als Handlung jenen Dualismus von Zeichen und Bedeutung nicht kennt. Im Unterschied zum Epos hat das Drama keinen Erzähler, sondern nur handelnde Personen, die eine Ent105
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wicklung durchlaufen, die leiden und kämpfen, siegen oder unterliegen. Eine solche Metapher lässt sich leicht auf die Musik übertragen. Auch die musikalischen Themen und Motive durchlaufen eine Entwicklung, erleiden ein „Schicksal“, sind gleichsam musikalische Individuen, die scheitern können oder triumphieren. Ihre Tätigkeit ist musikalische Handlung, Spiel, nicht Rede oder Aussage. In diesem Sinne ist das „Drama der Instrumente“ keine inhaltliche, sondern eine formale Kategorie. Schon Christian Daniel Schubart hob weniger den sprachlichen als vielmehr den formalen Aspekt der Symphonie hervor: Der Eigenwert der Symphonie beruhe darauf, dass sie ein „Ganzes ist, dessen Teile wie Geisterausflüsse wieder ein Ganzes bilden“ (Schubart z.n. Dahlhaus 1978: 16). Das Kriterium der Ganzheit beruft sich zugleich auf den Dramenbegriff, wie ihn Aristoteles in seiner Poetik (1982) entwickelt. Dramatisches erscheint nicht als Zeichen für etwas, sondern als Form. Im Zentrum des Dramenbegriffes steht die Fabel (Mythos), die Aristoteles als logisches Zusammenwirken der handelnden Personen begreift. 1 Musik hat zwar keinen erzählbaren Inhalt, sie ist nicht episch. Aber eine Fabel, einen ganzheitlichen, logischen Aufbau hat sie sehr wohl. Es ist eigentlich verwunderlich, dass die folgende Zeit diese Metapher vom „Drama der Instrumente“ fallen ließ. Programmmusik, Symphonische Dichtung und Musikdrama (als Versuch einer längst verlorengegangen Einheit der Künste), ließen dieses zukunftsträchtige Modell wohl unter dem Einfluss des Poesieverständnisses der Zeit und der dominierenden Gattung des Romans gar zu schnell in Vergessenheit geraten. In einer Hinsicht überlebte es jedoch, nämlich unter dem Aspekt der Form. Nicht zufällig sind alle Analysen, die wirklich als „musikalische“ gelten – Formanalysen. Nach Rudolph Stephan ist Form: „[d]ie Idee des in sich geschlossenen, durch Beziehungsreichtum ausgezeichneten, in seiner Entwicklung klaren und übersichtlichen Werkes, das den ihm zugrunde liegenden Schematismus vergessen läßt und wie etwas organisch Gewachsenes erscheint“ (Stephan 1967: 26).
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Nach Claude Lévi-Strauss übernimmt die Musik schon im 17. Jahrhundert alle die Funktionen und Formen, welche der Mythos in den Jahrhunderten davor ausgeprägt hatte (vgl. Lévi-Strauss 1980: 58).
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Die musikalische Form aber, welche die Forderung nach innerer Einheit, Ganzheitlichkeit, Mannigfaltigkeit und Entwicklung im Symphoniesatz in ideal-typischer Weise erfüllt, ist der Sonatenhauptsatz. Obwohl erst im 19. Jh. als Formschema beschrieben und postuliert, bildete er sich aus Vorformen im 18. Jh. allmählich heraus und bildete fortan den Maßstab vor allem für die Kopfsätze der Symphonien. Seine Gliederung in drei Teile entspringt einem natürlichen Symmetriebedürfnis ebenso wie es dem Aufbau des Dramas mit Anfang, Mitte und Ende gleicht: 1. Exposition (Aufstellung der Themen vergleichbar der inventio und dispositio der oratio in der Rhetorik); 2. Durchführung (Verarbeitung der Themen, dramatische Schürzung); 3. Reprise (Wiederkehr der Themen der Exposition, vergleichbar der Lösung des Konflikts im Drama). Auf die Reprise folgt in der Regel noch die Coda als Schluss des Satzes, die jedoch keinen selbständigen Teil bildet. Als Formkriterien des klassischen Sonatenhauptsatzes können somit gelten: 1. die motivisch-thematische Substanz der zumeist zwei kontrastierenden Themen (Themendualismus und Themenkontrast); 2. die harmonische Dominantspannung zwischen Exposition, Durchführung und Reprise (Kadenzlogik, harmonische Funktion der Durchführung als Rückführungsteil zur Reprise); 3. die architektonische Symmetrie von Exposition und Reprise; 4. und die „dramaturgische“ Dialektik von Entwicklung und Ganzheit: Der Sonatenhauptsatz hat wie das klassische Drama Anfang, Mitte und Ende. Die „Schürzung des Konfliktes“ geschieht in der Durchführung, dessen Lösung die Reprise darstellt. Die Logik des Sonatenhauptsatzes besteht nun im Zusammenwirken aller dieser Komponenten: Auf die Exposition der beiden kontrastierenden Themen folgt ihre Verarbeitung und Vermittlung in der Durchführung (Dominanttonart in Dur, Tonikaparallele in Moll), eine „motivisch-thematische Arbeit“, welche die Wieder-
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kehr der Themen in der Grundtonart als ein erreichtes Ziel, als neue Qualität, erscheinen lässt. So oder ähnlich kann das Funktionsprinzip des Sonatenhauptsatzes in groben Zügen beschrieben werden. Verstöße gegen die Logik dieses Formschemas, von denen es in der komponierten Musik nicht wenige gibt, werden getreu der rhetorischen Tradition entweder als ein vitium (als Formfehler) kritisiert oder eine Lizenz, d. h. eine erlaubte, meist als revolutionäre Entwicklung interpretierte Freiheit des Komponisten, gerühmt. Das berühmteste Beispiel dafür ist gewiss Beethovens Sinfonia Eroica (op. 56), in deren erstem Satz Beethoven entgegen der Regel beispielsweise innerhalb der Durchführung ein neues Thema in e-moll einführt und in der Reprise das Hauptthema in Es-Dur von den Hörnern in Es vier Takte „zu früh“ spielen lässt. 2 Aufgrund ihrer kühnen Neuerungen bei gleichzeitiger Wahrung des grundlegenden Formkonzeptes galten die Symphonien Beethovens schon kurz nach seinem Tode als kaum zu überbietender Höhepunkt der Gattung. In ihnen kam der formalkünstlerische und poetisch-kommunikative Aspekt der Symphonie, den schon die deutschen Frühromantiker formuliert hatten, in höchster Vollendung zusammen. Sie sind Reden an die Menschheit, wie Theodor W. Adorno treffend formuliert. Kaum verwunderlich ist es daher, dass alle Komponisten von Symphonien nach Beethoven sich an diesem Vorbild orientierten und sich auch an ihm messen lassen mussten. Nach Beethovens 9. Symphonie geriet die Gattung der Symphonie, wie Carl Dahlhaus formulierte, in eine offenkundige Krise (Dahlhaus 1980: 220). Nach Schumanns Dritter Symphonie 1850 (die chronologisch seine letzte ist) wurde, so Dahlhaus, fast zwei Jahrzehnte lang keine wirklich bedeutende Symphonie, welche die absolute, nicht durch ein Programm bestimmte Musik repräsentiert, geschrieben. Die symphonische Musik wich gewissermaßen auf andere Gattungen aus. Dafür gab es zwei Wege: Der erste Weg, den der Tondichter Beethoven gewissermaßen schon vorbereitet hatte, nahm von der romantischen Forderung nach dem Poetischen in der Musik seinen Ausgang. Er konnte einerseits zur Programmmusik führen, die als solche jedoch schon 2
Der sog. Cumulus, der in zeitgenössischen französischen Editionen tatsächlich nicht für eine Lizenz, sondern für ein Vitium gehalten und daher korrigiert wurde!
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für Frühromantiker wie Hoffmann obsolet gewesen war, er führte andererseits aber auch zur sogenannten Symphonischen Dichtung, einer Richtung wie sie Franz Liszt vertrat. Jedes musikalische Kunstwerk, dem eine poetische Idee zugrunde lag, sollte nicht mehr nach dem Schema des Sonatenhauptsatzes komponiert werden, sondern ihre je eigene Form erhalten: In der Symphonischen Dichtung ist die Form gleich der poetischen Idee. In diesem Sinne ist dann auch der Sonatenhauptsatz nur noch eine Idee unter vielen möglichen anderen. Es zeigt sich vor allem an dieser Gleichsetzung von Form und Idee, dass die Krise der Symphonie vor allem am Problem der musikalischen Form entstanden war. Von dieser Erkenntnis ging auch der zweite, radikalere Weg aus, den Richard Wagner beschritt. Wagner zweifelte grundsätzlich an der Möglichkeit, nach Beethovens „Neunter“ überhaupt noch Symphonien zu schreiben. In dieser Form der Symphonie [d.h. der Idee des Sonatenhauptsatzes] sei alles gesagt, was gesagt werden konnte. Auf sie sei kein Fortschritt möglich, denn auf sie könne unmittelbar nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet habe (Wagner 1911: 96). Im Schlusschor auf Schillers Ode An die Freude wurde in Wagners berühmter Deutung die absolute Instrumentalmusik durch das Wort erlöst. Das Wort bzw. die dramatische Handlung sollte der symphonischen Musik fortan die Form geben. Die Symphonie selbst war für Wagner damit im musikalischen Drama dialektisch aufgehoben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellte dann Wagners Musikdrama für die junge Komponistengeneration eine ähnliche Herausforderung dar, wie für Wagner und seine Zeitgenossen einst die Beethovensche Symphonie. Kaum einer der Komponisten der nachwagnerschen Ära, angefangen von Engelbert Humperdinck, Peter Cornelius, Anton Bruckner, Gustav Mahler, Richard Strauss bis hin zu Arnold Schönberg kam an Wagner vorbei. Alle setzten sich auf je eigene Weise mit ihm auseinander. Besonders drastisch vielleicht Richard Strauss, schon weil er eine ähnlich dramatische Begabung wie Wagner besaß. Seine erste Oper Guntram 3 stellte den vergeblichen Versuch einer Anknüp3
Schon der Titel verweist auf das Wagnersche Vorbild: Gunther und Wolfram.
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fung an Wagners Parsifal dar. Strauss verwarf das Werk schließlich und setzte ihm auf gut bayrische Art zum Andenken ein Marterl in seinem Garten. Mit seiner nächsten Oper Feuernot, einer offenkundigen Meistersinger-Parodie, schien er Nietzsches Rat, man könne Wagner nur durch die Parodie beikommen, befolgen zu wollen, ehe er sich endlich mit Salome vom übermächtigen Vorbild befreite. Auch Gustav Mahler hatte in seiner Wagner-Begeisterung zunächst eine Oper komponieren wollen und war mit dem Klagenden Lied offenkundig Wagners Spuren gefolgt. Er gab das Vorhaben jedoch bald auf. Aus dem geplanten Musikdrama wurde eine Art symphonischer Kantate, in welcher er sich durch tiefsinnige Umdeutung Wagnerscher Zitate von Anbeginn kritisch mit dem großen Vorbild auseinandersetzte (vgl. Roch 2001: 69ff.). Anders als Strauss, der sich einerseits der Programmsymphonie, andererseits dem musikalischen Drama und später der Märchenoper zuwandte 4 , wendet sich Mahler einer ganz neuen, vor allem durch das Lied inspirierten Art der Symphonik zu. Das theatralische Moment dieser Symphonien ist jedoch kaum zu überhören. Man denke nur an die Rolle der Fanfarenmelodie, die berühmten Hornepisoden oder Naturlaute wie Vogelstimmen oder Herdengeläut. Treffend nannte Felix Brandes die 6. Symphonie „ein großes Theater ohne ‚andere’ Schauspieler“ (Brandes 1906: 422) und Rolf U. Ringger bezeichnete die 9. Symphonie als „Drama schlechthin“ (Ringger 1966: 59). Die alte romantische Auffassung von der Symphonie als Drama der Instrumente scheint bei Mahler also fröhliche Urständ zu feiern. Absolute Musik sei eine Art Drama, hatte Richard Wagner am Ende seines Lebens behauptet (vgl. Wagner 1976/77: 906). Wenn man bedenkt, dass auch Wagner selbst nach dem Parsifal wieder Symphonien schreiben wollte, so könnte man fast versucht sein, Mahler als den Erfüller dieses Vermächtnisses zu verstehen. Mahler wäre es dann, der nun seinerseits das Wagnersche Musikdrama dialektisch in seinen Symphonien aufhebt. Die Symphonien Gustav Mahlers stellen in vieler Hinsicht einen Endpunkt der symphonischen Tradition des 19. Jahrhunderts 4
Damit gewissermaßen einen Rat Wagners befolgend, der die nachfolgende Komponistengeneration auf die Märchenoper verwiesen hatte.
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dar. In ihrem Bemühen, die beiden konträren Paradigmen der Musikgeschichte, die symphonische Instrumentalmusik und die wortgebundene Vokalmusik unter dem Schirm einer poetischen Idee zur Synthese zu führen, können sie als eine Art Summe der klassisch-romantischen Musikauffassung verstanden werden. Obwohl sich Mahlers Symphonien in den Konzertsälen vielleicht gerade aufgrund ihres ästhetischen Anspruches und des instrumentalen Aufwandes nie wirklich durchsetzen konnten, besteht doch kein Zweifel, dass sie zu den größten Kompositionen der Gattung gehören. Sie sind bedeutend, wenngleich schwer zu verstehen, ebenso bewundert wie kopfschüttelnd kritisiert. Schon mit seiner 1. Symphonie verwirrte Mahler die Zeitgenossen. Nach ihrer Uraufführung glaubten Publikum und Kritiker, Mahler habe sich mit ihnen einen bösen Scherz erlaubt. Man hielt diese Symphonie für eine Parodie auf die Symphonische Form, auf den symphonischen Geist und auf das Erfinden (vgl. z.B. Hirschfeld 1890 z. n. Wandel 1999: 31). Der Kritiker Max Kalbeck bezeichnete sie geradezu als „Sinfonia ironica“. Die Einheit der widerstreitenden Gefühle werde von Mahler in der Ironie gesucht. Diese sei für den episodischen Charakter verantwortlich (Kahlbeck 1900 z. n. Wandel 1999: 30). Und damit war zugleich auch der entscheidende Punkt aller späteren Kritik an Mahler angesprochen – das Problem der Form. Mahler verstieß mit seiner symphonischen Idee offenkundig gegen das geheiligte Schema des Sonatenhauptsatzes. Gerade den musikalischen Kennern und Experten der Beethovenschen Tradition musste Mahlers Musik daher als unsymphonisch und chaotisch erscheinen. War die klassische Form als Organismus aufgefasst worden, so schien an die Stelle einer lebendigen Einheit bei Mahler das Chaos einer unendlichen Vielfalt zu treten (vgl. Schlüter 1989: 31). Mahler selbst suchte dem FormProblem, welches ja vor allem ein Verständnisproblem war, durch die Beifügung programmatischer Satzüberschriften und Erläuterungen abzuhelfen. Ganz im Sinne Franz Liszts sollten die sogenannten Programme die symphonische Idee, nicht etwa den bildhaften, „außermusikalischen“ Inhalt der Symphonien wiedergeben. Mahler selbst nannte sie Wegzeichen oder Wegtafeln. Sie sollten die Denk-Richtung anzeigen, nicht das Ziel, den Inhalt. Aber damit wurde das Missverständnis nur noch größer. Als Programmmusiker schien Mahler erst recht völlig undiskutabel. Mah111
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ler selbst schien unschlüssig, wie er die Wegtafeln benennen sollte. Das Autograph der Dritten Symphonie enthält beispielsweise folgende Satzüberschriften (z. n. Floros 1985: 75): Einleitung: Pan erwacht folgt sogleich Der Sommer marschirt ein („Bacchuszug“) Was mir die Blumen auf den Wiesen erzählen Was mir die Thiere im Walde erzählen Was mir der Mensch erzählt Was mir die Engel erzählen Was mir die Liebe erzählt Motto: „Vater, sieh an die Wunden mein! Kein Wesen laß verloren sein!“
Einen weiteren Programmentwurf überliefert Paul Bekker (z. n. ebd.: 76): Das glückliche Leben Ein Sommernachtstraum (Nicht nach Shakespeare. Anmerkungen eines Kritikers [im Text durchgestrichen] Rezensenten): I. Was mir der Wald erzählt II. Was mir die Dämmerung erzählt III. Was mir die Liebe erzählt IV. Was mir die Dämmerung erzählt V. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen VI. Was mir der Kuckuck erzählt VII. Was mir das Kind erzählt
Und schließlich existiert noch ein dritter Programmentwurf nach Alma Mahler (z. n. ebd.: 77), überschrieben mit: Ein Sommernachtstraum 1. Der Sommer marschiert ein (Fanfare und lustiger Marsch) (Einleitung) (Nur Bläser mit konzertierenden Contrabässen) 2. Was mir der Wald erzählt (1. Satz) 3. Was mir die Liebe erzählt (Adagio) 4. Was mir die Dämmerung erzählt (Scherzo) (nur Streicher)
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5. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen (Menuetto) 6. Was mir der Kuckuck erzählt (Scherzo) 7. Was mir das Kind erzählt
Schon über den Titel der Symphonie war sich Mahler selbst höchst unschlüssig. Aus dem Jahre 1895 stammen wenigstens fünf: Ein Sommernachtstraum, Meine fröhliche Wissenschaft, Die fröhliche Wissenschaft, Ein Sommermorgentraum und Ein Sommermittagstraum. Nicht einmal die Anzahl und Reihenfolge der Sätze stimmt in den verschiedenen Konzeptionen überein. Es gibt sogar Verdopplungen (Was mir die Dämmerung erzählt). In der Partitur ließ Mahler schließlich die poetischen Wegweiser völlig fallen und kehrte zu konventionelleren Satzbezeichnungen zurück, die jedoch weniger die Gattung, als vielmehr den Charakter, die Tempi und den Vortrag betreffen. 1. Satz: Kräftig. Entschieden. 2. Satz: Tempo di Menuetto. Sehr mäßig. 3. Satz: Comodo. Scherzando. Ohne Hast. 4. Satz: Sehr langsam. Misterioso. Durchaus ppp. 5. Satz: Lustig im Tempo und keck im Ausdruck. 6. Satz: Langsam. Ruhevoll. Empfunden.
Woher rührt diese Unentschlossenheit? War sich Mahler selbst nicht im Klaren über die musikalische Idee, die seiner Symphonik zugrunde lag? Oder war es die Neuartigkeit der symphonischen Konzeption, welche ihn in Erklärungsnöte brachte? Jedenfalls handelte er sich mit seinen „Wegweisern“ ein Problem ein, welches von der frühromantischen Symphonie-Auffassung als Drama so elegant umgangen worden war: Das semantische Problem des „Erzählers“ in der Symphonie. Was mir der Wald, die Liebe, die Dämmerung, die Blumen auf der Wiese, der Kuckuck, das Kind usw. erzählen! Mahler führt damit den epischen Erzähler in die Symphonie ein, den es in der Symphonie als Drama nicht gab. Was erzählen der Wald, die Liebe? Natürlich Töne, nichts als Töne, aber dem epischen Missverständnis waren gerade durch diese Wegweiser Tür und Tor geöffnet. Von der Seite der Deuter wurde vor allem der Hinweis auf Friedrich Nietzsches Fröhliche Wissenschaft begierig aufgegriffen: Mahler kontra Nietzsche: Mahlers Metaphysik gegen die Antimetaphysik Nietzsches, daher „Meine fröhliche 113
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Wissenschaft“. Immerhin ist die ideelle Patenschaft Nietzsches auch durch den Text des 4. Satzes verbürgt: Nietzsches Mitternachtslied aus dem Zarathustra (= Was mir der Mensch erzählt). Aber auch dieser Verweis hilft nicht wirklich weiter. Am Ende bleibt mehr Verwirrung als wirklicher Nutzen zurück. Im Grunde bestätigten die Programme mit ihrer Uneinheitlichkeit der Bilder, der Fragwürdigkeit ihrer Analogien nur den musikalischen Höreindruck. Alle poetische Umschreibung bleibt vage Assoziation, solange sie sich nicht in der kompositorischen Struktur, dem musikalischen Detail nachweisen lässt. Die poetische Idee wird greifbar nur in der Form, welche ihr zur musikalischen Erscheinung verhilft. Wie also verhält es sich mit der musikalischen Form dieser Symphonie? Wer hier mit der Selbstsicherheit des Experten zum Schema des Sonatenhauptsatzes greift, kommt nicht weit. Denn auch bei mehrmaligem Anhören stellt der gute Hörer fest, dass er es hier mit einer ganz neuartigen Auffassung von musikalischer Form zu tun hat, bei welcher die alten Kategorien Exposition, Durchführung und Reprise ziemlich untauglich erscheinen. Wohl mag der Kopfsatz zum Teil an das klassische Modell erinnern, aber die Feststellung einer dreiteiligen Anlage stimmt nur bedingt und sagt vor allem kaum Wesentliches aus. Es ist erstaunlich, dass schon die frühe Kritik sofort das Neuartige, Unkonventionelle an Mahlers Symphonien erkannte, ehe die musikwissenschaftliche Analyseliteratur diese Werke für den traditionellen Formkanon zu vereinnahmen suchte. Zu stark allerdings wirkte die klassische Tradition, als dass sich nicht jede Symphonik am geheiligten Modell des Sonatenhauptsatzes hätte messen lassen müssen. Auch das analytische Instrumentarium konnte diesem bewährten Schema nicht entsagen. So konstatiert eine Arbeit wie jene von Monika Tibbe, die sich dem für Mahlers Symphonik konstitutiven Phänomen der Lied-Thematik widmet, zwar grundsätzlich die Untauglichkeit des Sonatenhauptsatzes als Formschema, wenn sie schreibt: „Der Sinn des spezifischen Formablaufs dieses Satzes aber ist weder streng an der Sonatenform orientiert, noch resultiert er aus einer Auseinandersetzung mit ihr [...]“ (Tibbe 1971: 25). Dann jedoch verwendet sie mangels eines besseren Instrumentariums doch die Begriffe Exposition, Durchführung, Reprise und legt sogar eine Deutung des 1. Satzes als „Sonatenhauptsatz mit Abweichungen“ (ebd.: 26ff.) vor. Selbst Constantin 114
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Floros, dem es vielmehr um den Nachweis der poetischen Konzeption im semantischen Sinne und damit um die je eigene Formidee der Symphonien zu tun ist, ordnet die poetischen Wegweiser Mahlers in das Formschema des Sonatenhauptsatzes ein. Gliederung 1. Satz der Dritten Symphonie nach Constantin Floros (1985: 86): T. 1-10 11-26 27-56 57-131 132-147 148-163 164-224 225-246 247-272
273-346 347-368
369-449 450-491 492-529 430-642 Z. 44: Z. 49: Z. 51:
643-654 655-670
DER WECKRUF: Intonation des Marschthemas Misterioso (Vorwegnahme der Introduktion des Mitternachtsliedes) Trauermarsch (schwer und dumpf) Rezitativ/Arioso (T. 115-126 ein Schlafmotiv) PAN SCHLÄFT: Choral (mit liedhafter Melodie als Kontrapunkt) DER HEROLD: Tusch, der sich in Musik aus weiter Ferne auflöst Rezitativ/Arioso (bei Z. 13-16 trauermarschähnliche Rhythmen als Begleitung; T. 214-224 ein Schlafmotiv) Musik aus weiter Ferne (Choral mit liedhafter Gegenmelodie, später Tusch sich gänzlich verlierend ~ T. 132-163 Marsch wie aus weiter Ferne
Exposition Marschmusik aus der Ferne, immer näher kommend (mit liedhaftem Charakter zu Beginn): Einzug des Sommers hymnisch, dann gespannter Höhepunkt: Vorgriff auf das Finale Durchführung Rezitativ/Arioso Musik aus weiter Ferne Lied ohne Worte in zwei „Strophen“ und in Ges-dur Marsch (von Mahler selbst in der Partitur so bezeichnet) DAS GESINDEL DIE SCHLACHT BEGINNT DER SÜDSTURM =
naturalistische Sturmdarstellung
Reprise Intonation des Marschthemas Misterioso
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671-736 737-856 857-862 863-875
Rezitativ/Arioso (mit trauermarschähnlichem Beginn) Marsch aus weitester Ferne sich nähernd gespannter Höhepunkt: Vorgriff auf das Finale Siegesfanfare
Wie man sieht, ist es durchaus möglich, diesem ungewöhnlichen Satz die klassischen Formelemente als Schema zu unterstellen. Die Frage ist nur, ob damit das Formprinzip eines solchen SymphonieSatzes tatsächlich erfasst und besser verstanden werden kann. Es gibt zumindest schwerwiegende Beobachtungen, die dem widersprechen. An der Frage, ob es sich „noch“ um einen Sonatenhauptsatz mit Abweichungen von der Norm (Lizenz) oder ein neues Formschema, dessen Konstruktionsprinzip erst noch zu bestimmen wäre, handelt, entscheidet sich für manche Interpreten sogar die Zugehörigkeit zur Gattung der Symphonie. In der Literatur über Mahlers Symphonik scheinen die Argumente gegen das klassische Formschema durchaus zu überwiegen. Schon 1930 kritisierte Gutman die „Unversöhnlichkeit der symphonischen Technik mit einem nichtsymphonischen Material“ (Gutman 1930: 102) an der 3. Symphonie. Als nichtsymphonisch gilt ein Material, das zur Konstitution eines Ganzen nicht geeignet ist, weil der Themendualismus fehlt, wie überhaupt die Themengestalt der Mahlerschen Symphonien zu unspezifisch ist. Daher fehlen dann auch Exposition, Durchführung und Reprise, aus denen dieses Ganze traditionell besteht (vgl. Schlüter 1989: 30). Die Ganzheitsforderung stammt, wie wir bereits sahen, aus der Tradition des klassischen Dramas, und es sind die beiden kontrastierenden Themen der Exposition, welche den Konflikt darstellen, der in der Durchführung seine Verarbeitung und Schürzung erfährt und in der Reprise einer Lösung zugeführt wird. Ganz ähnliche Beobachtungen wie Gutman an der Dritten macht Rudolf Bauer an Mahlers 4. Symphonie, weshalb er nur konsequent fragt: Ist das eigentlich eine Symphonie? Fehlt ihr dazu nicht die Idee, wie in den Themen die dramatische Spannung der Antithese (vgl. Bauer 1955: 412)? Fehlt der Exposition die dramatische Spannung, so mangelt es notwendig auch der Durchführung an der nötigen Kraft zur Konfliktlösung. Theodor W. Adorno bemerkte an der „Durchführung“ im 1. Satz der 3. Sinfonie eine Tendenz zur „musique informelle“,
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überdrüssig des Willens zur lückenlosen Integration (Adorno 1963). Wenn dem so ist, so gerät der Gedanke der großen symphonischen Form überhaupt in Gefahr. Die große musikalische Form als Voraussetzung, dass Musik „in sich selbst sinnvoll sein kann“ (Stephan 1967: 23), ist bei Mahler brüchig oder sogar aufgegeben, konstatiert Rudolf Stephan. Und Eberhardt Klemm (1960: 20) geht noch weiter: Ab origine übe Mahlers Musik Kritik am Systemzwang, am Kalkül der Sonaten-Form. Das freilich geht über die Beobachtung bloßer Lizenzen gegenüber der Norm, welche poetisch-semantisch zu interpretieren wären, weit hinaus. Nahezu alle zitierten Autoren stimmen darin überein, dass Mahlers Form nichts mehr von einem Organismus habe, sondern der lebendigen Einheit des klassischen Sonatenhauptsatzes das Chaos einer unendlichen Vielfalt entgegensetze. Ein solcher Befund muss natürlich interpretiert werden. Kritik allein genügt nicht. Der immer neue und wechselnde Inhalt bestimme sich seine Form von selbst, hatte Mahler selbst auf den Vorwurf der Formlosigkeit entgegnet. D.h., wie Adorno bestätigt, Mahler komponiert gewissermaßen von unten nach oben (z. n. Schlüter 1989: 35). Er leitet seine Symphoniesätze nicht vom Formschema ab, die Form ist nicht Voraussetzung, sondern Resultat seines kompositorischen Verfahrens. Das kann auch für die Analyse nur heißen: Induktion, statt Deduktion. Nicht das Vergleichen mit dem gegebenen Schema, sondern die Abstraktion des Konstruktionsprinzips aus den je verschiedenen, „individuellen“ Werken selbst. Das Verfahren ist ebenso einfach wie seine Realisierung aufwendig und mühsam ist. Man muss die Werke „durchbuchstabieren“ wie einen Text, dessen Wörter man nicht versteht, um nicht nur die „Grammatik“, sondern auch den „Sinn“ interpretieren zu können. Zunächst einige Beobachtungen am Beispiel des ersten Satzes der 3. Symphonie. Schon die riesenhafte Dimension steht im Widerspruch zum Sonatenhauptsatz. Mahler gliedert seine Symphonie in zwei sogenannte Abteilungen, wobei die erste allein vom 1. Satz bestritten wird, während die zweite aus den übrigen Sätzen besteht. Dieser 1. Satz ist erstaunliche 875 Takte lang und dauert über eine halbe Stunde. Selbst dem besten Hörer dürfte es schwer fallen, in einer solchen, geradezu „unüberschaubaren“ Dimension
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eine dramatische Entwicklung nachzuvollziehen oder gar ein architektonisches Formprinzip zu entdecken. Dafür wird er jedoch kleinere musikalische Einheiten sofort erkennen. Diese unterscheiden sich im Charakter nämlich deutlich voneinander, sind aufgrund ihrer Vielzahl und ihres schnellen Wechsels jedoch weit davon entfernt, kontrastierende Themen zu bilden. Es sind vielmehr kleinere, elementare Charaktere, die in buntem Wechsel aufeinanderfolgen, ohne dass der Sinn ihrer Aufeinanderfolge sofort zu entdecken wäre. Die Beobachtung Adornos an Wagners musikdramatischen Kompositionen, dass sie nämlich nicht auf symphonischen Themen, sondern auf elementaren Motiven beruhen, lässt sich auch an Mahlers Symphoniesätzen machen. Die Folge der Motive bei Mahler erscheint fast wie eine Art Leitmotivik, nur dass die dramatische Legitimation fehlt. Was bei dieser Kompositionsweise von unten, d.h. vom elementaren Motiv her, auf der Strecke bleibt ist eben die traditionelle musikalische Logik, die letztlich auf der elementaren Dominantspannung zwischen dem 1. und 2. Thema beruht. Sie wird bei Mahler wie in Wagners Leitmotivik durch die Vielfalt der Motive ad absurdum geführt. Wenn man bei Wagner vor der Alternative steht, seine sogenannte Leitmotivik entweder als steten Wechsel von Exposition und Reprise oder aber als permanente Durchführung zu interpretieren, so gilt ein Gleiches auch hier. Die Entfaltung der Mahlerschen Symphoniesätze beruht im Wesentlichen auf der Kombination von Motiven. Es sind keine symmetrischen Symphonie-Themen, die exponiert und dann verarbeitet werden, sondern kurze Motive, die stets neu kombiniert werden. Der musikalische Verlauf wird bestimmt durch Assoziation bzw. Montage (die horizontal-sukzessiv oder vertikal-synchron sein kann) dieser Motive. Mahler entwickelt oder spinnt einen Gedanken nicht logisch fort, sondern komponiert von ihm ausgehend in freier Assoziation (ursprünglicher Sinn des componere). Er selbst nannte sich einmal einen Rhapsoden, was auf freie, ungebundene Rede, musikalische Prosa zielt. Diese Assoziationen sind musikalische Idiome oder mit Hans H. Eggebrecht zu sprechen, musikalische Vokabeln, Charaktere oder Episoden, wie beispielsweise im 1. Satz der 3. Symphonie das Marschlied („Ich hab’ mich ergeben“), Misterioso, Fanfaren (meist Trompeten), verschiedene Marschintonationen 118
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(Militärmarsch, Trauermarsch); ferner Solopartien, die gewissermaßen als „erzählendes Subjekt“ in der Symphonie fungieren: Die Soloposaune (für Pan?), das Englischhorn (Charakter der Pastorale), das Violinsolo (Charakter der Romanze ) oder auch allgemeine musikalisch-dramatische Prinzipien wie Steigerung und Durchbruch und schließlich Episoden, die Mahler in der Partitur ausdrücklich benennt als Das Gesindel, Die Schlacht beginnt, Südsturm
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usw. Berühmt wurden vor allem die Posthornepisoden des dritten Satzes. Der Versuch, eine solche Vielfalt von musikalischen „Gedanken“, Motiven und Episoden zur Einheit zu zwingen, muss angesichts der Komplexität und der Dimension der Verhältnisse scheitern, aber es ist – wie Adorno sagen würde – ein großartiges Scheitern!
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Die von der Kritik bemerkte „Episodenhaftigkeit“ von Mahlers symphonischen Stil resultiert aus der assoziativen Reihung solch unterschiedlicher, teilweise sogar disparater Elemente, muss jedoch zugleich relativiert werden. Zwar exponiert Mahler keine Themen, die dann der Verarbeitung, d.h. Variation, Transformation, Abspaltung und Kombination unterliegen, sondern beginnt gleichsam schon auf dieser elementaren, durchführungsartigen 121
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Ebene, – aber „thematisch“, d.h. für den ganzen Satz und z.T. sogar darüber hinaus von Bedeutung, sind seine Motive sehr wohl. 5 Episoden hingegen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie überhaupt nur einmal erklingen, was eben ihren „episodischen“ Cha5
In der 1. Symphonie ist es beispielsweise das elementare Motiv der absteigenden Quarte, das nicht nur den ersten, sondern auch die übrigen Sätze dominiert.
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rakter ausmacht. Die Motive und Charaktere von Mahlers Symphonik werden auch nicht einfach nur potpourri-ähnlich aneinandergereiht. Vielmehr sind die Motivgrenzen durchlässig oder weggenommen. Eins folgt dem anderen, scheinbar logisch in unaufhörlich frischer Produktion. Man könnte hier vielleicht an eine Analogie zur musikalischen Improvisation oder zur freien Assoziation der Traumarbeit Siegmund Freuds denken. Die Einleitung ist überschrieben mit „Pan schläft“ was eine solche Intention durchaus sinnvoll erscheinen lässt. Der Traum ist gekennzeichnet durch eine eigentümliche Außerkraftsetzung von Raum und Zeit und somit von Kausalität. In loser Folge reihen sich scheinbar unzusammenhängende Bilder ohne feste Grenzen aneinander, zusammengehalten nur durch eine gemeinsame Symbolqualität. Scheinbar zufällig folgen die Motive aufeinander, gehen auseinander hervor, aber es könnte immer auch anders sein. Die Folge der musikalischen Bilder trägt fast surrealistische Züge. Die musikalische Kadenz-Logik wird aber nicht nur aufgehoben, sondern in ihrer Brüchigkeit produktiv gemacht. Es ist nicht nur die formale Not oder gar Unfähigkeit, welche Mahler zu seiner völlig neuartigen Faktur greifen lassen. Was hätte ihn daran gehindert, die Formteile des Sonatenhauptsatzes zu erfüllen, um so der Forderung der Kritik wenigstens äußerlich Genüge zu tun? Nein, Mahler komponiert bewusst von „unten“, vom musikalischen Detail aus und er scheitert auch nicht am Ganzen, sondern zeigt, dass dieses Ganze nichts anderes als eine menschliche Abstraktion und Illusion ist. Was er in seinen Symphonien vorführt, ist nicht Unlogik, sondern – wie Bernd Sponheuer in seinem Mahlerbuch treffend formuliert – die Logik des Zerfalls selbst. Der Zerfall logischer Strukturen, d.h. der Kadenz-Logik des Sonatenhauptsatzes, ist jedoch nur die negative Formulierung des Phänomens. Es ist eben eine andere Logik, die in der Nichtnotwendigkeit der Aufeinanderfolge musikalischer Ereignisse besteht. Die Motive besitzen stets die doppelte Möglichkeit, da zu sein oder nicht da zu sein. In diesem Sinne sind sie – kontingent. Wie das? Nach der behaupteten Episodenhaftigkeit und der Logik des Zerfalls nun ein neues Modewort, die Kontingenz, die Mahlers Symphonik oktroyiert werden soll? Nein. Es lässt sich vielmehr zeigen, dass der literarisch wie philosophisch gebildete Mahler durchaus wusste, was er tat, als er den scheinbar oberflächlichen Hinweis auf Friedrich Nietzsches Fröhliche Wissenschaft 123
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gab. Das 111. Fragment dieser Schrift handelt nämlich von der Herkunft des Logischen. „Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden?“ heißt es dort gleich zu Beginn. Und Nietzsche gibt die Antwort: „Gewiss aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muss“ (Nietzsche 1988: 471-473). Wie aus dieser Unlogik Logik entstand, scheint die Situation eines ungeübten Rezipienten Mahlerscher Musik auf’s Haar zu treffen: „Wer zum Beispiel das ‚Gleiche‘ nicht oft genug aufzufinden wusste [...] wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Aehnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Aehnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang – denn es giebt an sich nichts Gleiches –, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen“ (ebd.).
Und im folgenden 112. Fragment schreibt Nietzsche über Ursache und Wirkung: „eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie, – in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolirte Puncte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschliessen“ (ebd.).
Das Auffinden des Gleichen, das ist auch die elementare Strategie eines Rezipienten beim Hören einer neuartigen Musik. Die Themen und Motive, ja die gesamte Gliederung eines musikalischen „Satzes“ geschehen durch die Erkenntnis von Wiederholungen, welche das Kontinuum in Gleiches und Verschiedenes gliedern. An sich sind auch die musikalischen Klangereignisse stets verschieden, erst der „unlogische“ Hang, Ähnliches als Gleiches zu interpretieren, hat auch die musikalische Logik geschaffen. Ganz bewusst scheint Mahler, diesen ursprünglichen Zustand der Unlogik, diesen kontinuierlichen Zustand vor aller Form, in seiner Symphonik vorführen zu wollen. Er beginnt bei den kleinsten Bausteinen der Musik, den Klängen (Naturklang) und Motiven, um daraus eine Welt aufzubauen, deren Faktur wir nur als Ursache und Wirkung beschreiben können, während sie in Wirklichkeit ein Kontinuum ist.
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Vor diesem Hintergrund gewinnen Mahlers scheinbar willkürliche, und z.T. weit her geholte programmatische Äußerungen plötzlich einen musikalisch stringenten Sinn. So schrieb Mahler am 29. August 1895 an Fritz Löhr, die Sätze II-V sollten die Stufenreihe der Wesen ausdrücken (Hansen 1981: 138). Und analog an Anna von Mildenburg (1. Juli 1896): „Und so bildet mein Werk eine alle Stufen der Entwicklung in schrittweiser Steigerung umfassende musikalische Dichtung. – Es beginnt bei der leblosen Natur und steigert sich bis zur Liebe Gottes!“ (ebd.: 161).
Die Dritte Symphonie Gustav Mahlers soll also nichts Geringeres als eine Art Weltgenese im Symphonischen vorstellen. Auch in dieser Hinsicht folgt Mahler seinem großen Vorbild Wagner, dessen Weltendrama vom Ring des Nibelungen den jungen Mahler ja besonders begeistert hatte. Seine Vorspiele müssten elementarisch sein, weil sonst das Drama überflüssig werde, hatte Wagner einmal gesagt (Wagner 1976/77: 215). Man kann diese Konsequenz für Mahler auch umkehren: Die elementarische Faktur seiner Symphoniesätze macht das Drama überflüssig. Sie hebt die dramatische oder logische Struktur auf – in der Kontingenz des symphonischen Verlaufes. Die Erkenntnis der Kontingenz des Seins – das ist die Idee, welche der 3. Symphonie zugrunde liegt und welche somit auch den analytischen Zugang zu diesem Werk, der hier nur angedeutet werden sollte, weisen könnte. Das Komponieren mit elementarischen Bausteinen holt die Prinzipien von Ordnung und Chaos, die Problematik aller Entwicklung, hinein ins Werk. Wenn Beethoven in seinen Symphonien nach Adorno im Grunde das musikalische Äquivalent zur Hegelschen Logik komponierte, dann ist Mahlers kompositorische Logik wohl am besten mit Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft zu beschreiben – eben als Kontingenz. Die Antwort auf die entscheidende Frage des Komponierens, wie es weitergehen soll, bei Wagner noch notdürftig durch das Drama ersetzt, lässt sich induktiv auch symphonisch nicht mehr beantworten. Die Musik selbst ist von ihrem Wesen her kontingent. Nur die menschliche Logik prägt dem Kontinuum der Töne kommunizierbare Formen auf. Das ist die Erkenntnis, die Mahler in seiner Dritten Symphonie demonstriert.
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LiederTrost
Morgenstund’ Morgenstund’ hat Gold im Mund, heißt das Sprichwort. Daher beginnt dieser Text mit Bezug auf die erste Morgenstunde; und um dieses Bonmot sinnlich erfahrbar einlösen zu können, sollten wir uns ein Morgenlied in den Mund legen – Nr. 443 im derzeitigen Evangelischen Gesangbuch (EG), zunächst die ersten beiden Strophen: Aus meines Herzens Grunde sag ich dir Lob und Dank in dieser Morgenstunde, dazu mein Leben lang, dir Gott, in deinem Thron, zu Lob und Preis und Ehren durch Christus, unsern Herren, dein’ eingebornen Sohn, dass du mich hast aus Gnaden in der vergangnen Nacht vor G’fahr und allem Schaden behütet und bewacht, demütig bitt ich dich wollst mir mein Sünd vergeben, womit in diesem Leben ich hab erzürnet dich. (Text: Georg Niege um 1586).
Gold im Mund hat die Morgenstunde eines Christenmenschen gerade darin, dass er den Tag mit dem Loben Gottes beginnt, wie es ihm hier in den Mund gelegt wird. Das ganze Leben soll unter dem Vorzeichen des Gotteslobs stehen, aber in besonderer Weise ist es die Morgenstunde, welche dazu Anlass gibt. Das schaden-
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freie Überstehen der Nacht wird als nicht selbstverständliche, also kontingente, Heilserfahrung erlebt. Grund genug, Gott für diese Bewahrung zu danken. Was einem in der Nacht alles passieren kann, wo man schlafend die Kontrolle über das eigene Tun und die Wahrnehmung der Umwelt aus der Hand gegeben hat, artikuliert implizit die dritte Strophe, welche um Bewahrung vor all diesen Dingen auch im nun anhebenden Tag bittet. Du wollest auch behüten mich gnädig diesen Tag vors Teufels List und Wüten, vor Sünden und vor Schmach, vor Feu’r und Wassersnot, vor Armut und vor Schanden, vor Ketten und vor Banden, vor bösem, schnellem Tod.
Der Teufel als Macht, die uns vom Glauben abbringen und in sündhaftes Denken und Tun stürzen will, ist die bedrohliche unkalkulierbare Größe. Wie es die Mönche jeden Abend im Nachtgebet der Complet beschwören, rechnet der Teufel sich gerade in der Nacht Chancen aus, er „schleichet umher wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge“ (1. Petrus 5,8). Feuerund Wassersnot sind bedrohliche Naturgewalten, die speziell in der Nacht Unheil anrichten können, wenn ihr Hereinbrechen von den Schlafenden nicht bemerkt und ihre Ausbreitung nicht verhindert werden können. Das Besitzvermögen, das körperliche Wohlsein und die persönliche Freiheit sind nicht nur durch die Tagesgeschäfte gefährdet, sondern gerade bei Nacht durch Diebe und Räuber. „Dass Dieb und Räuber unser Gut und Leben nicht angetast‘ und grausamlich verletzet, dawider hat sein Engel sich gesetzet, Lobet den Herren!“ kann man mit Paul Gerhardt vier Nummern weiter im Gesangbuch singen (EG 447,5). Schließlich steht die Nacht der Sphäre des Todes, welcher bekanntlich des Schlafes Bruder ist, besonders nahe. Der unvorbereitete Tod bei Nacht ohne die Möglichkeit des Abschiednehmens wäre ein „böser, schneller Tod“. Anders herum betrachtet: Die bewusst erlebte Morgenstunde gebiert jeweils neu das Staunen „Hoppla, ich lebe noch!“ und so gleichsam eine Ostererfahrung: „und aus dem Schlaf uns fröhlich auferwecket“ ist für Paul Ger130
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hardt der allererste Grund, morgens „Lobet den Herren“ zu singen (EG 447,2). Die andere Seite des morgendlichen Gotteslobs ist wie bei jedem Stundengebet im Kloster die Bitte um Vergebung der persönlichen Schuld. Der stets relevante Kontingenzfaktor gegen ein gelingendes Leben sind die schuldhaften Verfehlungen der Menschen. Diese lassen die Bewahrung vor den schlimmen Folgen dieses Tuns durch Gott erst recht als kontingent, als nicht selbstverständlich und solchermaßen „gnädig“ erscheinen. Mein’ Leib und meine Seele, Gemahl, Gut, Ehr und Kind in dein Händ’ ich befehle und die mir nahe sind als dein Geschenk und Gab, mein Eltern und Verwandten, mein Freunde und Bekannten und alles, was ich hab. (Strophe 4)
Diese Strophe artikuliert die völlige Selbsthingabe an Gottes Willen als Lebensdevise für den bevorstehenden Tag. Das eigene Leben in der Ganzheitlichkeit von Leib und Seele, die näheren und ferneren Mitmenschen „und alles, was ich hab“, also alle dinglichen Güter, sind verstanden als unverdientes Geschenk, Gabe Gottes. Dies verwehrt jegliche Anspruchshaltung und setzt zugleich die gelassene Hingabe an die beschützende Macht Gottes frei. „In deine Hände befehle ich meinen Geist“ ist das Sterbegebet des frommen Juden (Psalm 31,6), der so sein Leben loslassen kann. „In deine Händ’ ich befehle“ – früh am Morgen alles, wirklich alles, was auf mich zukommt an diesem Tag – dieses Loslassen ist ein bemerkenswerter Akt der Freiheit, insofern so den Kontingenzfaktoren im menschlichen Zusammenwirken jegliche Bedrohung und jede das eigene Tun beeinträchtigende Wirkung genommen ist. Das Gelingen des gemeinschaftlichen Lebens ist letztlich Sache des im Wortsinn „lieben Gottes“. Dies entlastet das Individuum kolossal. Dein’ Engel lass auch bleiben und weichen nicht von mir,
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den Satan zu vertreiben, auf dass der bös’ Feind hier in diesem Jammertal sein Tück an mir nicht übe, Leib und Seel nicht betrübe und mich nicht bring zu Fall. (Strophe 5)
Mit dieser Strophe leistet das Lied einen speziellen Tribut an die Vorstellung des Satans als real wirkmächtigen Antipoden Gottes. Gegenstrategie ist die Vorstellung von Engeln als göttlichen Agenten mit der spezifischen Aufgabe, vor dem Satan zu schützen. Gerade diese Vorstellungswelt hat heutzutage wieder Konjunktur. Mit der Bitte „Leib und Seel nicht betrübe“ kommt auch das allgegenwärtige Phänomen der Depression in den Blick. Mangelnde Ganzheitlichkeit kann einem solchen Morgenlied also bestimmt nicht vorgeworfen werden! Die letzten beiden Strophen sollten gesungen aufgefasst werden. In den Gottesdiensten heute gelangen meistens nur die beiden ersten und letzten Strophen zur ästhetischen Praxis des Singens. Zusammen mit dem Sog der Dreiertakt-Melodie in Dur verkörpern diese Schlussstrophen so etwas wie die Einstellung „think positive“. Trotz der zuvor drastisch vorgestellten Bedrohungen von Leib und Seele kann das Tagewerk positiv – „mit Freuden“ – angegangen werden. Die Kontingenzproblematik ist dem lieben Gott überantwortet. Der kann alles richten. Weil ich ihn im Glauben als „gnädigen“, also mir wohlgesonnen, Gott weiß, kann ich singen „Er mach’s, wie’s ihm gefällt.“ Gott will ich lassen raten, denn er all Ding vermag. Er segne meine Taten an diesem neuen Tag. Ihm hab ich heimgestellt mein Leib, mein Seel, mein Leben und was er sonst gegeben; er mach’s, wie’s ihm gefällt. Darauf so sprech ich Amen und zweifle nicht daran,
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Gott wird es alls zusammen in Gnaden sehen an, und streck nun aus mein Hand, greif an das Werk mit Freuden, dazu mich Gott bescheiden in mei’m Beruf und Stand. (Strophen 6 und 7)
Die positiv stimulierende Wirkung eines solchen Morgenliedes ist nicht zu unterschätzen. „Greif an das Werk mit Freuden“ – der Alltag ist zur tragikfreien Zone erklärt. So relativ einfach funktioniert das mit solchem Gottvertrauen allerdings nur im Rahmen der Berufs- und Ständelehre des Luthertums. Was im jeweiligen „Beruf und Stand“ konkret zu tun ist, regelt die Ständeordnung. Also spricht nichts dagegen, die Morgenstund mit solchem Gold im Mund zu veredeln.
In allen Nöten – „Harre, meine Seele“ Nachdem wir uns bisher Sprachformen des 16. Jahrhunderts in Wort und Ton gewidmet haben, die als Gesangbuchlied in der liturgischen Praxis gleichwohl ästhetische Gegenwart sind, springe ich nun 250 Jahre weiter und rufe ein Lied aus dem 19. Jahrhundert auf, das zu den umstrittensten religiösen Sprachgestalten zu zählen ist. Einerseits wird es von vielen Menschen bis heute heiß geliebt, andererseits verachten es Fachleute zutiefst. Ich wähle das Lied „Harre, meine Seele“ von einer aktuellen Erfahrung her. Wir haben es im letzten Erlanger Universitätsgottesdienst singen lassen und daraufhin vielfache Resonanz erhalten wie noch nie. Eigentlich ging es in diesem Gottesdienst zum Semesterthema „Gott und Geld“ um den sogenannten reichen Kornbauern (Lukas 12, 16-21). Fixiert auf seinen wirtschaftlichen Erfolg und dessen Sicherung, meint dieser, sein Leben vor kontingenten Gefährdungen schützen zu können, verliert es so aber gerade: „Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern!“ durchkreuzt Gott seine Expansionspläne (Lukas 12, 20). In der Vorbereitung des Gottesdienstes kamen wir auf das Lied „Harre, meine Seele“ unter anderem deshalb, weil es in einer Situation entstanden ist, die ebenfalls ganz von wirtschaftlichen Erwägungen gekennzeichnet war, allerdings konträr gepolt zum
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Kornbauern. Der Elberfelder Kaufmann Johann Friedrich Raeder hatte sein Vermögen in ein riskantes Indien-Geschäft gesteckt und konnte mit diesem für die Neuzeit jenseits der alten Ständewelt charakteristischen, aber eben existenzbedrohlichen Risiko nicht mehr leben. Er durchlebte emotional äußerst angespannt Wochen extremer Unsicherheit. Eines Morgens traf ihn seine Frau völlig gelöst und ruhig an. In der Nacht hatte er seine Unruhe in den Worten dieser beiden Gedicht-Strophen gebändigt. Sie schließen an den Psalm-Refrain an: „Was betrübst du dich meine Seele und bist so unruhig in mir? – Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist!“ (Psalm 42,6.12; 43,5). Mit einer aus anderen Zusammenhängen im Elsaß stammenden Melodie erschien dieses Gedicht drei Jahre später, 1848, in Essen in einem Band mit dem signifikanten Titel „Männerlieder“ und trat von da aus einen förmlichen Siegeszug an, wurde allerdings aus landeskirchlichen Gesangbüchern zumeist fern gehalten. Seit 1994 steht es zwar drin, aber nicht im gesamtdeutschen Stammteil, sondern nur in einigen landeskirchlichen Anhängen (z.B. EG Bayern 596, EG Württemberg 623): Harre meine Seele, harre des Herrn; alles ihm befehle, hilft er doch so gern! Sei unverzagt, bald der Morgen tagt, und ein neuer Frühling folgt dem Winter nach. In allen Stürmen, in aller Not wird er dich beschirmen, der treue Gott! Harre, meine Seele, harre des Herrn; alles ihm befehle, hilft er doch so gern! Wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht; größer als der Helfer ist die Not ja nicht! Ewige Treue, Retter in Not, rett’ auch unsre Seele, du treuer Gott!
Nach dem Universitätsgottesdienst konnte sich die Predigerin, Kollegin Johanna Haberer, nicht retten vor Menschen, namentlich Frauen, die auf sie zu stürmten und sagten: „Sie haben mir so eine Freude gemacht“ – keine meinte damit die exzellente Predigt, sondern alle – „dass wir dieses Lied wieder einmal singen durften.“ Es waren überwiegend ältere, auch sehr gebildete Leute, die 134
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sich damit an Bewahrungs-Situationen vornehmlich in der Kriegsund Nachkriegszeit erinnerten, wo ihnen dieses Lied als authentische Sprachform zur Kontingenzbewältigung ans Herz gewachsen war. Zum Teil äußerten sie großes Erstaunen über den benannten Entstehungskontext, weit entfernt von ihrer persönlichen Erfahrungswelt mit diesem Lied. Eine etwa 40-jährige Frau berichtete, dass sie nach dem Tod einer Tochter vor einem Jahr begonnen habe, Klavier zu spielen und eben „Harre, meine Seele“ als erstes Lied am Instrument gewählt habe. Das gemeinsame Singen des Liedes im Gottesdienst löste förmlich die Zunge, um zu erzählen von individuellen Bewahrungserfahrungen in allerhand Notsituationen. Übrigens hatte auch der Textautor damals Glück. Er verlor sein Vermögen nicht und betrachtete dies als Beleg für die in der zweiten Strophe beschworene Gottestreue zu den Frommen. Was ist das ästhetische Erfolgskonzept dieses Liedes? – Eine große Rolle spielt die einfache Melodie mit ihrer stereotypen Rhythmik und schlichten Melodik, welche zur regressiven Bergung in Terz- und Sextklängen förmlich einlädt und am Ende einen pathetischen Aufschwung präsentiert. Der Text ist fast durchgehend appellativ und plakativ in schlichten Parolen. Am Satzende stehen (zumindest in der bayerischen Gesangbuchausgabe) fast nur Ausrufezeichen. Der einzige argumentative Satz, der zweite in der ersten Strophe, arbeitet mit zwei elementaren Gegensatzpaaren aus der Natur: Morgen folgt auf Nacht, Frühling auf Winter. Solch plakative Schlichtheit hat sich offenbar bewährt als Bewältigungsstrategie für moderne Komplexität mit all ihren Unwägbarkeiten. Inhaltlich geht es um dieselbe Totalhingabe an Gottes Willen wie im vorigen Lied aus dem 16. Jahrhundert: „in deine Händ’ ich befehle ... alles was ich hab“ hieß es dort, hier mit Strophe 2 „alles ihm befehle, hilft er doch so gern“. Dort wurden allerdings die Gefährdungen und die persönlichen sozialen Bezugsfelder konkret benannt, das bewahrende Handeln Gottes als Gnadenhandeln trotz der menschlichen Sünde erschlossen und die Hingabe als bewusste Selbsthingabe formuliert, hier findet sich nur pathetische Suggestivität mit einem Allgemeinplatz wie „größer als der Helfer ist die Not ja nicht“. Die Fachleute in den Gesangbuchkommissionen um 1950 haben Lieder wie EG 443 dem „Harre, meine Seele“ entschieden vorgezogen, obgleich es sich in den damaligen schwierigen Zeiten 135
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bei unzähligen Menschen als Trostlied offenbar bewährte. Die bayerische Gesangbuchkommission Anfang der 1990er-Jahre hat nun konzidiert, dass die Kontingenzbewältigung breiter Bevölkerungsschichten von der Bauersfrau bis zur Professorengattin, auch im 20. und 21. Jahrhundert, auf extrem einfache Sprachmuster rekurriert und auf eine sozusagen vormoderne Hörigkeit gegenüber appellativer Rede.
Zum letzten Gang – „So nimm den meine Hände“ Unser drittes Liedbeispiel ist historisch ebenfalls im 19. Jahrhundert zu verorten und trägt in der Beurteilung durch Christenmenschen und Fachleute eine ähnliche Ambivalenz in sich wie das vorige. Im Unterschied zu „Harre, meine Seele“, das in verschiedenen bedrohlichen Lebenssituationen als bergende Sprachgestalt greift, ist „So nimm den meine Hände“ zum Signet für einen ganz bestimmten Kasus geworden, den Kasus Bestattung, also für den Lebensfall, wo die Endlichkeit des Lebens unabweisbar vor Augen steht. Es gibt kaum eine evangelische Beerdigung, bei der das Lied nicht gesungen wird und es gibt kaum eine katholische Bestattung, bei der dieses Lied nicht als Musik zum Auszug des Sarges und der Trauergemeinde gespielt wird. (Katholiken singen auf dem Friedhof normalerweise nicht, sondern nur beim Requiem in der Pfarrkirche.) Dabei ist der sogenannte „letzte Gang“, ein Euphemismus, denn der Verstorbene geht ja nicht mehr, sondern wird als Leiche im Sarg geschoben oder getragen. Eine Art letzter Gang ist dies aber für die Menschen, die hinter dem Sarg hergehen und dabei die Einsicht vollziehen müssen, dass sie mit der Person vor ihnen nie mehr zusammen gehen werden. Im Gehen dieses Weges erschließt sich die Realität der definitiven Trennung. Das Lied erfasst im Bild des Weges das Leben allgemein im Horizont „bis zum Ende“, also bis zum eigenen Tod. Gesungen zum „letzten Gang“ macht es diesen konkreten Weg zum Sinnbild des gesamten Lebensweges und vermittelt so auf eigentümliche Weise das „memento mori“, ein zentrales Strukturelement jeder Bestattung von alters her.
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So nimm den meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich. Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt: wo du wirst gehen und stehen, da nimm mich mit. In dein Erbarmen hülle mein schwaches Herz und mach es gänzlich stille in Freud und Schmerz. Lass ruhn zu deinen Füßen dein armes Kind: es will die Augen schließen und glauben blind. (Strophen 1 und 2)
War das vorige Lied geprägt durch eine Kette suggestiver Selbstaufforderungen im Adhortativ, ist dieses Gedicht durchgehend als Bitte des Individuums an ein Gegenüber gestaltet. Das „Du“ wird aber nirgends mit Namen oder Titel benannt. Das „Ich“ gibt sich genau in der Mitte der drei Strophen als „dein armes Kind“ zu erkennen, was die Assoziation „Du“ gleich „Gott, der allmächtige Vater“ evoziert. Die theologische Unbestimmtheit ist programmatisch. Wir haben hier eine besonders profilierte, breitenwirksame Sprachform für das allgemein Religiöse vor uns, wie es das 19. Jahrhundert kultiviert hat, dessen prägender Theologe Friedrich Schleiermacher Religion bekanntlich als „schlechthinnige Abhängigkeit“ definiert hat. „Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt“ – schlechthinnige Abhängigkeit in einspuriger Regressivität kleinkindlicher Fremdsteuerung. Schleiermacher wird das mit seiner Formel wohl nicht so intendiert haben. Religiosität unter den Bedingungen der modernen Komplexität und Progressivität des Lebens wird aber bis heute überwiegend so gelebt. „Ich will die Augen schließen“, die Augen der Aisthesis und der Theoria, „und glauben blind“. Gerade als Sacrificium intellectus ist Glauben effizient, weil sedierend, alle Erregung über die Weltläufte 137
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und das persönliche Geschick stillend. „Und mach es endlich stille“, „mein schwaches Herz“, wird mit einer 1842 für ein bergendes Abendlied konzipierten Melodie des schwäbischen Volksliedmeisters Friedrich Silcher herbei gesungen. Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht: so nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich!
Die dritte Strophe übersteigt noch die beiden ersten Strophen und beschwört nicht nur das Sacrificium intellectus, sondern sogar das Opfer der emotionalen Authentizität: „Wenn ich auch gleich nichts fühle“. Die romantische Verortung des Glaubens im Gefühl mit unweigerlicher Tendenz zum Tragischen wird überboten durch suggestiv vorgetragenen Positivismus: „Du bringst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht.“ Der Anklang an die idealistische Losung „per aspera ad astera“ ist sicherlich intendiert, hier aber nicht als Motto zur Stimulierung für eigenes Handeln, sondern als Legitimation für die totale Selbstpreisgabe: „Du führst mich doch zum Ziele“ – der ich allein keinen einzigen Schritt mehr gehen kann und mag. Evident ist der qualitative Unterschied zwischen der Selbsthingabe an den gnädigen Gott im „ich alles dir befehle“ beim Morgenlied und der Selbstpreisgabe an eine vage absolute Macht hier. „So nimm den meine Hände“ wurde von einer Frau gedichtet (Julie Hausmann, 1862) und darf schon deswegen heute nur noch vorsichtig kritisiert werden im Unterschied zur Situation vor 100 Jahren, wo Hymnologen wie Julius Smend sagen konnten, dass das Lied nicht repräsentativ sein dürfe für christlichen Glauben, weil es zu wenig männlich und darum ungesund sei. In der bayerischen Gesangbuchausgabe lesen Sie als sogenannten Zwischentext ausgerechnet bei diesem Lied (EG Bayern 376) ein Wort des Genfer Reformators Calvin: „Nichts tröstet mächtiger als die Gewißheit, mitten im Elend von der Liebe Gottes umfangen zu werden.“ 138
KONRAD KLEK: LIEDERTROST
„LiederTrost“ heißt das Thema. Für Theologen ist es ziemlich einfach zu explizieren, dass im Lied „So nimm denn meine Hände“ kein wirkliches Trostpotential liegen könne, da von der Liebe und Gnade Gottes gar nicht die Rede sei. Die von Calvin benannte „Gewißheit, von der Liebe Gottes umfangen zu werden“, ist hier als erfahrungsbezogene Gewissheit dezidiert preisgegeben: „Wenn ich auch gar nichts fühle von Deiner Macht.“ Beim Absingen dieses Liedes bei Beerdigungen fließen in der Regel die Tränen reichlich, was gestrenge Hymnologen als Beleg dafür nehmen, dass es gerade nicht tröste. Warum aber wird es trotzdem jedesmal gesungen oder gespielt? Kirchliche Liturgiker haben Gegenstrategien entwickelt. In letzter Zeit sind in einigen evangelischen Landeskirchen die Bestattungsagenden neu gefasst worden. In Württemberg etwa wurde nun dekretiert, dass als Lied zum „letzten Gang“ das uralte Osterlied anzustimmen sei: „Christ ist erstanden, von der Marter alle, des lasst uns alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Kyrieleis.“ Für Tränen ist da kein Raum, sie werden quasi verboten – „des lasst uns alle froh sein“ – und vollmundig wird der wahre christliche Grund des Trostes ausgerufen: „Christ ist erstanden von der Marter alle.“ Seelsorgerliche Sensibilität zeigt sich hier nicht, eher ein postmoderner Rückschritt in vorfaustische Mentalität. Das Phänomen „So nimm den meine Hände“ kann nicht theologisch weg dekretiert werden, es verlangt ein sorgsames WahrNehmen und Deuten. Gerade das für die reflektierende Vernunft Anstößige des Liedes in Melodie wie Text, die musikalische Regressivität und inhaltlich die naive Selbstpreisgabe an eine höhere Macht, gerade dieses vermeintlich Unzeitgemäße ist sein entscheidendes Plus in der Situation, in welcher dieses Lied heute seinen Ort hat. Die Kontingenz des Todes ist nicht erklärbar und dieses Lied liefert keine Erklärung. Der an selbstbestimmtes und kontrollierbares Handeln und Erleben gewohnte moderne Mensch erfährt den Einbruch des Todes als eine dermaßen fremde Wirklichkeit, dass die Vermittlung mit den sonstigen Lebensvollzügen scheitert. Die Regression des Mannes oder der Frau zum „armen Kind“ und die Selbstpreisgabe an ein (all-)mächtiges, personales Gegenüber sind plausibel als gleichermaßen absonderliche Reaktion. Gegen die als absolut erlebte Macht des Todes hilft nur die Preisgabe an eine andere, als absolut vorgestellte, aber hilfreiche 139
KÜNSTE DES ZUFALLS
Macht, die im regressiven Bild des Vaters, der das Kind bei der Hand nimmt, emotional vermittelt wird. „Du führst mich doch zum Ziele“. In der Begegnung mit der Radikalität des Todes bleibt der moderne Mensch auch nach 1933-1945 empfänglich für die Führer-Metapher. Eine entscheidende Rolle in der Rezeption des Liedes spielt das ästhetische Setting in der Korrelation von Melodie und Wort, wobei die klangliche und rhythmische Komponente von beidem im Vordergrund stehen. Bei „Harre, meine Seele“ ist eine gewisse Monotonie nicht zu leugnen. Jenes Muster könnte auch einem faschistoiden Durchhalte-Song dienen. „So nimm denn meine Hände“ ist wesentlich subtiler, schon aufgrund des auftaktigen, Hingabe erschließenden, jambischen Versmaßes, und die Melodie hat künstlerisch Niveau, was im Einzelnen darzulegen wäre. Gerade so kann das Lied der subtilen Gefühlssituation beim „letzten Gang“ gerecht werden. Dieses Gefühl auf dem Weg hinter dem Sarg ist und bleibt abnormal. Indem das Lied allen Menschen hinter dem Sarg eine gemeinsame Sprachform für dieses Absonderliche gibt, mutiert die Abnormalität allerdings zur stimmigen Normalität in genau dieser Situation, wozu dann auch kollektive Tränenflüsse gehören. Nach der Beerdigung ist „So nimm denn meine Hände“ allerdings auch passé. Man kann fast panische Abwehrreaktionen erleben, wenn man dieses Lied einmal in anderen Lebenszusammenhängen sprechen lassen will. Die Beerdigung bleibt so eine absonderliche Episode. Das Leben geht weiter unter dem Diktat der Selbstbestimmung. Ein getröstetes Leben ist das nicht unbedingt, es sei denn, der Tag beginnt mit einem Lied, das uns jeden Morgen neu loslassen und so das Tagewerk mit Freuden angreifen lässt.
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Jörg Zirfas
Zeit und Endlichkeit, Tragik und ästhetische Erfahrung Kunst als Kontingenzbewältigungskontingenz
Differenzierungen Kontingenz ist die lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs der ƾǎDždžǘǝǍdžǎǐǎ, endechomenon, das den Bedeutungsumfang von endechomenai, annehmen, hinnehmen, zulassen hat (vgl. Brugger/Hoering 1976). Dementsprechend meint Kontingenz das Sichereignen, das Widerfahren, das Zu-Fallen, das nicht-kalkulierbare Mitbestimmtsein von Handlungs- und Situationszusammenhängen, der Möglichkeitsbereich dessen, was sich ereignen kann. Während Kontingenz in diesem Sinne auf den Bereich bezogen ist, der sich menschlicher Planung entzieht, wird die Kontingenz bei Aristoteles, der gemeinhin als einer der ersten Theoretiker der Kontingenz gilt, am Leitfaden des Handelns expliziert, und damit im Bereich des individuellen Möglichmachens situiert. Nach Aristoteles ist Handeln immer zwischen mehreren Möglichkeiten situiert, zwischen denen entschieden werden muss (Aristoteles 1984: 30ff., 1139a). „Also bestimmt das Überlegen die Dinge, die zumeist begegnen, die ungewiß sind, wie sie herauskommen, und bei denen unbestimmt ist, wie man handeln soll“ (ebd.: 1112b 7ff.). Das Mögliche ist nun dasjenige, was durch eigene Kraft auch bewerkstelligt werden kann, „was man selbst vollbringen vermag“ (ebd.: 1112b 34). Handeln bezieht sich somit auf einen Bereich, in dem es einen Spielraum der Entscheidung und der Handlungsumsetzung gibt, ein Bereich also, der nicht (nur) durch Notwendigkeiten und/oder Unmöglichkeiten festgelegt ist. Die Entscheidung selbst ist notwendig, weil es diese (Kontingenz der) Spielräume gibt, weil es Unbestimmtheiten gibt, die sich – im aristotelischen Sinne – durch Traditionen, Vorbilder und Gewohnheiten, sprich: durch das ethos einschränken, und letztlich in kosmologischen Zusammenhängen aufheben lassen. 141
KÜNSTE DES ZUFALLS
In einem weiteren, systematischen Zugang lassen sich zwei wesentliche Bedeutungen der Kontingenz ausdifferenzieren: eine logisch-ontologisch Bestimmung, die kontingent definiert als dasjenige, was weder notwendig noch unmöglich ist, was also die symmetrische Möglichkeit bietet, zu sein und nicht zu sein, und eine existentiale, die Kontingenz mit Geschöpflichkeit, Endlichkeit und Vergänglichkeit identifiziert (vgl. Ricken 2004: 34ff.). Darüber hinaus kann man auch die Beliebigkeitskontingenz von der Schicksalskontingenz trennen (vgl. v. Graeventiz/Marquard 1998): Beliebig ist das, was auch anders sein könnte, weil es durch den Menschen veränderbar ist; schicksalhaft sind jene Sachverhalte, die auch anders sein könnten, aber gerade nicht durch den Menschen veränderbar sind. 1 Genauer lassen sich hier zwei Formen der Schicksalskontingenz als unverfügbare Kontingenzen des menschlichen Lebens festhalten: Zunächst lässt sich hier von glücklicher Kontingenz als dem Umstand sprechen, dass die Ereignisse, ohne durch den Menschen grundsätzlich verursacht worden zu sein, sich letztlich so fügen, dass sie den Wünschen und Erwartungen der Menschen entsprechen. Und sodann kann man mit dem Begriff der tragischen Kontingenz den Sachverhalt aufgreifen, dass das individuelle Eingreifen in den Lauf der Dinge durch eine Verkettung von Umständen letztlich katastrophale Folgen für den Eingreifenden selbst hat. Die tragische Kontingenz resultiert zum einen aus der Ursache des Schicksals, andererseits aus dem Wie, der Performanz des schicksalhaften Verlaufs. 2 1
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Vgl. zur vierfachen Bedeutung des Schicksals: Kranz 1992: insb. Sp. 1281: fatum stoicum (Kausaldeterminismus), fatum astrologicum (bzw. mathematicum), fatum physicum (peripatetische Identität von Natur und Schicksal) und fatum theologicum (bzw. divinum, christianum). Der Zufall wiederum lässt sich als die eingetretene Kontingenz bezeichnen (Utz 2005: 56f.), der als ein Ereignis außerhalb von Regelmäßigkeiten und Gleichförmigkeiten als solches aktuell oder prinzipiell nicht erkennbar, und insofern undurchschaubar, unbestimmt und ggf. auch irrational erscheint (Hoffmann u.a. 2004). Im Zufall haben wir kein Wissen um die Ausgangsbedingungen bestimmter Ereignisse und keine Handlungsmöglichkeit, während dagegen die Wahrscheinlichkeit Wissensmöglichkeiten um die Ausgangsbedingungen bestimmter Ereignisse und Entwicklungen, aber keine Handlungsmöglichkeiten bereit hält; Freiheit schließlich meint dann Wissen um die Ausgangsbedingungen und Handlungsmöglichkeiten gleichermaßen.
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JÖRG ZIRFAS: ZEIT UND ENDLICHKEIT
Endlichkeit und Tragik Endlichkeit lässt sich in einem ersten Zugang dreifach verstehen: als Kreatürlichkeit im theologischen Kontext; als Begrenztheit in einem räumlich-sozialen Zusammenhang und als Sterblichkeit bezogen auf einen zeitlichen Zugang (vgl. Marquard 1982: 120f.). Bezieht man nun wiederum Sterblichkeit nicht unmittelbar auf den Tod selbst 3 , sondern auf Formen der Gegenwart des Todes im Leben (vgl. Theunissen 1991: 197ff.), so kann diese wiederum verschiedene Formen annehmen. So führt – erstens – das Erleben der Vergänglichkeit der Dinge auch zu einem Miterleben der eigenen menschlichen Vergänglichkeit. So lässt sich – zweitens – durch die Erkenntnis, dass das Leben ein kontinuierlicher Prozess zum Tode hin ist, das gesamte Lebens als Sterbeprozess verstehen. Drittens bedingt das Altern als Zunahme von Vergangenheit und als Abnahme von Zukunft einen stetigen Prozess der Zunahme der Vergegenwärtigung des Todes im Leben. Ein vierter Bezug der Gegenwärtigkeit des Todes im Leben ergibt sich aus dem Vollzug des Lebens als Existieren: „Als Lebewesen auf unseren Tod hin lebend, leben wir als die, die ihr Leben führen, von unserem Tod her“ (ebd.: 207f.). Versteht man – fünftes – die Formel, dass der Tod einen Schatten über das Leben wirft, nicht metaphorisch, sondern existentiell, so erscheinen Phänomene wie Angst, Einsamkeit, Krankheit, Melancholie, Nacht, Schlaf, Übergangsrituale, Verlust, ja selbst Liebe oder die Erotik als negative Vorspiele des Todes im Leben. Und wer schließlich die Kontingenz in der Vergänglichkeit bedenkt, der bedenkt zugleicht die Möglichkeiten der Distanz, der Verschiedenheit, der Abschiedlichkeit und des Abstandes. Ist Sterben ein Distanzierungsprozess, ein Prozess des Abschiednehmens und des Abstandgewinnens zu sich, zur Welt und zu anderen, so erscheint das Leben als Prozess zwischen Geburt und Tod nicht nur als permanente Ankunft und Zuwendung, sondern zugleich als permanente Abwendung und Abschied. In diesem Sinn ist menschliches Leben insgesamt kontingent, wenn darunter die 3
Vgl. Fuchs 1973: 95: „Transzendenz und jenseitige Macht entfallen [im Todesverständnis der Moderne, JZ], im versachlichten Prinzip des Zufalls erhält sich ähnlich wie in der nichtvorhersehbar wirkenden natürlichen Gesetzlichkeit ein Rest an blind wirkender fremder Macht“. Vgl. auch ebd.: 121, 212.
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KÜNSTE DES ZUFALLS
Tatsache verstanden wird, dass es sich in der Zeit verändert, d.h. dass es immer anders sein könnte, als es ist. 4 Das zunehmende Kontingenzbewusstsein ist – mit all seinen Ambivalenzen von Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und Risiko, aber auch von Freiheit, Spiel und Ermöglichung – ein Produkt der modernen Welt. 5 Im Zentrum des modernen Bewusstseins steht daher zunehmend die Kontingenz. Das grundlos fixierte Ausgeliefertsein und die unvollständige Bestimmbarkeit eröffnen einen Raum des Potentiellen, der die Endlichkeit und Vergänglichkeit menschlichen Lebens radikal ins Zentrum rückt. Mit dem Verlust eines metaphysischen Todesbegriffes wird der Tod im Leben selbst präsent: Die Tragik des modernen Menschen lässt sich nun dahingehend verstehen, dass zwar alles möglich, damit aber auch alles endlich und vergänglich ist. Die moderne Kontingenz stellt das menschliche Leben unter permanenten Endlichkeitsverdacht. Und bislang jedenfalls haben diese modernen Endlichkeitserfahrungen noch jede kulturelle und technische Einflussnahme durch den Menschen „überlebt“. Der Tod wird zum „Grundmuster des Schicksals“ (Fuchs 1973). Die Tragik des modernen Menschen, so soll hier abkürzend gesetzt werden, besteht in der Erfahrung des Zeitseins, in der mit der permanenten Veränderung verbundenen zeitlichen Struktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Zirfas 2002). Modern ist diese Tragik deshalb, weil in ihr zum Ausdruck kommt, dass sich der Mensch konsequent als fragmentarisches Zeitwesen erlebt. 6 Er ist nicht nur ein Zeitmangelwesen (Marquard), sondern vor allem ein Zeitekstasenwesen, das in eine widersprüchliche, kontingente Logik eingesperrt ist. Er ist vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Wesen zugleich, ist dasjenige, was war und 4
5 6
Die Veränderlichkeit des Lebens stellte schon Platon unter Kontingenzverdacht, so dass das Nichtkontingente und Ewige niemals mit dem Wechsel einhergehen konnten: „Oder verhält sich nicht jedes dergleichen als ein einartiges Sein an und für sich immer auf die gleiche Weise und nimmt niemals auf keine Weise irgendeine Veränderung an?“ (Platon 2005: 78d). Zur Kontingenzproblematik in der Moderne vgl.: Scheibe 1985, Gamm 1995, Makropoulos 1998, Zirfas 2007. Vgl. Richard Rorty (1992: 86), für den sich „der Sinn des Lebens endlicher, sterblicher, zufällig existierender menschlicher Wesen“ sich nur von „endlichen, sterblichen, zufällig existierenden Menschen“ ableitet.
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gewesen sein könnte, dasjenige, was ist und was kann und zugleich dasjenige, was wird und können werden wird. Die fundamentale Krise, die die Existenzphilosophie der Zeit durchdenkt, besteht vor allem in der Erfahrung einer chronischen Kontingenz, d.h. in der Erfahrung einer zeitlichen Verunsicherung, die aus dem Sachverhalt resultiert, nicht zu wissen und nicht wissen zu können, wer man in der Vergangenheit war, als man in der Vergangenheit lebte, nicht zu wissen und nicht wissen zu können, wer man in der Zukunft sein wird, wenn man in ihr leben wird und auch nicht zu wissen und nicht wissen zu können, wer man in der Gegenwart ist, weil die Gegenwart als Form der Bewegung oder auch als diskrete Jetzt-Punkte eine nichtkontingente Erfassung des Lebens nicht möglich macht. Kurz: Der Mensch der Moderne ist der Zufall in einer Person. Das ganze Leben lässt sich nicht erleben, es zerfällt in zeitliche Ekstasen, die in sich kontingent sind und die sich gegeneinander widersprüchlich verhalten. 7 Tragisch sind diese modernen Erfahrungen menschlicher Vergänglichkeit deshalb, weil diese Erfahrungen mit Angst, Vergeblichkeit, Melancholie, Trauer einhergehen, denn die Erfahrung eines permanenten Zeitstroms führt die Tragik mit sich, sich selbst nur noch als Medium der Zeit zu erleben, als ein kontingentes Etwas, das sich einer eigenen Selbstgewissheit wenn überhaupt nur mit Mühe vergewissern kann. Die Tragik negiert die Möglichkeit einer gelingenden Praxis bzw. einer erweiterten Kompetenz, weil es keine Methode, keine Theorie, gibt, dem Schicksal dieser radikalen Endlichkeitserfahrung aus dem Weg zu gehen. Die tragische Erfahrung, so lassen sich die Überlegungen von Christoph Menke zusammenfassen, besteht darin, dass man nichts aus ihr lernen kann. Schicksalhaftes Leiden ist lernresistent, es ersetzt die durch Leiden klug gewordene Praxis durch das „Wissen vom Nutzlosen des Wissens – und das Wissen von der Nutzlosigkeit des Wissens vom Nutzlosen des Wissens“ (Menke 2005: 93ff, 110f.). Die tragische Erfahrung bedeutet sozusagen die Implosion der Praxis, es gibt keine Möglichkeit, keine Fehler zu machen – und vielleicht schlimmer noch, man kann auch keine begehen. Bezogen auf den Tod geht diese These auf, denn dem schicksalhaf7
Selbst das Todeserleben bietet nicht das Ganze des Lebens, weil in ihm die Zukunft – und in bestimmter Hinsicht – auch die Gegenwart ausfällt.
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ten Erfahren des Todes lässt sich nicht entkommen und es lässt sich aus ihm (noch) nicht lernen, wie man ihm aus dem Weg gehen kann. 8 Bezogen auf die Vergänglichkeit des Lebens allerdings lassen sich Möglichkeiten benennen, dem radikalisierten tragischen Zeitlichsein zu entkommen. Können ästhetische Erfahrungen, so soll vor diesem Hintergrund gefragt werden, einerseits der Kontingenzbewältigung der Endlichkeit als Vergänglichkeit dienen? Oder fördern ästhetische Erfahrungen nur die Kontingenzbewältigungskontingenz? Diskutiert werden sollen diese Fragen auf der Folie von ästhetischen und kunstphilosophischen Reflexionen, die die Kunstbetrachtung und das Spiel in den Fokus rücken.
Ästhetische Kontrapunkte Bei Wilhelm Perpeet (1970: 199) heißt es: „Wenn überhaupt, dann ist dieser ,zeitlose‘ Grundzug der Kunst in dem zu suchen, was wir einen ,Lebensaugenblick‘ nennen wollen. Damit meinen wir den Augenblick erlebter und sich selbst belebender Selbstständigkeit, in der uns die Gewißheit durchzuckt, dass alles Zufällige von uns abgefallen ist.“
In der ästhetischen Erfahrung geht es im Bezug auf Selbstpräsenz um das Aufheben von Kontingenz. Martin Seel (2002: 39) schreibt: „Im Vollzug der ästhetischen Erfahrung stellen wir dieses Wissen [gemeint ist das Wissen darüber, wer wir über längere Dauer sind und sein wollen, JZ] zurück, um für eine Weile außerhalb der Kontinuität unseres Lebens zu stehen. Das ästhetische Interesse [...] beruht auf dem Verlangen, der Gegenwart des eigenen Daseins wahrnehmend inne zu sein. Für erkennende Wesen aber bedeutet die bewusst erlebte Gegenwart
8
Für die Anhänger von Wiedergeburtskonzeptionen mag es Lerneffekte aus dem Tod bzw. aus dem zum Tode führenden Lebens- und Sterbeprozesse sowie aus dem mit dem Tod erreichten Jenseits geben, doch negieren diese Modelle nicht die These, dass dem biologischen Tod kein Mensch entgehen kann und dass wir daher auch nicht lernen können, diesem Tod zu entkommen.
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ein Auflodern der Unbestimmtheit in allem, was theoretisch und praktisch bestimmt werden kann.“
In der ästhetischen Erfahrung geht es im Bezug auf Selbstpräsenz um das Bewusstwerden von Kontingenz. Exkurs: Zur Dialektik des Kontingenten in der modernen Kunst In der Moderne sind Kunstwerke Modelle der Ausdrucks- und Erfahrungsfähigkeiten des Menschen, die mit ihrer modellhaften Intensität eine besondere Relevanz für das Subjekt besitzen. In ästhetischen Erfahrungen liegt zunächst „nichts Erbauliches, keine Botschaft, nichts, was wir lernen könnten […]. Denn was wir empfinden, ist vermutlich nicht mehr als ein besonderes hohes Aktivitätsniveau einiger unserer angeborenen kognitiven, emotionalen und vielleicht sogar pysiologischen Vermögen“ (Gumbrecht 2003: 204f.). Kunstwerke bringen somit „Augenblicke der „Intensität“ (ebd.) hervor, verdichten Wahrnehmungen und erzeugen somit Erfahrungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit und Kontingenz, aber auch die Gewissheit, dass im Kosmos des nur Möglichen eine Strukturierung vorhanden ist (Luhmann 1997: 238). Aus Sicht der Systemtheorie bietet die Kunst Alternativversionen von Welt, sog. „Weltkontingenz“ (Luhmann 1986: 625). Kunst somit ist eine Form der Ordnung von Möglichkeiten, sie ist geformte Kontingenz. Insofern erscheint es sinnvoll in der ästhetischen Erfahrung von Kunst von einer „beherrschten (oder eingeschränkten) ästhetischen Kontingenz“ zu sprechen, von einer durch das Kunstwerk eingegrenzten Quantität und Qualität von Informationen und Interpretationsmöglichkeiten, durch Formen, Strukturen und Ordnungen, die der Freiheit und Beliebigkeit des Rezipienten Einhalt gebieten. Ästhetische Erfahrungen lassen nicht nur die Bedingungen der Möglichkeit von Etwas ahnen, sie vermitteln auch die Bedingungen der Unmöglichkeiten von Etwas; Kunst generiert den Möglichkeitssinn ebenso wie den Unmöglichkeits- oder Notwendigkeitssinn. Denn es werden nicht nur die Interpretationen als Erkenntnisund Verstehensprozesse durch die formative Konstruktion des Kunstwerks begrenzt, sondern auch schon dessen Wahrnehmungsprozesse. Natürlich finden sich auch auf der Wahrneh-
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mungsebene aleatorische und kontingente Situationen und Prozesse, die die Kunstwahrnehmungen und -erfahrungen für möglichst viele Anschlussmöglichkeiten in Richtung neuer formaler Umrisse und neuer formaler Möglichkeiten offen halten (Eco 2002: 138f.). Und in der Wahrnehmung der Wahrnehmung finden sich Momente des Auch-anders-Wahrnehmen-Könnens, oder – mit Luhmann (1999: 147) – die Transformation von Latenz in Kontingenz, aber es finden sich ebenso strukturierte, kompensatorische, komplementäre und integrative Mechanismen, die die Möglichkeiten des Kontingenten auf eine durch die vorgegebenen formalen Strukturen des Kunstwerks – wenn auch vielleicht in zunehmend geringerem Umfang – eingrenzen. Folgt man in diesem Sinne den Überlegungen von Umberto Eco, so erscheint gerade die moderne Kunst als Dialektik der Bewältigung und Eröffnung von Kontingenz gleichermaßen. Einerseits ließe sich sagen, die moderne Kunst beharrt auf ihrem kontingenten Charakter, richtet sich doch ihre Argumentation vor allem darauf, dass alle Interpretationsmöglichkeiten offen bleiben, dass das unausschöpfliche Reservoir an informativen Relationen erhalten bleibt (Eco 2002). Die Kontingenz der modernen Kunstwerke liegt somit in ihrer potentiell unendlichen Deutbarkeit, die geradezu vermeiden möchte, dass sie nur eine Interpretation nahe legt. Die Kunst bietet den Interpreten ein Kunst zu vollendendes Werk an, dessen Vollendungsstruktur von der Maßfindung des Interpreten abhängig ist. Kunst ist nicht mehr – wie in Antike und Mittelalter – der maßvolle Umgang mit dem Notwendigen, sondern der individuell maßlose Umgang mit der Kontingenz. Andererseits begrenzt die Kunst die Kontingenz durch ihre Formgebung schon in der Wahrnehmung, die selbst wiederum nicht unvermittelt und passiv, sondern durchaus organisierend und wertend verläuft, gemäß der kulturell-ästhetischen Geschmackskriterien, die man im Laufe seiner Biographie erlernt hat und gemäß der artistischen Geschmackskriterien, auf die jene biographischen Kriterien treffen. Und wohl jeder kennt die Schwierigkeit, dass gerade unsere Wahrnehmungsweisen uns oftmals mit ihrer stummen und unerbittlichen Beharrlichkeit listenreich darüber täuschen, etwas Altes neu gesehen zu haben, und jeder wohl auch die schmerzvollen Anstrengungen, derer es bedarf, um die Loyalität der Sinne und Aufmerksamkeiten zugunsten von Möglichkeitsbereichen aufzu148
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kündigen. In einem existentiellen Sinn macht die Traditionalität der Wahrnehmung auch Sinn, gehört doch die Bewahrung von Wahrnehmungsstrukturen und das Beharren auf Geschmackskriterien zur durchaus vernünftigen Ausstattung unserer Gattung. Zu unterscheiden wäre hier abermals zwischen einer radikalen kontingenten Ausgangssituation, in der alles bislang ästhetisch Gültige in Frage steht, einer beherrschten Kontingenz, in der spezifische Aspekte des Wahrnehmens, des Selbst- und Weltverständnisses, eine Neukalibrierung erfahren und dem Sachverhalt der vollständigen Absorbierung von Kontingenz als völliger Fixierung ritualistisch-habitueller Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrukturen. Nun kann man die Frage stellen, ob nicht die moderne Kunst grosso modo ein pädagogisches Programm der Erziehung durch die Kontingenz durchführt, das im Grunde das alte Postulat Schillers aufgreift, das politische Problem sei nur über den Umweg der Ästhetik zu lösen. Erzieht uns die Kunst also zum Umgang mit der Kontingenz, und nötigt sie uns somit, im ständigen Zerbrechen von Strukturen, Ordnungen, Referenzen, Frames und Schemata, Selbstfindungs- und Autonomieprozesse einzuüben? Führt uns die Kunst (ggf. auch die Kultur insgesamt) damit zu einer konjunktiven Auffassung des Daseins, zu Erfahrungen, Selbst und Welt im Licht des Kontingenten wahrzunehmen, zu fühlen und zu begreifen, und damit zu einer Form des ästhetischen Genießens – und des ästhetischen Abscheus? Moderne Kunst führt uns buchstäblich die kontingente Notwendigkeit bzw. die notwendige Kontingenz von Erfahrung vor die Sinne. Mit der modernen Emanzipation des Kontingenten in der Kunst und Kultur geht dann nicht nur einher, dass nichts mehr notwendig ist, sondern vielleicht noch tragischer, dass bald nichts mehr unmöglich ist. Wie dem auch sei: Die Akzeptanz des Aleatorischen und das Beharren auf Kontingenz fordern eine stetige Selbstvergewisserung, Selbstverortung und Selbstfindung – ein Prozess, der lustvoll genossen, aber auch schmerzhaft durchlitten werden kann. Denn: „Kein Kunstwerk verdient seinen Namen, welches das seinem eigenen Gesetz gegenüber Zufällige von sich weghielte“ (Adorno 1985: 329).
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Kunst als Kontingenzbewältigung Der Tragik, dass sich der Mensch seines zeitlichen Seins nicht im vollem Umfang versichern kann, versucht er traditionell durch die Beziehung zu einem zeitlich übergeordneten Horizont zu begegnen: In der Antike und im Mittelalter wird die fragmentarische Existenz in der Ewigkeit als dem Anderen der Zeit aufgehoben, in der Moderne findet diese Aufhebung in der Gegenwart statt. Diese Aufhebung hat einen guten, nämlich anthropologischen Grund. Denn das dreidimensionale Zeitmodell von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist gleichsam zentriert in der Gegenwart und aufgespannt in die Richtungen des Vergangenen und Zukünftigen. Bei Augustinus findet sich diese Zentrierung am prägnantesten, wenn er von praesentia de praeteritis, praesentia de futuris und praesentia de praesentibus, oder von memoria, expectatio und contuitus (Augustinus 1988: Buch XI) spricht. Doch in allen Zukunfts- wie Vergangenheitsbestimmungen wird deutlich, dass die Gegenwart im Vergleich zu den anderen Zeiten einen Vorrang genießt. „Denn nur als zukünftige Gegenwart entfaltet die Zukunft sich in eine zukünftige Vergangenheit und eine zukünftige Zukunft; nur als vergangene Gegenwart umschließt die Vergangenheit eine vergangene Zukunft und eine vergangene Vergangenheit“ (Theunissen 1991: 152). Gegenwart als Möglichkeit des Anderen der Zeit bezieht sich auf Präsenz als der Zeit der Verweilens, die durch eine Koinzidenz von Innen und Außen zustande kommt. Die Erfahrung dieser Präsenz wird hier als eine ästhetische verstanden. Die vor dem Kunstwerk herzustellende Präsenz ist eine Aufgabe für das Bewusstsein, eine von ihm zu vollbringende Leistung (Gadamer 1990: 132). Perpeet spricht nicht umsonst – wie so viele andere vor und nach ihm – davon, dass Kunst bzw. die Erfahrung von Kunst einen Augenblick der Ganzheitserfahrung gewährt, in der die Kontingenzen und Fragmente des Endlichen „zufallsloser“ werden (Perpeet 1970: 199). Die Erfahrung des Endlichen, Fragmentarischen – so das Versprechen der Kunst – kann im integralen Augenblick des produktiven wie rezeptiven Umgangs mit ihr in Ewigkeit und Ganzzeit verwandelt werden. Daher die Beschreibungen, in denen von der Gleichzeitigkeit von Ichsein und Außersichsein, von Innen und
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Außen, Aktivität und Passivität, von Kontemplation und Affektion die Rede ist. Nach Perpeet macht der Mensch die ästhetische Erfahrung in einem Augenblick, „in dem er sich ,heil‘, ,ganz‘, ,unwiederholbar‘, ,einig‘, ,zusammengefaßt‘, ,gesammelt‘, ,bei sich‘, ,inständig‘, ,sich-deutlich-werdend und verstehend‘, ,selbstständig‘, ,selbstgewiß‘ fühlt“ (Perpeet 1970: 205). Die Kunsterfahrung bietet im still stehenden/still stellenden/still gestellten Augenblick die Möglichkeit der Erfahrung eines Daseins, das die Form einer integralen temporalen Vollständigkeit bietet. Dieses Losreißen von der Bewegung der Zeit kann man als eine Erfahrung des Sich-Zurücknehmens-aus-der-Zukunft und ein Sich-von-der-Vergangenheit-Befreien interpretieren. Die ästhetische Erfahrung als Selbstvergegenwärtigung lässt sich als ein Aufgehen in der Gegenwart, als ästhetisches Genießen des Augenblicks und der Selbstpräsenz verstehen. Im ästhetischen Verweilen bricht die Ewigkeit in die Gegenwärtigkeit ein. Darin liegt das utopische Moment von Kunst. Dieses Verweilen ist eine Befreiung von der Zeit, keine durch sie. In der vollkommenen ästhetischen Gegenwart, der integralen Präsenz, ist dann jegliche Zeit erloschen, jede irreversible und reversible Vorstellung von Zeit dem Gedanken der Ruhe und Sicherheit gewichen. Die ästhetische Erfahrung gewährt somit eine Simultanität der Zeiten. Kunst hat hier die Funktion eines Heils- und Heilungsversprechens, das die Möglichkeit einer nicht kontingenten Selbstvergewisserung bietet. Kurz: Der Umgang mit Kunst ist Kontingenzbewältigungspraxis.
Kunst als Kontingenzbewältigungskontingenz Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn die ästhetische Erfahrung der Kunst die Endlichkeit des Menschen auf nicht kontingente Weise zu kompensieren in der Lage wäre. Zu erinnern ist zunächst daran, dass die Bedingungen der Möglichkeit der ästhetischen Erfahrungen von Präsenz selbst kontingent sind. Zwar „liebt die Kunst den Zufall und der Zufall die Kunst“ (Aristoteles 1984: 1140a 20), doch sind ästhetische Augenblicke im ausgezeichneten Sinne der Präsenz nicht herstellbar, sie sind kontingent, wenn auch die modernen Künstler – siehe: Surrealismus, Informel, arte povera, Happening, Fluxus, Performance etc. – immer wieder auf der Paradoxie einer Produktion des Zufalls bestanden haben (Gendolla/Kamphusmann 1999). Selbst durch die artisti-
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schen Möglichkeiten von Experiment, Collage, Improvisation, écriture automatique, durch Randomisierung von Auswahlbereichen, Framewechsel, zufällige Auswahlverfahren, durch aleatorische Organisationsmuster im künstlerischen Feld usw., lassen sich Momente der Präsenz nicht kalkulieren, noch prognostizieren. Die durch Kunst vermittelte Selbstgewissheit und Vollständigkeit des Daseins bleibt eine Gabe, die sich selbst gibt. 9 Doch neben dieser – wie man sie nennen könnte – ästhetischtranszendentalen Kontingenz, ist der ästhetischen Erfahrung auch eine immanente Kontingenz zu eigen. Denn Kunst ist nicht nur das Medium der Kontingenzbewältigung, sondern auch dasjenige der Kontingenzeröffnung. Denn als ästhetisch lassen sich Erfahrungen bezeichnen, die uns die mit den Erfahrungen verbundenen weiteren Möglichkeiten von Erfahrungen erfahrbar werden lassen. Ästhetische Erfahrungen sind „Als-Erfahrungen“: Erfahrungen, die etwas als etwas anderes wahrnehmen lassen. Schon der Sachverhalt, dass im Wahrnehmen der Wahrnehmung von Kunst gegenüber der Wahrnehmung von Nicht-Kunst eine Differenz eingezogen wird, bedeutet Kontingenz. Denn darin, dass man es auch anders wahrnehmen und erfahren kann, mithin in der „Einsicht“ im „Bewusstwerden“ einer Kontingenz liegt die ästhetische Erfahrung. Indem Kunstwerke das Leben in die Betrachtung hineinziehen, „heben sie es aus den Verwicklungen in der diffusen Alltagswelt heraus und erschließen ihm eine Bewegtheit, von der es verstehen kann, dass in ihr Wesentliches der Bewegtheit klar hervortritt, die ihm selbst eigen ist und die sich im Untergrund aller dieser Verwicklungen immer auch wirklich vollzieht. [...] Eine Vergegenwärtigung des Lebensganges, die nicht nur über ihn oder zu ihm spricht, sondern die es in der Betrachtung zugleich seiner selbst innewerden lässt, ist überhaupt nur als Kunst möglich“ (Henrich 2001, S. 170f.).
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Gumbrecht erinnert in diesem Zusammenhang an drei kontingente Momente des ästhetischen Erlebens, wenn er die Unvorhersehbarkeit eines ästhetischen Ereignisses mit Bezug auf das zeitliche Eintreten, mit Bezug auf die Form und die Intensität sowie die Vergänglichkeit im Augenblicke seines Eintretens hervorhebt (Gumbrecht 2003: 217).
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Zwar haben Kunstwerke eine besondere Möglichkeit der Selbstvergegenwärtigung des Lebens, doch muss diese keine integrale, sondern kann durchaus eine bewegende, dezentrale, kontingenzeröffnende, Form annehmen. Diese Perspektive verdeutlicht, dass die Ganzheitserfahrung durch Kunst eine mögliche, kontingente Form der ästhetischen Erfahrung darstellt. In der ästhetischen Erfahrung stellt das Subjekt die Zeit des Lebens und die Eigenzeit still, um die Gegenwart des eigenen Daseins zu erleben. 10 Im Verweilen in der Gegenwärtigkeit des Gegenstandes eröffnet sich über die Gegenwärtigkeit des Vollzugs dieses Verweilens die selbstzweckhafte Gegenwärtigkeit des eigenen Daseins; und diese kann nicht nur den Einbruch der vollständigen Bestimmtheit, sondern ebenso den der Unbestimmtheit der theoretischen und praktischen Bestimmungsmöglichkeiten des Lebens implizieren. „Die unerkannten wie unergriffenen Möglichkeiten, die dabei hervorscheinen, in ihrer Intransparenz zu vergegenwärtigen, ist eine besondere Leistung der ästhetischen Anschauung“ (Seel 2000: 39). 11 Die ästhetische Erfahrung vergegenwärtigt somit ein Paradox, nämlich die zeitlichen Kontingenzen des vielfach bestimmten Lebens. Die Reduktion des Nach-vorne-Lebens und des Von-vorneLebens in der ästhetischen Erfahrung negiert zwar einerseits die theoretischen und praktischen Wirklichkeiten des gelebten und erlebten Lebens, bewirkt aber andererseits einen Sinn für die theoretischen und praktischen Möglichkeiten der Wirklichkeiten des gegenwärtigen Lebens. 12 Im Zusammenhang vom Aufgehen in der Sache und Nichtmitgehen mit der Zeit scheint eine flüchtige Affirmation der humanen Präsenz auf, die uns die Unverfügbarkeit und Unbestimmbarkeit der menschlichen Gegenwärtigkeit erfahrbar macht (ebd.: 9). 10 Im Folgenden geht es nicht um die Zeiten der Kunst – als Zeiten des Ausdrucks oder Zeiten des Inhalts –, sondern um die spezifische Zeit der ästhetischen Erfahrung (vgl. Eco 1987). 11 Zum Begriff der Gegenwart als Kontinuum von Dingen und Ereignissen bei Martin Seel (2000: 61f.): „Gegenwart ist ein offener – und darin unübersehbarer – Horizont der spürenden, handelnden und erkennenden Begegnung mit Vorhandenem.“ 12 Vgl. Aristoteles 1984: 268, 1168a: „Durch seine Tätigkeit ist also der Schöpfer gewissermaßen sein Werk. Er liebt also sein Werk, weil er auch das Sein liebt. Dies ist naturgegeben: denn was er als Möglichkeit ist, zeigt das Werk in Wirklichkeit.“
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Diese Form der Selbstvergegenwärtigung ist keine integrale, sondern eine durchgängig kontingente, die gleichsam die Fülle der Vergänglichkeit ausschöpft. Sie erinnert an die aionische Lebenszeit, wie sie Hans-Georg Gadamer (1993: 291) charakterisiert wird – und sie unterscheidet sich zugleich von ihr: „Der Aion ist umfassend, ohne Teile zu umfassen. In ihm ist alles zugleich. Er ist volle Gegenwärtigkeit, in der keine Zukunft aussteht oder der keine Vergangenheit abgeht. Sein Sein ist nicht leblose Präsenz, sondern eine unendliche Möglichkeit oder Potenz (ƽǑdžNJǒǐǓ DžǞǎǂǍNJǓ), in gewisser Weise also doch vieles, wie das Samenkorn oder wie der Punkt es auf ihre Weise auch sind.“
Mit der ästhetischen Präsenz ist hier nicht das Jetzt einer linearen Zeit oder die Plötzlichkeit, das Erschrecken und der metabolische Bruch gemeint (vgl. Bohrer 1981). Diese Präsenz besteht auch nicht wie in der integralen Präsenz aus einer Reduktion von Vergangenheit und Zukunft auf die Gegenwart, sondern Präsenz meint hier die Zeit der Fülle und Fülle der Zeit, meint das sich der Zeit mimetisch Angleichen, das einem die unverfügbaren menschlichen Möglichkeitsbereiche erahnen lässt. Insofern ist es nicht eigentlich die aionische Zeit, die in der ästhetischen Erfahrung aufscheint, sondern die kairologische. Während jene als generativzyklische Lebenszeit und –kraft verstanden werden kann, lässt der Kairos diese unendliche Lebenszeit zur gelebten, endlichen Zeit werden. Im Kairos wird die erfüllte Endlichkeit wirklich. Ist die Kontingenz ästhetischer Erfahrung nicht in einem Zwischen situiert, das sich sowohl auf die Unverfügbarkeit des SichEreignens als auch auf die der menschlichen Möglichkeiten bezieht? Ist nicht das, was sich ästhetisch ereignen kann, in einem Wechselspiel zwischen möglichen ästhetischen Erscheinungsformen einerseits und der humanen Kontingenz ästhetischer produktions-, rezeptions- und werkästhetischer Aspekte andererseits zu sehen? Wenn es sich so verhielte, wäre die ästhetische Kontingenz eine Metakontingenz, die sowohl das Sich-Ereignen als auch die Wahl dieses Sich-Ereignens noch umgreifen würde. Hilft die Kunst uns das Rätsel der Kontingenz zu lösen um den Preis der Zunahme von Kontingenz? Ist Kunst Kontingenzbewältigungskontingenz?
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Die Ewigkeit des ästhetischen Spiels Kunstwerke lassen sich im Sinne Perpeets als Ausdrucksformen der Integration und Konstruktion einer vollendeten Struktur begreifen, die mit der Möglichkeit einer kontemplativen Selbstvergegenwärtigung einhergehen. Und sie lassen sich ebenso als Integrationsbedürfnisse verstehen, die Möglichkeiten prinzipiell unendlicher Anschlussmöglichkeiten bereithalten, wie bei Seel. Potentiell sind ästhetische Erfahrungen somit in der Lage, dem (tragischen) Leiden an der Vergänglichkeit etwas Kompensatorisches, nämlich das Andere der Zeit, entgegenzusetzen. Traditionell ist dieses Andere der Zeit als das bestimmt worden, was nicht vergeht, d.h. als Ewigkeit. Nun lässt sich Ewigkeit einerseits verstehen als Ewigkeit, die jenseits der Zeit nichts als deren Anderes, nämlich Zeitlosigkeit, bedeutet. Diese Ewigkeit reißt sich von der Zeit als Vergänglichkeit los, und gewährt insofern eine Befreiung von der Vergänglichkeit, insofern sie die Zeiten auf die Gegenwart hin verdichtet. Dieser verweilenden Ewigkeit lässt sich eine Ewigkeit entgegenstellen, die als das Andere der Zeit zugleich Zeit ist, nämlich die aionische Ewigkeit, die die Ewigkeit in der Zeit meint. Die Ewigkeit in der Zeit meint die Ewigkeit des Vollzugs von Zeit in der Erinnerung der Vergangenheit, dem Verweilen in der Gegenwart und der Antizipation der Zukunft einer Zeit, in der diese selbst zu einer anderen geworden wäre, in der Zeit als Ewigkeit, Ewigkeit als Zeit aufscheint. Dieser Zeit der Ewigkeit wäre die Zeit zugleich Ewigkeit, insofern diese nicht nur punktuell in der Zeit auftaucht, sondern gleichsam zur ganzen Zeit wird. 13 Wenn es nun einen ästhetischen Phänomenbereich gibt, in dem diese aionische Zeit auftaucht, so ist es neben der ästhetischen Kunsterfahrung und der kontemplativen Muße das Spiel. Und es ist wohl kein Zufall, dass ein Theologe und Pädagoge in Personalunion als einer der ersten den Zusammenhang von Spiel und Zeitlichkeit systematisch entfaltet hat, nämlich Friedrich Da-
13 Man kann noch eine dritte Form der Ewigkeit festhalten, in der die Zeitlosigkeit in ihr Gegenteil, nämlich die Allzeitlichkeit umschlägt und der Gedanke der zeitlosen Ewigkeit zur Ewigkeit der Zeit, zum bloßen Reflex von Entstehen und Vergehen, verkommt – wie paradigmatisch bei Platon.
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KÜNSTE DES ZUFALLS
niel Ernst Schleiermacher. 14 Kennzeichen eines gelungenen Spiels ist für Schleiermacher das Bewusstsein der Entwicklung, das dem Menschen zugleich eine Befriedigung der Gegenwart und der Zukunft – und man darf hinzufügen, auch der Vergangenheit – gewährt (Schleiermacher 1983: 86). Insofern kann Schleiermacher die Gegenwart mit der Vergangenheit, aber vor allem mit der Zukunft verbinden, denn diese gehört als unabdingbare Voraussetzung zur Bildung. Dabei erscheint Bildung bei Schleiermacher immer als unabhängig von einer chronologischen Zeit und situiert in einer Sphäre freier wechselseitiger Einwirkungen (vgl. Zirfas 2004). Anders formuliert: Erziehung und Bildung sind auch, vielleicht sogar wesentlich, Prozesse der wechselseitigen Entwicklung und Verschränkung von Temporalitäten, d. h. Verschränkungen des Temporalbewusstseins des Erziehers mit dem des Kindes, um die angestrebte Mitgesamttätigkeit an der Gesellschaft auch über temporale Horizonte zu erzielen. Leitend für diese Bildungstheorie ist nach Schleiermacher die pädagogische Theorie einer Förderung jedes Lebensmoments, denn die Gegenwart – als einzelner Moment, aber auch als eine zeitliche Reihe betrachtet – darf nicht der Zukunft oder der Vergangenheit geopfert werden. Die Verbindung der Zeiten gelingt Schleiermacher dann auf verblüffend einfache Weise: „Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muß auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist“ (Schleiermacher 1983: 84).
14 Ein weiterer wichtiger Theoretiker in diesem Zusammenhang ist Hans Scheuerl, der in seiner rekonstruktiven Strukturanalyse des Spiels die hier als verweilende Präsenz bestimmte Kunsterfahrung unter dem Begriff „Gegenwärtigkeit“ fasst (Scheuerl 1954: insb. 69ff.). Mit diesem Titel ist nach Scheuerl die Kehrseite von Zweckfreiheit, Unendlichkeit und Scheinhaftigkeit gemeint, nämlich die Zeitenthobenheit, die stehende Bewegtheit des Spiels. Wenn Scheuerl von „Unendlichkeit“ spricht, so verweist er darauf, dass das Spielen einen Ewigkeitscharakter hat, auf ständige Wiederholung und auf möglichste Ausdehnung in der Zeit angelegt ist: Man kann sich nicht satt spielen. Diese Erfahrung ist hier mit der aionischen Präsenz angesprochen.
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Diese Lebenstätigkeit ist für Schleiermacher das Spiel, dessen ästhetische Erfahrungen die Momente des Zeitlichen und Werdenden, der Veränderung und des Übergangs, den fragilen Charakter von Entwicklungsprozessen, das Angewiesensein des Vorscheins auf die Vergangenheit und das Selbstbewusstsein, das sich auf die eigenen Dispositionen und Disponibilitäten bezieht, impliziert. Spielen bedeutet nach Schleiermacher, seinen Tätigkeiten freien Lauf zu lassen und eröffnet somit nicht nur die Möglichkeiten der Selbsterfahrung und des Selbstbewusstseins, sondern auch die Möglichkeit der Erfahrung des Andersseins und der Entgrenzung. 15 Ekstatische Selbstvergessenheit und selbstbezügliche Kontinuität: der „Gegenwart des eigenen Daseins wahrnehmend inne zu sein“ bei Seel, die Erfahrung der „erlebten und sich selbst belebenden Selbstständigkeit“ bei Perpeet, korrespondieren miteinander. Als inszenierte mimetische Welten werden Spiele vom Prinzip einer Nachträglichkeit bestimmt, die in die Zukunft weist. Die spielerische Mimesis vollzieht Zeit und vollzieht sich in der Zeit; in diesem Vollziehen gehen Zeit und Ewigkeit eine Symbiose ein. Im Spielen kommt somit eine aionische, schöpferische Zeit zum Ausdruck, die die Vergangenheit mit der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft verknüpft, weil sich in ihm der Zusammenhang von Erinnerung, Vergegenwärtigung und Vorahmung entfalten lässt; in ihm liegen die Freiheit und die Möglichkeit des Bildens von Übergängen. 16 Im Spielen eröffnet sich die Fülle der Möglichkeitsbereiche dessen, was sich ereignen kann und ereignen lässt, in ihm gelingt es, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden
15 Vgl. Perpeet 1970: 254: „Zeitliches kann nur erfahren werden. Erfahren ist als Vorgang ein Innewerden von Anderswerdendem im eigenen Anderswerden. ,Ergriffen werden‘, ,mitgerissen werden‘, ,beglückt werden‘, ,angesprochen werden‘, ,erschreckt werden‘ sind sinnfällige Ausdrücke für das eigene Mithineingenommenwerden von dem, was an Zeitlich-Seiendem erfahren wird. [...] Wo Zeitliches erfahren wird, werden wir mit dem so Erfahrenen anders.“ 16 „Der wesentliche Aspekt des Spielens liegt darin, daß es stets mit einem gewissen Wagnis verbunden ist, das sich aus dem Zusammenwirken von innerer Realität und dem Erleben der Kontrolle über reale Objekte ergibt. [...] Dennoch bewerten wir Spiel und Kulturerfahrung ganz besonders hoch, denn sie verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (Winnicott 1997: 59, 126).
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mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren“ (Schiller 1984: 178). 17 Wer spielt, wird selbst zum kontingenten Moment im ästhetischen Spiel. Wohl dem, der spielen kann: Er kann Ewigkeit erfahren.
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17 „Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken [...] der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren“ (Schiller 1984: 178).
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KÜNSTE DES ZUFALLS
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Einbruch der Kontingenz
Gert Schmidt
TECHNIK-KAPUTT Ein Essay
1. Vorbemerkung: Definition, Orientierung und Irritation „Unter Technik (ǕƾǘǎLj [téchne], Fähigkeit, Kunstfertigkeit, Handwerk) versteht man Verfahren und Fähigkeiten zur praktischen Anwendung der Naturwissenschaften und zur Produktion industrieller, handwerklicher oder künstlerischer Erzeugnisse, wobei der griechische Begriff zwischen den heutigen Kategorien Kunst und Technik nicht unterschied. Es ist Technik grundsätzlich die Anwendung von besonderen Methoden, Prinzipien, einzeln oder in Kombination, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Technik kann als die Fähigkeit des Menschen verstanden werden, Naturgesetze, Kräfte und Rohstoffe zur Sicherung seiner Existenzgrundlage oder zur Befriedigung seines Bedürfnisses zur Selbstverwirklichung sinnvoll einzusetzen oder umzuwandeln. Neben den materiellen Bedürfnissen (Nahrung, Kleidung, Wohnen) werden auch kulturelle Bedürfnisse durch die Technik gesichert“ (wikipedia).
Eine weitergehende Begriffs-Bearbeitung führt zunächst zur basalen Differenzierung von Technik als Handeln bzw. Handlungsprogramm, Technik als „geronnenes“ Handeln in Form von technischen Abläufen, resp. Prozessen und Technik als Artefakt, als Gegenstand bzw. Gerät – um sodann Technik als – auch „kräftig“ politisch im gesellschaftlichen Interessenskampf um Ressourcen und Ideen genutzte und theoretisch vielgestaltig normativ und philosophisch assoziierte – Deutungsformel und als facettenreich präsentes Symbol, zu „entdecken“. Durchgängig implizit konstitutives Merkmal von Technik – ob als Handeln oder als Gerät thematisiert – ist „Funktion“: Technik funktioniert – als Kugelschreiber, als geeignete Grifffolge beim Auswuchten von Reifen in der Auto-Werkstatt, als Heizung, als
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EINBRUCH DER KONTINGENZ
Schnitzgerät beim Bearbeiten von Kunstwerken oder als Bombe. Wenn Technik nicht funktioniert, dann ist sie kaputt. 1 Im Folgenden wird versucht, nach der Rezeption von grundbegrifflicher Literatur zu Technik, Natur und Gesellschaft und nach kurzen allgemeinen Überlegungen zur sozialen Aneignung von Technik und Technik-Kaputt, das Thema Technik-Kaputt über einige Fallstudien vertieft zu diskutieren.
2. Anmerkungen zum Thema „Technik“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften Beginnend Mitte des 19. Jahrhunderts geht im Verlauf der Verwirklichung von Technik in der Gesellschaft der Streit um die Technik über die Diskussion der „Technischen Gesellschaft“. Die traditionelle Erörterung des „Problems Technik“ richtet sich im Wesentlichen auf drei Themenbereiche (vgl. Popitz u.a. 1957): x Der Kulturwert der Technik (a) x Der Vervollkommnung der Technik (b) x Der Eigengesetzlichkeit (c) Zu a: In der Auseinandersetzung um den Kulturwert der Technik kämpfen die Techniker um soziale Anerkennung. Das kulturbewusste Bürgertum versucht dagegen Technik als zu Zivilisation gehörend abzuwerten, weil es die klassischen Bildungswerte bedroht sieht. 2 Zu b: Anknüpfend an Saint-Simon, Comte und Spencer sehen „radikale“ Apologeten der Technik letztlich die Herstellung gesellschaftlicher Harmonie als Werk technischer Naturgestaltung – die Vervollkommnung der Technik befreit die MenschenGeschichte von den Fesseln der Natur, und eröffnet die Chance „wirklich“ human gestalteter Sozialität. „Technik-Kaputt“ ist hier, systematisch gesehen, noch defizitäre‚ vollkommene Technik 3 . 1 2
3
Der Assoziationsraum des Worte-Gebildes „Technik-Kaputt“ bietet zumindest drei Lesarten an: Technik geht kaputt – Technik zerstört/macht kaputt – Technik wird zerstört/kaputt gemacht. So verweisen etwa Autoren wie Jünger und Spranger Technik ins „Kellergeschoß der Wertpyramide“ (Heinrich Popitz) wider die Kulturwertansprüche für Technik und Technikwissen seitens Goldsteins, Weyrauchs oder Dessauers. Nicht verwunderlich gibt es hierzu massiven philosophischen Einspruch: „Die Aufgabe der Überwindung der Technik durch die
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Zu c: Aus den oben genannten Diskussionen verselbstständigt sich das Thema der sog. „Eigengesetzlichkeit der Technik“ 4 . Das Thema „Technik-Kaputt“ wird hier vorbereitet als Wahrnehmung defizitären Passungsverhältnisses von realisierter und möglicher Technisierung versus Rückständigkeit anderer gesellschaftlicher und kultureller Konditionen von individueller und kollektiver Lebensweltgestaltung – letztlich ist es die Fixierung von „Cultural Lag“ im Sinne von William F. Ogburn: „Der technische Fortschritt vollzieht sich so schnell, dass ihm die erforderliche Neuordnung der Gesellschaft nicht folgen kann“ (J. Goldstein). Mit Heinrich Popitz’ Konstrukt der „Artifiziellen Gesellschaft“ findet die Entwicklung des „Streites um die Technik“ als Debatte um die ‚Industrielle/Technische Gesellschaft’ ein gewisses Finale (Popitz 1995). Moderne Systemtheorie „erlöst“ die TechnikDebatte aus opak-kompakter historisch inhaltlicher Assoziation auf der Ebene von Gesamtgesellschaft – und reformuliert Technik als Kommunikationsmedium und Ressource für Kontinuisierung und Autonomisierung von Systemleistungen etc. Ungeachtet abstrakt-raffinierter analytischer „Verfügung“ des Sachverhaltes Technik verweist aber auch noch Werner Rammerts theoretische Fixierung „Funktionalität von Technik“ letztlich auf eine gesellschaftlich-materiale Grundlage: „Technik wird zur gespeicherten Kommunikation über die funktionierende Möglichkeit einer bestimmten Operation“ (TuM 1989: 161). „Technik-Kaputt“ regrediert analytisch zu Kommunikationsversagen.
4
Technik selber für im Ganzen lösbar zu halten, das wird ein neuer Weg des Unheils“ (Karl Jaspers) – und Autoren wie Oswald Spengler, Paul Krannhals oder Ernst Georg Jünger sehen technische Naturbeherrschung als Vergewaltigung der Natur, nicht als deren Humanisierung. Vorgetragen wird das Thema in verschieden Dramaturgien: Spengler und Nikolai A. Berdjajew etwa dramatisieren Technik als „kosmologische Funktion“ und Max Dvorak konzeptionalisiert Technik als „realisierte Magie“ – dem kritischen Beobachter Heinrich Popitz zufolge wird dabei „ eine geschichtliche Kehre“ argumentiert: Die Mechanisierung der Natur schlägt um in eine Mechanisierung des Menschen.
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EINBRUCH DER KONTINGENZ
3. „Technik-Kaputt“ als Alltäglich-nichtAlltägliches im Alltag und als Katastrophe oder: Der ganz normale Wahnsinn – And Beyond/Und Anderes/Und Mehr Ob der geräuschlose Absturz des Computers, das nur noch bösartige Röcheln des sonst herrlich anwummernden Zweizylinders der Oldie-Harley-Davidson beim x-ten Startversuch, die mit leicht beißendem Geruch verendende Edel-Kaffee-Maschine am Sonntagmorgen, ob die Bruchlandung des Business-Jets, nach dem ein Vogelschwarm in eines der beiden Düsentriebwerke eingesaugt wurde, das Zusammenklappen von Betonhochstrassen während eines Erdbebenstoßes, oder die Explosion einer Trägerrakete in folge des Abplatzens eines Keramikstückes – immer handelt es sich um Technik-Kaputt als nicht vorgesehene aber nicht unmögliche – also letztendlich prinzipiell vorhersehbare! – Vorgänge – als kontingente Ereignisse. 5 Für Kultur- und Sozialwissenschaftler öffnet die begriffliche Bestimmung von ‘Technik-Kaputt’ als „kontingent“ systematisch ein weites Feld zur Ordnung von Beobachtung und Raisonnement – etwa via Sortierung entlang analytischer Spezifizierung gemäß sachlicher, zeitlicher und sozialer Kriterien: Kurze – freilich oft hochgradig folgensensible – Handlungsketten, etwa im An- und Abschalten von Energiezufuhr – und technische Großgeräte, aber auch die Umweltgefährdung durch ein passierendes Unterseeboot oder Fragen der Beherrschbarkeit von einzelnen Prozessabschnitten beim Lauf der CERN-Teilchen-Beschleuniger-Anlage in Genf zeigen die Spannweite von „Technik Kaputt“ in der sachlichen Dimension an. Die ermittelbare Vorgeschichte einer Technik-Störung, bzw. des Versagens von technischem Handeln, der Ablauf des KaputtEreignisses und mit dem Ereignis zusammenhängende Folgen des „Kaputt“ geben Information zu sozialwissenschaftlich relevanten Aspekten in zeitlicher Hinsicht. 5
„Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“ (Luhmann 1984: 152).
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Die rechtliche Rahmung von Technik-Installationen und technischen Prozessen – Haftungsrecht, Geltung technischer Normen (DIN), die Einbettung von Technik – d.h. Entwicklung, Einsatz und kritische Problematisierung von Technik – in gesellschaftliche Interessenskonstellationen (Fachverbände, Tarifparteien, NGOs etc.) und die allgemeine kulturelle Anerkennung von Technik (Lehrstoff in Schulen, Förderung von Studiengängen, Stellenwert im gesellschaftlichen Bildungsgespräch etc.) sind wichtige Vorgaben einer Qualifizierung von „Technik-Kaputt“ in der sozialen Dimension. x Die überraschende Selbstzerstörung der Edel-Kaffee-Maschine am Sonntagmorgen ist z.B. angekoppelt an eine rechtlich verbindliche Garantie-Frist, ist hierüber als fait social relativ hochgradig institutionell spezifiziert. Dem kulturell sensibelkritischen Benutzer dieses Gerätes mag das „Technik-Kaputt“ Ereignis freilich evtl. nicht nur Anlass sein, Wiederherstellung oder Ersatz beim Hersteller einzufordern – sondern, seine „eigentlichen“ technikskeptischen Neigungen nun folgend, darauf zu verzichten, künftig solch ein Gerät je wieder zu nutzen – um verärgert-fröhlich zur Handkaffee-Mühle seiner Mutter, die glücklicherweise noch auf dem Dachboden abgespeichert ist, zu greifen. x Dem – zunächst vermutlich frustrierten – Oldie-Harley Fahrer ist der vergebliche Starter-Versuch vielleicht Anlass, nun doch einem lokalen Harley-Fan-Club beizutreten und einen speziellen Service-Kurs zu besuchen, um seine Bedienungs- und Reparaturkompetenzen zu erweitern. „Technik-Kaputt“ mobilisiert denn gegebenenfalls Bildungsaktivität und fördert soziale Integration auf lokaler Eben. x Der katastrophale Ablauf eines national und evtl. auch weltweit erwarteten Raketenstarts könnte den institutionellorganisatorischen Umbau ganzer Behörden zur Folge haben, eine Kurskorrektur milliardenschwerer Investitionsprogramme bewirken, und/oder neue Netzwerke internationaler Kooperation provozieren. Als gebunden an gegebenenfalls politisch-ideologisch hoch aufgeladenen Projekte können Ereignisse von „Technik-Kaputt“ nachhaltige Konsequenzen für kollektive Mentalitätslagen und an diese geknüpfte wirtschaftliche Handlungen haben.
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x
Langfristige Auswirkungen auf tief „eingearbeitete“ gesellschaftliche (Selbst-)Verständnisse können auch massive Naturereignisse haben, die als „Technik-Kaputt“ erfahren werden – wenn etwa bei Erdbeben technische Infrastrukturen, von der Stromversorgung bis zu umfänglichen materialen Verkehranlagen, zusammenbrechen. 6
Georg Simmels Sozio-Logik in seiner Analyse des „Sozialen Konfliktes“ – zugegeben: etwas metaphorisch – folgend, hat „TechnikKaputt“ nicht nur negatives soziales Potential (Aufkündigung von Markenloyalität und Fixierung aggressiver „Gerichtsmassigkeit“ wider einem Geschäftspartner etc.) sondern durchaus auch beachtliches positives individuales und sozialkonstruktives Potential; der einzelne gewinnt evtl. neuen inhaltlich vertieften Zugang zur Sache der Technik, und Ereignisse von „Technik-Kaputt“ vermögen nicht nur Vergesellschaftungsprozesse einzufordern (Zahlungen und Rechtsausgleich) sondern insbesondere auch Gemeinschaftsbildung zu befördern (Vereinsbildung, Nachbarschaftshilfe etc.). Last not least können Ereignisse des „TechnikKaputt“ Ideologien entlarven ( z.B. naiven Glauben an systemisch garantierte effektive gesellschaftlich-staatliche Kontrolle von Sicherheitsnormen technischer Produkte als Markt-Artikel, oder auch jenen Glauben an die ethisch-moralisch abklärende Funktion des Marktes selbst, im Sinne von: ‚Es verkauft sich nur, was den Kriterien geltender Standards des Freien Marktes entspricht – und der Markt reguliert nicht nur Mengen sondern auch die Qualität der Produkte etc.) und Ideologeme (ja selbst „Conspiracy“Fantasien) „produzieren“ (etwa jene einer systemisch erzeugten, oder doch gestützten Skrupellosigkeit von kapitalistischen Anbietern technisch noch unausgereifter Waren, im Sinne einer ethisch deckungsfreien Formel des „Produziert wird, was Profit verspricht“). Es kann „Technik-Kaputt“ aufklärend, wirken – und es bleibt systematisch unbestimmt, d.h. dem genaueren Hinsehen auf die aktuelle Situation und Konstellation überlassen, ob die (zumeist) in „Technik-Kaputt“ eingebaute Kontingenz-Erfahrung (also: die 6
Des Nachdenkens wert sind Differenzen in der Konstruktion von Natur-Gesellschaft-Relationen anlässlich von folgenreichen Naturkatastrophen: vgl. etwa das Erdbeben in Kobe, Japan 1995 und der Wirbelstrum „Katrina“ in New Orleans, USA 2005.
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Erfahrung, es hätte auch anders verlaufen können – oder gar müssen) zu gedanklichen und praktischen Anstrengungen in Richtung Technikentwicklung oder in Richtung Technik-Abwehr, bzw. -Vermeidung sich umsetzt. Und „Technik-Kaputt“ ist soweit mit Interessenkonstellationen und Wertdramatisierungen verbunden immer wieder auch als politisches Thema präsent.
Abbildungen 1 und 2: Havarien Die Kontingenz-Bindung von „Technik-Kaputt“ führt mit Blick auf die sozialwissenschaftliche Technik- und Wissenschaftsdebatte unmittelbar ins Arbeitsfeld der Risiko- und Gefahr-Studien, Studien, die insbesondere nach den spektakulären Ereignissen ‚kaputtgehender’ Technik im Bereich der Nuklear-Kraftwerke en vogue wurden 7 : Die einschlägigen und Stichworte waren: Harrisburg und Tschernobyl. Wenn nicht funktioniert, was – nach landläufiger, wissenschaftlich gestützter Meinung – „unbedingt“ funktionieren muss, wenn „Technik-Kaputt“ gewissermaßen keinen Möglichkeitsraum mehr zugestanden bekommen kann, dann wird das übliche gesellschaftliche Interessens-Diskurs-Spiel um Technik und Technischer Fortschritt „Ja oder Nein“ gewissermaßen „epistemologisch“ unterlaufen – und zwangstranszendiert (aktuell: die Frage: Atomkraftwerke „Ja oder Nein“ ist eine andere als jene: Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen 120 km/h „Ja oder Nein“). Systematisch gesehen wechselt Technik ohne „Technik-Kaputt“ den kategorialen Status!
7
Vgl. hierzu die repräsentativen Veröffentlichungen von Charles Perrow, Ulrich Beck Klaus Japp, Jost Halfmann u.a.
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Abbildungen 3 und 4: Unfälle
Gesellschaften und Kulturen vergleichender Forschung bietet sich ein weites Feld – via „Technik-Kaputt“ erschließen sich Parallelen und Differenzen human-sozietaler Formen: Kulturen der Nutzung von vorhandener Technik unterscheiden sich, die rechtlichen Einbettungen von Herstellung und Fehlerfolgenhaftung sind in hohem Maße gesellschaftsspezifisch – und innerhalb von Gesellschaften klassen- bzw. schichtgebunden, aber auch regional unterschiedlich – ausgelegt. Ausdruck findet gesellschaftliche – und international vereinbarte – Spezifizierung von Technikherstellung und –konsum nicht nur in je geltenden technischen Normungen, für deren Fixierung Gesichtspunkte von „Technik-Kaputt“ mitentscheidend sind (von frühen gesetzlichen Anforderungen etwa an Dampfkessel über – nationalgesellschaftlich durchaus unterschiedlich differenzierte – TÜV-Daten von Elektro-Haushaltsgeräten und Auflagen an die Belastbarkeit von Gartenschaukeln, Kinderspielzeug und Autoreifen bis hin zu umfänglichen sog. ISOStandards für ganze Produktsparten mit erheblicher Auswirkung auf Zulassungschancen in Nation übergreifenden Wirtschaftsräumen) sondern auch in – nicht zuletzt sozialstrukturell vermittelten – kulturellen Mustern der Anerkennung und des praktischen Gebrauches von Technik – und den daran geknüpften „üblichen“ Umgang mit „Technik-Kaputt“. Spätestens bei gesellschaftliche vergleichender Betrachtung – diachron oder synchron angesetzt – wird klar: „Technik-Kaputt“ lässt sich technisch-technologisch nicht angemessen/hinreichend fassen; nicht allein naturwissenschaftliches und ingenieurwissenschaftliches Wissen definieren gesellschaftlich „Technik-Kaputt“. DIN-, SAE-, ISO-Normen sortieren solches Wissen im Kontext ökonomischer und politischer Interessen und mit Blick auf generalisierte kulturelle Erwartungen sowie sozial-moralische Konven-
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tionen 8 . Es ist denn „Technik-Kaputt“ nicht zuletzt eine gesellschaftlich normativ formulierte Institution. 9 Hiermit verknüpft ist der Tatbestand, dass „Technik-Kaputt“ immer wieder auch Contested Terrain nicht nur mit ökonomischer Besetzung und via ästhetische Anschauung ist, sondern auch in ethischen Assoziationen. „Technik-Kaputt“ ist Gegenstand von Interpretation, Wertdramatisierung, Konflikt und Bargaining. Es gibt aber auch Entwicklungen der weltweiten Standardisierung (etwa im Flugverkehr, im internationalen Schiffsverkehr und zu bestimmten Umweltfragen). Probleme gesellschaftlich besonderer Regulierung von Technik-Entwicklung (der systematisch gesehen relative Anerkennung möglicher „Technik-Kaputt“ Ereignisse eingebaut sind) und die jeweiligen institutionellen und regulativen Instanzen der Bearbeitung von Folgen via „TechnikKaputt“ (Haftungsrecht, Ressourcen der gesellschaftlichen Hilfeleistung bei „Technik-Kaputt“-Ereignissen, kulturelle Standards der Erwartungen an Staat, Infrastruktur und Familie sowie Einzelperson Folgen von „Technik-Kaputt“ zu absorbieren etc.) sind zunehmend auch mit Blick auf Internationalisierung und StandortQualität – d.h. als Momente internationalen Wettbewerbs zu qualifizieren. Schließlich ist „Technik-Kaputt“ auch eingerückt in die „HochKultur“, in den Bestand von Ästhetik und Kunst- und Kulturgeschichte – als Dokument und Interpretationsaussage zur „Wirklichkeit“ und als Provokation und Deutungs(-auf-)ruf in der Auseinandersetzung ums Exponieren von Schönheit/Hässlichkeit und Wahrheit/Lüge. „Technik-Kaputt“ vermittelt Chance für Erinnern und Vision, und wirkt als Symbol und direkte materiale Besetzung von Ideen bis hin zum Ausdruck religiöser Kraft und Verbindlichkeit. Zur Verdeutlichung der inhaltlich Spannweite vgl. z.B. auf der Documenta in Kassel gezeigte Autowracks, bunt8 „Technik-Kaputt“ ist relativ – im Sinne von relationiert. 9 Ein bestimmtes Gerät – etwa ein Staubsauger – kann in einem Land als „Technik-Kaputt“ qualifiziert sein, rechtlich vom Marktgeschehen ausgeschlossen werden, während es jenseits der Landesgrenze als „sicher“ qualifiziert ist und ein Verkaufsschlager ist! Auch ist die sog. Wegwerf-Mentalität – über die ja auch alltagstaugliche „Technik Kaputt“ Standards vermittelt werden – gemäß ökonomischer Situation und verbreiteter besonderer Technik-Kultur in einigen Ländern stärker ausgebildet als anderswo.
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lackierte + blitzende Chromteile integrierende Metall-GrossExponate in Kaufhäusern oder vor Versicherungszentralen – als Kunst im/am Bau fungierend – oder auch jene Elemente zerstörter Technik im Kriegsmuseum von Tokyo, wo kaputte Technik Flugzeugteile und verrostete Handfeuerwaffen, oder Uniformreste – nicht nur als Erinnerung an Zerstörung und die Opfer des Krieges, sondern als Repräsentationen ganz bestimmter Personen ausgestellt sind und vom Beschauer entsprechend verehrt werden).
Abbildungen 5 und 6: Die Kunst des Technik-Kaputt 10
Es sind mit den bisher erörterten Beispielen und An-Diskussionen prinzipieller Problemlagen des wahrlich großen Themas „Technik-Kaputt“ wichtige kulturhistorische und sozialphilosophische Aspekte allenfalls indirekt angesprochen: Ereignisse von „Technik-Kaputt“ dokumentieren schlicht dialektisch thematisiert das Spannungsfeld von Fortschritt/Erfolg und Scheitern/Misserfolg der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und mit der bislang jeweils von ihm selbst geschaffenen „Zweiten Natur“ (Dieter Claessens) – und „Technik-Kaputt“ vermittelt zugleich die „einfach materiale“ und „intellektuell-geistig gehobene“ ideale Erfahrung des Menschen und menschlichen Tuns Unvollkommenheit, die Einsicht in die letztliche Nicht-Beherrschbarkeit seiner Umwelt, in die wunderbare und brutale Offenheit der Welt. „Technik-Kaputt“ erzwingt die Anerkennung der relativen (d.h. relationierten) Hilf10 Eigene Fotografie Berlin 2007 und John Chamberlain, ESSEX 1960 – Autoparts and other metal.
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losigkeit des Menschen gegenüber der verfügten Aufforderung: „Mach Dir die Erde Untertan“. „Technik-Kaputt“ zeigt sich einerseits als Maßstab für Fortschritt und als Immer-Wieder-Erfahrung der Vergeblichkeit des Bestrebens nach Vollkommenheit – ist also herrlich präzise Entfaltung von Widerspruch! Ein wenig poetisch formuliert: Die Wahrnehmung und Thematisierung der „Wunder“ der Technik bleibt der Verwunderung über ihre Verwundbarkeit verhaftet. In metaphysischer Höhe beinhaltet denn die Formula „Technik-Kaputt“ zum einen den Auftrag des Verbesserns, die Dynamik für Fortschritt, Prozess der Weiterentwicklung, Entkommen aus der Misere etc., das Prinzip Hoffnung, und zum anderen Grenzerfahrung, Demut, Bescheidenheit, das Prinzip Innehalten (Passion).
4 . F a l l s t u d i e n 11 Fallstudie A – AUDI-Startprobleme in den USA 1986 ist das Jahr einer wirtschafts- und kultursoziologisch außerordentlich interessanten ‚Geschichte’ zu „Technik-Kaputt“. Wie andere japanische und deutsche Automobilhersteller auch hatte sich Audi in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts vor dem Hintergrund eines selbstverschuldet kriselnden Detroit solide auf dem größten Automarkt der Welt etabliert. Zunehmender Verdrängungswettbewerb auf dem amerikanischen Automarkt und eine hohe Medien-Sensibiltät der amerikanischen Konsumkultur führte dazu, dass eine einzige skandalisierend intonierte Fernseh-Sendung von CBS (einem der großen nationweit ausstrahlenden Sender in den USA) binnen Wochen einen katastrophalen Einbruch der Fahrzeugverkäufe der Marke Audi auf dem gesamten amerikanischen Markt zur Folge hatte. Technischer Anlass waren angeblich an Ampelstopps auftretende plötzliche Beschleunigungsschübe einiger mit Automatik-Getriebe ausgestatteten Audi-Modelle. Eine Reihe von anscheinend/scheinbar auf die11 Im folgenden werden nur drei Fallstudien skizziert, die unterschiedliche Typen repräsentieren sollen – es ließen sich selbstverständlich noch eine ganze Reihe weiterer, anders typische Fälle erörtern – und zu jedem der hier vorgestellten ließen sich andere – vielleicht „stärkere“ – Beispiele vortragen; der „Untergang der Titanic“ reizt hier ebenso wie die „Geschichte“ der Eisenbahnbrücke über den Firth of Tay 1879 oder die Katastrophe von Lakehurst von 1937.
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se Eigenheit („Technik-Kaputt“!) zurück zu führende fatale Unfälle definierten den Skandal. Mehrere Jahre Rechtsstreit zur Sache rehabilitierten den Hersteller Audi letztendlich rechtlich völlig – der Kommunikationserfolg dieser Zuschreibung von „Technik-Kaputt“ kostete Audi aber über viele Jahre hinweg Tausende von Verkäufen; erst nach 1995 begann sich die Firma auf dem amerikanischen Markt von diesem „Technik-Kaputt-Medien-Ereignis“ wieder zu erholen. 12
Abbildung 7: Audi Verkaufs-Geschichte in den USA
Deutlich wird die alltagskulturell unterschiedliche „Aufnahme“ auch für hochgradig standardisierte Nutzung entwickelter Gebrauchstechnologie. Die expliziten und impliziten Handlungserwartungen an PKW-Piloten von modernen Fahrzeugen mit Automatik-Getriebe waren scheinbar – aber eben nur: scheinbar! – international „stabilisiert“; geringfügiges Anders-Funktionieren des Systems sollte problemlos akzeptiert werden können – sollte! Bemerkenswert ist am Beispiel – neben der Erfahrung erstaunlicher Enge generalisierter Habitualisierung – insbesondere die offensichtlich zwischen den USA und vielen Europäischen Ländern 12 In der offiziellen Firmengeschichte „Das Rad der Zeit – Die Geschichte der AUDI AG“ sind die Ereignisse zusammengefasst. Diese Darstellung nutzt eine firmeneigene Präsentation von Audi of America.
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verschiedene normative Einbettung des Gesichtspunktes Sicherheit – mit auf der anderen Seite des Atlantiks eindeutiger Priorität für den Endverbraucher! Die gesetzlich abgesteckten Verhaltensterrains (Zumutbarkeit) sind für Amerikaner verbraucherfreundlicher/verbrauchernäher als in Deutschland formuliert. Im hier diskutierten Fall spielte allerdings auch der Einfluss der Medien eine beachtliche Rolle! 13 Die erörterten Zusammenhänge illustrieren die Kontingenz als sozio-kulturelle Relationiertheit von „Technik-Kaputt“. Es wird wohl keinen deutschen Audi-Ingenieur geben, der eingestehen könnte, dass die verunfallten Audi-Wagen in Amerika „TechnikKaputt“ waren, während viele, sehr viele – und letztlich zu viele – Amerikaner (vor allem zu viele von jenen, die Definitionsmacht hatten - letztlich den Autokäufern!) überzeugt waren/wurden, dass diese Audi-Autos irgendwie „Technik-Kaputt“ waren. Fallstudie B – Schlachtschiff „Bismarck“ „Am 1. Juli 1936 wurde die Bismarck bei Blohm&Voss in Hamburg auf Kiel gelegt. […] Bereits am 14. Februar 1939 konnte die Bismarck von Stapel gelassen werden. […] Nachdem die Bismarck einsatzbereit war, entschied sich die deutsche Kriegsmarine, sie in den Atlantik zu entsenden. Sie sollte dort unter dem Decknamen ,Rheinübung‘ im Verbund mit dem Schweren Kreuzer Prinz Eugen auch bewachte Geleitzüge angreifen. […] Geplant war, durch die Dänemarkstrasse zwischen Island und Grönland in den offenen Atlantik zu gelangen. Der Verband wurde aber von den britischen Schiffen HSM Hood und HSM Prince of Wales gestellt. Im folgenden Gefecht wurde das Flaggschiff des britischen Verbandes, die Hood, versenkt. Es gab nur drei Überlebende von insgesamt 1419 Besatzungsmitgliedern. Die Prince of Wales erhielt ebenfalls mehrere schwere Treffer und drehte ab. Ein Treffer (durch die Prince of Wales) im Zuleitungsbereich der Ölversorgung der Bismarck und die daraus resultierende Treibstoffknappheit zwangen jedoch das deutsche Schlachtschiff, den Handelskrieg abzubrechen und direkt einen Hafen anzulaufen. Auf der Fahrt nach St. Nazaire erhielt sie am 26. Mai 1941 13 In dem Maße, indem der faktische Einfluss seitens der Medien-Akteure intendiert gewesen ist, kann bzw. muss man aus soziologischer Sicht von Macht sprechen! Vgl. hierzu etwa: www.thetruthaboutcars.com/.../ – Nachdenklichkeit provozieren könnte der faktische Skandal einer skandalisierenden Presse schon und „TechnikKaputt“ ist ein gern skandalös aufgenommenes Thema, das – nicht nur in den USA – beachtliche „Muckracker“-Attraktion hat.
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durch einen Flugzeugtorpedo einen Treffer in die Ruderanlage, wodurch ein Entkommen vor herbeieilenden britischen Schiffen unmöglich wurde. Am 27. Mai wurde sie im Nordatlantik von zwei Schlachtschiffen und zwei Schweren Kreuzern gestellt und ging etwa 550 Seemeilen (etwa 1.000 Kilometer) westlich von Brest bei den Koordinaten 48° 10´ Nord, 16° 12´ West unter. Bis heute wird die Frage einer Selbstversenkung kontrovers diskutiert. [...] Von der Besatzung überlebten nur 116 Mann. […] In seinem Bericht über die ‚Rheinübung‘ schrieb der britische Admiral Tovey: ,Die Bismarck hat gegen eine riesige Übermacht einen äußerst tapferen Kampf geführt, würdig der vergangenen Tage der Kaiserlich Deutschen Marine, und ist mit wehender Flagge untergegangen‘“ (Darstellung unter Nutzung von Wikipedia).
Abbildung 8: Das Schlachtschiff „Bismarck“
Im Falle der „Bismarck“ ist „Technik-Kaputt“ zum einen als Technik-Tragödie in einem historischen Abschnittes im Kriege ausgewiesen; es sind zwei „ärgerliche“ technische Defekte, die maßgeblich der Verlauf der Ereignisse bestimmen (eine Ölspur und ein durch ein Torpedo verklemmtes Ruder) – und zum anderen als dramatisches Finale mit hohem Identifikationswert erhalten; die Herstellung des superben Schlachtschiffes „Bismarck“ 14 als „Technik-Kaputt“ erfolgt als Szenario beachtlicher literarischer 14 Nach Experten galt die Bismarck in ihrer kurzen Dienstzeit als das modernste Schlachtschiff der Welt – insbesondere mit Blick auf Panzerung und relative Un- bzw. Schwerversenkbarkeit (Schottenbautechnik).
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Qualität – und dies ist ja nicht zufällig Stoff von Filmen und Schriftwerk 15 geworden – Stichwort: „heroischer Schicksalskampf“! Wäre die „Bismarck“ bis zum Kriegsende irgendwie erhalten geblieben (wofür wenig spricht! Eher hätte sie wohl das traurige Schicksal des Schwesterschiffes „Tirpitz“ erwartet), wäre sie vermutlich den Kriegsgegnern ausgeliefert worden, um dann irgendwo im Südpazifik wie viele andere Schiffe bei den großen Atombombenversuchen unterzugehen. So hat die „Bismarck“ als Kulturgut – als Erzählung – überlebt! Notierenswert mag sein, dass die Chance für ideale und auch ideologische Überhöhung des Falles „Bismarck“ sowohl von den nationalistischen Machthabern instrumentalisiert wurde, wie auch als Momentum in den Bemühungen um Versöhnung zwischen den Menschen der Kriegsparteien nach dem Zweiten Weltkrieg Bedeutung hatte (vgl. Busch 1950). 16 Fallstudie C – Die Challenger-Katastrophe „Die Mission hatte die Aufgabe, den Kommunikationssatelliten TDRS-2 auszusetzen, zudem sollte mit verschiedenen Hilfsmitteln der Komet Halley beobachtet werden. […] Vorgesehen war eine Missionsdauer von 6 Tagen, 0 Stunden und 34 Minuten. Am 28. Januar 1986, 73 Sekunden nach dem Start der Mission STS-51-L, zerbrach die Raumfähre in rund 15 Kilometer Höhe. Dabei kamen alle sieben Astronauten ums Leben. Es war der bis dahin schwerste Unfall in der Raumfahrtgeschichte der USA. Die Challenger-Katastrophe führte zur vorübergehenden Einstellung des Shuttle-Programms der NASA. Als Grund wurde ein defekter Dichtungsring der Feststoffraketen (Booster) ausfindig gemacht. Der fehlerhafte O-Ring befand sich in einem ,field joint‘, welcher von NASA-Technikern vor Ort zusammengeführt wurde. Die Verankerun15 Vergleichbare Erzählungen lassen sich aus der Geschichte der modernen Seekriegsschifffahrt nicht viele zitieren: das Schicksal der „Graf Spee“ mag nahe liegen, aber weder die Katastrophen der japanischen Riesenschlachtschiffe „Musashi“ und „Yamato“ 1945 noch die Dramatik von Pearl Harbour bieten hier eine Entsprechung. Allenfalls das Ende des amerikanischen Kreuzers „Houston“ in der Javasee im März 1942 ist vergleichbar. 16 Kriegsbedingte „Technik-Kaputt“ Dokumente fungieren nicht selten als Stätten der Besinnung, pazifistischer Exposition und „TreffPunkt“ des Versöhnens auf menschlicher Ebene – vgl. etwa in Hiroshima den Kuppelbau oder die weitgehend zerstörten Bunkeranlagen von Verdun.
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gen wurden mittels zweier übereinander angeordneter O-Ringe abgedichtet. Zwischen den O-Ringen befand sich ein Anschluss für Dichtigkeitsprüfungen. Durch tiefe Temperaturen in der Nacht vor und am Morgen des Starts büßte der Kunststoff jedoch seine Elastizität ein, was nach der Zündung zunächst zu einer Erosion der O-Ringe und schließlich zum Blow-By führte, dem Flammenaustritt nicht durch die Düse, sondern an der Seite des Boosters. […] Die Kapsel, in der sich die Raumfahrer befanden, überstand das Zerbrechen des Shuttles unversehrt. […] Die Astronauten starben wahrscheinlich erst, als sie mit ihrer Kapsel auf dem Atlantik aufschlugen. Kritiker bemängelten Fehler in der Konstruktion und ein aus Kostengründen eingespartes Rettungssystem (Fallschirm der Kapsel), das möglicherweise das Leben der Astronauten hätte retten können. […] Die Challenger-Katastrophe warf nicht nur das Raumfahrtprogramm der USA zurück, sondern wirkte auch wie ein Schock auf die amerikanischen Bürger, die das Unglück zahlreich live auf den Aussichtstribünen in Cape Canaveral oder am Fernsehgerät miterlebt hatten“ (Darstellung unter Nutzung von Wikipedia).
Abbildung 9: Die Challenger Katastrophe
Die mediale Umsetzung von „Technik-Kaputt“-Erfahrung bewegte sich in diesem Fall zwischen „schlichter“ technischer UrsachenBestimmung und daran gebundener Kritik an unterschiedliche Gruppen der Initiatoren und STäter“, über Zweifel an der Sinnfäl-
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ligkeit des Types solcher Raumforschung bis hin zu „Ikarus“– Sentimente artikulierenden Stellungnahmen. Bezeichnend für die Aufarbeitung ist aber auch eine – weitgehend undiskutierte – fast selbstverständliche Akzeptanz dieses „Technik-Kaputt“ Ereignis als Unglück (inklusive der BeDeutungsebene „Nationales Unglück“), d.h. die letztlich – systematisch gesehen – „positive“ Würdigung von Kontingenz (mit Assoziation fast in der Analogie zum Sport: Rodelfahrer können bekanntlich ebenfalls tödlich verunglücken, wenn es besonders „unglücklich“ verläuft!). Das dieser Aufarbeitung eingebaute „Pech gehabt“ ist freilich angesichts des erheblichen kollektivemotionalen Aufwandes ins Projekt einfach nicht auszuhalten, sondern provoziert symbolische Steigerung und eine aufwändige Einbettung in die Selbsterzählung der Gesellschaft, wozu dann letztlich auch wieder spezifische Trivialisierungen gehören – etwa in Form von Erinnerungsbildchen und Modellen. Das „TechnikKaputt“ der Challenger-Katastrophe reüssiert als Reliquie auf dem Schreibtisch oder im heimischen Wohnzimmerschrank.
Abbildung 10: Die Kunst der Katastrophe
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5. Hinweis auf Möglichkeiten einer breiteren sozialtheoretisch informierten Rekonstruktion von „Technik-Kaputt“ Technik als Artefakte und als Handlungsketten und „TechnikKaputt“ als jedwede Form von Fehlfunktion sind – dies wurde weiter oben bereits erörtert – vielfältig eingebettet in gesellschaftliche Fakten, seien es soziale Strukturen, Konventionen, Strategien, Institutionen oder Organisationen. Eine dreidimensionale Differenzierung: Technisch-Ökonomische Ebene – Poltische Ebene – Kulturelle Ebene erlaubt eine erste grobe Orientierung und bietet Möglichkeiten der Hypothesenbildung zu systematischen Zusammenhängen.
Abbildung 11: Modifizierte Grafik von Werner Rammert
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Die oben stehende, eine Vorlage von Werner Rammert nutzende, Grafik ist hier für den Technikfall Automobil „gefüllt“. Unterschiedliche Realisierungen von „Auto-Technik-kaputt“ lassen sich mithilfe dieser Grafik in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen ‚Einnetzung’ unschwer entfalten – etwa die aktuell gerne diskutierten Rückruf-Aktionen von Automobilherstellern oder das Thema der Einrichtung von Umweltschonzonen in Großstädten, das ja in gewisser Weise mit einem partialen und sehr spezifisch aufwändig definierten „Technik-Kaputt“ Verweis für eine größere Anzahl von „eigentlich“ noch gut funktionierenden Automobilen verbunden ist.
6. Zum Abschluss Abschließend seien noch zwei gesellschaftliche Assoziationen des Topos „Technik-Kaputt“ wenigstens kurz angezeigt: Humor und Politik-Botschaft – philosophisch vertieftes Verstehen in Sachen Technik und Technisierung, der Hinweis auf das gründliche Prekarität des Verhältnisses von Technik und Lebenswelt gelingt etwa in der berühmten Werbespott-Serie für den VW-Käfer in den USA via einer Reifenpanne als Ereignis von „Technik-Kaputt“. Und das Denkmal des verknoteten Revolvers vor dem UNGebäude in New York City ist als spezifische Darstellung von „Technik-Kaputt“ eines der ausdrucksstärksten Dokumente für den weltweiten Friedenswillen.
Abbildungen 12 und 13: Humor und Politik
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Literatur AUDI AG (1997): Das Rad der Zeit – Die Geschichte der Audi-AG. Ohne Ortsangabe: Delius Klasing Verlag. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Busch, Fritz Otto (1950): Das Geheimnis der „Bismarck“. Hannover: Sponholtz Verlag. Goldstein, Julius (1912): Die Technik. Die Gesellschaft. Frankfurt/M.: Rütten & Loening. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Perrow, Charles (1983): Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies. New York: Basic Books. Popitz, Heinrich u.a. (1957): Technik und Industriearbeit. Tübingen: J.C.B. Mohr. Popitz, Heinrich (1995): Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Tübingen: J.C.B. Mohr. Rammert, Werner (1989): „Technisierung und Medien in Sozialsystemen – Annäherung an eine soziologische Theorie der Technik“. In: Weingart, Peter (Hg): Technik als sozialer Prozeß. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 128-173. Wikipedia (2008): Diverse Artikel. Zugriff: 15.10.2008. Die Abbildungen ohne Angaben sind dem Internet entnommen.
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Eckart Liebau
Erziehung und Freiheit 1
Vorwort Kant und Kontingenz – das scheint sich erst einmal auszuschließen. Wo soviel Rationalität, soviel Vertrauen in die Kraft der Erkenntnis, der Vernunft und der Moral ist, scheint wenig Raum für das Zufällige, das Unverfügbare, das Andere. Dass eine solche Perspektive zu kurz greift, soll im Folgenden in drei Schritten gezeigt werden. Zunächst geht es um die Rekonstruktion der pädagogischen Konzeption Kants, dann um Kant als Klassiker der Pädagogik und schließlich um einen Vergleich von Kant und Rousseau im Blick auf die jeweiligen Mündigkeitsvorstellungen.
1. Kant über Pädagogik
„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (XII, 711) 2 – Wenn es ein geflügeltes Wort aus Kants Vorlesungen über Pädagogik gibt, dann ist es diese Frage; bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten findet sie sich herbeizitiert. Hört man die Frage so isoliert, meint man schon zu verstehen: Da gibt es böse äußere gesellschaftliche Zwänge, die auf das arme Kind einwirken, und die Aufgabe des Erziehers besteht darin, dem Kind dennoch die gute Freiheit zugänglich zu machen oder gar zu geben, indem er es in die Kultur einführt. Eine frühe Formulierung für das heute hoch geschätzte Erziehungsziel einer möglichst frühen, möglichst großen Selbständigkeit hätte man da also vor sich – und könnte sich bestätigt sehen in dem, was man immer schon für 1
2
Der Text ist ein um den Abschnitt „Die Kontingenz der Freiheit“ erweiterter Wiederabdruck. Die Vorfassung ist erschienen unter dem Titel: „Kant. Über Pädagogik“ (Liebau 2007 in Vidal: 56-70). Kant wird nach der von Wilhelm Weischedel 1956ff. herausgegebenen, im Suhrkamp-Verlag in 12 Bänden 1968 wiederaufgelegten Werkausgabe ausschließlich mit den Band- und Seitenzahlen dieser Ausgabe zitiert. Dabei wird in den Zitaten die alte Rechtschreibung beibehalten.
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richtig gehalten hat. Indessen – so einfach ist die Sache nicht. Bei Kant ist der Zwang nicht böse, sondern nötig, die Freiheit höchst ambivalent, und die Kultivierung hat mit dem, was wir uns üblicherweise unter Kultur vorstellen, erst einmal wenig zu tun. Der Absatz lautet: „Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. Er muß früh den unvermeidlichen Widerstand der Gesellschaft fühlen, um die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten, zu entbehren, und zu erwerben, um unabhängig zu sein, kennen zu lernen“ (XII, 711).
Die Rede ist von Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang, also unter das Recht – eine Unterwerfung, die von jedem Bürger verlangt wird und die zu jedermanns – und heute würden wir selbstverständlich ergänzen: jedermanns und jederfraus – positiven Pflichten gehört. Erziehung soll das Kind befähigen, später als Erwachsener pflichtgemäß rechtstreu, und das heißt: rechtschaffen und wacker, leben zu können: „Unsern Schulen fehlet fast durchgängig etwas, was doch sehr die Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit befördern würde, nämlich ein Katechismus des Rechts. Er müsste Fälle enthalten, die populär wären, sich im gemeinen Leben zutragen, und bei denen immer die Frage ungesucht einträte: ob etwas recht sei oder nicht?“ (XII, 751).
Dann stellt Kant ein klassisches Dilemma dar, zwischen Pflicht und Barmherzigkeit, das er selbstverständlich zu Gunsten der Pflicht auflöst. Kohlberg, der im späten 20. Jahrhundert die Dilemma-Methode zu einem zentralen Ansatz der moralischen Erziehung entwickeln wird, hätte seine Freude gehabt. Vielleicht hat er sich auch direkt von dieser Stelle anregen lassen. „Gäbe es nun ein solches Buch [Katechismus des Rechts; E.L.] schon, so könnte man, mit vielem Nutzen, täglich eine Stunde dazu aussetzen, die
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ECKART LIEBAU: ERZIEHUNG UND FREIHEIT
Kinder das Recht der Menschen, diesen Augapfel Gottes auf Erden, kennen, und zu Herzen nehmen zu lehren“ (ebd.).
Das würde schon helfen auf dem Weg zum moralischen Charakter, den Kant als das Ziel der Erziehung sieht. Disziplinierung Aber erst einmal zurück zur Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange: Es sind ja auf den ersten Blick ziemlich seltsame Formulierungen, die Kant benutzt, wenn er von der „Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, [...] seine Freiheit gut zu gebrauchen“, spricht. Wenn der Zögling zugleich „einen Zwang seiner Freiheit [...] dulden“ soll, so setzen diese Formulierungen das Vorhandensein der Freiheit immer schon voraus – Freiheit gehört also von Geburt an zum Menschen. Aber diese ursprüngliche Freiheit ist roh, ja wild; sie ist unabhängig von den Gesetzen, und genau deswegen nicht „menschlich“. Es ist die natürliche Freiheit des Tieres, mit der der Mensch auf die Welt kommt. Um diese ursprüngliche tierische Freiheit zur menschlichen Freiheit zu entwickeln, bedarf es der Erziehung. Das ist ihr eigentlicher Sinn. Dabei kommt alles darauf an, hier keine Fehler zu machen: „Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disziplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihn den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen. Dieses muß aber frühe geschehen. So schickt man z. E. Kinder anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht, in Zukunft, jeden ihrer Einfälle würklich auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen. Der Mensch aber hat von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, daß, wenn er erst eine Zeitlang an sie gewöhnt ist, er ihr alles aufopfert. Eben daher muß denn die Disziplin auch, wie gesagt, sehr frühe in Anwendung gebracht werden, denn wenn das nicht geschieht, so ist es schwer, den Menschen nachher zu ändern. Er folgt dann jeder Laune. Man sieht es auch an den wilden Nationen, daß, wenn sie gleich den Europäern längere Zeit hindurch Dienste tun, sie sich doch nie an ihre Lebensart gewöhnen. Bei ihnen ist dieses aber nicht ein edler Hang zur Freiheit, wie Rousseau und andere meinen, sondern eine gewisse Rohigkeit, indem das Tier hier gewissermaßen die Menschheit noch nicht in sich
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entwickelt hat. Daher muß der Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen. Wenn man ihm in der Jugend seinen Willen gelassen und ihm da nichts widerstanden hat: so behält er eine gewisse Wildheit durch sein ganzes Leben. [...] Bei dem Menschen ist wegen seines Hanges zur Freiheit eine Abschleifung seiner Rohigkeit nötig; bei dem Tiere hingegen wegen seines Instinktes nicht“ (XII, 698).
Die „Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange“ setzt also zunächst einmal Disziplinierung voraus. Um Mensch im Sinne des allgemeinen Begriffs der Menschheit, d.h. vernünftig und frei, werden zu können, bedarf es der Disziplin. Deswegen ist auch die implizite Erziehung, das zweite, das heimliche Curriculum, ihre Sozialisationsaufgabe, erst einmal das Entscheidende an der Schule – es geht vor allem inhaltlichen Lernen um die Gewöhnung an den Zwang der Gesetze. Nicht der edle, sondern der rohe Wilde ist es, den Kant im Kind sieht. Ursprünglich ist dieses Wesen denn auch in moralischer Hinsicht wie das Tier völlig neutral: „Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beiden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegenteile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang, ob er gleich ohne Anreize unschuldig sein kann. Laster entspringen meistens daraus, daß der gesittete Zustand der Natur Gewalt tut, und unsre Bestimmung als Menschen ist doch, aus dem rohen Naturstande als Tier herauszutreten. Vollkommne Kunst wird wieder zur Natur“ (XII, 753f.).
Der Mensch kommt als Tier auf die Welt; er ist daher ursprünglich moralisch neutral. Aber er ist ein seltsames Tier; ihm fehlt der Instinkt; es hat diesem Tier nicht „eine fremde Vernunft [...] bereits alles [...] besorgt“ (XII, 697). Er kann weder überleben noch gar zur Vernunft kommen, ohne dass zunächst andere Menschen für ihn sorgen und ihn dann Schritt für Schritt zur Vernunft bringen. Bevor also die „vollkommne Kunst“ wieder zur „Natur“, zur selbstverständlichen Gewohnheit und Haltung werden kann, müssen
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mehrere Schritte durchlaufen werden, teils nacheinander, teils parallel. Wartung Der allererste Schritt ist also die „Wartung“: „Ernährung brauchen wohl die meisten Tiere, aber keine Wartung. Unter Wartung nämlich versteht man die Vorsorge der Eltern, daß die Kinder keinen schädlichen Gebrauch von ihren Kräften machen. Sollte ein Tier z. E. gleich, wenn es auf die Welt kommt, schreien, wie die Kinder es tun: so würde es unfehlbar der Raub der Wölfe und anderer wilden Tiere werden, die es durch sein Geschrei herbeigelockt“ (XII, 697).
Die Eltern müssen das Kind also vor seiner natürlichen Wildheit schützen, damit es Mensch werden kann. Später im Text widmet Kant sich in aller Ausführlichkeit der Erziehung des Kleinkindes – der Ernährung möglichst mit der Muttermilch, der Vermeidung von Branntwein, der Abhärtung durch kühle Umgebung und harte Lager, der Vermeidung des Wiegens, aber auch der Leitbänder und Gängelwägen. Hier geht es insgesamt um physische Erziehung, und zwar im negativen Sinn: „Überhaupt muß man merken, daß die erste Erziehung nur negativ sein müsse, d. h. daß man nicht, über die Vorsorge der Natur, noch eine neue hinzutun müsse, sondern die Natur nur nicht stören dürfe. Ist je die Kunst in der Erziehung erlaubt, so ist es allein die der Abhärtung“ (XII, 716).
Die Wartung bildet also die erste Voraussetzung und zugleich (Vor-)Stufe aller Erziehung. Dann folgt die Disziplin, die „Zucht“ – warum sie nach Kant nötig ist, habe ich bereits angedeutet; sie dient der „Abschleifung seiner Rohigkeit“ (XII, 699) und ist also ebenfalls negativ definiert: „Bei der Erziehung muß der Mensch also: 1) diszipliniert werden. Disziplinieren heißt suchen zu verhüten, daß die Tierheit nicht der Menschheit, in dem einzelnen sowohl, als gesellschaftlichen Menschen, zum Schaden gereiche. Disziplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit“ (XII, 706).
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Kultivierung Auf dieser Grundlage kann dann die „Unterweisung“ einsetzen, die gemeinsam mit der Zucht die „Bildung“ ausmacht. Die Unterweisung kultiviert den Menschen; der umgepflügte Acker kann nun gedüngt werden. Es geht um die Basisqualifikationen, die Kulturtechniken. „2) Muß der Mensch kultiviert werden. Kultur begreift unter sich die Belehrung und die Unterweisung. Sie ist die Verschaffung der Geschicklichkeit. Diese ist der Besitz eines Vermögens, welches zu allen beliebigen Zwecken zureichend ist. Sie bestimmt also gar keine Zwecke, sondern überläßt das nachher den Umständen. Einige Geschicklichkeiten sind in allen Fällen gut, z. E. das Lesen und Schreiben; andere nur zu einigen Zwecken, z. E. die Musik, um uns beliebt zu machen. Wegen der Menge der Zwecke wird die Geschicklichkeit gewissermaßen unendlich“ (ebd.).
In physischer Hinsicht geht es erst einmal um die Kultivierung der körperlichen Geschicklichkeit und der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit, um „Stärke, Geschicklichkeit, Hurtigkeit, Sicherheit“ (XII, 725), um „Laufen –[...] Springen, Heben, Tragen“, Schleudern, Werfen, Ringen – um Übungen des Körpers und seiner Sinne. Muntere Kinder wünscht Kant: „Es kann eher aus einem muntern Knaben ein guter Mann werden, als aus einem naseweißen, klug tuenden Burschen“ (XII, 728). Kant hat seinen Rousseau sehr genau gelesen, den er an dieser Stelle auch zitiert: „Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt!“ (ebd.). Die Kultivierung des Körpers muss auch von einer Kultivierung der Seele, des Geistes begleitet werden, die wiederum zunächst nur auf eine eher formale Geschicklichkeit, noch nicht auf Moral zielt. Kant rechnet sie daher ebenfalls zur physischen Erziehung. Es sind gewissermaßen allgemeine Kompetenzen, ein frühes Konzept von dem, was man heute Schlüsselqualifikationen nennt, worum es ihm hier geht: Da gibt es die freie Bildung im Spiel, der Kant durchaus ihren Platz einräumt, aber doch eher zur Erholung. Viel wichtiger nämlich ist ihm die scholastische Bildung. Hier geht es um die Erziehung zur Arbeit:
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„Die scholastische Bildung soll für das Kind Arbeit, die freie soll Spiel sein [...] Bei der Arbeit ist die Beschäftigung nicht an sich selbst angenehm, sondern man unternimmt sie einer andern Absicht wegen [...] Es ist von der größesten Wichtigkeit, daß Kinder arbeiten lernen. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muß. Durch viele Vorbereitungen muß er erst dahin kommen, daß er etwas zu seinem Unterhalte genießen kann [...] Der Mensch muß auf eine solche Weise okkupieret sein, daß er mit dem Zwecke, den er vor Augen hat, in der Art erfüllt ist, daß er sich gar nicht fühlt, und die beste Ruhe für ihn ist die nach der Arbeit. Das Kind muß also zum Arbeiten gewöhnt werden. Und wo anders soll die Neigung zur Arbeit kultiviert werden als in der Schule? Die Schule ist eine zwangmäßige Kultur. Es ist äußerst schädlich, wenn man das Kind dazu gewöhnt, alles als Spiel zu betrachten. Es muß Zeit haben, sich zu erholen, aber es muß auch eine Zeit für dasselbe sein, in der es arbeitet“ (XII, 729ff.).
In der zeitgenössischen Literatur, etwa bei den Philanthropen, gab es für diese Aufgabe den schönen Begriff der Befleissigung: darum geht es hier. Neben der körperlichen und sinnlichen Übung sollen die unteren Verstandeskräfte – Erkenntnisvermögen, Sinne, Einbildungskraft, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Witz, Einbildungskraft – dabei gewissermaßen nebenbei kultiviert werden, immer freilich schon im Blick auf die oberen Verstandeskräfte: Verstand, Urteilskraft, Vernunft, die auch schon auf kindlicher Stufe kultiviert, d.h. geschickt gemacht werden sollen. Kant führt dies konsequent in den moralischen Bereich des Kindes fort, der sich auf Maximen gründen soll: „Nach Maximen soll das Kind handeln lernen, deren Billigkeit es selbst einsieht [...] Bei der moralischen Kultur soll man schon frühe den Kindern Begriffe beizubringen suchen von dem, was gut oder böse ist. Wenn man Moralität gründen will: so muß man nicht strafen. Moralität ist etwas so Heiliges und Erhabenes, daß man sie nicht so wegwerfen und mit Disziplin in einen Rang setzen darf. Die erste Bemühung bei der moralischen Erziehung ist, einen Charakter zu gründen. Der Charakter besteht in der Fertigkeit, nach Maximen zu handeln [...] Man muß bei Kindern aber nicht den Charakter eines Bürgers, sondern den Charakter eines Kindes bilden“ (XII, 740f.).
Da geht es um Gehorsam, Wahrhaftigkeit und schließlich, immerhin nicht ganz so streng, auch um Geselligkeit.
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„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ Nun kann auch der dritte Begriff dieser Frage und damit die Frage im Ganzen näher bestimmt werden: indem ich den Menschen geschickt und damit überhaupt erst zum Menschen jenseits seiner ursprünglichen Tierheit mache: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ (XII, 699). Durch die Kultivierung also wird der Mensch endgültig zum Menschen. Zivilisierung Aber dieser Mensch bedeutet noch keineswegs das Ende der Erziehung; dieses Kind hat ja erst die allgemein menschlichen Kompetenzen erworben. Es ist zwar schon Mensch, aber noch fehlt ihm die Ausstattung zum Bürger. Kant trennt zunächst, wie zeitgenössisch üblich, zwischen Mensch und Bürger – wir werden schließlich sehen, dass seine eigentliche Leistung darin besteht, dass er diese Trennung wieder überwindet bzw. aufhebt. Civis, der Bürger, steckt in „Zivilisierung“, dem nächsten Aufgabenfeld der Erziehung: „3) Muß man darauf sehen, daß der Mensch auch klug werde, in die menschliche Gesellschaft passe, daß er beliebt sei, und Einfluß habe. Hiezu gehört eine gewisse Art von Kultur, die man Zivilisierung nennet. Zu derselben sind Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit erforderlich, derzufolge man alle Menschen zu seinen Endzwecken gebrauchen kann. Sie richtet sich nach dem wandelbaren Geschmacke jedes Zeitalters. So liebte man noch vor wenigen Jahrzehenden Zeremonien im Umgange“ (XII, 706f.).
Zielt die Kultivierung auf die Geschicklichkeit, so die Zivilisierung auf pragmatische Weltklugheit: „Der scholastischen Bildung oder der Unterweisung bedarf der Mensch, um zur Erreichung aller seiner Zwecke geschickt zu werden [Kultivierung; E.L.]. Sie gibt ihm einen Wert in Ansehung seiner selbst als Individuum. Durch die Bildung zur Klugheit aber wird er zum Bürger gebildet, da bekommt er einen öffentlichen Wert. Da lernt er sowohl die bürgerliche Gesellschaft zu seiner Absicht lenken, als sich auch in die bürgerliche Gesellschaft schicken [...] Alle Klugheit setzt Geschicklich-
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keit voraus. Klugheit ist das Vermögen, seine Geschicklichkeit gut an den Mann zu bringen“ (XII, 713).
Während die Kultivierung noch im Grenzbereich zwischen physischer und moralischer Erziehung liegt, gehört die Zivilisierung im Kern bereits zur praktischen Erziehung, in der es um den Menschen als ein frei handelndes Wesen geht. Zivilisierung zielt erst einmal auf „die Kunst des äußern Scheines“, den „Anstand“ (XII, 747). Anstand, Wackerheit, Mäßigung: die „Lust zum Wollen“ ist hier gefragt, die Lust, in die Gesellschaft aktiv einzugreifen und sich passiv auf sie einzulassen. Dazu muss man die Regeln beherrschen, die den Umgang und Verkehr miteinander zum jeweiligen Vorteil erlauben; das klingt nicht nur utilitaristisch, sondern ist es auch. Zivilisierung zielt, modern gesprochen, auf win-winSituationen, in der die Bürger sich gegenseitig für ihre ökonomischen und sozialen Zwecke gebrauchen. Die Konvention bietet einen Rahmen, der die möglichen Ambivalenzen des individuellen Freiheitsgebrauchs radikal eingrenzt und dadurch friedliche Wechselseitigkeit, Reziprozität möglich macht. Moralisierung Aber nach welchen Regeln soll man aktiv sein? Und wie kann man diese Regeln lernen? Welchen Zielen kann und darf man folgen? Und wie kann man das lernen? „4) Muß man auf die Moralisierung sehen. Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, daß er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können“ (XII, 707).
Hier liegt das Ziel der Erziehung: Das Kind, der Jugendliche, soll durch Erziehung dahin gebracht werden, dass er als Erwachsener jederzeit dem kategorischen Imperativ folgen kann und folgen will. Es geht um die Erziehung zur Sittlichkeit, um Mut, Sympathie, Charakter. Dafür muss schon das Kind zweierlei Pflichten nachkommen, den Pflichten gegenüber sich selbst, und den Pflichten gegenüber anderen. Würde und Anstand, die von Anfang an Selbstachtung ermöglichen, fordert Kant als Pflichten gegenüber sich selbst; Rechtschaffenheit, Achtung vor dem Recht, Annahme 191
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der sozialen Pflichten als Pflichten gegenüber anderen. Entscheidend ist dabei die Hinführung zum eigenen vernunftgemäßen Handeln aus moralischen Gründen, zu einem Handeln, das auch vor dem Gewissen bestehen kann. Hier, genau an dieser Stelle, kommt die Religion ins Spiel: „Was ist denn aber Religion? Religion ist das Gesetz in uns, in so ferne es durch einen Gesetzgeber und Richter über uns Nachdruck erhält; sie ist eine auf die Erkenntnis Gottes angewandte Moral. Verbindet man Religion nicht mit Moralität, so wird Religion bloß zur Gunstbewerbung. Lobpreisungen, Gebete, Kirchengehen sollen nur dem Menschen neue Stärke, neuen Mut zur Besserung geben oder der Ausdruck eines von der Pflichtvorstellung beseelten Herzens sein. Sie sind nur Vorbereitungen zu guten Werken, nicht aber selbst gute Werke, und man kann dem höchsten Wesen nicht anders gefällig werden als dadurch, daß man ein besserer Mensch werde. Zuerst muß man bei dem Kinde von dem Gesetze, das es in sich hat, anfangen. Der Mensch ist sich selbst verachtenswürdig, wenn er lasterhaft ist. Dieses ist in ihm selbst gegründet, und er ist es nicht deswegen erst, weil Gott das Böse verboten hat. Denn es ist nicht nötig, daß der Gesetzgeber zugleich auch der Urheber des Gesetzes sei. So kann ein Fürst in seinem Lande das Stehlen verbieten, ohne deswegen der Urheber des Verbotes des Diebstahles genannt werden zu können. Hieraus lernt der Mensch einsehen, daß sein Wohlverhalten allein ihn der Glückseligkeit würdig mache. Das göttliche Gesetz muß zugleich als Naturgesetz erscheinen, denn es ist nicht willkürlich. Daher gehört Religion zu aller Moralität. [...] Das Gesetz in uns heißt Gewissen. Das Gewissen ist eigentlich die Applikation unserer Handlungen auf dieses Gesetz. Die Vorwürfe desselben werden ohne Effekt sein, wenn man es sich nicht als den Repräsentanten Gottes denkt, der seinen erhabenen Stuhl über uns, aber auch in uns einen Richterstuhl aufgeschlagen hat. Wenn die Religion nicht zur moralischen Gewissenhaftigkeit hinzukommt: so ist sie ohne Wirkung“ (XII, 755f.).
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Die Kontingenz der Freiheit 3 Dieser Prozess der Erziehung klingt insgesamt hoch plausibel, rational, begründbar, praktisch beherrschbar und steuerbar – von Kontingenz offenbar keine Spur. Aber der Schein trügt. Kant weiß genau, dass er sich auf einem Gebiet bewegt, dass keine Letztbegründungen zulässt. Bereits die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) endet mit einer Thematisierung der grundsätzlichen Unmöglichkeit, die Freiheit vollständig zu begründen. Die Unsicherheit resultiert insbesondere daraus, dass die angestrebte Autonomie, die sich im Kategorischen Imperativ äußert, letztlich unbegreiflich bleibt: die menschliche Vernunft kann „ein unbedingtes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Notwendigkeit nach nicht begreiflich machen“ (VII, 101): Könnte die Vernunft dieses Gesetz ganz begreifen, wäre es vollständig bedingt und damit gerade nicht mehr Zeichen der Freiheit, der Autonomie. Wir kennen also den Grund oder die Gründe der Freiheit nicht, wir können ihn oder sie auch nicht erkennen, „wir begreifen aber doch seine [der moralische Imperativ; E.L.] Unbegreiflichkeit“ (VII, 102): Und so müssen wir mit dieser wie auch immer begründeten Freiheit umgehen lernen. Die Freiheit ist das ursprünglich kontingente Schicksal des Menschen, dem er sich nicht entziehen kann. Diese Aporie bildet die Grundlage auch aller Pädagogik. Ein zweites kommt hinzu. Es ist ja keineswegs gesichert – und empirisch auch nach Kants Einsicht eher die Ausnahme –, dass Menschen den Zustand der Autonomie erreichen oder auch nur erreichen wollen. Bekanntlich ist es in manchen Hinsichten sehr viel gemütlicher und bequemer, im Zustand der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu verbleiben. Und es gibt keinerlei pädagogische Garantie dafür, dass Menschen unter pädagogischem Einfluss tatsächlich die Disposition entwickeln, den Ausgang in die Freiheit und damit in die moralische Verantwortung zu suchen; es bedarf einer „Revolution in dem Innern des Menschen“ (XII, 549) dafür, wie Kant in der „Anthropologie“ schreibt: Der Mensch muss sich auch auf seine eigenen moralischen Urteile stellen wollen. Das kann pädagogisch zwar nahegelegt werden, aber mehr ist nicht möglich. Diese „Revolution“ bleibt pädagogisch
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Für guten Rat zu diesem Abschnitt danke ich Jörg Zirfas.
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unverfügbar. Aber nur wenn dieser fruchtbare Moment stattfindet, kann die Moralisierung gelingen, die ja auf Selbsterziehung innerhalb des Status der Mündigkeit hinausläuft. Interessanterweise sieht Kant aber unabhängig davon eine grundsätzlich von allen vernünftigen Menschen erreichbare wichtige Entwicklungsstufe im Erwachsenenalter – auch wenn die wiederum keineswegs alle Menschen erreichen. Es geht um die Charakterbildung: „Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewusst ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muß ihn jederzeit erworben haben. Man kann auch annehmen: dass die Gründung desselben, gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut, sie, und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche, ihm unvergeßlich mache“ (XII, 636f.).
Diesen autonom inszenierten und ritualisierten Übergang zum „Mann von Grundsätzen“ (XII, 638), wahrhaftig sich selbst und allen anderen gegenüber, sieht Kant aber erst im fortgeschrittenen Mannesalter als möglich an, und auch hier bedarf es einer pädagogisch unverfügbaren inneren „Explosion“: „Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instinkts auf einmal erfolgt, bewirken. Vielleicht werden nur wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben“ (XII, 637).
Der Ausgang aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ setzt eben die freiwillige Überwindung des Mangels an Entschlußkraft und Mut, sowie die Überwindung der Faulheit und der Feigheit, also der Bequemlichkeit, voraus: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein“ (XI, 53).
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Warum es die einen schaffen, und die anderen nicht, bleibt da durchaus offen und wohl auch dem Zufall überlassen. Aber es liegt in der kontingent verursachten Freiheit des Menschen, sich selbst zur Mündigkeit zu entschließen.
2. Kant als Klassiker der Pädagogik Dass Kant ein Klassiker der Pädagogik ist, bedarf eigentlich keiner weiteren Begründung und Darstellung. Es ist völlig unverständlich, dass er weder von Hans Scheuerl in den 70er Jahren (1979) noch von Heinz-Elmar Tenorth (2003) und Bernd Dollinger (2006) in jüngster Zeit in die jeweiligen Publikationen zu pädagogischen Klassikern aufgenommen wurde. Aufklärung, Mündigkeit, Erkenntnis, Geschmack, Moralität, Verstand, Vernunft – wer solche Begriffe zum hauptsächlichen Gegenstand seines Nachdenkens wählt, landet quasi automatisch bei pädagogischen Fragen. Es ist daher sicher kein Zufall, dass Kant am Ende seines Lebens doch noch eine Summe seines pädagogischen Nachdenkens gesichert sehen wollte. Er selbst hatte nicht mehr die Kraft, ein eigenständiges Werk zu verfassen; ersatzweise hat er einen seiner Schüler beauftragt, der dann nach bestem Wissen und Können den Auftrag für seinen alten Lehrer kurz vor dessen Tod ausgeführt hat. Der Titel der Originalausgabe lautet daher: „Immanuel Kant über Pädagogik. Herausgegeben von D. Friedrich Theodor Rink. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius, 1803“. Der Text beruht auf Vorlesungsmitschriften und Kants eigenen Notizen. Kant hat die Vorlesung mehrfach gehalten; sie gehörte standardmäßig zu seinen Aufgaben. Damals wusste man eben noch um den Zusammenhang von Pädagogik und Philosophie. Bei seinen Vorlesungen hatte Kant sich seinerseits auf zeitgenössische pädagogische Texte gestützt; er war ein aufmerksamer Beobachter der pädagogischen Diskussion. Philologisch ist das zwar ein etwas unsicherer Boden, auf dem man sich da bewegt; nichtsdestoweniger werden die grundlegenden Überlegungen und auch Formulierungen in der Regel Kant zugeschrieben. Und so gilt diese Schrift als das letzte größere Werk Kants. Daran werde ich mich halten und nicht in unentscheidbare Spekulationen über die Authentizität der Formulierungen einsteigen. Unmittelbar vorausgegangen und noch ganz aus eigener Feder stammend war die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798 bzw. in zweiter, überarbeiteter Auflage 1800
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im gleichen Verlag erschienen). Am Ende seines Lebens und seiens Werkes stand die Frage nach dem Menschen und seiner Erziehung. Der Text ist nicht sehr umfangreich, in der „Werke-Ausgabe“ des Insel- bzw. dann des Suhrkamp-Verlages umfasst er gut 60 Seiten (XII, 695-761). Auf die Rink’sche „Vorrede“ folgt eine 15seitige „Einleitung“ zu einer dann 50seitigen Abhandlung, die sich nach einer erneuten kurzen Einleitung ihrerseits in zwei Teile gliedert: 33 Seiten über die „physische“, 15 Seiten über die „praktische“ Erziehung. Schon daraus wird ersichtlich, dass es sich doch eher um Fragmente handelt – auch der gelegentlich unscharfe Begriffsgebrauch und die nicht sonderlich überzeugende systematische Ordnung des Textes lassen gelegentlich schmerzlich Kants sonst so überzeugende systematische und begriffliche Kraft vermissen. Dennoch lassen sich die Grundgedanken gut erkennen und finden sich grandiose Überlegungen und Formulierungen. Davon einen Eindruck zu geben war die Absicht des ersten Teils. Dabei bin ich bewusst nicht auf die komplexe Einbettung der pädagogischen Überlegungen in die Geschichtsphilosophie eingegangen – das hätte den Rahmen dieser Skizze einfach gesprengt. Aber wenigstens einen diesbezüglichen Hinweis will ich zitieren: „Vielleicht, daß die Erziehung immer besser werde, und daß jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur. Von jetzt an kann dieses geschehen. Denn nun erst fängt man an, richtig zu urteilen und deutlich einzusehen, was eigentlich zu einer guten Erziehung gehöre. Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte. – Ein Entwurf zu einer Theorie der Erziehung ist ein herrliches Ideal, und es schadet nichts, wenn wir auch nicht gleich imstande sind, es zu realisieren. Man muß nur nicht gleich die Idee für schimärisch halten und sie als einen schönen Traum verrufen, wenn auch Hindernisse bei ihrer Ausführung eintreten. Eine Idee ist nichts anderes, als der Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet. Z. E. die Idee einer vollkommnen, nach Regeln der Gerechtigkeit regierten Republik! Ist sie
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deswegen unmöglich? Erst muß unsere Idee nur richtig sein, und dann ist sie bei allen Hindernissen, die ihrer Ausführung noch im Wege stehen, gar nicht unmöglich. Wenn z. E. ein jeder löge, wäre deshalb das Wahrreden eine bloße Grille? Und die Idee einer Erziehung, die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft. Bei der jetzigen Erziehung erreicht der Mensch nicht ganz den Zweck seines Daseins. Denn wie verschieden leben die Menschen! Eine Gleichförmigkeit unter ihnen kann nur stattfinden, wenn sie nach einerlei Grundsätzen handeln, und diese Grundsätze müßten ihnen zur andern Natur werden. Wir können an dem Plane einer zweckmäßigern Erziehung arbeiten, und eine Anweisung zu ihr der Nachkommenschaft überliefern, die sie nach und nach realisieren kann. [...] Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln und die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten und zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung erreiche. Die Tiere erfüllen diese von selbst, und ohne daß sie sie kennen. Der Mensch muß erst suchen, sie zu erreichen, dieses kann aber nicht geschehen, wenn er nicht einmal einen Begriff von seiner Bestimmung hat. Bei dem Individuo ist die Erreichung der Bestimmung auch gänzlich unmöglich. [...] Soviel ist aber gewiß, daß nicht einzelne Menschen bei aller Bildung ihrer Zöglinge es dahin bringen können, daß dieselben ihre Bestimmung erreichen. Nicht einzelne Menschen, sondern die Menschengattung soll dahin gelangen“ (XII, 700ff.).
3. Mündigkeit „Wie lange aber soll die Erziehung denn dauern? Bis zu der Zeit, da die Natur selbst den Menschen bestimmt hat, sich selbst zu führen; da der Instinkt zum Geschlechte sich bei ihm entwickelt; da er selbst Vater werden kann, und selbst erziehen soll, ohngefähr bis zu dem sechzehnten Jahre“ (XII, 710).
Kant setzt den Zeitpunkt des Endes der Erziehung, den Zeitpunkt der Mündigkeit für unser heutiges Empfinden erstaunlich früh an. In diesem Punkt unterscheidet er sich deutlich von Rousseau, der dem Jüngling wesentlich länger Zeit lässt. Bei Rousseau ist der 16Jährige gerade über die Wirren der Pubertät hinaus und damit reif für die nächsten, die entscheidenden Stufen der Erziehung, in denen es darum geht, erst die Gesellschaft, später die Liebe und schließlich auch den Staat und die Politik kennen zu lernen.
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„Jetzt erst wird der Mann zum wirklichen Leben geboren, und nichts Menschliches ist ihm mehr fremd. Vor diesem Augenblick war unser Bemühen bloßes Kinderspiel – von nun an erst gewinnt es wirkliche Bedeutung. Diese Entwicklungsphase, bei der die übliche Erziehung zu enden pflegt, ist genau die, da die unsrige zu beginnen hat“ (Rousseau 1762/1963: 440).
Bis zur Erwachsenheit, bis zum Status des Familienoberhaupts und Staatsbürgers liegt noch ein mehrere Jahre langer Weg vor dem 16-jährigen Emile: Der 22-Jährige, seit zwei Jahren schon in Sophie verliebt, wird noch einmal auf eine lange Bildungsreise geschickt, ehe er in den Armen Sophies im Hafen der Ehe endlich wirklich erwachsen und Vater werden darf. Es sind interessante Gemeinsamkeiten und Differenzen, die sich da zwischen Rousseau und Kant auftun; sie sind relevant bis heute. Es geht um die Frage der Erziehungsbedürftigkeit und damit um die Definition des Erwachsenen. In Kants Stufenmodell gehört die entscheidende Phase, die „Moralisierung“, im Kern nicht mehr zur – zwar möglichst freien, aber im Kern doch notwendig fremdbestimmten – Erziehung, sondern zur autonomen, lebenslangen Selbsterziehung des Erwachsenen. Die Erziehung des Kindes und Jünglings durchläuft die Phasen der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und bereitet damit die Autonomie des mit etwa 16 Jahren moralisch selbst verantwortlichen und damit in die Erwachsenheit zu entlassenden jungen Mannes vor. Rousseau hingegen entlässt den 16-Jährigen nicht unmittelbar in die Erwachsenheit, sondern schaltet ein längeres Moratorium dazwischen, das durch ein auf freiem, gegenseitigem Einvernehmen beruhendes Erziehungs- und Bildungsbündnis zwischen dem Erzieher und seinem Zögling gekennzeichnet ist. Kant bindet den Zeitpunkt der sozialen Erwachsenheit an die Geschlechtsreife und damit an die Natur. Rousseau dagegen bindet diesen Zeitpunkt ausschließlich an soziale Reife und damit an die Kultur; die natürliche Geschlechtsreife ist da nur ein markanter Zwischenschritt. Zwischen diesen Polen spielt sich seit der Aufklärung Erwachsenwerden in historischer, aber auch in sozialer Hinsicht ab. „16“ ist immer doppelt determiniert, steht immer im Spannungsfeld zwischen biologischer und sozialer Reife. Rousseau und Kant stimmen darin überein, dass „16“, der Zeitpunkt der Geschlechtsreife, zugleich den Zeitpunkt der Selbstbestimmung bedeute. Aber
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was dann folgt, unterscheidet sich markant: Kants mündiger wackerer Mann muss arbeiten und sich mit voller Verantwortung im Leben bewähren; Rousseaus unmündiger Zögling darf das gesellschaftliche Leben, die Liebe und die Politik erfahren und sich weiter bilden. Der eine ist ein junger erwachsener Mann, der andere ein Jüngling. Rousseau hat das Modell des Jugendmoratoriums der letzten zweihundert Jahre bestimmt. Es gibt indessen starke Hinweise darauf, dass dieses Modell seine historische Zeit hinter sich hat. Pluralisierung der Lebensformen, Individualisierung und Biographisierung der Lebensführung sind inzwischen längst gängige Topoi zur Beschreibung und Analyse der Situation (nicht nur) junger Leute. Diese direkt mit den Modernisierungsprozessen verbundenen Dimensionen weisen darauf hin, dass „16“ je nach Milieu und Lebensform und je nach subjektiver Interpretation und Option völlig Unterschiedliches bedeuten kann, wobei nach hier einigermaßen einhelliger wissenschaftlicher Einschätzung die subjektiven Haltungen an Bedeutung gewonnen haben und weiter gewinnen werden. Aber der Wunsch nach Beteiligung an Kommunikation ist in den modernen Gesellschaften ubiquitär. Handy und Internet stehen für eine ortlose, weltweit gleichzeitige virtuelle Kommunikation, die von der jüngeren Generation in der Regel weit besser beherrscht und weit intensiver genutzt wird als von der älteren. Häufig werden hier die Jüngeren auch zu Vorbildern und Beratern der Älteren; die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist dabei ubiquitär; da müssen die Älteren erst einmal kultiviert werden. „16“ bedeutet auch kompetente Teilhabe am Medien- und Modegeschehen. Da dieser Konsum indessen erhebliche finanzielle Mittel voraussetzt, die nur selten im gewünschten Ausmaß von den Eltern bereitgestellt werden (können), hat sich die jobförmige Schülerarbeit neben der Schule nahezu vollständig durchgesetzt; sie gehört inzwischen zu den Selbstverständlichkeiten. Sie hebt das traditionelle, rousseauistische Moratorium auf. Denn die Jugendlichen suchen nicht nur aus Gründen der Finanzierung des gewünschten Konsums neben ihrer Bildungsarbeit Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit, sondern auch aus Gründen der Unzufriedenheit mit ihrem bloßen Schüler-Status, also aus Sinnmotiven. Sie wollen schon in der Gegenwart und nicht erst in einer nur schwer oder gar nicht kalkulierbaren Zukunft etwas 199
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„Richtiges“ tun, das nicht nur symbolisch, sondern auch materiell belohnt wird. Sie wollen sich damit in die Gesellschaft integrieren und ernst genommen werden. Sie suchen Erfahrung und Anerkennung und wollen Verantwortung übernehmen, nicht nur in der Schule, sondern auch durch Erwerbsarbeit – und in der Liebe sowieso; die Verantwortung für Kinder können und wollen sie freilich noch nicht übernehmen. Aber das alte Moratorium ist am Ende. Offenbar behält Kant, wie in anderen Themen auch, auf die Dauer gegenüber Rousseau Recht. Offenbar ist er der modernere Denker. Vielleicht ist „16“ kein schlechtes Datum für das Ende der Erziehung? Richtig erwachsen kann man dann ja mit 30 oder 40 Jahren werden.
Literatur Dollinger, Bernd (Hg.) (2006): Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft. Wiesbaden: VS. Kant, Immanuel (1783/1968): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. XI. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 53–61. Kant, Immanuel (1785/1968): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. VII. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 7-102. Kant, Immanuel (1800/1968): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Zweyte verbesserte Auflage [Königsberg]. In: Ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. XII. Frankfurt/M. Suhrkamp: S. 395-690. Kant, Immanuel (1803/1968): Immanuel Kant über Pädagogik. Herausgegeben von D. Friedrich Theodor Rink. [Königsberg, bey Friedrich Nicolovius]. In: Ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. XII. Frankfurt/M.: Suhrkamp: S. 691-761. Liebau, Eckart (2007): Kant. Über Pädagogik. In: Vidal, Fancesca (Hg.): Bloch-Jahrbuch 2007: Träume von besserer Bildung. Mössingen-Talheim: Talheimer, S. 56-70. Rousseau, Jean-Jacques (1762/1963): Emile oder Über die Erziehung. Hg. von Martin Rang. Stuttgart: Reclam. Scheuerl, Hans (Hg.) (1979): Klassiker der Pädagogik. 2 Bde. München: Beck. Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.) (2003): Klassiker der Pädagogik. 2 Bde. München: Beck.
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Michael von Engelhardt
Biographie und Trauma
Einleitung Die Menschheitsgeschichte ist begleitet von vielfältigen Katastrophen, die in das kollektive und individuelle Leben einbrechen, dort tief greifende seelische und soziokulturelle Verletzungen hervorrufen und mit unterschiedlichem Erfolg und Ergebnis bewältigt werden. Zur Kulturgeschichte der Menschen gehören reichhaltige Darstellungen solcher Katastrophen und Verletzungen und die Entwicklung unterschiedlicher Versuche der Deutung und Bewältigung. Die westliche Moderne stellt einen charakteristischen Abschnitt in der Geschichte der menschlichen Katastrophen und Verletzungen, ihrer Interpretationen und Bewältigungsformen dar. Sie ist die Geschichte des modernen Traumas. In diesem Beitrag soll der Einbruch traumatischer Erfahrungen in die Biographie des Menschen und deren Verarbeitung behandelt und in einen Zusammenhang mit der Kontingenzerfahrung in der Moderne gebracht werden. Zunächst wird das grundlegende Verhältnis von moderner Biographie und Kontingenz dargelegt, dann wird aufgezeigt, dass die Moderne das Trauma zugleich erzeugt und entdeckt. Vor diesem Hintergrund werden das Trauma und dessen Verarbeitung in einer biographischen Betrachtungsperspektive eingehender untersucht.
1. Biographie und Kontingenz Die Geschichte der Moderne geht einher mit der Herausbildung und Durchsetzung der modernen Biographie zur bestimmenden Lebensform der Menschen. Die Lebensform der modernen Biographie ist aufs engste verknüpft mit Kontingenz, die als ein spezifisches Kennzeichen der Moderne gilt (Luhmann 1992; Makropoulos 1998). 1 Kontingenz bezieht sich als Erfahrung und Begriff 1
Da Kontingenz (als Erfahrung und Deutung) unterschiedliche historische Ausprägungen annimmt, ist es angemessener von einer spe-
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auf das, was nicht notwendig ist, was aber möglich und zugleich nicht unmöglich ist. 2 Aus der Entgegensetzung zum (wie immer begründeten) Notwendigen und Unmöglichen ergeben sich zwei konträre Bedeutungen von Kontingenz, denen zwei konträre lebensweltliche Erfahrungen und Deutungen der Menschen entsprechen. Auf der einen Seite bezieht sich Kontingenz auf den Bereich des Zufälligen, Beliebigen, Unerwarteten, des Gesetz- und Regellosen, aber auch des Sinnlosen, dem der Mensch ausgeliefert ist. Zum anderen bezieht es sich auf den Bereich der gestaltbaren Möglichkeiten, der dem Menschen überhaupt erst Entscheiden und Handeln eröffnet. Das Notwendige und die Kontingenz des Zufälligen und Regellosen stellen zusammen für den Menschen und sein Handeln die Sphäre des Unverfügbaren dar, allerdings in einer sehr unterschiedlichen Weise. Auf das, was mit (absoluter oder relativer) Notwendigkeit (als Natur, als göttliche Ordnung, als verbindlich vorgegebene Kultur und Sozialordnung) besteht, kann sich der Mensch, wenn er davon Kenntnis hat, in seinen Entscheidungen und seinem Handeln einstellen, auf die Kontingenz des Zufalls und des Unvorhersehbaren nicht. Die Kontingenz des Zufalls und des Unvorhersehbaren nimmt in der lebensweltlichen Erfahrung des Menschen extrem unterschiedliche Ausprägungen an – als einbrechendes Unglück und Gewalt, als erschreckende oder bereichernde Überraschung oder als unverhofftes Glück. So kann von der positiven und negativen Kontingenz des Zufalls und des Unvorhersehbaren gesprochen werden. Von dem Notwendigen und der Kontingenz des Zufalls und des Unvorhersehbaren grenzt sich die Kontingenz der gestaltbaren Möglichkeit, der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit als Sphäre des für den Menschen Verfügbaren ab. Auch hier lässt sich aus der lebensweltlichen Perspektive der Menschen heraus von einer positiven und negativen Kontingenz der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit sprechen – als Chance des Entscheiden- und des
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zifischen Charakteristik der Kontingenz in der Moderne zu sprechen. Vgl. etwa die klassische Definition von Luhmann: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist“ (1984: 152).
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MICHAEL VON ENGELHARDT: BIOGRAPHIE UND TRAUMA
Handelnkönnens und als Zwang des Entscheiden- und Handelnmüssens. Die Herausbildung der modernen Biographie beruht auf dem doppelten Prozess der Freisetzung von Kontingenz und der Begrenzung von Kontingenz. In der traditionalen Gesellschaft ist die Kontingenz der Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten im menschlichen Lebenslauf stark durch eine verbindliche Struktur begrenzt, die sich aus der festen Verankerung in den soziokulturellen Gegebenheiten des Standes, der Familie und der Geschlechterordnung und aus deren normativen Legitimationen sowie aus einem übergreifenden religiösen Weltbild ergibt. Hungersnöte, Epidemien und Kriege, die ständige Gegenwart von Krankheit und Tod, Willkürhandlungen der Obrigkeit und der Mitmenschen und vieles andere mehr bewirken, dass das Leben in der traditionalen Gesellschaft zugleich durch die Kontingenz des Zufalls und Unvorhersehbaren geprägt ist. Die Herausbildung der modernen Biographie vollzieht sich als der Aufbruch des Menschen in die Moderne, der mit der Lösung der vor ihm liegenden Zukunft aus der traditionellen Einbindung in die überkommene Vergangenheit einhergeht. Das, was der Mensch ist und sein wird, ergibt sich immer weniger mit (mehr oder minder) zwingender Notwendigkeit aus den sozialen Verhältnissen und kulturellen Vorgaben, in die er hineingeboren wird. Der Mensch wird zu einem Wesen mit einer biographischen Geschichte, die er (als sozialen Werdegang und psychosoziale Entwicklung) selbst zu gestalten und sich und anderen gegenüber zu verantworten hat (Engelhardt 2006). Diese Entkoppelung des Erwartungshorizonts der Zukunft von dem Erfahrungsraum der Vergangenheit, die nach Reinhard Kosselek (1979) ihren entscheidenden Schub in der „Sattelzeit“ zwischen 1750 und 1850 erfahren hat und die bis in die Gegenwart hinein anhält, eröffnet Kontingenz als (sich ausweitender) Möglichkeitsraum biographischen Entscheidens und Handelns. Der Einzelne kann und muss seine Biographie im Rahmen dieses Möglichkeitsraums gestalten. So gründet die moderne Biographie auf der Freisetzung der Kontingenz der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit des Menschen. Damit diese Kontingenz der Möglichkeit für kurz- und längerfristiges biographisches Entscheiden und Handeln überhaupt genutzt werden kann, bedarf es aber halbwegs stabiler Grundlagen 203
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und Rahmenbedingungen, auf die der Mensch sich einstellen und verlassen kann. So gründet die moderne Biographie zugleich auf der Eingrenzung der Kontingenz der Zufälle und des Unberechenbaren, die für das Leben in der traditionalen Gesellschaft charakteristisch war. Diese Eingrenzung begleitet die Geschichte der Moderne und schlägt sich nieder in der Entwicklung „von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit“ (Imhof 1988) und in der damit einhergehenden Institutionalisierung des modernen Lebenslaufs (Kohli 1985), die entgegen einer verbreiteten Auffassung in der Gegenwartsmoderne nicht einer De-Institutionalisierung, sondern einer Transformation ausgesetzt ist. Die moderne Biographie und damit biographisches Handeln und modernes Subjektverständnis setzen – so lässt sich zusammenfassend feststellen – die Freisetzung der Kontingenz der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit und die Sicherheit bietende Einschränkung der Kontingenz des Zufalls und des Unberechenbaren voraus. In der Geschichte der Moderne werden diese Voraussetzungen in zunehmendem Maße durchgesetzt und abgesichert. Dies ist aber nur die eine Tendenz. Die moderne Biographie ist zugleich durch eine gegenläufige Tendenz geprägt, die dann in den Blick gerät, wenn Biographie als empirische Erfahrungsgeschichte der Menschen untersucht wird. Die Geschichte der Moderne ist die Geschichte von Umbrüchen, Krisen und Katastrophen, von denen die moderne Biographie direkt oder indirekt betroffen ist und die die Menschen in ihrer Biographie zu bewältigen haben. Zur modernen Biographie gehören (unterschiedlich stark ausgeprägte) Umbrüche und Krisen, die aus der Dynamik der personalen Entwicklung, der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Gesellschaftsgeschichte hervorgehen und die die Kontingenz der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit einschränken (oder auch zu stark ausweiten) und die die Sicherheit bietende Begrenzung der Kontingenz des Zufalls und des Unvorhersehbaren schwächen. Die (unterschiedlich erfolgreiche) Bewältigung dieser Umbrüche und Krisen, in der die Balance zwischen Freisetzung und Einschränkung der beiden Kontingenzen immer wieder neu herzustellen ist, gehört zur biographischen Entwicklungsaufgabe des modernen Subjekts und schlägt sich in dessen Biographie nieder. Von der Gesellschaft und der Gesellschaftsgeschichte, von Mitmenschen und Naturereignissen können Katastrophen und 204
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tief greifende Krisen ausgelöst werden, die einen grundlegend verletzenden Angriff auf den Menschen und seine Biographie darstellen. Einen besonders gravierenden Angriff dieser Art auf die psychisch-soziale Unversehrtheit des Menschen stellt das Trauma dar. Hier werden auf besonders einschneidende Weise die Handlungsmöglichkeiten und die Sicherheiten des Menschen bedroht und beseitigt. Die traumatische Erfahrung stellt eine extreme Form der negativen Kontingenzerfahrung der Moderne dar, indem die Kontingenz der Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeit durch Zwang und Verletzung beseitigt und die Sicherheit und Vertrauen spendende Einschränkung der Kontingenz des Zufalls und Unberechenbaren durch das Einbrechen des überwältigenden Unheils, der Gewalt und des Sinnlosen aufgelöst werden – ein Angriff auf das moderne Subjekt und eine Gefährdung oder auch Zerstörung der Grundlagen seines biographischen Handelns.
2. Moderne und Trauma Die Geschichte der Moderne ist die Geschichte des modernen Traumas, und zwar in einem doppelten Sinne – als Erzeugung und Entdeckung. Im Gegensatz zu den positiven Versprechungen des „Projekts der Moderne“ (Habermas) ist die Geschichte der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts und des gerade begonnenen 21. Jahrhunderts begleitet von der Ausbreitung des modernen Krieges, von Flucht und Vertreibung großer Bevölkerungsgruppen, von organisiertem Massen- und Völkermord, von Verkehrsund Industrieunfällen, von Umwelt- und Naturkatastrophen, von Folter und Geißelnahme, von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch, von körperlicher und seelischer Gewalt und Verwahrlosung. So erzeugt die Moderne zum einen das Phänomen des Traumas, indem sie vielfältige Katastrophen hervorbringt, die in das Leben der Menschen einbrechen und ihnen seelische und soziokulturelle Verletzungen zufügen, die sich gar nicht oder nur schwer heilen lassen und nachhaltig ihre Biographien beeinträchtigen. Zum anderen entdeckt die Moderne das Phänomen des Traumas. Die Moderne entdeckt das Phänomen des psychosozialen Traumas (van der Kolk/Weisaeth/van der Haart 2000; Micale/ Lerner 2001; Seidler/Eckart 2005), indem sich die Erkenntnis
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durchsetzt, dass der Mensch nicht nur körperlichen, sondern auch psychosozialen Verletzungen und Schädigungen ausgesetzt ist, die seine Überlebensfähigkeit in starkem Maße beeinträchtigen und die Hilfs- und Therapiemaßnahmen sowie Unterstützung und Entschädigung notwendig machen. Diese Entdeckung des Traumas steht in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Medizin und Psychologie, zwei Disziplinen, die wesentlich zur Wahrnehmung und Akzeptanz derartiger Verletzungen, zur Definition von Krankheitsbildern und Symptomen und zur Entwicklung von Hilfs- und Therapieformen beigetragen haben. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund eines gewandelten Verständnisses vom Menschen und seines Lebenszusammenhangs, das in verstärktem Maße die Aufmerksamkeit auf mentale und soziale Gefahren und Gefährdungen lenkt. Die Entdeckung des Traumas ist verbunden mit dem Kampf um Anerkennung und Entschädigung der Opfer, deren Adressaten Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen, individuelle und kollektive Verursacher und Täter, staatliche Stellen und die Öffentlichkeit sind. Der Beginn der Entdeckung des modernen Traumas liegt in der Mitte des 19. Jahrhunderts, also am Ende der Schwellenzeit des Übergangs in die Moderne, die auch einen wichtigen Abschnitt in der Durchsetzung der modernen Biographie darstellt. Hier setzt der Kampf um die Anerkennung der psychischen Folgen von Unfällen (mit ihren auch somatischen Auswirkungen) und um die Anerkennung der daran geknüpften Forderungen nach Entschädigung ein. Dabei kommt Eisenbahnunfällen, großen Grubenunglücken und Unfällen in den Industriebetrieben auf der einen und der Etablierung des modernen Versicherungswesens und der Haftpflicht auf der anderen Seite eine gewichtige Bedeutung zu. Ebenso wichtig ist der Kampf um die Anerkennung von psychischen Schädigungen, die Soldaten im Krieg erleiden (Riedesser/Verderber 2004; Eckart 2005), der mit dem Ersten Weltkrieg beginnt, im und nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt wird und bis in die Gegenwart anhält. Einen entscheidenden und zukunftsweisenden Schritt in diesem Kampf bedeutet das Bemühen von US-Soldaten um Anerkennung ihrer schwerwiegenden psychischen Schädigungen in Folge des Vietnamkriegs der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (Lifton 1973). Dieses Bemühen führt dazu, dass sich die Auffassung durchsetzt, dass neben den akuten Belastungen und Schädigungen während und 206
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kurz nach der traumatischen Erfahrung auch längerfristig und verzögert Schädigungen auftreten können. Das trägt wesentlich dazu bei, dass 1980 die „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) in das Diagnosemanual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft aufgenommen wird, das seitdem in unterschiedlichen Varianten weiterentwickelt wurde. Dem folgt 1991 die Aufnahme der Posttraumatischen Belastungsstörung in das Klassifikationssystem psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation. Dies bedeutet die offizielle medizinisch-psychiatrische Anerkennung des Traumas mit seinen weitreichenden psychosozialen (aber auch somatischen) Beeinträchtigungen und Schädigungen. Eine weitere wichtige Entwicklung im Kampf um Anerkennung und Entschädigung, die für die Entdeckung des Traumas von entscheidender Bedeutung ist, beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufdeckung der schwerwiegenden psychischen Auswirkungen des Holocaust auf die Überlebenden (Rossberg/ Lansen 2003). Diese Entwicklung setzt sich später fort in der Auseinandersetzung mit den psychosozialen Folgen von Internierung, Folter und Verfolgung in den unterschiedlichsten totalitären Regimen des 20. und 21. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang werden die lang anhaltenden biographischen Auswirkungen des Traumas, der starke Einfluss auf Partner und Familienangehörige sowie die Nachwirkungen über die Generationen hinweg aufgedeckt und die Formen der Therapie weiterentwickelt. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts werden im Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien die traumatischen Auswirkungen von Kriegen auf die Zivilbevölkerung, von Vergewaltigung, Flucht und Vertreibung ins allgemeine Bewusstsein gehoben, was auch zu einer erneuten Beschäftigung mit den psychosozialen Folgen des Zweiten Weltkriegs führt (Radebold 2004). Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts folgt eine verstärkte Auseinandersetzung mit vergleichbaren Vorgängen in allen Teilen der Welt. Diese Entwicklungen führen zu einem Aufbau von Hilfs- und Therapiemaßnahmen und zu Forderungen, solche Maßnahmen verstärkt auf- und auszubauen. Zugleich wächst das Bewusstsein dafür, wie wichtig die öffentliche Aufarbeitung der politischgesellschaftlichen Hintergründe und Vorgänge der traumatisierenden Ereignisse, die öffentliche Annerkennung des erlittenen 207
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Unrechts, die öffentliche Trauer um die Toten und die öffentliche Verurteilung der Täter für die Bewältigung des Traumas sind. Diese gesellschaftliche Vergangenheitsbewältigung bildet – so wird zunehmend deutlich – eine wichtige Voraussetzung für die individuelle und kollektive Traumabewältigung. In der Zeit zwischen dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und dem Beginn des 21. Jahrhunderts wächst auch das Wissen um die psychosozialen Belastungen und Verletzungen, denen die (überlebenden) Opfer von Industrie- und Verkehrsunfällen, von Naturkatastrophen, von Amoklauf, von Geiselnahme und Terroranschlägen und deren Helfer ausgesetzt sind. Auch hier werden verstärkt (oft allerdings nicht ausreichende) Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen angeboten. Die Entdeckung des Traumas ist schließlich und nicht zuletzt auch mit folgenreichen Tabubrüchen verbunden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts werden von französischen Gerichtsmedizinern die tabuisierten Phänomene des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Kindesmisshandlung aufgedeckt, mit denen sich in der Folgezeit der Neurologe und Psychiater Jean-Martin Charcot (1887) befasst. Für ihn und vor allem auch für seinen Schüler Pierre Janet (1889) sind psychische Störungen (wie die Hysterie) im Erwachsenenalter als posttraumatische Belastungsstörungen zu verstehen, die auf Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung und andere Traumata der Kindheit zurückgehen. Damit wird ein wichtiger Grundstein für die moderne Traumatheorie gelegt. Siegmund Freud entwickelt diese Auffassung in seinem Traumakonzept weiter, das in seine berühmte „Verführungstheorie“ (sexueller Missbrauch in der Kindheit als Ursache späterer psychischer Störungen) Eingang findet (Freud 1896), die er allerdings kurz nach ihrer Bekanntgabe zurücknimmt bzw. revidiert. Nachdem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Phänomene der Kindesmisshandlung und des sexuellern Missbrauchs durchaus zum Thema gemacht werden, werden sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder mit einem Tabu belegt, das bis in das letzte Drittel des Jahrhunderts reicht. Erst in den ausgehenden 70er Jahren werden diese Phänomene dann zusammen mit der Gewalt gegen Frauen zu einem wichtigen Thema in der Öffentlichkeit, in der Wissenschaft und in der Therapie. Das geht damit einher, dass eine Vielzahl weiterer traumatischer Erfahrungen im privaten, aber auch beruflichen Leben in den Blick geraten. 208
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Insgesamt führen die dargelegten Entwicklungen dazu, dass das psychosoziale Trauma zu einem allgemein anerkannten Phänomen wird. Die gewachsene Sensibilisierung im Hinblick auf psychosoziale Verletzungen führt dazu, dass in nahezu allen Erfahrungs- und Lebenszusammenhängen Traumata festgestellt werden. Der Begriff des Traumas geht in die Alltagssprache ein, so dass nun in zunehmendem Maße bei (mehr oder minder) einschneidenden negativen und belastenden Ereignissen von traumatischen Erfahrungen gesprochen wird. Dies hat eine Kritik am inflationären und ungenauen Gebrauch des Traumabegriffs hervorgerufen (Reemtsma 1999), die mit der Befürchtung einer unzulässigen Verharmlosung der schwerwiegenden Traumata verknüpft wird. Dem lässt sich entgegen halten, dass ein breites Spektrum von unterschiedlich schwerwiegenden traumatischen Erfahrungen besteht, die sich im Einzelnen auch genauer charakterisieren lassen, und dass daneben und in einem Übergangsbereich der Begriff Trauma in einem eher übertragenen Sinne auf einschneidende Ereignisse angewendet wird, was in der Regel aus dem jeweiligen Kontext leicht zu erschließen ist. Um besonders gravierende Formen des Traumas hervorzuheben, wird seit einiger Zeit (im Anschluss an Bruno Bettelheim (1980), der die Situation von KZHäftlingen als „Extremsituation“ beschrieben hat), der Begriff „Extremtrauma“ verwendet.
3. Trauma in der Biographie Zwischen Trauma und Biographie besteht ein enger Zusammenhang. Die moderne Biographie ist – wie dargelegt – in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Ausprägung von Krisen und Katastrophen begleitet. Das Trauma lässt sich als eine besonders gravierende biographische Krise und Katastrophe verstehen. Schon in der älteren psychoanalytischen Konzeption des Traumas wird davon ausgegangen, dass das Trauma nur in seiner biographischen Verortung angemessen verstanden und behandelt werden kann. Im Anschluss an Hans Keilson (1979) hat sich die Vorstellung vom Trauma als Prozess, mit dem die Bedeutung der Entwicklung nach dem traumatischen Ereignis hervorgehoben wird, verstärkt durchgesetzt. Jeder traumatischen Erfahrung geht eine biographische Vorgeschichte voraus, die von ganz erheblicher Bedeutung für diese Erfahrung und deren Bewältigung ist.
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Die traumatische Erfahrung ist für die Betroffenen ein einschneidender biographischer Wendepunkt oder ein besonders prägender Lebensabschnitt mit weitreichenden Auswirkungen. Der traumatischen Erfahrung folgt die Nachgeschichte ihrer Verarbeitung, die die weitere biographische Entwicklung prägt. Bei einem Trauma ist zu unterscheiden zwischen dem auslösenden Ereignis und Geschehen und der traumatischen Erfahrung (Fischer/Riedesser 1998). Nicht jedes schlimme Ereignis führt bei jedem Menschen zu einer traumatischen Erfahrung. Manche Ereignisse, die für die einen relativ harmlos erscheinen, können von anderen als traumatisch erlebt werden. In der Wahrnehmung und im Umgang mit derartigen Ereignissen bestehen erhebliche Unterschiede zwischen Kulturen, sozialen Gruppen und einzelnen Personen. Nicht das Ereignis an sich also führt zum Trauma. Vielmehr entfaltet das Ereignis erst innerhalb des jeweiligen soziokulturellen Kontextes seine traumatische Bedeutung und Wirkung, d.h. vor dem Hintergrund der in den Menschen verankerten kulturspezifischen Vorstellungen von menschlicher Unversehrtheit und von als besonders schlimm empfundenen Verletzungen 3 sowie vor dem Hintergrund der kulturspezifischen Formen des Schutzes, der Deutung und des praktischen Umgangs mit einbrechendem Unheil. Innerhalb dieses soziokulturellen Rahmens wird das Ereignis dann erst auf der Grundlage der biographischen Vorgeschichte und der psychosozialen Konstitution der betroffenen Personen zu einer traumatischen Erfahrung. Die biographische Vorgeschichte und die psychosoziale Konstitution der Menschen begründen spezifische Eigenarten des Erlebens und Handelns, Potentiale und Hypotheken, ein unterschiedliches Maß an personaler Widerstandsfähigkeit („Resilienz“) und Verletzbarkeit („Vulnerabilität“). Von erheblicher Bedeutung ist die Lebensphase (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter), in der sich die Betroffenen befinden. Einen entscheidenden Einfluss haben auch die Lebenssituation und das engere und weitere soziale Umfeld, die mit Schutz- oder auch zusätzlich verschärfenden Gefährdungsfak3
Ein Beispiel (unter vielen), wie sich Folterer gezielt auf die spezifische Kultur ihrer Opfer einstellen, um sie besonders wirksam seelisch zu verletzen, liefern die von (zum Teil weiblichen) Angehörigen der US-Armee angewendeten Methoden der sexuellen Folter männlicher Muslime im Gefängnis „Abu Ghraid“ (Irak).
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toren verbunden sind. Das heißt, dass die jeweilige Art der Ereignisse zwar von erheblicher (und keinesfalls zu unterschätzender) Bedeutung für das Trauma ist, dass aber die soziokulturellen und biographisch-personalen Voraussetzungen und Bedingungen darüber entscheiden, ob und wenn ja in welchem Ausmaß diese Ereignisse als traumatisch erfahren werden. Dieser Zusammenhang, der als eine spezifische Ausprägung der grundsätzlichen Charakteristik lebensweltlicher Erfahrungen des Menschen zu verstehen ist, macht eine allgemeine kultur-, kontext- und subjektfreie Definition des Traumas, die sich nur auf die objektive Seite der Ereignisse konzentriert, problematisch. Das gilt auch, obwohl der soziokulturelle und individuelle Spielraum für die unterschiedliche Erfahrung einschneidender Ereignisse begrenzt zu sein scheint. Offensichtlich gibt es extreme Ereignisse und Situationen, die jenseits soziokultureller und individueller Unterschiede bei nahezu allen Menschen zu traumatischen Erfahrungen führen (etwa Folter, KZ-Haft). Die traumatische Erfahrung (Bulman 1992; Fischer/Riedesser 1998; Janoff- Hausmann 2006) ist charakterisiert durch eine intensiv erlebte Bedrohung und Verletzung der physischen, psychischen und sozialen Integrität (Unversehrtheit) der eigenen Person, begleitet von dem intensiven Erleben einer Ohnmacht, dem Gefühl eines unentrinnbaren Ausgeliefertseins an übermächtige Ereignisse und Personen, von denen diese Bedrohung und Verletzung ausgehen. In der traumatischen Erfahrung sind für die Betroffenen die beiden Handlungsmöglichkeiten, mit denen der Mensch Gefahren und Gefährdungen begegnet – Sich-Wehren oder Flüchten –, in starkem Maße eingeschränkt oder gänzlich beseitigt. Die traumatische Erfahrung ist von starken Gefühlen der Angst, Wut und Verzweiflung oder auch von einer emotionalen Betäubung begleitet. Sie bezieht sich auf die eigene Person, schließt aber ebenso auch die miterlebte Bedrohung, Verletzung oder Tötung anderer Personen ein. Die traumatisch erlebte Situation stellt einen Angriff auf bisherige Grundüberzeugungen der Personen im Hinblick auf Selbst und Welt dar. Sie verletzt in extremer Weise die Grundannahme von der Selbstwirksamkeit der eigenen Person, das Vertrauen also in die eigene Fähigkeit, aktiv auf die Welt und die Mitmenschen einwirken zu können. Zugleich zerstört sie Grundannahmen über die (schützende) Beständigkeit und Verlässlichkeit der Welt und der Mitmenschen. Damit ge211
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fährdet sie das Urvertrauen in Selbst und Welt, das nach Erik H. Erikson (1973) die Grundlage des menschlichen Seins und der menschlichen biographischen Entwicklung bildet, oder sie lässt, wenn es sich um Kinder handelt, dieses Urvertrauen gar nicht oder nur unzulänglich entstehen. Sie gefährdet die doppelte Grundannahme des „Ich kann immer wieder“ der Person und des „Und so weiter“ der Welt, auf die nach Alfred Schütz (Schütz 1971: 153) menschliches Handeln (auch kontrafaktisch) angewiesen ist. So stellt die traumatische Situation – wie weiter oben schon im Vorgriff ausgeführt wurde – für die Betroffenen eine extreme Erfahrung negativer Kontingenz dar, indem sie die Kontingenz der eigenen Handlungsmöglichkeit durch Zwang einschränkt oder beseitigt und zugleich die Kontingenz des Einbrechens unberechenbarer und unbeeinflussbarer schlimmer Ereignisse und Gewalten entfesselt. Damit werden die Grundlagen des modernen Subjekts und seines biographischen Handelns von zwei sich ergänzenden Seiten aus angegriffen. Traumata nehmen unterschiedliche Ausprägungen an (Maercker 2009b), je nachdem wodurch die traumatisierenden Ereignisse hervorgerufen werden. Für die traumatische Erfahrung ist von entscheidender Bedeutung, ob das traumatisierende Ereignis oder Geschehen direkt und willentlich von Menschen ausgeht („manmade Trauma“, z.B. Vergewaltigung, Geiselnahme, Folter) oder ob es sich um Naturereignisse oder technische Vorgänge („nonman-made Trauma“, z.B. Naturkatastrophen, Unfälle) handelt. Die Trennlinie zwischen diesen beiden Formen lässt sich allerdings nicht immer eindeutig ziehen. Darüber hinaus sind individuelle, einzelne Personen betreffende Traumata von kollektiven, große Gruppen betreffenden Traumata (Flutkatastrophe, Krieg, Flucht, Vertreibung, Massenmord) zu unterscheiden. Auch die Häufigkeit und Dauer ist von Bedeutung: Bei dem Trauma kann es sich um ein einmaliges traumatisierendes Ereignis handeln. Es kann aber auch die Form mehrmaliger, sich wiederholender Ereignisse oder einer länger anhaltenden traumatisierenden Situation (wiederholter sexueller Missbrauch, Geiselhaft, KZ-Haft) annehmen, was von den Betroffenen eine längerfristige Anpassung erzwingt. Die von anderen Menschen bewusst und willentlich hervorgerufenen Traumata werden in der Regel als schlimmer erlebt als die übrigen Traumata. Als besonders gravierend werden jene 212
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Formen erfahren, die mit einer direkten Konfrontation mit einem oder mehreren Tätern verbunden sind. Das erfährt eine weitere Steigerung, wenn es sich dabei um bekannte Personen oder sogar um Personen handelt, mit denen das Opfer emotional eng verbunden ist und auf deren Schutz und Hilfe es angewiesen ist, zum Beispiel, wenn Eltern die Täter und ihre Kinder die Opfer sind. Generell gilt, dass die mehrfachen, wiederkehrenden und länger anhaltenden traumatisierenden Situationen besonders tief greifende und längerfristige Schädigungen bei den Betroffenen hervorrufen. Im Vergleich zu den individuellen Formen können bei den kollektiven Formen die negativen Auswirkungen durch das Wissen und die Erfahrung abgeschwächt werden, dass viele andere Menschen auch zu Opfern geworden sind, wie auch dadurch, dass dabei gegenseitige Hilfen möglich sind. Allerdings können wegen des meist sehr umfassenden und übergreifenden Charakters der kollektiven Formen auch umgekehrt die belastenden und verletzenden Auswirkungen in besonderem Maße verstärkt werden. Das traumatische Geschehen beansprucht die Reaktions- und Verarbeitungsfähigkeiten der Betroffenen in höchstem Maße, was zu einer kurz- und längerfristigen Schädigung führen kann. Es besteht ein breites Spektrum an Reaktions- und Verarbeitungsformen, die einander abwechseln können und die als (unterschiedlich geeignete) Versuche des Überlebens zu interpretieren sind. Dabei sind zwei konträre Reaktions- und Verarbeitungsweisen bestimmend, die sich auch miteinander verbinden können (Horowitz 2001): Konfrontation und Auseinandersetzung oder Abwehr und Verleugnung. Die Konfrontation mit dem Geschehen dient dem Überleben, weil sie die Wahrnehmung der Gefahren und Gefährdungen und ein darauf bezogenes Handeln ermöglicht. Sie kann aber auch zu einer Überforderung und zu einem vollständigen Zusammenbruch der Betroffenen führen, sodass das Überleben gefährdet oder unmöglich wird. Abwehr oder Verleugnung richten einen Schutz vor dem vollen Erleben der traumatischen Situation auf und können gerade dadurch ein Überleben sichern. Sie können aber auch wegen der unangemessenen Wahrnehmung der Situation das Überleben gefährden oder unmöglich machen. Das Spektrum unterschiedlicher Reaktions- und Bewältigungsformen lässt sich in der folgenden Weise kurz umreißen. 213
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Die Betroffenen können auf die traumatische Situation mit einer erhöhten Wachsamkeit und Klarsicht bei gleichzeitig stark zurückgenommener Emotionalität (Wahrnehmungs- und Empfindungsschutz) reagieren, was ein mehr oder minder angemessenes Handeln oder auch ein bloßes Ertragen der Situation erlaubt. Das kann auch bedeuten, dass die unmittelbare traumatische Situation zwar klar registriert wird, die ganze Tragweite der Gefahr und des Unheils allerdings nicht voll ins Bewusstsein tritt. Diese Verbindung oder auch Balance zwischen Konfrontation und Abwehr bzw. Verleugnen wird von den Betroffenen später oft so beschrieben, dass sie in der traumatischen Situation nur noch „funktioniert“ oder wie „Automaten“ reagiert haben. Im Unterschied zu dieser Reaktions- und Bewältigungsform können die Betroffenen in der Konfrontation mit der traumatischen Situation auch mit einer solchen Heftigkeit von Emotionen der Panik und von körperlichen Schocksymptomen, von Wut, Hilflosigkeit und Verzweiflung überwältigt werden, dass sie vollständig handlungs- und orientierungslos werden. Als abwehrende Reaktion des Selbstschutzes können die Betroffenen aber auch von einer vollständigen Teilnahmslosigkeit und Apathie erfasst werden, sodass sie alles hinnehmen und über sich ergehen lassen. Vor allem bei wiederholten und länger anhaltenden traumatischen Situationen, aber auch bei einzelnen traumatischen Ereignissen entwickeln die Betroffenen zum Teil eine Form des Selbstschutzes, die ihnen in der auswegslosen Situation, die weder Flucht noch Sich-Wehren oder Kämpfen zulässt, eine dritte Möglichkeit eröffnet. Die Menschen entfliehen dadurch der traumatischen Situation, dass sie sich durch Erinnerung und Phantasie in eine andere Wirklichkeit versetzen und sich damit ein Stück ihrer Integrität und Autonomie bewahren. Eine weitere und extreme Form eines solchen Auswegs aus der ausweglosen Situation besteht in der Abspaltung („Dissoziation“) des traumatischen Erlebens (Fiedler 2008; van der Hart/Nijenhuis/Steele 2009). Dies vollzieht sich zum einen als Abspaltung in der Selbstwahrnehmung („Depersonalisation“): Die betroffene Person löst das Schreckliche, was mit ihr passiert, von sich ab, indem sie sich in ein erlebendes und beobachtendes Ich aufspaltet und gewissermaßen ihren eigenen Körper verlässt. Nachträglich wird das von den Betroffenen so beschrieben, dass sie neben sich getreten sind und teilnahmslos beobachtet haben, was mit ihnen, die sie eigent214
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lich gar nicht waren, geschehen ist. Zum anderen vollzieht sich eine Abspaltung in der Umweltwahrnehmung („Derealisation“): Dem schrecklichen Geschehen wird dadurch seine Bedrohlichkeit genommen, dass es als nicht real, als eine unwirkliche Wirklichkeit erfahren wird. Später wird das so beschrieben, dass das traumatische Geschehen unwirklich und wie durch eine Glasscheibe erlebt wurde. Zu dieser Abspaltung in der Selbstwahrnehmung und in der Umweltwahrnehmung kann auch die Abspaltung der Erinnerung vom Bewusstsein und deren Verlagerung ins Körperliche und Unbewusste treten, was mit partieller oder vollständiger Amnesie einhergeht.
4. Verlaufsmuster der biographischen Verarbeitung Nach Beendigung des traumatischen Geschehens setzt die biographische Nachgeschichte des Traumas ein, in der es um dessen Verarbeitung geht und die (in unterschiedlicher Deutlichkeit) die gesamte weitere Biographie anhält. Die traumatischen Erfahrungen werden im körperlich-psychischen Gedächtnis der Menschen abgelagert und sind ihrem Bewusstsein in unterschiedlichem Maße zugänglich (van der Kolk 2000a; Schacter 2001: 331ff.; Hinckeldey/Fischer 2002). Zum Teil können diese Erfahrungen bewusst erinnert und erzählt und auch mehr oder minder gezielt in den Vordergrund oder Hintergrund des Gegenwartsbewusstseins gerückt werden. Auch wenn die traumatischen Erfahrungen relativ gut erinnert werden können, kann deren Mitteilung an andere Personen durch (unterschiedlich stark ausgeprägte) Grenzen der Erzählbarkeit behindert sein. Zum Teil entziehen sich die traumatischen Erfahrungen der bewussten Einflussnahme und führen ein eigenwilliges Eigenleben. Die traumatischen Erfahrungen drängen sich der Person mit aller Wucht auf, ohne dass diese sich dagegen wehren kann. Ebenso kann es passieren, dass die traumatischen Erfahrungen auch bei größter Anstrengung dem gezielten Erinnern unzugänglich bleiben. Sie können intensiv das Erleben und Handeln der Menschen und ihre körperlichen Reaktionen bestimmen und zu psychischen und somatischen Symptombildungen führen, ohne dass sie als expliziter Gedächtnisinhalt vergegenwärtigt werden können. Oft besteht ein Nebeneinander von Erinnerungsfetzen, schwacher und schemenhafter Erinnerung
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und Erinnerungslücken sowie vollständiger Amnesie. Die Intensität der traumatischen Erlebnisse und die Überforderung bei der psychischen Verarbeitung können bewirken, dass sich diese Erlebnisse unmittelbar und ungeschützt in die Menschen einbrennen, ohne dass sie in den größeren Zusammenhang bekannter Gedächtnisinhalte eingefügt werden. Die schrecklichen Erlebnisse gehen als unmittelbare emotionale und körperliche Reaktion gleichsam abgekapselt in das emotionale Gedächtnis („hot memory“) ein und werden kaum oder gar nicht in das biographische Gedächtnis („cold memory“) integriert. Bestimmte äußere Ereignisse und innere Zustände, durch die für die Betroffenen eine Verbindung mit den traumatischen Ereignissen hergestellt wird, können dann später als Schlüsselreize („trigger“) diese Emotionen und körperlichen Reaktionen mit einer solchen Heftigkeit und Unmittelbarkeit wieder auslösen als wären sie der Gegenwart entsprungen. Die Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen ist häufig dadurch starken Belastungen ausgesetzt, dass die Opfer von Schuldgefühlen und Scham geplagt sind (Niederland 1980; Hirsch 1998; Herman 2003). So empfinden etwa Überlebende von Massenvernichtungen Schuldgefühle, weil sie mit dem Leben davon gekommen sind. Bei sexuellem Missbrauch durch eine nahe und geliebte Person kann sich das Opfer Mitverantwortung und Mitschuld zuweisen, um die positive Bindung an diese Person nicht ganz aufgeben zu müssen (Ferenczi 1932). Sexueller Missbrauch, aber auch andere Formen der Verletzung der Integrität und der Entwürdigung sind in der Regel mit tief greifenden Gefühlen der Scham verbunden, von denen die Betroffenen sich nur schwer befreien können. Die Übernahme von Verantwortung und Schuld kann auch darin begründet sein, dass sich das Opfer dadurch einen Rest an Autonomie bewahren will. Die Tatsache, dass man sich und anderen nicht hat helfen können und die quälende Frage, ob man dies nicht doch hätte versuchen sollen und tun können, können zu schwerwiegenden Schuldgefühlen führen. Scham und Schuldgefühle erschweren das Erinnern und das Erzählen der traumatischen Erfahrungen anderen Personen gegenüber. Ebenso wie die Reaktionen während des traumatischen Geschehens ist auch die anschließende Verarbeitung des Traumas durch die beiden Modi der Konfrontation auf der einen und der Abwehr oder Verdrängung auf der anderen Seite geprägt (Horo216
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witz 2001; Herman 2003). Häufig stellt die Verarbeitung ein Pendeln zwischen diesen beiden Modi dar. Zum einen neigen die Betroffenen dazu oder werden, ohne dies selbst steuern zu können, dazu gezwungen, sich intensiv mit dem traumatischen Geschehen zu beschäftigen, sich mit ihm auseinanderzusetzen und darüber zu sprechen. Zum anderen neigen sie dazu, die fürchterlichen Erfahrungen zu verdrängen, zu verharmlosen und zu vergessen, sich einer erneuten Auseinandersetzung zu entziehen und (so weit es geht) nicht darüber zu sprechen. Auch diese Reaktion ist nur teilweise und oft nur sehr schwer der bewussten willentlichen Einflussnahme der Betroffenen zugänglich. Beide Modi können die Verarbeitung der traumatischen Erfahrung erleichtern wie auch erschweren (Reddemann/Sachsse 1997). Die Konfrontation mit den traumatischen Erfahrungen stellt einerseits eine notwendige Bedingung des Durcharbeitens und damit Bewältigens dar. Sie kann die betroffenen Personen andererseits aber auch bei Weitem überfordern und zu schweren psychisch-sozialen und somatischen Schädigungen führen. Die traumatischen Erfahrungen lassen die Menschen nicht mehr los und erschweren so die Entwicklung einer weiterführenden biographischen Zukunftsperspektive. Die Menschen werden von ihren traumatischen Erfahrungen beherrscht, die ihr Leben begleiten und immer wieder mit besonderer Intensität als Erinnerungsattacken („flash-backs“) und Alpträume in das Leben einbrechen. In der Überwindung dieses Zustands kommt es darauf an, dass die Konfrontation so gestaltet wird, dass die Menschen nicht mehr von den traumatischen Erfahrungen beherrscht werden, sondern dass sie sie in einer aktiven Auseinandersetzung zu beherrschen lernen. Abwehr und Verleugnen stellen (wie während des traumatischen Geschehens selbst) wichtige Schutzmechanismen gegen eine Überforderung und einen daraus resultierenden vollständigen Zusammenbruch dar. Sie bilden eine wichtige Voraussetzung für den Erhalt oder die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit und die Fortsetzung der Biographie. Die unter diesen Bedingungen halbwegs gelingende Bewältigung von Überlebens- und Alltagsaufgaben und die Fortführung der Biographie stellen ihrerseits eine hilfreiche Verarbeitung und Stabilisierung durch die Lebenspraxis dar. Abwehr und Verleugnung verhindern aber auch eine tiefer gehende Verarbeitung, was dazu führen kann, dass die traumati217
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schen Erfahrungen und die durch sie verursachten Verletzungen halb bewusst oder gänzlich unbewusst und weitgehend unbegriffen in der Biographie nachwirken und den Menschen beherrschen. Dabei kann es sich um latente und indirekte Auswirkungen handeln, zugleich können die Menschen aber auch immer wieder von den schon angesprochenen Erinnerungsattacken und Alpträumen erfasst werden, was ja einer heftigen (unfreiwilligen) Konfrontation gleichkommt. Die Nachwirkungen können sich auch in der Weise äußern, dass Situationen, aber auch Gefühle und Gedanken, die emotional mit der traumatischen Situation verknüpft werden, (wie oben ausgeführt) panische Angst auslösen und deshalb, wenn es irgend geht, vermieden werden. Das Gegenstück hierzu bildet ein Verhalten, das als eine mal bewusste, mal weniger bewusste Konfrontation mit der traumatischen Erfahrung zu verstehen ist. Die betroffenen Personen werden von solchen Konstellationen angezogen oder stellen diese her, die eine Ähnlichkeit mit der durchlebten traumatischen Situation aufweisen. Da sich das traumatische Geschehen direkt nicht mehr korrigieren lässt, wird es – so lässt sich dieses Verhalten deuten – „re-inszeniert“, um (meist unbewusst, manchmal auch bewusst) eine bessere Lösung finden und vergleichbare Situationen erfolgreicher bestehen zu können. Diese „Re-Inszenierung“ geht auf das sehr nützliche allgemeine Verhalten des Menschen zurück, durch Wiederholen die Bewältigung von Situationen und Aufgaben zu erlernen. Das kann zu einer erfolgreichen Bewältigung und Heilung führen. Es kann sich aber auch ein gefährlicher Wiederholungszwang einstellen, der die Person immer wieder neu (phantasiert oder real) in die traumatischen Erfahrungen verstrickt. Eine Verarbeitung des Traumas, die die Lebensfähigkeit stärkt und eine halbwegs annehmbare Lebensperspektive eröffnet, ist offensichtlich auf eine spezifische Balance und ein spezifisches Zusammenspiel der beiden Modi der Konfrontation und der Abwehr und Verleugnung angewiesen, eine Balance und ein Zusammenspiel, die dem jeweiligen Trauma und der jeweiligen Person und ihrer Belastbarkeit angepasst sind. Lange Zeit war allgemein und vor allem auch in der Trauma-Therapie die Auffassung verbreitet, dass vor allem über eine (wiederbelebende) Konfrontation mit der traumatischen Erfahrung eine Befreiung von deren verhängnisvollen Auswirkungen und eine Heilung von Schädigungen möglich ist. Seit einiger Zeit hat sich – nicht zuletzt auch durch die Be218
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obachtung, wie Menschen unabhängig von therapeutischen Hilfen mit Traumata umgehen – verstärkt die Einsicht durchgesetzt, dass die (ungeschützte) Konfrontation mit der traumatischen Erfahrung die Gefahr einer schwerwiegenden Re-Traumatisierung in sich birgt und dass Abwehr, Verleugnen und Verdrängen lebenswichtige Schutz- und Stabilisierungsfunktionen erfüllen. Das wird in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in neueren Konzepten der therapeutischen Hilfe auch berücksichtigt. Die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen (Fischer/Riedesser 1998; van der Kolk 2000b; Hausmann 2006; Horowitz 2009) nimmt in Abhängigkeit von der Art der Traumatisierung, von persönlichen Ressourcen und zusätzlichen Risikofaktoren und dem Verhalten der Umwelt unterschiedliche biographische Entwicklungsverläufe an. Dabei lassen sich sechs Verläufe unterscheiden, die in Übergängen mit einander verbunden sind: 1. weitgehende Bewältigung 2. länger anhaltende psychosoziale Beeinträchtigungen 3. nachträgliche Traumatisierung 4. anhaltende Latenz 5. Latenz und Wiederbelebung 6. personales Wachstum. 4 Das erste biographische Verlaufsmuster ist durch eine weitgehende Bewältigung charakterisiert. Die Bewältigung kann natürlich nicht in einer Beseitigung der traumatischen Erfahrung und der erlittenen Verluste bestehen, vielmehr geht es darum, dass ein halbwegs erträgliches Leben mit dem Trauma möglich wird. So ist von einer Bewältigung auch immer nur in einem relativen (auf die Schwere des Traumas und die kulturell verbreitete Vorstellung von einem halbwegs erträglichen Leben bezogenen) Sinn zu sprechen. Nach einer kürzeren oder längeren Zeit des Pendelns zwischen Konfrontation und Abwehr mit mehr oder minder gravierenden psychosozialen und somatischen Beeinträchtigungen wird 4
Diese Typologie wurde vom Autor auf der Grundlage zentraler Befunde der Traumaforschung erarbeitet. Wichtige Anregungen dazu ergaben sich auch aus eigenen Forschungen zur biographischen Verarbeitung belastender einschneidender Lebensereignisse, insbesondere der biographischen Verarbeitung von Flucht und Vertreibung (Engelhardt 2001, 2005).
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die Realität des Geschehens mit den Verlusten und Verletzungen anerkannt und in den biographischen Gesamtzusammenhang eingeordnet. So verliert die traumatische Erfahrung der Vergangenheit ihre (unkontrollierbare) beherrschende Macht über die Betroffenen und deren Gegenwart und Zukunft und wird zu einem Teil der biographischen Erinnerung. In der Verarbeitung der traumatischen Erfahrung werden die biographische Handlungsfähigkeit wieder hergestellt und die Grundlagen eines verlässlichen Selbst- und Weltverständnisses reorganisiert. Die positive Kontingenz der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit kann entwickelt und die negative Kontingenz des Einbrechens unberechenbarer und unbeeinflussbarer schlimmer Ereignisse und Gewalten kann eingedämmt werden. Der biographische Entwicklungsverlauf kann in der Bewältigung der Folgen des traumatischen Ereignisses, durch die er eine unterschiedlich weit gehende Modifikation erhält, fortgesetzt werden. Das Gegenstück zu dem Verlaufsmuster der weitgehenden Bewältigung, mit dem es in abgestuften Übergängen verbunden ist, stellt das Verlaufsmuster mit länger anhaltenden psychosozialen und somatischen Störungen dar, durch die das Wohlbefinden und die Biographie der Betroffenen in starkem Maße beeinträchtig sind und sogar auch ein Weiterleben gefährdet sein kann (van der Kolk/McFarlane/Weisaeth 2000; Flatten u.a 2004; Maercker 2009a). Diese länger anhaltenden Folgen der Traumatisierung werden in der medizinisch-psychiatrischen Diagnostik als „Posttraumatische Belastungsstörungen“ bezeichnet. Die Reaktionen auf die traumatische Situation haben sich in der Person verfestigt und die intensive Auseinandersetzung hält weiter an oder ist blockiert. Im Zentrum dieser lang anhaltenden Folgen stehen deshalb auch die angesprochene Überflutung („Intrusion“) mit belastenden Emotionen, Erinnerungsattacken und Alpträumen und die Vermeidung („Konstriktion“) von Gedanken, Gefühlen und Situationen, die in einer Verbindung mit den traumatischen Geschehen stehen, die Abspaltung („Depersonalisation“, „Derealisation“) und die partielle oder vollständige Amnesie sowie eine überhöhte Empfindlichkeit und Erregbarkeit. Diese Folgen der Traumatisierung gehen einher mit ausgeprägten Ängsten, mit dem Verlust an Vitalität, mit emotionaler Taubheit, mit Depression und Selbstmordneigung, mit gravierenden Persönlichkeitsveränderungen, mit psychosomatischen Erkrankungen, mit Herz- und Kreislauf220
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erkrankungen, Suchterkrankungen und sozialem Rückzug. Häufig kann die Verbindung der psychosozialen Beeinträchtigungen mit der erlittenen Traumatisierung von den Betroffenen und Dritten gar nicht oder nur unter größten Schwierigkeiten aufgedeckt werden, weil sich die Traumatisierung dem Erinnern und der Artikulation entzieht und weil die Charakteristik der psychosozialen und somatischen Symptome diese Verbindung nicht zu erkennen gibt oder eben gerade auch verschleiert. Im günstigen Fall gelingt es (mit eigener oder fremder Hilfe), das Ausmaß dieser Langzeitund Spätfolgen abzuschwächen oder auch einen Übergang in eine heilende Bewältigung einzuleiten. Von den beiden bisher beschriebenen biographischen Entwicklungsverläufen ist ein dritter Entwicklungsverlauf zu unterscheiden, der sich als verzögerte oder nachholende Traumatisierung bezeichnen lässt. Dieser Verlauf ist dadurch charakterisiert, dass sich die durch eine einschneidende Erfahrung hervorgerufene Traumatisierung erst nachträglich einstellt. So hat etwa Freud beobachtet, dass Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit erst in der Pubertät, wenn sich ihnen mit dem Erwachen der eigenen (genitalen) Sexualität die volle emotional-körperliche Bedeutung des Erlebten offenbart, Symptome der psychosozialen Verletzung entwickeln. Eine andere Variante dieses Entwicklungsverlaufs besteht darin, dass Personen, die erst später erfahren, in welcher extremen Gefahr sie sich (etwa im Krieg oder bei gewaltsamer Vertreibung) befunden haben, nachträglich traumatisiert werden. Dieser Entwicklungsverlauf einer verspäteten oder nachträglichen Traumatisierung, der eine gewisse Nähe zu dem (im nächsten Abschnitt zu behandelnden) Entwicklungsverlauf der Latenz der Traumatisierung aufweist und von diesem nicht immer eindeutig zu unterscheiden ist, kann in eine der beiden ersten biographischen Verläufe einmünden. An diesem biographischen Entwicklungsverlauf wird deutlich, dass nicht nur die traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit die weitere biographische Entwicklung in starkem Maße beeinflussen. In umgekehrter Richtung beeinflusst auch die weitere biographische Entwicklung die traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit, indem diese verändert wahrgenommen und gedeutet werden. Damit verändert sich zugleich deren Auswirkung auf die Person und ihre weitere biographische Perspektive. Im positiven Sinne geschieht dies in dem Entwicklungsmuster der Bewältigung, bei dem durch die 221
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weitere Biographie und die sie begleitenden Prozesse der Verarbeitung die beherrschende Macht des Traumas gebrochen oder abgeschwächt wird. Ein viertes Verlaufsmuster kann als Traumatisierung in der Latenz bezeichnet werden. Nach der Beendigung des traumatischen Geschehens oder auch schon während des Geschehens, zum Teil auch nach einer kürzeren Phase akuter psychosozialer Beeinträchtigungen scheint eine weitgehende Bewältigung zu gelingen. Diese Bewältigung geht auf den erwähnten Schutzmechanismus der Abwehr und Verdrängung der durchlebten Gefahren und erlittenen Verluste und Verletzungen zurück, der ein Über- und Weiterleben sichert. Häufig wird dies ermöglicht und erzwungen durch die unausweichliche Notwendigkeit der Bewältigung von Überlebens- und Alltagsaufgaben, um die Existenz für sich und für andere einem anvertraute Personen (zum Beispiel Kinder) zu sichern. Die Traumatisierungen bleiben aber erhalten und wirken längerfristig nach, ohne dass dies den Betroffenen und ihrer Umwelt unmittelbar deutlich wird. Die Traumatisierung in der Latenz kann nicht eindeutig gegenüber der weitgehenden Bewältigung des Traumas abgegrenzt werden, da es sich ja in den meisten Fällen nicht um eine vollständige, sondern um eine relative Bewältigung handelt, die oft mit einem gewissen Ausmaß der Abwehr und Verdrängung einhergeht. Die erlittene Traumatisierung kann während der gesamten weiteren Biographie mehr oder minder stark in der Latenz verbleiben, was bedeutet, dass die Auswirkungen weitgehend implizit und nicht deutlich erfahrbar sind. Diese können aber auch nach einer kürzeren oder längeren Zeit deutlicher hervortreten, woraus sich das fünfte biographische Verlaufsmuster der Latenz und Wiederbelebung ergibt. Die Wiederbelebung kann direkt in einer Aktualisierung der traumatischen Erfahrungen mit den daraus hervorgegangenen Verletzungen oder aber nur indirekt über psychosoziale und somatische Beeinträchtigungen und Symptome zum Ausdruck kommen. Je stärker die Abwehr ausgeprägt ist und je länger die traumatisierenden Erfahrungen zurückliegen, umso weniger deutlich verweisen die psychosozialen Beeinträchtigungen und Belastungen auf ihren Ursprung, was das Begreifen und Bewältigen erschwert. Das Heraustreten aus der Latenz und die Wiederbelebung können zum einen durch Lebenskrisen und belastende Lebensereignisse verursacht werden. Sie können aber 222
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auch umgekehrt gerade dann auftreten, wenn sich Entspannung und eine Freisetzung von Verpflichtungen und Zwängen etwa in der beruflichen und privaten Arbeit einstellen. Nicht selten treten die Folgen des erlittenen Traumas auch erst in der Altersphase deutlicher hervor (Hunt/Marshall/Rowlings 1997; Landau/Litwin 2000; Heuft 2006). Dafür gibt es vielerlei Gründe. Es kann damit zusammenhängen, dass in der Altersphase generell die Erfahrungen früherer Lebensabschnitte wiederbelebt werden, dass mit der nachlassenden Notwendigkeit der Disziplin in der Lebensführung (durch den Eintritt in den Ruhestand und den Rückgang familialer Verpflichtungen) auch die Abwehrmechanismen gelockert werden (was allerdings auch durch das Nachlassen der entsprechenden psychischen Energien bedingt sein kann), dass mit der zu bewältigenden Entwicklungsaufgabe einer personalen und sozialen Einstellung auf die Altersphase eine psychischsoziale Labilität einhergehen kann, dass Lebensrückblicke und die Konfrontation mit dem eigenen Tod zunehmen oder dass die (erfahrene oder befürchtete) eigene Hilflosigkeit und Abhängigkeit von anderen Menschen die traumatische Erfahrung des ohnmächtigen Ausgeliefertseins reaktivieren. Die Wiederbelebung kann, auch bei Personen im fortgeschrittenen Alter, unter günstigen Bedingungen in eine Abmilderung der Beeinträchtigungen oder sogar in eine Bewältigung übergeleitet werden. Das traumatische Geschehen und dessen Folgen stellen (wie dargelegt) extreme Anforderungen an die Reaktions- und Verarbeitungskapazitäten des Menschen, die zu den verschiedenen Verletzungen, Schädigungen und Beeinträchtigungen führen. Die Auseinandersetzung mit dem traumatischen Geschehen und die anschließende biographische Verarbeitung können aber auch (wie andere und schwächere Formen der Krisenbewältigung) mit einem Erfahrungs- und Lernprozess der Betroffenen einhergehen, der zu einer positiven Erweiterung ihrer Kompetenzen, ihrer Welt- und Selbstwahrnehmung, zur Entwicklung psychosozialer Stärken und zu einer personalen Bereicherung führt, was von den Betroffenen auch so erlebt und bewertet wird (Calhoun/Tedeschi 2006). Daraus ergibt sich der biographische Entwicklungsverlauf einer Bewältigung mit personalem Wachstum.
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5. Schluss Die Moderne erzeugt und entdeckt das Trauma. Die moderne Biographie ist von Krisen und Katastrophen begleitet, die ein solches Ausmaß annehmen können, dass sie zu einschneidenden psychosozialen Verletzungen führen, die die weitere biographische Entwicklung erheblich beeinträchtigen und gefährden. Das Trauma stellt eine solche ausgeprägte Krise und Katastrophe dar. Das Trauma ist als eine extreme Form der negativen Kontingenzerfahrung der Moderne zu verstehen, indem es die positive Kontingenz der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit des Menschen eingegrenzt oder beseitigt und die negative Kontingenz des Einbrechens unberechenbarer und unbeeinflussbarer unheilvoller Ereignisse und Gewalten freisetzt. In der modernen Lebenswelt besteht ein breites Spektrum traumatischer Erfahrungen, die sich in Verursachung, Art und Ausmaß erheblich voneinander unterscheiden. Ebenso besteht ein breites Spektrum unterschiedlicher biographischer Verlaufsmuster der Verarbeitung. Bei der Bewältigung des Traumas geht es um die Ermöglichung einer zukunftsweisenden Biographie, die auf der Wiederherstellung einer biographischen Handlungsfähigkeit und auf der Reorganisation eines verlässlichen Selbst- und Weltverhältnisses aufbaut und in der das traumatische Ereignis zur biographischen Vergangenheit wird und nicht mehr unkontrolliert Gegenwart und Zukunft der Menschen beherrscht. So kann die positive Kontingenz der Handlungsmöglichkeit wieder hergestellt und die negative Kontingenz des Einbrechens unberechenbarer und unbeeinflussbarer unheilvoller Ereignisse und Gewalten eingedämmt werden. Das Trauma ist Bestandteil der Biographie mit einer Vorgeschichte, dem traumatischen Geschehen und mit einer Nachgeschichte der Verarbeitung. Nur aus dieser biographischen Einbettung heraus ist das Trauma angemessen zu verstehen und zu bewältigen. Das gilt ebenso für die soziokulturelle Verortung des Traumas. Das Trauma ist mit übergreifenden Kollektivgeschichten, mit der Biographie anderer Personen, mit der Familiengeschichte, der Geschichte der Ortsgesellschaft und der (nationalen und transnationalen) Gesellschaftsgeschichte verbunden. Es geht aus übergeordneten Sozialbeziehungen und Kollektivgeschichten hervor, ist in der Bewältigung durch sie geprägt und wirkt auf de-
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ren weiteren Verlauf ein. Von dem Trauma sind das engere und weitere Umfeld und die Lebenspartner betroffen, es wird in der Generationenfolge (mal explizit, mal implizit) weitergegeben und hat, wenn es größere Personengruppen umfasst, weit reichende soziale Auswirkungen. Traumata können, wie das vergangene 20. und das gerade begonnene 21. Jahrhundert auf bedrückende Weise zeigen, zu einem wesentlichen Bestandteil der Gesellschaftsgeschichte und des (impliziten und expliziten) kollektiven Gedächtnisses werden. Bei der Bewältigung des Traumas kommt der engeren und weiteren sozialen Umwelt, in die die Biographie der Person eingebunden ist, eine erhebliche Bedeutung zu. Die Rücksicht auf die psychosozialen Verletzungen, die Unterstützung durch Laien und Professionelle, die Anerkennung des zugefügten Leids im privaten Lebenszusammenhang, aber auch im öffentlichen Raum, die Aufarbeitung der Hintergründe, das Verfolgen und Verurteilen der Täter und die Entschädigung der Opfer stellen wesentliche Hilfen bei der Bewältigung dar. Von traumatisierten Personen gehen starke Belastungen und Gefährdungen für die soziale Umgebung und die Gesellschaft aus, die hohe Anforderungen an deren Bewältigungskapazitäten stellen. Auch das soziale Umfeld, die mit betroffenen Personen und die Gesellschaft reagieren mit Abwehr und Verleugnen, zum Teil auch deshalb, weil so die Auseinandersetzung mit einer möglichen Schuld und die Übernahme einer Verantwortung für Unterstützung und Hilfe vermieden werden können. Damit wird die Bewältigung für die Betroffenen erschwert. Die NichtAnerkennung des primären Traumas kann auch eine sekundäre Traumatisierung bewirken. Das soziale Umfeld und die Gesellschaft können (ungewollt oder gewollt) Schuld- und Schamgefühle der Opfer bestärken oder hervorrufen. Sie können die Betroffenen aber auch mit einem zu starken Insistieren auf eine Konfrontation mit der traumatischen Erfahrung, mit dem Drängen auf eine erinnernde und erzählende Vergegenwärtigung überfordern, ihre Schutzmechanismen schwächen und so im schlimmsten Fall eine Re-Traumatisierung herbeiführen. So vollzieht sich die Verarbeitung des Traumas als eine Interaktion zwischen den Betroffenen und ihrem engeren und weiteren sozialen Umfeld. Sie ist Teil der miteinander verschränkten individuellen und kollektiven Vergangenheitsbewältigung, die die 225
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weitere Entwicklungsgeschichte der direkt und indirekt Beteiligten, kleinerer und größerer Gruppen und ganzer Gesellschaften bestimmt.
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Autorenverzeichnis Alle Autoren sind Mitglieder des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg:
PETER ACKERMANN, Professor für Japanologie PETER BERNHARD, Professor für Philosophie PETER BUBMANN, Professor für Praktische Theologie MICHAEL VON ENGELHARDT, Professor für Soziologie KONRAD KLEK, Professor für Kirchenmusik ECKART LIEBAU, Professor für Pädagogik ECKHARD ROCH, Professor für Musikwissenschaft GERT SCHMIDT: Professor em. für Soziologie HENRI SCHOENMAKERS, Professor em. für Theater- und Medienwissenschaft JÖRG ZIRFAS, Professor für Pädagogik http://www.iz.aesthetische.bildung.phil.uni-erlangen.de
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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Schönheit Traum – Kunst – Bildung 2007, 288 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-831-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-12-14 14-50-52 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 032e228633975738|(S.
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) ANZ1436.p 228633975746