Tragik der Freiheit: Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß [1. Aufl.] 9783839427590

The author Botho Strauß is heavily controversial due to his right-wing conservative essays. Thomas Assheuer shows: The t

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German Pages 274 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Erster Teil. Die Beobachtung des Theaters
Zweiter Teil. Die deutsche Misere. Erzählung und Roman
Dritter Teil. Dichtung als Religion
Vierter Teil. Tragödien ohne Tragik. Im »Niemandsgarten« des Liberalismus
Fünfter Teil. Jenseits des Liberalismus
Schluss
Literatur
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Tragik der Freiheit: Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß [1. Aufl.]
 9783839427590

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Thomas Assheuer Tragik der Freiheit

Lettre

2014-06-18 12-01-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c6369502800120|(S.

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4) TIT2759.p 369502800128

Thomas Assheuer ist Redakteur im Feuilleton der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Seine Schwerpunkte sind Philosophie und politisches Zeitgeschehen.

2014-06-18 12-01-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c6369502800120|(S.

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4) TIT2759.p 369502800128

Thomas Assheuer

Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß

2014-06-18 12-01-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c6369502800120|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Taucher beim Sprung«, Paestum, ca. 480 v. Chr., © akg-images Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2759-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2759-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Einleitung | 7

E rster T eil D ie B eobachtung des T heaters I. »Spätkapitalismus« und »Genesis-Magie«. Die Theaterkritiken | 15 II. Konsum von Sinn. Die frühen Theaterstücke | 25 II.1 Das »Selbst« im Selbstverhältnis | 26 II.2 Entscheidung zur Nichtentscheidung | 31 II.3 Angst vor der Angst | 39 II.4 Das Vergessen des Todes | 42 II.5 Verständigung über Nichtverstehen | 48 II.6 Semantischer Imperialismus: Geld und Wissen, Recht und Medien | 53 II.7 Autismus zu zweit. Die Kommunikation der Liebe | 59 II.8 Hypersexualität als Farce der Metaphysik | 72 II.9 Symbolische Regeneration oder politische Restauration? | 76

Z weiter T eil D ie deutsche M isere . E rzählung und R oman I. »Marlenes Schwester« | 89 II. »Theorie der Drohung« | 95 III. »Die Widmung« | 103 IV. »Rumor« | 111 V. »Der junge Mann« | 119 Kurze Zwischenbetrachtung | 133

D ritter T eil D ichtung als R eligion I. Grundzüge einer sakralen Poetik | 141 II. Rudolf Borchardts »Technik der Wiedergewinnung« | 145 III. Literatur als Transsubstantiation | 151 IV. Das »Heilige« und das »Tragische« | 163 V. Der Dichter als Märtyrer der Moderne | 171

V ierter T eil T ragödien ohne T ragik . I m »N iemandsgarten « des L iberalismus I. Öffentlichkeit als »Gewaltherrschaft« | 183 II. Liberalismus und Gewalt | 193 III. Wiederkehr der Tragik | 197

F ünfter T eil J enseits des L iberalismus I. Macht und Metaphysik. »Das Staatswesen« | 215 II. Nacht der Götterferne. Annäherung an Ernst Jünger | 223 III. In der Hypermoderne | 233 Schluss | 249 Literatur | 261 Verwendete Siglen | 261 Weitere Primärliteratur | 262 Sekundärliteratur | 262

Einleitung Es gibt nicht viele Werke der Gegenwartsliteratur, deren Rezeptionsschicksal Anlass zu der Befürchtung bietet, ihre ursprünglichen Motive könnten in den Wellen der tagesaktuellen Diskussion untergehen, im Wechsel von Urteil und Vorurteil, von Verkennung und Verdeckung. Im Fall von Botho Strauß, nach der Kontroverse um das politische Verständnis seines Werks, scheint sich diese Befürchtung zu bestätigen. Vor allem der unmissverständliche Anti-Liberalismus seiner Essays schürte den Verdacht, er biete den Generalschlüssel zum ästhetischen Werk und müsse als eine gezielte Handreichung zum hermeneutisch korrekten Verständnis seiner Theaterstücke und Prosaarbeiten verstanden werden. Auch die Veröffentlichung seines Essays Anschwellender Bocksgesang im ideologischen Umfeld der Neuen Rechten schien einmal mehr die Vermutung zu bestätigen, die ästhetischen Beobachtungen des Schriftstellers und die nachgereichten politischen Spekulationen des Intellektuellen seien deckungsgleich.1 Das demonstrativ als Polemik gegen den »liberalen« Zeitgeist in Szene gesetzte Bekenntnis zum konfessionellen Antidemokraten Ernst Jünger war ebenso wenig geeignet, den Eindruck zu zerstreuen, das Strauß’sche Werk erschöpfe sich im Lamento einer fatalistisch verdunkelten Modernekritik. Wenn es sich so verhält, wenn Strauß’ politische Selbstradikalisierung rückwirkend die Motive seines frühen Werks zu verstellen droht, dann mag es lohnend sein, dessen zeitdiagnostischen Gehalt noch einmal freizulegen, um es als Diskurskritik an »spätkapitalistisch« formierten Gesellschaften ernst zu nehmen und gegen drei eingespielte Lesarten zu verteidigen: gegen eine apologetische Werkdeutung, die es bei einer wohlmeinenden Rekonstruktion bewenden lässt;2 gegen eine demokratietheoretisch alarmierte Kritik, die auch im frühen Strauß allein den Gegenaufklärer und antimodernen Intellektuellen erkennen möchte und dabei Gefahr läuft, den Unterschied zwischen äs-

1 | Zur Bedeutung des Essays im politischen Kontext der Neuen Rechten und ihres Manifestes Die selbstbewußte Nation, Berlin 1994, vgl. den Kommentar von Horst Seferens, »Leute von übermorgen …«, Bodenheim 1998, S. 273ff. 2 | Vgl. Dirk Michael Becker, Botho Strauß: Dissipation, Bielefeld 2004.

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thetischer Inszenierung und politischer Beschreibung einzuebnen;3 drittens gegen eine dekonstruktivistische Lektüre, die den Werkgehalt in die verbindliche Unverbindlichkeit referenzfreier Sprachspiele auflöst und diskurskritische Motive durch deren Ästhetisierung entschärft.4 Dass das frühe Werk von Botho Strauß nur ein Thema kennt, nämlich die Krise des Sprechens und das Drama des Missverstehens, ist keine Behauptung, die man den Stücken und Erzählungen aufzwingen müsste. Schon sein Theater-Debüt Die Hypochonder handelt von »Bedeutungsleere« und misslingender Interaktion; die Charaktere sitzen semantisch auf dem Trockenen oder ringen nach Worten, von denen sie nicht einmal wissen, ob es sie noch gibt. Strauß’ Paare und Passanten haben den Sinn der Sprache exkommuniziert, sie erleben ihre Freiheit als Zwang und manche gehen durchs Leben wie Tote. Ihre Sätze erzeugen keinen gemeinsamen Weltbezug, sondern verdunkeln die Reste des bestehenden. Sogar der Richtungssinn der Sprache scheint sich verkehrt zu haben: Sie ist nicht mehr das einzigartige Medium von Kooperation und Verständigung, sie ist Quelle von Einsamkeit und Verlust. Strauß, und das verleiht dem frühen Werk sein melancholisches Timbre, entwirft eine Welt, die nur aus Kommunikationen besteht und doch sprachlicher Erschließung nicht mehr zugänglich ist. Wie in einer Abstoßungsbewegung ziehen sich die aus der Alltagsrede abgespaltenen »Ex-« und »Quatschwörter« von den Figuren zurück; sie beginnen zu »plappern« und verschmelzen in »Kauderwelsch« und »leerem Gerede« zu einer entropischen Zeichenmasse, die nicht mehr individuiert und in gehaltvolle Sätze verwandelt werden kann. Der Zerfall der Sprache macht schließlich die gattungsgeschichtliche Auszeichnung des Subjekts unkenntlich; wie Beckett’sche Gestalten verhausen sich die »Menschenähnlichen« (TS III, 244) in einer mysteriös unverständlichen Welt, in der ihnen bereits die schiere Faktizität ihres »Daseins« unerträglich wird. Sein untrügliches Gespür für Sprachkrisen entwickelt Strauß bereits als junger Rezensent in den sechziger Jahren. Damals Mitarbeiter der Zeitschrift Theater heute, beschreibt er ein phänomenales »Absterben« von sprachlichem Sinn, er bemerkt eine seltsame imaginative Leere, überhaupt Zeichen kultureller Trivialisierung. Nervös beobachtet der junge Theaterkritiker eine schleichende Medialisierung der Alltagssprache, ihn verstört die Kommerzialisierung von Überlieferungen und die Tauschlogik zwischen den Subjekten. Wie 3 | Dazu tendiert Nadja Thomas in »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt« – Botho Strauß und die »Konservative Revolution«, Würzburg 2004. 4 | Virtuos, aber eigentümlich dogmatisch ist die poststrukturalistische Lektüre von Endre Hárs, Singularität. Lektüren zu Botho Strauß, Würzburg 1991. – Vgl. auch Jürgen Förster, »Autor, Werk und Leser im literarischen und literaturtheoretischen Diskurs der Postmoderne. Einige Anmerkungen am Beispiel der Prosa Botho Strauß’«, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge IV, Heft 2 (1994), S. 366-379.

Einleitung

Invasoren, so berichtet er, erobern die »Sprachen« von Ökonomie und Massenmedien das Feld der Alltagsrede und vergiften jene Sinnquellen, in deren Licht der Einzelne existenzielle Grunderfahrungen interpretiert und artikuliert – das »Reale« von Liebe und Begehren, von Krankheit und Tod. Im Gegensatz zu neomarxistischen Beschreibungen sieht Strauß die Ursache für die »spätkapitalistische« Sinnkrise (V, 165) nicht in einer ökonomischen Verelendung, sondern in einer kulturellen Verarmung; er erklärt sie nicht aus einer sozialen, sondern aus einer semantischen Entfremdung. Das Merkmal dieser Entfremdung besteht allerdings darin, dass sie kein Merkmal hat; die Krise der Sprache bleibt unsichtbar und zeigt sich, wenn überhaupt, nur symptomatisch, sie zeigt sich für Strauß in Wortfindungsproblemen, in Sprachversagen und Artikulationsnot. Weil die »Bedeutungsleere« transzendental ist und sich innerhalb einer erschöpften Alltagsrede nicht mehr als Krise thematisieren lässt, falle dem Theater die Aufgabe zu, durch ästhetische Distanz die Auszehrung der Sprache »zur Sprache« zu bringen. Vor allem die Stücke von Ödön von Horváth und Peter Handke feiert der junge Strauß als Musterbeispiele einer semantischen Auf klärung, die die Gewalt der symbolischen Ordnung theatralisch vor Augen führt – jene anonyme Macht der gesellschaftlichen Sprache, die den Weltbezug des Einzelnen manipuliert und reguliert, sein Begehren und Wünschen, sein Leiden und Lieben.5 Kein wahres Leben in falschen Metaphern – so lautet das kritische Programm, dem auch der spätere Bühnen- und Prosaautor folgen wird. Der Schriftsteller Botho Strauß lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf kommunikative Störungen, auf Selbstverluste und Identitätskrisen, kurz: auf die Verfassung von Subjektivität unterm Regime einer »spätkapitalistisch« for5 | Auch wenn der Theaterkritiker Strauß sich nicht als rezensierender Sachwalter Adornos zu erkennen gibt, so scheint er doch einem zentralen Motiv der Minima Moralia zu folgen. Die Prägnanz, mit der Christoph Menke dieses Motiv reformuliert hat, ist – zurückhaltend gesagt – nicht ohne Einfluss auf diese Untersuchung geblieben: Vorgängige kulturelle »Muster prägen das Verständnis aus, das eine Kultur von dem Gelingen des Lebens hat; ohne Bezug auf sie kann niemand zu einem Verständnis seines gelingenden Lebens gelangen. Deshalb ist zwar nicht kulturell determiniert, ob unser Leben gelingt, aber es ist kulturell präformiert, wie wir das Gelingen unseres Lebens verstehen. In diesem ›hermeneutischen‹ Zusammenhang von gelingendem Leben und kulturellen Mustern findet sein [Adornos, Th. A.] Unternehmen einer individualethisch begründeten Kulturkritik seine Begründung […]. Daß es kein richtiges Leben im falschen gibt – dieser wohl berühmteste Satz der Minima Moralia kann so verstanden werden, daß das falsche Leben nur falsche Bilder des richtigen kennt. Genauer: daß die ›falsche‹ Kultur nur Bilder oder Muster des Lebens ausbildet, von denen aus die einzelnen nicht mehr zu einem Selbstverständnis zu gelangen vermögen, das ihnen ein richtiges, gelingendes Leben zu führen erlaubt.« Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Berlin 2000, S. 56.

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mierten Sprache. Strauß greift das »System« der Bundesrepublik allerdings nicht mit Thesenstücken oder politischen Fabeln an, sondern er betreibt Dekonstruktion durch Wiederholung: Am lebenden Körper seiner Figuren wiederholt er die Deformation der Sprache, er macht Wortbedeutungen »kalt«, verödet Metaphern und kassiert kulturellen Sinn.6 In seinem Erstling Die Hypochonder zerlegen Forscher die normative Struktur der Rede und behandeln einander am Ende wie Laborratten; in Groß und klein konsumiert der Sozialstaatskapitalismus den »Gottes-Text« der Welt; im Schauspiel Der Park überformt die Logik von Ökonomie und Recht die erotischen Bilder von Begehren und Liebe, und in Die Fremdenführerin mündet die »Emanzipation« von antikem Wissen in die Wiederkehr von Tragik und Gewalt. Der I. Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit den Leitmotiven der frühen Bühnenstücke (bis zu Ithaka); der II. Teil zeichnet nach, wie Strauß in seinen Prosatexten (vor allem in Rumor und Der junge Mann) die ästhetische Fantasie diagnostisch anreichert und modernekritisch verschärft. Der III. Teil schließlich diskutiert das poetologische Konzept, mit dem Strauß »therapeutisch« auf seine Krisenerzählung vom Absterben der Sprache reagiert: Wie stellt er sich die Revitalisierung des kulturell Imaginären vor, und wie konzeptualisiert er die Repräsentation von »primärem« Sinn in »sekundären« Diskursen? Nicht zufällig erläutert Strauß seine poetologische Grundidee dabei an jenem historisch umkämpften Modell, an dem sich die erste semiotische Kontroverse der Neuzeit entzündet hatte: am Verwandlungswunder der Eucharistie. Wie der Priester im christlichen Abendmahl Fleisch und Blut in Brot und Wein verwandelt, so soll der Strauß’sche »Dichter« die medial zerstreuten Wörter neu versammeln und in ihren ursprünglichen Bedeutungsgrund transsubstantiieren. Doch welche Wahrheit repräsentiert das »Primäre« der »Dichtung«? Repräsentiert sie, wie das Programm einer »sakralen Poetik« vermuten ließe, den biblischen »Gottes-Text« der Welt? Oder benutzt Strauß die christliche Transsubstantiationslehre bloß als Brücke, um seine Poetik zeitlich zurückzubuchstabieren und mit den Bestimmungen einer tragischen Metaphysik aufzuladen? Tatsächlich zeichnet sich schon vor dem Schlüsseljahr 1989 ab, dass Strauß den Referenzrahmen seiner Gegenwartskritik verändert, genauer: dass er, wenngleich zögernd, den monotheistischen Assoziationsraum des Frühwerks verlässt und eine mythische Kehre einleitet, die seine Haltung zur Moderne auf erstaunliche Weise radikalisiert. Mit dieser Kehre gibt Strauß seine originelle, nämlich intern an gesellschaftlichen Sprachformen ansetzende Zeitdiagnose auf und ersetzt sie durch eine pantragisch grundierte Verfallskritik an der Moderne selbst. Diese hofft nicht mehr, wie die frühen Stücke, auf eine 6 | Zur Strauß’schen Technik des semantischen Entzugs vgl. auch Sigrid Berka, MythosTheorie und Allegorik bei Botho Strauß, Wien 1991, S. 168.

Einleitung

kulturelle Wiederbelebung der »spätkapitalistischen« Sprache; sie hofft vielmehr auf ein Ereignis von außen und die Revision der politischen Matrix im Ganzen. Zwischen dem christlichen Trauerspiel Groß und klein und der neotragischen Reinigungsfantasie von Ithaka liegen Welten; in ihren geistesgeschichtlichen Koordinaten sind die Stücke durch einen Abgrund getrennt. Die Konsequenzen dieser Kehre beleuchtet der IV. Teil der Untersuchung. Die Ausgangsvermutung lautet dabei, dass Strauß das Ästhetische und das Politische bewusst eng führt und wechselseitig »belichtet«. Je mehr er seine Poetik am Modell der griechischen Tragödie ausrichtet und diese als normative Folie seiner Gegenwartskritik einsetzt, desto misstrauischer beobachtet er die konfliktmoderierende Praxis des Sozial- und Verfassungsstaates, und je entschlossener Strauß den Begriff des »Tragischen« in eine metaphysische Sinnkategorie verwandelt, desto entschiedener sucht er die Ursachen für soziale Krisenlagen nicht mehr diskurskritisch im Konsum von Sinn, sondern im Systemdefekt liberaler Demokratien, in ihrem Mangel an gelebter tragischer Erfahrung und den »politischen Relativierungen von Existenz«. Formelhaft gesagt: Ging es dem jungen Strauß um den kulturellen Sinn des Realen und das Bewusstsein von Existenz, so geht es ihm nun um die vorkulturelle Erfahrung des Realen. Und während Strauß I die »tragische« Sprachlosigkeit der liberalen Freiheit skandalisiert, die Entleerung metaphysischer Reflexionsbegriffe (»Gott, Tod, Endlichkeit«), skandalisiert Strauß II das System der Freiheit selbst, also jene wohlfahrtsstaatliche Verhandlungsdemokratie, deren vermeintliche Tendenz zur Selbsterlösung (»weltliche Soteriologie«, AW, 40) die tragische Konflikthaftigkeit des Lebens posthistorisch stillstellt: »Es ist der Mars auf Erden« (ABG, 17). Das letzte Kapitel stellt die beiden Gesellschaftsmodelle vor, die Strauß als Alternativen zum »existenzvergessenen« Liberalismus ins Spiel bringt. Das Langgedicht Diese Erinnerung … entwirft das Sehnsuchtsbild eines »Staatswesens«, das aus dem Schatten von Auschwitz heraustritt, die Ketten der Westbindung sprengt und moralisch unbelastet in den Gedächtnisraum der deutschen Kulturnation zurückkehrt. Die lyrische Stimme träumt von einer organischen Volksnation, die die metaphysisch heimatlosen BRD-Bürger nicht über Partizipation und politische Rechte vergemeinschaftet, sondern symbolisch über kollektiven kulturellen Sinn. Während die liberale Demokratie den Bürger zum Privatrechtssubjekt vereinzelt, integriert das lyrisch ausgemalte »Staatswesen« den »vergeßlichen« Einzelnen als Volksgenossen in den Körper der Nation und erteilt ihm mit wohlmeinendem Paternalismus letzte Antworten auf erste existenzielle Fragen. Strauß präsentiert noch eine zweite Variante seines politischen Existenzialismus: das Modell einer »Hypermoderne«, die die imaginativ entleerte Aufklärungsmoderne überbietet und in ein drittes, transhumanistisches Weltzeitalter überführt. Wie vor ihm die Wortführer der »Konservativen Revolu-

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tion«, so zielt Strauß auf eine politisch organisierte Wiederverzauberung der »bilderlosen« Gegenwart, auf die Verschmelzung von Funktionssystemen und mythischen Bilderwelten (»Data-Glove und Runenholz«). Mit Hilfe der digitalen Revolution und ihrer »gedächtnisstützenden Maschinen« (B, 116) soll die Flucht aus der monotheistisch verdorbenen Moderne gelingen, der Exodus in die neopagane Unmittelbarkeit einer von Normativität verschonten civitas dei. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht dieser Untersuchung nicht um den Nachweis, die Strauß’schen Gegenwartsbeschreibungen verfingen sich notwendigerweise in den Fallstricken eines zweifelhaften politischen Existenzialismus und seien lediglich als Zeitgeistsymptom für die periodische Wiederkehr einer platonisierenden Kunstreligion von Interesse. Diese Behauptung würde nicht nur den künstlerischen Eigensinn des Werks missachten, sie würde auch die hellsichtige Diskurskritik der frühen Theater- und Prosastücke verkennen, jenes faszinierende Gespür für die Kolonialisierung sprachlicher Bilder, die – um es mit dem jungen Strauß zu sagen – eine »spätkapitalistische« Gesellschaft auch heute noch interessieren sollte. Tatsächlich zählte Strauß damals zu den wenigen Autoren, die einer Tragik der Freiheit auf der Spur waren, also dem durchaus rätselhaften Widerspruch, dass markt- und mediengetriebene Gesellschaften ihren unleugbaren Gewinn an Subjektautonomie mit kultureller Verarmung und dem Verlust an evaluativem Sinn erkaufen. Mit gewaltloser Gewalt trocknet der »Spätkapitalismus« die semantischen Quellen aus, mit denen sich seine Bürger differenziert auf das Verstehen ihrer Freiheit »verstehen«, auf die Unterscheidung zwischen dem bloßen und dem guten Leben.7 »Voriges Jahr hatte ich in Keitum ein Lädchen im Kunsthandwerk. Dieses Jahr habe ich mir mal nichts vorgenommen … Ich hätte ja auch ein Kind bekommen können« (TS I, 479). Kurzum, der junge Strauß staunt über das Phänomen der leeren Emanzipation – er staunt darüber, dass »spätkapitalistische« Gesellschaften in historisch einzigartiger Weise ihre Freiheitsräume erweitern und dabei zugleich jene Deutungsressourcen aufs Spiel setzen, in denen die Bürger symbolisch Zugang gewinnen zu den Grundtatsachen ihrer Existenz, zu Sein und Zeit, Liebe und Glück, Krankheit und Tod.

7 | Darin berührt sich Strauß’ Diagnose mit der von Charles Taylor in Quellen des Selbst, Frankfurt a.M. 1994.

Erster Teil Die Beobachtung des Theaters

I. »Spätkapitalismus« und »Genesis-Magie«

Die Theaterkritiken

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, kurz vor dem Höhepunkt der Studentenrevolte, veröffentlicht Botho Strauß, damals Redakteur der Zeitschrift Theater heute, seine ersten Rezensionen und Essays. Die zwischen 1967 und 1970 erschienenen Besprechungen sind im Urteil selbstbewusste, in der Begriffsbildung ungewöhnliche und in der ästhetischen Beschreibung bestechend genaue Texte, die ihre Entstehungszeit bis heute überdauert haben.1 Wohltuend halten sie Abstand zu den damals üblichen Formen immanenter beziehungsweise begriffslos-poetisierender Kritik und stehen in der analytischen Durchdringung ihrer Gegenstände dem Genre der kulturphilosophischen Betrachtung näher als dem Impressionismus der tagesaktuellen Rezension. Strauß, so sagt er von sich selbst, bevorzugt das Inkognito des »Inspizienten«, und an die Stelle politischer Selbsterregung tritt souveräne Gelassenheit. »Die meiste Zeit bringen wir zu, gelassen etwas wahrzunehmen.« (V, 12) Mit diesem unterkühlten Selbstverständnis reist Strauß durch die politisch erhitzte Republik und fahndet auf deutschen Bühnen nach dem ästhetisch Neuen, nach ungewöhnlichen Inszenierungsformen und zeitgemäßen Spielweisen. Doch seine Suche verläuft enttäuschend. Selbst an den Spielstätten der Avantgarde wird er nicht recht fündig, und obwohl er durchaus mit einigen ihrer politischen Motive sympathisiert, bleibt ihm das Programm der Anti-Kunst von Herzen fremd. Strauß glaubt nicht an eine Versöhnung von Kunst und Leben, an eine neue, »innigere Einheit« von politischer Ästhetik und ästhetischer Politik. »Das ›Teatro Campesino‹ erbot einen fremden Gruß von einer fernen, innigeren Einheit von praktischer Politik und unverstörter Theaterleidenschaft, als ich sie nachzuempfinden imstande bin.« (V, 30) Das Einzige, was Strauß den Spielführern der Revolte zubilligt, ist ein waches Gespür für den Zustand des (Stadt‑)Theaters, das an seinen Routinen ersticke und »besonders stark in die irrationalen und regressiven Passionen des Bür1 | Zur Entstehungsgeschichte vgl. Jan Eckhoff, Der junge Botho Strauß. Literarische Sprache im Zeitalter der Medien, Tübingen 1999, S. 68ff.

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gertums verstrickt ist« (V, 57). Die »Rolle des Theaters in der spätbürgerlichen Gesellschaft« (V, 58), so Strauß, sei zweifelhaft geworden; aus gutem Grund provoziere die Krise der Alten den Aufstand der Jungen und verschaffe Mixed Media und Happening ein relatives Recht – all den Experimenten des Living Theatre, des Bread and Puppet Theatre, des Teatro Campesino und des Pistol­ theaters. Doch darin erschöpft sich für Strauß bereits die theaterhistorische Bedeutung der Avantgarde. Als bloße Protestbewegung, als bloße Reaktion auf den Niedergang des bürgerlichen Theaters bleibe die Gegenkultur parasitär an das von ihr Kritisierte gebunden und sei Teil jener Krise, die aufzuheben sie dem Publikum verspreche. Anstatt das alte Theater spielerisch weiterzutreiben und seine Vorzüge produktiv aufzuheben, verharre die Avantgarde in »Revolutionskitsch« (V, 58) und der abstrakten Negation ästhetischer Form. »Die KunstVerweigerer sind ebenfalls Illusionisten, denn Formlosigkeit an sich beweist nicht plausibel, dass eine Rolle zu spielen bereits eine Zwangsmaßnahme ist.« (V, 173) Ein Dorn im Auge ist Strauß vor allem der kulturrevolutionäre Hochmut, mit dem das linke »Desillusionstheater« die bürgerliche Kunst unter Totalverdacht stellt, ihr rechtmäßiges Interesse an der Tradierung von kulturellem Sinn. In Wirklichkeit sei der Angriff auf überlieferte »Symbolwerte« scheinsubversiv, er bleibe folgenlos oder spiele gar dem Gegner, dem »spätbürgerlichen« Dekorationstheater, in die Hände. »L’imagination prend le pouvoir, haben die Studenten ans Odeon gemalt: aber nach knapp zwei Monaten war die Herrschaft der Phantasie gebrochen. Der poetische Augenblick des Anarchismus ist ausgelebt, er bleibt erinnerungswürdig, sonst aber ziemlich folgenlos.« (V, 49) Je routinierter die Praxis der »Entlarvung« werde, desto mehr erstarre sie in kunstloser Überbietung, in einer Überschreitung um der Überschreitung willen. So erkennt der Rezensent im Sturz des Alten schon die Erschöpfung des Neuen und prophezeit, auf Euphorie folge Lethargie und auf Ekstase der Katzenjammer. Während der »Typ des Intentions- und Entlarvungs-Regisseurs« (V, 202) noch seinen Triumph über das Ancien régime des Stadttheaters feiert, beginnt für Strauß bereits der postrevolutionäre Niedergang – der antibürgerliche Affekt erstarrt im leeren Exerzitium, in den »wesenlos[en]«, bloß »formalen Neuigkeiten« (V, 65) lebloser Anti-Kunst, im »brachiale[n] Freistil« der »meisten Artaudianer« (V, 20). Süffisant erkundigt sich Strauß nach dem künftigen Spielplan, wenn die Küche kalt bleibt und der Traum der Revolution ausgeträumt ist. »Und was fangen Sie nun an mit Antonin Artaud?« (V, 13)2 2 | Der Vorwurf, es verkenne den ästhetischen Eigen- und Symbolwert des Theaters, trifft auch – mit seltsamen anti-amerikanischen Untertönen – das »amerikanische Happeningwesen«. »Die Arbeit am Gesamtkunstwerk und die einer imperialistisch expandierenden Politik ähneln sich strukturell zumindest in einem: beiden liegt weniger dar-

I. »Spätkapitalismus« und »Genesis-Magie«

Kaum besser ist es in seinen Augen um die traditionsmarxistische Ästhetik bestellt. Für den »alten tapfere[n] Lukács« (V, 135) hat Strauß nur Mitleid übrig, und auch Brechts Verfremdungsästhetik enttäuscht in seinen Augen den »Anspruch des Theaters auf sich selbst« (V, 107). Wie nicht anders zu erwarten, »verende« der marxistische Angriff auf den bürgerlichen Schein in einem unsinnlichen »›Diskussions-Theater‹«, dessen Helden sich mit einem »eindrucksvollen Votum für den Dilettantismus aus der ästhetischen Debatte stehlen« (V, 243). »Die Bürger im Theater haben ihre Naivetät verloren, jedoch das, was ihnen stattdessen als kritischer Blick eingeschult wurde vom Spruchband-Theater, stellt sich schließlich heraus als Amputation ihrer sinnlichen Auffassungsgabe.« (V, 199)3 Und dennoch: Die Erschöpfung sowohl der alten wie der neuen Avantgarde setzt das klassische Repräsentationstheater keineswegs wieder ins Recht. Im Gegenteil, mit adornitischer Schärfe bezichtigt Strauß das »Bürgertum« des Verrats an seinen Traditionen; er beklagt dessen müdes und muffiges, nur noch antiquarisches Interesse an kulturellen Überlieferungen, die obszöne Vergleichgültigung der Kunst zum philiströsen Ornament. »Je luxuriöser, nobler sich das Theater derzeit drapiert, desto unverhohlener zeigt es sein wahres Gesicht: es ist dem Wesen nach das Dekor, das sich eine spätkapitalistische Gesellschaft ausstellt, und in der Langeweile […] findet sich die Atempause wieder, die nach profitgierigem Tageslauf im Theater sich vergönnt wird.« (V, an, die Selbständigkeit der einberaumten Bereiche zu fördern, als vielmehr das funktionierende Ganze im Auge zu behalten, und daher rührt, in Mixed-Media-Veranstaltungen, die prinzipielle Primitivität der einzelnen Kunstdisziplinen […]. Damit einher geht eine totale Entgrenzung der ästhetischen Erfahrung, welche zwischen künstlerischer Aktivität und gesellschaftlichem Leben alle Distanzen beseitigt sieht …« Happening und Mixed Media sind ästhetische Verdopplungen des Funktionalismus, die das »prinzipiell Andere« der Kunst negieren. »Kritik zu üben an dieser Haltung, der Teile der linken wie der rechten künstlerischen Avantgarde heute zuneigen, bedeutet gegenüber ihrem totalitären Anspruch, die realistischen Grenzen zu bestimmen, denen sie tatsächlich konfrontiert ist, das bedeutet, auf das prinzipiell Andere, das Nichtästhetisierbare, den INHALT nämlich gesellschaftsrevolutionärer Praxis hinzuweisen. Wenn künstlerische Vorgänge zur Zeit überhaupt einen erkenntniskritischen Fortschritt zu leisten vermögen, dann nur, indem sie zuvörderst erklären, wo sie ihr Ende nehmen, nur, indem sie dialektisch genug die Unvereinbarkeit vermitteln, in der sie sich zur aufklärerischen sowohl wie zur aktivistischen Komponente jener Praxis befinden« (V, 37). 3 | Ein Gräuel ist Strauß die »schwindelhafte Technifizierung des Apparats« im Namen des Neuen, all die »Attrappen, zu denen die auf die Bühnen verpflanzten Anliegen der Bildenden Künste depravieren« (V, 16). Abstoßend nennt er die »Anbiederung der obszönen Kultiviertheit unserer Schauspiel-Paläste an die Pornographie der Subkultur« (V, 65).

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165) Mit der »luxuriösen« Feier des leeren Scheins spaltet das Bürgertum den reflexionsfähigen Gehalt seiner Traditionen ab und missbraucht deren Überreste als wärmenden Trost gegen die selbstfabrizierte gesellschaftliche Kälte. Anders als Herbert Marcuse attackiert Strauß also nicht den »affirmativen Charakter« der bürgerlichen Kultur; er betreibt keine Ideologiekritik und wirft dem Distinktionsbürgertum nicht vor, es verschiebe das gesellschaftliche Glücksversprechen von der Sphäre der Produktion in die Sphäre des schönen Scheins, um Erfüllung theatralisch bloß vorzuspiegeln.4 Strauß beklagt etwas anderes: Er beklagt das erhabene Desinteresse des Bürgertums am existenzerhellenden Gehalt seiner Überlieferungen – das traditionelle Theater sei »einfach zu stumpfsinnig« geworden (V, 64).5 Alles in allem fällt die Bilanz ernüchternd aus, denn sowohl das revolutionäre Desillusions- wie auch das bürgerliche Dekorationstheater beseitigen die kritische Spannung zwischen Kunst und Leben, zwischen Ästhetischem und Außerästhetischem. Wider Willen befördern linke Avantgarde wie rechte Restauration die Austreibung von kulturellem Sinn und arbeiten der Zerstörungsdynamik des »Spätkapitalismus« entgegen. Während das »stumpfsinnige« bürgerliche Schauspiel ästhetische »Symbolwerte« ornamental vergleichgültigt, opfert die linke Subkultur die autonome Kunst den heterogenen Ansprüchen politischer Praxis. Solange in einer »totale[n] Entgrenzung der ästhetischen Erfahrung« alle »Distanzen« zwischen »künstlerischer Aktivität und gesellschaftlichem Leben […] beseitigt« (V, 37) und »die Mittel des Theaters zu funktionellen dramaturgischen Zwecken degradiert« werden, dürfe man »nicht erwarten, aus diesem Verfahren Symbolwert zu gewinnen« (V, 182). Wenn sowohl Bürgertum wie Avantgarde in einer paradoxen Allianz den theatralen »Symbolwert« ruinieren, dann muss das Verhältnis von Kunst und Politik neu bestimmt werden. Doch wie könnte die »Auferstehung des Theaters« in der »spätbürgerlichen Gesellschaft« (V, 11) Gestalt annehmen? Wie kann das Theater als Kunstform – und daran möchte Strauß gegen die formalisierte Formlosigkeit der Avantgarde ja unbedingt festhalten – unter den Bedingungen »spätkapitalistischer« Neutralisierung noch eine »aufklärerische« Wirkung entfalten, ohne dabei die tradierten »Symbolwerte« aufs Spiel zu setzen? 4 | Herbert Marcuse, »Über den affirmativen Charakter der Kultur«, in: ders., Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 56-101. 5 | Von der Kritik ausgenommen sind die Regisseure Helmut Kortner mit seiner »expandierende[n] Dringlichkeit« und Rudolf Noelte mit seinem »unerbittlichen Diskretionszwang« (V, 243). Unter den bürgerlichen Schriftstellern bildet Ibsen eine Ausnahme. »Nicht das Thema und schon gar nicht das Bausystem eines Ibsen-Stückes […] sind heutzutage ungenießbar veraltet«; veraltet seien bloß »die Usancen der Darstellung von leibhaftigen Menschen in solchen Stücken« (V, 20).

I. »Spätkapitalismus« und »Genesis-Magie«

Nicht zufällig stößt Strauß bei seiner Suche nach einem diskurskritischen Aufklärungstheater auf die Stücke des Polen Witold Gombrowicz und ist beeindruckt von der theatralen »Magie« (V, 186), mit der dieser das Ästhetische nicht bloß als »Mittel«, sondern autonom als »Wesen« bestimmt, als souveränes sprachliches Spiel (V, 187). Strauß ist elektrisiert und fühlt sich durch Gombrowicz programmatisch bestätigt. Erst wenn das Theater »seinen Traum alleine« trägt und »sich erprobt an Ort und Stelle« (V, 107), wenn es ins Eigene des magischen Spiels einkehrt, kurz: wenn es jene »Virtuosität« entfaltet, die »entsteht, wo immer Körper und Sprache ihre Eigenschaften, halbwegs, vertauschen, wenn sich der Körper auf dem Theater, halbwegs, literarisiert, verkünstlicht und sich die Literatur, halbwegs, verleiblicht« (V, 152) – erst dann werde das Theater wieder zur Bühne der Aufklärung. »[N]ur aus dieser Distanz heraus werden ästhetische Angelegenheiten eine aufklärende Funktion übernehmen.« (V, 36)6 Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei den rezensorischen Texten um monatsaktuell geschriebene Essays handelt, die keinen gesteigerten Anspruch auf theoretische Stringenz erheben, so muss es doch verblüffen, wie systematisch Strauß der »Magie« des autonomen Spiels eine aufklärerische Funktion zuschreibt und sie gegen die Scheinalternative von Restauration und Revolte verteidigt. Kritisch ist die Magie des Theaters für ihn nämlich deshalb, weil sie die anonyme Macht »öffentlicher« Sprache zu Bewusstsein bringt, die kollektiv unbegriffene Infiltration des Symbolischen in die Selbstund Weltverhältnisse des Einzelnen. Denn Sprache ist für Strauß nicht – wie für die Avantgarde – ideologischer oder – wie für das Bürgertum – repräsentativer Schein; sie bezeichnet für ihn »eine reale Macht so gut wie der magische Zauber« (V, 91f.). Die öffentliche Sprache, und darauf kommt es hier an, ist ein weltbildendes Dispositiv, das die »Wirklichkeit« der Wirklichkeit produziert und die Subjektivität des Subjekts. Strauß vermeidet zwar das Wort Verblendungszusammenhang, aber ausdrücklich spricht er von der »Herstellung von Realität durch öffentliches Sprechen auf dem Theater. Worte erschaffen

6 | Die Wiedergewinnung ästhetischer Autonomie fällt mit dem Abschied vom falsch moralisierenden Kunstdiskurs der Nachkriegszeit zusammen. Strauß datiert die Befreiung des Ästhetischen auf den Tag, als Benno Ohnesorg in Berlin erschossen wurde. Sein Tod markiere das »Ende eines auf vielfache, begründete wie irrationale Weise ins Vergangene verstrickten Denkens, das die offizielle Politik ebenso beherrschte wie Kunst und Literatur, vor allem auch die jüngeren Stückeschreiber, und das gleichsam für eine gemeinsame, die Intelligenz und die Herrschenden verbindende politische Moral sorgte« (V, 53). Indem die Revolte die Krise der spätbürgerlichen Gesellschaft ans Licht hebt, befreit sie das Ästhetische aus der Bindung an politische Moral und gibt ihr, ob gewollt oder nicht, den Eigensinn zurück.

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Personen, Rollen, Situationen, die die nächsten Worte, die nächsten Verhaltensweisen provozieren« (V, 107). Zentral ist dieser Satz, weil er erklärt, warum Strauß das »magische« Bühnenspiel nicht als affirmative Weihe, sondern als kritische Intervention versteht; warum er glaubt, nur als ein autonomes bezeichne das Theater jenen Ort, an dem die undurchschaute »Macht« der öffentlichen Sprache in der Performanz des Bühnensprachspiels ihren realitäts- und subjekterzeugenden Charakter zu erkennen gibt. Oder wie es nun programmatisch heißt: Anstatt sich in theoretischen Abstraktionen und sinnlosen Entgrenzungen zu verlieren, anstatt »historische, gesellschaftliche und humanistische MODELLE erkennen« (V, 221) zu wollen, soll das künftige Theater im Körper- und Sprachspiel der Figuren jene »Genesis-Magie« entfalten, mit der die »öffentliche« Sprache die alltagssprachliche Rede in Beschlag nimmt, sie zurichtet und korrumpiert. Nur das autonome Spiel des Theaters enthüllt die Ursache der »spätkapitalistischen« Misere und schärft das Bewusstsein für die symbolische Geburt des Subjekts, für seine Herkunft aus dem Großen Anderen gesellschaftlicher Sprachformen. Welch augenöffnende Kraft die »Genesis-Magie« des Theaters entfaltet, dafür liefern ihm die Stücke Peter Handkes den Beweis. Strauß ist fasziniert davon, wie Handke die Subjektivierungsmacht der öffentlichen Sprache in Szene setzt, wie er das »Funktionieren unserer sprachlichen und sinnlichen Vernunft« untersucht, die »Grammatik und [das] Zuordnungssystem von Wahrnehmungen und Bedeutungen« (V, 72). In Handke erkennt Strauß die wahre Avantgarde, die lang gesuchte Alternative sowohl zum bürgerlichen wie auch zum avantgardistischen Theater. Denn in ästhetischer Distanz, allein in den Sprachspielen seiner Figuren, inszeniere er das »Leben« als Ab-Zeichen gesellschaftlicher Diskurse, und ohne Verrat am theatralen Schein dramatisiere Handke den hermeneutischen Zusammenhang von Sprache und Existenz, von kulturellem Kontext und realisierter Freiheit.7 Nicht zufällig fällt in seiner Kaspar-Rezension das Wort von der »ES-Herrschaft« (V, 62) der Sprache. Mit dieser rätselhaften Wendung meint Strauß die Kollision von gesellschaftlicher Sprache und Subjektbegehren – also jenen Moment, in dem das vorsprachliche Sagenwollen auf herrschende Sprachmuster trifft und gezwungen ist, sich im Symbolischen als dem Anderen seiner Selbst zu artikulieren (V, 221). Schon der Theaterrezensent, heißt das, begreift die gesellschaftliche Semantik als eine Art Matrix, die die individuelle Bedürfnisartikulation aussteuert und den Differenzierungsgrad von Erfahrung bestimmt. Die disponierende Matrix der diskursiven Konvention erschließt die subjektive Welt – und entstellt sie zugleich. Sie schneidet ins ›Fleisch‹ der Leidenschaft, 7 | Diese Einschätzung gilt unabhängig von partieller Kritik an Handkes Poetik. Vgl. auch Jan Eckhoff, Der junge Botho Strauß, bes. S. 121f.

I. »Spätkapitalismus« und »Genesis-Magie«

sie bildet und begrenzt das Wollen und Wünschen und reguliert das Tun und Lassen. Die öffentliche Sprache, so glaubt Strauß, reproduziert sich psychosemantisch durch die Begehrensstruktur hindurch, um den Sprechenden zugleich hervorzubringen wie auch zu »erziehen«. Der Einzelne figuriert dabei als lebendes Double gesellschaftlicher Diskurse, er ist »Opfer und Spielzeug einer neuen ES-Herrschaft: das ES einer prästabilierten linguistischen Ordnung, welche durch Sprache erzieht, dirigiert und auch zugrunderichtet« (V, 62f.). Dass die »ES-Herrschaft« der Sprache im Sinn des Wortes existenziell, ja mehr noch: dass sie ein Spiel auf Leben und Tod ist – auch dafür steht Handkes Stück Kaspar. In einem schändlichen Experiment misshandeln die »Einsager« den namen- und herkunftslosen Kaspar mit Wort-Zeichen, um ihn nach ihrem Bild zu formen und als Doppelgänger ihrer Sprechweisen vorzuführen. Wehrlos ist Kaspar der linguistischen Folter seiner Peiniger ausgesetzt, und er ist es besonders deshalb, weil sein frühkindlicher Spracherwerb zuvor brutal unterbunden worden war. Das erwachsene Kind, das nach seiner Isolationshaft keine »selbsteigene«, ihn schützende symbolische Ordnung hat internalisieren können, weiß dem Terror der »Einsager« nichts entgegenzusetzen, und so stirbt Kaspar, der nie im eigenen Namen eine Person hatte sein dürfen, in der Nacht der Welt, zugrundegerichtet von der semiotischen Folter einer ihm fremden Sprache. Wie erhellend Strauß sein diskurskritisches Besteck zu handhaben weiß, zeigt auch die Besprechung einer Inszenierung von Fernando Arrabals Stück Der Architekt und der Kaiser von Assyrien. Auch bei Arrabal resultiert die Depression des »bürgerlichen Individuums« aus dem Verfall seiner symbolischen Formen (V, 99-103), und das (Liebes‑)Unglück der Figuren und die Armseligkeit ihrer Sprache sind für Strauß zwei Seiten einer identischen Deformation: Das mediale Phrasenregime hat erotische Kodierungen so vollständig zu »Kulturbrack« (V, 101) ausgewaschen, dass das Sagenwollen der Liebe scheitert und Gefühle nicht mehr in kommunizierbaren Sinn verwandelt werden können. Die wichtige Beobachtung lautet hier: In dem Maße, wie die medialisierte Sprache semantisch »ausbleicht«, nimmt sie einen »kindlichen Dingcharakter« an; sie spaltet sich vom Subjekt ab, läuft leer, spricht »fremd« und wird unverständlich. Die eigene Muttersprache erscheint den Bühnenfiguren plötzlich fern und unzugehörig; nach dem Schisma von Wort und Bedeutung beginnen sie zu stammeln und reduzieren Kommunikation auf verbale Ökonomie, auf einen »Warentausch« der Worte (V, 101). So misslingt den naturalisierten Sprachpuppen in Arrabals Babylon, was später vielen Strauß’schen Figuren misslingen wird: die Singularisierung der Bühnensprache zum unverwechselbaren Ausdruck einer identifizierbaren Person. Die »Sprache bringt ja, genau besehen, zwischen Kaiser und Architekt keine andere Beziehung zuwege als eine gleichsam warenhafte: Übernahme und Austausch von solchem

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(Libido‑)Inventar. Sie schwemmt Kulturbrack an, Worte, deren Bedeutungszusammenhang aufgelöst ist, die einen abgeflachten, kindlichen Dingcharakter annehmen. Ich habe mich mit Coca Cola und Tanks unterhalten und mit den Museen von Babylon« (V, 101). Auch in den Theaterstücken Ödön von Horváths beschreibt Strauß die Sprach-»Kälte« der Figuren als diskursiven Spiegeleffekt einer vollendet ›lieblosen‹ und schablonenhaften Konvention. Mit diskreter Gewalt erobert sie das kulturell Imaginäre der Bühnengesellschaften und kolonialisiert die symbolische Seele des Subjekts; die öffentliche Sprache zertifiziert seine Gefühle, richtet sie zu und tötet sie ab. Vor allem Kasimir und Karoline wertet Strauß als dramatischen Beweis dafür, dass sich die Liebesunfähigkeit der Figuren nicht einer sozialen, sondern einer semantischen Entfremdung verdankt, nämlich der »Vereisung« erotischer Metaphern und der Medialisierung intimer Rede. Denn weil ihre »romantischen« Geständnisse nur aus standardisierten Formeln bestehen und die erotische Sprache keine Quelle von Affektivität mehr ist, scheitern die Charaktere daran, ihre Liebe symbolisch zu beglaubigen – wie Marionetten hängen sie an den Fäden einer banalisierten öffentlichen Rede, deren Konditionierungsmacht sie nicht brechen, sondern nur floskelhaft verdoppeln können. Horváths Menschen ist die Sprache des Herzens fremd geworden, ihnen fehlen die kulturellen Kodierungen von Intimität und die Bilder zur Alphabetisierung ihrer Gefühle. Aus diesem Grund zeigen Horváths Stücke für Strauß auch keine schwachen und scheiternden Charaktere; sie zeigen die »Miseren des Privaten als solche einer plakativen, geborgten unkommunikablen Sprache. Was intim mitgeteilt wird, ist allemal schon ›veröffentlichtes‹ Reden, zitierte Floskel aus einer gebilligten Sprachkonvention« (V, 83).8 Noch weiter als in Marieluise Fleißers Pioniere in Ingolstadt sei bei Horváth die Entfremdung »ins Innere der Figuren vorgedrungen: in deren Bewußtsein, deren Sprache, in welcher sie, je inständiger sie über ihr Intimstes Auskunft zu geben versuchen, um so mehr sich einer offiziellen, einer ›öffentlichen‹ Redeweise bedienen, stets von dem schizophrenen Bedürfnis durchdrungen, sich als geschichtlich bestimmte Individuen zu formulieren, wobei Geschichte und Natur zu einem, dem ›Eigentlichen‹ verschmelzen« (V, 223). Handke, Arrabal, Horváth – alle drei Autoren bestärken Strauß in der Überzeugung, dass sich das Theater nur dann wieder in einen Ort politischer Auf8 | Strauß sieht eine überraschende Parallele zwischen Horváth und Godard: Sie verbindet der gemeinsame Kampf »gegen den Terror der ›Außen-Lenkung‹, den Fetischismus der Leitbilder. Verfestigt sich für die Personen aus Godards Filmen die erfahrene Welt zur Galerie von Abziehbildern und Reklame-Klischees, zum Gerümpel subkultureller Fabrikate, so sprechen die Horváth-Figuren gleichsam präformulierte Inschriften auf Transparent und Panier. Die Sprache verhärtet sich zum Zitat, das Gefühl verfällt zu Kitsch und Sentimentalität.« (V, 83)

I. »Spätkapitalismus« und »Genesis-Magie«

klärung verwandelt, wenn es seinen ästhetischen Freiraum nutzt und Gesellschaftskritik als genealogische Sprachkritik betreibt, genauer: wenn es in den diskursiven Praktiken der Gesellschaft »Selbstentfremdung, Krise, Verfall und Untergang des bürgerlichen Individuums« (V, 221) ausfindig macht und deren Ursache in Szene setzt. Nur die »Genesis-Magie« des Theaterspiels durchbricht den Bann der »Bedeutungsleere«; nur sie enthüllt präsenzästhetisch, wie der öffentliche Diskurs Subjektivität formiert, wie unauflöslich »Natur« (als Natur des Subjekts) und »Geschichte« (als Resultat sprachlicher Handlungen) ineinanderspielen. Deshalb muss das Theater für Strauß ebenso konservativ wie kritisch sein. Kritisch muss es sein, um die »Selbstentfremdung« des »spätbürgerlichen Subjekts« ins Bewusstsein zu heben; konservativ muss es sein, um im scharfen Kontrast zum Regime der Öffentlichkeit eine rettende Gegen-Realität »zur Sprache zu bringen«, die verschütteten Ressourcen der Alltagsrede ebenso wie die »Symbolwerte« der kulturellen Überlieferung. Mit einem Wort: Während die Avantgarde auf die Produktion des Neuen zielt, verteidigt Strauß in zeitkritischer Absicht das Alte, denn ohne Symbolwerte, ohne kulturelle Muster der Selbst- und Weltdeutung entstehe eine Bilder-Leere, in der sich die »Gemeinschaft« auf »die Summe der Einsamkeit ihrer Inwohner« reduziert (V, 122). Zugegeben, Strauß bleibt dem Leser eine präzise Bestimmung der »Symbolwerte« schuldig. Es sagt nicht, welche Überlieferungen er im Blick hat und welche nicht. Unbestimmt bleibt auch, wie er Traditionen verstanden wissen möchte: Ob er sie reflexiv versteht, das heißt als kulturelles Medium gesellschaftlicher Selbstdeutung; oder ob er sie normativ versteht, als invariante »mythische« Wahrheit, die nicht kritisiert, sondern allein im Modus kontemplativer Verehrung rituell wiederholt werden darf. »[D]ie wirklich entsetzliche Selbsterkenntnis ist mit dem Mythos vergangen, hat keine Spuren hinterlassen in der bürgerlichen Kunst. Dort sind die eigenen Melodien den Verhältnissen die liebsten.« (V, 225) Um noch einmal den Unterschied zu fassen: In einem reflexiven Verständnis sind Symbolwerte kulturelle Deutungsmuster im Spiel der menschlichen Selbstauslegung; in einem normativen Verständnis repräsentieren Symbolwerte ein ungeschichtlich-präskriptives Wahrheitswissen – das »Bild des ›anderen Menschen‹ […], und zwar nicht des kommenden, des durch die revolutionierte Gesellschaft neugeformten Menschen, sondern das seiner immerwährenden Mythologien« (V, 187). Diese Entgegensetzung von Mythologie und Moderne ist für die Rezensionsessays allerdings untypisch, sie bleibt die Ausnahme und bedeutet für Strauß (noch) nicht, dass das Eingedenken »immerwährende[r] Mythen« dem Theater einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verschafft, eine Souveränität über alle nicht-ästhetischen Diskurse. Doch wie immer es sich damit verhält – der Theaterkritiker hat dem Theaterautor das sprachdiagnostische Fundament gelegt und ihm eine erste Formel vorgegeben: Sprache ist eine gefährliche magische Macht, denn sie formatiert

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den Raum existenzieller Erfahrung und den »Sinn« des Realen. »Wenn unsere Erfahrung zerstört wird, wird unser Verhalten zerstörerisch sein« (V, 44).

II. Konsum von Sinn

Die frühen Theaterstücke

Sprache, so lautet der Refrain der Strauß’schen Theaterkritiken, ist die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Von der symbolischen Kapazität ihrer Metaphern und Bilder hängt es ab, wie sich der Einzelne auf die Praxis seiner Freiheit versteht und wie bewusst er sich zu existenziellen Grunderfahrungen verhält, zu Zeit und Sterblichkeit, zu Liebe und Glück. Strauß konstruiert eine hermeneutische Klammer zwischen Semantik und Existenz, zwischen dem Bedeutungsreichtum gesellschaftlicher Sprachspiele und der Differenziertheit subjektiver Selbstverhältnisse. Aus diesem Grund handeln seine Theaterstücke nicht einfach von Liebe und Selbstheit, von Angst und Tod – sie handeln vom Zustand der symbolischen Ordnung, in denen diese Grunderfahrungen gemacht und bedacht, beschwiegen oder übersprochen werden.1 Dementsprechend experimentiert Strauß auf der Bühne auch nicht mit der »realen Welt«, dem »wirklichen Leben« oder dem »leibhaftigen Anderen«; er entwirft vielmehr einen semantischen Raum, auf dessen Grundriss »die Welt« und »der Andere« überhaupt erst als reale erscheinen. Alles, was auf der Bühne »wirklich« geschieht, geschieht im Spannungsfeld des Symbolischen, und deshalb resultiert das Unglück seiner Figuren nicht aus individuellen Charakterneurosen, sondern aus dem Zustand der kollektiven Bühnensprache und der signifikanten Leere ihrer Bilder.2 1 | Die textnahe Deutung der Strauß’schen Theaterstücke setzt sich unvermeidlicherweise dem Verdacht aus, sie konzentriere sich allein auf das Skelett der theatralen Aussage und verkenne, dass die Sprache des Theaters erst im Körper des Schauspielers ästhetisch »ins Leben tritt«. Dem Verdacht kognitiver Reduzierung ist schwer zu widersprechen, eigentlich gar nicht. Tatsächlich setzt die notwendige Beschränkung auf den puren Text die Theatralität der Stücke »aufs Spiel« und verkürzt sie um das stimmlich und körperlich entfaltete Moment ihrer Inszenierung. 2 | »Postdramatisch« sind diese Stück also nicht aufgrund ihrer Selbstreflexivität (das ist die richtungsweisende Beobachtung von Hans-Thies Lehmann am Gegenwartstheater); postdramatisch sind sie, weil Strauß seinen Figuren die motivationalen Bedingun-

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Dieses holistische Grundmuster – die »schicksalhafte« Verschränkung von Sprache und Leben – ist bei Strauß von Anfang an im Spiel und organisiert die innere Dramatik seiner Stücke. Bereits sein Theaterdebüt, das mit Unverständnis aufgenommene Stück Die Hypochonder, erzeugt die Binnenspannung nicht in der sozialen Dimension der Handlung, sondern in der semantischen Dimension der Sprechweisen, genauer: in einer radikalen, von den Figuren selbst in Gang gesetzten Versachlichung sprachlicher Bezüge. Fast schon modellhaft beschreibt der Erstling, wie eine Gruppe Naturwissenschaftler ihre Alltagssprache von anachronistischen Metaphern reinigt und sie auf nützliches »Wissen« umprogrammiert. Doch nachdem die Forscher, ganz im Geist des logischen Positivismus, sorgfältig alle metaphysischen Schlacken beseitigt und das kulturell »Unverständliche« durch erzählfreie »Dingworte« ersetzt haben, ist ihre Sprache zwar vollständig »klar«, aber auch vollständig unverständlich. Die szientistische Säuberung, so die Grundidee des Stücks, löscht das Sprachgedächtnis, und wissenschaftliche Aufklärung schlägt um in den Terror der Transparenz. Die linguistischen Priester haben die narrativ gesättigten Kontexte der Alltagssprache zerstört, und damit verwandelt sich ihre absolute Freiheit in absolute Leere. »Nichts behalte ich bei mir. Ein rasendes Vergessen, auf das ich nicht angesprochen werden darf. Ich glaube, über meiner Arbeit, über den Fischen bin ich ins Verderben, bin ich in die Bredouille geraten. Oder wie man sagt. Zum Beispiel: wie nennt sich der Morgendunst, der aus dem feuchten Urwald steigt? […] Das treffende Wort. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.« (TS I, 13)3

II.1 D as »S elbst« im S elbst verhältnis Betrachtet man die Inszenierungsstrategie der frühen Theaterstücke, dann fällt die Unerbittlichkeit ins Auge, mit der Strauß seine Bühnenfiguren zur gen des Handelns entzieht und so das Freiheitsbewusstsein leerlaufen lässt. Vgl. HansThies Lehmann, Postdramatisches Theater, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2005. 3 | Vladimir ist in Die Hypochonder der Einzige, der noch nicht vergessen hat, dass er vergisst. Er spürt, dass der Verlust kulturellen Wissens nicht durch wissenschaftliches Mehr-Wissen ausgeglichen werden kann. Szientistische Rationalität, so scheint der Forscher mit dem slawischen Namen zu behaupten, erschließt dem Subjekt nicht die Fülle der äußeren Welt, sondern interniert es in eine Weltbildhöhle, die ihre Kausalitäten selbst »veranlasst«. Nelly: »Als käme nichts Neues mehr. Als sei ein Ende erreicht.« Vladimir: »Ja. Das endlose Ende aller Widerreden und Nachfragen […]. Und was um uns herum geschieht, das beobachten wir und veranlassen es selbst zur gleichen Zeit. Spürst du nun, was es heißt, keinen Ausweg mehr suchen zu müssen? Nicht mehr lesen, keine Urteile mehr fällen, nicht länger das Neue und Fremde kennenlernen« (TS I, 19).

II. Konsum von Sinn

Selbstauskunft zwingt und mit der Frage nach ihrer Identität konfrontiert: »Wer bin ich?« Wie nicht anders zu erwarten, gibt es darauf keine Antwort; die Frage nach dem »Selbst« der Selbstidentifizierung geht ins Leere, und redseliges Verstummen ist für gewöhnlich die Antwort auf die Frage, wer man denn »eigentlich« sei. Bezeichnenderweise fühlen sich die Strauß’schen Figuren auch dann zu einer Antwort genötigt, wenn sie niemand gefragt hat. »Es hat dich niemand gefragt, wer du bist, Olaf. Es hat dich niemand gefragt!« – »Nein? Ach. Ich dachte, ich hätte so was gehört … Was? Es hat mich niemand gefragt?! Ja ist denn das die Möglichkeit?!« (TS II, 334) Ebenfalls in Die Zeit und das Zimmer fragt die »Schlaffrau« die »Ungeduldige«: »Wer sind Sie überhaupt?« Die Antwort: »Womit wir beim Thema wären: Wer bin ich?« (TS II, 333) Die Charaktere haben Mühe, im eigenen Namen zu sprechen oder ihre Lebensgeschichte in eigener Autorschaft zu beglaubigen. Zuverlässig scheitern sie daran, biografische Episoden zu bilden, ihre Vergangenheit zu deuten oder sich eine Zukunft vorzustellen. Sogar das Zentrum ihrer symbolischen Identität, der Eigenname, scheint indefinit und prekär, und viele Figuren wünschen sich nichts sehnlicher, als beim Namen gerufen und als Person anerkannt zu werden. »Wie schön das klingt. Zum ersten, ersten Mal höre ich meinen Namen!« (TS II, 345) Mit grimmigem Vergnügen lenkt Strauß hier die szenische Aufmerksamkeit auf das Strukturschicksal des Subjekts und die »Tragik« reflexiver Selbstvergewisserung. Strukturschicksal meint zunächst die Tatsache, dass jede Selbstbeziehung notwendigerweise einen schmerzhaften Abstand des Ich zu sich selbst erzeugt. Indem sich das Subjekt zum Objekt seiner eigenen Frage macht, erzeugt es eine innere Differenz; es perforiert seine vorsymbolische Selbstvertrautheit und hinterlässt eine »Lücke« im Selbst. Entscheidend ist nun, dass für Strauß diese Lücke im »Selbst des Selbstverstehens« weder durch bloße Reflexion noch durch Anrufung einer vorsprachlichen Identität zu schließen ist. Vielmehr muss der kognitiv aufgerissene Selbst-Abstand (»Wer bin ich?«) semantisch sondiert und im Medium kulturell vermittelter Selbstbeschreibungen abgetastet werden. Deshalb ist ein Subjekt für Strauß auch keine mit sich identische Substanz; es ist eine sprachliche Relation, die ihren Grund nicht autonom legen, sondern nur im Licht alltagssprachlich vorgefundener Sinnmuster deuten kann. Ohne gesellschaftlich kommunizierte Lebensentwürfe laufen Selbstthematisierungen reflexiv leer; Identitäten werden punktförmig, prädikatlos und situativ, die Selbstwahl scheitert, und die Figuren stürzen »tief enttäuscht« in den grundlosen Grund ihrer Existenz. »Du darfst niemals sagen, dass ich eine Null bin.« (TS II, 14)

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Beispielhaft für diesen Sturz ins reflexive Nichts sind gewiss Kattrin und Meret, die beiden Quasselstrippen aus Kalldewey, Farce.4 Wie schon die Zwillingsbrüder Spark in Die Hypochonder, so lässt Strauß die Journalistinnen als sprachidentische Doppelgängerinnen auftreten, deren »Krakeele« sich in Endlosschleifen phrasengetreu wiederholt. Kattrin und Meret spiegeln wechselseitig die eigene Leere, und streng genommen sind sie keine Individuen, sie sind substanzlose Subjektivitäten, eher ein »Etwas« als ein »Jemand«, oder wie Strauß nahelegt: Sie sind die »Medien« der Medien, die Resonanzverstärker des öffentlichen »Man«. »Das ist doch der dickste Terror, den du da laberst.« (TS  II, 13) Je verwechselbarer die Zombie-Zwillinge einander werden, desto hysterischer beharren sie auf ihrer Einzigartigkeit: »Ich glaube aber ganz fest, daß niemand/kein Mensch ist wirklich eine Null.« (TS II, 14) Schließlich steigert sich ihre Angst, keine identifizierbare Person zu sein, sondern ein prädikatloses Dingsubjekt, zu »kreischende[r]« Selbstbehauptung, und Kattrin und Meret fragen nicht mehr, wer sie sind, sondern sie fragen, ob sie sind. »Gibt doch keinen korrekten Beweis, daß ich wirklich da bin. Gibt doch real keinen Beweis, daß ich wirklich existier. – Na komm. Na komm. Dasitzen und kochen ist zum Beispiel Existenz.« (TS II, 66) Artikulationsarmut und idiosynkratischer Selbstbezug gehören hier zusammen, denn den beiden Journalistinnen mangelt es nicht einfach an »Identität«, es mangelt ihnen an internalisierungsfähigen Selbstbildern, die sie sich zuschreiben und als eigene übernehmen könnten. Auffällig ist auch ein traditionsfeindlicher Affekt. Vor allem »alte« und scheinbar antiquierte Wörter wecken ihr spontanes Misstrauen und werden ohne Zögern als »Quatschwörter« denunziert. »Pönt, sagt doch kein Mensch« (TS II, 21). »Pönt und so’ne Quatschwörter« – »Laß doch mal den Kack mit den Wörtern […] – Uaaah! Die sagt bloß Quatschwörter, die keiner sagt.« – »Du sabberst doch auch nur rum.« (TS II, 22) Diese Szene ist exemplarisch, weil Strauß seine Doppeldarstellerinnen als weltlos »sabbernde« Täteropfer vorführt, als Produkt der von ihnen selbst hergestellten sprachlichen Verhältnisse. Der possessive Individualismus, mit dem Kattrin und Meret die Sprache als Privateigentum behandeln, greift die Grundvoraussetzung ihrer Existenz an, denn damit ruinieren sie jenes symbolisch Unverfügbare, von dem sie als Subjekt allererst konstitutiert werden. »Laß sie doch reden was sie will. Sind doch ihre Wörter. Kann sie doch machen mit was sie will.« (TS II, 21)5 4 | Zur Mikro-Logik dieses Dialogs (und zur systematisch verzerrten Kommunikation bei Strauß) vgl. Marlene Faber, Stilisierung und Collage, Frankfurt a.M. 1994, S. 287ff. 5 | Andeutungsweise lässt Strauß den Verlust von sprachlichem Sinn als Doppeleffekt aus faschistischer und »westlicher« Sprachkorruption erscheinen: »Pffft … muß wirklich aufpassen, daß ich nicht zu heavy esse/ne abgeebbte Kuh/mit Hakenkreuzen aus Plastik auf den Äppeln« (TS II, 10f.).

II. Konsum von Sinn

Wie schon in Die Hypochonder, so inszeniert Strauß den Freiheitsanspruch der Figuren als Herrschaftsanspruch über die Sprache (»sind doch ihre Wörter«). Dieses Selbstmissverständnis von Autonomie ist für ihn deshalb fatal, weil es eine Bild- und Bedeutungsleere erzeugt, die in Gestalt von Selbstverlust und Ausdrucksarmut auf die Figuren zurückschlägt. Denn weil das mediale Universum der »Quatschwörter« keine identitätsstiftenden Bilder enthält, keine transzendierenden Prädikate des Guten, bleibt das Selbstverhältnis der »Medienvertreterinnen« ein Verhältnis, das sich – gleichsam als Parodie des romantischen Subjekts – in unabschließbaren Bewegungen reflexiv zu sich selbst verhält. Wie in einem Teufelskreis vergrößert der Selbstthematisierungszwang wiederum den Selbst-Abstand der Reflexion, und so können Kattrin und Meret die quälende Introspektion des »Wer bin ich?« auch nicht beenden.6 Die Medialisierung, oder was für Strauß dasselbe ist: die Subjektivierung der Sprache macht die modernen Reflexions- und Freiheitsgewinne wieder zunichte und lässt eine historisch neue Form normativ neutraler Selbstverhältnisse entstehen, die sich im »Ich bin« objektloser Reflexion erschöpfen. »Oje. Woran könnte ich bloß noch denken?« (TS II, 200)7 Zweifellos entwickeln einige Strauß’sche Figuren durchaus ein Bewusstsein für ihre Misere, sie spüren gleichsam »am eigenen Leib« die Armseligkeit ihres bilderlosen Lebens. Mit überraschender Renitenz bäumen sie sich gegen ihr »Falschleben« auf, aber nur, um es im selben Augenblick mangels Alternativen wieder fatalistisch zu bejahen. Der Sprachbereiniger Jakob (in Die Hypochonder) ist ein Musterfall dieser konformistischen Dissidenz: »Es ist ein tödlich falsches Leben, das unsereins verbringt. Und man weiß es auch. Aber dieses Bescheidwissen, dieses haarespaltende Besserwissen ist dem Falschleben selbst schon so zugehörig, daß es darin als sanfte, unentbehrliche Qual mitlebt. Wie wenn wir, im Schlaf gefangen, träumen, daß wir träumen.« (TS I, 56) »Falsch« ist sein Leben und unsicher sein »Selbst«, weil in seinem Diskursmilieu keine Bilder des Richtigen existieren, keine Selbstbeschreibungen, die er als sinnvolle für sich übernehmen könnte. Seine Reflexionsmelancholie verschafft Jakob zwar ein Selbstgefühl; gleichwohl aber dient Reflexion hier 6 | Axel Honneth beschreibt das »detektivische« innere Abtasten prägnant als »Selbstverdinglichung«. Ders., Verdinglichung, Frankfurt a.M. 2005, S. 78ff. 7 | Das Subjekt, und darauf beharrt Strauß mit Kierkegaard’schem Nachdruck, ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält (Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, München 1976, S. 31). Der unsympathische »Sören« in Groß und klein erscheint als negative Inversion von Kierkegaards Selbstverhältnis. – Auf die Nähe zu Kierkegaard und die Verwendung quasi-wörtlicher Zitate verweist H. Th. Lehmann in »Mythos und Postmoderne – Botho Strauß, Heiner Müller«, in: Albrecht Schöne u.a. (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Band 19, Tübingen 1986, S. 249-255, hier S. 253.

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nicht mehr der Orientierung seiner Freiheit, sondern der Unterwerfung unter das Unvermeidliche. Nachdem die Figuren den Widerstand der Sprache gebrochen und sie zu ihrem Privateigentum gemacht haben, fallen Autonomie und Heteronomie zusammen, und Entfremdung bildet – wie bei Jakob – den natürlichen Teil einer »Identität«, die nur als entzweite ganz bei sich selbst ist. »Nichts fremder als der überstandene Schmerz, der dich beinahe die Identität gekostet hätte. Nichts fremder …« (TS I, 402) Solche Szenen muten dem Publikum nicht nur die Einsicht zu, dass eine gelingende Selbstwahl zwingend auf gesellschaftlich kommunizierte Identitätsmuster und Subjektnarrative angewiesen ist; mit gleichem Nachdruck zeigt Strauß, dass auch das Verhältnis zum eigenen Körper symbolisch strukturiert ist. Eine leibliche Selbstbeziehung ist für ihn nicht »natürlich« und schlechthin gegeben, sondern muss ebenfalls als Effekt kommunikativer Vergesellschaftung verstanden werden. Damit diese Selbstbeziehung glückt, muss eine Figur in der Lage sein, ihre Subjektnatur in »liebenden« Metaphern anzusprechen und ein Körperselbst auszubilden, eine innere symbolische Imago. Diese »liebenden« Metaphern kann eine Strauß’sche Figur allerdings nicht erfinden, sondern nur in der symbolischen Ordnung ihrer Bühnengesellschaft vorfinden.8 Erst vor dem Hintergrund dieser Behauptung wird verständlich, warum es dem Strauß’schen Personal nicht gelingen will, innerhalb seiner affektiv ausgekühlten Diskurse ein symbolisch strukturiertes Körperselbst auszubilden und seine opake Natur in den selbsteigenen Leib zu verwandeln.9 Die semantische Temperatur der Sprechweisen vereist gleichsam die innere Kommunikation und unterbindet die »Liaison« von Sprache und Körper. Ohne »liebende« Metaphern, ohne das imaginierende Sprechen des Körpers kann die Physis symbolisch nicht integriert werden, und entsprechend klagen die Figuren über mysteriöse Blockaden und komische Überwältigungen, vor allem aber über das Gefühl, gespalten zu sein – gespalten in eine unzugehörige »juckende« Physis auf der einen und eine feindselige Sprache auf der anderen Seite. Nicht nur Kattrin und Meret sind Fremde im eigenen Körper und zappeln in Kalldewey, Farce hyperkinetisch durch die Szene, auch im Fall von Marie Steuber in Die Zeit und das Zimmer sind Sprach- und Körperverlust zwei Erschei8 | Anders gesagt: Strauß privilegiert die Semantik vor dem Vorsprachlichen; der »spätere« Strauß dreht das Verhältnis dann um. Vgl. zur Diskussion um Intentionalität z.B. Georg Meggle, »Intention, Kommunikation und Bedeutung. Eine Skizze«, in: Forum für Philosophie (Hg.), Intentionalität und Verstehen, Frankfurt a.M. 1990, S. 88-108, sowie Herbert Schnädelbach, »… daß p. Über Intentionalität und Sprache«, in: ders., Philosophie in der modernen Kultur, Frankfurt a.M. 2000, S. 204-229. 9 | Vgl. Christof Kalbs Studie zu Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie: Desintegration, Frankfurt a.M. 2000.

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nungsformen einer identischen Krise.10 Den Spielern bleibt ihre innere Natur äußerlich, und sie empfinden sich als willenlose Objekte ichfremder Mächte. Im Widerstreit mit dem »Ich« siegt »naturgemäß« die Physis: »Die Leere im Rücken, dieses Biest … mein Schatten juckt, mein Schatten sticht […] Am ganzen Körper bin ich nur noch Rücken, Rücken, kein Gesicht.« (TS I, 349) Mit dieser naturalistischen Wendung stellt Strauß das Autonomieprinzip gleichsam auf den Kopf: Nachdem die Verwandlung des Körpers in den sprachlich imaginierten Leib gescheitert ist, läuft die Symbolisierung der Natur regressiv in sich zurück; die partialisierte Bedürfnisnatur übernimmt das Kommando und verlangt in der Rhetorik des freien Willens die Unterwerfung des Subjekts unter sein nacktes Triebschicksal. »Sagt das Köpfchen zu dem Bauch/Tu was du willst, ich will es auch.« (TS I, 346)11

II.2 E ntscheidung zur N ichtentscheidung Fast allen Strauß’schen Theaterfiguren eignet etwas Hamlethaftes, sie zögern und zaudern und scheinen unfähig zu sein, eine »Passion« (TS III, 244) auszubilden oder einen Sinn in der Welt zu identifizieren. Viele wissen nicht, was sie wollen, und wenn sie es wissen, dann wollen sie es nicht mehr. »Warum sind wir bloß so wenig entschlossene Menschen?!« (TS II, 349) Beständig ist nur die Unbeständigkeit, und so schwankt die Gemütslage des Strauß’schen Personals zwischen vegetativer Benommenheit und unbestimmtem Schmerz. Marlies im Dialog mit Johanna in der Trilogie des Wiedersehens: »Leiden wir denn wenigstens ein bißchen?« – »Und ob. Glückstraurig sind wir, glückstrau10 | Strauß lockert auch die Einheit von Name und Person: Die »Figur, die Marie Steuber heißt, mag […] in den verschiedensten Situationen wiederkehrend auftauchen und durch gleichbleibende Anatomie Identität vorspiegeln – in Wahrheit besteht sie doch lediglich aus zum Teil sogar konträren frei flottierenden Charaktermerkmalen, die sich, ohne inneren Zusammenhang, von Fall zu Fall unter dem genannten Namen einstellen«. Franz Norbert Mennemeier, »Ästhetik des Verschwindens. Botho Strauß’ Komödie ›Die Zeit und das Zimmer‹«, in: ders., Brennpunkte, Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 225-234, hier S. 232. 11 | Die Partialisierung von Körper und Sprache durchzieht das gesamte Strauß’sche Werk. Vgl. auch die Anspielung auf den Sprach-Leib Penelopes in der Eröffnungsszene von Ithaka (TS III, 77). Oder Georg zu Helma in Der Park: »Du weißt ja nicht, wie fürchterlich mein Verlangen dich schon zerstückelt hat. Nur abgeschnittene Teile sehe ich innerlich, nur unerreichte Dinge: Brüste, Schenkel, Hüfte! Ab der Kopf und ab die Füße! Eine Killerbestie massakriert nicht wollüstiger als meine blinde Fantasie« (TS II, 129f.). Zu den Auflösungserfahrungen und symbolischen Dissoziationen Strauß’scher Figuren vgl. auch Monika Sandhack, Jenseits des Rätsels, Frankfurt a.M. 1986.

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rig.« – »Denn wenn wir nicht litten, so erführen wir nicht, was die Sehnsucht will.« (TS I, 346) Das Leben ist ein »Dazwischen«, und in diesem Inbetween hat sich die Wirklichkeit als Raum des Handelns zurückgezogen und erscheint den Figuren als großer schwarzer Block, als ebenso undurchdringlich wie »unansprechbar«. Vernünftigerweise ist in irrationalen Verhältnissen die Entscheidung zur Nichtentscheidung nun die einzig realistische Option. »Nein, nie wieder Beginn! Nie wieder Auf bruchstimmung.« (TS II, 328) Sollten sich die Handlungsunfähigen wider Erwarten doch noch vom Fleck bewegen, dann gehen sie nicht nach vorn, dann gehen sie »ab«. »Wir warten.« – »Aha … Worauf? … Hm? Worauf? – Keine Antwort. Na schön. Laß uns gehen, Marlies.« (TS I, 376) Man wird dem dramatischen Kalkül solcher Szenen nicht gerecht, erklärt man die Motivationskrise der Figuren, ihren Mangel an »agency« und intrinsischen Interessen aus ihrem Sozialcharakter, aus einem Wohlstandsphlegma, einem apathischen Naturell oder interessanten Neurosen. Schon die Akteursfiktion spricht eine andere Sprache. Mitnichten nämlich fühlen sich die Charaktere unfrei oder gehemmt, im Gegenteil, viele inszenieren sich als mächtig potente Handlungssubjekte, denen das milieutypische Bekenntnis zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung flott über die Lippen geht. Woher also rühren Motivverknappung und Handlungshemmung? Warum können die zweifellos freien und emanzipierten Figuren ihre Autonomie nur proklamieren, nicht aber realisieren? Warum lässt Strauß charakterlose Charaktere und unterprofilierte Scheinindividualitäten auftreten, Frauen und Männer ohne Eigenschaften, die in ihrem Leben keinen tragenden Sinn erkennen können und sich zwischen Lethargie und Panik mit der Entscheidung für die Nulloption zufriedengeben? Die Antwort findet sich auch hier im diskursiven Arrangement der Bühnengesellschaften, in ihren »ausgeblichenen«, eigentümlich neutralen Sprachformen und Weltbildern. Die Figuren entscheiden sich für die Nicht-Entscheidung, weil sie im semantischen Spektrum der Bühnenwelt keine normative »Landkarte« vorfinden, keinen Horizont starker Wertungen, unter dem sie schwache Wünsche in starke Absichten verwandeln könnten. Systematisch, und das ist die konsequent durchgehaltene ästhetische Strategie, entzieht Strauß seinen Akteuren die Interpretamente des »guten Lebens«, und damit fehlen ihnen die evaluierenden Muster, um von ihrer Freiheit einen »passionierten« Gebrauch zu machen. In abstrakter Freiheit läuft das Entscheidungsverlangen ins Leere; kriterienfrei gleiten die Figuren unter den Bedingungen faktischer Autonomie durch ein Kontinuum unentscheidbarer Optionen und austauschbarer Wertreihen. »Voriges Jahr hatte ich in Keitum ein Lädchen im Kunsthandwerk. Dieses Jahr habe ich mir mal nichts vorgenommen … Ich hätte ja auch ein Kind bekommen können.« (TS I, 479)

II. Konsum von Sinn

Gleichwohl ist Strauß kein Intentionalist. Er behauptet nicht, subjektive Regungen ließen sich vollständig versprachlichen und vordiskursive Absichten lückenlos in handlungssichernde Semantik überführen. Ebenso wenig wiederholt Strauß Hegels Kritik an der romantischen Subjektivität, die sich in der Seligkeit des Selbstgenusses »gar nicht erst in die Endlichkeit der Konkretion hinauswagt und an der absoluten Unendlichkeit seines Fürchsichseins, an der irrigen Vorstellung einer Gottähnlichkeit, festhält«.12 Strauß legt die Kritik am Subjektivismus der abstrakten Freiheit tiefer, genauer: Er verlegt sie in das Sprachmilieu seiner Figuren, weil er zeigen will, dass sich erst unter einem Horizont kulturell kommunizierter Handlungsmuster ein Ziel in der Welt erkennen und als Objekt möglicher Identifikation ausmachen lässt.13 Ohne diesen hermeneutischen Horizont spaltet sich das Freiheitsbewusstsein vom Handlungsbewusstsein ab, und die Objektwelt verrätselt sich zu einem skandalös undurchdringlichen Außen, zu einer »Turbohölle der Scheinbarkeiten« (TS III, 244). Lynn, der ein Therapeut in Kalldewey, Farce gerade die letzten metaphysischen Regungen austreibt: »Ich kann mich nicht entscheiden: Geh ich ab? Bleib ich da, sag ich was/sag ich nix? Ich will weg, weg und bleiben, bleiben […] Auf der Speisekarte: Nehm ich Rumpsteak vom Grill oder Rinderzunge in Madeirasoße, ich kann mich nicht entscheiden […] Ich weiß nicht mehr, was besser schmeckt. Ich habe beides auf der Zunge, aber ich kann mich nicht entscheiden.« (TS II, 61)

Wenn Strauß in seinem Werk eine Figur geschaffen hat, die alle Sympathien des Autors auf sich zieht und die gleichsam prototypisch die »tödliche« Abhängigkeit des Einzelnen von der symbolischen Ordnung seiner Gesellschaft verkörpert, dann ist es die Heldin aus Groß und klein – jene engelhafte LotteKotte aus Remscheid-Lennep, die in den goldenen Jahren der Bundesrepublik lebt, im idyllischen Kapitalismus der sozialstaatlich beruhigten siebziger Jahre. Doch unter der saturierten Oberfläche lauert bereits der allgemeine Zerfall. Lotte ist vereinsamt, Freunde hat sie keine, und ihr Ehemann Paul hat sich feige davongeschlichen. Die Bundesbürger, so lautet die Auskunft des Stücks, sind sozial »tot«; sie sind – im Kierkegaard’schen Sinn – sündhaft verstummt und dämonisch verschlossen. Sie können einander mit dem »Auge« der Sprache nicht mehr sehen und als resonante Gemeinschaft erkennen.

12 | Juliane Rebentisch, »Hegels Mißverständnis der ästhetischen Freiheit«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression, Berlin 2010, S. 172190, hier S. 177. 13 | »Starke Wertungen« sind nicht bloß Orientierungen; sie sind die Interpretamente der Selbstdeutung. Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt a.M. 1994.

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Während ihre Mitspieler so »verrückt« sind, dass ihnen ihre Verrücktheit schon wieder vernünftig vorkommt, erscheint allein die christlich empfindende Heldin als eine Ausnahmefigur im Ausnahmezustand. »Unsagbar« leidet sie an der kommunikativen Depression einer ebenso homogenen wie versteinerten Bundesrepublik, in der Worte nicht mehr gesprochen, sondern ökonomisch getauscht werden. Doch ihr Auf begehren gegen das Absterben der Wörter bleibt vergeblich. Selbst wenn ihr das richtige Wort »auf der Zunge liegt«, bringt sie es nicht heraus, und so verliert auch Lotte ihren Platz in der Welt und macht die traumatische Erfahrung leerer Freiheit. Sie empfindet sich als »Windrose« (TS I, 483) auf den Ruinen sprachlicher Bedeutungen, als ein Spielball des Lebens, wahllos getrieben in das »Überall« einer zentrifugalen symbolischen Welt. »Wo-/hin?/Jeder Schritt kann der falsche sein./Wohin in dieses Überall?/Äußerst frei, äußerst frei./Gründlich./Gesetzt, ich ginge Paul suchen./Gesetzt, ich wüßte, wo beginnen …/Nein. So gedacht, komm ich nicht hoch./So gedacht, kommt keine Sterbliche/vom Sitzen ins Gehen.« (TS I, 484) Mutterseelenallein steht das atomisierte Subjekt in der Situation radikaler Wahl; jeder Weg scheint ihm offenzustehen, doch wie gelähmt verharrt Lotte »beginnlos« in reiner Freiheit und reiner Dezision – im Augenblick radikaler Wahl gibt es für sie nichts mehr zu wählen.14 Warum Lotte auf dem symbolischen Terrain der Bundesrepublik nicht »vom Sitzen ins Gehen« kommt, erklärt das Stück mit einem Modernisierungsschub, der das christliche Erlösungsversprechen säkularisiert und in die irdische Verheißung von Wohlstand und Sekurität umkodiert. Der Sozialstaatskapitalismus, so pointiert Strauß, betreibt die Inversion von Gott in Geld; er kommerzialisiert die Alltagssprache und überschreibt den alten »Text« der Welt durch ökonomische Muster. Damit versiegt die religiöse Quelle der Sinnstiftung; die tradierten Erzählungen werden unlesbar und machen die Subjekte »sprachlos«.15 Für diese tektonische Verschiebung steht in Groß und klein die »Weltbuch«Szene. Das »Weltbuch« (anfangs heißt es noch »Gästebuch«) repräsentiert bei Strauß die Textualität der Schöpfung, also die Vorstellung, die Welt sei die Signatur Gottes und das Dasein der Dinge von seinem Geist beseelt. Dieser 14 | Alexander von Bormann verweist auf die Nähe von Lottes Monolog zu Goethes Ganymed-Hymne, auf die mystische Verschmelzung mit Gott. »Groß und klein – Existenzialismus ohne Subjekt? Zur theatralischen Semiosis bei Botho Strauß«, in: Gerd Labroisse/Gerhard P. Knapp (Hg.), Literarische Tradition heute. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur in ihrem Verhältnis zur Tradition, Amsterdam/Atlanta 1988, S. 201-224. 15 | Oder um den ›Schuldigen‹ beim Namen zu nennen: Die amerikanisierte Moderne löscht die christlichen Namen, und dieses Säkularisierungsschicksal muss die Bundesrepublik teilen. Deshalb wandert Lottes Sprachtraum über die Grenze »bis ans Ende des Westens, wo Amerika aufhört und der Osten beginnt« (TS I, 485).

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›Gottes-Text‹, der alles Leben in einen lückenlosen symbolischen Kosmos einliest und menschlicher Kommunikation Kohärenz und Sinn verleiht, ist in Lottes Gegenwart unauffindbar geworden. Das Weltbuch »läuft aus« und die heilige Schrift versickert buchstäblich in der Profanität der Verhältnisse. Damit zerfällt auch die vom göttlichen Metasignifikanten verbürgte Einheit aus »Wort« und »Sinn«. Nach der Verkehrung von Heils- in Fortschrittsgeschichte verlieren die Dinge ihre göttliche Imprimatur, sie verlieren ihren Namen. Die Erde »blutet«, der »Acker verliert seine Saat./Der Tod verliert seine Toten./Die Dinge, die zusammenpassen,/haben sich satt und fliegen auseinander/So wie das All ganz allgemein. Es explodiert unendlich langsam vor sich hin« (TS I, 486).16 In diesem Deterritorialisierungsdrama steht Lotte »namenlos« im Freien und macht schockartig die Erfahrung ihres sprachlichen Wesens. »Die Schrift blieb nicht./Ich sitze gründlich äußerst im Freien!/So weiß wie das Buch/darf ich aber nicht werden./Ich aber nicht!« (TS I, 484) Auf einen Schlag wird ihr bewusst, dass das »Große«, die Gottesgabe der Sprache, das »kleine« Subjekt nicht mehr orientiert – eine vorsprachliche Personalität existiert nicht, und Lottes »Selbst« ist nur ein unscheinbarer Knoten im symbolischen Netz. »Vorsicht, Mißliebchen, Vorsicht!/Gedacht ist gedacht./Sowas lässt sich nicht schwärzen/wie eine verbotene Zeile im Buch./Solange aber ich es bin, die denkt, kann es nur falsch sein.« (TS I, 484f.) Lotte schwankt zwischen Ohnmachtsgefühlen und Allmachtsfantasien, um sich dann der Illusion hinzugeben, sie könne eigenmächtig einen neuen Anfang setzen und aus der Konkursmasse dechristianisierter Wortbedeutungen einen neuen Weltsinn gewinnen. Doch im säkularen Niemandsland der Bundesrepublik lässt sich der fehlende Sinn nicht solipsistisch erzeugen; Sprache ist für Strauß kein formbarer gnostischer Stoff, und sie ist es erst recht nicht in einem christlichen Trauerspiel, in dem es für die Sünde sprachlicher Entzauberung kein Verzeihen gibt.17 16 | Vgl. die Parallele zu Jakob Böhmes Sprach-Schöpfungstheologie in De Signatura Rerum, in: Jakob Böhme, Werke, Die Morgenröte im Aufgang/De Signatura Rerum, hg. v. Ferdinand van Ingen, Frankfurt a.M. 2009. – In einer nicht-religiösen Lesart bezeichnet das »Weltbuch« das symbolische Archiv des Geschriebenen und damit die Gesamtheit aller Interpretamente individuellen Lebens. Oder wie es später in Die Fehler des Kopisten heißen wird: »Schon in meiner Generation wird kaum einer noch erlebtes Leben im Gesicht tragen […]. Und es ist immer das Schon-Geschriebene, das sich auftut. Das schon Geschriebene der Welt, dem wir begegnen müssen, um zu leben, denn Leben ohne diesen Zu-Satz kann es nicht geben.« (FK, 90) 17 | So wäre Groß und klein der Titel für das Verhältnis von ›großem‹ abendländischem Gottestext und ›kleinem‹ subjektivem Deutungsakt. Auf die sündhafte Selbstermächtigung von »Klein« gegenüber »Groß« folgt als Strafe die Entropie des Sinns, das »Plappern« der Sprache und die Entleerung des Weltbuchs. »Du nennst dich meine Braut?/

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Lotte in Groß und klein ist das vielleicht anrührendste, aber nicht das einzige Beispiel für einen »Existenzialismus ohne Existenz«, das heißt für einen Subjekttyp, dessen Wollen und Wünschen sich nicht mehr semantisch profilieren und in Handlungen umsetzen lässt. Auch in dem Stück Die Zeit und das Zimmer führen die Charaktere ein Leben im hypothetischen Konjunktiv, denn auch sie handeln nicht, sondern die Handlungen stoßen ihnen bestenfalls zu: »Wir wollen nichts. Wir haben nichts vor. Wir sind zwei sich liebende Skeptiker. Wie lange haben wir nicht mehr gesagt: Man könnte, man sollte, man müßte. Wir genießen die gemeinsame Seelenruhe, die innere Schönheit: nichts zu wollen. Und doch liegt uns manchmal der Plan auf der Zunge. Leuchtet die Idee im Auge. Aber Ideen sind scheu. Schon mit dem ersten Wortlaut sind sie verschwunden.« (TS II, 325f.)

Wie Lotte, so verharren diese »Skeptiker« an der Verbalisierungsgrenze, und auch ihr Sagenwollen verstummt in dem Augenblick, wo es mit der Sprachkonvention in Berührung kommt, mit der infektiösen Sinnlosigkeit der gesellschaftlichen langue. Die Figuren empfinden einen tiefen symbolischen Ekel, ganz so, als ahnten sie, dass sie sinnlose Worte nur sinnlos wiederholen, nicht aber zu einem »selbsteigenen« Ausdruck singularisieren können. Entsprechend klagen sie über einen mysteriösen Riss zwischen Intuition und Äußerung, die Alltagssprache erscheint ihnen als hochgradig toxisch, und wer am Leben bleiben will, darf ihre Wörter nicht sprechen. Der dramatische Effekt, die massive Artikulationsangst und die fast physische Unmöglichkeit, das vouloire dire zu alphabetisieren, entsteht auch hier aus einer kalkulierten Spaltung: Strauß trennt das Subjekt des Verlangens vom Subjekt der Aussage, er isoliert das Wortbegehren einer Figur vom Symbolischen und unterbricht damit die »natürliche« Verbindung zwischen Sagenwollen und Alltagssprechen. »Der Mann« in Kalldewey, Farce: »Ich habe den Sinn, den alle suchen, den einzig richtigen, hier vorne auf der Zunge, und bring ihn nicht heraus.« (TS II, 63) Ohne motivierende Gründe in der Sprache kein Handeln in der Welt – das ist die ästhetische Rezeptur, mit der Strauß so lange experimentiert, bis sich in der Figurenwahrnehmung nicht nur die Kohärenz der Objektwelt, sondern auch das Kontinuum der physikalischen Zeit auflöst. »Die Weihnachtsbäume liegen im Februar noch am Straßenrand. Eislachen bedecken den Streusand wie ölige Plastikfolien. Unter dem geschmolzenen Schnee kommen die abgeIch sagte es nur aus Höflichkeit,/allmächtiger Vater. […] Ich bin nicht die, für die Ihr mich haltet./Hab mich eben nur verplappert./Na und? Und mir nichts gedacht dabei.« (TS I, 487) »Ich bin unwürdig!/Oh Herr, das soll meine Strafe sein?/Nur weil ich ein bißchen vor mich hingeredet habe?/Was soll ich denn tun? […] Das Buch, das Buch …/So leer es ist, so schwer es blieb.« (TS I, 488)

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brannten Knallkörper von Silvester zum Vorschein. […] Man weiß nicht, was das für ein Tag ist.« (TS II, 321) In der von keiner Handlung strukturierten Zeit gibt es kein »Davor« und kein »Danach«, die Zeit steht still und rast vorbei, sie staut sich auf und fließt rapide ab. Strauß erklärt die »Zeit« zum Standgericht, das den gelebten Augenblick ins sofortige Vergessen überführt. Sogar die Sprache selbst verliert ihr Gedächtnis; sie klingt »besagt« und speichert keine neuen Erfahrungen mehr, die produktiv in Situationsdeutungen einfließen könnten. »Besagtes Leben, um noch einmal darauf zurückzukommen, wir haben ja nur unsere Erinnerungen. Alles Übrige: am Fenster stehen und hinausschauen, bis man vom Erdboden wieder verschwunden ist.« (TS II, 323) Die semantische Verfassung der Sprache, so spüren die Figuren, generiert die subjektive Erfahrung von Zeit: Ohne gesellschaftlich »vorgehaltene« Handlungsmuster keine Evaluation von Handlungsmotiven, ohne Motive keine Ziele, ohne Ziele keine Handlungen und ohne Handlungen keine Sequenzierung von Zeit. Deshalb steht in den Theaterstücken die Zeit »rasend« still, und das Leben »lebt« nicht; mangels biografischer Episodenbildung schrumpft die subjektive Gegenwart, um sich gleichzeitig nach vorn (in die Zukunft) und nach hinten (in die Vergangenheit) auszudehnen. Damit den Figuren die unerzählbare Zeit erträglich bleibt, muss sie von ihnen immer wieder neu »chronifiziert« werden, und wie in einer Parodie auf das entwertete eschatologische Narrativ verwandeln sie das Universum der Namen in eine Zifferngalaxie – die Ökonomie der Zahl ersetzt den alten ›Gottes-Text‹. »Wir werden noch unser blaues Wunder erleben. Mensch, wie die Zeit vergeht. Vor drei Tagen, den Zweiundzwanzigsten, haben wir Meinhard erst runtergeschaufelt.« – »Ist der 25. heute?« […] – »Der 26. Gott ja, ich denk, drei Jahre, das sind 36 Monate.« – »Dann hast du’s abgezahlt?« – »36 Monate sind 144 Wochen.« – »Jede W o c h e ?« – »Das nackte Überleben.« (TS II, 109)

Strauß verabschiedet hier nicht nur die alteuropäische Leitdifferenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; er widerruft auch das Autonomie-Ideal seiner Figuren, also deren Anspruch, sie seien als Subjekt der Zeit zugleich die Autoren ihres Lebens. Mit diesem Widerruf verwandelt sich die Praxis der Freiheit in eine Opferhandlung und das mündige Subjekt in ein subjectum, das sich in vorauseilender Selbstverdinglichung in den Modalitäten seines Alltags verhaust. Nach dem Tod der Sprache fallen Selbstbewusstsein und Selbsterhaltung zusammen, sie sind identisch: »Ich ziehe mich frühmorgens an, ich koche Kaffee, ich gieße die Blumen, ich kaufe ein, ich koche ein zweites Mal Kaffee und ziehe mich wieder aus.« (TS II, 333)18 Zwischen einer Vergangen18 | »Explosion des metaphysischen Sinnes« nennt Adorno die Identität von Selbstbewusstsein und Selbsterhaltung: »Die ganz auf sich zurückgeworfenen Subjekte, Fleisch

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heit, die nicht vergeht, und einer Zukunft, die es nicht mehr gibt, zerfällt die Alltagswelt in die Summe ihrer Einzelheiten, in ein neutrales »dies und das«. Handeln lohnt die Mühe nicht, und der freie Wille erschöpft sich in der suizidalen Anpassung an das »Leben« der Dinge. »Tja, was soll ich sagen –? Es gab noch dies und das. Das meiste unscheinbar und im Vorübergehen, so daß es sich gut ertragen läßt. Im Grunde wird sich nichts geändert haben.« (TS I, 323) In den Exerzitien des Ausharrens schweigt das Subjekt, und die Welt schweigt zurück. »Jetzt müssen Sie nur auf meine Waschmaschine aufpassen […]. Und wenn Sie wieder gehen – wenn Sie abfahren, schließen Sie alle Fenster, drehen Sie alle Hähne zu […], schreiben Sie keinen Brief […], löschen Sie alle Lichter, stecken Sie den Schlüssel in den Briefkasten, lassen Sie keine Spur …« (TS II, 350) Risikominimierung, Schmerzvermeidung und »Ausgeglichenheit« (TS I, 335) sind die mentalen Restposten, die Strauß von der pathetischen »Freiheit« des sprachlos emanzipierten Lebens übrig lässt. In dieser Lage geschieht das, was in seinen frühen Stücken immer geschieht: Nicht nur die Charaktere – wie die Figuren in Groß und klein – üben Verrat an der Sprache; die »besagte«, also »exkommunizierte« und nicht mehr in Redevollzüge einfließende Sprache entfernt sich von den Sprechenden, sie wird akzidentiell und bezuglos, sie spricht »fremd« und unzugehörig. Die menschliche Sprache enttäuscht. Max in Die Besucher: »Weil mir diese Worte bedeutungslos sind. Weil ich von allen Worten enttäuscht bin.« (TS II, 316) Enttäuscht ist Max, weil die »besagten« Wörter in sinnloser Dissidenz von ihm abfallen, weil sie dinghaft werden und sich nicht mehr anverwandeln und seiner Rede inkorporieren lassen. Wörter beziehen sich nur noch auf Wörter; sie beginnen treulos zu »plappern« und demütigen die Sprechenden zu ihrem linguistischen Echo. Hilflos resignieren die Figuren damit zum Schauplatz der leeren Selbstbewegung ihrer »Ex-Wörter« – nicht mehr »autonome Personen« sprechen ihre Sprache, sondern eine autonom und fremd gewordene Sprache »spricht« die von ihr ausgeschlossenen Subjekte.19 Die mit Stimmungsaufhellern am Leben gehaltene Marie Steuber in Die Zeit und das Zimmer: »Kurz darauf probierte man ein neues Mittel an mir aus, und ich sprach alles nach, was ich hörte. Ich konnte keine Antwort

gewordener Akosmismus, bestehen in nichts anderem als den armseligen Realien ihrer zur Notdurft verhutzelten Welt, leere personae, durch die es wahrhaft bloß noch hindurchtönt.« Theodor W. Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt a.M. 1973, S. 202. 19 | Das meint bekanntlich Foucaults Satz, der Mensch werde wie ein Gesicht im Sand »verschwinden«. Er verschwindet, weil die Sprache sich nach ihrer Entwertung wieder »sammelt« und das Subjekt ausschließt. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1978, S. 449.

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mehr geben, ich wiederholte nur noch die vernommenen Laute. Ich war ein Echo geworden.« (TS II, 325)20 Mit der sinnlosen Reproduktion sinnloser Zeichen verkehrt sich die welterschließende Funktion der Sprache endgültig in eine weltverschließende. Diese letzte Inversion, das völlige Unverständlichwerden der Namen, erklärt auch das automatisierte Reden der Strauß’schen Figuren, ihr impertinentes »Plappern«. Die Stimme, das letzte Lebendige, dient ihnen als phonetische Demarkation zur Welt und schützt sie vor dem Einbruch des angstbesetzten Außen; zum anderen erzeugt die Stimme Eigenresonanz, sie erlaubt eine letzte »Selbst«-Vergewisserung nach dem Schisma von Sprache und Subjekt – wer noch spricht, ist noch nicht tot. Der Selbstmörder in Sieben Türen. Bagatellen: »Die Hölle ist es! Die Hölle.« – »Natürlich, natürlich.« – […] »Also reden wir. Reden wir und reden. Reden wir bis zum Gehtnichtmehr.« (TS II, 387) Am Nullpunkt der Bedeutung, nach dem Verstummen der Welt und der Dingwerdung des Subjekts, halten allein die Steine dem exkommunizierten Sinn die Treue. Die Säule in Die Zeit und das Zimmer: »Ich war in den Worten. Es war die Hölle.« (TS II, 342)

II.3 A ngst vor der A ngst Die Strauß’sche Bühnenwelt ist vollkommen rational und wimmelt doch von Dämonen. Nichts ängstigt die abgeklärt Aufgeklärten mehr als das Fremde und Namenlose, sie stehen mit dem Rücken zur Wand, sind chronisch reizbar und fürchten, jederzeit könne etwas »Drohendes« über sie »hereinbrechen«. Der daueralarmierte Geschichtslehrer Martin in Die Fremdenführerin: »Ich höre, wenn sich draußen etwas zusammenbraut. Jetzt bleibt mir nur noch der Gefahrensinn.« (TS II, 204) Auch Moritz in der Trilogie des Wiedersehens ist hochgradig nervös und von extremer psychotischer Wachsamkeit, er sieht überall Gespenster und hat »Déjavus. Am laufenden Band, Einbildungen, Sinnestrug. Rechts und links an den Blickfeldrändern tauchen Figuren auf, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.« (TS I, 392) Die Strauß’schen Charaktere öffnen sich nicht zur Welt, sondern gehen vor ihr in Deckung, und je freier und un-

20 | Schon Hugo von Hofmannsthal experimentiert mit dem Zentrifugalwerden der Sprache. Die »Sprache [hat] den Anschein einer authentischen Äußerung verloren.« Sie erscheint »nicht mehr als die nach außen getretene Innenwelt des Subjekts […], sondern als eine fremde Macht, die durch sie tönt und mit ihm nur akzidentiell verbunden ist. Zwischen ihr und den Körpern […] klafft eine Lücke, ein sprachloses Moment.« Wolfram Ette, Kritik der Tragödie, Weilerswist 2011, S. 370.

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abhängiger sie faktisch sind, desto wehrloser nehmen sie sich wahr.21 Julius in Die Zeit und das Zimmer: »Ich hätte öfter in die Nächte hinaus sollen […] Ich bin, wie Swift sagt, für eine Million Enttäuschungen geboren. Und wie viele habe ich erlebt? Nicht einmal ein rundes Dutzend […]. Aber was ist es? Sein Leben bis an die äußerste Grenze der Vorsicht zu führen? Man wird eines Tages keinen Regentropfen mehr fallen hören, ohne sich an den Kopf zu greifen vor roher Wehrlosigkeit.« (TS II, 331)

Natürlich sind solche Panikattacken vollkommen grundlos, sie sind Hirngespinste, denn im Strauß’schen Bühnenspiel existiert keinerlei »reale« Bedrohung, darin ist nichts Unheimliches, und wenn etwas gespenstisch ist, dann allein die Ereignislosigkeit des Geschehens. Tatsächlich sind die Figuren selbst die Ursache ihrer Angst, denn Angst haust bei Strauß immer dort, wo das Wort fehlt, in einer Lücke der symbolischen Ordnung. »War da nicht noch irgendetwas Beunruhigendes?« (TS I, 323) Diese Lücke im Kontinuum der Wörter gebiert die Ungeheuer der Vernunft; alles, was semantisch nicht integriert werden kann, erscheint als eine mysteriöse Bedrohung, die den Figuren als objektives Unheil »aus der Ferne« entgegenkommt. »Wir kommen nur langsam voran … Doch in der Ferne, Moritz, dort, wo wir nicht sind, gehen laut die schweren Tore auf …« (TS I, 317) Strauß, so hieße dies, erklärt das subjektiv »Beunruhigende« aus dem objektiven Mangel an signifizierenden »Namen«, für ihn entsteht das Dämonische aus der fahrlässigen Neutralisierung symbolischer Welterschließungen. Bezeichnenderweise sind es gerade die »vernünftigen« und nachmetaphysischen Vokabulare, die die szenetypische Undurchdringlichkeit erzeugen, jene Nacht der Welt, in die die »Angst vor der Angst« einschießt und den Ort des Subjekts unauffindbar macht: »Aber in der vernünftigen Welt gibt es keinen einzigen Ort, an dem du weder drinnen noch draußen bist – im Verhältnis zu allen übrigen Orten der vernünftigen Welt. Wo also steckst du?« (TS I, 30f.)22 Nicht nur in dieser Szene klärt Strauß das Publikum darüber auf, dass sich das »Loch« im Realen einem säkularen Defizit im Symbolischen verdankt. Den rationalisierten Weltbildern seiner Figuren fehlen schlicht die sinnstiftenden Interpretamente, um Widerfahrnisse zu rahmen und Erfahrungen in eine Erzählung des Lebens einzutragen. Ohne diesen symbolischen Rahmen verfinstert sich die Realität, und in den Bühnengesellschaften entsteht ein epi21 | Zur Terminologie vgl. Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001. 22 | Absolute Aufklärung schafft absolute Intransparenz: »Wir dürfen einander nicht unheimlich werden. Weißt du, es ist ein dichtes Netz von Mord, Betrug und Täuschung über uns ausgespannt. Wir dürfen nicht hineinschwimmen wie zwei dumme Zierfische. Ich muß kämpfen. Ich muß mir einen Überblick verschaffen.« (TS I, 43)

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demisches Leiden an Unbestimmtheit, das den Sinn der Freiheit nicht mehr motiviert, sondern ihn einschüchtert und blockiert. Vor allem die radikal versachlichten und nachmetaphysisch bereinigten Sprachformen sind für Strauß symbolisch prekär; sie machen die Welt nicht transparent und vernünftig, sie machen sie absurd. »Was denkst du?« – »Ich bin da.« – »Du hörst mir nicht zu.« – »Doch. Ich bin da.« – »Hast du Angst?« […] »Angst, ja. Hab Angst.« – »Angst wovor?« – »Angst vor … vor …« – »Angst vor?« – »Vor … ich weiß es nicht.« (TS II, 23) Strauß folgt hier der Standarddramaturgie der Aufklärungskritik, wonach die diskursiv entzauberte Religion nicht verschwindet, sondern immer wieder auf die Bühne zurückkehrt, allerdings nicht als heilsgeschichtliches Versprechen, sondern als Heimsuchung, als stummer Gast, als Zombie-Term oder leere metaphysische Floskel (»Jesus!«; TS I, 397). »Der leere Sitz, sieh nur, hinter uns, der Stuhl, der gefährliche Stuhl, der leere, der uns an den fehlenden Judas erinnert – .« (TS I, 349) Wie Einschläge aus einer versunkenen Vorzeit detonieren Säkularisate (»mein Gott!«) in der Figurenrede, sie zerstören kommunikative Routinen und erzeugen eine grandiose Verlegenheit.23 »Ich glaube, ich kann mir das Ausmaß meiner Verzweiflung noch gar nicht vorstellen.« – »Gut so.« – »Mein Gott, Frauen sind wir –! Frauen –, mein Gott!« – »Wie – dein Gott? Haben wir etwa Sorgen, sorgen wir uns? Nein. Nicht?« – »Nein. Gott bewahre.« (TS I, 345f.)

In den supersäkularen Bühnenmilieus ist die religiöse Semantik noch immer eine Quelle von Gefahr und Verunsicherung. Die dauerenttäuschten Charaktere sind jedenfalls metaphysisch leicht erregbar, sie wirken seltsam aufgescheucht und setzen alles daran, theologische Brandsätze sofort funktionalistisch zu entschärfen und zu Zwecken privater Selbstoptimierung in Dienst zu nehmen. »Am besten soll ja Kabbala sein, um geistig fit zu bleiben.« (TS II, 308)24 Doch mit säkularen Hausmitteln allein lässt sich im ›Wartesaal‹25 des 23 | Zum Beispiel bei Karl in Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle, dessen Äußerungen ständig vom ›Einschlag‹ säkularisierter religiöser Bedeutungen getroffen werden. 24 | In der Trilogie des Wiedersehens überfällt Marlies ihren Freund mit einer hasserfüllten Vernichtungs-Suada, um plötzlich mit religiöser Wehmut zur Bibellektüre aufzufordern – als sei die Säkularisierung des christlichen Metaphernraums (»Schöpfungsgeschichte«) der Grund ihrer Auslöschungsfantasie. »Los! Schönes ausdenken« – »Bibel lesen.« – »Seepferdchen trockenpressen zwischen zwei Seiten der Schöpfungsgeschichte.« (TS I, 345) 25 | Das für Strauß zentrale Bild des »Wartesaals« findet sich auch in der Trilogie des Wiedersehens. In einer Binnenerzählung ist das soteriologische Versprechen des Osterfests in Vergessenheit geraten. Die säkulare Diktatur des Alltäglichen versinkt in mythische Immergleichheit, und nachdem sie die Energien von Religion und Kunst absorbiert

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Lebens die Krankheit der rationalisierten Seele nicht kurieren. Untergangsahnungen überfallen die Figuren, und die Zukunft, an die sie nicht mehr glauben, verwandelt sich in eine Apokalypse, die ihnen unmittelbar bevorsteht. Einige Charaktere mögen nicht länger warten, sie träumen von Gewalt, Untergang und Vernichtung, und dann muss eine ultimative Tat dem Leiden an Unbestimmtheit ein Ende machen. Martin in der Trilogie des Wiedersehens: »Wenn alles Privatsache wird im Leben, dann ist es nicht mehr interessant. Wir langweilen uns den Rest unserer Jahre zu Tode. Ich frage mich also: wie kann ich meinem Leben noch einmal ein zentrales Interesse abgewinnen? […] Doch nur, indem ich ein Gewaltverbrechen begehe –« (TS I, 400)

II.4 D as V ergessen des Todes Ein Subjekt »an sich«, so behaupten die Strauß’schen Stücke, gibt es nicht; das Ich ist keine mit sich identische Substanz, sondern die Figuration von gesellschaftlichen Diskursen, in denen es sich spricht und seiner Freiheit eine Bestimmung gibt. Diese Behauptung entfaltet ihre ganze theatralische Wucht zweifellos erst beim Unkommunizierbaren der Kommunikation, bei der Elementarfahrung von Tod und Endlichkeit. Auch wenn es für Strauß außer Frage steht, dass die Erfahrung des Absoluten nicht versprachlicht und durch keine Symbolisierung aufgelöst werden kann, so ist sie doch diskursiv imprägniert und durch gesellschaftliche Sprechweisen überformt. Der Sinn für das Unsagbare des Todes wird in der Sprache »zur Sprache gebracht«; erst im ›Leben der Wörter‹ wird die Unerfahrbarkeit des Todes symbolisch signifikant. Diese Pointe muss man verfehlen, wenn man das Zwanghafte, mit dem sich das Strauß’sche Personal existenzielle Ängste vom Leib hält, allein als Tabuisierung und Reflex versteht, als zeitgeisttypische Abwehr von Kontingenz und Daseinsrisiko. Tatsächlich sind es nicht die Figuren, die Krankheit und hat, erstarrt die Gegenwart im Warteraum des sinnlosen Fortschritts. Vgl. TS I, 350f. – Die Sammlung Wohnung Dämmern Lügen nimmt die Wartesaal-Metapher auf und verschärft sie (WDL, 7f.). – Hans Jürgen Scheuer (»›Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts.‹ Zur Bearbeitungstendenz der dramatisierenden Homer-Lektüre ›Ithaka‹ von Botho Strauß«, in: Text und Kritik 81 [1998]) macht in Bezug auf Ithaka auf eine Parallele in Carl Schmitts Glossarium aufmerksam, in dem Schmitt von einer »Religion der Wartenden« spricht – Warten auf den »noch nicht gekommenen Messias […], auf die klassenlose Gesellschaft und das ewige Reich. Die Trinität als Ausdruck des Wartens. Was Bruno Bauer die Verjudung nennt, ist die Etablierung des Wartezustands, der für unabsehbare Dauer eingerichtete, immer komfortabler werdende Wartesaal.« Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, S. 37.

II. Konsum von Sinn

Tod verdrängen; es sind ihre Sprechweisen, die Endlichkeitserfahrungen rationalistisch ausdünnen und affektiv verarmen lassen. Als Marie Steuber, die medikamentös stillgestellte Hauptperson in Die Zeit und das Zimmer, nach einem Selbstmordversuch und langwieriger Therapie »ins Leben« zurückkehrt, ist sie genauso lebensmüde wie zuvor. Unfähig zu spontaner Anteilnahme, eher hilflos und peinlich berührt, erkundigt sich ihre Freundin beim »Mann ohne Uhr«, wie sie sich gegenüber der Rekonvaleszentin verhalten soll. »Sie haben sich mit Marie unterhalten? Mein Gott, ich trau mich gar nicht, mit ihr zu sprechen. Wie spricht man denn mit jemandem, der so etwas hinter sich hat?« Ungerührt empfiehlt ihr der Angesprochene strikte methodische Sachlichkeit im Umgang mit der unheilbar lebensmüden Freundin: »Ich habe ihr einen Begriff von ihrer Krankheit gegeben, mit dem sie leben kann. Man muß vernünftige Worte wählen. Vollkommen vernünftig sein. Das strahlt positiv ab auf solch labile Menschen.« Dann »Die Ungeduldige«: »Das könnte ich nie.« Die Antwort: »Ja. Dem muß man sich aussetzen.« (TS II, 325) Mit dem »Mann ohne Uhr« karikiert Strauß nicht nur einen bestimmten Rationalitätstyp; die Figur steht stellvertretend für ein Diskursmilieu, das die Erfahrung von Schmerz und Todesangst begriffstechnokratisch moderiert und bereits auf der Ebene seiner Symbolisierung »in Abrede« stellt (»einen Begriff von ihrer Krankheit geben«). In diesem Fall, und das ist Strauß wichtig, wird der Tod nicht abgespalten und verdrängt, im Gegenteil: Er wird nach einer kühlen klinischen Musterung als physiotechnisches Phänomen behandelt und wieder in die Sprache »eingeschlossen«. Der Tod wird diskursiv integriert und bezeichnet nicht länger jene absolute Grenze, an der die Wörter »sprechend« verstummen. Normalisierender Einschluss statt offene Todesverdrängung kennzeichnet auch das Verarbeitungsschema in der Trilogie des Wiedersehens. Als sich die Schreckensmeldung von Vivianes Krebskrankheit verbreitet, unterbricht kein Innehalten, kein Schrecken und keine Bestürzung den sämigen Phrasenstrom aus Klatsch und Tratsch; vielmehr versuchen die Figuren umgehend, die Nachricht durch eine medizintechnische Expertise zu anästhesieren und semantisch operabel zu machen. »Du mußt dir keine Vorwürfe machen, Lothar. Du hast dafür gesorgt, daß sie rechtzeitig operiert wurde.«26 Die aufgeklärte Gesellschaft verdrängt nicht, sie verwandelt das manifeste Sterben (»Viviane 26 | Die schwarze Pointe dieser Szene besteht darin, dass Lothar, Arzt von Beruf, eine »Fehldiagnose gestellt« hat (TS I, 364), dafür aber moralisch nicht haftbar sein möchte. Er habe sich lediglich in seinem diagnostischen »Wissen« geirrt und verbucht seinen subjektiven Irrtum als objektiven, nämlich datenabhängigen Systemfehler. Damit wird die tödliche Krankheit seiner Patientin auf ein wissenstechnisch zu bewältigendes Ereignis reduziert – der Tod ist ein Wert, der in der wissenschaftlichen Wertreihe »gleichberechtigt« mit anderen Werten konkurriert.

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stirbt«, TS I, 364) durch redseliges Beschweigen in ein latentes Nicht-Ereignis, in ein Gerücht. »An Leib und Seele geformt von Badewannen, Hängematten und Sofas.« – »Wißt ihr eigentlich, daß Viviane Krebs hat?« […] – »Woher weißt du?« – »Von Ruth« – […] Typisch Ruth. Klatscht aus der Praxis ihres Mannes.« Dann die Regieanweisung: »Viviane kommt von rechts.« (TS I, 388)27 Bereits im symbolischen Vorfeld der Bühnensprache entdramatisiert Strauß den Skandal von Sterben und Tod; er wird als »Ereignisfall« abgespalten und dann als Abgespaltenes erneut in die Alltagssprache eingebunden. Selbstverständlich kann der Ausschluss durch Einschluss seine beruhigende Wirkung nur verfehlen. Alle Versuche, die Macht des Negativen zu normalisieren oder durch (technisch-wissenschaftliche) Aufklärung »abzuklären«, steigern die Angst der Figuren vor dem Sterbenmüssen und ketten sie umso stärker an das Objekt ihrer Furcht.28 Aufgeklärt-funktionales Wissen, heißt das, taugt nicht als Deutungsmedium existenzieller Erfahrung; gerade der professionelle Naturalismus des Mediziners produziert ›Abspaltungen‹ und befördert Tabuisierungsroutinen, die die Rückkehr des Abgespaltenen umso wahrscheinlicher machen. Deshalb fürchten die Strauß’schen Untoten nichts mehr als die Rede vom Tod, und kaum etwas löst größere Furcht aus als die Erwähnung von Hinfälligkeit und Schwäche. Durchaus möglich, dass Strauß hier auf Nietzsches Behauptung anspielt, dass die diskursive Verharmlosung existenzieller Schrecken den humanisierenden Metaphernzwang unterläuft – also den zivilisierenden Zwang, der Macht des Negativen standzuhalten und das kreatürliche Leben in ein symbolisches Dasein zu verwandeln. Strauß geizt jedenfalls nicht mit Hinweisen darauf, seine Bühnengesellschaften hätten sich von diesem Metaphernzwang, von der produktiven Nötigung zur 27 | Vgl. Jean Baudrillard, der zahlreiche Spuren im Strauß’schen Werk hinterlässt: »Bei uns macht der Tote sich aus dem Staube. Er hat nichts mehr auszutauschen. Bereits bevor er stirbt, ist er ein Residuum. Er ist am Ende eines Lebens der Akkumulation und wird vom Ganzen abgezogen; eine ökonomische Operation. Er wird zu keiner Erinnerung: höchstens dient er als Alibi der Lebenden und der evidenten Überlegenheit der Lebenden über die Toten. Das ist ein banaler, eindimensionaler Tod, das Ende eines biologischen Parcours, die Bezahlung einer Schuld: ›den Geist aufgeben‹.« Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S. 260. 28 | Die Subjektivierung des Todes erlöst nicht, im Gegenteil: »Das ›Ende der Metaphysik‹ setzte einen Subjektivismus frei, der über die frühneuzeitliche Philosophie der Subjektivität weit hinausging. Die in seinem Gefolge einsetzende Auflösung des Todes ins Leben ist nur eine von insgesamt vier Reduktionen. Sie geht einher mit der Reduktion des Todes auf den menschlichen, mit der Reduktion des menschlichen Todes auf den individuellen, je eigenen, und schließlich mit der Reduktion des je eigenen Todes auf das an ihm, was je ich handelnd übernehmen kann.« Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 199.

II. Konsum von Sinn

Imagination von Endlichkeit, emanzipiert. Indem sie den Tod zum Ereignisfall versachlichen und seinen Schrecken normalisieren, entledigen sie sich der kulturellen Anstrengung, der Faktizität von Frist und Sterblichkeit einen kontrastiven Sinn abzuringen.29 Tatsächlich zeitigt bei Strauß die »Mortifizierung« von Tod und Sterben selbst eine tödliche Konsequenz. Der entskandalisierte Tod verschwindet nämlich nicht einfach aus dem Figurenbewusstsein; vielmehr entgrenzt er sich negativ ins Dasein – er schleicht durchs Imaginäre und tritt die Herrschaft über die Gedanken an. Die Grenze von Sein und Nichtsein löst sich auf, und der versachlichte, verniedlichte und naturalisierte Tod gebietet nun als schwarzer Meister über das Lebendige: »Up and down, up and down wiegt der Tod das Leben.« (TS II, 16)30 In immer neuen Wendungen bemüht Strauß die augustinische Formel »vitam mortalem an mortem vitalem« und verkehrt ihren ursprünglichen Sinn. Das Sterben im Leben und das Leben des Todes – das »Lebesterben« und »Sterbeleben« – erscheint nun nicht mehr als sinnvoller Teil eines heilsgeschichtlich eingebetteten Geschehens, sondern als nackte biologische Kontingenz: »Rasch tritt der Tod den Menschen an, es ist ihm keine Frist gegeben … Plötzlich, mitten im Leben.« (TS I, 402)31 Dass Tod und Leben koextensiv werden, anders: dass sich das »Leben« nicht mehr in vitalen Metaphern dem Tod entgegensetzt, sondern in schlechter Unendlichkeit sich in ihm spiegelt, beschädigt in der Figurenwahrnehmung einmal mehr die Erzählung der »natürlichen« Zeit. »Sie wissen doch, wie schnell hier oben eine Totenstille ausbricht. Besonders an Feiertagen. Wir haben übrigens noch immer den ersten Weihnachtsfeiertag, oje, oje.« (TS I, 73) Im fatalistisch verdunkelten Horizont des allgegenwärtigen Todes verstreicht die Zeit in einer diskontinuierlichen Abfolge isolierter Augenblicke, als Immergleichheit von Vergehen und Abschied. Folgerichtig empfinden die Figuren das Älterwerden als innere Verjährung und reine Vergängnis, und die Minimierung des Unerträglichen ist das Einzige, was sie von ihrer »voll versicherten« Zukunft maximal erwarten. Franz, Answalds Vater in der Trilogie des Wiedersehens:

29 | Vgl. Alexandre Kojève, »Die Idee des Todes in der Philosophie Hegels«, in ders., Hegel, Frankfurt a.M. 1975, S. 217ff. – Zur Macht des Negativen und zur Notwendigkeit der Symbolisierung von Endlichkeit und Tod vgl. Maurice Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod, Berlin 1982, S. 141f. 30 | Die Negation von Negativität erzeugt »gleichgültige Fatalität«: »Ist der Tod ins Überleben verdrängt, so ist das Leben selbst […] nur noch ein durch den Tod determiniertes Überleben«. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 200. 31 | Die »zeitlose Ewigkeit« verwandelt sich in die schlechte »Ewigkeit der Zeit«. Vgl. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, S. 311.

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Dass das todvergessene Subjekt bei Strauß nun seinerseits vom Tod »vergessen« wird, ist nur auf den ersten Blick ein bizarrer dramatischer Einfall. In der Trilogie des Wiedersehens heißt es: »Neulich hat er zu meiner Frau gesagt: Manchmal denke ich, woran sollst du bloß noch sterben? Der Tod hat dich ja wohl vergessen. Wer holt mich denn bloß hier unten ab, wenn der Tod nun schon vorübergegangen ist  …« (TS  I, 380) Auch in den Sieben Türen. Bagatellen experimentiert Strauß mit dem doppelsinnigen »Vergessen des Todes«. In Anspielung auf Hofmannsthals Der Tor und der Tod begibt sich der »Tor«, ein Selbstmörder, zum Tod, der wie üblich vor der Zeit am verabredeten Ort eingetroffen ist. Aufmunternd zollt der »Selbstmörder« dem Tod zunächst Achtung und Anerkennung, um dann enttäuscht festzustellen, dass es sich nicht um das ›Ganz Andere‹ handelt, nicht um den großen Tod, sondern um das Nichts, um den kläglichen Doppelgänger seiner eigenen, »tödlich« aufgeklärten Imago.32 Das »Nichts«, so beschwert sich der Selbstmörder, sei »alles mögliche mir Bekannte, nur eines […] nicht: das große Nichts« (TS II, 384f.).33 »(U)nendlich durchschnittlich« verläuft nun die erste »Begegnung«, und in den Augen des »Selbstmörders« schrumpft dabei das »Nichts« zu einem unscheinbaren »Männlein«. Prompt wirft der Selbstmörder dem »Nichts« vor, 32 | Als der Traumforscher in Sieben Türen alle menschlichen Träume aufgeklärt hat, träumt er im »Jenseits« davon, vom Albtraum der Aufklärung befreit zu werden – doch auch das »Jenseits« ist nur die Verlängerung des Diesseits. »Ich möchte wirklich wissen, worin die Erlösung vom Leben besteht, wenn ich hier dieselben Phrasen aufgetischt bekomme wie drüben.« Der »Himmel« ist buchstäblich leergesprochen. »Du brauchst nicht mehr nach oben zu gucken. Hier gibt’s nur mich. Nichts davor und nichts dahinter.« (TS II, 386) 33 | Oder eine Szene aus Der Park. Helen zum Tod: »Willst du mich warnen? Willst du, daß ich ein besseres Leben führe? Willst du, daß ich dich … trotzdem in die Arme nehme?« Darauf der »Tod«: »Ich hab nicht viel zu sagen. Ich tu nix. Ich bin bloß da. Und dieser nichts vertretende Gesell bin ich immer gewesen und hab mich doch immer gewundert, weshalb mich keiner anschaut.« – Helen: »Aber du bist der Tod. Du hast die Macht.« – »Ich glaub nicht daran.« Noch einmal Helen: »Du bist also das Nichts. Ein Männlein.« Dann die Regieanweisung: »Tod kichert ein wenig, hebt die Schultern«. Später Helen: »Komm mir nicht zu nah!« (TS II, 144f.)

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dies könne »doch nicht alles sein, was das Nichts zu bieten hat!« (TS II, 384) »Mir scheint, du interessierst dich nur für deinesgleichen.« (TS II, 385) Selbstverständlich verdankt sich die Enttäuschung des »Selbstmörders« nur einem diskursiven Effekt – in ihr spiegelt sich ein Weltbild, in dem von der Macht des Negativen keinerlei Provokation mehr ausgeht. »Ich denke, wir gönnen uns erst mal ein halbes Stündchen, in dem wir uns ein wenig beschnuppern können.« (TS II, 383) Nachdem Strauß zentrale metaphysische Reflexionsbegriffe (»Gott«, »Tod«, »Endlichkeit«) ausgenüchtert und den kommunikativen Raum der Bühnensprache gegen jede transzendierende Erfahrung abgedichtet hat, hinterlässt die Erfahrung existenzieller Negativität keinerlei Spuren mehr im Figurenbewusstsein. Die Revolte gegen den Tod bleibt aus, und in Gestalt seiner semantischen Vergleichgültigung erscheint er den Figuren nicht mehr als das je eigene Absolute, sondern nur noch als ein Stück Naturnatur, als eine strafende Widerfahrnis, die nicht mehr in der »Einheit der Differenz von Zeit und Ewigkeit aufgehoben« ist.34 Der Satz »Man stirbt, heißt soviel wie ›niemand stirbt‹«35 bezeichnet also sehr genau die Sprechsituation in den frühen Theaterstücken, und deshalb ist in dieser Werkphase nicht der Umstand »tragisch« zu nennen, dass die Figuren der Realität des Todes ausweichen; »tragisch« ist für Strauß die Tatsache, dass sie die kulturellen Interpretamente zu seiner Deutung preisgeben. Lapidar lässt er die abendländische Metapherngeschichte des Todes in einem kruden Naturalismus zu Ende gehen, allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Normalisierung von Negativität den Spielraum der Freiheit nicht erweitert, sondern ihn beseitigt. Dauerpanisch und zugleich seltsam gelähmt investieren die Figuren ihre Einbildungskraft nun in die Rationalisierung von Furcht und die Austreibung von Angst – und stehen damit erst recht im Bann des Todes. »Es ist vorbei. Wir sind wieder allein. Wir wollen nur die Worte benutzen, die uns beiden gehören.« (TS I, 17)

34 | Armin Nassehi, »Ethos und Thanatos«, in: Klaus Feldmann/Werner Fuchs-Heinritz (Hg.), Der Tod ist ein Problem der Lebenden, Frankfurt a.M. 1995, S. 210-232. 35 | Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 253. Adorno spricht in einer interessanten Parallele von der Integration des Todes: »Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter der Tod. Daran, daß er sie buchstäblich in Dinge verwandelt, werden sie ihres permanenten Todes, der Verdinglichung inne, der von ihnen mitverschuldeten Form ihrer Beziehungen. Die zivilisatorische Integration des Todes […] ist die Reaktionsbildung auf dies Gesellschaftliche, täppischer Versuch der Tauschgesellschaft, die letzten Löcher zu verstopfen, welche die Warenwelt noch offen ließ.« Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1970, S. 363.

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II.5 V erständigung über N icht verstehen Die Strauß’schen Figuren, so hatte sich gezeigt, unterliegen einem folgenreichen perspektivischen Irrtum. Während sie sich ganz selbstverständlich als Autoren ihres Lebens empfinden, als freie, selbstbestimmte und kommunikativ aufgeschlossene Zeitgenossen, inszeniert Strauß sie als symbolisch Abhängige, als isolierte Marionetten an den Fäden ihrer Diskurse. Die intersubjektiven Verbindlichkeiten zwischen den Charakteren sind gering; Sätze werden nur von Fall zu Fall über Geltungsansprüche und Wahrheitsbezüge verknüpft, und Dialoge klingen wie Selbstgespräche, die die Beteiligten scheinkommunikativ im Medium des Anderen mit sich selbst führen. Oft genug bilden Verkennen und Verfehlen die Basis einer Verständigung, die sich – außer über Missverständnisse – substanziell über kaum etwas verständigt. Mit einem Wort: Strauß inszeniert Kommunikation als normalisierten Ausnahmezustand, in dem sich die Akteure nicht mehr als Teilnehmer einer intersubjektiv geteilten, sondern nur noch als Außenposten der je eigenen, uneinnehmbaren Welt begreifen. Ihre Interaktionen gleichen Sprech-Vorfällen und beschränken sich auf die strukturelle Vermeidung des Anderen. »Es fällt mir nicht leicht,/ganz ohne –/ganz ohne Wortwechsel,/manchmal tagelang ohne ein Visavis/meinen Urlaub zu verleben.« (TS I, 415) Dass die Strauß’schen Figuren ihre Sprechakte nur lose koppeln und nicht inferenziell eng verknüpfen, erzeugt allerdings neue Formen von Einsamkeit, Entfremdung und Missachtung. Die Figuren empfinden sich als »kleines Licht«, als belanglos und nicht der Rede wert. Kristine in Die Fremdenführerin: »Ich finde, niemand kann gezwungen werden, sich als das kleine Licht zu betrachten, das er wirklich ist.« (TS  II, 206) Auch Susanne in der Trilogie des Wiedersehens leidet an einer Anerkennungskrise und fühlt sich als eine sozial Unsichtbare; auch ihr fehlt ein symbolischer Ort, der sie als Subjekt namhaft und »ununterscheidbar« macht: »Sagen Sie mir: woran erkennen Sie mich eigentlich? Wie kommt es, daß Sie mich, mich Ununterscheidbare, von Mal zu Mal wiederfinden, ohne sich zu irren […] Wenn ich in den Spiegel sehe, so finde ich nichts, was nicht auch in tausend anderen Gesichtern zu finden ist.« (TS I, 318f.) Die auratische Schwermut solcher Dialoge täuscht leicht über die komplizierte anerkennungstheoretische Überlegung hinweg, die ihr zugrunde liegt. Für Strauß existiert keine vorsprachliche zwischenmenschliche Anerkennung, es gibt für ihn keine natürliche solidarische Dimension, in der sich Subjekte von Natur aus Achtung schuldeten. Vielmehr verdankt sich intersubjektive Anerkennung – die Wahrnehmung des Anderen als anerkennungswürdige Person – ausschließlich einer schonungsbedürftigen, als unverfügbar gedachten ethischen Grammatik, die immer schon in die symbolische Praxis einer Gesellschaft eingelassen sein muss. Um das zu beweisen, also um zu zeigen, dass

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die ethische Grammatik der Sprache nur bei Strafe kommunikativer Entfremdung missachtet und »übersprochen« werden darf, organisiert Strauß eine chronische Anerkennungsvergessenheit: Er vereist die Imaginationsfähigkeit der Bühnensprache, minimiert die Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprüche der Figurenrede und »dehumanisiert« die Erfahrung des Anderen. Interaktionskatastrophen sind damit programmiert. Die Dialoge werden referenziell instabil und das Dissensrisiko wächst; umständlich müssen die Figuren sich selbst zur »Rede stellen« und in zähen Verhandlungen prüfen, ob ihre Worte tatsächlich meinen, was sie sagen. Ihr Sprechen wirkt, wie in der »Komödie« Besucher, bemerkenswert »unnatürlich«, und mit der Denaturierung der Rede entsteht eine kommunikative Dauerreizung, es entstehen Misstrauen, Zweideutigkeiten und Idiosynkrasien. »Guten Tag. Oder guten Morgen. Wie Sie mögen.« – Max: »Wünschen Sie mir entweder einen guten Tag mit Inbrunst und indem Sie auch meinen, was Sie sagen – oder schweigen Sie! Oder denken Sie sich einen wunschlosen Gruß aus.« (TS II, 296) Auch in Die Zeit und das Zimmer lernt der Zuschauer gleichsam ex negativo, dass Anerkennungsverhältnisse weder eine natürliche noch eine verlässliche gesellschaftliche Grundtatsache bilden. In diesem Stück verzerrt Strauß die symbolische »Grammatik« so weit, dass zwischen den Figuren nicht einmal ein propositionaler Weltbezug zustande kommt – der Kampf um Anerkennung beginnt bereits als Kampf um die »Realität« der Realität. Zunächst fragt der »Mann ohne Uhr« die »Ungeduldige«, ob sie seine Armbanduhr wiedergefunden habe, auch wenn er sich nicht mehr »sicher« ist, »ob es hier war, wo ich sie verloren habe«. Dann wirft die »Ungeduldige« ein, der Mann verhalte sich »ganz anders« zu ihr »als gestern abend«. – »Ja, gestern war ich noch sehr zurückhaltend.« Darauf die Frau: »Aber nein! Sie waren gar nicht zurückhaltend. Im Gegenteil. […] Sie haben mich förmlich überfallen mit Ihren Komplimenten.« (TS II, 323) Es ist hier allerdings nicht die Figur, es ist die Sprache, die ihren stabilen Realitätsbezug verloren hat. Die Wörter koordinieren die Dinge nicht mehr, und zuletzt zerreißt auch das symbolische Netz zwischen den Sprechenden – sie bewohnen nicht einmal mehr dieselbe Wirklichkeit und teilen weder Zeit noch Raum. »Hier hat nie ein Fest stattgefunden. Nicht gestern, nicht vorgestern.« (TS II, 324) Dass kein Weg aus einer »anerkennungsvergessenen« und damit strukturell defekten Sprache herausführt, mehr noch: dass die Paare und Passanten nolens volens gezwungen sind, Intersubjektivität zu simulieren und ihre Äußerungen manipulativ einzusetzen, zeigt – ebenfalls in Die Zeit und das Zimmer – der Versuch des einsamen Egozentrikers Olaf, zum angeblichen Nutzen aller Beteiligten jene soziale Anerkennung zu organisieren, die sich im freien Spiel der Rede nicht mehr einstellen will. Sein Plan geht so: Mit Hilfe des gemeinsamen Bekannten Julius verabredet Olaf mit Ansgar einen rituellen Gruß- und Anerkennungsdienst zur Stabilisierung seiner angegrif-

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fenen Seelenlage. Bei nächster Gelegenheit fragt er Julius, ob Ansgar seiner Verpflichtung nachgekommen sei und ihn aufrichtig habe grüßen lassen. Wie nicht anders zu erwarten, hat Julius den Gruß vergessen und verteidigt seine Nachlässigkeit mit dem Hinweis, Olaf sei das Gegrüßtwerden doch bislang herzlich gleichgültig gewesen. Strauß entfaltet nun ein hinreißend komisches Spiel zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit, bei dem Olaf aufrichtig nach Unaufrichtigkeit verlangt und utilitaristisch eine Gabe einklagt, die sich gar nicht einklagen lässt. Wie seine Mitspieler, so betrachtet Olaf Sprechakte als ökonomisches Investment, als verbalen Gütertausch mit kalkulierbaren Wachstumsraten an persönlichem Wohlbefinden. Olaf reduziert die asymmetrische Gabe des Grußes auf einen strategischen Tauschakt, weil prinzipiell auch dann gegrüßt werden muss, wenn gar kein »Auftrag« vorliegt – Julius möge ihm (als eine Art Gabe zweiter Potenz) in Gestalt einer aufrichtigen »Gefälligkeitslüge« selbst dann einen Gruß ausrichten, wenn Ansgar ihm diesen gar nicht aufgetragen habe. Da mit dieser Zusatzkomplikation die Koordinierungsleistung der grammatischen Sprache überfordert ist, wechseln die Figuren zur Gestenkommunikation und verabreden ein authentisches Augenzwinkern für den Fall eines unwahrhaftig ausgerichteten Grußes.36 »Jetzt hast du es mit deinem Herumbohren in der Wunde immerhin soweit gebracht, daß, falls er wieder anruft und dir wirklich Grüße ausrichten läßt, und ich sag’s dir dann, du sowieso nicht daran glaubst und mir erklärst, ich kenn dich doch, in deinem abgrundtiefen Mißtrauen, es handle sich wohl nur um eine Gefälligkeitslüge meinerseits, und das ist ja auch so […].« (TS II, 353)

Zuletzt, gleichsam am symbolischen Gefrierpunkt von Intersubjektivität, lässt Strauß noch den Unterschied von Person und Sache verschwinden und damit das Subjekt der Anerkennung selbst. Das Gegenüber erscheint nicht mehr als singuläre Person; es erscheint als gesichtsloses »Menschlein« und Subjektding, das von seinen Mitspielern nicht mehr zu unterscheiden ist: »Siehst Du, Olaf, wie sie sich täuschen, die Menschlein. Alle verwechseln einander.« (TS II, 324)37 36 | Auch die Flucht in die Gebärdensprache hilft nicht weiter. Wie die Wörter, so haben auch die Gesten ihre referenzielle Eindeutigkeit verloren, was darauf hinweist, dass die gesamte vorprädikative Welt- und Deutungssicherheit der Handelnden erschüttert ist. 37 | Damit wird, wie so oft bei Strauß, Rede »unverantwortlich«. Olaf ist außerstande, zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Erwartung und Realität zu unterscheiden – also zwischen der Welt seiner eigenen Vorstellung und der außersprachlichen Welt der Normen und Verpflichtungen. Weder besitzt er Selbstdistanz, noch ist er zur Rekonstruktion anderer Sprechakte in der Lage; ihm gelingt es weder, die eigene Erwartung

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Anerkennung, um es zu wiederholen, ist bei Strauß nicht vordiskursiv abgesichert, sondern auf eine normative Grammatik angewiesen, durch die sich Individuen wechselseitig den Status einer anerkennungswürdigen Person zuschreiben.38 Wird diese normative Grammatik »demoralisiert«, unkenntlich oder zerstört, dominiert ein rationaler Egoismus, der Sprechhandeln nicht mehr als Kooperation (beziehungsweise als kooperative Verständigung über Dissens) versteht, sondern als Maximierung von Anerkennungsprofit und ungefiltertem Selbstinteresse. Als Lotte sich in Groß und klein in einer spießiglinksalternativen Wohngemeinschaft um einen Scheidungswaisen kümmern will, bekommt sie vom »Gitarrenspieler«, einem mürrischen Spät-Hippie, zu hören: »Du, ich wollte dir nur sagen, ich glaube, du machst hier manchmal noch so’n paar typische Fehler. […] Offenbar meinst du, es muß immer jemand für dich da sein, wenn es dir gerade mal nicht besonders gut geht […]. Andererseits bist du selbst ungeheuer schnell auf dem Dreh und kümmerst dich vielleicht ein bißchen zu viel um die anderen. […] Im Prinzip kommt hier jedes Zimmer alleine zurecht. Das ist so’ne Art stillschweigende Hausordnung.« (TS I, 442f.)

Der schrullige »Gitarrenspieler« ist nicht bloß ein Konformist der Dissidenz; er repräsentiert einen Sozialtypus, der im Gegensatz zur christlich geprägten Lotte in ein von Nutzenkalkülen vergiftetes Sprachmilieu hineinsozialisiert wurde. Strauß geht es also nicht bloß um eine »linke Type«, es geht ihm um eine Gesellschaft ohne Gesellschaftlichkeit, deren Semantik dem Einzelnen nur eine Option als »vernünftig« vorgibt, nämlich die Orientierung am rationalen Egoismus verpflichtungsfreier Selbstbehauptung. Doch die normativ deregulierte Sprache macht Intersubjektivität nicht bloß »kalt« und anonym, sie macht sie zugleich traumatisch und paranoid. Bereits bei einer harmlosen Anrede zucken die Strauß’schen Figuren zusammen und empfinden sie als Angriff auf die Unversehrtheit ihrer Person. Kommunikation mündet in Komvon der Erwartung des Gegenübers abzugrenzen, noch dessen Perspektive zu übernehmen – er ist ethisch neutral. 38 | Strauß verhindert die wechselseitige Perspektivübernahme und trifft damit die Logik reziproker sprachlicher Anerkennung ins »Herz«. »Wir können sprachlich nicht kommunizieren, ohne einander als sprach- und handlungsfähige Wesen anzuerkennen; umgekehrt ist es eben diese wechselseitige Anerkennung […], die für unsere Sprach- und Handlungsfähigkeit konstitutiv ist. Hierzu gehört die Vertauschbarkeit der Perspektiven von ›Ich‹ und ›Du‹: Nur im Medium der Anerkennung durch andere kann ich – als der Andere des Anderen – auf mich selbst zurückkommen, kann ich mich als ein Ich verstehen, dem seine Handlungen zugerechnet […] werden.« Albrecht Wellmer, Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a.M. 1993, S. 197.

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munikationsphobie, in eine Form hysterischer Menschenabwehr, die den kooperativen Sinn des Sprechens in sein Gegenteil verkehrt, in »Hokuspokus«39. Dieses Wort fällt nicht zufällig. Tatsächlich lokalisiert Strauß die Ursache dieser kommunikativen Perversion – den Umschlag von Verständigung in Verfeindung – im Verlust eines religiösen Weltbildes, in dessen Grundverständnis sich die Subjekte in ihrem egalitären Status als »Gotteskinder« wechselseitig etwas schulden. Ohne die sprachlich internalisierte Idee der Gottebenbildlichkeit ist das Gegenüber nur eine ›Sache‹, und niemand anderes als Lotte, der Engel der Strauß’schen Verkündigung, glaubt dem Zwiegespräch von Frieder/Nicht-Frieder entnehmen zu können, dass der »Mensch […] das Bild vom Menschen« verliert (TS I, 411). Strauß spielt darauf an, dass die religiöse Semantik triadisch strukturiert ist und Gott darin die Rolle jenes gemeinschaftsstiftenden »Dritten« zukommt, der den Worten moralische Imaginationsfähigkeit verleiht und die Einheit der partikularen Sprechakte absichert. Gott ist, anders gesagt, jener übersubjektive Garant, der die für Missverstehen anfälligen Sprechakte auf einen gemeinsamen Sinn ausrichtet und die egozentrisch verkapselten Subjekte für den Akt wechselseitiger Anerkennung öffnet. Ohne diese transzendentale Bürgerschaft, so argumentiert Strauß, zerbricht die empfindliche Balance von Intersubjektivität und Selbstinteresse – im postreligiösen »Hokuspokus« einer normativ entkernten Alltagssprache schulden sich die Teilnehmer wechselseitig nichts mehr; sie sind absolut »frei« und zugleich absolut entfremdet. Diese Entfremdung produziert toxische Subjekte und macht Kommunikation zur Zwangshandlung. Als Lotte in Saarbrücken eine Passantin anspricht, bekommt sie zu hören: »Jetzt möchte ich Sie bitten, den Hokuspokus einzustellen. […] Man hat nun eine weitere Person in Saarbrücken, die man grüßen muß.« Auch die »verrückte« Nelly in Die Hypochonder ist soziophob, auch sie versteht einen Sprechakt als natürliche Kampfhandlung im semantischen Bürgerkrieg rationaler Egoisten. »Ich warne Dich. Es gibt kein Gespräch mit mir. Du würdest es nicht überleben.« (TS I, 33) Beherrscht vom Phantasma der Auslöschung kämpfen Fremde gegen Fremde (»Man ist sich fremd«; TS I, 424), während die kleinste Differenz als ultimative Bedrohung erscheint – was nicht identisch ist, muss verschwinden. In der dechristianisierten und auf strategische Intersubjektivität umgestellten Sprache führt Kommunikation nicht aus dem Naturzustand heraus, sie führt wieder in ihn hinein. Meret in Kalldewey, Farce: »Verstehste, cool wie die Tagesschau/ und wenn die Mutti dahinten vom Hocker kippt und ’n Herzschlag kriegt na und?/geht mich doch nichts an. Hauptsache ich krieg keinen Herzschlag. […] (V)on mir aus kann jeder, jeder du, ’n Herzschlag kriegen, einer nach dem andern, zack, zack, zack.« (TS II, 12)

39 | »Hokuspokus« sind die Einsetzungsworte: Hoc est corpus meum.

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II.6 S emantischer I mperialismus : G eld und W issen , R echt und M edien In den frühen Theaterstücken hat die »Bedeutungsleere« (AW, 49) der Bühnendiskurse etwas zutiefst Mysteriöses, doch ein Schicksal ist sie nicht. Im Gegenteil, Strauß inszeniert die Ursache für die Agonie von sprachlichem Sinn ausgesprochen plastisch und zeigt, wie die »Sprachen« von Geld und Recht, Wissen und Medien in das metaphorische Terrain der Bühnengesellschaft eindringen, wie sie »indigene« Wortbedeutungen überwältigen und die weltbildende Kreativität der Alltagsrede austrocknen. Wenn nicht alles täuscht, dann benutzt Strauß die Technik der symbolischen Kolonialisierung als wichtigstes dramatisches Mittel, um das Absterben von sprachlichem Sinn plausibel zu machen und als Schisma von Wort und Bedeutung in Szene zu setzen. In den »Bagatellen« Sieben Türen zum Beispiel ist es der Imperialismus popkultureller Kodes, der die Alltagssprache fugendicht versiegelt und eine Bedeutungsleere auslöst, die die Figur gleich dreifach isoliert: vom inneren Selbst, von der äußeren Realität und dem Gegenüber (dem »Freund Andreas«): »Man kann hier einfach keinen Schritt gehen, ohne an Burning Tears zu denken. Es ist eine Tatsache, daß wir alle heillos wie in Raining March herumlaufen. Ausgepumpt und hochaktiv, die reinste Dick Mobby Show. […] Die meisten von uns halten sich eben für Samuel Hotchkins und sind in Wirklichkeit doch nur ein mieser kleiner Nick McBone […]. Der Mark, der war mal der Leibfotograf des Drummers von Talking Heads. Kommt sprichwörtlich direkt vom Hof der Könige. Anfangs war’s die ganz große Liebe […]. Der hat auch mein ganzes Geld angelegt. Ich hab Aktien von Siemens und Daimler. Muß mich mal erkundigen, wie ich da jetzt rankomme. Nee. Nie wieder. So eine Schinderei wie das! Das kam eben nur, weil mein Freund, der Andreas, ist mir plötzlich verschwunden.« (TS II, 394f.)

Wie sehr die Kolonialisierung von Wortfeldern den kritischen Fluchtpunkt des Frühwerks darstellt, lässt bereits Strauß’ Erstling Die Hypochonder erkennen.40 Das »Kriminalstück« handelt von einer Gruppe niederländischer Naturwissenschaftler, die im ersten Monat des neuen Jahrhunderts – im Januar des Jahres 1901 – den Versuch unternehmen, die Alltagssprache aufzuklären und von religiösen Bedeutungsunschärfen zu reinigen.41 In der Absicht, die störende 40 | Zur Theorie einer »Kolonialisierung der Lebenswelt« vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981, Bd. II, S. 470ff. 41 | Die Datierung ist kein Zufall, denn wissenschaftshistorisch gesehen bedeutete das Jahr 1901 eine tiefe Zäsur. Freud hatte seine Traumdeutung und Simmel seine Philosophie des Geldes veröffentlicht; Einstein arbeitete an der Relativitätstheorie. Die Revolutionen der Wissenschaftssprache und die Transformation von lebensweltlicher

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Kluft zwischen Glauben und Wissen aufzuheben, soll der antiquierte Wortschatz auf Vordermann gebracht, er soll optimiert und metaphysisch gesäubert werden. Weil Rationalität und Transparenz bei dieser Operation das Maß aller Dinge sind, ersetzen die Forscher »unklare« religiöse Metaphern durch empirisch valide »Dingwort[e]« (TS I, 35). Die Naturwissenschaftler, so die Pointe des Stücks, behandeln die menschliche Sprache als ein beliebiges Objekt der äußeren Natur – sie traktieren sie mit kühler Präzision als Stück formbarer Materie, als austauschbaren Gegenstand in einem ethisch entsicherten Experiment des Menschen mit sich selbst. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als die Forscher aus dem Labor in ihren Alltag zurückkehren und die funktionalistische Perspektive der »Dingworte« kommunikativ wirksam wird. Plötzlich erscheinen nicht mehr nur die Forscherkollegen, sondern auch Freunde und Bekannte als »einfältige Tatsachen« und rechtlose Objekte. »Du und dein gemeines Unwissen über dich selbst. Du weißt nicht, wie du redest. Du hast dich nicht im Kopf, wenn du sprichst. […] Du sitzt da und schwätzt von einer ›entlarvenden Tatsache‹ und bist doch selbst nur eine einfältige Tatsache, ein niedriges Dingwort.« (TS I, 35) Im Protest gegen die Kolonialisierung der Alltagssprache schlägt das Herz des Stücks, und es ist kein Zufall, dass Strauß die christliche Traditionserzählung zum ersten Opfer szientistischer Aufklärung macht und unter der säkularen Sonne ihrer »Dingworte« verdampfen lässt. Der Fischexperimentator Vladimir zum Beispiel füttert seine Versuchstiere mit Hostien – er »opfert« das eucharistische Opfersymbol, er »verfüttert« den Glauben an das Wissen oder, wie Strauß nahelegt: Der Wissenschaftler immanentisiert das Eschaton und verwandelt seine metaphysikfreie Wissenschaft selbst in ein Glaubenssystem. Nach der säkularen Desinfektion der Sprache nimmt das »Wissen« nun selbst religiöse Züge an, und anders als erhofft erzeugt die »aufgeklärte« Semantik nicht menschenfreundliche Transparenz, sondern eine dämonische Undurchdringlichkeit. Hinzu kommt, dass die Forscher ihre Teilnehmerperspektive gegen eine instrumentelle Beobachterperspektive eintauschen und dadurch die symbolische Voraussetzung für die Imagination des Anderen zerstören. In ihrer zweckrationalen Perspektive, und das ist die allein übrig bleibende, machen sich die Forscher schließlich selbst zum Objekt – als sei er sein eigener Gegenstandsbereich, spricht Vladimir in spiritueller Verzückung von sich selbst in der dritten Person (vgl. TS I, 36).42 »Bedeutung« in szientistisches »Wissen« stürzten die Repräsentationslogik des Theaters in eine Krise. Vgl. Andreas Englhart, Im Labyrinth des unendlichen Textes. Botho Strauß’ Theaterstücke 1972-1996, Tübingen 2000, S. 38ff. So deutet Englhart die Zwillingsbrüder Spaak als das Arbiträrwerden von Signifikant und Signifikat. 42 | Vgl. zum (Fisch‑)Erlösungsmotiv Helga Kaußen, Kunst ist nicht für alle da. Zur Ästhetik der Verweigerung im Werk von Botho Strauß, Aachen 1991, S. 23ff. und S. 126.

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Am Ende der symbolischen Kolonialisierung triumphiert auch hier der Wille zur Macht. In der Rationalitätsdespotie der Naturwissenschaftler herrscht Krieg, denn im Gegensatz zur »antiquierten« Alltagssprache perspektivieren die »Dingworte« das Gegenüber nicht mehr als »Jemand«, sondern als objektives »Etwas«, nicht als Person, sondern als alphabetisierte ›Biomasse‹. Jeder kann nun zum Mörder des anderen werden: »Nicht wahr, Nelly, du warst in meinen Verstand eingebrochen und ließest mich mit den Augen eines Mörders sehen.« (TS I, 18) Oder noch einmal Vladimir über Nelly, nachdem sie aus der Untersuchungshaft entlassen worden ist (weil man sie verdächtigt hatte, ihren Geliebten, einen Chemiker, ermordet zu haben): »Hör zu. Nelly soll töten, wen sie mag. Meinetwegen auch dich. Solange ich keine Schmerzen habe, wenn sie in meiner Nähe ist, bleibt sie meine einzige Liebe.« (TS I, 35) Schuld und Verantwortung sind keine Differenzierungen mehr, die sich in einer ethisch neutralisierten Sprache noch sinnvoll treffen ließen, und nach dem Mord gibt es niemanden, der zwischen Opfer und Täter, Detektiv und Mörder zu unterscheiden wüsste. »Wie, wenn wir einander zu beobachten und zu verfolgen hätten? Ich der Mörder und du der Detektiv. […] Nein, es ist umgekehrt. Du bist der Mörder und ich der Detektiv.« (TS I, 39)43 Strauß geht es hier nicht um eine vordergründige Kritik am Wissenwollen der Wissenschaft und am Prozess der theoretischen Neugier. Bis an die Grenze der Spielbarkeit entfaltet er vielmehr jene kommunikative Entfremdung, die entsteht, sobald wissenschaftliche Termini (»Dingworte«) in die Alltagssprache einwandern, deren kulturelles Gedächtnis überformen und damit in der Figurenwahrnehmung ein »rasendes Vergessen« (TS I, 13) auslösen. »Rasendes Vergessen« heißt: Die wissenschaftlich kolonialisierte Rede löscht den metaphorischen Eigensinn der Sprache; sie trocknet ihre narrativen Ressourcen aus und perspektiviert die Welt als ein Determinationsgeschehen, das die Subjekte nur noch »in Freiheit« erleiden können. Selbst eine »Liebesstimmung« erscheint nun als erratische Regung einer symbolisch unzugänglichen inneren Natur. »Kalt, ruhig und unaufhörlich. Wie ein Naturgesetz, so fühlt es sich an.« (TS I, 19) Anders gesagt: Die wissenschaftlich neutralen »Dingworte« 43 | Alle Versuche, die zerstörte erste Welt durch eine »zweite«, künstlich erzeugte zu substituieren, sind zum Scheitern verurteilt. Nachdem Vladimir die christliche Sakralsemantik geplündert und – aus seiner Sicht – das Werk der Aufklärung vollbracht hat, verwirren sich die referenziellen Bezüge vollständig. Die Figuren erfinden daraufhin einen Pseudokonsens und legen ihn als Sinnschleier über die unverständlich gewordene Welt. »Jetzt müßte er in Umschreibungen ausweichen, müßte Wörter im ›übertragenen‹ Sinn gebrauchen. Wenn es irgendwie weiter gehen soll.« (TS I, 36) Doch in einer radikal zweideutigen Welt sind auch die neuen Wörter, die Wörter im »übertragenen Sinn«, eindeutig verhext. Reden oder Schweigen – beides ist gleichermaßen sinnlos. »Wieso? Schweige ich denn? Ich schweig doch nicht, ich schweige doch nicht.« (TS I, 36)

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sind nicht neutral; in der »indigenen« Lebenswelt entwickeln sie eine destruktive Eigendynamik und versklaven ihre Urheber. Schließlich kehren sich die Machtverhältnisse um. In der vollständig »vernünftigen« und erzählfrei naturalisierten Welt herrschen nicht mehr die Forscher über die Sprache, sondern die geisterhaft verselbständigten Dingwörter tyrannisieren die scientific community – die gesäuberte Sprache nimmt nun selbst voluntaristische Züge an und kommandiert die Subjekte, die sie zu ihrem Objekt gemacht hatten: »Nachdem du gesagt hast: ein rasendes Vergessen, auf das ich nicht angesprochen werden darf, haben wir kein einziges Wort mehr frei gewählt.« (TS I, 13f.)44 Ein frühes, in seiner Radikalität nur mit dem Erstling Die Hypochonder vergleichbares Beispiel für die Kolonialisierung der Alltagssprache ist das Stück Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle. Es spielt in den Weihnachtstagen in einem Hotel bei Königswinter, in der Nähe der Bundeshauptstadt Bonn und in assoziativer Nachbarschaft zu einem mythologischen Quellgebiet der deutschen Romantik, den Rheinauen. Wie ein Fremdkörper ragt das vom Konkurs bedrohte Hotel in die deutsche Landschaft, wobei vieles darauf hindeutet, dass es nicht nur im finanziellen, sondern auch im metaphysischen Sinn »verschuldet« ist. In der Lobby herrscht jedenfalls eine düstere, seltsam endzeitliche Stimmung, und erhellt wird die dämonische Szenerie allein vom nervösen Flackern des Fernsehers, dem ersatzreligiösen Zentrum der kriegstraumatisierten Halbnation (TS I, 69). »Millionen sitzen zu Hause vor ihrem Fernsehapparat und sehen die Übertragung aus der Halle Münsterland. Millionen!« (TS I, 93) Gespenstisch wirkt die Szene aus einem doppelten Grund. Einmal, weil das Hotel – als Miniatur der kulturell insolventen Bundesrepublik – den verlassenen Ort des Souveräns besetzt (»Königswinter«)45; zum anderen, weil 44 | Oder mit den Worten Foucaults, einem weiteren intellektuellen Schutzpatrons des Dramas: »Der Tod ist der Spiegel, in dem das Wissen das Leben betrachtet.« Michel Foucault, Die Geburt der Klinik, München 1973, S. 160. – Für dieses bei Strauß zentrale Motiv der Verkehrung von Autonomie in Heteronomie steht auch jener Schlaf- und Traumforscher in Sieben Türen, der das Asyl des Nichtwissens, den menschlichen Traum, wissenschaftlich »aufklärt«. Bei dem Versuch, in das letzte Residuum des Humanen einzudringen, verstrickt er sich im Netz der eigenen Wissensform und bezahlt die Aufklärung des Imaginären mit dem Verlust von Lebenssinn – er zerstört jene Sprache, die ihm die Welt als bedeutsame erst erschließt. In dem Maße, wie er die Sonde des Wissens ins Herz des Imaginären treibt und die Sprache von Traumresten reinigt, erzeugt er totale Intransparenz und zerstört sein sprachliches In-der-Welt-Sein (TS II, 385). 45 | »Königswinter« bezeichnet nicht notwendig den Schlaf des monarchischen Souveräns; im religiösen Metaphernraum meint seine »Herrlichkeit« den Gott des Himmels und der Erde.

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die sportbegeisterten Gäste vor dem Evangelium der Television buchstäblich verdämmern – ausgerechnet an Weihnachten, dem antimythologischen Fest schlechthin, der Feier von Ankunft und Beginn. Verantwortlich für den lähmenden Stillstand ist, zumindest aus Figurensicht, ein amerikanisches »Zukunftsprogramm« (TS I, 93), das den eschatologischen Vorbehalt des Christentums säkularistisch auflöst und seine religiöse Verheißung in den irdischen Paradiesglauben an Fortschritt und Wachstum umwidmet. Folgt man den Hauptlinien des Stücks, dann bleibt die Verwandlung von christlicher Eschatologie in eine kapitalistische Selbsterlösungsreligion defizient. Im Gegensatz zur christlichen Erzählung gelingt es dem progressistischen Zeitverständnis nämlich nicht, vergehende Zeit als Einheit von Augenblick und Ewigkeit abzubilden und in einer kosmischen Gesamterzählung aufgehen zu lassen. Die lineare Logik der kapitalistischen Weltzeit bleibt »heillos«, weil sie den gelebten Augenblick zum Durchlaufstadium einer besseren Zukunft entwertet und die Erfüllung vertagt. Ohne eine eschatologische »Rahmung« empfinden die Figuren ihr »Da-Sein« deshalb als Akkumulation unerfüllter Augenblicke, als säkulare Stagnation und als ein Warten auf nichts. »Ist heute der erste oder der zweite Feiertag?« – Der erste, Guenther, heute ist der erste Feiertag.« – »Dann ist morgen endlich der zweite. Und dann kommt noch der Sonntag.« – »Ach? Ein Sonntag kommt auch noch?« (TS I, 85)46 Im Weltbildwechsel von einer befristeten eschatologischen Zeit zu einer fristlosen kapitalistischen Fortschrittszeit vermag Strauß keinen Emanzipationsgewinn, erst recht kein utopisches Moment zu erkennen. Im Gegensatz zur apokalyptischen Zeit des christlichen Weltbildes macht die endlose kapitalistische Zeit (»Fortschritt, Wachstum«) das Zeiterleben punktförmig und verdüstert die Gegenwart zur negativen Offenbarung, zum täglichen Weltuntergang aus »Entführungen, Flugzeugabstürzen, Erdbeben«. Am Fest des Herrn regiert der Teufel: »Weihnachten ist bekanntlich ein katastrophenfreudiges Fest. Irgendwo an diesen Tagen passiert immer etwas Fürchterliches.« (TS I, 79f.) Dass die säkulare Hochreligion, die mediale »Eucharistie« des Fernsehens, parasitär von den alten liturgischen Formen zehrt, ist für Strauß also kein Zufall. Der neue »magische« Ritus imitiert die alte Gemeinde und besetzt den vakanten Ort des Glaubens. In einer ultimativen Verkehrung lässt 46 | Zur Inversion von Heilsgeschichte in Fortschrittsgeschichte vgl. Jan Eckhoff: »Weil von der mythischen Welt in der zeithistorischen Medienrealität nur mehr Verkümmerungen zu finden sind, muß der Theaterautor diese verkümmerte mythologische Realität zunächst auf der Bühne als eine Realität geschichtlich entstellter Erscheinungen darstellen: den Gottmenschen in Knechtsgestalt, die Feier der Eucharistie als großes Fressen, das Paradies als verkommene Müllkippe, […] die Sprache der Offenbarung als wahnhaftes Kauderwelsch: Die ›Wut muß reden wie die Zartheit und die Hölle muß aussehen wie das Paradies‹.« Jan Eckhoff, Der junge Botho Strauß, S. 247f.

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das Stück schließlich die Feier des Lebens übergehen in eine kultische Feier des Todes. »Sehen Sie, mein Kind, […] die schönsten Verwandlungen am laufenden Band. Da haben Sie die wahre Magie. Das Fernsehen lehrt uns das Fürchten. Wie demütig Sie aussehen, vom Staunen gelähmt, wenn Sie abends in unser Totenreich blicken. Und was sehen Sie? Sie sehen Ihrem eigenen Vergessen zu, ja Sie sehen hinaus auf den Fluß des Vergessens. Stellen Sie sich vor, Sie sterben, ohne es zu merken …« (TS I, 100f.) 47

Auch die Trilogie des Wiedersehens rückt eine säkularistische Umbuchung in den Mittelpunkt des szenischen Geschehens, doch diesmal ist es nicht die Semantik des Fortschritts, sondern die »Sprache« des Geldes, die in die Lebenswelt eindringt und Wortbedeutungen konvertiert. Ort des Geschehens ist die Vorbesichtigung einer Kunstausstellung, zu der sich ein nett verplaudertes und aufreizend selbstgefälliges Boutiquen-Publikum eingefunden hat. Doch im ästhetischen Juste Milieu ist niemand mit dem Herzen dabei, kein Besucher staunt noch, niemandem gehen die Augen über. Der »Kapitalistische Realismus« (so heißt der Titel der Ausstellung) strahlt keine illuminierende Kraft mehr aus, und so betrachten die Kulturkonsumenten die ausgestellten Werke mit jovialer Gleichgültigkeit und wohlwollender Neutralität. Kurzum, die Spannung zwischen Schein und Realität ist zerfallen und die ästhetische Erfahrung beliebig. Das öffentliche Ereignis der Kunst scheint wichtiger zu sein als die Kunst selbst. Strauß geht es in dieser Szene gewiss nicht nur um den Nachweis, dass eine modernistisch erschöpfte Kunst, die die Realität nur noch tautologisch verdoppelt (»Kapitalistischer Realismus«), in der ästhetischen Erfahrung spurlos bleiben muss. Er will vielmehr zeigen, dass in dem Moment, wo ästhetische Bilder nicht mehr in die kulturelle Imagination einfließen, ein empfindliches symbolisches Vakuum entsteht, in das funktionale Welterschließungen einströmen, in diesem Fall die Logik von Geld und Tausch. Für diese Art Landnahme steht in der Trilogie des Wiedersehens die Figur »Kläuschen«. Der unruhige und seltsam vorgealterte Junge turnt als Pausenclown über die Bühne, unterbricht Gespräche, verknüpft lose Satzfäden und schießt mit einer Polaroid-Kamera Fotos von den Besuchern – ganz so, als wolle er den Selbstbezug der Bühnengesellschaft, die Immanenz des »kapitalistischen Realismus«, bildtechnisch noch einmal verdoppeln. Der Kleindarsteller ist also nicht nur ein McGuffin, der die Sprechhandlung weitertreibt; er verkörpert zugleich die symbolisch sensi47 | Das nachmetaphysische Dispositiv des Fernsehens mildert nicht, sondern potenziert die Existenzangst der Figuren. Zur Konfrontation von Medienmythen und antiken Mythen bzw. christlichen Erzählungen vgl. auch Jan Eckhoff, Der junge Botho Strauß, S. 172ff.

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belste Stelle im Stück und demonstriert, wie sprachliche Anerkennungs- auf ökonomische Tauschbeziehungen umgestellt werden. Die kunstsinnigen Besucher drücken dem Knirps Münzen in die Hand und integrieren ihn nicht sprachlich, sondern ökonomisch in die Welt der Erwachsenen. »Kläuschen« ist ein Zirkulationsagent, er ist der Vertreter einer neuen symbolischen Generalisierung und steht für die Monetarisierung der Rede. Naseweis und ziemlich durchtrieben betrachtet er einen Sprechakt als potenzielle Wertanlage, er konvertiert Wörter in Geld und hält so den Diskurs der Erwachsenen liquide. Nach der Kapitalisierung der Kommunikation zirkuliert Geld als neuer Sinn, und auf die Frage, ob er mit seiner »Mami« oder mit dem Vater »Skiferien« mache, antwortet das Kind ohne Kindheit: »Mit meinem Vater.« – »Ist dein bester Freund, der Vati?« – »Ja. Geschäftsfreund.« (TS I, 353)48 Mit dem semantischen Kapitalismus des kleinen homo oeconomicus stirbt der Mythos der Natalität, also die Idee, ein Kind setze einen neuen symbolischen Anfang und regeneriere durch Neu-Sagen der Wörter den »besagten« Gehalt konventionalisierter Wortbedeutungen. Das Gegenteil ist der Fall. Nach dem Ende der ästhetischen Erfahrung, oder wie Strauß nahelegt: nach dem Ende der Selbst-Bildung durch Kunst, verschwindet auch die Zäsur von Kind und Kindheit aus der Fantasie der Bühnengesellschaft. Weder die »Kunst« – als Scheinen der Idee – noch das »Kind« – als natale Metapher von Schöpfung und Neubeginn – gehören noch zum Symbolhaushalt kultureller Weltdeutung.

II.7 A utismus zu z weit. D ie K ommunik ation der L iebe Wenn es für Strauß einen Ort gibt, an dem jede Veränderung im symbolischen Feld tiefe Spuren hinterlässt, dann ist es zweifellos der Schauplatz der Liebe. Nirgendwo sonst jedenfalls inszeniert er das Verhältnis von subjektivem Begehren und kollektiven Sprachformen überzeugender als beim »Sprechen der Liebe«, und nirgendwo sonst zeigt er die Folgen von kultureller Verarmung und Metaphernkorrosion so drastisch wie hier. Jede Aufklärung des erotisch Imaginären, jede Neu-Kodierung von Intimität macht Beziehungen trister und kälter und hinterlässt »Aschenhäufchen ausgeglühter Leidenschaften« (TS II, 167). Unter diesen Bedingungen besagt ein bloßes »Gefühl« bei Strauß gar nichts; vielmehr müssen seine Figuren die paradoxe Leistung vollbringen, ihre singuläre Passion innerhalb konventioneller Sprachformen an ein Gegenüber zu adressieren und sich das Ereignis der Leidenschaft gemeinsam als Liebe 48 | Für das kommodifizierte Verhältnis zwischen den Generationen steht auch diese Szene: Franz schenkt seinem Sohn Answald ein Buch, der es gleich auf seinen Wert hin taxiert: »Das ist gewiß etwas sehr Wertvolles.« Darauf der Vater: »Du hättest das Bändchen natürlich sowieso bekommen, früher oder später. Hättest es ja geerbt.« (TS I, 334)

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zu erzählen. Strauß will damit nicht sagen, Begehren lasse sich vollständig alphabetisieren; auch für ihn bleibt der geliebte Andere symbolisch unerreichbar und die vollständige Kodierung von Intimität so unwahrscheinlich wie das Ereignis der Liebe selbst. Und doch: Ohne ein Narrativ, ohne die Erzählung des Begehrens keine Verwandlung von unzuverlässigen Gefühlen in intersubjektive Dauer – ohne die reziproke Durchdringung von Herkunftswelten kein gemeinsames Verstehen der Liebe.49 Wenn es sich so verhält, wenn Liebe auf einer intersubjektiven Deutungsleistung beruht, deren Gelingen abhängig ist von »passionierten« Metaphern, dann wird verständlich, warum den Begehrenssubjekten in den versachlichten Strauß’schen Bühnenwelten kein Glück beschieden sein kann. Zwar verspüren die Figuren zuweilen noch ein mysteriöses Interesse aneinander, aber die sporadisch aufflackernde Attraktion lässt sich innerhalb der aufgeklärt-abgeklärten Bühnensprache nicht mehr als Liebe ansprechen beziehungsweise erscheint als kuriose »Störung«, gelegentlich auch als Fanatismus und Wahn. Rudolf in Die Zeit und das Zimmer: »Wir befinden uns dagegen keineswegs in einer Tragödie. In unserem Leben gibt es keinen Raum für Medea. Es gibt für sie keinen Platz, verstehst du?« (TS II, 340) Das heißt: Die Charaktere sind nicht deshalb »lieblos«, weil es ihnen an erotischen Impulsen mangelt; ihre Beziehungen sind ausgekühlt, weil Strauß ihnen die semantischen Voraussetzungen entzieht, um ihr Begehren wechselseitig als Liebe adressieren zu können. Lynn in Kalldewey, Farce zum Beispiel ist notorisch unentschlossen, aber nicht, weil sie liebesunfähig wäre, sondern weil in ihrem Diskursmilieu die klassischen Intimitätskodierungen verschwunden beziehungsweise durch »erotische« Therapien ersetzt worden sind. Nun ist bei ihr die symbolische Passage zwischen Gefühl und Sprache blockiert. »Warum kann ich nicht aufstehn, aufstehn und glücklich sein und diesen Menschen, dem ich so gehöre, froh empfangen?« (TS II, 63) Derselbe schismatische Riss zwischen dem Subjekt des Verlangens und dem Subjekt des Versprechens findet sich auch in der Komödie Besucher, obwohl die sprachempfindliche Lena den Grund für die »Ent-Täuschung« ihrer Liebeswahl immerhin erkennt: »Ich bin wiedergekommen. Ich bin so töricht gewesen, mich an dein gegebenes Wort 49 | So auch Niklas Luhmann in Liebe als Passion, Frankfurt a.M. 1983, S. 160f. – »Die Motivlage (der Liebenden – Th. A.) wird nicht anthropologisch […] zu erklären sein. Motive entstehen nicht unabhängig von der Semantik, die ihre Möglichkeit, Verständlichkeit, Erfüllbarkeit beschreibt. Sie sind ihrerseits Produkt der Evolution symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. Das Wagnis Liebe und die entsprechend komplizierte, anforderungsreiche Alltagsorientierung ist nur möglich, wenn man sich dabei auf kulturelle Überlieferungen, literarische Vorlagen, überzeugungskräftige Sprachmuster und Situationsbilder, kurz: auf eine tradierte Semantik stützen kann.« Luhmann, Liebe als Passion, S. 47.

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zu halten.« Darauf Max: »Du glaubst an Worte, du handelst nach Worten, du vergißt sie nicht. Worte!« (TS II, 315) Auch in diesem Dialog behauptet Strauß nicht, die Liebe »an sich« sei erloschen; erloschen ist das erotische Begehren der Sprache und die affektive Kraft ihrer Bilder. »Du weißt nicht, was du sagt. Deine Stimme liebt mich noch, aber deine Worte haben mich vergessen.« (TS II, 316) Wenn sie nicht vollends verstummt, dann überlebt »Liebe« bei Strauß als erotische Ökonomie, sie ist Kalkül statt Leidenschaft, mehr Vorkommnis und Gewohnheit als Ereignis und Passion. Wie erotische Buchhalter bewirtschaften die Figuren ihre Gefühle und ziehen täglich Bilanz: »Moritz […], du weißt auch, wie abgenutzt und wie ausgelebt mein Verhältnis zu Ruth ist. Aber ich will dir offen sagen, was ich wirklich empfinde: Ruth ist ein lieber, nein wertvoller Mensch, eine humane Frau. Ja, lach nicht. Ich weiß, was ich damit meine.« (TS I, 393) Ohne die Möglichkeit sprachlicher Adressierung, auch darauf macht Strauß aufmerksam, entstehen nagende Zweideutigkeiten und böse Ambivalenzen, und dann verkehrt sich ein Versprechen in ein »Ver-Sprechen« und ein Attraktionsereignis in ein Versäumnis. Olaf in Die Zeit und das Zimmer: »Es hängt nur an einem Augenblick, in dem sich alles entscheiden kann oder nichts – […].« Darauf Marie Steuber: »Nein. Zu spät. Sie hätten mich nehmen können. Einfach in den Arm, und alles wäre anders gekommen […].« Olaf: »Es wäre ein großer Entschluß gewesen. Man hätte ihm gerecht werden müssen.« – »Eben. Plötzlich – für immer.« (TS II, 350) Oder das Gespräch zwischen der »Schlaffrau« und Julius in Die Zeit und das Zimmer: »Ich glaube noch heute, du hast dich nur versprochen damals. Du hast nur aus Versehen ›Adieu‹ gesagt. Du hättest genauso gut ›Bleib!‹ oder ›Nimm mich!‹ sagen können. Du suchtest nach einem kurzen endgültigen Wort. Du hast dich bloß vergriffen.« (TS II, 333) Für diese diskursive Lieblosigkeit findet Strauß in seinem Stück Sieben Türen ein schlechthin ingeniöses Bild. Die Szene zeigt ein depressiv vereinsamtes Hochzeitspaar, das – ganz ohne Freunde – soeben den Bund fürs Leben geschlossen hat und doch auf bestürzend komische Weise unfähig ist, sich das »einmalige« Ereignis gemeinsam als Liebe zu erzählen. Ihr Streit entzündet sich an einer Girlande, einer Art Möbiusband, bei dem Anfang und Ende in einer zirkulären Bewegung zusammenlaufen. Diese Girlande scheint doppelt kodiert zu sein. Zum einen steht sie für das »unendliche« Wunder der Liebe, für das numinose Absolute und Außeralltägliche; zum anderen allegorisiert das Band den »girlandenhaften« Selbstbezug des Paars, die Vergleichgültigung des objektiv »Einmaligen« im Säkularismus der Alltagsrede. »Und du glaubst, diese Girlande sehe ich heute zum ersten Mal? […] Diese Girlande hast du bereits aufgehängt, als ich meinen ersten Cognac bei dir trank. […] Diese Girlande hängst du in schöner Regelmäßigkeit jedesmal auf, wenn dir danach zumute ist. Bei

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Tragik der Freiheit jeder nur annähernd besonderen Gelegenheit.« Darauf »Er«: »Annähernd besondere Gelegenheiten, die mich zum Aufhängen der Girlande hätten ermuntern können, kann ich in meinem Leben an fünf Fingern abzählen. Meine Geburt, Tod der Eltern, unser Hochzeitstag. Und meinetwegen der erste Cognac, den du bei mir trankst […] Ich muss dir gestehen, ich kann mich einer bis aufs Mark ihres verfehlten Dahängens durchschauten Girlande weder durch die Hintertür von Sentimentalitäten noch auf dem Rücken eines mitleidigen Kompromisses wieder nähern – diese Girlande wird nie wieder das, was sie einmal war.« Dann »Sie«: »Wir doch auch nicht, Lieber …« (TS II, 392f.)

Weil das rückstandsfrei rationalisierte Weltbild des Paares keine emphatische Erzählung der Liebe mehr kennt, endet die Feier des »Einmaligen« unweigerlich mit seiner faktischen Negation. »Man kann schließlich das Einmalige an ihr auch darin sehen, daß sie heute genauso wie damals dort hängt …« (TS II, 392) Auch der verzweifelte Versuch, das erotische Initialereignis, das »Einmalige« ihrer ersten Gefühle, durch die Erfindung »echter« und »von Herzen kommender« Liebesworte wiederzubeleben, führt nur noch tiefer in den Teufelskreis der Entzweiung. Wiederverzauberung und Selbstemotionalisierung bleiben vergeblich; die Hochzeiter finden keine gemeinsame Erzählung für ihre Liebe, und sie können es auch nicht. Was immer sie sich ausdenken, die Simulation des »Einmaligen« bleibt folgenlos, weil der Diskurs des rationalen Egoismus »Liebe« auf das Verlangen nach Selbststeigerung im Anderen reduziert und damit verhindert, subjektive Gefühlslagen auf einen gemeinsamen Horizont zu transzendieren.50 Im Bewusstsein des sicheren Scheiterns versucht es das Paar zuletzt mit vernünftiger Reflexion, um aufgeklärt auf eine Krise zu reagieren, die erst durch Metaphern-Auf klärung entstanden war. »Er«: »Ich dachte, wir stehen an der Schwelle zu einer umfassenden Lebensgemeinschaft. Ich laß mir doch von einer schlappen Girlande keine symbolische Bedeutung aufdrängen.« (TS II, 393)51 50 | Beispielhaft für ein autonomistisches Selbstverhältnis steht auch Kristine in Die Fremdenführerin. Sie wird gefragt, was sie denn »interessiert«: »Was mich interessiert? Meine Fantasie. Meine Beine. Meine Einheit.« (TS II, 191) Später Martin: »Ich will es dir erklären: du suchst die blinde Abhängigkeit. Du suchst nicht Liebe, die die Augen öffnet […]. Man kann nicht nur nach Reizen und Gelüsten leben.« (TS II, 192f.) 51 | Der erste Liebesversuch zwischen Martin und Kristine in Die Fremdenführerin verläuft so: »Ich muss gehen. Auf Wiedersehen, Lehrer.« – »Kannst du nicht bleiben, nur heute noch?« – […] »Wir sind uns noch so neu.« – […] »Du bist kalt. Du bist sehr sorglos« […] – »Hast du mich nicht umarmt?« […] – »Aber ich kenne dich doch gar nicht!« – »Geh! Komm wieder!« (TS II, 177f.) Ambivalent und »gegenwendig« sind auch Susannes Gefühle in der Trilogie des Wiedersehens: »Nun will ich dir auch sagen: du bist mir nicht nur lieb, du bist mir auch verhaßt in meiner Liebe. Du gibst mir kein Gefühl für mich.« (TS I, 319) Oder Marlies in demselben Stück: »Ich kann dich nicht verstehen … Ich liebe

II. Konsum von Sinn

Für die strukturelle Instabilität erotischer Besetzungen bietet Strauß noch eine zweite Erklärung an. Demnach bleiben die Liebesgeschichten in seiner Bühnenwelt deshalb fragmentarisch, weil sich in ihnen ein Stück willkürlicher Natur reproduziert, eine unaufhebbare Grundambivalenz im Wesen des Begehrens. Zerstörerisch wird die Ambivalenz immer dann, wenn sie nicht symbolisch »umsponnen« und eingehegt, wenn sie nicht in Metaphern konsolidiert und durch das Sprechen der Gefühle umspielt wird. Im Schatten der »aufrichtigen« Diskurse entsteht sofort eine »Gegenwendigkeit«, eine Labilität und »Undeutlichkeit«, deren destruktives Moment sich in der Paardynamik über projektive Zuschreibungen wechselseitig verstärkt: »Er kann so sein und er kann auch anders sein.« (TS II, 19) Oder der Streit zwischen Marlies und Felix in der Trilogie des Wiedersehens: »Ich habe doch gesagt: ich hätt‹ im Übermut verkehrte Saiten angeschlagen … Ich wollte mich entschuldigen –« – »Egal. Worte hin, Worte her – […] Heute Beschuldigung, morgen Entschuldigung. Heute Zusage, morgen Absage. Heute Trennungsstrich, morgen Bindestrich. Fazit:«. Und dann Marlies: »Liebe« (TS I, 343). Ohne ein stabiles Narrativ, ohne die Bindungsenergie der alten Liebessprache, so lautet Strauß’ semantischer Konservativismus, bleibt Intimität chronisch zerbrechlich und hält immer nur von Fall zu Fall. »Sie will mich nicht haben, sie will mich nicht lassen. Es ist alles so unendlich undeutlich …« (TS I, 333) Diese »Undeutlichkeit« im aufgeklärten Diskurs der Liebe markiert bei Strauß den Punkt, an dem erotische Freiheit umschlägt in intimisierte Macht. Denn nachdem die alten Kodierungen ihre metaphorischen Energien verloren haben und keine Quelle von Affektivität mehr sind, wird das Subjektbegehren nicht nur referenziell zweideutig; es wirkt in den Augen des Gegenüber auch prinzipiell unzuverlässig und provozierend wankelmütig. Misstrauisch und zuweilen mit inquisitorischer Wut verlangen die Figuren dann nach einem »todsicheren« Liebesbeweis, und durch Dauerbeobachtung und Geständniszwang nötigen sie sich dazu, ihre innersten Gefühle mit äußerster Aufrichtigkeit zu bezeugen. Am Ende nimmt die Tyrannei der Intimität zwischen den lieblos Liebenden ähnlich repressive Züge an wie die reaktionäre Verzichtsethik und ruiniert den Gründungsmoment der Liebe, das »Wunder« des ersten Augenblicks. Das verzweifelte Paar in Die Fremdenführerin: »Ein gutes Stück weitergekommen. Die verdammten Dinge beim Namen genannt. Die Sünden alle aufgezählt. Keiner trägt größere Schuld als der andere. Tagelang, nächtelang erklärt, gesprochen, geheult, gestanden, beschuldigt und noch mal erklärt, gesprochen, geheult, alles bis ins Letzte durchgesprochen, erklärt … ein gutes Stück dich … Ich verstehe nix.« (TS I, 341) – Vgl. auch die Paardynamik in Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle: »Mit Felix und Marlies geht es gar nicht gut. Sie wollen sich wieder einmal trennen. Das heißt: er will, sie wohl nicht.« (TS I, 323)

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Tragik der Freiheit weitergekommen. Geheult […] Aussprache. Alles ausgesprochen. Ein gutes Stück weitergekommen. Aus, aus, aus.« (TS II, 210)

In immer neuen Wendungen schürt Strauß den Verdacht, die »Emanzipation« von klassischen Liebessemantiken habe die Spielräume erotischer Freiheit nicht erweitert, sondern lediglich neue Abhängigkeiten geschaffen, eine rationale Praxis von Beichte und Geständnis als zeitgenössische Gestalt von Unglück und Unterwerfung. Aufklärung und »Emanzipation«, so jedenfalls klingt der Refrain, befreien die »Liebe« zwar aus den Ketten der Disziplinarpraxis; aber gleichzeitig unterwerfen sie sie einem neuen, diesmal postdisziplinären Kontrollregime aus Erpressung und diskreter Tyrannei. Die neuen Liebesverhältnisse, auch das pointiert Strauß, versachlichen den kulturellen Raum von Verführung und Spiel und machen die intime Konfession »unsagbar«. Ohne die Möglichkeit, Gefühle symbolisch identifizieren zu können, entstehen massive Neurosen, vor allem panische Abwehr und Angst vor Nähe. In den naturalisierten Diskursen der Strauß’schen Bühnengesellschaft grenzt erotisches Interesse an Belästigung. Als Moritz seine weitläufige Bekannte Susanne mit den Worten anspricht »Entschuldigen Sie – ich glaube, Sie haben sich (an der Wand, Th. A.) weiß gemacht …«, erklärt ihn die Angesprochene zum Unhold und macht Moritz zum Opfer ihrer projektiv gewendeten Fantasie: »Fassen Sie mich nicht an! Kscht! Finger weg! Mein Gott – kann man mich denn nicht in Ruhe lassen?! Was wollen Sie?! Was?!« (TS I, 316)52 In anderen Szenen erscheint der ungeliebt Geliebte plötzlich als »Skelett«; die metaphernlose Intimität macht ihn symbolisch »nackt« und durchsichtig bis auf die Knochen. »Schwierig, dich nicht zu durchschauen. Schwierig, dich nicht bis auf das Skelett deines Wesens zu durchschauen. Ich sehe das Üble, wie’s immer knöcherner hervortritt –« (TS II, 63). Zwischen Versäumnis und Übereilung, so wird Strauß nicht müde zu behaupten, erschöpft sich die aufgeklärte Liebe schließlich in der sexualisierten Rede über »Sex«. Frank Arnold zu Marie Steuber in Die Zeit und das Zimmer: »Ich meine, Sie sind eine sehr schöne Frau, und ich bin nicht aus Holz. […] Sie 52 | Martin zu Kristine in Die Fremdenführerin: »Wer sitzt da letztlich neben mir? Erst mal nur eine kleine zugelaufene Person, die kommt und geht und wiederkommt, wie es ihr gerade paßt.« (TS II, 188) Vgl. auch die Verachtungsrede in Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle. Stefan zu Dieter: »Weißt du, was mir an deiner Frau unvergeßlich bleiben wird? Ihre Fingernägel.« (TS I, 72) Oder Stefan zu Hedda: »Spürst du’s, Hedda? Deswegen muß man dich immer wieder links liegen lassen: emotional gesehen, innerlich, bist du ausgestorben, mausetot […] Und ich schwöre dir: es gibt auf Gottes weiter Welt keine normale Frau, der man so etwas ungestraft ins Gesicht sagt! […] Als Frau bietest du uns hier quasi nur eine Attrappe an.« Dann Hedda: »Ich liebe dich, Stefan. Bitte richte dich danach und sei jetzt still!« (TS I, 72f.)

II. Konsum von Sinn

fürchten nicht, dass es Komplikationen geben könnte? […] Ich könnte Ihnen ja auch gleich mein Schlafzimmer anbieten.« – »Ja, sehr gern.« (TS II, 338) Auch im Flirt zwischen Moritz und Susanne in der Trilogie des Wiedersehens doubelt eine hypersexualisierte Sprache nur noch das Begehren, und dieses Sprechen ist nicht subtil erotisch, sondern offen instrumentell. »Ich meine: es gibt eigentlich nichts, was in einem Gespräch zwischen uns nicht gesagt werden könnte. Ich wollte fragen, ob wir miteinander schlafen –.« (TS I, 322) Mit dem »Tod des Begehrens« läuft für Strauß die Kodierungsgeschichte der Intimität regressiv in sich zurück. Die abendländische Evolution des Eros, das Sprach- und Bilderspiel mit dem Realen von Natur und Begehren, unterschreitet sein zivilisatorisch erreichtes Niveau und beendet den langen Prozess der symbolischen Denaturierung der Natur – im kollektiv Imaginären der »spätkapitalistischen« Gegenwart erscheint »Liebe« nur noch als erotisches Kontingenzereignis zwischen zwei Körpern. Polemisch widerspricht Strauß damit der soziologischen Behauptung, Liebe behalte auch in säkularisierten Diskursen die »Aura der Transgression« und bleibe der »zentrale Erfahrungsraum einer Utopie der Außeralltäglichkeit«.53 Für Strauß trifft das Gegenteil zu. Die Liebe, das letzte Naturereignis in der Funktionsmoderne, geht im Rationalisierungsschub postreligiöser Gesellschaften unter; nach der Versprachlichung des Sakralen verweist sie nicht mehr, wie zum Beispiel Axel Honneth annimmt, auf ein »Jenseits zum marktvermittelten Verkehr des bürgerlichen Lebens«, sondern verliert die Kraft der Überschreitung und resigniert zum libidinösen Zwischenfall in den Ökonomien des Alltags.54 Pessimistisch scheint Strauß davon überzeugt zu sein, dass für die religiöse Kodierung von Intimität keine moderne Entsprechung existiert, jedenfalls benutzt er das christliche Liebesverständnis als kontrastives Gegenbild zur »aufgeklärten« Rede über Liebe und Sexualität. Strauß macht kein Geheimnis daraus, dass ihn an der Sakralsemantik jene trinitarische Konstruktion fasziniert, die den göttlich »Allmächtigen« als einen allwissenden Regisseur einsetzt, der im Zufallsspiel der Gefühle die Geschicke lenkt und alle Fäden symbolisch in der Hand hält. Mit anderen Worten: Während das moderne Verständnis die Liebe dualistisch versteht und einer glücklichen Laune der Kontingenz entspringen lässt, verdankt sie sich in der christlichen Sakralsemantik dem Wunder der Vorsehung. Dieses »Wunder« nötigt die Liebenden dazu, sich einander über ein regieführendes Absolutes zu begegnen, über ein Drittes, das sie nicht selbst sind. Im Medium des »Göttlichen« vermittelt sich die Selbstidentität des Liebenden mit der Andersheit des Geliebten: »Wer nicht

53 | Axel Honneth, Vorwort zu Eva Illouz, Der Konsum der Romantik, Frankfurt a.M. 2003, S. IX. 54 | Ebd.

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liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe.«55 Damit ist Liebe nicht mehr bloß privat, sondern gestiftet, sie ist nicht Zufall, sondern Ereignis, denn die Wahl wurde bereits im Himmel getroffen und muss auf Erden nur noch in Freiheit und aus ganzem Herzen beglaubigt werden. »Im Mittelpunkt des Mittelalters«, so Lotte in Groß und klein, »stand felsenfest das Bild der wunderschönen Frau. Denn sie war damals dem Manne der erste Schritt zu Gott.« Auf den Einwand der »Frau«, so sei es doch heute immer noch, antwortet sie: »Nur: niemand will mehr zu Gott. Wer will noch über die schöne Frau hinaus? Sie ist dem Manne zum Selbstzweck geworden.« (TS I, 422) Wie folgenreich für Strauß die Entmystifizierung christlicher Liebessemantiken ist, zeigt schon der Umstand, dass er sie in einem eigenen Stück ausbuchstabiert und weitläufig skandalisiert. Im Schauspiel Der Park nimmt er Grundmotive aus Shakespeares Sommernachtstraum auf, vertauscht aber dessen Vorzeichen und pervertiert das erotische Fest in eine Feier des Todes.56 Erkennbar spielt Der Park nach der sexuellen Revolution der sechziger Jahre, doch wie so oft haben die permissiven Hoffnungen getrogen; die Aufklärung, die die bürgerliche Lustfeindlichkeit überwinden und den Frieden der Geschlechter herstellen sollte, erzeugt selbst ein mythisches Dunkel, sie erzeugt Hass und vergewaltigende Gewalt.57 Warum erotische Aufklärung in Gewalt umschlägt, beantwortet das Stück zunächst mit der vertrauten Kritik an der Zerstörung sublimierender Metaphern durch den Geist einer kulturell überdehnten Emanzipation. In dem Maß, wie das christliche Narrativ ins Säurebad der Aufklärung gerät und unglaubwürdig wird, versachlicht »Liebe« sich zur Liebestechnik und die göttliche Idee zum »Begriff«. Die Säkularisierung der christlichen Erzählung beseitigt den göttlichen Dritten und löst einen Abstraktionsschub aus, in dessen Folge die Doppelnatur des Begehrens – die negative Mimetik aus Anziehung und Abstoßung – nicht mehr symbolisch beruhigt werden kann und das »nackte« Reale des Begehrens freilegt, den basic instinct physischer Gewalt. »Je suis comme je suis. Man fragt sich nur, was bringt einen aufrecht gehenden Menschen dazu, sich in derart lächerliche Krümmungen zu versetzen, wenn 55 | NT, 1 Joh. 4,8. 56 | Zur Struktur des Stücks vgl. Bernhard Greiner, »Das Theater im Rücken: Botho Strauß’ Drama ›Der Park‹«, in: Der Deutschunterricht, Heft 5/1986, S. 62-82. 57 | Die Entwertung »abendländischer« Metaphern im Imaginären provoziert die Gewalt im Realen. In der Vergewaltigungsszene überzieht der mephistophelische »Erstling« sein Opfer mit einem popkulturellen Mythenmix (»Mickey-Mouse«/»Prinzessin«): »Komm her, du schmuddelige Mickey Mouse … Ich mach dich zur schönsten Frau Europas. Wenn du bloß still hältst! […]. Ich erfüll dir jeden Wunsch, aber wenn du mich verarschst, wie Irmgard Peters, dann schlag ich dich windelweich! Bist jetzt meine stolze Prinzessin, du! Ganz stolz mußt du sein […] dann ist es gut, dann –.« (TS II, 116)

II. Konsum von Sinn

er sich amüsieren will? […] Weshalb so kritisch hinterher? […] Das nenne ich doch: abstrahieren! Kaum daß einer wieder auf zwei Beinen steht, hat er nichts als Wörter im Kopf. Gerade noch, zu ebener Erde, die stillen, schnellen, frohen Griffe, und jetzt: die allerheftigsten Begriffe!« (TS II, 117) Der erzählfreie Rationalismus erotischer Aufklärung, so argumentiert Der Park, ist schismatisch, weil er die Einheit aus Subjektbegehren und Symbolischem auflöst und den erotischen Wunsch kognitiv abspaltet (»die allerheftigsten Begriffe«). Diese Abspaltung, das disembedding von Metapher und Gefühl, introvertiert die Sprache (»nichts als Wörter«) und reduziert Liebe auf Libido-Ökonomie zwischen zwei Triebschicksalen. Damit muss die erotische Sendung von Shakespeares Emissären scheitern.58 Zwar gelingt ihnen im Einzelfall noch einmal die Stimulation des Begehrens durch den »Zaubertrank«, aber eine erotische Passion entsteht auf dem Feld abstrakter Begriffe nicht mehr. Oberon: »[J]eder stöhnt und brüllt um seine eigne Wenigkeit, wer würde noch verrückt nach einem anderen?« (TS II, 87) Zuletzt verkehrt sich die Wirkung des Zaubertranks vollständig in sein Gegenteil, und Shakespeares Gegengift gegen die kollektive Liebesmüdigkeit provoziert die Wiederkehr archaischer Gewalt in der Kollision sprachloser Körper.59 Die Entzauberung der christlichen Liebessemantik macht Platz für eine neue Ökonomie der Wahl, genauer: für eine Kodierung von Intimität, die sich allein an funktionalen Mustern ausrichtet, in diesem Fall an den »Sprachen« von Wirtschaft und Recht. Der Rechtsanwalt Georg will seine ungeliebt-geliebte Klientin, die Deutsch-Amerikanerin Helen, erst dann heiraten, wenn er mit Hilfe eines Eifersuchtstests ihren aktuellen Markt- und Attraktionswert ermittelt hat. Helen, die als »gestürzte« Trapezkünstlerin vorgestellt wird, ist die Unberechenbarkeit in Person; sie hat mehrere bezahlte Scheinehen hin-

58 | Die postmetaphorische »Liebe« ist nur noch instrumentell: Georg zu Helen in Der Park: »Ich nehme dich nicht auf, wenn du mir nicht schwörst, daß ich dich haben kann, wann ich will und wo ich will!« (TS II, 163) 59 | Aufschlussreich ist die Behauptung, die Intensität der Leidenschaft sei an vordemokratische Verhältnisse gebunden, während die Demokratie den Tod der Liebe nach sich zieht. Oberon: »Nur: üb noch Geduld, Titania. Aus mündigen Bürgern über Nacht entspringen keine Troubadoure und König Salomonis Lüsterheit« (TS II, 83). Cyprian: »Was hinter allen Blicken blitzt/Das ist der große Haufen Ratten,/auf dem der leere König sitzt!« (TS II, 84) Danach folgt der Dialog zwischen dem Mädchen und dem »2. Jungen« über ›nordische‹ Einsamkeit (TS II, 84f.). Erst die Moderne, so behauptet Oberon, pervertiert archaische Leidenschaft in sexuelle Gewalt: »Menschen wissen nichts von Lust/Sie wissen nichts von der Gewalt,/mit der auf anderen Sternen andere Wesen/ zueinander kommen. […] So gründlich hat Bewußtsein und Geschäfte/ihren Trieb verdorben, daß mancher schon sich hilfeflehend an die alten Götter wendet.« (TS II, 82)

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ter sich, zeigt eine obskure Vorliebe für autoritär-patriarchale Lebensformen60 und scheint aufgrund ihrer zweisprachigen Sozialisation nicht in der Lage zu sein, ihre jähe, als »furienhaft« beschriebene Leidenschaft ambivalenzfrei zu adressieren. Umgekehrt ist auch der Rechtsanwalt Georg auffallend unsicher und begehrt in der Geliebten allein den eigenen Mangel, also jene intime Anerkennung und leibliche Unmittelbarkeit, die er in seiner Paragraphenwelt schmerzlich vermisst. Strauß entfaltet nun eine »Tragödie im Sittlichen« und zeigt, wie die Logik von juristischem Vertrag und ökonomischem Tausch Georgs Liebessprechen »kalt« macht und den affektiven Kern seiner Beziehung zu Helen zersetzt. Weil Georg das Unwahrscheinliche der Liebe nur vertragstheoretisch zu fassen vermag, weil er Liebe nicht als Gabe versteht, sondern utilitaristisch als selbstinteressierten Tausch, bleiben seine Gefühle »gegenwendig« und instabil.61 Um diesen lästigen Zwiespalt loszuwerden und seine unsicher gewordene Passion neu zu stimulieren, ersinnt Georg einen bizarren Plan. Mit Hilfe eines Dritten, also durch eine kalkulierte mimetische Rivalität 62, will er sich selbst eifersüchtig machen und fädelt ein Verhältnis zwischen seiner Geliebten und seinem Freund Wolf ein. In den Worten von Freund Wolf: »[I]ch begehre dich, weil Georg sich nichts sehnlicher wünscht, als daß ich dich begehre […]. Und er vergilt’s dem Freund dann mit vertiefter Zuneigung. Diese wiederum stützt das Begehren, das der Freund der Frau entgegenbringt.« (TS II, 92f.) Die Szene ist nicht ohne Delikatesse, weil sich das Dreiecksverhältnis zwischen Helen, Georg und Wolf als Farce des christlichen Liebesverständnisses lesen 60 | Ebenso die Figur Markus Groth in dem Drama Das Gleichgewicht. 61 | »Erotische Anziehungen sind in dieser Milieudynamik zu einem komplizierten System von narzißtischen Kalkulationen der mikropolitischen Macht geworden. Es beherrscht und neurotisiert alle Beziehungen […]. Der Zwang zur narzißtischen Triangulatur ist umfassend: Keine der beteiligten Figuren ist in der Lage, eine eigenständig motivierte Beziehung zu Menschen, Dingen oder Sachverhalten aufzubauen, ohne suggestiv an einen vollkommen ambivalenten und nichtssagenden, aber um so zwingenderen dritten Pol fixiert zu sein. Dieser mag mikro- und/oder makropolitisch von einem (charismatischen) Menschen, von einem Mythos, einer Ideologie oder Institution besetzt sein; er wird immer gewaltsam und als Machtposition fungieren.« Harald Weilnböck, »Die frühen Untertöne des Bocksgesangs in Botho Strauß’ Der Park«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), H. 2, S. 203-221, hier S. 207. 62 | Mimetische Rivalität heißt mit René Girard formuliert: »[D]as Subjekt ist ganz einfach unfähig, selbst zu begehren, und da es kein Vertrauen in den Wert seiner eigenen Wahl hat, kann es sich nur dem allmächtigen Rivalen zuwenden, dessen Begehren allein der Geliebten den Wert, die sie in den Augen des Subjekts hat, zu geben vermag.« René Girard, Die verkannte Stimme des Realen, München/Wien 2005, S. 61.

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lässt, dessen Exkommunikation im Park für den Tod der Leidenschaft verantwortlich gemacht wird. Der symbolische Dritte, der kontingente Gefühle zur gemeinsamen Liebe transzendiert, ist nun nicht mehr »der göttlich Allmächtige«, sondern es ist die göttliche Ökonomie des allmächtigen (Heirats‑)Marktes, auf dem Georg den amourösen Börsenwert seiner Geliebten zu ermitteln sucht. »In den Augen und wohl auch in den Armen eines Ehemanns erhöht sich schließlich der Wert seiner Frau – ich spreche einmal vom Herzen wie von der Börse – in dem Maße, wie sie seinem besten Freund gefällt.« (TS II, 92f.) »Aufklärung« und »Emanzipation«, so lautet der polemische Subtext auch dieser Szene, haben der Logik von Ökonomie und Recht zum Sieg verholfen und sie als neue »Sprache« der Intimität etabliert. Doch weil die neuen Kodierungen imaginativ steril sind, weil sie keine neuen Bilder freisetzen und bloß die alten konsumieren, fließen keine kreativen erotischen Energien mehr in die Sprache zurück – die Imago der Liebe regeneriert sich nicht mehr und stirbt ab.63 Auch wenn am Schluss des Dramas, als Titania zur Silberhochzeit lädt (und kaum jemand ihrer Einladung zu folgen bereit ist), mit der Erinnerung an Augustinus noch einmal das christliche Liebesversprechen aufleuchtet, so gilt wie schon in Groß und klein: Keine wahre Liebe im Falschen einer säkularistisch erkalteten Sprache. »Statt zu feiern werden sie frösteln, statt zu schauen werden sie unter sich blicken, statt zu lieben werden sie witzeln, statt zu preisen werden sie nörgeln. Anders kann es gar nicht kommen.« (TS II, 169)64 Wenngleich im Park erste Anspielungen auf das hellenistische Liebesverständnis nicht zu überhören sind, bewegt sich Strauß doch vornehmlich im 63 | Aus der Säkularisierung der Sprache folgt in Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle der Tod des Begehrens. Strauß inszeniert ein Spiel mit der »echten« und der »falschen« Doris; nach dem überfallartigen Akt mit »Doris zwei« erscheint seine Frau (die »erste Doris«) mit einem »Kissen unter dem Bauch« und spielt auf Stefans Liebesmüdigkeit an. Dann prostet man sich »heimlich« zu: »Auf unsere kleine Familie.« (TS I, 105-107) – Auf das trinitarische Verständnis der Liebe spielt auch Karl in Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle an: »Ich hab‹ ein Herz gesehen, das zwischen euch schlägt. Nicht deines, nicht Guenthers, ein drittes Herz, das euch beiden gehört …« (TS I, 92) 64 | Die Schlussszene im Park ruft den ›Sakralsemantiker‹ Augustinus als Kronzeugen an. Im Duktus der Bekenntnisse heißt es: »Herr, warum hast du uns heute keinen Feiertag beschert?! […] Auf fünfzig Tuchservietten ließ ich das Wort des Augustinus drucken. Für wen?« (TS II, 169) Da dieses Stück mythologische wie christliche Anspielungen assoziativ vermengt, muss es offen bleiben, inwieweit Strauß die beiden Anspielungsräume im »Fabel-Sohn« vereint und die Figur eines ›Dritten Dionysos‹ entwirft. Vgl. Helga Kaußen, Kunst ist nicht für alle da, S. 219f. und S. 223f. – Zum mythologischen Gehalt der Schlussszene auch Bernd Graff, »Wirklichkeit ist das, was wirkt«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), H. 2, S. 222-244, hier S. 234ff.

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christlichen Motivraum. Erst mit dem Stück Die Fremdenführerin verlässt er diesen Raum, und nun bildet nicht mehr das christliche Narrativ, sondern der dionysische Eros das kontrastive Ideal zur »aufgeklärten« Kodierung von Intimität. Diese Perspektivverschiebung hin zur antiken (Liebes‑)Tragödie macht den Bruch mit der Moderne absolut; die Sprachspiele von tragischer Antike und posttragischer Moderne sind inkommensurabel und bleiben einander unverständlich. Sogar Kristine versteht nichts von der antiken Fremde, denn was die rechtschaffen ahnungslose, aus Deutschland stammende Fremdenführerin im Stadion von Olympia ihrem entzückten Landsmann, dem Geschichtslehrer Martin, erklärt, erweist sich als Touristenkitsch, als folkloristische Verklärung des Alten zum »Ursprünglichen«.65 Aber auch Martin, der Lehrer mit dem Griechenfimmel, ist blind für die vom Stück behauptete Elementardifferenz von Antike und Moderne, vor allem für den Unterschied zwischen Konflikt und Tragödie (vgl. TS II, 175). Wie die Fremdenführerin, die die Fremde nicht kennt, bleibt Martin im antitragischen Selbstbild der Moderne befangen und verwechselt in edler Einfalt und stiller Größe das griechische Humanum mit dem modernen Begriff des »Menschlichen«.66 Strauß geht es nicht um die vergleichsweise harmlose Behauptung, die moderne Antikensehnsucht sei Bildungsfolklore und müsse notwendigerweise ihren Gegenstand verfehlen. Die Fremdenführerin verhandelt vielmehr einen dramatischen Epochenbruch, genauer gesagt: Das Stück soll zeigen, dass sich der »Tod der Leidenschaft« einer fatalen Lossagung vom antiken Wissen verdankt, einer tragischen Leugnung des Tragischen. Der moderne Liebesdiskurs, so lautet diesmal der Vorwurf, verdrängt die unaufhebbare Ambiguität von Geschlechterbeziehungen und verkennt den dionysischen Kern der Leidenschaft. Wider Willen, aber doch mit Notwendigkeit provoziert die moderne Disambiguierung »heiliger Leidenschaft« – die Konsensfiktion von Partner-

65 | »Die Spiele fanden regelmäßig alle vier Jahre mitten im Sommer während der Hundstage statt. Dies geschah aus kultischen Gründen […]. Es war also entsetzlich heiß. Kopfbedeckungen durften wegen der Sichtbehinderung nicht getragen werden.« (TS II, 173) »Der Doppellauf erfolgte in umgekehrter Richtung. […] Dies entspricht in etwa unserem modernen 400-Meter-Lauf. […] Den heute üblichen Tiefstart kannte man noch nicht.« (TS II, 174) 66 | »Was soll ich tun? W o h i n erzieh ich meine Kinder? Für welche Welt, gegen welche Welt? Ich weiß es nicht mehr. Wir versuchen, ihnen die Verzweiflung auszu r e d e n. Aber es gibt kein Leben ohne Verzweiflung, und wir haben nicht gelernt zu trösten. […] Weil mir manches schiefging, dachte ich, sollte ich eine Zeitlang zu den Quellen gehen, dorthin, wo unsere Ideenwelt entstanden ist. Wo ursprünglich alles heiter und gerade war. Harmonisch. Vernünftig. Einfach nur die Quellen spüren, die Elemente spüren.« (TS II, 180)

II. Konsum von Sinn

schaft und Harmonie – die Wiederkehr jener archaischen Ambivalenz, die im dionysischen Eros noch kultisch integriert worden war.67 Für die tragische Wiederkehr des Verdrängten steht im Stück die Figur Vassili, ein moderner Gegenmoderner, der mit Haut und Haaren geliebt und den seine »heilige« Leidenschaft schier um den Verstand gebracht hat. Vassili »durchschaut« die antitragische Gegenwart, er weiß um ihre diskursive Selbsttäuschung und kosmische »Seinsvergessenheit«: »Er hat uns alle durchschaut. Er hat, von uns aus, als einziger noch einmal dahintergeblickt. Was hinter dem Mensch-Sein ist.« (TS II, 177) Mit Vassilis Tod erlischt die Erinnerung an die »heilige« Überschreitung – die Erinnerung an das dionysische Widerspiel von Schaudern und Entzücken und die Einheit aus Glück und Ekstase. Doch auch hier entfaltet die erotische Aufklärung ihre eigene Dialektik, und wie ein Fluch kehrt das Verdrängte in Gestalt von Zerwürfnis und »Chaos« in die Wirklichkeit der »Liebenden« zurück. »Das Paar! Der Menschenordnung erstes Element … Was für ein Chaos, kleine Person, was für ein Chaos.« (TS II, 204) Ohne das tragische Narrativ des Mythos, und das heißt für Strauß: ohne ein dionysisches Verstehen der Liebe »kriechen« Martin und Kristine als das »letzte Paar« durch ihre absonderliche Welt, zwei durch Anziehung und Abstoßung aneinander gekettete Körper, zurückgeworfen auf ihre abstrakte kreatürliche Differenz, die einzig »reale« Unterscheidung, die im metaphernfreien Raum ihrer »Leidenschaft« noch gilt. »Ich bin hier kein Nistplatz für anderer Leute Leidenschaften.« (TS II, 182) Dementsprechend trägt der finale, in der Bergeinsamkeit ausgetragene Geschlechterkrieg alle Züge einer tragischen Farce, denn tragisch, als pervertierte dionysische Gewalt, kehrt die erotische Ambivalenz in die Welt der Modernen zurück. Martin zu Kristine: »Mein Liebes, faß mich zart an. Ich bringe dich um. Ich zerquetsche dich.« (TS II, 208)68 Oder: »Gut. Bleiben wir beide hier. Verhungern wir. Verwahrlosen wir ineinander. Vermodern wir ineinander […] Durchfaulen zum Nichts!« (TS II, 200)69

67 | Die gewaltauslösende Disambiguierung von Leidenschaft und die Neutralisierung »dionysischer« Intensität ist auch das zentrale Thema in der Tragödie Das Gleichgewicht. 68 | Panik und Amok sind Grundformen des modernen Geschlechterkriegs. »Du erkennst mich nicht./Obwohl ich doch ganz deutlich bin.« Martin: »Du hast mich nicht erkannt. Du hast mich nie gesehen.« (TS II, 205) Was übrig bleibt, ist der ungemilderte Antagonismus von Mann und Frau, der antike Geschlechterfluch: »Von nun an wirst du wissen, daß ich immer die F r a u sein werde, etwas, das nie, wie alles übrige, aufhört, der Gegensatz zu dir zu sein.« (TS II, 205f.) 69 | Damit hat sich die Lage verschärft. Nicht einmal die christliche Sakralsemantik verspricht noch Rettung – sie wurde vom modernen Weltbild vollständig absorbiert: Ithaka zieht daraus eine naheliegende Konsequenz: Odysseus und Penelope werden erst dann wieder zu einem Paar, als der Höllenzauber der »Freier«-Moderne vorüber ist.

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Die Figuren regredieren zum Triebschicksal ihrer selbst, ihre »Überschreitung« kennt kein Gesetz, und ihrer Gewalt fehlt, wie Strauß mit irritierendem Unterton anklingen lässt, jede dionysische ›Sakralität‹. »Ich könnte dich töten. Aber einfacher wäre es wohl, ich ließe dich allein.« (TS II, 203) – »Du kommst hier nicht mehr raus. Oder als Braut. Oder tot.« (TS II, 209) Mit dem Tod der erotischen Metapher banalisiert sich die »heilige Ekstase« zum naturalistischen »Glück machen«, und das »Ich will« des Begehrens taktet die sinnlos abfließende Zeit. »Ich versteh nicht – schon wieder Glück machen?« (TS II, 200)70

II.8 H yperse xualität als F arce der M e taphysik Aufklärung macht liebesmüde – das ist die Rechnung, die Strauß seinem Publikum präsentiert. Seine Figuren scheitern daran, ihr Begehren symbolisch zu adressieren und in eine gemeinsame Erzählung der Liebe zu verwandeln. Ohne die alten Kodierungen von Intimität verliert die Liebe ihre symbolisch bindenden Energien; sie erschöpft sich im freudlosen Naturalismus des »Glückmachens« und der libidinösen Selbststeigerung im beliebigen Anderen. Liebe ist nicht mehr Gabe, sondern Tausch; nicht mehr Ereignis, sondern Zwischenfall. Dieser Dialektik erotischer Aufklärung gewinnt Strauß noch eine letzte, an Foucault geschärfte Pointe ab. Nachdem das moderne »Sexualitätsdispositiv« die alte Liebessemantik erfolgreich exkommuniziert hat, übernimmt es eine religionsanaloge Weltbildfunktion und divinisiert sich selbst. Dem »Gott« der Sexualität wächst ein absurder Mehrwert zu; er besetzt in der Alltagssprache 70 | »Willst du Glück oder will ich Glück?« (TS II, 200) Im ›hohen Mittag der Kultur‹ bleibt nur die Angst der letzten Menschen, ihr Leben zu versäumen. »Was geschieht jetzt alles ohne mich?« (TS II, 199) – »Es ist Mittag. Es ist viel zu heiß zum Meinen.« (TS II, 198) »Wenn wir schlafen, ist Mittag. Wenn wir aufstehen, ist Mittag […] Geraume Zeit. Geräumig. Sehr geräumig.« […] »Du bist unruhig.« – »Ich bin überhaupt nicht unruhig.« – »Worauf wartest du?« – »Alles vorbei. So ist die Lage. Und wir s i n d die Lage.« (TS II, 199) Der Untergang der symbolischen Welt koinzidiert mit dem Animalischen. »Die Larven der Florfliege […] packen die Blattlaus mit ihren Hohlzangen und trinken sie leer. So geht das. So ist das gegangen.« (TS II, 200) Sexualität ist eine Übertretung, die nichts mehr übertritt. Oder mit Michel Foucault: »Könnte man vielleicht sagen, die Sexualität lasse in einer Welt, in der es keine Gegenstände, kein Wesen, keine Räume mehr zu entheiligen gibt, die einzig mögliche Trennung wiedererstehen? […] Eine Entheiligung in einer Welt nun, die dem Heiligen keinen positiven Sinn mehr zuerkennt – sollte man das nicht im Grunde Übertretung nennen?« Michel Foucault, »Zum Begriff der Übertretung«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1983, S. 69-89, hier S. 70.

II. Konsum von Sinn

den leeren Thron der Metaphysik und erfüllt sämtliche Funktionen des alten Glaubens – er verspricht Transzendenz und Trost und verkündet Auferstehung und Erlösung. Doch zielte das disziplinäre Christentum auf die Spiritualisierung der Physis, so divinisiert der Hypersex im »Atlantis der Obszönitäten« (TS II, 29) die »Natur« der Natur.71 »Und du quatschst hier dauernd rum, kalt und schwül wie ’ne Messehostess. Du redest doch sonst nicht über Sex. Du redest hier die ganze Zeit über deinen Sex und merkst es gar nicht!« (TS I, 480) Im imaginären Horizont der säkularen Moderne steigt der Hypersex zur neuen symbolischen Leitwährung auf: Jeder kann sie verstehen, jeder kann sie tauschen.72 Für die dramatisch steile Behauptung, Hypersex sei die Farce der abendländischen Metaphysik und besetze den grammatischen Ort der Religion, steht beispielhaft der zweite Akt von Kalldewey, Farce. Strauß lässt die Szene (»Das Leben eine Therapie«) im aseptischen Paradies eines Paartherapeuten spielen, und wie Shakespeares Emissäre in Der Park, so will auch dieser Liebestrainer die Attraktionsenergien seiner Patienten zu neuem Leben erwecken, das Feuer der Wünsche im »Aschenhäufchen« ausgeglühter Leidenschaft. Minutiös zeigt Strauß, wie sich der Animateur die lustlose Gemeinde gefügig macht, wie er sie zur Liturgie des »Genießens« nötigt und das sexualisierte Normalsubjekt psychotechnisch durch Geständniszwang, Affektzensur und Nachsprechen hervorbringt. Die szenische Suggestion lautet auch hier: Während in den alten Disziplinarverhältnissen alles erotische Verlangen von Natur aus schuldig war, so ist unter libertären Bedingungen alles Nicht-Begehren Sünde. Der alte Fremdzwang verwandelt sich in neuen Selbstzwang, und wieder muss das Subjekt geständig werden und öffentlich Beichte ablegen: »Die Sache ist die – ich fühle mich jetzt meinem Partner wieder sehr nah.« (TS II, 32) Sex ist

71 | Die Denkfigur, dass semantische Hypersexualisierung das Absolute des abendländischen Liebesdiskurses ablöst, findet sich schon in Die Hypochonder. Nelly: »Ein gleichschenkeliges Dreieck. Was ist das?« Daraufhin Vera: »Geschlechtslust.« (TS I, 48) im Gegenzug dient Liebe als absoluter Ersatz für das fehlende Absolute und überlastet die Intimbeziehungen mit heiligen Erwartungen. Der »Mann« in Groß und klein, der Magnetventile für Aquarien vertreibt: »So ein Dingsda schmiedet eine ganze Existenz […] Aber, siehst du, bei dir beginnt meine Selbstachtung. Meine Selbstachtung bist du. Laß das Materielle nur ein Lustspiel sein, laß es da unten nur kichern und kreischen. Hier oben soll es ernst bleiben und still. Hier oben wir.« (TS I, 425) Im Status der Dauerüberforderung trägt »Liebe« die ganze Last des resonanten und sinnhaften Lebens – und bleibt gerade dadurch ichbezogen. 72 | Oder Sex als Substitut der »Philosophie«. Albert: »Weil du sexuell nicht bis zehn zählen kannst.« Josefine: »Albert, ich bin nicht firm in deiner Philosophie. Laß es.« (TS I, 480).

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die neue Religion, und sie ist totalitär. Die Frohbotschaft von der Auferstehung der Körper duldet keine anderen Götter neben sich.73 Für eine Weile scheint das Evangelium der Sexualität tatsächlich das Sinnbedürfnis der Klienten zu befriedigen. Der Priestertherapeut stellt das Ambivalenzmoment des Begehrens klinisch still und stiftet noch einmal eine amouröse Kohärenz zwischen den entfremdeten Körpern. Doch die Harmonie trügt. Die Therapiegesellschaft erweist sich als eine zum Paradies verzauberte Hölle: Der Geschlechterstreit entbrennt aufs Neue und die Sehnsucht nach dem ›Ganz Anderen‹ bricht auf, das unstillbare Verlangen nach einem »heiligen« Ereignis. Dieses Ereignis betritt in Gestalt von »Kalldewey« die Bühne, der wie ein Deus ex Machina in der Mitte der schaudernd entzückten Gesellschaft auftaucht und sofort als »King« libidinös besetzt wird. In der Figurenfantasie markiert der Mann mit dem Unsinnsnamen eine absolute Zäsur. Der Charismatiker sprengt die mythische Immanenz der immergleichen therapeutischen Zeit, denn kaum ist er erschienen, bleiben die Uhren stehen, und »[d]a gibt’s von einer Stunde auf die andere plötzlich ein Früher und ein Jetzt« (TS II, 40). Der »unwiderstehliche« Kalldewey ist ein vacuum cleaner, er scheint nicht nur die Leidenschaft, sondern das Leben selbst zurückzubringen; er ist der säkulare Erlöser, der der zerfallenen Gruppe ein symbolisches Zentrum verschafft, in dem sie sich identifikatorisch spiegeln kann. In dem Moment, wo der Fremde von der Bühne verschwindet, setzt sofort seine Verklärung ein, er wird ikonisiert. »Ich hab’s mir reiflich überlegt: ich fange an zu glauben, der Mann war übersinnlich manifest, mit höheren Kräften im Verein.« – »Und jetzt verlier ich meinen letzten Zweifel: eine solche Leere hinterläßt allein die große Führernatur«. Und Meret: »Ich sag’s euch/es war der King, es war der King.« (TS II, 40)74 73 | Die Überwindung des Egoismus geschieht wiederum aus ökonomischen Nützlichkeitserwägungen. Die Frau: »Ich will geben, geben, nicht besitzen« – Der Mann: »Ich will geben, geben, nicht besitzen/Du siehst, zwischen uns fehlt es an nützlicher Ergänzung. Derselbe Drang von beiden Seiten blockiert die Partnerschaft.« (TS II, 42) Dazu Niklas Luhmann: »Der Einfluß des Therapeuten auf die Moral […] ist schwer abzuschätzen, sicher aber zu fürchten. Er setzt […] die heilungsbedürftige Verfassung des Einzelnen an die Stelle der Liebe und entwickelt für Liebe dann nur noch die Vorstellung einer wechselseitigen Dauertherapierung auf der Basis einer unaufrichtigen Verständigung über Aufrichtigkeit.« Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 211. 74 | Kalldewey erscheint in den Augen der Immanenz-Idioten als wohltuend rezeptiv – er ist ganz Ohr und verkörpert gleichsam das Hören der Sprache. Und doch hört er nur, dass Sprache nicht mehr hört. »Noch können wir ihn zur Rede stellen« – »Reden! Der redet nicht, dem fällt bloß Scheiße aus der Fresse. Der will hören, hören! Der hört alles krankhaft in sich rein.« (TS II, 37)

II. Konsum von Sinn

Selbstverständlich handelt es sich um ein Trugbild, um eine optische Täuschung. Kalldewey ist ein Nicht-Ereignis, ein nihilistisches Double, das die Geschlossenheit der Therapiegesellschaft nicht auf bricht, sondern verdoppelt. Der »Erlöser« entpuppt sich als Betrügergott, er verkörpert nicht das ›Ganz Andere‹, sondern die phantasmatische Steigerung des Realen. Kalldewey verspricht, die austherapierte Gemeinde vom Zwang der Freiheit zu befreien, er ist ein Antichrist unter der Maske des Erlösers oder, wie andere Interpreten schreiben, die »Travestie des Gottes Dionysos«.75 Bei allem aber ist seine zentrale Bestimmung die, dass er keine Bestimmung hat; seine Obszönität ist der Spiegel der sexualisierten Leere, denn nur aus diesem Grund wollen sich alle in diesem Unhold erkennen. »Irgendwie paßt er hierher, als hätt’s ihn immer schon gegeben.« (TS II, 37) Dass es dem »Rattenfänger« gelingt, die Gemeinde glauben zu machen, er führe sie wie Moses aus der Wüste, entlarvt für Strauß einmal mehr den Skandal einer »Metaphysik« der Sexualität, die nichts anderes produziert als erlösungsbedürftige, für das faschistische Charisma des »Ver-Führers« anfällige Gestalten. Und doch ereignet sich auch Wahres im Falschen. Obwohl die »Leere« des »Schweinepriester[s]« (TS II, 40) den Grund der Leere wiederum nur verdeckt, hat sein Auftritt einen kathartischen Effekt: Der Mann aus der Fremde 76 destabilisiert die Verhältnisse – er »entfremdet« die Figuren ihrer Entfremdung und sprengt die Routinen der scheinhaft normalisierten Welt. Auch in der Weltbildhöhle der Moderne, so lautet die Auskunft des Stückes, ist das Begehren nach symbolischer Transzendenz und »wirklichem Leben« nicht totzukriegen.

75 | Mit Georges Bataille gesagt: Kalldewey ist die Wiederkehr des exzessiv Heterogenen im Homogenen, aber als Farce. Georges Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, München 1978, S. 15f. – Wolfgang Emmerich, »›Eine Phantasie des Verlustes‹ – Botho Strauß’ Wendung zum Mythos«, in: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hg.), Mythen in nachmythischer Zeit, Berlin/New York 2002, S. 321-343. 76 | Strauß bringt hier die klassische gnostische Definition des ›Mannes aus der Fremde‹ ins Spiel: Der »Ruf eines Mannes [übertönt] den ›Lärm‹ der Welt und [weckt] in den sich selbst und den Ursprung vergessenden Seelen die Anamnesis an ihren Ursprung. Indem der Ruf die Fremde als Fremde erkennen lässt und die Wiedererinnerung weckt, entsteht die Sehnsucht nach der jenseitigen Heimat als Anfang der Heimkehr und Abkehr vom Bann der Welt.« Barbara Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis, Frankfurt a.M. 1988, S. 177.

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II.9 S ymbolische R egener ation oder politische R estaur ation ? Lässt man einmal die frühen Stücke Revue passieren, dann sticht die Sorgfalt ins Auge, mit der Strauß die Lebenskrisen seiner Figuren genealogisch an die »Bedeutungsleere« ihrer Sprechweisen zurückbindet, an ein »rasendes Vergessen« im symbolischen Herzen ihrer Diskurse. Die Bühnensprache verliert ihr ethisches »Gedächtnis« (Die Hypochonder), sie vergisst den »Text der Welt« (Groß und klein) und schneidet die Figuren vom Strom kultureller Überlieferung ab. Die eben noch »lebendige«, dem Menschen zugehörige Sprache verliert ihre weltbildende Kraft und tritt die Flucht an; sie zieht sich in ihre Wortwörtlichkeit zurück (»nichts als Wörter«; TS II, 117) oder resigniert zu einem »plappernden« Monolog mit sich selbst. In einem nominalistischen Exzess trennt sich die »besagte« Sprache vom Sprecher (»Weiß Lotte nicht/was Lotte sagt?«; TS I, 487) und der Signifikant vom Signifikat. »Ich rede wunders was und meine aber fest, ich denke nur.« (TS I, 415) Nach der Absonderung der Sprache reden die Charaktere mechanisch und wie in Trance, ihr Sprechen erscheint wahlweise als Selbstbehauptung im semantischen Bürgerkrieg oder als Abwehrkampf gegen das Außen ihrer unheimlich gewordenen Welt. »[I]hr redet – ihr redet ja nur, um nichts zu hören, nichts zu sehen!« (TS II, 24) Schlussendlich löst sich auch die Subjektmarkierung auf, und nach einem dramaturgisch immergleichen Eskalationsmuster zerfallen die Figurennamen in ihre grammatischen Bestandteile.77 Strauß ist allerdings Dialektiker genug, um dem Schisma von Subjekt und Sprache nicht das letzte Wort zu überlassen und die Idee einer symbolischen Versöhnung ins Spiel zu bringen. Weil diese Idee zum innersten Motivbestand des dramatischen Werks gehört, sollen im Folgenden drei Szenen betrachtet werden, die unterschiedlichen Entstehungsphasen entstammen und eine Verschiebung des geistesgeschichtlichen Epochenrahmens anzeigen: Die christliche Neutaufe der Wörter in Groß und klein, die nationalreligiöse Sprachverwandlung der Vereinsgesellschaft in Schlußchor und die neopagane Zerschlagung der »Freier«-Moderne in Ithaka. In dieser Verschiebung zeigt sich bereits die Grundgestalt der Strauß’schen »Kehre«. Strauß I, und das ist 77 | Lotte bei der Suche nach ihrer Freundin vor einer Sprechanlage in den Neubauruinen der Bundesrepublik: »Niedschläger … Steht gar nicht drauf. Muß aber draufstehen … Tillmann, Karnap, Kutnewski, von Roel … Von Roel! … Könnte sein, von Roel.« Sie drückt einen Klingelknopf […]. »Lotte.« – »Lotti?!« – »Nein. Lotte.« – »Lotti? Ja, gibt’s dich noch?« – »Nein, nein. Ich bin jemand anderes. Sie verwechseln mich. Ich suche die Mechthild Niedschläger …« […] »Haben wir richtig verstanden: Tannsieder, ja?« – »Niedschläger. Nied wie niedlich« – »Oh, das ist ein ganz anderer Name« […] »Entschuldigen Sie die Störung … Ich bin Lotti, äh Lotte –.« (TS I, 455-457)

II. Konsum von Sinn

der Autor von Groß und klein, bewegt sich im christlichen Referenzrahmen und versteht die Versöhnung von Subjekt und Sprache (Lottes »Neusehen« der Welt) als einen Akt innerhalb der alten symbolischen Ordnung. Strauß II dagegen ist der Autor, der die Hoffnung auf eine semantische Regeneration der »besagten«, von Ökonomie und Medien kolonialisierten Sprache verliert und den monotheistischen Assoziationsraum »nach rückwärts« verlässt. Der Verfasser von Ithaka begnügt sich nicht mehr mit der Frage nach der konservatorischen Rettung kultureller Bestände und einer sublimierenden Deutung des Realen. Er sucht außerhalb der etablierten Sprachformen Zugang zur Erfahrung des Realen und sondiert die Möglichkeit einer politisch-symbolischen Revision »im Ganzen«. Strauß richtet den kritischen Fokus auf die Moderne selbst; nicht mehr nur auf das Elend ihrer Sprachspiele, sondern auf die Misere der Epoche. Doch zunächst zu Groß und klein, dem Schlüsselwerk der frühen Phase. Mit seiner christlichen Heldin Lotte erschafft Strauß ein symptomatisches Feld, das die Artikulationsarmut der Bühnensprache zugleich verkörpert wie auch spektakulär transzendiert. Die hierfür entscheidende Szene spielt am Rande der marokkanischen Sahara, wo Lotte als Pauschaltouristin einige freudlose Urlaubstage verbringt. Doch im Naturfrieden der Wüste demaskiert sich der Bürgerkrieg der Gesellschaft; die Reisegruppe (»jeder gegen alle«) ist sich »spinnefeind« (TS I, 413), sie ist zerfressen von »Gier, Neid, Desinteresse, Habsucht und blinde[m] Eifer« (TS I, 410). Lotte wirkt nervös, ihr Herz ist – wie Strauß mit einer Anspielung auf Augustinus andeutet – unruhig. »Die Zeit vergeht, aber nicht richtig.« (TS I, 407) Der kapitalistische Geist weht überall, und er weht selbst in der Wüste. Auch in Agadir wird alles ökonomisch kalkuliert und penibel verrechnet. Die göttliche Zeit des Geldes perforiert den Augenblick, und so bleibt Lottes Hoffnung auf Präsenz unerfüllt. »Ein Tag Marrakesch kostet mich hundertzweiundvierzig Mark« (TS I, 413). »Agadir« steht zum einen für die Anomie der westdeutschen Gesellschafts»Wüste« (»Total zerstritten, wie unsere Gruppe ist«; TS I, 410); zum anderen macht Strauß den Ort zum Schauplatz einer singulären sprachlichen Verwandlung. Auf der Hotelveranda wird Lotte Zeugin eines Gesprächs zwischen zwei Unbekannten, zwischen »Frieder« und »Nicht-Frieder«, und schon der Klang ihrer Stimmen wirkt Wunder und verwandelt alles. Obwohl sie – analog zur mosaischen Urszene – das »selige Paar« nicht sehen, sondern ihre kaum verständliche Rede nur hören kann, ist die eben noch unruhige Heldin plötzlich ganz »Ohr« und voller Hingabe. »Zwei Männer gehen draußen auf und ab. Ewig. Tiefe Stimmen. Hören Sie?« (TS I, 405) Lotte glaubt hinter ihrer Jalousie theologische Brocken zu hören und erlebt die Szene als Transzendenz im Profanen, als ein ursprüngliches Vernehmen, das den babylonisch verwirrten Wörtern halluzinativ die vergessene Wahrheit zurückgibt. »Sie gibt mit verstellter Stimme einen aufgeschnappten Satz wieder«, lautet die Regieanweisung. »›Da

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wurden wahre Wunder vollbracht …‹ Wahnsinn. […] Gott schütze mich, in der Hitze der Nacht. Das klingt! Vater, Vater … Die gehören nicht zu uns, die Kerle. Hab ich mein Lebtag nicht gehört, solche … solche … Wohl – laute!« (TS I, 405) Natürlich ist es nicht so, dass das dialogische Doppel Frieder und NichtFrieder die Alltagssprache symbolisch verwandelt; möglicherweise reden die Spiegelfiguren nur nichtssagendes Zeug und repräsentieren jenen Nullpunkt sprachlicher Selbstverschließung, an dem sich, wie so oft bei Strauß, die Wörter zum Echo-Effekt ihrer eigenen Leere desemantisiert haben. Tatsächlich sind es die Stimmen, die Lottes mystische Imago affizieren – die Epiphanie der »Wohl-laute« versöhnt Signifikant (»Frieder«) und Signifikat (»Nicht-Frieder«) und beendet für sie die Repräsentationskrise der nichtssagenden Sprache. »Nein, nein. Ich will ja nichts. Wer wär ich denn. Nur reden möcht ich dich hören, mein seliges Paar! Oh, redet, ihr meine unzertrennlichen Stimmen …!« (TS I, 413)78 Im Hinblick auf die Werkentwicklung ist es entscheidend zu sehen, dass sich die symbolische Transzendenz innerhalb der Realitätsfiktion des Stücks ereignet. Strauß inszeniert keinen Akt höherer symbolischer Gnade und keine göttliche Intervention; er führt seine Heldin nicht – wie später im Roman Der junge Mann – an den ontologischen Ursprung der Sprache, er konstruiert auch kein Jenseits zur säkularen Moderne – Strauß inszeniert eine Verwandlung im Profanen und eine mystisch imaginierte Neutaufe der Sprache in der »Wüste« ihrer Bedeutung. Lotte, und allein darin besteht das Wunder, entkommt der symbolischen Ökonomie ihrer Gesellschaft, sie wird vom verborgenen Sinn der Wörter angesprochen, weshalb deren ›Auferstehung‹ auch nur durch sie, durch ihre ekstatische Subjektivität, beglaubigt werden kann. Oder um vorzugreifen: Die marianische Heldin wird nicht, wie die »Kauffrau« im Roman Der junge Mann, von der namenlosen Gewalt eines vorsprachlichen Seins überfallen und ›bis auf die Knochen‹ desymbolisiert; Lotte wird durch eine EpiphanieErfahrung verwandelt, und aus diesem Grund ist sie »selbstredend« ganz Ohr und die Aufmerksamkeit in Person.79 Die religiösen Reflexionsbegriffe schärfen ihr Bewusstsein von Endlichkeit und Frist und entzaubern die Herrschaft ökonomischer Heilsversprechen. Lottes Einbildungskraft blüht auf, und auf 78 | »Die STIMME will weder Aussage noch Ereignis; sie will, daß Sprache ist, will das Urereignis, das jegliches Ereignis allererst ermöglicht. Die STIMME ist die ursprünglich ethische Dimension, in der der Mensch der Sprache sein Jawort, ihrem Stattfinden seine Zustimmung gibt.« Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, Frankfurt a.M. 2007, S. 141f. 79 | Dass im Wüsten-»Wunder« Sprache und Stimme »insignifikant« zusammenfallen, sprengt die symbolische Immanenz ihrer Welt und ermöglicht Lotte wieder die Unterscheidung von weltlich und transzendent. Die Unbeweisbarkeit des »Wunders« zitiert dabei die mosaische Urerfahrung von der Nichtverifizierbarkeit des Absoluten.

II. Konsum von Sinn

den Bahnen der biblischen Apokalyptik träumt sie den Gegentraum einer vom falschen Menschentext befreiten und symbolisch »deterritorialisierten« Erde. »Ja! … Ja!/Für chte/Für chte chte chte […] Siehe, der Mensch wird abgehen von dieser Erde […] in offenen Büchern wird der Wind zärtlich blättern. Die Erde wird unbenannt sein und auf blühn. Die gefesselte Hoffnung, befreit von jeglichen Propheten, wird erlöst sein und in der Stille reichlich wirken.« (TS I, 413f.) Erwartungsgemäß erweist sich Lottes Hoffnung, sie werde als rettender Engel der westdeutschen Zugewinngesellschaft die Zunge lösen, als rührend naiv. In der sündhaft verkehrten Welt – das ist die Konstruktion des Stücks – wird das wahre Sprechen sofort »falsch«, und Lottes pfingstliche Sprache bleibt das, was sie ist: eine mystische Privatsprache, die in der Gesellschaft der ökonomischen Menschen niemanden erreicht. Der säkularen Vernunft erscheint die vom Autor »begnadete« Lotte als eine komische Heilige, die verrückt genug ist zu glauben, sie werde mit einer Gottespredigt ihren treulosen Ehemann zurückgewinnen. »Gott ist einfach. Gott verwandelt sich nicht und betrügt niemanden. Deine Lotte.« (TS I, 472)80 Wie Groß und klein, so nimmt auch das (nach der deutschen Vereinigung entstandene) Drama Schlußchor von der Idee einer Regeneration der »besagten« Sprache seinen Ausgang. Strauß wählt diesmal eine optische Metaphorik, das heißt: Er »justiert« die kollektive Sprache, die langue, im Bühnenraum als ein unsichtbares Auge, das der parole der Figuren den Blick einsetzt und ihr Sprechen in einen kollektiven symbolischen Grund zurückspiegelt. Im Stück ist dieses Sprachauge zunächst »blind« und damit strukturell unfähig, die einzelnen Äußerungen »sehend« zu vermitteln – die kommunikative Substanz der Sprache ist aufgezehrt und ihr Sinnbezug von obszöner Transparenz.81 Die Figuren, die Strauß in vier Stufenreihen als F1, M2, M3, F4 usw. Aufstellung nehmen lässt, tragen keine Namen, und so promiskuitiv wie ihre Sätze, so wahllos sind auch ihre Interaktionen in der mit »Sehen und Gesehenwerden« überschriebenen Eingangsszene: »Ungewiß, wer zu wem gehört, und wenn: für 80 | Dass Lottes sprachmystische Erfahrung privat bleibt, widerlegt nicht die sprachphilosophische Hoffnung des Stücks auf symbolische Transzendenz. Lottes Versuch, sich eine (nur ihr gehörende) »wahre« Privatsprache zu erfinden, ist ein subjektiver, selbst wiederum »moderner« Irrtum, der den objektiven Verhältnissen geschuldet ist – kein richtiges Sprechen in falschen Diskursen. Am Ende erscheint Lotte als traurige Karikatur einer letzten Gerechten, als Engel der Verkündigung, der zwischen Himmel und Erde vermittelt. Den Verrückten erscheint sie naturgemäß als »geistig verändert« (TS I, 495). 81 | Zum ›ursprünglichen Blick‹ (NA, 38) und zum kommunitären »Sehen«, bei dem der Einzelne beim Anblick des Anderen in den gemeinsamen Grund zurückgestellt wird, vgl. Jürgen Daiber, Poetisierte Naturwissenschaft. Zur Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien im Werk von Botho Strauß, Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 80ff. und S. 166f.

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wie lange? Manchmal nur die Spitze einer Verständigung, so wie ein Mensch im Schlaf auflacht«, lautet die Regieanweisung (TS II, 413). Ein Gesangverein, so geht die Szene, ist für ein harmonisches Gruppenfoto zusammengekommen, doch die Mitglieder haben sich nichts mehr zu sagen, ihre Gemeinsamkeiten sind aufgebraucht. Anzügliche Phrasen (»nur Delphine treiben es beliebig«; TS II, 414)82 geistern durch den Raum, und »Sex« bildet auch hier die letzte Generalreferenz der Sprache, ihr semantisches Passepartout.83 Kurzum, wo früher ein bedeutungsvolles »Auge« oder, vom Ende des Stücks her gelesen: wo früher der nationale Fokus der deutschen Kultur den »Blick« der einzelnen Sprechakte zentrierte, hält nun ein frivoles »Geheimnis« die isolierten Sätze isolierter Figuren (»In-di-vi-du-al-i-tät«, TS II, 421) anschlussfähig. Weil die symbolische Synthesis zerfallen ist und sich der Gesangverein ohne Repräsentation seiner selbst nicht mehr als ein »Wir« zu erkennen vermag, scheitert auch der bestellte Fotograf daran, den Chor der Namenlosen mit den »Augen« seiner drei (!) Motorkameras ins Bild zu setzen. Die maschinisierte Fotografie erweist sich als das falsche symbolische Medium; die drei technischen »Augen« sind ungeeignet, die atomisierte Gruppe als ganze zu erfassen und zu repräsentieren. Der arme Fotograf wird verschlungen, und in Anspielung auf die Schlussszene bleiben von ihm »nur noch ein Bündel Kleider und die Schuhe auf dem Boden« liegen (TS II, 423). Wie durch ein Wunder entsteht am Ende der ersten Szene doch noch das erhoffte Jubliäumsgruppenfoto. Einer zufällig vorbeikommenden, seltsam allwissenden (ostdeutschen?) Frau gelingt es, die Chormitglieder mittels »Anrufung« zur Gemeinschaft der Sänger zu versammeln und den Namenlosen ihre Namen zurückzugeben (»Wie geht es dir, Johannes?« – TS II, 424). Im Sprechen der Fremden sieht sich der (erkennbar bundesrepublikanisch geprägte) Chor zum ersten Mal als ein »Gesehener« – die eben noch heillos zerstrittene Gruppe wird als Gemeinschaft neu gegründet und zugleich als Ensemble von Individuen sinnvoll vereinzelt. Ein Summen ertönt, und der Chor vernimmt – wie Lotte in der Wüste – den lebendigen Laut vor dem Wort. »›Wenn Sie so freundlich sein wollen, Ihre Unterhaltung einzustellen, solange ich Sie fotografiere.‹ – Der Chor fängt leise an zu summen. Es wird dunkel.« (TS II, 425) 82 | »Dich besuch ich später in der Umkleidekabine« […] F7 reißt ihren Pullover über dem nackten Oberkörper hoch. »Wird dieser Film seinen sicheren Weg gehen? […] Wird er die ganze Wahrheit festhalten? Werden wir uns je auf Bildern wiedersehen?« […] – »Man wird sich daran gewöhnen müssen: Der Teufel steckt mitten im Miteinander.« (TS II, 413-419) 83 | Die Chormitglieder sind, wie es in der dritten Szene heißt, einsame »Hochseesegler«, die »mutterwindallein« auf den Meeren der modernen Einsamkeit kreuzen (TS II, 447). Weniger freundlich: »Sie stehen in Freiheit rum und schlabbern mit dem Mund.« (TS II, 461)

II. Konsum von Sinn

Prismatisch spiegelt die Eröffnungsszene die Grundstimmung des Stücks, das Verlangen nach einer symbolischen Ordnung, die die isolierten Einzelnen des neutralen »Man« zum kollektiven »Wir« der (deutschen) Gemeinschaft versammelt. Doch anders als in Groß und klein haften die Erlösungsfantasien des Stücks nicht mehr am »Weltbuch« der biblischen Überlieferung, sondern am Urtext der deutschen Kultur; nicht am universalen »Gott«, sondern an der partikularen, von einer sakralen Aura umwehten »Nation«.84 Oder um in der Metaphorik der Eingangsszene zu bleiben: Es ist die Tradition des geheimen Deutschland, die das blinde »Sprach-Auge« wieder sehend machen soll, damit sich die unglücklich verwestlichte, von ihrer Schuldgeschichte traumatisierte Gesellschaft als das erkennt, was sie doch immer schon war: eine kulturell geeinte Gemeinschaft. Dafür allerdings, so sagt eine Figur, müssten die »Dämonen der Nachkriegszeit«, die Phantasmen von Schuld und Erinnerung, »aus dem Land« getrieben (TS II, 459) und die Hypotheken der Geschichte abgeschüttelt werden.85 Dieser Wunsch erfüllt sich nicht, und auch das Versprechen der Eingangsszene – die Transformation der »In-di-vi-du-en« in eine substanzielle Gemeinschaft – bleibt uneingelöst. Im düster raunenden Finale kippt die anfängliche Aufbruch- in eine nationalreligiöse Endzeitstimmung; der rettende Adler des geheimen Deutschland verendet am Boden, und zurück bleiben nur die Überreste seines blutig zerrauften Gefieders. Dass die nationale Wiedergeburt auf der Bühne ausbleibt, scheint allerdings nicht deren historische Dringlichkeit zu widerlegen, im Gegenteil – erst im Ausbleiben der Wahrheit, so ließe sich die Schlussszene deuten, zeigt sich die Unwahrheit einer (auch nach 1989) nicht enden wollenden Bundesrepublik, unter deren erdrückender Übermacht

84 | Anita träumt vom symbolischen Fürsten, der die verstreuten Sprechakte fokussiert und heilende Kräfte freisetzt. »Was wissen Sie vom Fürsten, als er noch Fürst gewesen ist? Was wissen Sie von Kräften, die einmal gut und heilsam waren, bevor sie am Körper der modernen Welt zu üblen Geschwüren aufquollen. Gehorsam, Glaube, Demut, Dienen. Könige berührten bloß mit ihrem Finger den Aussätzigen und heilten ihn.« (TS II, 460) 85 | Für diese Form von Entlastung konstruiert das Stück einen Unschuldsmythos, der seine Bilder aus der deutschen Romantik bezieht (vgl. TS II, 458). Demnach haben die modernen Hunde von Wissen und Aufklärung die unschuldige deutsche Seele vor sich her gehetzt, den gutmütigen und arglosen Lorenz. Er ist Jäger wider Willen; er handelt nicht, ihm geschieht, das heißt: Er ist ohne eigene Absichten in das Spiegel-Projekt der Moderne verstrickt. Liest man Lorenz als nationale Allegorie, dann verkörpert er das romantische Deutschland, das schuldlos-schuldig, also »tragisch«, in die Modene involviert wurde und schuldig werden musste.

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die Hoffnung auf das geheime Deutschland tragisch rechthabend untergehen muss.86 Auch das 1996 entstandene Schauspiel Ithaka handelt von der Heimkehr ins Eigene, doch im Gegensatz zu Groß und klein und der Eröffnungsszene von Schlußchor kreist das Stück nicht mehr um Symbolkritik, sondern um Systemkritik, nicht mehr um sprachliche Resurrektion, sondern um politische Restauration. Ithaka bezeichnet einen Bruch. Das Stück spricht nicht mehr vom biblischen »Text der Welt« (Lottes »Weltbuch«), es spricht vom vorchristlichen Mythos; es beschränkt sich nicht darauf, alternative Erzählungen in den modernen Diskurs einzuschleusen; es imaginiert vielmehr eine Alternative zur Moderne selbst. Ithaka sucht keinen neuen Anfang in der Moderne, sondern einen neuen Anfang vor der Moderne; es attackiert nicht nur die Semantik der Freiheit, es attackiert die Rechtmäßigkeit ihrer liberalen Verfassung.87 Es ist bezeichnend, wie viel polemisch funkelnden Witz Strauß auf die Ausgestaltung der Freier-Szenen verwendet, die, was ihre politische Stoßrichtung angeht, seiner liberalismuskritischen Essayistik, vor allem dem Anschwellenden Bocksgesang, erstaunlich nahekommen. Ins Visier gerät zunächst das Weltbild der übergriffigen Adligen, die die Insel geplündert und es dreist auf Penelope abgesehen haben. Strauß lässt die postheroischen Feiglinge als Karikatur des hedonistischen »Liberalen« auftreten, als permissive Maulhelden, die sich entschieden in einem Zeitalter nach der Entscheidung wähnen, in einer posttragischen Epoche ohne Ernstfall und Gewalt. Mit beißendem Spott und ausgesprochen komisch setzt Strauß die repressiv tolerante Konsens-Ideologie der 86 | Für Wolfgang Braungart verweist der Titel »Schlußchor« durchaus »auch auf die Härte und Kompromisslosigkeit des ›Schlußchors‹ in Stefan Georges ›Stern des Bundes‹«. Wolfgang Braungart, »›Theophane Herrlichkeit‹. Utopie, Utopiekritik und Ästhetik der Präsenz bei Botho Strauß«, in: Rolf Jucker (Hg.), Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur und Gesellschaft, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 295-311. – Dass die vom »Wunder« (TS II, 456) der »Weltgeschichte« (TS II, 459) ermöglichte Wiedervereinigung von den bundesrepublikanisch ›verdorbenen‹ Bürgern vermasselt wird und der Reichs»Adler«, diese »[k]astrierte[n] Chimäre« (TS II, 462), nicht aufsteigt, heißt nicht, dass das Verlangen nach nationaler Identität illegitim wäre, im Gegenteil – nun erscheint es erst recht als dringend geboten. – Eine dieser Lesart widersprechende Interpretation findet sich bei Bernhard Greiner, »›Beginnlosigkeit‹ – ›Schlußchor‹ – ›Gleichgewicht‹«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), H. 2, S. 245-265, hier S. 255f. 87 | Der hier vertretenen Lesart, Ithaka kreise um die unmögliche Möglichkeit der Wiederkehr des Tragischen, widerspricht Ioana Craciun entschieden. Dies., Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2000, S. 192. – Zu den Motivüberschneidungen mit dem Essay Anschwellender Bocksgesang vgl. Steffen Damm, Die Archäologie der Zeit, Opladen/Wiesbaden 1998, Kapitel V.

II. Konsum von Sinn

Freier als ›unmännliche‹ Tatenlosigkeit und deliberatives Geschwätz in Szene – wenn die effeminierten »Schmarotzer« nicht gerade endlos diskutieren, dann treffen sie ihre Entscheidungen im Multiple-Choice-Verfahren.88 Weil die hasenfüßigen Liberal-Pazifisten auch von Freund-Feind-Unterscheidungen nichts mehr wissen wollen, haben sie den Dienst an der Waffe erst einmal abgeschafft. »Zaghafte Jünglinge erhalten Trophäen, weil sie sich niemals an einer Waffe vergriffen.« (TS III, 107) Schließlich bringen die humanitaristisch verweichlichten Freier alles Leben zum Stillstand, und unter der bleiernen Geschichtslosigkeit, die sich über die Insel senkt, drohen die »Kräfte« des Volkes zu »verfaulen«. Selbst der Königspalast scheint von existenzieller Lähmung befallen und verwandelt sich in einen Augiasstall der Unterscheidungslosigkeit (TS III, 106). Posthistoire auf Ithaka: »Das Volk drängt, und sein Grollen ist deutlich vernehmbar. Doch eh es das feiste Geschmeiß außer Landes jagt, sind seine Kräfte schon selber verdorben, dahingerafft vom Keim der Genußsucht.« (TS III, 107) Folgt man der bellizistischen Grundstimmung des Stücks, dann kann die inselweite Dekadenz selbstverständlich nicht durch diskursive Sanftmut oder gutes Zureden, sondern nur durch eine dezidierte geschichtliche Tat überwunden werden – also durch die kompromisslose Beseitigung der Freier-Nihilisten durch Odysseus. Diese Tat genießt bei Strauß allerdings einen merkwürdigen ontologischen Kredit. Sie erscheint nicht nur als legitime Notwehr gegen illegitime Besatzer, nicht bloß als unumgängliche militärische »Maßnahme«; sie erscheint vielmehr als politische Apokatastasis, als ein Akt reinigender Gewalt, der den dekadenzliberalen Ausnahmezustand auf Ithaka beendet und die »heilige Ordnung« (TS III, 151) der Souveränität wiederherstellt. Odysseus befreit eben nicht nur seine Heimat von fremden Besatzern; der eingeborene Herrscher befreit durch die Abschlachtung der Freier zugleich das existenziell gefrorene, von liberalen Kulturimperialisten belagerte Dasein. Zynisch gesagt: Die moralfreie Ausübung politischer Macht regeneriert das leblose Leben, denn in dem Augenblick, wo Blut fließt, kehrt das Existenzielle zurück. Ithaka, so hieße dies, korreliert die Ausübung exekutiver »Macht« mit der Wiedergewinnung von authentischem »Leben«, das Stück verbindet politische Souveränität assoziativ mit existenzieller »Tiefe« – König Odysseus verdichtet das 88 | Mit köstlich-sardonischem Witz arrangiert Strauß den Entscheidungstest zwischen Medon und Euryades (TS III, 102f.). Interessant die direkte Parallele bei Carl Schmitt: »Wie der Liberalismus in jeder politischen Einzelheit diskutiert und transigiert, so möchte er auch die metaphysische Wahrheit in eine Diskussion auflösen. Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren.« Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin 1985, S. 80.

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unklare Selbstgefühl des Einzelnen und vitalisiert den müden »Körper« des Volkes. So spielt Ithaka nicht mehr nur mit der Idee einer semantischen Regeneration (wie Groß und klein); es imaginiert einen politischen Existenzialismus, der nicht bloß Diskurse ändert, sondern den Volkskörper machtpolitisch in Form bringt.89 Warum es dazu eines Deus ex Machina bedarf und warum Pallas-Athene vor der Bluttat erst einmal ein aufmunterndes Wort zum zaudernden Odysseus sprechen muss, ist nicht schwer zu erklären: Das Ausmaß von Neutralisierung und Existenzvergessenheit auf Ithaka ist so gewaltig, dass die Wiederherstellung politischer Souveränität durch Menschenhand allein nicht gelingt. Sogar der erstaunlich skrupulöse Odysseus vermittelt den Eindruck, er sei vom Pazifismus der Freier-Moderne mental angekränkelt, jedenfalls zeigt der Kriegsheld bemerkenswerte moralische Hemmungen und scheint anfangs vor der Anwendung exterministischer Grausamkeit zurückzuschrecken.90 Kurzum, weil das Gift der Moral offenbar die angemessen rücksichtslose Ausübung sou89 | Angesichts des Stellenwerts des Odysseus-Motivs für Deutschlands nationalhistorische Selbstfindung drängt sich noch eine andere Lesart auf: Odysseus befreit das von »westlichen« Okkupanten besetzte Deutschland vom Geist der angelsächsischen Sieger und errettet die unter Penelopes Zivilisations-Kummerspeck unversehrt gebliebene deutsche Seele. Die Freier verlieren den Kampf, weil sie in tragischer Ironie das »heilige« Vorpolitische – Tragik, Gewalt, Opfer – aus ihrem Weltbild verdrängt haben und so ihrer eigenen Gewaltverdrängung zum Opfer fallen. Sie waren in posttragischer Selbsttäuschung befangen und glaubten fälschlicherweise, in einer modernen Komödie zu leben – also nach dem existenziellen Ernstfall und nach der Unterscheidung von Freund und Feind. Deshalb werden sie von den verdrängten Mächten tragisch ereilt. 90 | Das Stück hält hier postdramatisch inne und zeigt, dass das angeblich ursprüngliche »Gesetz« eine moderne Imago ist; Athene ist entscheidungsunsicher und muss bei Zeus um Rat nachsuchen (»Zeus Kronion, wie denkst du dir das Ende?«; TS III, 149). Strauß, so argumentiert Hans Jürgen Scheuer, bleibe also strikt säkular und verzichte darauf, innerhalb der symbolischen Immanenz der Moderne eine ästhetische Vorstellung mythischer Erlösung zu fingieren. Die hier vertretene Gegenthese lautet: Strauß kündigt die Sehnsucht nach einem anderen, ursprünglichen Anfang nicht auf, sondern verhängt ein Bilderverbot über sie. – Hans Jürgen Scheuer, »›Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts‹«, S. 139. Vgl. auch Richard Faber, der Ithaka in einer konservativen altertumswissenschaftlichen Traditionslinie sieht: »Strauß’ Ithaka aber liegt immer noch – oder schon wieder – an der Meerenge zwischen Wilamowitz‹ Glaube der Hellenen und Heideggers Hölderlin-Interpretation, jedenfalls dort, wo einmal mit Hilfe eines opferlogisch gefärbten Antikenbildes der Mythos von der deutschen Volksnation fingiert wurde: Athen statt Jerusalem, mythische Zeit statt Zeit der Offenbarung.« Richard Faber, »Ästhetik des Schreckens – Schrecken der Patriotik«, in: Günter Meurer/ Henrique Ricardo Otten (Hg.), Der Aufstand gegen den Bürger, Würzburg 1999, S. 260.

II. Konsum von Sinn

veräner Macht hemmt, hat Athene, die Schutzgöttin des Volkes, allen Grund, gleich doppelt tätig werden: Sie muss Odysseus Mut zusprechen und ihn zur blutigen Tat anspornen – und dann muss sie die rückwirkende Moralisierung der Massenhinrichtung unterbinden. Denn damit nach dem Massaker an den Freiern das Fundament fürstlicher Macht nicht durch anklagende Erinnerung untergraben wird, muss die Bluttat entkriminalisiert und vergessen werden. »Wir aber verfügen, was recht ist: aus dem Gedächtnis des Volks wird Mord und Verbrechen des Königs getilgt. Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher. Daraus erwachsen Wohlstand und Fülle des Friedens den Menschen.« (TS III, 151) Zweifellos trifft der von Christoph Menke vorgetragene Einwand zu, der reaktionäre politische Gehalt des Stückes, die gewaltsame Restauration von Souveränität und Tragik, werde von Strauß dekonstruktiv unterlaufen und ästhetisch eingeklammert. Zu Recht weist Menke auf die heitere Selbstreflexion des Stücks hin, auf seine märchenhaft verspielten Bezüge, überhaupt auf die Anachronismen und Ironiesignale (zum Beispiel »Die drei fragmentarischen Frauen«). Selbst Göttin Athene erscheint ihm als eine hochgradig reflektierte und selbstkritische, kurz: als eine von der ästhetischen Moderne geprägte, überaus komplexe Figur. Für Menke ist Ithaka keine Tragödie, sondern eine Komödie; unterm täuschenden Faltenwurf des Tragischen zeige das Stück die Unmöglichkeit der Tragödie und die Unmöglichkeit ihrer modernen Wiederkehr. Deshalb, so Menke in einer bestechend schlüssigen Deutung, falle das Stück (übrigens zur Enttäuschung von Karl Heinz Bohrer)91 auch weit weniger blutig aus als bei einer Tragödie zu erwarten gewesen wäre. »Komisch ist ein Stück nicht dadurch, wie es ausgeht oder wirkt, sondern daß es sich in sich selbst als Theater, als Spiel und Vorführung darstellt.«92 Menkes Befund ist auf der Beschreibungsebene schwer zu widersprechen, denn in der Tat steckt das »Schauspiel« voller komischer Anspielungen und bringt mit viel Witz das heroische Phantasma auf Distanz. Ithaka ist fürwahr kein archaisches Eiland, sondern ein imaginäres Archipel im Meer der durchgesetzten Moderne. Und doch lässt sich das Komödienhafte des Stücks auch anders deuten als Menke dies vorschlägt, nämlich nicht als Dementi des Tragischen, sondern als Maske der in der Moderne unspielbar gewordenen Tragödie. Strauß, so hieße dies, teilt zwar Adornos Einschätzung, in der Gegenwart sei die tragische Gebärde unglaubwürdig geworden;93 was er allerdings nicht 91 | Karl Heinz Bohrer, »Das Homerische Phantasma Grausamkeit. Aus Anlaß von Botho Strauß’ Ithaka«, in: Merkur, Heft 573 (1996), S. 103-113. 92 | Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie, Frankfurt a.M. 2005, S. 224. 93 | »In der zeitgenössischen Kunst zeichnet ein Absterben der Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik, beinahe von Leben und Tod sich ab. […] Daß sich die Gattungen verfransen, daß die tragische Gebärde komisch dünkt und die Komik

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teilt, ist die Behauptung, dass damit das ontologisch Tragische vollständig seinen ästhetischen Ort verliert und verschwindet. Für Strauß, so lautet also die Gegenthese, behält der Sinn von tragischer Negativität weiterhin seine Gültigkeit, denn als Teil des »Heiligen« ist Tragik (mit einer Wendung aus dem Borchardt-Aufsatz) »unverlierbar wie Energie im Weltraum« (AW, 14). Anders gesagt: In der Moderne hat sich die Tragik lediglich verpuppt und in das Asyl der Komödie geflüchtet, in die einzige von der Stildominanz des anti-tragischen Ironismus überhaupt noch geduldete Form. Die Komödie bewacht den Traum der unmöglich gewordenen Tragödie, sie verkörpert für Strauß das trojanische Pferd, das in täuschend ironischer Gestalt den Wunsch nach Apokatastasis hinter die Mauern schmuggelt, das Verlangen nach einem neuen, hinter die monotheistische Achsenzeit zurückführenden mythischen Anfang. Wenn das zutrifft, wenn Ironie und Komik den mythischen Traum nicht distanzieren, sondern ihn bloß maskieren, dann zerschellt die metapolitische Botschaft des Stücks – also die Spekulation auf die Wiederkehr der Tragik – eben nicht, wie Christoph Menke aufatmend feststellt, an seiner dekonstruktiven ästhetischen Form, sondern geht unangefochten aus ihr hervor: Die Ironie, das negative Selbstverhältnis par excellence, unterläuft ihr eigenes Prinzip; sie dekonstruiert sich selbst und beseitigt den moralischen Vorbehalt gegen eine Wiederkehr der Tragik. Die ästhetische Form widerruft nicht den Gehalt des Stücks, sie ist mit ihm solidarisch. Semantische Regeneration oder politische Restauration? In den nächsten Kapiteln stellt sich die Frage, welchen Weg Strauß in seinen frühen Erzählungen einschlägt und welches Epochenbild sein Roman Der Junge Mann entwirft. Sind die Prosawerke spiegelbildlich zu den ersten Theaterstücken zu lesen, das heißt: Geht es ihnen um die Revitalisierung der erschöpften Sprache unter »spätkapitalistischen Verhältnissen«? Oder werden sie eine ähnliche Wendung nehmen wie das Theaterstück Ithaka und die Frage nach der Legitimität der Moderne »im Ganzen« ins Spiel bringen?

trübselig, hängt damit zusammen. Tragik verwest, weil sie Anspruch auf den positiven Sinn von Negativität erhebt.« Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Band IV, Frankfurt a.M. 1974, S. 156f.

Zweiter Teil Die deutsche Misere. Erzählung und Roman

I. »Marlenes Schwester« Von der Heldin der ebenso kurzen wie komplizierten Erzählung Marlenes Schwester erfährt der Leser so gut wie nichts. Die Namenlose hat keine Freunde und keine Heimat, und von ihrer Vergangenheit weiß man nur, dass sie als Kind in einer deutsch-amerikanischen Familie aufwuchs und später adoptiert wurde. »Marlenes Schwester«, wie sie der Erzähler nennt, wird von schweren psychotischen Schüben heimgesucht, zudem leidet sie an einer lebensgefährlichen Autoimmunstörung, die ihren Körper schutzlos macht. In ihren Fieberträumen spricht sie mit fremder Zunge, und ihre Sätze klingen wie »Kauderwelsch«: »›Was heißt das? Was ist das für ein Ausdruck?‹ Dann glaubte sie, eine fremde Stimme zu hören – es ist ihre eigene: ›Ich?‹ – sie fuhr zusammen und erwachte … Ich bin Marlenes Schwester.« (MS, 16) Strauß’ Figur, so viel wird rasch klar, ist kein identitäres grammatisches Subjekt, sondern ein linguistisches Symptom. Nicht »Marlenes Schwester« spricht die Sprache, sondern eine sinnlose Sprache spricht sie: »Ich habe den Höhenweg gefunden, auf dem meine Spur sich verliert. Nicht weit unter dem Gipfel, das wilde unsinnige Gedankengestöber seit den frühen Morgenstunden. Das ist jetzt meine Sprache.« (MS, 21) Früher war sie Deutschlehrerin von Beruf, jetzt lebt sie wie eine Ausgemusterte in einer Landkommune. »Sie bekam zu essen, wenn sie es wünschte.« (MS, 10) Gleich im ersten Satz verrät Strauß, seine Protagonistin sehne sich nach einem übergreifenden Zusammenhang, nach einem »gütigen«, in seinen natürlichen Vollzügen aufgehenden Leben. »Das gütige Leben, dachte sie, das gütige Leben. Sie versuchte es noch einmal.« (MS, 9) Doch der Hunger nach dem Realen bleibt ungestillt, das Leben lebt nicht, es kommt ihr nicht als »Gewißheit« entgegen, sondern verkümmert zum trostlosen Ungefähr ohne »tiefere Erfahrung«. »Es fehlen dir noch zwei, drei Erfahrungen, es fehlen noch zwei, drei Gewißheiten, es reicht noch nicht ganz, schade …« Was die Heldin »Leben« nennt, ist in Wirklichkeit ein »standhaftes Warten gegen den Tod« (MS, 39). »Das also ist es gewesen? Wenig. Wenig. Wenig.« (MS, 14) Auf den ersten Blick beschreibt Strauß lediglich einen pathologischen Charakter. Er schildert die Psychose einer »Frau ohne Eigennamen«, deren Sprechen so »verwirrt« und so voller Phantasmen ist, dass sie glaubt, sie sei ein

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»Supplement« und ihr Leben nicht ihr eigenes. »Ich lebe für eine Abwesende« (MS, 22). Und doch handelt es sich bei der Heldin nicht um einen klinischen Fall, denn wie Helen in Der Park leidet »Marlenes Schwester« an einer unvollständigen Inkorporation ihrer Muttersprache. Keine ›Mutter Sprache‹, so klagt sie, habe sie das Staunen gelehrt, kein symbolisches Auge den Blick der Wörter geöffnet und ihn mit Bedeutsamkeit belehnt. »Ich habe wohl als Kind nicht richtig zu staunen gelernt, fuhr es ihr plötzlich, wie eines Rätsels Lösung, durch den Kopf.« (MS, 21) Die Heldin, und das bezeichnet die Wunde ihrer Kindheit, fühlt sich als symbolisch Heimatlose, denn in ihrer deutschamerikanischen Familie fehlte die mütterliche »An-Sprache«, die sie als Kind im eigenen Namen als Selbstliebe wiederholen konnte. Ohne den Immunschutz von »Mutter Sprache«, das heißt: ohne festen symbolischen Ort wird die Protagonistin wehrlos gegenüber den Einschreibungen der dezentrierten Sprache. In ihrer Fantasie verbünden sich die »bösen« deliranten Wörter (MS, 14) zur Invasion der Körperfresser; sie werden despotisch, durchqueren den Leib und müssen in schizoiden Schüben als sinnlose Wortmasse »erbrochen« werden. »Auch hatte sie einmal beim Reden das Gefühl, als kehre das unzerkaute Essen langsam in den Mund zurück, schöbe sich zwischen die Zähne. Sie hustete. Erbrechen, erbrechen, wie ein kleines Kind, ohne Qual, und mit staunenden Augen. Das Böse fließt aus. Den Tod wie ein Kind im Leibe nähren, großziehen, aber niemals herauslassen.« (MS, 12)1 Alles in der Erzählung, zuletzt auch deren Komposition selbst, folgt ästhetisch einer Logik der Inversion, dem »Aussaugen« von symbolischem Leben. Dabei wird die »Autoimmunstörung« der Zeichen – also die undarstellbare, 1 | In die »namenlose« Leere der Protagonistin ergießt sich ein »Stimmenmeer«, die Signifikantenmasse einer durch keine ›Mutter Sprache‹ strukturierten öffentlichen Rede. »Ja, bin ich denn ein Buch? Sie wachte auf und kämpfte mit dem Zweifel an ihrer leibhaftigen Gegenwart.« (MS, 28) – »Hitze, Verwunderung, Gestaltlosigkeit. Das Stimmenmeer im Kopf, die Summe der mich bevölkernden fremden Stimmen – das bin ich, obwohl ich mich nicht mehr darin erkenne. Ich, das Einzelwesen, vermehre mich, im Verlaufe meiner Auflösung, in grenzenloser Zellteilung. Ich werde eine Menschenansammlung, eine Gesellschaft, ich werde alle anderen.« (MS, 23f.) – Man beachte auch die Parallele zu Gilles Deleuzes Überlegung zur »Wucherung verbaler Entitäten« in Logik des Sinns, Frankfurt a.M. 1993, S. 49. Oder auch: »In diesem Zusammenbruch der Oberfläche verliert das Wort als ganzes seinen Sinn. Es wahrt möglicherweise eine bestimmte Macht der Bezeichnung, die aber doch als leer; eine bestimmte Macht zur Manifestation, die als indifferent; eine bestimmte Bedeutung, die als ›falsch‹ empfunden wird […]. Das Wort drückt nicht länger ein Attribut von Dingzuständen aus, seine Bruchstücke vermischen sich mit unerträglichen Stimmqualitäten, brechen in den Körper ein, in dem sie dann eine Mischung eingehen, einen neuen Dingzustand bilden, so als seien sie selbst giftige, laut dräuende Nahrung.« Ebd., S. 116f.

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gegen ihr Begreifen abgeschirmte Repräsentationskrise der Sprache – auf eine Weise total, dass ihre Ursache nicht mehr direkt benannt, sondern nur in einer imaginären Spiegelung umkreist werden kann. »Etwas in meinem Blick«, sagt Marlene einmal zu ihrer Schwester, »kannst du nicht lesen, dich aber liest es.« (MS, 21) Das »Etwas« ist aber nicht nichts; es ist das agrammatische Anonym einer Sprache, die sich die Heldin in ihrer Kindheit nicht hat anverwandeln können und die sich nun wie eine Verschwörung der Zeichen zum »Sinn alles Unverständlichen« zusammenzieht (»dich aber liest es«). Was Strauß dem Leser nahelegt, ist also dies: Weil die zweisprachig groß gewordene Heldin ›Mutter Sprache‹ nicht vollständig internalisieren konnte, verrätselt sich das Symbolische zu einem unlebendigen »Etwas«, das nicht mehr in einem authentifizierenden Sprechakt erwidert werden kann.2 Die Psychose bezeichnet also nicht eine Spaltung in der »Seele« des Subjekts, sondern eine Spaltung zwischen Sprache und Figur. Gut möglich, dass Strauß mit der Bemerkung, seine Heldin lebe tragisch für eine »Abwesende« (MS, 22), auf den Topos der »tragischen Schwester« anspielt. In dieser Lesart wäre die große Abwesende, die mysteriöse »Marlene«, die imaginäre Instanz der Erzählung, also jene entfremdete (und narrativ nicht repräsentationsfähige) Schwester »Sprache«, der die Heldin in sklavischer Abhängigkeit ihr Leben widmen muss. Wenn das zutrifft, dann wäre auch Marlenes Schwester – wie die Erzählung Die Widmung – eine stumme Erinnerung an das vorenthaltene »Deutsch«, sie wäre eine Widmung an das vermisste Symbolische, das nicht mehr vertraut »in Liebe« gesprochen, sondern nur als »Sinn alles Unverständlichen« erduldet werden kann. »›Marlene?‹ Sie sprach märchenhaft klar, aber ich verstand sie nicht. Je angestrengter ich ihr zuhörte, um so beunruhigender und doppelsinniger wurde alles, was sie sagte […] Ach, sagte ich schwach und bequem, es genügt ja, wenn du der Sinn alles Unverständlichen bist.« (MS, 21f.) Der Rest ist Angst. Wehrlos ergibt sich die Heldin dem »erfahrungslosen« Leben und fürchtet, sie werde im »grenzenlosen Serienwerk der historischen Wissenschaften verschwinden«, im Archiv einer Kontrollmoderne, »in dem die Kulturgeschichte der Wahrnehmungen und des Schmerzempfindens, der Lust und des Trostes […] aufgezeichnet stand« – sie kann »keinen Gedanken mehr fassen, keine Beobachtung anstellen, die nicht sofort zu Notizen einer alles überwachenden Geschichtsschreibung wurden« (MS, 28). Auch das »weltweit[e]« Programm von Fortschritt, Gleichheit und Gerechtigkeit empfindet sie als biopolitische Disziplinierung, als Abtötung affektiver Subjektivität und Austreibung von Zorn und Leidenschaft. »Auf der Titelseite standen unklare Berichte über die weltweite Verbreitung des modernen Sozialdemokratismus 2 | Vgl. die nahezu wörtliche Parallele in Rumor: »Gesetz!, du wahrlich liest mich …« (RU, 214f.).

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und das nach ihm benannte allgemeine Lebensgefühl. Ein letzter Ausbruch von heiligem Zorn wurde gemeldet, ein letzter Straßenkampf in Kalabrien, ein letzter Eifersuchtswahn …« (MS, 37) Wie ein Vampir saugt die massenmedial durchgesetzte Moderne das symbolische »Leben« aus; sie beseitigt die »kulturgeschichtlichen« Bilder von »Schmerzempfinden« und »Lust«, und am Ende verschwindet das romantische deutsche Subjekt wie ein Gesicht im Sand, es bleibt zurück als anämischer Rest, als altmodische Erinnerung an eine abgelaufene Epoche von Liebe und Hingabe, Intensität und Leidenschaft. Die Heldin empfindet »Niedergeschlagenheit« und muss sich fragen lassen, ob sie glaube, dass ihre Gefühle einem »überwundenen Kapitel der Gesellschaftsgeschichte angehören könnten« (MS, 27). Ihre prismatische Verdichtung erfährt diese Modernitätsparanoia in einer, wen wundert es: Vampirgeschichte, die spiegelsymmetrisch zur Hauptgeschichte angelegt ist. Es handelt sich, wie Strauß vermerkt, um eine ausgedachte, in Frankreich spielende Episode, die aber bruchlos und figurenidentisch in der erzählten Geschichte aufgeht. Berichtet wird vom grundharmonischen, eben: sozialdemokratischen Leben einer Kommune, in der aller Widerstreit geschlichtet und alles »aufsässige« Begehren beseitigt ist. Alle fünf Mitglieder leben jenseits von Schuld, Sorge und Streit in perfekt balancierter Gefühlsökonomie auskömmlich am Tisch des Herrn. »Wie im Schlaf, wie in einer zweiten Natur entschwanden ihnen die aufsässigen Gefühle und Bedürfnisse, die das soziale und körperliche Leben des vereinzelten Bürgers üblicherweise beherrschen, vor allem das Wollustgefühl und das Ungleichheitsgefühl lösten sich in nichts auf.« Im rousseauistischen Idyll ist viel Zeit für Debatte und »Kultur«; die traute Runde inszeniert gemeinsam ein Theaterstück und plaudert entspannt über »einige Filme von Jean Renoir« (MS, 32). Erst als Bertrand »stirbt«, erfährt der Leser, dass sich das sorgenfreie Leben einem Betrug verdankt und dass nicht kommunikativer Geist, sondern kapitalistisches Geld die Gemeinde zusammenhält. Kennengelernt hatte sich die Kommune nämlich als »wildfremde Spaziergänger«, die zufällig Zeugen eines Flugzeugabsturzes geworden waren. Bertrand, die Vaterfigur der Gruppe, nutzte die Gelegenheit und kassierte als scheintoter Passagier seine Lebensversicherung, um dann wie Christus von den Toten aufzuerstehen. Das »verwunschene Reich ihrer Freundschaft […] stammte aus einem Versicherungsschwindel« (MS, 32). Das symbolische Band der »Kultur« existiert also nicht, es ist ein Bluff, und einzig und allein die Assekuranz, der Pakt des versicherten Lebens, integriert die postrevolutionäre Commune. »Das Versicherungswesen ist das Stützkorsett des Kapitalismus. Wenn das erst zerrissen ist, dann fällt das übrige fast von selbst zusammen.« (MS, 36) Die religiösen Anspielungen sind hier kein Zufall. Durch seine »Auferstehung« bringt sich Bertrand immer wieder selbst in Umlauf, das heißt, er »münzt« die christliche Verheißung in materielle Wohlfahrt um und konver-

I. »Marlenes Schwester«

tiert die religiöse Urszene – Tod und Auferstehung – in »heiliges« Geld. »Mein Tod, sagte er leise und verbesserte sich sogleich, mein Scheintod war nichts anderes als ein erneuter schwerer Versicherungsbetrug.« (MS, 33) Dass Bertrand seinen eigenen Tod überlebt und den auferstandenen Christus travestiert, macht aus dem kulturell veredelten Kapitalismus eine säkulare Religion, die existenzielle Schuld in bezahlbare Schulden verwandelt und die Gegenwart in ein Paradies, in dem das Geld vom Himmel fällt. Damit stehen Kapital und Leben in einem »pars-pro-toto-Verhältnis zueinander«, das »Kapital der Lebensversicherung hat genau den Platz inne, den einst eine unsterbliche, mit Sakramenten versicherte Seele besetzt hielt«.3 Zuletzt »tötet« – um noch einmal Jochen Hörisch zu zitieren – Geld den Tod, denn Geld ist »eine Macht, die vermögender, potenter und liquider ist als der Tod«.4 Die Umbuchung von »Gott« in »Geld« erklärt auch die manifeste Geschichtslosigkeit der Szene. Die schlechte Unendlichkeit der ökonomischen Zeit ersetzt das religiöse Narrativ der heilsgeschichtlich befristeten Zeit; sie ist Gegenwart ohne Vergängnis und Zukunft ohne Ende. In der Wiederholung des Identischen steht die Handlungsgeschichte still und erschöpft sich in ewiger Transaktion, im metaphernlosen Kreislauf des abstrakten Kapitals. Der alten Sprache zur Erschließung des Realen bedarf es nun nicht mehr, sie ist suspendiert, und allein das stumme Leiden der Heldin verschafft dem Protest gegen den Vampirismus der kapitalistischen »Religion« einen letzten symbolischen Ausdruck.

3 | Jochen Hörisch: »Time is Money. Die Zeit des Geldes – Das Geld der Zeit«, in: Christoph Tolen u.a. (Hg.), Zeit-Reise, Frankfurt a.M. 1993, S. 19. 4 | Ebd., S. 25.

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II. »Theorie der Drohung« Das Prosastück Theorie der Drohung beginnt mit dem, womit die Erzählung Die Widmung enden wird: mit der sprachlosen Trauer eines Schriftstellers, der die Trennung von seiner Geliebten nicht verwinden kann. Vergeblich versucht er an einem Wintertag, sich ans Werk zu machen und einzelne Worte zu grammatisch sinnvollen Sätzen zusammenzufügen. Doch in die Schrift kommt kein Leben mehr, die Buchstaben gehen in keinem Verweisungszusammenhang mehr auf, und ihre rhetorischen Effekte sind nicht zu kontrollieren. Was dem »erschöpften Autor« einmal als natürlicher Horizont von Sinn und Bedeutung verbürgt schien, löst sich auf in ein kaltes »stumpfes Nichts« und das weltlose »Gestöber« weißer Metaphern.1 »Aufgewacht aus tiefem Lesen, vom unruhigen Rhythmus der Zeilen zum Reden gebracht […], so wendet sich nun das wieder aufgenommene Selbstgespräch dem ersten Kalendertag des Winters zu. Es beginnt mit dem dichten Verblassen meiner täglichen Landschaft, nach einem schweren Schneefall […]. Mein einziger Ausgehweg, mein unentbehrlicher Waldhorizont, ohne den ich nicht weiß, wo ich hier bin, alles spurlos verschwunden, und stattdessen aufgeschüttet ein offenes weißes stumpfes Nichts, als sei eines meiner immerleeren Blätter vom Schreibtisch aufgeflattert und habe sich, zu meinem Spott, grenzenlos über die Gegend gedehnt. Das eigene Ungeschriebene und die unüberblickbare Gesichtslosigkeit der Natur bildeten sich unzertrennlich ineinander ab und erhoben sich zur übermenschlichen Aufgabe des erschöpften Autors.« (TdD, 45) 2 1 | Zur Allegorie als master trope postmoderner Ästhetik vgl. Heinz-Joachim Drügh, Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Semantik des Allegorischen, Freiburg 2000. 2 | Die Schnee- und Todesmetaphorik der Eingangsszene scheint den Derrida’schen Schlüssel zur Erzählung zu bergen. Das Weiß der différance konstituiert den Raum zwischen den Wörtern, um die Wahrheit stets aufs Neue zu entziehen. »Das leere Weiße ist demnach die Trope jenes Nichts, das zwischen den einzelnen Zeichenvorkommnissen gähnt und auch ein Wort wie ›Schnee‹ allererst konstituiert.« Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels, Frankfurt a.M. 2000, S. 99. – Eine poststrukturalistische Lesart entfaltet Sigrid Berka, »›Vorsicht Lebensgefahr‹ – Die Spätfolgen der Romantik bei Botho Strauß«, in: Erika Tunner (Hg.), Romantik – eine lebenskräftige Krankheit: Ihre

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Wie schon in Marlenes Schwester, so scheint auch in dieser Erzählung die Sprache allegorisch »verrückt« geworden zu sein. Nachdem die Worte ihr sinnsicherndes Zentrum verloren haben, den »unentbehrlichen Wald«-Horizont, spalten sie sich ab und zirkulieren ohne Berührung mit dem Leben des Autors im »Weiß« ihres leeren Selbstbezugs. Allein in seltenen Interferenzen, unter der »Schneedecke« der Wörter, zeigt sich, wie es später heißen wird, noch einmal das wirkliche Leben, der »Anblick einer längst verschollenen Furcht, einer Unbegreiflichkeit aus der Vorgeschichte des zivilisierten Denkens, einer wilden Empfindung, der mich erschütterte und blendete« (TdD, 103). Doch aus dem Einbruch des vorsprachlich »Realen« entsteht keine erzählbare Geschichte mehr. Als alle Versuche gescheitert sind, tote weiße Metaphern in lebendige Literatur zu verwandeln, beugt sich der Schriftsteller seinem Schicksal und erwartet seinen »zweiten Tod«, den Tod im Symbolischen. »Was jetzt noch laut ist, bist allein du selbst.« (TdD, 45) Erst eine Anrufung von außen (TdD, 47) beendet die Depression des Autors und löst seinen writer’s block. Ein befreundeter Psychiater (bezeichnenderweise »Dr. W. aus F.«) teilt dem Schriftsteller am Telefon mit, eine ihm unbekannte, offensichtlich schizophrene Frau rufe verlangend seinen Namen. »Ich weiß nicht, woher sie kommt, sagte Dr. W., ich weiß nicht, wie sie heißt. Ich habe sie nie zuvor bei dir gesehen, und doch behauptet sie, in den Jahren 1968 bis 1970 hättet ihr beide zusammengelebt. Das ist, außer deinem Namen, alles, was sie hervorbringt.« (TdD, 49) Lea heißt die angeblich Unbekannte, die dem Schriftsteller bald als Alter Ego erscheint, als »Schreckensgleichnis« auf seine »eigenen qualvollen Versuche«, sich »schreibend auszudrücken« (TdD, 54). Tatsächlich aber erweist sich Lea als rettender Engel3 – die Anrufung durch den Laut ihrer Stimme, das heißt: durch die nicht kodierte Spur des Lebens, bringt die ästhetische Produktivität des Autors wieder in Gang. literarischen Nachwirkungen in der Moderne, Amsterdam/Atlanta 1991, S, 187-208, hier S. 206. Vgl. ebenfalls Peter Bürger, »Das Verschwinden von Bedeutung. Versuch einer postmodernen Lektüre von Michel Tournier, Botho Strauß und Peter Handke«, in: Peter Kemper (Hg.), Postmoderne oder der Kampf um die Zukunft, Frankfurt a.M. 1988, S. 294-312. – Kritisch gegenüber der These, Strauß’ Theorie der Drohung konstruiere ein rein allegorisches Universum, ist Gabriele Betyna, Kritik, Reflexion und Ironie, Aachen 2001, S. 179. 3 | Der Name »löst« sich von der Person: »Der Name Lea ist der biblischen Erzählung entlehnt, in der Jakob nach sieben Jahren Dienst um Rahel deren ältere Schwester Lea ›als falsche Braut‹ untergeschoben wird.« Helga Kaußen, Kunst ist nicht für alle da, Aachen 1991, S. 111. – Die falsche Braut ersetzt dann die »verlorene« Muttersprache. Ausdrücklich erwähnt der Erzähler jedenfalls, Lea habe sich an die Stelle der »verlorenen Freundin [gesetzt], die keine Spur hinterlassen hatte oder eben doch vielzuviele Spuren, als daß sie sich zu einer einheitlichen Schrift hätten festigen können« (TdD, 70).

II. »Theorie der Drohung«

Im Licht diskursanalytischer Begriffe gibt die Erzählung wenig Rätsel auf. Strauß, und so ist seine Theorie der Drohung vielfach gelesen worden, inszeniert ein abgründiges Spiel zwischen Sprach-Laut und Wort-Leib und allegorisiert auf originelle Weise die poststrukturalistische Zeichentheorie.4 Demnach handelt die Erzählung von einem treuherzigen Wahrheitsfreund, der sich der Literatur opfert und auf der Suche nach wahrer Repräsentation und singulärem Ausdruck auf dem Feld der Zeichen symbolisch »verstirbt«. »Niemand wird von sich behaupten können, er nenne ein einmaliges, unverwechselbares Wort sein eigen« (TdD, 53). Erst die »verrückte« Lea, ihre reine »Stimme«, haucht den toten Buchstaben neues Leben ein und erneuert das Begehren des Autors nach Schrift. Für diese Deutung spricht in der Tat der Hinweis, auch Lea sei ein Opfer – sie sei pathologisiert und aus der Gesellschaft verstoßen worden, nachdem kein vernünftiger Mensch ihre Delirien länger ertragen mochte. Die Ausstoßung aus dem Kommunikationsmilieu der Normalen und Vernünftigen macht Lea zur Repräsentantin des »Dunklen«, zu einer Figur, die noch Kenntnis besitzt vom vorsprachlichen Leben, vom Realen und Existenziellen, von der Nachtseite der symbolischen Welt als dem energetischen Grund allen Schreibens.5 Um es abzukürzen: In einer poststrukturalistisch animierten Lesart führt die Theorie der Drohung einen Metadiskurs über Literatur und entfaltet selbstexplikativ in immer neuen Wendungen die Herkunft des Schreibens aus dem Opfer, die Einschreibung von signifizierendem Text in den asymbolischen Leib »unbegreiflicher« Wünsche.6 In diesem Sinn wäre die Theorie der Drohung eine zirkuläre Ästhetik und ein Musterfall angewandter Literaturtheorie, 4 | Vgl. Christa Bürger in »Die Aufhebung der Literatur in Allegorie. Anläßlich Botho Strauß’ Theorie der Drohung«, in: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 65 (1987), S. 140-143, hier S. 141. 5 | Schreiben bestünde demnach in dem prinzipiell (aussichtslosen) Versuch, anonymen Zeichen den singulären Ausdruck des Subjekts einzuschreiben, ohne sie nur zu »plagiieren«. »Plagiate, schrie ich, Plagiate, das sind ja lauter Plagiate. Lea! Ich habe nicht einen einzigen selbständigen Satz zuwegegebracht. Ich bin der unbeholfenste Schriftsteller aller Zeiten, ein ahnungsloser Abschreiber, ein Kopist!« (TdD, 85) 6 | Natürlich handelt es sich zunächst um einen Akt »imaginierter Weiblichkeit«. Kein männliches Schreiben ohne Opferhandlung; keine Literatur ohne das Parallelogramm von Tod und Weiblichkeit. Dramatisch zehrt die Schreib-Kunst des Strauß’schen Autors vom vergehenden Körper der Frau; ihr Leib ist Zentrum einer Erzählung, die sich ausdrücklich als Nieder-Schrift versteht, als Transformation einer Frauenimago in Schrift. Orpheus opfert sein Phantasma Lea-Eurydike auf dem Altar der Schrift; sein Werk entsteht durch die Überschreibung seines Begehrens bei gleichzeitiger Auslöschung der Geliebten. »Das Letzte, was ich von ihr sah, waren zwei Fingerspitzen, die einen Haufen toter Fliegen auf ein Butterbrot streuten.« (TdD, 104) Zur imaginierten Weiblichkeit sie-

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sie wäre Literatur über die Entstehung von Literatur und vollzöge deren Logik an sich selbst. Und es stimmt ja auch – wie in einem Spiegellabyrinth läuft die Erzählung in sich zurück und verrät dem Leser in einer poetologischen Metareflexion, wie sie gelesen und verstanden werden möchte: In seinen Notizen zur Wunschangst hatte der Autor den Anruf der »verrückten« Lea bereits vorweggenommen und prophetisch erklärt, Literatur sei Textproduktion aus der »Wunschangst« vor dem Opfer (TdD, 73).7 Sollte dies der Fall sein, sollten also die Notizen dem Leser den Generalschlüssel zum Verständnis der Erzählung in die Hand geben, dann wäre die Theorie der Drohung kaum anderes als ein von endlosen Supplementen und Einschnitten, von Abwesenheiten und Leerstellen durchbrochener Diskurs über die strukturelle Unmöglichkeit von Repräsentation, zudem ein Stück Literatur, das seine Wahrheit ironischerweise in dem Maße unterläuft, wie der Autor glaubt, sie darstellen zu können. »Ich schreibe über Lea und werde, Satz für Satz, unerbittlich verfolgt von der endgültigen Auflösung alles bisher von mir über Lea Geschriebenen. Es ist, als liefere diese Geschichte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit ihren eigenen Verflüchtigungen.« (TdD, 57) Und tatsächlich – am Ende aller Ersetzungen, nachdem der Autor Lea buchstäblich »niedergeschrieben« hat, nimmt er ihre Gestalt an und wird auf dem Flug zu »S.« als »Mrs.« gebucht (TdD, 108). Auf dem Altar der Schrift bringt sich der Autor seiner Figur zum Opfer, und dabei entsteht ein literarischer Text, der auf den ersten Blick nichts anderes ist als Text aus Text und damit die Substitution von Wahrheit. »Ein Text schreibt sich an die Stelle eines anderen Textes, aber er besteht nur aus Zitaten, so dass sein eigener Text leer bleibt, und wird später durch den Text über Lea ersetzt, der schließlich durch Leas Text ersetzt wird. Und diese Kette sich gegenseitig stellvertretender Texte, von denen keiner wirklich zur Entfaltung kommt, bildet dennoch einen Text, nämlich die Theorie der Drohung.« 8 Doch bevor die Theorie der Drohung als virtuose Durchführung einer von »romantische[n] Verwandlungsscherzen«9 erheiterten postmodernen Ästhetik verbucht wird, sollte man fragen, ob die poetologische Selbsterklärung der Erzählung, ob also die Notizen zur Wunschangst nicht selbst als Teil der Binnennarration gelesen und als Form subtiler Selbstironisierung dekonstruiert he Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. 7 | »Ich habe die Stelle herausgesucht, wo von ihr die Rede ist: ›Heute kurz vor dem Einschlafen höre ich eine Frauenstimme […] meinen Namen rufen. […] Und sie kommt in seiner Stadt an und sie ruft seinen Namen unter seinem Fenster.‹« (TdD, 48) 8 | Vgl. Sebastian Reus, Unglückliches Bewusstsein, Würzburg 2006, S. 85. 9 | Vgl. Sigrid Berka, »›Vorsicht Lebensgefahr‹ – Die Spätfolgen der Romantik bei Botho Strauß«, S. 188.

II. »Theorie der Drohung«

werden müssen. Die in den Notizen formulierte Literaturtheorie, die Absage an Wahrheit und Repräsentation, verlöre damit ihren Charakter als heimliche Leseanweisung und dürfte nicht länger als didaktischer Wink des Autors an den verstörten Leser verstanden werden. Die »Theorie« wäre also auch nur eine allegorische Textfigur, deren »Wahrheit« selbst noch einmal dem ästhetischen Spiel verfällt. Wenn das zutrifft, wenn die Notizen zur Wunschangst kein interpretatorischer Schlüssel, sondern Teil des allegorischen Spiels sind und Strauß die poststrukturalistische Absage an Repräsentation noch einmal dekonstruktiv auflöst, dann geben die plakativ in Szene gesetzten Theorieelemente keine Auskunft über die Malaise des Autors, sondern stehen lediglich für den Versuch, seine Schreibkrise theoretisch einzuholen und kognitiv therapiefähig zu machen. Zugespitzt gesagt: Die poststrukturalistische Theorie »doubelt« tröstend die eigene Misere. Zwar beschreibt sie die Phänomene zutreffend, das »Verrücktwerden« der Wörter ebenso wie den »Tod der Repräsentation«; doch gleichzeitig ist sie politisch blind und enthistorisiert die Ursachen für das Schisma von Wort und Wahrheit. Dieses Schisma entspringt nämlich nicht, wie die theoretische Selbstreflexion in den Notizen glauben macht, einem zeitlosen literarischen Gesetz oder gar der »Permanenz des Opfers«; für Strauß entspringt es einer spezifisch deutschen Lage – einer nationalen Deformation der Muttersprache, die so umfassend ist, dass sie noch das ästhetische Medium der Klage, die literarische Sprache, infiziert und deshalb undarstellbar bleiben muss. Für diese Deformation, für den unerzählbaren Mangel an »Mutter Sprache«, steht die Figur Lea. Wie ihre nächste Verwandte, wie die »verrückte« Heldin aus Marlenes Schwester, leidet auch sie an einem Sprachtrauma; sie tut sich schwer mit der Individuierung der langue zur parole und empfindet sich als unidentifizierbares Subjekt, als sozial Unsichtbare: »Vielleicht passiert es eines Tages, daß mir ein einfacher Gruß, ein Kopfnicken, ein Fremder, der Ja sagt zu meinem Gesicht, wirklich die Augen aufreißt, in sekundenschneller Utopie, umstürzend meine eintönigen Betrachtungen, so daß ich dann alles Vorübergehende in einer ungeahnten Bedeutungsweite, alles Vereinzelte in einem nie zuvor berührten Korpus von Zusammenhängen erblicke …« (TdD, 51) Auch Leas Selbstwertkrise ist matrilinearen Ursprungs; auch ihr fehlt die frühkindliche An-Sprache, und einmal träumt sie davon, wie ihre Mutter in einer nachholenden Signifizierung die offene Wunde schließt, wie sie als Herrin der Welt ihren »bewußtlosen Kopf […] auf ihren Schoß hebt und […] nun mit Ruhe und Sorgfalt den feinen Strich über die innehaltenden Lippen [zieht], auf die geduldig gesenkten Lider. Eine Ohnmächtige wird geschminkt.« (TdD, 51) Lea leidet also nicht, wie die poststrukturalistische Deutungsmechanik behaupten müsste, am zeitlosen Gesetz der Sprache, dem unhintergehbaren Aufschub von Wahrheit in die Endloskette der Zeichen; Lea leidet am Mangel sym-

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bolischer Mutterliebe, an einem massiven Defizit an Weltkohärenz und dem fehlenden »Korpus von Zusammenhängen«.10 Weil die Mutter dem Kind die Welt nicht erzählt und als eine bedeutsame erschlossen hat, scheitert sie daran, die chaotische Empirie dezentrierter Zeichen symbolisch zu ordnen – ohne die Initiation durch »Mutter« Sprache bleibt Lea eine wächserne weiße Fläche, in die sich erbarmungslos die harte Semiotik der Dinge einschreibt: »Auch mich, Lea, schminken die Dinge […] Und wenn ich wieder zu mir komme, so trage ich ihre Maske, ohne es zu wissen …« (TdD, 51f.) In Leas Psychose spiegelt sich aber nicht nur ein »privates«, es spiegelt sich ein gesellschaftliches Schisma der Sprache – die Figur »repräsentiert« die Krise einer Repräsentation, die auf dem defizienten Wortfeld der Erzählung nur als Verrücktheit zur Sprache kommen kann. Tatsächlich ist es Lea selbst, die den Leser darauf hinweist, ihr Leiden dürfe nicht als subjektive Pathologie, sondern müsse als objektiver Reflex einer allgemeinen Sprachkrise verstanden werden. An einer Schlüsselstelle vergleicht sie die bundesrepublikanische Sprachkonfusion mit einer »unerforschliche[n] Sinnesverwirrung« (TdD, 64) im »vorgoethesche[n] Weimar«; schon damals sei eine seltsame Sozialpathologie aufgetreten, in deren Folge sich die Mitglieder des Hofes bis in ihre »intimsten Verrichtungen« von allen und jedem beobachtet gefühlt hätten. »Teatrauma« (TdD, 64) nennt Lea diese »spätfeudale Zwangsneurose«, und ihre Ursache vermutet sie im Aufkommen einer »total und in sich grenzenlos gewordenen Öffentlichkeit« (TdD, 65), die die königliche Sinnhierarchie gesprengt und in ein spätbarockes Allegorienspektakel aufgelöst habe.11 In dem Maß, wie die repräsentative Ordnung des Feudalismus zerfiel, verließen die Wörter den ›Hof‹ der Wahrheit, repräsentierten nur noch sich selbst und spukten als Echo ihrer eigenen Leere durch die Weimarer Gesellschaft. Alles bedeutete nun alles, und im Spiegelkabinett leerer, durch keine Sinnhierarchie

10 | Das Symbolische »hüllt« den Protagonisten ein, noch ehe er selbst zum Sprechen kommt. »Die gründenden Worte, die das Subjekt einhüllen, sind all das, was es konstituiert hat, seine Eltern, seine Nächsten, die ganze Struktur der Gemeinschaft, und nicht nur konstituiert hat als Symbol, sondern konstituiert in seinem Sein.« Jacques Lacan, Seminar II, Olten 1980, S. 31. – Der Mangel an Sprache, müsste man ergänzen, weckt den Wunsch nach gestischer Kommunikation. Leas »überspezifische Gebärden« verweisen auf den Traum von einer »Identität«, wie sie die »gesprochene Sprache unmöglich gewähren kann« (TdD, 53). Gestisch imaginiert Lea die »Einmaligkeit« ihrer Person als Einheit von Körper und Sprache. 11 | Nicht zufällig steht das »Teatrauma« in assoziativer begrifflicher Nähe zur Kritik der Theatrokratie als Selbstermächtigung der »Massen« gegen die Wahrheit der Künste. Vgl. Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 111ff.

II. »Theorie der Drohung«

zentrierter Signifikanten wurden die Mitglieder des Hofes durch Dauerbeobachtung – verrückt.12 Die politische Provokation dieser Passage verbirgt sich darin, dass die »verrückte« Lea eine Strukturverwandtschaft behauptet zwischen dem Weimarer »Teatrauma« und der symbolischen Leere der Bundesrepublik. Auch sie leidet an einem nominalistischen Exzess; auch sie muss ohne grammatischen Souverän auskommen – ihr fehlt ein repräsentatives Zentrum, das die zentrifugalen Wortbedeutungen einer medialisierten Öffentlichkeit hierarchisiert. Und wie die Mitglieder an Goethes Hof, so fühlt sich Lea als Opfer einer epochalen semantischen Krise, jedenfalls projiziert sie in einer erstaunlich sinnautoritären Fantasie ihre Sehnsucht nach einem »Korpus von Zusammenhängen« zurück in die Weimarer Klassik, und dabei scheint sie genau zu wissen, wie der bundesrepublikanische »Spuk« zu kurieren ist: Wie Goethe am Ende des achtzehnten Jahrhunderts durch sein »Erscheinen« die Repräsentationskrise der Wörter auf einen Schlag beendet habe, so müsse auch in der Bundesrepublik ein neuer Herrensignifikant, eine neue symbolische Autorität die nationale Sprachkrise überwinden – also jene undarstellbare Flucht der Wortbedeutungen, die am Anfang der Erzählung die Schreibkrise des Schriftstellers ausgelöst hatte.13 »Übrigens ist es wahrscheinlich, fügte Lea hinzu, daß das Erscheinen Goethes in Weimar dem Spuk augenblicklich ein Ende bereitet hat.« (TdD, 67)

12 | Eine poststrukturalistische Deutung verkennt den Stellenwert, der dem Traum vom nationalen Signifikanten zukommt. Vgl. Endre Hárs, Singularität, S. 68. – Dagegen Helga Arend: »›… ich war aller meiner Rätsel Lösung‹«, in: Marek Cieszkowski/Monika Szczepaniak (Hg.), Texte im Wandel der Zeit, Frankfurt a.M. 2003, S. 163-178. 13 | Auch die US-Kultur scheint (einmal mehr) für den Sinnverlust mitverantwortlich zu sein. In einem Gespräch zwischen Lea und einem Amerikaner fällt eine kritische Anspielung auf die Westbindung, die – so kann man die Stelle verstehen – muttersprachlichen Sinn durch Zweckrationalität ersetzt. Vgl. TdD, 88.

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III. »Die Widmung« Auch die Erzählung Die Widmung – im selben Jahr wie Bernward Vespers Roman Die Reise erschienen (1977) – beginnt mit dem Auftritt eines seelisch verwundeten Helden und der Beschreibung seiner Lebenskrise.1 Der Berliner Buchhändler Richard Schroubek wurde von seiner Freundin verlassen und verbringt seine Tage damit, seinen »namenlosen« Schmerz niederzuschreiben und einem Tagebuch anzuvertrauen. Doch das strenge Exerzitium der Schrift macht alles nur noch schlimmer. Je länger und obsessiver er schreibt, desto fremder wird ihm die eigene Sprache, bis sein »Deutsch« schließlich in passivischen Wendungen und dunklen grammatischen Lethargien erstirbt. »Vermehrte Neigung zum Gerundiv, dem verpönten: ›die nicht zu ziehende Summe‹, ›das nicht zu öffnende Hemd‹, ›das nicht zu schreibende Werk‹ – tätiges Nichtwerden als Eigenschaft eines Dings.« (W, 79) Wie im Fall von Lea und Marlenes Schwester bringt auch Richards Unglück eine übersubjektive Krise ans Licht, eine babylonische Verwirrung im Raum der gesellschaftlichen Zeichen. Wieder einmal ist das ›Deutsch der Deutschen‹ referenziell unklar, und wieder fehlt in der Arena der Öffentlichkeit ein repräsentatives Zentrum. »Nun beginnt wieder, am frühen Morgen, um ihn herum das allgemeine Sprechen, das in Wahrheit ein vielfaches Durcheinandersprechen ist, worin sich das meiste wechselseitig bedeutungslos macht […], und der Chor eines nicht abreißenden Geredes steigt über den Köpfen auf und es hallt, wie in einer mächtigen Kuppel, auf deutsch über Deutschland.« (W, 6)2 Richard fühlt sich als symbolisch Fremder im eigenen Land, als Opfer eines kakophonischen »Geredes« in den Kathedralen der Öffentlichkeit. Wie »schwerer Schlamm« legt sich dieses »Gerede« auf seine Zunge, und in der Gluthitze des Berliner Sommers schreibt nun nicht mehr der Tagebuch1 | Verblüffend sind die Parallelen zu Wim Wenders Film Im Lauf der Zeit (1976), einer weder konservativ noch anti-amerikanisch gewendeten Phänomenologie des stillstehenden Lebens und der vater(lands)‑, bild- und schriftlosen Subjekte unter den Bedingungen einer – wörtlich – US-»Kolonialisierung«. 2 | Das »Gerede« der Öffentlichkeit ersetzt die gotische »Kuppel«, vulgo: die deutsche Metaphysik.

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autor Richard Schroubek am Text der Welt, sondern dieser Text schreibt ihn: »Was mein Leben ist, kommt hier als Erscheinung aus dem Jenseits an, die an meinen Tisch rückt und deren entmündigtes Medium ich geworden bin. Was in diesen Séancen geschrieben wird, könnte man gewissermaßen ein Biograf nennen: das Leben hat, nach der Niederwerfung des Subjekts, damit begonnen, seinen Rest selbst zu schreiben.« (W, 20) Die Übermacht sinnloser Wörter besiegelt das Schicksal des Helden, denn hatte Schroubek seine Freundin Hannah schon im Medium mündlicher Rede verfehlt, so verfehlt er sie im Medium der Schrift erst recht – das Tagebuch, das er ihr als Epitaph seiner Liebe übereignen will, bleibt ungelesen im Taxi liegen. Am Ende »stirbt« Schroubek in seiner Berliner Behausung beim »ZDFWunschkonzert« (W, 114), er stirbt einen endlosen symbolischen Tod im »gottgestohlenen Schimmer« des Fernsehers, dem Altar der säkularen Nachkriegsreligion. Auch Die Widmung drängt dem Interpreten eine dekonstruktivistische Lesart geradezu auf.3 Demnach entpuppt sich der Graphomane Richard Schroubek als ein naiver Essentialist, der mit der ganzen Unschuld einer still leidenden Seele glaubt, er könne seine besondere Liebe zu Hannah im sprachlich Allgemeinen unverfälscht zur Sprache bringen – um dann in einer Serie von Niederlagen zu lernen, dass sich ein namenloses Gefühl innerhalb konventionalisierter Zeichen niemals rein repräsentieren lässt. Die Prosa der öffentlichen Sprache durchkreuzt die Poesie des lyrischen Herzens und macht die Einzigartigkeit seiner aufrichtigen Liebe strukturell zur Lüge. Das wäre eine griffige Deutung, aber sie greift nicht, denn ihr entgeht die Initialkatastrophe von Richards Sprachwerdung, genauer: Ihr entgeht jene patrilineare Traumatisierung in der Subjektgenese, die das Leben des Helden weit über die Phase seiner Adoleszenz hinaus beschädigt und sein monomanisches Verhältnis zum Schreiben und zur Schrift erst begründet. Wie Lea und Marlenes Schwester, so blieb auch Richard in der entscheidenden Phase seiner sprachlichen Sozialisation die liebende »An-Sprache« durch die Eltern versagt; schutzlos war der kleine Junge den anti-deutschen Tiraden seines kriegstraumatisierten, von einem grenzenlosen Lebensekel erfüllten Vaters ausgeliefert: »Er kann sich nicht entsinnen, je wieder eine so wütende, eine so sehr gegen Gott aufgebrachte Angst gelitten zu haben, als wenn er unzeitig die 3 | Henk Harbers interessante Überlegung über die Paradoxalität des Werks läuft Gefahr, das eigentlich Paradoxe stillzustellen und sich an der Eindeutigkeit des Paradoxen zu beruhigen. Das gilt m.E. auch für Deutungen, die Die Widmung in die Eindeutigkeit eines zweideutigen Spiels auflösen. Henk Harbers, »Pssst! oder Das im Entwischten Erwischte: Über Paradoxe im Werk von Botho Strauß. Mit einer Interpretation der Widmung«, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 85 (1993), H. 1, S. 37-54.

III. »Die Widmung«

Tür zum Eßzimmer öffnete und den Vater heimlich bei seinem Mittagsschlaf beobachtete.« (W, 12) Der Junge erlebt seinen eigentümlich hamlethaften Vater als einen »geschlagenen«, von Todesängsten verfolgten und von Hass zerfressenen Menschenfeind – als einen versteinerten antifaschistischen Tyrannen, dem Hitlers Krieg das geliebte Deutsch »zerbombt« hat.4 »Noch lange nachdem der Hitlerstaat zerschlagen ist, erleichtert sich der Vater gern in Menschenverachtung, wenn er von dem oder jenem behaupten kann, er sei ein Nazi gewesen […]. Nur daß er nie ein Kämpfer war, immer bloß ein Hasser. Durch ihn hat er im Affekt erfahren, was politisch ist, lange bevor er mitreden kann. […] Nie wieder hat er einen Akt der Zwiesprache erlebt, in dem Worte, und eigentlich: Fremd-Worte, ihn so gründlich berühren und verletzen konnten. Es waren ja keine Meinungsverschiedenheiten, es war ein tolles Vernichtungsgeschrei. Er glaubt, daß auch er dabei auf den Tod gehaßt worden ist.« (W, 8)

Der Vater macht Richard das Leben zur Hölle. Er verlängert die Traditionszerstörung des Nationalsozialismus in die Sprachwerdung des Sohnes und zwingt ihn, das negative Gefühlserbe anzunehmen. Wie der »untote« Vater, so wird auch der verängstigte Sohn in der Welt nicht mehr heimisch; er bleibt ein in die Abwesenheit von »Mutter Sprache« hineinwachsender »Richard-ohne-Leben« (W, 61), auf immer dazu verurteilt, das Trauma fehlender elterlicher Anerkennung durch eine narzisstische »Haßliebe« zur Schrift zu kompensieren. Richard schreibt, statt zu leben; seine Bio-Graphie ersetzt ihm die Biografie oder, wie die Erzählung dem Leser nahebringt: Die »tote« Schrift supplementiert das Lebendige, die Richard vorenthaltene symbolische Einheit aus Sprache, Erfahrung und Körper. »Aber nicht das Geistige oder das Geisterhafte zieht ihn an, immer nur der konkrete, ruhige, todeserfahrene Körper. Aus demselben Milieu von Hinterlassenschaft, Verflüchtigung und leiblichem Rest entstehen Furcht und Begehren, die ihn schließlich an das Schriftliche binden, an das Buch und später den Buchverkauf, seinen erlernten und in Haßliebe ausgeübten Beruf.« (W, 13) Wie traumatisch sein Verhältnis zur Sprache ist, zeigt auch jener hochaufgeladene Moment, in dem Richard zum ersten Mal versucht, seinen Eigennamen zu Papier zu bringen. Für einen kurzen Augenblick scheint der Eintritt in die symbolische Welt der Erwachsenen zu glücken, doch dann nimmt die Erzählung Richards Subjektwerdung spektakulär zurück. Ein namenloses 4 | Dass Strauß’ Söhne und Töchter daran scheitern, ihre Väter libidinös zu besetzen, ist auch die These von Helga Kaußen, Kunst ist nicht für alle da, Aachen 1991. – Vgl. auch Jochen Vogt, »Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt … Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher«, in: Stephan Braese u.a. (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 385-399.

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Entsetzen packt den kleinen Jungen vor der Notation seines Namens – ganz so, als sei die intime Verbindung von Körper und Schrift ein Akt der Selbstauslöschung. Wie ein Stück tote Materie legen Richards Eltern das Papier mit dem niedergeschriebenen Eigennamen zu den anderen Archivalien seines jungen Lebens, und von Anfang an steht das Dasein des Helden damit im Zeichen eines signifikanten Mangels. »Das erste Wort, das er deutlich schreiben kann, ohne Lücken zwischen den Buchstaben, ist Richard, der eigene Name. Als es fertig ist, bringt er es den Eltern und sie legen es in die Mappe ein, in der schon sein erster Zahn, seine ersten Haare, seine ersten Fingernägel auf bewahrt werden. Sie legen seine Schrift zu den ausgeschiedenen und leblosen Dingen seines Körpers, die sie für ihn sammeln wollen.« (W, 12f.)5 »Was ist«, fragt er sich später, »aus dem Kind geworden, das vor dem ersten Wort, das es selber schrieb, die Flucht ergriff, von seinem Erstgeschriebenen mit Entsetzen abließ und sich nicht bereit fand, es fortzuführen?« (W, 93) Der Phantomschmerz wird chronisch, und mit jeder Lebenskrise bricht die Kindheitswunde wieder auf. »Jetzt, kurz nach dem Zusammenbruch der Lust, sind dieselben Schmerzen wieder da, die er schon als Kind empfand.« (W, 11) Doch ohne Sprache keine Erfahrung, und ohne Erfahrung kein »Leben«, weshalb sich Richard Schroubek auf kafkaeske Weise schuldig fühlt – schuldig gegenüber dem Nichtgelebten, dem biografisch Versäumten und schuldig gegenüber allem. »Aber du mußt mir doch sagen, was ich getan habe?« (W, 111) Für die Vermutung, in Richards Kindheitsfiasko spiegele sich die historische Verwundung der deutschen Sprache, spricht schon der Umstand, dass Strauß einen zentralen Topos der Onomantik ins Spiel bringt und ihn narrativ ausbuchstabiert. Demnach bezeichnet der Eigenname jenen Ort, an dem Herkunft und Zukunft zusammenfallen, das heißt: Mit dem Aufschreiben des eigenen Namens macht sich das Kind zum Autor seines Lebens und erobert einen »namhaften« Ort in der genealogischen Kette seiner Familie.6 Der He5 | Vgl. die frappierende Parallele bei Gilles Deleuze: »Es ist etwas sehr Merkwürdiges, etwas in seinem eigenen Namen zu sagen; denn es ist gerade nicht im Moment, wo man sich für ein Ich, eine Person oder ein Subjekt hält, daß man in seinem Namen spricht. Im Gegenteil, ein Individuum erwirbt erst wirklich einen Eigennamen, wenn es die strengste Depersonalisierungsübung hinter sich hat, wenn es sich den Vielheiten öffnet, die es von einem Ende zum anderen durchziehen, die es durchlaufen. Der Name als augenblickliches Ergreifen einer solchen intensiven Vielheit ist das Gegenteil der Depersonalisierung […] Man ist ein Ensemble freigesetzter Singularitäten geworden, ein Ensemble von Namen, Vornamen, Fingernägeln …« Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 16. 6 | Zum Beispiel im Sinne von Roland Barthes: »Der Eigenname funktioniert wie das Magnetfeld der Seme; indem er virtuell auf einen Körper verweist, zieht er die semische Konfiguration in eine evolutive (biographische) Zeit […]. Ich sagen, das ist sich unfehl-

III. »Die Widmung«

ranwachsende stellt sich der »Aufgabe des Namens«, er nimmt den »eigenen Namen als anderen« an und begreift seine Herkunftserzählung als ein »Aufgegebenes«. Wenn der Eigenname des Kindes seine designierte Identität »bezeichnet«, dann bestünde der »ideale Abschluß der Individualgeschichte« für den Nachgeborenen folgerichtig darin, im eigenen Namen die familiäre Tradition fortzuschreiben und produktiv zu erneuern.7 Vor diesem Hintergrund ist das Strauß’sche Verfahren, Eigennamen zu destabilisieren, eben nicht bloß ein dekonstruktivistischer Kniff; es ist die Behauptung, dass sich in der postfaschistischen Bundesrepublik Individualund Kollektivgeschichte nicht mehr »namhaft« vermitteln lassen. Der Nationalsozialismus hat das kulturelle Kontinuum zerstört und das symbolische Band zwischen den Generationen zerrissen. Auf dem Kriegsschauplatz von Richards Kindheit existiert keine gemeinsame Herkunftsgeschichte und kein positiver Traditionszusammenhang, den er im eigenen Namen fortschreiben und dem er sein Leben »widmen« könnte. »Stille Epoche, die keine Schicksale macht.« (W, 11) Dieser Riss in der Kette der (familiären und nationalen) Narration bildet das Zentrum der Krisenerzählung und die Ursache ihrer drastisch in Szene gesetzten Pathologien. Weil dem Mann ohne »Vergangenheitssinn« (W, 11) die Bedeutungsenergien der Muttersprache fehlen, empfindet er die Welt als resonanzlos und stumm, er ist hochgradig misstrauisch, ein »Wirrwarr« aus »Affekt und Kauderwelsch« blockiert seine erotische Identifikation und lässt die Bindung zu Hannah als seltsam abstrakt, unsinnlich und körperlos erscheinen (W, 8).8 Kurzum, Strauß präsentiert seinen Helden als typischen bar Signifikate zuschreiben; das ist auch sich mit einer biographischen Dauer versehen, sich imaginär einer intelligiblen ›Evolution‹ unterziehen, sich als Objekt eines Schicksals signifizieren, der Zeit einen Sinn geben.« Roland Barthes, S/Z, Frankfurt a.M. 1987, S. 71. 7 | Bernd Stiegler, Die Aufgabe des Namens, München 1994, S. 335. – Stiegler weist darauf hin, dass in der »klassischen« Lesart der Eigenname eine idealtypische Einheit aus Selbstidentität und Tradition bildet. Das sprachlich verfasste Gesetz der Eltern ›imprägniert‹ das Kind und konfrontiert es im doppelten Sinn mit der Aufgabe des Namens. Diese besteht darin, das Gesetz der Welt in sich sprechend zu wiederholen und im Licht des aufgegebenen Namens die Bedürfnisnatur zu semantisieren. Im Zeichen des Namens wird eine Person das, was sie in den Herkunftskontexten immer schon ist. Die Prädikate, und so argumentiert auch Strauß, liegen dem Subjekt voraus und müssen durch anverwandelnde Fortsetzung beglaubigt und tradiert werden. Ebd., S. 199f. 8 | Richard ist dazu verurteilt, sein Trauma an seiner Geliebten zu wiederholen. Das Unvermögen, sich mimetisch der geliebten Person zu öffnen, resultiert aus dem Mangel an frühkindlicher Sprach-Liebe durch die Eltern. Richards Liebesunglück ist unauflöslich mit seiner Sprachsozialisation verknüpft. Ohne Sprachliebe keine Selbstdezentrierung

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Fall, nämlich als jenen sprachheimatlosen Nachgeborenen, der in negativer Abhängigkeit an die faschistische Sprachzerstörung gebunden bleibt und sie generationsübergreifend fortsetzt als Unmöglichkeit, ein Leben zu führen in Arbeit, Liebe und Anerkennung.9 Dass diese Deutung mit der Figurenperspektive kaum zur Deckung zu bringen ist, muss kein Widerspruch sein, denn wie den anderen Strauß’schen Figuren fehlt auch Richard Schroubek ein analytisch angemessenes Verständnis seiner Lage. Zwar besitzt der »Mann ohne Kindheit« durchaus ein Krisenbewusstsein, er kennt sich aus mit Sprachphilosophie, und vor allem das extravagante Theorieangebot des Poststrukturalismus scheint es ihm angetan zu haben, jedenfalls benutzt er es dankbar als diagnostisches Hilfsmittel, um sich seine Skripturalneurose zu erklären, seine »Haßliebe« zum Schreiben und zur Schrift. Mal zitiert er freudig die Fabel vom Tod des Subjekts, mal das Passepartout vom »Aufschub« des Sinns in selbstbezügliche Schrift. »Schrift verlangt nach Schrift, soviel war ihm gewiß.« (W, 46) Doch auch hier sollte man die spekulative Selbstberuhigung des Helden nicht mit einer autorisierten Selbstanalyse der Erzählung verwechseln, denn Strauß ist gewitzt genug, Theoriepartikel zu literarisieren und als allegorische Elemente einzusetzen.10 Tatsächlich ist das ahistorische Design des Poststrukturalismus wie geschaffen dafür, dem Sprachverlassenen das eigene Unglück – die Unfähigkeit zu liebender Identifikation – »wegzuerklären« und seine Misere projektiv in das des Kindes – es bleibt narzisstisch fixiert und deshalb »lieblos«. Damit verfehlt Richard die Bedingungen, die Strauß in seinen Theaterstücken für das Gelingen intimer Kommunikation geltend macht: Die Charaktere müssen in der Lage sein, sich symbolisch eine gemeinsame Welt der Liebe zu eröffnen und den Anderen als eigenständiges Subjekt des Begehrens anzuerkennen. Sozialpsychologisch gesehen – und das gilt auch für Lea und Marlenes Schwester – scheitert in den zerstörten Sprachmilieus die frühkindliche Objektbindung: »Anstatt in die ›Liebe zu anderen Menschen‹ zu fließen, wird die libidinöse Energie auf das ›eigene Ich‹ gelenkt.« Axel Honneth, »Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform«, in: ders. (Hg.), Dialektik der Freiheit, Frankfurt a.M. 2005, S. 165-187. 9 | Wenn man die kulturnationalen Nebentöne einmal abblendet, dann wäre die Erzählung eine Widmung an das Verwehrte und damit Trauer über das, was in ihr keine Stelle hat; eine Widmung an eine unzerstörte und von keiner moralischen Hypothek belastete Einheit aus Individual- und Kollektivgeschichte: »Dreißig Jahre ausgewogene Gegenwart, in der er groß wurde und klein blieb, der dicke Geist über dem Kopf, der unsere Existenz nicht in Bewegung setzen konnte. Dem Gedächtnis der Dauer erscheint alles ebenbürtig präsent. Anstelle der Differenz […] vermehrt sich eine seltsam gedrängte, sammlerische, nervöse Synchronizität.« (W, 11f.) 10 | Auf die Allegorisierung der Theorie im Werk von Strauß macht Peter Bürger in seinem bereits erwähnten Aufsatz »Das Verschwinden von Bedeutung« aufmerksam.

III. »Die Widmung«

ungeschichtliche Gesetz einer ihn verzehrenden, nichts mehr repräsentierenden Schrift zu verschieben.11 Viel hilft es ohnehin nicht, denn letztendlich bleibt die therapeutische Wirkung des Theorie-Sedativs überschaubar; ein glückliches Leben im Aufschub existiert höchstens in der französischen Theorie, und so wird Richard – wie auch Lea in der Theorie der Drohung – unter der »mächtigen Kuppel« des medialen »Geredes« (W, 6) immer wieder vom »Verlangen« (W, 64) nach einer kollektiven »Grammatik aller Deutschsprechenden« (W, 81) überwältigt, vom Wunsch nach einer nationalen symbolischen Synthesis. Unter den historischen Prämissen der Erzählung muss dieses »Verlangen« notwendigerweise enttäuscht werden, und das endlose »Schreiben« bleibt das, was es ist: eine Ersatzhandlung, ein sich selbst unverständlich bleibender Ausdruck für die »auf begehrende Mitte all dessen«, was »verstopft, geteilt und eingeschnürt ist« (W, 22). Richard »stirbt« darum auch nicht an einem Liebesunglück; er stirbt einen zeichenhaften »Tod« im Jenseits des Symbolischen, nicht zufällig in der Mauerstadt Berlin, auf dem Trümmergrund der kriegszerstörten Kulturnation und vor dem Fernsehgerät als dem mythogenen Ersatzzentrum der Nachkriegsrepublik. Nachdem ihm der »Sinn der Dinge« unkenntlich wurde, ist alles Leben bloß ein Zitat (W, 65).12 An die Stelle einer mythischen Erzählung tritt nun das telematische Bild, und konsequent vereint sich das »Weiß« des Fernsehers, die reine Selbstidentität, also 11 | Tragisch verläuft Schroubeks diaristische Selbst-Erschaffung, weil er im Schreiben jene kindheitliche Symbolisierungskrise reproduziert, der er durch Schreiben entkommen will. Er schreibt um sein Leben – und verfehlt es. Die Bundesrepublik erscheint ihm als »[v]erkehrtes Pfingsten«, als Babylon (W, 77), dem Dasein fehlt ›Gegenwart‹, es kennt keinen emphatischen Augenblick. Anders gesagt: In dem Maß, wie sich Existenz aufschiebt in den »Lauf der Schrift« (W, 92), dient das Schreiben wider Willen der Aufrechterhaltung des Mangels. »Trauer, Widerlager der Schrift. Sie bewegt sich nicht. Irgendwann löst sie sich sanft in nichts auf, und von einem Tag zum anderen, plötzlich, stehe ich trauerlos da. Was dann? Fürchterliche Erlösung.« (W, 27) So läuft »[s]eine Schrift […] ihr auf der Asymptote nach.« (W, 62) Nicht nur als Supplement der verlorenen Geliebten, sondern als Nachschrift auf die unmöglichen, die väterlichen und mütterlichen Namen. 12 | »Doch kaum ist das Wort geäußert, da, merkst du, sinkt es auch schon wieder, unhaltbar schwer, zurück in die Geschichte. Es war wohl doch nur ein Zitat. Ein Paar Gänsefüßchen, das dich gekitzelt hat; das Wort selber hat dich nicht berührt. So ergeht es uns nicht anders als jenem abessinischen Eingeborenen, der einen wichtigen Mythos nicht mehr wußte und sich deshalb nicht erklären konnte, weshalb er zu verschiedenartigen Anlässen ein Stück Butter auf dem Kopf trug. ›Unsere Vorfahren kannten den Sinn der Dinge, aber wir haben ihn vergessen.‹ Wir kennen den Sinn der unzähligen Überbleibsel, in denen wir uns ausdrücken, noch sehr viel weniger. Das allermeiste ist uns Butter auf dem Kopf. Und kein Mythos, kein Romanwerk wird es uns je wieder erklären.« (W, 65)

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der Tod, mit dem medial entleerten Gedächtnis der öffentlich »durcheinandersprechenden« Sprache. Melancholisch wiederholen die letzten Seiten der Erzählung ihren Anfang, die Trauer über »Deutschland« als Land ohne Identität und ohne symbolische »Kuppel«. »Nachts, vom Sendeschluß bis zum ersten Frequenzton am Morgen, fiel der dichte schwarz-weiße Schnee, und er duldete sein eintöniges Rauschen, den toten blauen gottgestohlenen Schimmer, unter dem er schließlich Ruhe fand.« (W, 99)

IV. »Rumor« Die nationalsozialistischen Großverbrechen, so lautet die Klage in der Erzählung Die Widmung, haben die weltbildenden Energien im »Deutsch der Deutschen« korrumpiert und ein symbolisches Trauma hinterlassen, das die Bürger von ihrer kulturellen Herkunftserzählung abschneidet und voneinander isoliert. Mit dem Verlust der »vaterländischen« Überlieferung – die sich der Erzähler stets als Tradition im Singular vorzustellen scheint – entsteht ein Bedeutungsvakuum, in das ein heterogener Zeichenstrom einschießt, das »Stimmengewirr« einer ebenso unverständlichen wie alles durchdringenden »Öffentlichkeit«. Ihr »nicht abreißende[s] Gerede« zerstört die letzten Überreste des »Deutschen« und erzeugt eine neudeutsche Säkularreligion, die sich wie eine mediale »Kuppel« (W, 6) über den kulturellen Trümmergrund der Nation spannt. Der Roman Rumor nimmt die Doppeldiagnose von der faschistischen Korruption des »Deutschen« und dem Exzess des Medialen auf und erweitert sie um eine Polemik gegen den Informationskapitalismus, der wie ein Kolonialherr aus dem »Westen« einfällt und das symbolisch ruinierte deutsche Nachkriegsterritorium kulturell besetzt. Hauptschauplatz der ereignisarmen Romanhandlung ist ein hochmodernes »Institut für Nachricht«, das mit »Informationen, Trendberichten, Modellplanungen und dergleichen Handel« treibt (RU, 9). In diesem »magischen Gefängnis« (RU, 21) wiederholt sich der Antagonismus von Sieger und Besiegtem als asymmetrischer Kampf der Kulturen, wobei zwei Formen des Weltzugangs unversöhnlich aufeinanderstoßen: Auf der einen Seite, auf Seiten der »Sieger«, steht der Matters-of-fact-Pragmatismus des postfordistischen Kapitalismus mit seinen Effizienzkalkülen und dem Verkauf von »gebrauchsfertigem Wissen« (RU, 10); auf der anderen Seite steht der subtil verklärte, aber weitgehend unauffindbare Rest der seelenvoll verträumten, metapherngesättigten deutschen Sprachkultur. Bis in die Intimbeziehungen der Figuren durchzieht der Widerstreit von angelsächsischer Informationsökonomie und deutscher Romantik die Romanhandlung, doch wie nicht anders zu erwarten, behält die instrumentelle Logik der weltverfügenden »westlichen« Kodes die Oberhand über den welterschließenden »deutschen« Sinn. Die symbolische Besatzungsmacht »Amerika« trägt

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den Sieg davon. Die Wertschöpfungskette von New Media mit ihren Expertisen und »newsletter[s]« (RU, 10) reduziert Sprache auf eine Handelsware, und Nachricht und Information ersetzen den metaphorischen Reichtum von Bild und Narration. Die Zeichenökonomie des datenverarbeitenden Kapitalismus verwandelt aber nicht nur Sinn in Information und Information in Geld; sie kommodifiziert auch die unversehrten Restbestände der Deutschen, ihre Märchen und Mythen. Oder wie Rumor dem Leser nahelegt: Die angelsächsische Doppelherrschaft aus Kapital und Öffentlichkeit kreuzigt die niedergeworfene Nation und macht Deutschland zum kulturellen Opfer. »Der Betrübte schaut zum Fenster hinaus auf das Golgatha der Fernsehantennen drüben auf dem Dach der Landesbank«. (RU, 47) Aus der Figurenperspektive erweist sich die Umstellung von welterschließender »Bedeutung« auf erzählfreies »Wissen« und von »Metapher« auf »Information« als symbolische Katastrophe. In dem Maße nämlich, wie die ›indigene‹ Alltagssprache durch die Invasion des postfordistischen Kapitalismus ökonomisiert wird, findet das Ausdrucksverlangen keine Resonanz mehr; das Sprachbegehren prallt an der glatten klassifikatorischen Logik der industriellen Zeichensprache ab und verstummt.1 Weil das Sagenwollen nicht angemessen in die binären Kodierungen der Informationsökonomie (neu/alt; wichtig/ unwichtig) eingelesen werden kann, muss es abgespalten oder unterdrückt werden, und entsprechend »kalt«, taktil und mechanisch klingen die Figurenäußerungen. So gerät im Informationskapitalismus alles Sprechen zum operativen Geschäft. Interaktionen folgen einer ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹, und die Figuren, so sie überhaupt noch artikuliert reden, adressieren nicht mehr individualisierte Bedeutungen; sie tauschen Informationen und spekulieren mit Wortmünzen.2 1 | Die informationellen Kodes devitalisieren »das Leben«: »›Das ist doch‹, ruft Grit und deutet fast empört den Traum, ›das ist doch gerade so wie ein Kind, ein ungeborenes Leben, das nicht heraus kann.‹« (RU, 191) 2 | Verblüffend die Parallele zu Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung: »Je vollkommener […] die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr die Worte aus substanziellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchdringlicher werden sie zugleich. Die Entmythologisierung der Sprache schlägt, als Element des gesamten Aufklärungsprozesses, in Magie zurück. Unterschieden voneinander und ablösbar waren Wort und Gehalt einander gesellt. Begriffe wie Wehmut, Geschichte, ja: das Leben, wurden im Wort erkannt, das sie heraushob und bewahrte.« Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1978, S. 147. – Der Linksheideggerianer Herbert Marcuse spricht mit Blick auf die semantische Schließung des amerikanischen (Informations‑) Kapitalismus von »operationeller Rationalität«. Seine »Absperrung des Universums der

IV. »Rumor«

Die Industrialisierung des Kulturellen oder, wie es bei Strauß heißt: die Umstellung von »Tiefe« und »Bedeutung« auf »relaisförmige« (RU, 39) Information und verkäufliches Wissen verwandelt die Romanwelt in eine von »Normbrüdern« (RU, 14) bevölkerte Zone. In der kapitalisierten Sprache gefriert das Leben zu »freudlose[r] Sachlichkeit« (RU, 156); ein »fantastische[r] Grabesfrieden« (RU, 153) legt sich über »Neonlicht«-Deutschland, Familienverbände zerfallen und Liebesverhältnisse zerbrechen.3 Auf der depressiven Matrix des Romans erscheinen die Figuren als neurotische Sonderlinge, als merkwürdig exzentrische, aus dem Gleichgewicht gebrachte Subjekte, für den Erzähler sind sie seelisch »entsetzte, auf den Zehenspitzen ihres Seins wippende Naturen« (RU, 16). Das »Institut«, klagen sie, sei eine Defäkation des Logos, ein »Scheißhaus des Geistes und Zuchtstätte des Idiotismus« (RU, 11). »Nur Drill und Fakirtum der falschen Weltsicht haben uns beigebracht, eine solche Auszehrung und solche Stiche des Herzens zu dulden. […] Ich muss unablässig an die Vernunft denken, wie ein Idiot, der sie längst verloren hat und ihr trübe nachsinnt.« (RU, 12) Die narrativ neutrale Rationalität der angelsächsischen Wissenskultur, so wird der Roman nicht müde zu behaupten, versteht Sprache nicht als Medium der Welterzeugung, sondern zweckrational als Instrument der Weltverfügung. Das rechenhafte Weltbewältigungswissen ist tote Empirie; es installiert in der Figurenwahrnehmung einen rein faktengestützten Realitätsbezug, der den Raum intersubjektiver Anerkennung auflöst und den Sinn für das »Ganze« zerstört. Im Gegensatz zur »deutschen« Bedeutungskultur webt der New Speak kein symbolisches Netz mehr, in dem der Einzelne seinen Platz finden könnte. »In allem ist Information und Sprache, von der winzigen Bakterienzelle bis in den geheimsten Traumzipfel, wir sind überfüllt mit Mikrotexten, Codes und Alphabeten, Sprache überall und lauter Gesetzesherrschaft und fremde Ordnungen. Wo sollte da noch für ein Ich Platz sein?« (RU, 116f.) Die residualen Reste des »Deutschen« verlieren ihren letzten »Kredit«; Wortbedeutungen werden instabil und »unverständlich«. »Das Deutsch der Mitwelt: nur entfernt, auf quälende Weise halb nur verständlich. So fällt der ganze Körper mit den Verhältnissen auseinander, fallen Seele und Dinge rumpelnd auseiRede« tilgt die »subversiven Inhalte des Gedächtnisses«; bei Strauß neutralisiert sie den überhistorischen Sinn des »Deutschen«. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Darmstadt/Neuwied 1979, S. 117. 3 | Strauß beschreibt die bereits Mitte der siebziger Jahre zu erkennende Transformation des klassischen Kapitalismus in den kognitiv-medialen Kapitalismus, der seinen Profit aus dem Immateriellen (»Trendberichte«) bezieht. Gleichwohl erweist sich die »progressive« Informationsgesellschaft als natürliche Schwester der alten darwinistischen Ökonomie – der Finanzmakler und Hausbesitzer Gerhard wirft seinen eigenen Vater hinaus (vgl. RU, 139f.).

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nander.« (RU, 148) Zuletzt petrifizieren »die Verhältnisse« auch die innere Physis des Subjekts – sein Körperselbst ist »Gestein, verschlossen der Leib, verschlossen die Sprache. Ablagerung, Verwerfung« (RU, 178). Rumor beschreibt den Triumph der Informationsökonomie nicht nur als kulturelle Kolonialisierung der ›kriegsversehrten‹ Nation; er beschreibt ihn als eine zweite Zerstörung, die die erste, die faschistische Zerstörung der deutschen Sprache, noch einmal potenziert. Von Anfang an nämlich lastet die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wie ein Alptraum auf der Figurenrede, bis in die Kapillaren der Grammatik durchsetzt sie sie mit Welthass und hemmt die Artikulation. Der Vater »stockt besonders beim Erzählen aus der Vergangenheit, was doch sonst den älteren Menschen das Liebste ist …« (RU, 91). Das traumatisierte »Deutsch« der Sprachversehrten klingt »zerstückelt« (RU, 19); jäh brechen Erinnerungen an die »Lager« auf und verwandeln eine Ehe-Hölle in einem neudeutschen »Einfamilienhaus« halluzinatorisch in ein »ganz gewöhnliches« Konzentrationslager (RU, 25). »Stille Folter und Vernichtungszimmer. Eine Blutgrube das Bett. Das Lager in jedem. Arena ohne Schall.« (RU, 28) Beides, die faschistische Infektion der Muttersprache und die Heimsuchung der Schuld, bezeichnen die Hintergrundkatastrophe des Romans, und sie ist schlimm genug; doch nun, so suggeriert Rumor, fällt das wenige, was nach der Zerstörung der Muttersprache an »Sinn«, »Erzählung« und »Herkunft« übrig blieb, der westlichen Vermessung der Welt zum Opfer, der kapitalistischen Transaktion von Bedeutungs- in verwertbares Verfügungswissen. Es ist diese Ökonomisierung der Kultur, die die unversehrten Reste der deutschen Sprache überschreibt und sie »brummedibrumm« unter Datenbergen verschwinden lässt. »Ich sage dir: ein, zwei Generationen noch, und es werden vollkommen erinnerungsfreie Menschen durch ihr Schicksal schweben […]. Die Leute im Institut sagen, man muß sich die Sache schon jetzt mehr als eine Art weitflächiges Relais denken. Nicht mehr die Wurzel, die Tiefe, die Herkunft, sondern das Relais, unzählige Schaltungen auf einer Ebene gleichzeitig, brummedibrumm …« (RU, 39) Bis hierhin lässt sich Rumor als Versuch verstehen, Modernisierungserfahrungen ästhetisch einzuholen und sie als kulturellen Verlust in der »authentischen« Fiktion »lebendiger« Figuren zu beglaubigen. Zu einer moralischen Provokation gerät der Roman jedoch dort, wo er versucht, zwei unvergleichbare Traumatisierungsmuster – die moralische Selbstdiskreditierung der deutschen Kultur im Zivilisationsbruch von Auschwitz und die Weltbild-»Revolution« der Informationsökonomie – als kategorial vergleichbar miteinander in Beziehung zu setzen. Überdeutlich wird diese Engführung bei der Reise des Erzählers nach New York oder, was dem denunziatorischen Erzählklima besser gerecht wird: bei seiner Reise in das Sodom und Gomorrha des infertilen kulturimperialistischen Westens. Im Licht des narrativen Ressentiments erscheint New York als Hölle der Postsexualität und als Friedhof des Lebendigen. In der Bar

IV. »Rumor«

für »Asexuals« trifft der Reisende auf einen ausgewanderten Landsmann, der sich, blind vor antideutschem Hass, jede muttersprachliche Wendung strikt verbittet. »Diese Ruhesuchenden hier haben also vor dem ungewinnbaren Sexus die Waffen gestreckt. […] Der Brennpunkt von all dem, was wir je als Sinn für Versprechung und als Kraft, zu scheitern, ausgebildet haben, verglimmt tatsächlich. Das Begehren, das nie nackt war, das immer in vielen Schleiern vieler Zwecke ging und doch darauf zielte, diese Schleier zu zerfetzen, ein hermetisches Spiel zu spielen, hat sich nach und nach selbst entkleidet.« (RU, 34) Erst als der Reisende »englisch« spricht, löst sich der Koller des deutschen Auswanderers. »Er murmelt, daß er nun einmal nicht vergessen könne, nennt […] den Grund, und der Grund sind natürlich die Lager, die deutschen. Ich weiß noch, wie ich in Scham und Trotz zugleich erschrak, daß jemand, nur weil ich in meiner Muttersprache redete, vom Sitz aufgesprungen war und mir um ein Haar in die Fresse geschlagen hätte.« (RU, 31f.) Wie die Hauptfigur Bekker, so ist auch der Berichterstatter eine displaced person der Muttersprache, und je heftiger er sich für seinen »groben deutschen Akzent« glaubt schämen zu müssen, umso stärker quält ihn das Verlangen nach »Herkunft« und Gedächtnis.4 Schließlich beruhigt er sich mit der Feststellung, dass »das Deutsch in diesem einzigartigen Vernichtungswerk nicht untergegangen war, daß es einem Hitler nicht gelungen war, auch das Deutsch noch mitzuverheizen […], dies ganze Deutschsein trotz Hitler erfreute mich im Innersten, während ich oben auf englisch lallte und stotterte, und ich schämte mich auch nicht, daß wir ausgerechnet über das Lager lallten und stotterten, fand es am Ende gar des Unaussprechlichen würdig, daß wir in einem schweren, scherzlosen Rausch immer dasselbe zum selben Thema sagen, why?« (RU, 33)5 4 | Bekker trägt Züge der regressiv-traumatisierten Vaterfigur in Die Widmung, und von seinem Stiefvater, einem wütenden »Majorsmonster«, heißt es, dieser habe alles gehasst, »was sich bewegt« (RU, 96). »Haß, Verachtung, Vernichtungsdrang und Wille zum Tod.« Dieser Welthass treibt ihn in die westliche Ersatzidentität, in das »Institut«. »Ich stehe noch einmal, ein letztes Mal gewiß, vor dem Eingang des Instituts, zu dem ich als junger Mann aus der bedrückendsten Herkunft wie zu einem Tempel der Seligen geflohen bin.« (RU, 21) Und wie bereits die Hauptperson in der Erzählung Die Widmung, so verhindert auch bei ihm die Zerstörung von ›Mutter Sprache‹ die Erzählung des Lebens. »Diesen Mann, der ihr doch einst alle Fragen beantworten konnte und soviel wußte. Nun ist der Erzieher unklar geworden. Das Kind führt einen Stammler über Land, den man über nichts mehr befragen kann.« (RU, 97) – Zur psychoanalytischen Deutung der Beziehungsmuster in Rumor vgl. auch Walter Rügert, Die Vermessung des Innenraums, Würzburg 1991, S. 119ff. 5 | Es ist nicht klar auszumachen, worin für den Erzähler die eigentliche Ursache des (Sprach‑)Traumas liegt. Ist sie im Zivilisationsbruch begründet – oder im »Überlieferungsbruch« durch Westbindung und Reeducation? Warum wird die Erinnerung »an

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Unter diesen Vorzeichen erweist sich »New York« als Welthauptstadt einer Rationalisierungslogik (Wissen, Effizienz, Geld), die Deutschland zur sprachlichen Selbstverleugnung nötigt, zum Opfer in Permanenz.6 Nicht nur, dass die »Sieger« aufreizend taub bleiben gegenüber dem kulturellen Phantomschmerz der Besiegten; sie zwingen sie auch dazu, zwischen Selbsthass und moralischer Hysterie eine schuldneurotische Ersatzidentität auszubilden und die letzten Verbindungen zu ihrem romantischen Erbe zu kappen. Danach muss die deutsche Kunst entweder untergehen oder sich wie die Loreley in eine hässliche ›Stinkefee‹ verwandeln (RU, 178), in eine karnevaleske Karikatur ihrer selbst. Als Bekker in einer avantgardistischen, für ihre »frei von der Leber weg« gesprochenen Sprachperformances bekannten Radiosendung als »Mitternachtsnarr« auftritt (RU, 195) – »bin Sänger und Gutteil schweigende Mehrheit dazu« (RU, 198) –, überwältigt ihn eine unstillbare Sprachsehnsucht, und er bricht in ein »lautes, undefinierbares vaterländisches Geheul« aus (RU, 197). Wieder einmal erweist sich das kakophonische »Geheul« als der abgespaltene Rest seiner zwanghaft verleugneten Muttersprache, und dem Narren gerät das unmögliche »Deutsch« zum Schicksal. Bekker wird zum Gregor Samsa der Bundesrepublik. Nachdem er sich »unheimlich« verwandelt hat, ist für ihn kein Platz mehr – er muss weg (RU, 230).7 In Bekkers »närrischer« Sprachliebe bewahrt der Roman eine letzte Erinnerung an den untergegangenen deutschromantischen »Geist«, und mit einem scharfen Schnitt löst Strauß diesen »Geist« aus dem Zusammenhang der dämonisierten westlichen Moderne heraus und konfrontiert ihn in subtiler Verklärung mit dem »herzlosen« Rationalismus der »Zivilisation«, also jener verächtlich gemachten Manhattan-Kultur, deren politische Verfassung der Erzähler systematisch abblendet beziehungsweise gar nicht erst in den Blick nimmt. Die extreme Polarisierung von Romantik und Rationalität, von »tiefer« deutscher Kultur und »oberflächlicher« angelsächsischer Zivilisation, die Lager« im lallenden Englisch angestrengt? Um jede assoziative Verbindung von »Deutsch« und Vernichtung abzuwehren? Will Strauß die Schulderinnerung als eine sekundäre Rationalisierung beschreiben, mit deren Hilfe das primäre Sprachleiden schuldneurotisch kompensiert wird? Polemisch gefragt: Verdeckt das moralische Schuldbewusstsein ein tiefer liegendes Trauma – eben den Verluste von »Mutter Sprache«, über den zu trauern der antifaschistische Diskurs angeblich untersagt? – Zur faschistischen Sprachzerstörung bei Strauß vgl. Helga Kaußen, Kunst ist nicht für alle da, und Leslie A. Adelson, Crisis of Subjectivity, Amsterdam 1984. 6 | »Nie habe ich mich wirklich gefürchtet, von einem Ausländer angegriffen zu werden […]. Nur wer deutsch spricht, kann mir etwas tun. Dem Vertrauten allein und dem Befreundeten gilt mein ganzer Argwohn und sogar eine heimliche Todesfurcht.« (RU, 161f.) 7 | Zu den Anspielungen auf Kafkas Gregor Samsa vgl. Helga Kaußen, Kunst ist nicht für alle da, S. 310.

IV. »Rumor«

erzeugt schließlich ein atmosphärisches Tableau, auf dem Deutschland nicht mehr als schuldbelastete Nation erscheint, sondern als ein vom westlichen Informationskapitalismus tragisch überwältigtes Opfer – als Sprachnation ohne Sprache und Volk ohne Identität. »Wem noch zuhören? Den Geschäftlern oder Beamten […] Den Frauen unter sich oder den Künstlern im TV? Wem noch zuhören? Die Deutschs hier um mich herum sind alle nicht das Gelbe vom Ei. Die Deutschs der Menschen sind so … ich weiß nicht … so zu. Es rasselt, und abgehackt. Sprachballungsräume. Bloß raus hier! Raus aus der Sprache …! Ich will nichts mehr hören und sehen […]. Bin ein Patriot, weiß aber nicht, an wen soll ich mich wenden. Aber wo ist zu meiner Treue der Herr?« (RU, 78)

Mit der Perspektivverschiebung auf das kulturelle »Opfer«, das die Nachkriegsrepublik der westlichen Rationalisierungsmaschine bringen muss, rückt der Roman die Last geschichtlicher Schuld an die Peripherie seines erzählerischen Interesses. Je stärker Rumor die Erinnerung an die »Lager« abschattet, desto mehr drängt der Skandal des Traditionsverlustes in den Vordergrund, die Zerstörung der nationalen Sprachidentität im Freiluftgefängnis der amerikanischen Kulturkolonie – Deutschland ist zwar politisch das Volk der Täter, aber unter der Doppelhegemonie aus Reeducation und Informationskapitalismus ist es kulturell ein Opfer.8 Die Entkonkretisierung des Nationalsozialismus zu einem nebulös fernen Ereignis sowie die durchdringende Klage über den Verlust des romantischen Erbes setzen schließlich die Suggestion frei, das alte unschuldige »Deutsch« sei unterhalb der westlichen Besatzungsherrschaft als rettende Erlösungsressource immer noch »anwesend«. Von Bekker hört man ein atmendes Schweigen, er muss die »Brust eines Riesen haben« (RU, 233).9 Diese intrikate Mischung aus diskursanalytisch interessanter Modernekritik und nationalem Sprachrettungsmythos führt direkt ins Zentrum von Strauß’ ehrgeizigstem Prosawerk, dem vier Jahre später (1984) erschienenen Roman Der junge Mann.

8 | Die Hauptsorge des rechtsintellektuellen Antiamerikanismus gilt der »Endlösung der deutschen Frage« durch die Westbindung. Vgl. Caspar Schrenck-Notzing, Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen, Stuttgart 1965. Grundlegend zum Antiamerikanismus vgl. Dan Diner, Verkehrte Welten, Frankfurt a.M. 1993, S. 117ff. 9 | Der titelgebende »Rumor« wäre demnach als eine widerständige Tiefenregung zu verstehen, mit der die deutsche Sprache gegen den Hyperrationalismus der amerikanisierten Moderne aufbegehrt. »Die Unordnung, die immer noch unterdrückte Rede des Ganzen, ein Rumor bloß, aber überall stärker hervordringend.« (RU, 147)

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V. »Der junge Mann« Aus einsichtigen Gründen hat sich die Forschung darauf geeinigt, den Roman Der junge Mann als eine intertextuell angelegte »Mythenumschrift« der Bundesrepublik zu lesen, die die zentralen Themen des Strauß’schen Werks radikalisierend zuspitzt und bis an die Grenze formaler Selbstaufhebung treibt. Die Interpreten betonen die elliptischen Muster des Romans und seinen »Fragmentcharakter«; präzise beschreiben sie sein raffiniertes Spiegelsystem, überhaupt »das Fluktuieren zwischen Realitätsfiktion und Traumreise, Erzähl- und Reflexionston, das verschlungene Spiel mit verschiedenen Zeit-, Sprach- und Imaginationsebenen«.1 Diese Polyperspektivik, auch darüber ist sich die Forschung einig, macht das Werk zum postmodernen Nachkömmling des ehrwürdigen romantischen Reflexionsromans. Heiter unterläuft Der junge Mann seine eigenen Sinnofferten und dekonstruiert alle Wahrheit zum unverbindlichen Spiel. Anything goes.2 Nun ist es unbestritten, dass die parabolische Erzählstruktur des Romans lineare Entwicklungen auf bricht und Ironie sein alles beherrschendes Stilmittel darstellt. Und dennoch, so lautet im Folgenden die These, ist Ironie nur das letzte Wort der im Roman erzählten Geschichte, nicht aber das letzte Wort seiner künstlerischen Konstruktion. Vielmehr stellt Der junge Mann durch die 1 | Vor allem Schlegels Arabeske gilt als entscheidendes Kompositionsprinzip der Strauß’schen Romantikrezeption. Vgl. Henriette Herwig, »›Romantischer Reflexionsroman‹ oder erzählerisches Labyrinth? Botho Strauß’ ›Der junge Mann‹«, in: Michael Radix (Hg.), Strauß lesen, München 1987, S. 267-282, hier S. 267. – Siehe auch Sigrid Berka, »›Vorsicht Lebensgefahr‹ – Die Spätfolgen der Romantik bei Bothos Strauß«. Zahlreiche Hinweise finden sich auch bei Heidy M. Müller, »Transformationen romantischer Inspirationsquellen im ›Jungen Mann‹ von Botho Strauß«, in: Gerd Labroisse/Gerhard P. Knapp (Hg.), Literarische Tradition heute. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur in ihrem Verhältnis zur Tradition, Amsterdam 1988, S. 181-199. 2 | Marieke Krajenbrink, »›Romantiker der elektronischen Revolution‹? Zur Verwendung romantischer Elemente in Botho Strauß’ Der junge Mann«, in: Erika Tunner (Hg.), Romantik – eine lebenskräftige Krankheit: Ihre literarischen Nachwirkungen in der Moderne, Amsterdam/Atlanta 1991, S. 159-185, hier S. 179.

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Ironisierung von Ironie sein allegorisches Spiel still und eröffnet einen mythischen Gegenraum jenseits von Sinnverlust und Dekonstruktion. Zu Recht ist im Kontext der Ironie-Diskussion auf die Wahlverwandtschaft hingewiesen worden, die Der junge Mann mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre unterhält, und zwar über bloße Ähnlichkeiten in der Charakterstruktur des Helden hinaus. Es lohnt sich also, vorab noch einmal einen Blick in jenen Roman zu werfen, in dem Goethe die Lehre aus dem Scheitern von Wilhelm Meisters theatralischer Sendung zog und sein Vorhaben aufgab, (theatralische) Kunst und (frühmoderne) Wirklichkeit im Bildungsidealismus eines einsamen Helden zu versöhnen.3 Weil bereits im späten 18. Jahrhundert die komplexe Wirklichkeit einer frühmodernen Gesellschaft nicht mehr in einer geradlinigen narrativen Logik erfasst werden konnte, musste Goethe den Anspruch fallen lassen, die kollidierenden Wertsphären von Poesie (Mignon/Harfner) und Ökonomie/Rationalität (Turmgesellschaft) in einer erzählerischen Totale aufgehen zu lassen. Das ist der Grund, warum in den Lehrjahren die Versöhnung der Wertsphären nur zum Schein gelingt und der Roman – anders als die Forschung lange behauptet hat – keineswegs das Genre des harmonischen bürgerlichen Bildungsromans begründet. Denn obwohl Goethes Erzähler den Leser am Schluss auffordert, alle Hoffnung fahren zu lassen und sich mit der Enttäuschungsgeschichte des Helden abzufinden, so ist ein durchdringend ironischer Ton nicht zu überhören – ein deutliches Signal, das die scheinbar alternativlose epische Lösung in Frage stellt und die Scheinharmonie von Figurenrede und Romanperspektive fadenscheinig macht. Ausgerechnet mit den Mitteln der Ironie appelliert der Roman an den hermeneutischen Ernst und kündigt dem heiter fatalistischen Erzähler die Gefolgschaft auf. Ironisch äußert er Zweifel an Wilhelms sozialer Aussöhnung und provoziert die Frage nach den Opfern, die im Namen von Vernunft und Fortschritt auf dem Altar der Turmgesellschaft gebracht wurden.4 Der »Äthergeist« der Ironie, so hieße das, entsichert das Textgedächtnis – als Gedächtnis von Leid und Verlust – und 3 | Im Widerspruch zum »klassischen« Programm erzählen die Lehrjahre in einem Experiment, das zu Goethes Zeit ohne jeden Vergleich war, die Geschichte der tödlichen Kollision zwischen ästhetisch-expressiver Lebenswelt auf der einen und methodischzweckrationaler »Vernunft« auf der anderen Seite. Vgl. auch Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft, München 2002, S. 36. – Generell kritisch gegen die bildungsbürgerliche Versöhnungsthese ist auch Michael Jäger, Fausts Kolonie: Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, Würzburg 2004. 4 | Mignon und Harfner, die letzten Gestalten der romantischen Epoche und die ersten Gespenster der Moderne, haben in der kalkulatorischen Geldgesellschaft keinen Platz mehr; sie sterben und werden von den Gedächtnispolitikern der Turmgesellschaft im »Saal der Vergangenheit« aufgebahrt. »[I]n dieser ganz und gar irdischen Providenz [ist] nahezu jeder in seinen Wünschen und Absichten korrigiert, jedem sein Platz zugewiesen

V. »Der junge Mann«

stellt die tröstliche Botschaft der erzählten Handlung unter Vorbehalt.5 Genau dieses Verfahren, die ironische Selbstbefragung der eigenen Narration, wird auch Strauß ins Spiel bringen und metafiktional über sich hinaustreiben. Wie vor ihm Goethes Lehrjahre, so versteht sich auch Der junge Mann als Dokument einer historischen Schwellenzeit, und wie Goethe erzeugt Strauß in der Figur des mittleren Helden ein sensorisches Feld, in dem sich höchst unterschiedliche Erzählebenen miteinander schneiden und perspektivisch brechen. Leon Pracht heißt sein empfindsamer Protagonist, und wie einst Wilhelm Meister, so fühlt auch dieser junge Mann sich zur Regie berufen und zur Schaubühne bestellt.6 Unverdrossen glaubt er an die bürgerliche Bildungsreligion und die erneuernde Kraft des Theaters, denn nur die moralische Anstalt könne die Krankheit der Gegenwart, die Angst vor der »auseinanderfließende[n]« Zeit (DJM, 38), ausheilen und die zur Normalzeit gewordene »Wahnzeit« (DJM, 9) in das glückliche Präsens einer sinnerfüllten Gegenwart verwandeln. Kurzum, es ist der »chronische« Mangel an konsonanter Zeitlichkeit, der Leon Prachts missionarischen Eifer befeuert und ihn auf die Theaterkanzel treibt, wo er, »wenn auch auf verlorenem Posten, bis zuletzt dem Zeit-Pfeil trotzen und den Schild der Poesie gegen ihn erheben« will (DJM, 15). In der »GegenWelt« des Theaters hofft er jene Erzählungen zu finden, die das atomisierte Zeit-Leben der Bundesrepublik in den »durchsichtigen Raum der geordneten Bedeutungen« zurückstellen, in das »Ganze« von Zeit und Geschichte. »Ich wußte also genau, wie es auszusehen hatte, mein Theater […]. Ich nannte es nicht mit geringen Namen. Die Gegen-Welt, die Mythenwanderung, die Überschreitung, die Bühne als Eingangspforte zur Großen Erinnerung, Tanz der Reflexionen mit den Geistern, das Gebärden-Zeremoniell, die Lupe hinhalten, auf die Jagd gehen, den Zuschauer in den ›Hinteren Raum‹ locken, Zustände auslösen …« (DJM, 32) Von seiner Begeisterung begeistert rühmt Leon das Theater als ein »Schaufenster, durch das man in eine unbekannte, mit Leben erfüllte Welt zurückblicken kann« (DJM, 38) – in eine Vergangenheit, die sich das Bewusstsein von den vordiskursiven Quellen der Kultur erhalten hat. Und tatsächlich, als Leon Pracht Genets Die Zofen inszeniert, scheint das Experiund jeder, der keinen Platz finden konnte, aus dieser Welt herausgeschafft.« Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 37. 5 | Einflussreich für diese These ist die Studie des italienischen Germanisten Giuliano Baioni »›Märchen‹ – ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ – ›Hermann und Dorothea‹. Zur Gesellschaftsidee der deutschen Klassik«, in: Goethe-Jahrbuch 92 (1975), S. 73-127. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte auch Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Band II, München 1989. 6 | Der Vater des Helden ist Montanist: »Mit kaum 22 Jahren war mein Horizont erfüllt von frühchristlichen Ketzern und Anachoreten […], da entzifferte ich an der Seite des Vaters brav die gerade erst entdeckten Schriftrollen gnostischer Evangelien.« (DJM, 22)

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ment zu glücken, und die eben noch opak zerfließende und semantisch ungebundene »Zeit Zeit Zeit« verwandelt sich in eine wundersam mythische, das Subjekt und das Kollektiv zusammenschließende »Gleiche Zeit«. Indes, der Schein trügt, das Theater ist nur Theater, nur das Spiegelbild der »zeitlosen« und empörend indifferenten Gesellschaft. Doch nicht nur das »Gleich-Gültige« der ›opferentwöhnten‹ Bundesrepublik (DJM, 39) enttäuscht Leons Wunsch nach Präsenz; auch der ubiquitäre Alptraum einer nicht vergehenden Vergangenheit zerstört die Erfahrung absoluter Gegenwart. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist allgegenwärtig; das Monster »Hitler« perforiert das Spiel der Einbildungskraft, verdunkelt die Metaphern und entstellt die »Aussprache« der Figuren.7 Diese Hinweise auf eine geschichtliche Deformation der deutschen Sprache werden von Strauß scharf konturiert und belegen, dass die Chronopathologie des jungen Mannes – sein Leiden an »Zeit Zeit Zeit« (DJM, 7) – nicht aus existenziellen Grundtatsachen hervorgeht, sondern ihre Ursache in einer symbolischen Ordnung hat, die es ihm verwehrt, disparate Zeiterfahrungen im »Ganzen« einer Lebenserzählung zu synchronisieren.8 So kommt es, wie es kommen muss. Wie der Held in Goethes Lehrjahren, so stößt sich auch der junge Mann an der Prosa der Verhältnisse die Hörner ab und erleidet Niederlage auf Niederlage. »Unzeitlich« bleibt die Zeit, geschichtslos die Geschichte und unlebendig das Leben. Enttäuscht stellt Leon Pracht fest, dass der Zyklus aus Werden und Vergehen nicht mehr in Gang kommt und kein nationales Narrativ die entzweite »Zeit Zeit Zeit« zur Einheit bringt. Der 7 | So heißt es: »Denn diese Gesellschaft ernährt sich vom Tod ihres größten Frevlers.« (DJM, 181) Bis heute »sei dies starke und schöne Land aus seiner Belsazar-Nacht nicht vollends erwacht. Noch immer hält uns sein Tod umschlungen und flößt uns Furcht und Atem ein.« (DJM, 181) – Dass Einsamkeit und Sprachlosigkeit ihre Ursache in einem deutschen Sprachtrauma haben, das ist auch die Melodie, die von der Ouvertüre des »Zeit«-Romans intoniert wird: »Ihnen, den Trinkern und aus der Zeit Gerutschten […], die gar nichts wissen und stets behaupten, ihre besten Freunde seien alle bei Stalingrad gefallen […], sie sprechen einfach an einem deutschen Gemurmel mit, das, weit älter als sie selbst, ungestört unterhalb der Zeit dahinrinnt.« (DJM, 8) »Ihnen etwas erzählen? Aber sie können nicht eine Minute lang zuhören! Unablässig fallen sie sich gegenseitig ins Wort […], wie ein Abend im TV.« (DJM, 9) 8 | »Die Zeit kann erst dann konstitutiv werden, wenn die Verbundenheit mit der transzendentalen Heimat aufgehört hat.« So trennen sich im modernen Roman »Sinn und Leben und damit das Wesenhafte und Zeitliche; man kann fast sagen: die ganze innere Handlung des Romans ist nichts als ein Kampf gegen die Macht der Zeit«. Georg Lukács, Theorie des Romans, Darmstadt/Neuwied 1977, S. 108 und S. 109. – Vgl. zum Zeitbegriff des Romans auch die instruktive Lesart von Jürgen Daiber, Poetisierte Naturwissenschaft, S. 122-147.

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»durchsichtige Raum der geordneten Bedeutungen« ist unauffindbar, und er bleibt es auch. In ironischer Resignation findet sich der Held mit dem Triumph der amerikanisierten, von Visualisierungsmaschinen belagerten Bundesrepublik ab. Wo früher ein deutsches Theater war, steht nun ein Hollywood-Kino. Mit dem Sieg der ikonozentrischen Postmoderne (»Kino«) über die logozentrische Hochkultur (»Theater«) scheint die Romanhandlung erzähllogisch erschöpft und die Narration fugendicht geschlossen. Sogar die retrofuturistischen »Siedlungen«, die Leon Pracht durchwandert, können die Zeit-Krise nicht beenden, denn sie sind bloß Alternativen in, nicht aber zur Welt des Romans. Überdies entpuppen sich die »Siedlungen« als kuriose Selbsterlösungsmilieus, die nach rätselhaften Ordensregeln funktionieren und zu Unrecht behaupten, mit ihren »sozialen Experimente[n]« (DJM, 117) den Sinn von Zeit gefunden zu haben. Tatsächlich erweist sich dieser »Sinn« als schrilles Patchwork aus Zitaten, Figuren und Mustern, genauer: als eine synkretistische Scheinpluralität aus Unterscheidungen, die nichts mehr unterscheiden. Die Siedlungsbewohner ähneln Nietzsches »letzten Menschen«, sie leben im hohen Mittag einer zeitlosen Gegenwart, in einer Gesellschaft ohne Staat und in einer »Geschichte« nach dem Ende der Geschichte. In den »Wärmeverbänden« (DJM, 150) existieren, wie Strauß vermerken lässt, weder produktive Gegensätze noch Opferbereitschaft.9 »Sie wollen eben die leidigen Gegensätze überhaupt aus der Welt schaffen!« (DJM, 112)10 Kurzum, anders als der Erzähler dem Leser einreden möchte, sind auch die postmodernen Siedlungsbewohner unfähig, das Kardinalproblem des Romans zu lösen, die Verwandlung von asynchroner »Zeit Zeit Zeit« in mythisch-präsente Zeit. Die experimentellen Sozialformen eröffnen keine neue Epoche, sondern erweisen sich als Endmoränen der alten; sie sind Provisorien, die mit »banale[m] Abwehrzauber« (DJM, 148) jenes politische Vakuum füllen sollen, das nach dem »raschen Auseinanderfallen unserer westlichen Erfolgsgesellschaften« (DJM, 114) entstanden ist. Das »Leben« der Geschichte kehrt nicht zurück, und in der Gesellschaft der »Gesellschaftslosen« (DJM, 38) zerfällt am Ende sogar die Kategorie des Zerfalls. So korrespondiert der Umstand, dass sich die Welt als »ganze« der epischen Darstellung entzieht, eindrucksvoll mit dem allegorischen Formprinzip des Romans und dem Sieg der Ironie. Ironisch erzählt Der junge Mann von der Unerzählbarkeit der Gegenwart, von der »Zeit 9 | Gesellschaftlicher Egalitarismus, so lautet die Anspielung auf Nietzsche, neutralisiert das ästhetische Genie: Weil die Siedlungsbewohner Leiden, Herrschaft und Opfer abgeschafft haben, sind sie unfähig, einen tanzenden Stern zu gebären – also große Kunst. 10 | Eberhard Scheiffeles verweist auf die Parallelen zu Arnims Kronenwächter. Vgl. Eberhard Scheiffeles, Über die Rolltreppe. Studien zur deutschsprachigen Literatur, München 1999, S. 263.

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Zeit Zeit« einer zerfallenen Moderne, deren »Neues« in nichts anderem besteht als in der ewigen Metamorphose des Alten.11 Doch der narrative Schein trügt. Es gibt ein Kapitel, in dem der Roman seine Finalität unterläuft und Widerspruch einlegt gegen die Behauptung vom endlosen Ende seiner posthistorischen Gegenwart. Das geografische Zentrum dieses Widerstands bildet das Kapitel »Der Wald«,12 und es beginnt damit, dass sich eine »träge Menschenschlange« unter Ausstoßung wirrer Soziolekte durch die Rheinauen windet. Die bizarre Prozession wird von einem machtlos mächtigen »Bauarbeiter-König« angeführt, dem Souverän der Nachkriegsgesellschaft und gleichsam Nachfolger des kollektiv gehassten ›Liebesobjekts‹ Hitler. Hinter ihm, im Gesellschaftskörper (»keine deutliche Rangfolge«), herrscht Tumult, und es gibt sogar erste Anzeichen für einen beginnenden Bürgerkrieg. »Einzelne« verlassen ihren angestammten gesellschaftlichen Platz, und durch die Vermischung der sozialen Sphären und Berufsgruppen entstehen »Streit« und Chaos (DJM, 74). »Hin und wieder spritzte aus einer Gruppe ein Einzelner hervor und lief zu einer anderen über, die weiter vorn oder auch weiter hinten marschierte. […] Einmal in die Fremdgruppe eingedrungen, wurde der Wechsler, auch wenn er vorher ausgesprochen friedliebend war, sofort zum Streithansel.« (DJM, 74f.) Unschwer ist der Mummenschanz als Farce der mittelalterlichen Ständegesellschaft zu erkennen, als demokratische Dekadenzgestalt einer vom Thron gestürzten, nun selbstzerstörerisch gewordenen Souveränität. In egalitärer Anmaßung, so suggeriert die Schlangen-Szene, zwingen unbefugte Einzelne dem staatlichen Ganzen ihr Gesetz auf und untergraben die naturwüchsige Hierarchie der majestätischen Macht. Mit dem Sturz des Souveräns zerfällt die Gesellschaft in partikulare Separatsprachen; es entsteht eine Repräsentationskrise, die es »dem Volk« unmöglich macht, sich als Einheit im Bild des Königs zu spiegeln und eine Anschauung seiner selbst zu gewinnen. Als die »verblendete Majestät« (DJM, 75) plötzlich die Richtung wechselt und sich in einem Akt anlassloser 11 | Vgl. dazu Henriette Herwig, »Romantischer Reflexionsroman«, S. 280 und Marieke Krajenbrink, »Das Mißverständnis als Privileg des Kunstwerks«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), H. 2, S. 300 sowie ihre Untersuchung Intertextualität als Konstruktionsprinzip, Amsterdam 1996. – Aufschlussreich ist auch Sigrid Berkas Deutung Mythos-Theorie und Allegorik bei Botho Strauß, Wien 1991, vor allem S. 106f. Vgl. auch Sebastian Reus, Unglückliches Bewusstsein, S. 229ff. Reus übersieht allerdings, dass Strauß’ Roman Der junge Mann nicht um den Begriff der Utopie, sondern um den der Apokatastasis zentriert ist. Reus verkennt m.E. auch, dass Strauß hochgetriebene Differenzierungen und Singularitäten (z.B. innerhalb der Siedlungskolonie) in ein zweideutiges Licht rückt, das heißt nicht als Freiheitsgewinn, sondern als Seinsvergessenheit verbucht. 12 | Zum romantischen Waldmotiv vgl. Heidy M. Müller, »Transformationen romantischer Inspirationsquellen im ›Jungen Mann‹ von Botho Strauß«, S. 190f.

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Gewalt gegen das eigene Volk wendet, beginnt »das grausamste und widernatürlichste Schauspiel, das den nüchternen Augen der Geschäftsfrau je dargeboten wurde. Die Schlange fraß sich von ihrem Ende her Stück um Stück selbst auf.«13 Der ›herunterdemokratisierte‹ König kannibalisiert sich selbst, er ist blinder formloser Wille und reine Kontingenz. »Da spaltete sich auch das Haupt der Schlange und ein Auge blickte scheel und mißtrauisch in das andere, denn nun standen König und König einander mit blutigen Waffen gegenüber« (DJM, 75f.). »Nihilismus« heißt die unmissverständliche Diagnose, die Der junge Mann der liberalen Moderne stellt, und vermutlich wird man im Werk von Strauß kaum eine abschätzigere Darstellung der Demokratie finden, zumindest keine, die so bedenkenlos Platons Kritik an der sozialen »Vermischung« aufruft, an der Selbstermächtigung der Vielen zum Tun des Beliebigen. Der Topos der »Gesellschaftsschlange« ist jedenfalls eindeutig konnotiert. Anders als die Ständegesellschaft, so lautet der Befund, macht die Demokratie unablässig einen Unterschied zu sich selbst und potenziert damit die natürlichen sozialen Teilungen. Diese Teilungsmechanik »zermahlt« auch das Imaginäre der souveränen Macht – die unautorisierte demokratische »Masse« köpft nicht nur den politischen, sie »köpft« auch den symbolischen Souverän und beseitigt die Referenzsicherheit von sprachlichem Sinn. Mit dem Tod des königlichen Sinngaranten gehören die Wörter nun unterschiedslos allen und jedem. Nominalistisch »entsichert« und ihres Bedeutungskerns beraubt, streunen sie – Anarchie statt Hierarchie – durch die »Schlangengesellschaft« und wechseln wahllos ihren Weltbezug. Wie in der Goethe-Reminiszenz aus der Erzählung Theorie der Drohung legen sich die egalisierten Wörter als Scheinnamen über den politischen Körper des Staates und berauben ihn seiner sinnstiftenden Macht.14 13 | Zum konservativen Topos der Moderne als »Schlange« vgl. auch unten FN 18 im fünften Teil. – Das Bild vom blinden König, der eine blinde Gesellschaft führt, findet sich nicht zufällig in Carl Schmitts Politischer Theologie. Schmitt lobt Donoso Cortes, den Theoretiker der Diktatur: »Die Tradition ist für ihn die einzige Möglichkeit, den Inhalt zu gewinnen, den der metaphysische Glaube des Menschen akzeptieren kann, weil der Verstand des einzelnen zu schwach und elend ist, um von sich aus die Wahrheit zu erkennen.« Zustimmend zitiert Schmitt eine Metapher von Donoso Cortes, die »den Weg der Menschheit durch die Geschichte darstellen soll: eine Herde von Blinden, geführt von einem Blinden, der sich an einem Stock weitertastet«. Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 70. 14 | Diese Deutung verdanke ich Friedrich Balkes Studie Figuren der Souveränität, München 2009, S. 141-144 und S. 458f. Balke legt plausibel dar, dass seit Hobbes die Panik vorherrscht, die »Menge der Unbekannten« greife unbefugt in die symbolische Ordnung ein, »befreie« die königlichen Namen und löse einen Exzess der nun sinnlos gewordenen Wörter aus. Die befreiten »Scheinnamen« legen sich in ihrer ganzen Nichtigkeit über den majestätischen Körper der Macht und bringen ihn zu Tode.

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Tatsächlich zerfällt die Gesellschaftsschlange in dem Augenblick, wo sie an einem Schlagbaum auf Widerstand trifft.15 Allein die erwähnte (Bank‑)»Kauffrau« wird vom Erzähler errettet und auf eine Traumreise geschickt, die in einer vergangenen Zukunft spielt, nämlich in einer bizarr wuchernden innerzivilisatorischen Wildnis, in den Ruinen der untergegangenen »Erfolgsgesellschaften«. Im »Wald« der archaisch-modernen Post-Natur entdeckt die Kauffrau eine als »Wehrturm« getarnte »Schatzkammer«, eine sonderbare Mischarchitektur aus betonmodernem Kaufhaus, Goethes »Saal der Vergangenheit« und Hölderlins Sprachturm. Die Temporalstruktur des Romans wird nun kreisförmig;16 sie macht versunkene Vergangenheiten gegenwärtig und historisiert Zukünfte. Wenn nicht alles täuscht, dann bildet dieser verwunschene Ort das entscheidende Widerlager zur ursprungslosen »Zeit Zeit Zeit« der verschwundenen Bundesrepublik, gleichsam das mythische Gegenzentrum zur postmodernen Haupterzählung. »Hier ist so ziemlich alles zu finden, was in unserem Land und in unserer Sprache je nur beim Namen genannt worden ist.« (DJM, 77) Oder in einer ähnlichen Formulierung: So »gut wie alles, was man oben zu einem menschenwürdigen Leben braucht, ist hier in Hülle und Fülle vorhanden, läuft um und wird frisch gehalten« (DJM, 84). In virtueller Gestalt archiviert das »Magazin« die kulturgeschichtlichen Bestände »der Deutschen«, alle welterzeugenden Potenzen und ursprüng15 | Die »Schranke« hat eine ikonografische Entsprechung in Heideggers Kulturkritik: Die (moderne) Gesellschaft ist das »Geschlossene […], das im Schrankenlosen weiterzieht, so daß ihm weder etwas Ungewohntes, noch überhaupt etwas begegnen kann. Wo etwas begegnet, da ersteht eine Schranke. Wo Beschränkung ist, da wird das Beschränkte auf sich zurückgedrängt und so zu sich selbst umgebogen.« Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a.M. 1980, S. 280. – Hinter der Schranke wartet auch bei Heidegger die schockhafte Begegnung mit dem ›Sein‹, und die »Schranke« ist der Augenblick der Entscheidung: »[E]s steht zur Entscheidung das Mitfragen der Fragen, wer wir sind, ob wir ein Gespräch sind oder nur noch ein Gerede, ob wir uns auf die ursprüngliche Geschichtlichkeit unseres geschichtlichen Daseins einlassen oder uns drumherdrücken; ob wir von unserem Seyn und demzufolge vom Seyn als solchem ein wahrhaftes Wissen haben oder ob wir nur in Redensarten herumtaumeln, ob wir wahrhaft wissen, was wir nicht wissen und nicht wissen können, um durch den echten Anprall an diesen Schranken selbst stark zu werden.« Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA Bd. 39, Frankfurt a.M. 1989, S. 77. – Zum Einfluss Heideggers auf das Strauß’sche Werk vgl. Johannes Windrich, Das Aus für das Über. Zur Poetik von Botho Strauß’ Prosaband »Wohnen Dämmern Lügen« und dem Schauspiel »Ithaka«, Würzburg 2000. 16 | Die Überblendung von vergangenen Zukünften und künftigen Vergangenheiten findet sich als narratologische Technik bereits in den Romanen Ernst Jüngers. Vgl. Peter Uwe Hohendahl, Erfundene Welten, München 2014.

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lichen ›Wesenheiten‹, kurz: all jene Mythen, Märchen und Erzählungen, die zu entbergen der Romanheld Leon Pracht einst aufgebrochen war und die er auf dem Theater vergeblich gesucht hatte. Im »Turm der Deutschen«, um es auf eine Formel zu bringen, präfiguriert der Roman seine mögliche Lösung. Denn wenn es gelänge, diesen Mythenschatz zu heben und seine Semantisierungsenergien in die »gleichgültige« Gesellschaft zurückfließen zu lassen, dann bestünde Aussicht, die chronisch leere »Zeit Zeit Zeit« der Moderne zu überwinden und das »Leben« in den »durchsichtige[n] Raum der geordneten Bedeutungen« (DJM, 32) zurückzustellen. Im Fall der »Kauffrau« scheint die symbolische Neutaufe, die selbstredend keine christliche ist, zu gelingen. In einem unförmigen »Aquarium« trifft die schöne Seele zunächst auf den gespenstischen Besitzer des »Turms«, ein monströses Mischwesen aus »Fischkopf« und Halbgott: »Jawohl, bis zu den Backenknochen war es Mensch; darunter aber krümmte sich das mißlaunige Maul eines feisten Hünenkarpfens.« (DJM, 85) In immer neuen Wendungen und mit vitalistischem Tremolo beschreibt der Roman das Ursprungsmaul als mythisches »Zwitterding« (DJM, 90), als demiurgische Mischung aus Kronos und Zeus, aus Zeit, Macht und Leben. Das »Maul«, so heißt es, gebietet über die »Ströme des Lebens« (DJM, 83), dessen Phänomene es sowohl stiftet wie auch mit Sinn belehnt.17 Warum das »Haupt«, das alle nur »den Deutschen« (DJM, 84) nennen, als »Stifter« von Zeit, Sein und Sprache verehrt wird, dieses Rätsel löst sich, sobald man zwei Selbstaussagen des Monstrums miteinander verschränkt: Zum einen seinen von Donnerhall begleiteten Ruf »Ich zeite« (DJM, 91); zum anderen die Einlassung: »Ich bin das Wesen aller Deutschen […], keiner denkt deutsch ohne mich« (DJM, 90). Das Ursprungswesen »zeitigt« mithin nicht nur die Zeitlichkeit, sondern besitzt auch die Gabe, die physikalische Zeit mit Sinn zu fusionieren. Das »Maul«, und auf diese Mystifizierung kommt es an, semantisiert die Zeit, es »stiftet« die ursprüngliche Synthesis von Zeit und Sprache. So wie Strauß die Geschichte nun weiter erzählt, lässt er keinen Zweifel daran, dass die organische Einheit aus Sprache und Zeit die Dekadenzepoche der demokratischen Moderne unbeschadet überdauert hat, denn was »ursprünglich« vor aller Geschichte ist, das kann auch in der Geschichte nicht verlorengehen. Unverlierbar, wenngleich in verdinglichter Gestalt, liegt das geheime Deutschland, der mythische deutsche Sinn von Zeit, im Niemandsland der untergehenden Moderne vergraben, und sogar sein politischer Körper, das alte »Reich«, ist in Umrissen noch zu erkennen. Oder, wie es auch hier in 17 | Ganz anders Sigrid Berka. Sie sieht in dem »Kopfungetüm« (DJM, 85) ein »allegorisches Zeugnis für den Januscharakter deutscher Faschismusbewältigung«. Heideggers »Monstrosität« erlebe im »gesitteten Monstrum« von Strauß eine Wiederauferstehung. Vgl. Sigrid Berka, Mythos-Theorie und Allegorik bei Botho Strauß, S. 140.

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ironischer Brechung heißt: »Es schwebt ein Haupt in tiefer Erde/Es ordnet das Reich, es gründet den Dom/Schon ragen die Türme, es streben die Brücken/ Weit über Land legt sich der Arm/Eiserner Arm der Einigkeit […] Sonne, zerspringe! Äther, verglühe!/Deutsche Erde, ewig erblühe!« (DJM, 90f.) Es ist also nur folgerichtig, wenn der Roman die Rückkehr der »Kauffrau« ins deutsche Eigene organisiert und eine obszöne semiotische Säuberung beschreibt, bei der die Heldin »entkleidet« und bis auf die Haut desymbolisiert wird.18 Eine »Bestie«19 überfällt die Auserwählte und versetzt sie in ›lichtende‹ Angst, um sie – im Gegensatz zur seinsvergessenen Schlangengesellschaftsdemokratie – mit der Grenzerfahrung von Leben und Tod zu konfrontieren. Dabei legt der Erzähler Wert auf die Feststellung, die existenzielle Panik komme ursächlich aus dem Opfer selbst, das heißt das namenlose Erschrecken der »Kauffrau« vor dem Untier müsse als Erschrecken über das monströs verdrängte Eigene verstanden werden, als Horror vor der jähen »Unverborgenheit« ihrer entfremdeten Existenz.20 »Sie suchte, von panischer Beschämung getrieben, der eigenen Unverborgenheit zu entfliehen.« (DJM, 95)21 18 | In einem ontologisierenden Verständnis des »Heiligen«, zum Beispiel in Nachfolge Rudolf Ottos, bezeichnen Entsetzen und Schrecken Erscheinungen des geschichtlich Numinosen. Das »Heilige« ist darin nicht vor der Zeit, sondern am »Ursprung« der Zeit. Rudolf Otto, Das Heilige, München 1936, S. 53-55. – Zum Motiv der gnostischen Reinigung der Seele im »Wald« des Ursprungs vgl. Ernst Jünger: Der Wald ist »das große Totenhaus, der Sitz vernichtender Gefahr. Es ist die Aufgabe des Seelenführers, den von ihm Geführten an der Hand dorthin zu leiten, damit er die Furcht verliert. Er läßt ihn symbolisch sterben und auferstehen. Hart an der Vernichtung liegt der Triumph.« Ernst Jünger, Der Waldgang, GW Bd. 7, S. 329. 19 | In Heideggers Studie Hölderlins Hymnen findet sich eine Figur, die für die Strauß’sche Bestie Pate gestanden haben könnte: »Er ist das Ja des wildesten, im zeugerischen Drang unerschöpfbaren Lebens, und er ist das Nein des furchtbarsten Todes der Zernichtung. Er ist die zauberische Berückung und das Grauen eines wirren Entsetzens. Er ist das Eine, indem er das Andere ist […] Anwesend west dieser Halbgott ab, und abwesend west er an.« Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen, GA Bd. 39, S. 189. – Zum lebensphilosophischen Motiv einer tragisch-kathartischen Todeserfahrung bei Strauß vgl. Nadja Thomas, »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 177ff. 20 | Die zweite gnostisch eingefärbte Behauptung dieser Passage lautet, die Heldin sei der Seinsmacht immer schon verschuldet gewesen, und zwar in einem existenziellen, nicht in einem ethischen Sinn. Diese Urschuld hat sie in der seinsvergessenen Bundesrepublik – vergessen, weshalb die Heldin ihre Wiedergeburt nicht selbst in die Hand nehmen, sondern nur als gründendes Ereignis erwarten kann, eben als eine von außen kommende Wieder-Holung durch »Ursprungsmächte«. 21 | In Heidegger’scher Begrifflichkeit gesagt: »In der hellen Nacht des Nichts der Angst entsteht erst die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es

V. »Der junge Mann«

Auch wenn die Szene ins Groteske umschlägt, so verbucht der Roman mit spürbarer Genugtuung die traumatische Erfahrung des Realen als Wiederherstellung »ursprünglicher« Weltlosigkeit, als unvermeidliche Reinigung der gnostischen Seele von den sinnlosen Wörtern der modernen Welt. Die dekadenten Einschreibungen der »Schlangengesellschaft« werden gelöscht, und an Leib und Seele regermanisiert erwacht die Bankkauffrau zu neuer geschichtlicher Unschuld und Selbstseinkönnen.22 Existenziell neu begründet, lässt sie den Nihilismus der Bundesrepublik hinter sich, sie wird wieder entscheidungs- und ›schicksalsfähig‹, gewinnt die Kraft zum Handeln zurück und erinnert sich an ihren Gründungsauftrag. »Und indem sich der Leuchtkranz des Schädels bläulich verfärbte und in den sandigen Boden verfloß, sprang krachend das Wort hervor: ›Gründe!‹« (DJM, 101)23

Seiendes ist und nicht nichts.« Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1987, S. 34f. – Bezeichnend ist die Nähe zu Heideggers Initiationsbegriff, also der Vorstellung, erst der gewaltsame Durchgang durch das »Namenlose« verhelfe dem Subjekt zur Erfahrung des »Eigentlichen«: »Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. Er muß in gleicher Weise sowohl die Verführung durch die Öffentlichkeit als auch die Ohnmacht des Privaten erkennen. Der Mensch muß, bevor er spricht, sich erst vom Sein ansprechen lassen, auf die Gefahr, daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt.« Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1981, S. 10f. Zu den politischen Implikationen dieser gnostischen Weltsicht vgl. Micha Brumlik, Die Gnostiker, Frankfurt a.M. 1992, S. 317. 22 | Auch Martin Walser bezieht in seinem Roman Ein springender Brunnen entscheidende Impulse aus einem seinsgeschichtlichen (und eben nicht moralischen) Verständnis individueller ›Anrufung‹. Angerufen wird der Held Johann nicht vom leidenden Nächsten, sondern von der Stimme des reinen Lebens. Daraus leitet er das Recht ab, von der ›infektiösen‹ Angst der Auschwitz-Überlebenden verschont zu bleiben. Vgl. Martin Walser, Ein springender Brunnen, Frankfurt a.M. 1998, S. 388, 393 und 401. – Zur »DeMoralisierung« des Gewissens aus dem Geist Heideggers vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 418ff. 23 | Nach dem muttersprachlichen rite de passage trägt die Welt, wenngleich in ironischer Verstellung, Züge der alt(reichs)deutschen Namensordnung. Die wiedergeborene Heldin verlässt ihr babylonisches Sprachgefängnis und verliebt sich in den Bauherrn Wolf-Dieter Gründe (!), in dessen Gesichtszügen sie »das Haupt der Deutschen« wiedererkennt. Der »Bauherr« wird in der ruinierten bundesrepublikanischen Landschaft ebenfalls einen Turm der Deutschen errichten (DJM, 102). – Sigrid Berka dagegen erkennt im »Bauherrn« einen Wiedergänger des Grundbesitzers Leonardo aus Goethes Wanderjahren. Vgl. Sigrid Berka, Mythos-Theorie und Allegorik bei Botho Strauß, S. 145.

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Es liegt in der gnostischen Logik der Szene, dass nur ein erlösungsfähiges Einzelsubjekt gerettet werden kann, nicht aber die Romangesellschaft im Ganzen. Um den »massendemokratischen« Nihilismus der »Schlangengesellschaft« zu überwinden, bedürfte es nämlich eines seinsgeschichtlichen Ereignisses, dessen Größe und Gewalt auszumalen sich die ästhetische Fiktion in Ehrfurcht vor dem Unausdenkbaren offenbar versagt. Dass der Roman sich stattdessen auf die pagane Erlösung der »Bankkauffrau« beschränkt, bedeutet also nicht, dass er die geschichtliche Hoffnung auf ein rettendes Ereignis preisgibt. Bezeichnenderweise ist es die »arme Ironie« (DJM, 176), die darauf beharrt, dass das Ende der erzählten Handlung (die Ankunft des Helden in Ossias Kino-Turm) keineswegs die Schlussvision des Romans darstellt, sondern nur den letzten Akt seiner Handlung. Denn während Leon Pracht noch – wie vor ihm Wilhelm Meister – sein Schicksal in stiller Ergebenheit zu bejahen scheint, wendet sich die Ironie des Romans kritisch gegen sich selbst, sie streut Zweifel an der Schlussnarration und scheint den Leser aufzufordern, sich an der Kette der Ereignisse zurückzutasten, also von Ossias technologisch avanciertem Kino-Turm rückwärts in den »Turm der Deutschen«, den Speicherort des verborgenen mythischen Sinns. Das aber ist erstaunlich. Denn nachdem die ironische Konstruktion des »Romantische[n]ReflexionsRoman[s]« (DJM, 15) in scheinbar heiterer Ratlosigkeit bislang jeden, aber auch jeden Sinn dekonstruktiv unterminiert hatte, eröffnet sie nun hyperfiktional die Möglichkeit, die »Turmszene« als potenziellen Ort der Wahrheit auszuzeichnen, als Ort einer anderen, wieder mythischen Zeit. So bildet das »Wald«-Kapitel das innere »Außen« der Erzählung und eröffnet im buchstäblichen Sinn des Wortes eine »Lichtung« im ironischen Spiel leerer Unterscheidungen und endloser Substitutionen.24 Mit dieser Wendung verliert der Roman den Charakter postmoderner Endgültigkeit – in dekomponierter Gestalt, so versichert Der junge Mann dem Leser, ist der Mythos »da« und führt im Modus reiner Potenz ein Gespräch mit sich selbst als Zeichen seiner verborgenen Anwesenheit.25 24 | Dass sich Strauß damit von der bürgerlichen Tradition des Bildungsromans abwendet und gegen das Individuationsprinzip auf die Traditionslinie Nietzsches einschwenkt, vor allem auf seine Tragödientheorie, ist die gut belegte These in Franziska Schößlers Aufsatz »Die Aufhebung des Bildungsromans aus dem Geist Nietzsches. Zu Botho Strauß’ Roman Der junge Mann«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 53 (2003), Heft 1, S. 75-93. 25 | Heideggers entscheidende Bestimmung, die gleichsam das Motto des Romans abgeben könnte, lautet: »Es bleibt bei der Verborgenheit des Seins, so zwar, daß diese Verborgenheit sich in sich selbst verbirgt. Das Ausbleiben des Seins ist das Sein selbst als dieses Ausbleiben. Das Sein ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt überdies noch aus, sondern: Das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Sein selbst. Im Ausbleiben verhüllt sich dieses mit sich selbst.« Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 2,

V. »Der junge Mann«

Wenn dies zutrifft, wenn die »arme Ironie« die narrative Geschlossenheit des Werks sprengt und sein negatives, eben nur ironisches Selbstverhältnis aufkündigt, dann bildet die postmoderne Textur nicht länger das Formprinzip des Romans, sondern nur noch das Formprinzip der darin erzählten Geschichte. Diese Selbstzurücknahme macht allerdings die forschungsübliche Behauptung, Ironie sei die Generalreferenz des Romans, korrekturbedürftig. »Arm« nennt Strauß die Ironie, weil sie aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, ihren Gegenstand zu erzeugen – als »König ohne Land«26 verhält sie sich parasitär zum vorgängigen Sinn, denn ohne diesen Sinn gäbe es nichts, was Ironie zu ironisieren vermöchte. In einer unaufhaltsam selbstdestruktiven Bewegung (und darin vergleichbar mit der sich selbst kannibalisierenden »Gesellschaftsschlange«) negiert die Ironie alles Nichtironische und am Ende sogar sich selbst. Nichts also spricht dagegen, die ironische Entzauberung der Ironie auf das Negativbild der vom Roman entworfenen Moderne insgesamt zu übertragen. Demnach verhielte auch sie sich parasitär zum Symbolischen, und wie die »arme Ironie« ist sie unfähig, ihre kulturellen Bestandsvoraussetzungen zu sichern. Allein der »Turm« markiert eine letzte außermoderne, der Ironie vorgängige Enklave – den Ort der bevorstehenden »deutschen« Wahrheit, des unausdenkbaren »Ganzen« nach dem ontologischen Umsturz der ereignislosen »Zeit Zeit Zeit«.

Pfullingen 1989, S. 353. Anders gesagt: Die Metaphysik der Moderne muss erst durch die ästhetische Einbildungskraft zerstört werden, um ihren Makel, die »Notlosigkeit«, sichtbar zur machen. Nach der ästhetischen Destruktion der »Notlosigkeit« zeigt sich die wahre Not: »die Verlassenheit des Seienden vom Sein«. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA Bd. 65, Frankfurt a.M. 1989, S. 429. – Zur poetologischen Verschiebung vom »Negative[n] ins Positive« und zum Strauß’schen Versuch, der »Abwesenheit von Referenz die Anwesenheit des poetischen Wortes entgegenzuhalten«, vgl. Pia-Maria Funke, Über das Höhere in der Literatur. Ein Versuch zur Ästhetik von Botho Strauß, Würzburg 1996, S. 73f. 26 | Michael Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, Freiburg 1958, S. 175. – Ironie, so Kierkegaard, kann das Symbolische nur konsumieren, nicht aber regenerieren, denn sie bezeichnet etwas Abgeleitetes und Sekundäres, das die Voraussetzung seiner Wirkung nicht aus sich selbst zu produzieren vermag. Ironie bedarf eines Referenzpunktes außerhalb ihrer selbst, oder bezogen auf den Jungen Mann: Sie bedarf des im »Turm« gespeicherten Sinns. Aus der Einsicht in die Heteronomie von Ironie folgt für Kierkegaard deren ethische Wende: Die Ironie vollzieht nun »eine Bewegung, welche die Umkehrung derjenigen ist, in welcher sie unbeherrscht ihr Leben bekundet. Die Ironie setzt Schranken, verendlicht, begrenzt, und gewährt damit Wahrheit, Wirklichkeit, Inhalt.« Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, Frankfurt a.M. 1976, S. 319.

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Das lässt sich auch kritischer formulieren. Durch die Totaldenunziation der Moderne als nihilistische Schlange und Gestalt gewordene »Vergötzung der Gesellschaftsherrschaft« (DJM, 213) erzeugt Der junge Mann eine Nachfrage nach Sinn, die er durch die Suggestion einer Wiederkehr mythischer Zeit zu befriedigen sucht. Mit dieser Überbietungsfigur erklärt er die »Zeit Zeit Zeit« der (bundesrepublikanischen) Moderne zum unwahren (ontischen) Vordergrund eines (ontologisch) hintergründigen Geschehens und integriert sie in den überhistorischen Zyklus einer sich ereignishaft entbergenden Seinsgeschichte, deren erlösender Sinn nicht erzählt, sondern nur im ästhetisch erzeugten Schmerz des Mangels »anwesend« werden kann.27 Allein die Kunst des Romans, so scheint Strauß zu glauben, hält im Herrschaftsbereich des modernen Weltbildes den Denk-Raum des Mythos offen und bringt sein Fehlen – als negative Form seiner Entbergung – zur Präsenz. Zugleich bezeichnet dieses Offenhalten die imaginative Grenze jeder Literatur. In Demut vor dem unerzählbaren Ereignis darf sie seine künftige Wiederkehr nur andächtig erwarten, nicht aber in den Bildern der dekadenten ironischen Moderne ausmalen.28

27 | Für den möglichen Übergang vom logozentrischen ins ikonozentrische Weltalter steht der Regisseur und Komiker Ossia, der frühere Lehrer des Helden. Er »verkörpert« ein gnostisches Fünkchen »Wahrheit« (er ist der »Funkenkundige«, DJM, 369), aber diese Wahrheit ist invertiert und unkenntlich geworden. Gegen die ubiquitäre Seinsvergessenheit polstert er sich wie Penelope, er ist ein »fettleibiges Monster«, eine »gefräßige Ruine«. Gleichzeitig aber ist er ein lebender Konjunktiv, also reine Potenzialität: »Eine Art Howard Hughes des Pläne-Reichtums […], gebietend über ein geisterhaftes Imperium von Ideen und Entwürfen, Treatments, Gags und Storyboards […]. Der Künstler war eins geworden mit dem Schweigen der ungeformten Materie: Pläne, nichts als Pläne.« (DJM, 351) Nicht zufällig nennt der Erzähler ihn den »Romantiker der elektronischen Revolution« (DJM, 369), das heißt: Ossia ist der Erwählte, der die Selbstüberbietung der Moderne mit Hilfe ihrer Visualisierungsmedien in Gang bringen könnte. – Vgl. zum Komplex der hypermodernen Transformation: Marieke Krajenbrink, »›Romantiker der elektronischen Revolution‹? Zur Verwendung romantischer Elemente in Botho Strauß’ Der junge Mann«. 28 | Anders gesagt: Den verborgenen mythischen Sinn des Deutschen zu entbergen ist das Ziel des notgedrungen ironischen Prosawerks Der junge Mann. Notgedrungen deshalb, weil ein Schriftsteller sich der hegemonialen Stilform seiner Epoche nicht entziehen kann – Ironie ist, wie schon im Drama Ithaka, der fällige Tribut an die Moderne und das trojanisches Pferd der Wahrheit. Ironie wiederholt den falschen Zauber der ironischen Moderne, um ihn zu brechen.

Kurze Zwischenbetrachtung »Spätkapitalistische« Gesellschaften wie die Bundesrepublik, so beobachtet der Theaterkritiker Botho Strauß Ende der sechziger Jahre, kennzeichnet ein merkwürdiger Widerspruch. Auf der einen Seite wachsen die Spielräume faktischer Freiheit, die Möglichkeiten von Selbstverwirklichung und Emanzipation; auf der anderen Seite konsumieren spätkapitalistisch formierte Gesellschaften jene Sinnressourcen, mit deren Hilfe sich der Realisierungsgehalt ihrer Freiheit überhaupt erst bestimmen lässt. Im Gegensatz zu neomarxistischen Zeitdiagnosen verstand der Theaterkritiker die paradoxe Gleichzeitigkeit von politischer Emanzipation und kultureller Neutralisierung indes nicht als Folge einer ökonomisch verursachten Entfremdung, sondern als Folge einer medialen »Exkommunikation« von kulturellem Sinn. Dieser Verlust an Bildern, Metaphern und Erzählungen bleibt allerdings kollektiv unbemerkt; er entzieht sich dem gesellschaftlichen Begreifen und kann im eigenen Medium nicht noch einmal kritisch thematisiert werden. Aus diesem Grund zeigen sich für Strauß Sinnkrisen nicht direkt, sondern vermittelt. Sie zeigen sich im »Leiden an Unbestimmtheit«, in einer Rationalität ohne Glück und einer Freiheit ohne Motiv; sie zeigen sich in chronischer Sprachnot und »tiefer« Enttäuschung. Eine Ausnahme bildet nur das Theater. Allein im Freiraum des Ästhetischen, in der leiblichen Präsenz sprechender Körper, kommt die gesellschaftliche Sprachlosigkeit »zur Sprache«; nur das theatrale Spiel, glaubt Strauß, repräsentiert die Krise der Repräsentation und enthüllt in einer Dramatik des Unsichtbaren jenen »spätkapitalistischen« Konsum von »Symbolwerten«, in deren Licht der Einzelne sich deutend auf sein Leben bezieht, auf die Konditionen der Endlichkeit, auf Liebe und Selbstsein, Vergänglichkeit und Tod. Kein wahres Leben in falschen Metaphern. Der spätere Theater- und Prosa-Autor, so hatte sich gezeigt, schreibt die analytische Passion des jungen Kritikers fort. Auch der Schriftsteller Botho Strauß betreibt Gesellschaftskritik als Diskurskritik, und auch er versteht Theater und Literatur als Aufklärung: Performativ, im fiktiven Leben der Charaktere, führen sie dem Publikum die gewaltlose Gewalt gesellschaftlicher Sprachformen vor Augen und machen ihn zum Zeugen der schicksalhaften Abhängigkeit des Einzelnen von der diskursiven Verfassung des Sozialen. »Wenn das Meer der

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Worte sinkt, gehen auch mir die Worte aus« (NA, 128). Dass das In-der-WeltSein des Subjekts in der Sprache gründet – diese Grundidee motiviert auch die ästhetische Strategie des frühen Werks, das Arrangement der Stücke und Erzählungen. Strauß macht seine Figuren zu unfreien Freien und interniert sie, wie das Personal in Die Hypochonder, in das Gefängnis ihrer Sprachformen. In seinem Debütstück säubert eine niederländische Forschergruppe die Alltagssprache von »undeutlichen« metaphysischen Metaphern und ersetzt sie durch funktionale »Dingworte«. Doch wie zu erwarten, verfehlt die wissenschaftliche Desinfektion der Sprache ihre humanisierende Wirkung; die Forscher zerstören in der Sprache jene ethische »Grammatik«, die allen Figuren das gleiche Recht auf Anerkennung zukommen lässt. Die Folgen sind mörderisch, der Einzelne ist nun kein Subjekt mehr, sondern ein »Etwas«, ein Ding unter Dingen. Auch wenn Strauß rasch Abstand nimmt vom hermetischen Intellektualismus seines Erstlings, auch wenn er die dramatische Handlung fortan geschmeidiger und realistischer macht, so hat er mit der Kolonialisierung der Alltagssprache eine suggestive ästhetische Technik gefunden, um seine Charaktere als Symptom einer Entfremdung zu entwerfen, die sie im Medium ihrer Sprache zugleich betreiben wie auch erleiden. In einem Akt der Landnahme besetzen die »Sprachen« von Öffentlichkeit und Geld, Recht und Wissen das »indigene« symbolische Feld; die unsichtbaren Invasoren konfiszieren tradierte Selbstbeschreibungen und Weltdeutungen, sie machen Worte stumpf und bringen die Figuren »um den Sinn«. Mal ist es die Monetarisierung der Alltagssprache (»Kläuschen« in der Trilogie des Wiedersehens), mal die Medialisierung des Sozialen (die Journalistinnen Kattrin und Meret in Kalldewey, Farce) oder die Verrechtlichung erotischer Metaphern (Georg in Der Park), die das symbolische Gedächtnis der Sprache überschreiben und in den Kommunikationen ein »rasende[s] Vergessen« (Die Hypochonder) auslösen, eine kulturelle Amnesie, die die Elementardifferenz von »gutem Leben« und »bloßem Leben« auflöst und das Gattungsprädikat des Menschen, sein sprachgebildetes Bewusstsein, »in Abrede« stellt. Strauß skandalisiert nicht nur die diskursive Landnahme durch die »Semantik« von Wirtschaft, Medien, Wissen und Recht; er skandalisiert ebenso die Überdehnung von Autonomie und eine säkularistisch überschießende Aufklärung. Überdehnung heißt in seinen frühen Stücken und Erzählungen: Die Figuren missverstehen ihren Autonomieanspruch als Herrschaftsanspruch über die Sprache und erheben Anspruch auf Verfügung über das Unverfügbare. »Laß sie doch reden was sie will. Sind doch ihre Wörter. Kann sie doch machen mit was sie will.« (TS II, 21) Das gilt erst recht für religiöse Weltdeutungen und metaphysische Reflexionsbegriffe. Sie werden, wie Lottes Klage in Groß und klein zeigt, nicht produktiv entbunden, sondern systematisch »entkernt« und vergleichgültigt,

Kurze Zwischenbetrachtung

ohne dass Strauß seinen Charakteren ein nachmetaphysisches Äquivalent für die komplexe Struktur religiöser Welterschließungen zur Verfügung stellte. Ohne die überlieferten Interpretamente zur Deutung von Endlichkeit und Frist entstehen Vakanzen und imaginative Leerstellen, die zwanghaft durch Ersatzmetaphysiken und säkularisierte Heilsversprechen neu besetzt werden. »Am besten soll ja Kabbala sein, um geistig fit zu bleiben.« (TS II, 308) Als erfolgreichstes Surrogat für verlorengegangene Glaubensgewissheiten etabliert Strauß die Semantik der Sexualität. »Du redest hier die ganze Zeit über deinen Sex und merkst es gar nicht!« (TS I, 480) Mit seiner Universalisierung verliert der »Sex« sein transzendierendes Moment; er ist, wie in Kalldewey, Farce, scheinsubversiv und entschärft die erotische Überschreitung in gläubigen Konformismus. Sex ist die Farce der Metaphysik und sichert die Einheit der Sprechakte in einer Gesellschaft fragmentierter »In-di-vi-du-al-i-tät« (TS II, 421). Wie sich gezeigt hat, verschwinden die diskriminierten »alteuropäischen« Wortbedeutungen nicht einfach, sondern werden zombiehaft und geistern durch den kommunikativen Raum. Bereits in seinem Erstling Die Hypochonder zirkulieren ›untote Wörter‹ in zentrifugalen Bewegungen über die Bühne, sie beginnen als ›Quatschwörter‹ agrammatisch zu plappern1 und entfernen sich als Nonsens von den sprachlos Sprechenden. Erfahrungslosigkeit wird nun zur zentralen Erfahrung; die Selbstverschließung der Wörter (»nichts als Wörter«) macht den Weltsinn unverständlich und beschädigt die Integrität des Subjekts. In Marlenes Schwester misslingt der Heldin die Alphabetisierung des Körpers zum geliebten Leib, und in Groß und klein zerfallen die Eigennamen in grammatische Partikel. »Lotte.« – »Lotti?!« – »Nein. Lotte.« […] »Nied-schläger. Nied wie niedlich« – »Oh, das ist ein ganz anderer Name« […] »Entschuldigen Sie die Störung … Ich bin Lotti, äh Lotte –.« (TS I, 455-457) »Auf der Flucht« ist die Sprache bei Strauß allerdings nicht nur, weil ihre Bedeutungssubstanz säkularisiert, kommerzialisiert oder medial konsumiert wird; die Wörter bleiben den Sprechenden auch deshalb fremd, weil das »Deutsch der Deutschen« vom Nationalsozialismus bis in seine romantischen Tiefenschichten »verwundet«, moralisch diskreditiert und mit Negativität durchsetzt wurde. Stellvertretend für das Leiden an der faschistischen Infektion von »Mutter Sprache« steht der Buchhändler Richard Schroubek (Die Widmung), der in eine symbolische Hölle hineingeboren wird, in eine lebensfeindliche, mit Weltverneinung geschlagene und durch Hass und Schuld, Tod und Vernichtung zerstörte Sprache. Auch der Roman Rumor beklagt die historische Versehrtheit des Deutschen, aber über die erste Traumatisierung legt sich mit auffallend anglophoben Untertönen eine zweite: Die binären Kodes der westli1 | Die früheste Formel für die Selbstverschließung der Sprache (»Plappern«) findet sich in Die Hypochonder (TS I, 13).

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chen Informationsökonomie überschreiben die unversehrten Bedeutungsreste im »Deutsch der Deutschen« und konvertieren lebendige Metaphern in tote »Information«. Das mentale Regime der »Sieger« saugt die kreativen Energien aus der Sprache heraus; wie ein Fluch liegt in Rumor das seelenlose amerikanische Imperium über den Trümmern des kulturell »Eigenen« und unterwirft ein zweites Mal die besiegte Nation. Der Roman Der junge Mann und das Drama Ithaka markieren eine entscheidende Zäsur. Mit ihnen gibt Strauß seine originelle, an der mikrologischen Analyse »spätkapitalistischer« Sprachformen interessierte Gegenwartsbeschreibung auf und verschiebt den Fokus von Sprach- auf Systemkritik, das heißt: Er richtet sein Beschreibungsinteresse nicht mehr allein auf die Tragik einer symbolisch leeren Freiheit; er richtet sein Interesse nun auf die Struktur der Moderne im Ganzen. Während die frühen Stücke und Erzählungen Subjektkrisen als Folge einer semantischen Verarmung der Alltagsrede in Szene setzen, erscheint die Moderne nun insgesamt als Pathologie und verliert ihren Status als Epoche eigenen Rechts. Nicht die Sprach-, sondern die Gesellschaftsform kommt nun in den Blick, und auch ein intrikater nationalreligiöser Zungenschlag ist nicht mehr zu überhören. Im Jungen Mann versinken die bundesdeutschen »Wohlstandswelten« im Schutt der Postzivilisation; die nihilistische »Schlange« der Moderne löst die Ordnung der »königlichen« Namen auf und zersetzt den Körper des Staates. Und während die Heldin in Groß und klein die Wahrheit – den (Gottes‑)Text – noch in der Geschichte suchte, so sucht der Junge Mann die Wahrheit vor der Geschichte, und diese Wahrheit ist auch kein Text, sondern ein mythisches Anonym, das nur ästhetisch umkreist und in spekulativer Demut als ein von außen hereinbrechendes Ereignis erwartet werden darf. Der Wechsel des Analyserahmens von einer intern ansetzenden Modernekritik zu einer Moderneverwerfung gibt den folgenden Kapiteln die Fragen vor. Wie lässt sich die »Kehre« von Strauß I zu Strauß II beschreiben, und was setzt der Autor mit dieser Kehre ästhetisch und politisch aufs Spiel? In welchem Spannungsverhältnis stehen die politischen Zeitdiagnosen des Intellektuellen und die ästhetischen Beschreibungen des Schriftstellers Strauß? Welche poetologischen Strategien verfolgt er, und wie positioniert er die »Wahrheit« der Kunstreligion im Feld des Politischen? Anders gefragt: Geht es Strauß reformistisch um die Regeneration der »ausgesprochenen« Sprache – oder revolutionär um »eine revelatische Befreiung des Menschen […], ein Zerreißen all der Texte und Texturen, in die er sein Herz und sein Antlitz gehüllt hat« (AW, 51)? Kurz gesagt: Hält es Strauß mit Hans in Kalldewey, Farce (»Rettet die Be-

Kurze Zwischenbetrachtung

stände!«),2 oder hält er es mit Titania im Schauspiel Der Park: »Nur ein Gott kann uns retten« (TS II, 164)?

2 | In den Schlussvarianten von Kalldewey, Farce spielt Strauß wohl zum ersten Mal mit dem Gedanken, seine an Diskursformen interessierte Modernekritik zu einer Moderneverwerfung zu totalisieren. Die Varianten stehen in enger Beziehung zu der Zwischenszene, in der sich Lynn und Hans nach Jahren der vom ›Gott‹ Kalldewey (»den habt ihr doch frag nicht wie vergöttert«, TS II, 45) ausgelösten Trennung wiedersehen. Strauß bringt die Rede auf die symbolische »Lücke« in der Natur, die den Menschen bei Strafe des Sinnverlustes zur metaphysischen Selbstdeutung zwingt (in Beginnlosigkeit spricht Strauß von einer »theozoologischen Lücke«; B, 83). Hans: »Komm her. Ich will dir etwas zeigen. Hier oben im Berg, da gibt es eine Stelle, die ich oft besuche. Ich denke: es ist ’ne Lücke in der Natur der Dinge –« (TS II, 45). Wie in Groß und klein lautet auch hier der Vorwurf, die Gegenwart habe das »Buch des Lebens« unlesbar gemacht, und nun müsse man retten, was zu retten ist. Hans ruft durch den Vorhangschlitz ins Publikum: »Los, los, ihr Überlebenskünstler! Nehmt euch,/was ihr gebrauchen und erhalten könnt!/ Schafft und schleppt euch ab, überliefert/was noch zu überliefern ist […] Und was da fällt und abgetan wird,/fangt alles auf, bewahrt es gut,/denn dies Finale muß noch lange halten.« (TS II, 47) In der ersten Textvariante zeigt Strauß die Szene als Theater im Theater, bei dem den Spielern die Sinnstiftung aus eigener Kraft gelingen könnte. Ganz anders im alternativen Schluss. Hier kommt die symbolische Transzendenz nicht von innen, sondern von außen. Zwar ertönt Mozarts Zauberflöte, aber die Perspektive verdüstert sich zu der unhörbaren Frage, ob es nicht einer Destruktion von außen bedarf, eines ganz neuen Anfangs. Die Entscheidung bleibt in der Schwebe.

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Dritter Teil Dichtung als Religion

I. Grundzüge einer sakralen Poetik Alle negativistisch verschärften Gegenwartsbeschreibungen laufen Gefahr, sich in einem doppelten Widerspruch zu verfangen: Zum einen wird mit der Behauptung einer vollständig bedeutungslosen Welt auch die Klage über diese Welt bedeutungslos; zum anderen stellt sich die Frage, welche Wahrheit ästhetisch noch beglaubigt werden kann, wenn es angeblich keine Bilder des richtigen, sondern nur noch Bilder des falschen Lebens gibt. Dieser Schwierigkeit entgeht auch Botho Strauß nicht. Angesichts einer dramatisch verdunkelten Zeitdiagnose steht er vor der Alternative, seine Kritik an symbolischer Neutralisierung ohne Hoffnung auf einen dialektischen Umschlag1 in einer »Ästhetik der Endzeit«2 zu kultivieren – oder aber zu beweisen, dass die Kunst sehr wohl einen verschütteten kulturellen Sinn ins Spiel bringen und gegen die These vom »Tod der Sprache« behaupten kann. Strauß entscheidet sich für die zweite Möglichkeit und unternimmt in seinen poetologischen Überlegungen den Versuch, gleichsam »im Falschen« einer medial verdorbenen Rede einen »primären« Wahrheitsbezug von Literatur auszuweisen, einen souveränen und unkorrumpierten ästhetischen Sinn. Dieses Programm wirft allerdings die repräsentationslogisch heikle Frage nach dem Ort des »Primären« auf: Wo wäre er aufzufinden, und worin bestünde seine »Wahrheit«? Zeigt sich der verborgene Sinn bereits in der ästhetischen Neu-Konfiguration medial »verbrauchter« Wörter? Ist es ein anderer oder ist es ein ursprünglicher Sinn? Die Antworten, die Strauß auf diese Fragen gibt, klingen zunächst ausnehmend vage, aber sie gewinnen deutlich Kontur in der Auseinandersetzung mit seinem Hauptgegner, dem Poststrukturalismus. Strauß bekämpft in ihm eine Denkschule, die die Repräsentierbarkeit von Wahrheit bestreitet und in seinen Augen die Literatur zum dekorativen Spiel austauschbarer Zeichen herunterdefiniert.3 Implizit weist Strauß auch 1 | »Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!« (PP, 115) 2 | Vgl. Gerhard vom Hofe/Peter Pfaff, »Botho Strauß und die Poetik der Endzeit«, in: dies., Das Elend des Polyphem, Königstein/TS, 1980, S. 109-131. 3 | Vgl. dazu Andreas Englhart, Im Labyrinth des unendlichen Textes, S. 21ff. und S. 78.

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Adornos Negativitätsästhetik zurück, genauso alle analytisch-kritischen Annäherungen an Literatur. »Jede Art von sondernder Beschreibung wirkt am Unheil der Zerstreuung und der Überinformation mit […]. Wir haben zu lange vom Reichtum der Differenz gelebt.« (PP, 114) Literatur bedürfe nicht länger »der Kräfte des Chaos« (PP, 119), sondern der sinnstiftenden Macht ästhetischer Synthesis.4 Strauß belässt es allerdings nicht bei protestierenden Randbemerkungen gegen den akademisch mächtigen Gegner; er versucht vielmehr, die poststrukturalistische Prämisse von der Unentscheidbarkeit ästhetischer Wahrheit zu unterlaufen und gleichsam auf den Kopf zu stellen. Wahrheit, so lautet sein ceterum censeo, ist keine hermeneutische Fiktion; sie erscheint vielmehr dort, wo sie im Text gar nicht zu sehen ist – Wahrheit ist anwesend durch ihre Abwesenheit und bestimmt durch ihre Unbestimmtheit. Um dieses repräsentationslogische Paradox verständlich zu machen, erfindet Strauß in seinen Notaten Paare, Passanten einen leidenschaftlichen Leser (»Er«), der in einem »Buch das Wichtigste [liest], was er je zu lesen bekommen hatte«. Noch ehe »Er« die Lektüre beenden kann, »fiel die Dämmerung herein […], und er kämpfte mit dem Entzifferten, doch das Buch verhüllte sich unaufhaltsam […]. Er war im ganzen erfaßt durch den unausweichlichen Entzug: die Erblindung – die Trennung – die Kastration« (PP, 101). Die Wörter bleiben buchstäblich »unter sich«, sie erstarren in ihrer grafischen Substanz und verschwinden in der »Nacht« ihrer Selbstabschließung. Diese Negativitätserfahrung macht den Leser zum Homo absconditus, zum »leeren Text«. »Nur die Sprache, sagt er sich, hat dich bisher diese wie immer auch elende Einsamkeit überhaupt ertragen lassen.« Vom Sinnverstehen ausgeschlossen und ohne sichere symbolische »Bleibe«, stürzt der Leser in die eigentliche, die wesentliche Einsamkeit. »Du hast ja keine Ahnung, wie du dann wohl sitzen und kauern mußt, wenn erst die Worte unter sich, du aber ausgeschlossen und erkenntnislos.« (PP, 101) Dass die Schrift »ohne Bleibe« in Finsternis versinkt, erscheint auf den ersten Blick als eindrucksvoll dekonstruktivistisches Bild für die Unentscheidbarkeit textueller Wahrheit und als Beweis für den »tödlichen« Ausschluss des Lesers im Akt des Verstehens. Tatsächlich zerfallen bei Strauß die Sinnbezüge in dem Augenblick, wo der Leser versucht, die Textintention hermeneutisch aufzuschließen und auf den Begriff zu bringen – genau so, wie es der Poststrukturalismus immer behauptet hat. Doch damit endet auch schon die Konzession an den Gegner. Denn was der Poststrukturalismus als Aufschub von Wahrheit ins Unentscheidbare beschreibt, als ihren Entzug, das möchte Strauß ganz anders verstehen, nämlich als Gestalt ihrer Anwesenheit und darum als »ein tiefes Zuhaus und ein tiefes 4 | Es sind solche Sätze, die es schwer machen, Sebastian Reus‹ Angleichung von Strauß an Derrida zu folgen. Vgl. Sebastian Reus, Unglückliches Bewusstsein.

I. Grundzüge einer sakralen Poetik

Exil« (PP, 101). Nur in negativer Form, eben als Abwesenheit, soll die namenlose Wahrheit ästhetisch zur Wahrheit kommen, und diese Wahrheit findet sich auch nicht zwischen, sondern hinter den Zeichen: »Alles fehlt, wo der Buchstabe ist.« (PP, 102)5 Anders als der von ihm bekämpfte Poststrukturalismus begreift Strauß das »Abtauchen« der Sprache in ihren grundlosen Grund also nicht als Beweis für die Unmöglichkeit von Wahrheit, sondern als Ereignis ihres Erscheinens – in der »Finsternis« ihres Entzugs ereignet sich eine Wahrheit, die in der Sprache zu Wort kommt, selbst aber nicht aus Wörtern besteht. Strauß, so ließe sich mit Martin Seel sagen, substanzialisiert den ästhetischen Schein6 – je undeutlicher, unverständlicher und »allegorischer« die Wörter scheinen, desto tiefer berühren sie ihren numinosen Ursprung, und je finsterer die »Nacht« des Unbestimmten, desto klarer repräsentiert Sprache ein außerdiskursives »Außen«, eine primäre Wahrheit im Sog des Sekundären. Strauß identifiziert das Unaussprechliche und »Undeutliche« mit der Wahrheit selbst oder, wie er in den Fragmenten der Undeutlichkeit schreiben wird: »Sein Lesen stieg, bis es dichter und dichter wurde, an Undeutlichkeit rührte […]. Er konnte nicht aufhalten, daß sich sein Auge entfernte bis ins Auge der Undeutlichkeit«. (FU, 42)7 Mit dieser erstaunlich essentialistischen Bestimmung glaubt Strauß den Zweifel an der Repräsentationsfähigkeit von »Dichtung« aus der Welt geschafft zu haben. Gerade im hermeneutischen Dunkel des »Unbestimmten«, in der scheinbaren Indifferenz seiner zeichenlosen Zeichen, offenbart sich ihm eine Wahrheit, die allein in der Kunst und nirgendwo sonst ihren Ort hat. Nur das Ästhetische rettet den entschwindenden Sinn gegen die öffentliche »Gewalt der Belanglosigkeit« (PP, 103): »Der kugelnde Kopf eines Betrunkenen in fortströmender Flut, der kurz vor der Schwelle zum Ruf gurgelnd zurück ins Gewässer sinkt – das ist das Fading des Kunstwerks, und das im Entwischen Erwischte bildet den Kern seines Realismus.« (PP, 103f.) So dreht sich auf dem ästhetischen Feld der Dichtung die »Fluchtrichtung« der sinnlos verstreuten Zeichen wieder um. Sie kehren an den Ort ihrer Wahrheit zurück und »entwischen« nicht in einen anderen, sondern in einen ursprünglichen Sinn. Die wiedergewonnene Wahrheit ist jedoch nicht nur für die Wenigen, sie ist – zumindest in dieser Werkphase – für alle. Denn so wie der »Leser« (in Paare, Pas5 | Zur substanzialistisch gewendeten Foucault-Rezeption bei Strauß vgl. Thomas Oberender, Der sekundäre Diskurs im Werk von Botho Strauß, Diss. Berlin 1999. Vgl. auch Ursula Kapitza, Bewußtseinsspiele. Drama und Dramaturgie bei Botho Strauß, Frankfurt a.M. u.a. 1987, S. 288f. 6 | Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000. 7 | Vgl. auch Rüdiger Görner, »Im Schatten des Mythos. Botho Strauß und die Prägnanz der Undeutlichkeit«, in: Gerhard P. Knapp u.a. (Hg.), 1945-1995. Fünfzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten, Amsterdam 1995, S. 547-559.

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santen) das Verschwinden der Schrift in der »Dämmerung« als Selbstentbergung der Wahrheit erfährt, so soll auch den Insassen der »dromokratischen« (PP, 104), überinformierten und »totalen Gegenwart« (PP, 105) die Erfahrung ästhetischer Wahrheit zuteilwerden. Der vertriebene Sinn des »Schönen«, so fordert Strauß, soll das ästhetische »Exil« verlassen und ohne »kränkliches Artaudgeflüster« (PP, 105) in die Mitte der symbolisch verarmten Gesellschaft zurückkehren. »[H]ymnische Schönheit« ist zu »jeder Zeit das höchste Ziel der Dichtung« – davon »möchte man sich immer aufs neue überzeugen, wenn man den Angstträumen des Alltags entfliehen will, in den geschredderten Formen der Gegenwartslyrik keinen Halt findet, wohl aber in den Rilkeschen Elegien« (PP, 119).

II. Rudolf Borchardts »Technik der Wiedergewinnung«

Eine »Poetik der Anwesenheit«, die der Literatur zutraut, einen verlorenen symbolischen Sinn zu repräsentieren, wird ohne intellektuellen Flankenschutz nicht auskommen wollen. Bei Strauß sind es Rudolf Borchardt und George Steiner, die in den Zeugenstand gerufen werden, und vor allem im Fall von Borchardt gilt die Aufmerksamkeit einem unmissverständlich konservativen, von der Öffentlichkeit vermeintlich »achtlos liegengelassen[en]« und skandalös verschmähten »Dichter« (AW, 18). Gleichwohl interessiert sich Strauß weniger für den Märtyrer des Zeitgeistes als für den »Typ des Wiederbringers«, genauer: für dessen »Technik der Wiedererinnerung« (AW, 11). Denn mit Hilfe dieser Technik soll die kulturell sprachlose und »vom Mythos der Jetztlebigkeit« (AW, 22) verhexte Bundesrepublik nach dem »wohl einzigartigen Überlieferungsbruch« (AW, 10) wieder Anschluss finden an ihre kriminalisierten Traditionen und die Quelle ihrer kulturellen Identität. »Für den Typ des Wiederbringers waren wir bislang nicht disponiert.« (AW, 21)1 Strauß wendet die »Technik der Wiedererinnerung« zunächst auf ihren Erfinder selbst an und bringt Borchardts Poetologie gegen das »juste milieu des Subversiven« in Stellung, gegen den »sozialverpflichteten Schriftsteller« und devotionsfeindlichen Gegenwartsnarren, gegen den »Anti-Helden«, »Anarcho-Radikalen oder den empfindsamen Empörten« der BRD-Literatur. Borchardts Gestalt, so Strauß, überrage die Scheinriesen des Kulturbetriebs um Längen, denn schließlich stamme er »aus dem Heraklesgeschlecht. Ein harter Edler, kein Sonderling, kein poète maudit, den die Moderne so bereitwillig in ihr Herz schloß.« (AW, 21) Strauß nimmt noch einen weiteren, allerdings un1 | Hier ist eine Präzisierung wichtig: Die »Technik der Wiedererinnerung« fördert die Wahrheit der deutschen Traditionen nicht mechanisch zutage, sondern schafft lediglich einen Raum, in dem diese sich dem »Volk« oder dem Einzelnen noch einmal »zusprechen« kann. Erst mit der rezeptiven Öffnung des Subjekts ist die Voraussetzung geschaffen, dass sich ein Moment von Unverborgenheit einstellt, die Spur anfänglichen »Wissens«.

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genannt bleibenden Gegner ins Visier, nämlich Theodor W. Adorno und eine kritische Theorie, für die Auschwitz eine absolute Zäsur darstellt – eine Zäsur, die die fraglose Kontinuität der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte zerstört und gegenüber dem Wahrheitsanspruch der Tradition nur eine einzige Haltung zulässt, nämlich strikte hermeneutische Skepsis und unbestechliches politisches Misstrauen.2 Strauß’ Interesse an Borchardts »Technik der Wiedererinnerung« folgt mithin einem doppelten Motiv. Zum einen soll sie die Behauptung von der moralischen Kontamination der deutschen Kultur durch die NS-Barbarei widerlegen (also die These vom unheilbaren Bruch im Tradierungskontinuum des »Deutschen«); zum anderen soll sie zeigen, dass deutsche Traditionen im Kampf gegen die liberale Diktatur der »Jetztlebigkeit« (AW, 22) jederzeit zum ›Wiederanschluss‹ an die defiziente politische Praxis bereitstehen. Der Wunsch nach einer Rehabilitierung deutscher Traditionen zwingt Strauß allerdings zu einer neuen Interpunktion der Zeitgeschichte. Nicht mehr das moralische Trauma, der Zivilisationsbruch von Auschwitz, sondern der »wohl einzigartige Überlieferungsbruch« in der deutschen Tradierungsgeschichte gerät nun zum entscheidenden Schlüsseldatum, das die Misere der Bundesrepublik erklären soll, ihre imaginative Leere und Gegenwartsfixierung. Kurzum, für Strauß scheint die entscheidende Frage nicht mehr zu lauten, wie Deutschland mit seiner moralischen Hypothek leben, sondern wie die Nation den kulturellen »Überlieferungsbruch« von 1945 bewältigen und die versiegelten Schätze der nationalen Überlieferung unter den Bedingungen von Informationsökonomie, Westbindung und Reeducation doch noch bergen kann. Im Kontext dieses Rettungsversuchs ist die Frage aufschlussreich, welche Traditionen es denn sind, die Strauß mit Hilfe von Borchardts Mnemotechnik dem Vergessen entreißen will. Die Traditionen der Aufklärung sind es jeden2 | Adorno dagegen versucht Borchardt mit dem Argument zu retten, sein stilistischer Modernismus unterlaufe die restaurative volkssprachliche Ideologie seiner ästhetischen Botschaften. Vgl. Theodor W. Adorno, »Die beschworene Sprache – Zur Lyrik Rudolf Borchardts«, in: ders., Noten zur Literatur, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1974. – Für Adorno ist das ›Ursprüngliche‹ nichts anderes als eine poetische Konstruktion, mit deren Hilfe sich Borchardts Dichtung einen unverfügbaren Grund imaginiert. »Den restaurativen, ›wiederherstellenden‹ Inhalt attackiert seine Form« (ebd., S. 76). Dass das Werk die »Rekonstruktion des geschichtlich Unwiederbringlichen« (ebd., S. 70f.) als Fiktion kenntlich macht und das Archaische nicht einfach fingiert, darin besteht für Adorno die Modernität von Borchardts Werk. »Daß es die eigene Unmöglichkeit gestaltet, ist das Echtheitssiegel der Moderne« (ebd., S. 86). Anders als für Strauß ist für Adorno das »Unwiederbringliche« keine Substanz, die »tel quel mit der sprechenden Sprache seiner Zeit vereinbar« wäre (ebd., S. 71).

II. Rudolf Borchardts »Technik der Wiedergewinnung«

falls nicht; nicht die Schriftsteller, die die Partei der Blumen und Nachtigallen ergriffen haben, nicht die Werke eines Lessing oder Heine. Strauß denkt an andere Autoren, und zwar an jene, die sich im Sinne der Borchardt’schen Unterscheidung von »Profanem« und »Heiligem« als existenziell »Wissende« qualifizieren lassen. Diese »Wissenden« sind keine Agenten der »Jetztlebigkeit«, keine Sozialschriftsteller – es sind »Dichter«, die mit dem »Anfänglichen« in Verbindung stehen, mit dem zeitlos Vordiskursiven und Existenziellen. Strauß arbeitet mit der auffallend schlichten Opposition von »vergänglich« und »unvergänglich«, von »gesellschaftlich« und »existenziell«. Während der jetztlebige Gegenwartsliterat dem vordergründig Gesellschaftlichen verhaftet bleibt, der soziomoralischen Oberfläche von Kontingenz und »Vergänglichkeit«, so ist der von Borchardt vorgestellte Dichter ein »Frühesucher« (AW, 16) – ein Solitär des tieferen »Wissens«, in dessen Herz eine »letztgründliche« Wahrheit schlägt, der »unvergängliche Teil des Daseins« (AW, 8). Vollkommen fremd ist diesem »Dichter« der »lüsterne Laborblick« der alternden Modernen, denn ihm geht es nicht um die Kritik der Gegenwart, ihm geht es um die »Wiederberührung mit der unbarmherzigen Frühe« (AW, 19). Aus der Leitdifferenz von »jetztlebigem« Schriftsteller und metaphysisch informiertem Dichter folgt für Strauß noch eine zweite Bestimmung. Während der »gesellschaftskritische« Literat soziale Atomisierungstendenzen nur sinnlos verstärkt (»soziale Emanzipation« schafft »stets nur Freigelassene und niemals Freie«; AW, 15), stiftet der Dichter sinnvolle Zusammenhänge und spendet kosmischen Trost. Sein Werk bringt das gesellschaftlich Getrennte zur »Einheit«, es imaginiert die »Wiederherstellung« des Anfänglichen und fügt »Ursprung zu Ursprung, über alle Vergänglichkeit hinweg« (AW, 9). So rühmt Strauß an Borchardt die »zeitenspaltende Sehnsucht nach dem Ersten und Ganzen«, er rühmt seine titanische Energie, mit der er gegen die existenzielle Vergesslichkeit des Zeitgeistes an der »fortzeugende[n] Kraft des Anfänglichen« (AW, 11) festgehalten habe. »Seine Entscheidung – unpassivisch wie der ganze Mann – ist eindeutig, hart und tatenfroh: Wiederherstellung, nichts anderes.« (AW, 10) Obwohl Strauß einräumt, Borchardts Behauptung vom »reine[n] Anfang« sei nur eine konstruktivistische Fiktion, nur ein »schutzspendend[r] […] geschichtliche[r] Tiefenirrtum« (AW, 8), möchte er unbedingt an dessen ontologischer Prämisse festhalten, das »unvergängliche« Wissen des Dichters sei dem »Zeitenwandel enthoben wie Religion« und »unverlierbar wie Energie im Weltraum« (AW, 14). Dieser metaphysische Dualismus bildet zweifelsohne das ästhetische und politische Gravitationszentrum des Essays. Denn während der sozialkritische Schriftsteller negativ auf die Ereignisdynamik der Profangeschichte fixiert ist, repräsentiert der Dichter die »letztgründliche« Wahrheit hinter der Geschichte; er ist Teil der Historia sacra, er kennt die göttliche »Frühe« und besitzt ein Bewusstsein vom ewigen Wechsel zwischen »gottfernen«

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und »gottnahen« Zeiten. »Das Prozeßschema, das Linien von Fortschritt oder Verfall entwirft, kann nicht das letztgründliche der Geschichte sein. Sie vollzieht sich vielmehr – für den Fundamentalisten – im langwierigen Wechsel von gottnahen und gottfernen Zeiten.« (AW, 14) Seinen geschichtlichen Ort hat das »Unvergängliche« und »Unverlierbare« in den klassischen Werken der deutschen Dichtung, und sobald ein »Dichter« – und nicht bloß ein Schriftsteller – über historische Abgründe hinweg mit der ästhetisch auf bewahrten Ursprungswahrheit in Austausch tritt, wird er »selbst mit Ursprung begabt« und spricht »in Zungen der Frühe gleich mit den Frühen […], dort kann er nun übersetzen, das ist: sein Deutsch schaffen, es erneuern« (AW, 8f.). Aber warum glaubt Strauß, mit dem Sphärendualismus von heiliger »Frühe« und profaner Ereignisgeschichte die These von der Selbstdiskreditierung der deutschen Kultur aushebeln zu können? Die Antwort könnte lauten: Wenn die deutsche »Dichtung« allem »Zeitenwandel« enthoben und ihre Wahrheit so »unverlierbar« ist wie »Energie im Weltraum«, wenn sie also zur Historia sacra gehört und als »fortzeugende Kraft des Anfänglichen« unterhalb der profanen Ereignisgeschichte verläuft (und damit auch unterhalb der »gottfernen« barbarischen Textur des zwanzigsten Jahrhunderts), dann entbehrt Adornos Behauptung vom faschistischen Traditionsbruch jeder Grundlage. Die Monstrosität von Auschwitz ist das Resultat einer »gottfernen Zeit« und hat die »letztgründliche« Tiefenschicht der Historia sacra gar nicht berühren können. Die heilige deutsche »Dichtung«, das Mitteilungsmedium überzeitlicher Wahrheit, gehört damit weder in die Vorgeschichte von 1933 noch gehört sie überhaupt zur Ereignisgeschichte – und kann deshalb vom kritischen »Zeitgeist« moralisch nicht in Haftung genommen werden. Auch wenn er Zitat und Kommentar in der Schwebe hält und seine Autorposition oft genug hinter Andeutungen und Unentscheidbarkeiten in Deckung geht, so versucht Strauß dem Leser einzureden, der kulturelle »Überlieferungsbruch« von 1945 stelle nur einen Einschnitt an der geschichtlichen Oberfläche dar, nur eine Zäsur innerhalb der Historia profana. Unversehrt dagegen sei das Arkanum der deutschen Nationalkultur aus der Katastrophe hervorgegangen, und nichts an ihr scheint moralisch kompromittiert. Im Gegensatz zu Adorno, dem negativen Anspielungszentrum des Essays, gibt es für Strauß offensichtlich keinerlei Anlass zu hermeneutischem Misstrauen, es bedarf für ihn nicht des prüfenden ethnologischen Blicks auf das Eigene, denn im Eigenen ist für ihn nichts Falsches. Historisch unschuldig und moralisch unbelangbar liegt das »Anfängliche« und »Letztgründliche« in den Tiefenschichten des »Heiligen« zur Wiederaneignung bereit und bildet unverschattet von Verbrechen und Schuld den unantastbaren Sinnhorizont des deutschen »Volkes«. Anders als der betuliche Stilgestus vermuten lässt, ist die Erinnerung an Rudolf Borchardt also nicht historisch, sie ist aktualistisch. Keineswegs geht es Strauß darum, ewige Dichtungswahrheiten zu Zwecken privater Daseinser-

II. Rudolf Borchardts »Technik der Wiedergewinnung«

hellung aufzurufen und mit interesselosem Wohlgefallen in den Kulturbetrieb einzuspeisen. Im Gegenteil, er ist fasziniert von einem politischen Existenzialismus, der auf eine Resubstanzialisierung des Politischen zielt, auf eine neue Verbindung aus Geist und Macht, kurz: auf eine in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich undenkbare Allianz von kultureller und politischer Sphäre. Jedenfalls nimmt Strauß Borchardts liberalismuskritische Forderung nach einer Einheit aus ästhetischer Tiefenwahrheit und politischem Handeln erstaunlich ernst, und nicht zufällig zitiert er an prominenter Stelle die Borchardt’sche Losung vom »Halbgötter-Kampf zur Überwindung von Modernität« (AW, 18) und rühmt ihn als den letzten Schriftsteller, der das kosmische »Innestehen im Ganzen – den ganzen Sprachraum, Volk, Reich, Abendland – erlebte, das hochintegrierte Dichter-Wissen« (AW, 20). Mit einem Wort: Während der politische Liberalismus der Bundesrepublik strikt zwischen den Sphären von Kultur und Politik trennt – oder wie man mit Borchardt formulieren müsste: den tiefer »wissenden« Dichter von der Seite des »Fürsten« verjagt und ihn durch den »jetztlebigen« Tages- und Meinungsschriftsteller ersetzt –, scheint sich Strauß tatsächlich mit der Idee einer Symbiose aus Geist und Macht anfreunden zu wollen, also mit der Idee, das »heilige« Existenzwissen des Dichters müsse der mechanisch erstarrten Politik den Gehalt vorgeben, »wie von Dante und Petrarca zu Machiavelli, über Milton und Voltaire zu Schiller, über die deutsche Romantik zu Hegel« (AW, 15f.).3 Die liberale Demokratie, so lautet der darin mitschwingende Vorwurf, betreibt Politik als Verwaltung und macht den Einzelnen transzendental obdachlos; erst die Konsubstanzialität von Geist und Macht ermöglicht wieder ein »Innestehen im Ganzen«, nicht bloß eine sozialstaatlich verdünnte, sondern eine kulturelle Integration, nicht bloß die Vergesellschaftung als Bürger, sondern die Vergesellschaftung als Mensch. Strauß steht der politische Skandalgehalt dieses Programms klar vor Augen, und vielleicht ist dies der Grund dafür, warum er die Auskunft schuldig bleibt, ob er das »Dichterwissen« autoritativ als staatliches Handlungswissen verstanden wissen möchte oder doch nur individualethisch als reflexives Interpretationswissen. Erst am Schluss legt er sich überraschend fest und nimmt gleichsam gegen die Laufrichtung seines Arguments Abstand von einem programmatischen Anti-Liberalismus, der die Gewaltenteilung von Kultur und Politik zugunsten einer neuen Intimität aus Geist und Macht aufkündigt. Anders als sein melancholischer Kronzeuge Borchardt, der einer schlagenden Verbindung aus »Fürst« und »Dichter« das Wort redet, zieht sich Strauß auf eine individualethische Position zurück und akzeptiert die liberale Trennung

3 | In der Erstveröffentlichung des Textes (FAZ vom 23. Mai 1987) fehlen die Anführungszeichen und vermitteln den Eindruck, der Satz stamme von Strauß selbst.

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zwischen Kultur und Politik.4 Das Dichterwissen, so heißt es nun, soll das demokratische System nicht handlungsanweisend überbieten und ihm den »Gehalt geben«; es soll seine Sprachspiele lediglich auf produktive Weise unterbrechen und das »Deutsch« erneuern. »Es ist ein wirksames Tonikum gegen die mangelnde Durchblutung von Vergangenheit in unserem Befinden.« (AW, 22) Der poetische »Engel« des »wissenden, schaffenden Bewahrens« möge den demokratischen »Engel mit dem kritischen Schwert« nicht vertreiben, sondern gleichberechtigt neben ihm Aufstellung nehmen. Im »Spiel der geschichtlichen Möglichkeiten« müsse es »erlaubt sein, sich vorzustellen, daß an der Pforte unserer Demokratie nicht allein der Engel mit dem kritischen Schwert gestanden hätte, der Wächter über Aufklärung und fortschrittliches Bewußtsein, sondern eben auch jener eines wissenden, schaffenden Bewahrens; daß also neben einem Benjamin auch ein Borchardt gestanden hätte« (AW, 20f.).5 Wie immer es sich damit verhält – der mit Borchardt nachgeträumte Traum von einer neuen, sprachrettenden Konsubstanzialität von Kunst und Macht ist mit dieser Zurücknahme nicht ausgeträumt; er ist nur vertagt.

4 | »Es ist nicht weiter danach zu fragen, weshalb in der jugendlichen Periode unserer Nachkriegszeit ein ›Konservativer‹ keine Leitbildfunktion übernehmen konnte. Es war so nötig wie richtig, andere Entscheidungen zu treffen.« (AW, 20) 5 | Dass Strauß sich genötigt fühlt, ausgerechnet Walter Benjamin, den Autor einer vergangenheitsrettenden Kritik, umstandslos den »Wächtern über Aufklärung und fortschrittliches Bewußtsein« zuzuschlagen, zeigt, dass sich die Prämisse des Essays, die Trennung zwischen »heiligen« Dichtern wie Borchardt und profanen »sozialverpflichteten« Autoren, nur um den Preis grober Verfälschung aufrechterhalten lässt.

III. Literatur als Transsubstantiation Die Auseinandersetzung mit Rudolf Borchardt markiert für Strauß nicht nur eine entscheidende Station auf dem Weg zur poetologischen Selbstklärung; sie erlaubt ihm auch eine vorläufige, wenngleich noch tastende Verhältnisbestimmung von Dichtung und Politik. Doch erst mit dem Nachwort zu George Steiners Abhandlung Von realer Gegenwart bietet sich für Strauß Gelegenheit, seine Überlegungen zum Wahrheitsgehalt der Kunst in eigener Regie auszubuchstabieren und den metapolitischen Status von Literatur genauer zu bestimmen.1 Was die Zeitdiagnose des Schriftstellers Botho Strauß mit der des Literaturwissenschaftlers George Steiner verbindet, ist zunächst das gemeinsame Erschrecken vor der schrankenlosen Medialisierung von Kunst und Literatur im Mainstream der Mehrheiten. Vor allem »Journalisten« erscheinen ihnen als Agenten kultureller Neutralisierung; mit den Waffen der Kritik, mit Hilfe von Kommentar und »Vertextung« verflüssigen sie die kostbare Überlieferung und verhindern die kontemplative Erfahrung des ästhetisch »Primären«. Ein Dorn im Auge ist Strauß wie Steiner auch die tonangebende akademische Intelligenz. Die vom Poststrukturalismus in die Welt gesetzte Losung vom »Tod der Repräsentation« verkürze die Wahrheit der Kunst auf einen kontingenten semiotischen Effekt und mache sie buchstäblich sinnlos. In diskreter Kollaboration errichten Medienindustrie und Poststrukturalismus ein »Imperium der Abschwörung und der Leugnung« und legen eine undurchdringliche Schicht aus »Glossierung und Kritik« über das »Primäre« (AW, 46). 1 | George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990, S. 73. – Zur Auseinandersetzung mit der Poetik George Steiners vgl. Klaus-Michael Bogdal, »Kann Interpretieren Sünde sein? Literaturwissenschaft zwischen sakraler Poetik und profaner Texttheorie«, in: Hansjörg Bay/Christof Hamann (Hg.), Ideologie nach ihrem Ende, Opladen 1995. Bogdal macht auf die untergründige Ironie aufmerksam, dass auch der von Steiner und Strauß verachtete Poststrukturalismus eines mit der sogenannten sakralen Poetik gemeinsam hat: den aneignungsfeindlichen und kultischen Umgang mit der Literatur. Beide pflegen eine Wut auf das Verstehen; beide seien sich »einig in der Verteidigung kulturellen Herrschaftswissens« (ebd., S. 139f.).

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Angesichts von Auflösung, Abschwörung und Zerfall erscheint Steiners Buch Von realer Gegenwart für Strauß wie ein erlösender »Schneisenschlag«, wie ein »rigorose[r] Entwurf gegen die philosophischen Journalisten, die Mitverfertiger einer Weltworld, die Realisten der Entropie und der überfüllten Leere, die Rhetoriker der Simulationen und des unendlichen ludibriums« (AW, 46f.). Doch bei einer bloßen Klage dürfe es nicht bleiben. Nachdem Steiner den kulturellen Skandal öffentlich gemacht habe, müsse die Doppelherrschaft aus medialer Devotionsfeindschaft und akademischer Dekonstruktion gebrochen und die Literatur vor der »herrenlose[n] Erlaubnis des Sagbaren und Besprechenbaren« geschützt werden. Anstatt in »minutiösen Schnitten« Werke aufzuspalten und »zu einer autonomen Textualität zu verarbeiten« (Strauß; AW, 46), anstatt an den »singenden Felsen vorüberzugleiten, deren Gesang durch säkulare Glossierung und Kritik erstickt wird« (Steiner), müsse das Mysterium der Kunst wieder pathetisch ernst genommen und die Literatur in eine Zone des Tabus zurückgestellt werden, in das Reich der Wahrheit und des Schweigens. Erst dort, in der Erfahrung des ästhetischen Mysteriums, werde sich das lang Entbehrte wieder einstellen: die Wiederbegegnung mit der »Realpräsenz« des »Logos« und des »Primären« – die Offenbarung einer Wahrheit, die mit poststrukturalistischen Mitteln nicht zu formulieren ist, weil im Poststrukturalismus jede Wahrheit notwendigerweise ihrer eigenen Dekonstruktion verfällt. Bemerkenswert an dieser programmatischen Erklärung ist die geschichtsphilosophische Rückversicherung, mit der Strauß sie glaubt unterfüttern zu müssen. Gleich im ersten Satz des Steiner-Nachworts verweist er auf die historische Zäsur von 1989, auf den Fall der Mauer, das Ende des Kalten Krieges und den Untergang der Sowjetunion. Nach diesem Ereignis ist die Welt für ihn nicht mehr dieselbe. »Wir haben Reiche stürzen sehen binnen weniger Wochen. Menschen, Orte, Gesinnungen und Doktrinen, von einem Tag auf den anderen aufgegeben, gewandelt, widerrufen.« (AW, 39) Im Gegensatz zur tagesüblichen Publizistik und der professionellen Zeitgeschichtsschreibung will Strauß das Jahr 1989 allerdings nicht historiografisch erklären, sondern metaphysisch deuten, das heißt: Strauß möchte den Mauerfall als ein Geschichtszeichen verstanden wissen, als eine – mit einem Begriff aus den »biologischen Wissenschaften« – »Emergenz« (AW, 39), die blitzartig die Matrix der politischen Verhältnisse durchschlägt und alle vertrauten Weltordnungsmuster auf den Kopf stellt. Dementsprechend ist der Mauerfall für Strauß kein ungewöhnliches Ereignis in der Geschichte, sondern eine tektonische Erschütterung aus der Geschichte, eine Erschütterung, die im weltgeschichtlichen Maßstab die Gravitation des gesamten kulturellen und politischen Raums verändert – und zwar auch die der westlichen Gesellschaften. Denn war der Westen bislang durch die Freund-Feind-Konstellation des Kalten Kriegs intern stabilisiert worden, so fehlt mit dem Untergang des kommunistischen Gegners plötzlich der alte politisch-ideologische Außenhalt. Aus diesem Grund erschüttert das jähe

III. Literatur als Transsubstantiation

Ende der kommunistischen ›Bürgschaft‹ für Strauß auch die raison d’être des Westens und bringt das Stigma ihrer liberalen Demokratien ans Licht, deren Mangel an innerer »Polariät«, das Fehlen von Binnenspannung und substanzieller Inklusion. Nach dem Ende der »Polarität«, davon ist er überzeugt, wird der Westen entweder selbstzerstörerisch oder schafft sich »die nötige Ersatzspannung zwischen anderen Polen«. »Polarität« gewinnt in »metapolitischen Dimensionen neue Bedeutung« (AW, 40). Wer den Borchardt-Essay noch im Ohr hat, den wird dieses Deutungsmuster nicht überraschen. Strauß liest die »Emergenz« des Mauerfalls in Borchardts geschichtsmystisches Schema ein und deutet ihn als Wahrheitsereignis, als eine jener »letztgründlichen« Bewegungen der Historia sacra, die eruptiv einen Wechsel zwischen »gottfernen« und »gottnahen« Zeiten einleiten.2 Mit dem Einsturz der Mauer und dem Untergang des sowjetischen Imperiums, so lässt sich diese Spekulation verstehen, meldet sich das »Anfängliche« mit ereignishafter Gewalt zurück; die Selbstentbergung des »Heiligen« zerstört die säkularistische Selbstzufriedenheit der Moderne und beendet »mit bitteren Einsichten einen langen, mehr oder weniger dornigen Dornröschenschlaf. Die letzte Rache des gestürzten totalitären Regimes war denn auch die totale Entlarvung, die negative Offenbarung einer verfehlten, weltlichen Soteriologie: Alles falsch von Anbeginn!« (AW, 39f.). So entziffert Strauß in der Rätselschrift des Mauerfalls die Aufforderung zum Systemwechsel. Er versteht das Geschichtszeichen von 1989 als Wink des »Anfänglichen«, als ein Rückruf ins Zeitlose der Zeit und als ultimativen Bruch mit modernen Selbsterlösungsfanatasien. Mit anderen Worten, Strauß hat keinen Zweifel daran, dass das Wahrheitsereignis des Jahres 1989 all das wieder auf die Tagesordnung setzt, was – in den Begriffen des Borchardt-Aufsatzes – in der »gottfernen« (Selbsterlösungs‑) Zeit des Liberalismus systematisch delegitimiert wurde. Die eruptive Selbstartikulation des »Heiligen« beim Untergang der bipolaren Weltordnung zwingt dazu, auch das Undenkbare wieder zu denken, und damit meint Strauß nicht nur ein »tieferes« Verstehen der Kunst, sondern eine neue, konsubstanzielle Verbindung aus Kultur und Politik, die die Wohlfahrtsökonomien des Westens erneut an Wahrheitsfragen anschließt und eine innere gesellschaftliche Polarität erzeugt, die das politische System nach dem Verlust seines Außenhalts neu stabilisiert. 2 | Bezieht man den geschichtsmetaphysischen Dualismus des Borchardt-Aufsatzes (Geschichte als ›Wechsel von heiliger und profaner Zeit‹) auf den Mauerfall, dann endet mit ihm eine unglückliche »gottferne« Zeit. Tatsächlich nennt Strauß die Wiedervereinigung eine »heilige« (vgl. unten FN 14 im vierten Teil). Demnach wäre die Moderne nur ein Vorspiel gewesen, nun beginnt die eigentliche Geschichte. Strauß zitiert den Dichter Wallace Stevens: »The prologues are over. It is a question, now, of final belief.« (AW, 39)

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Auch wenn der Gedanke an die Wiederannäherung von ästhetischer Wahrheit und praktischer Politik – und das meint ja der Gedanke der Konsubstanzialität – im Text nur untergründig mitläuft und im Letzten widersprüchlich3 bleibt, so geht es Strauß zunächst um die Voraussetzungen, unter denen Ästhetik und Politik eine neue Verbindung eingehen können. Nicht länger, so lautet seine scheinbar paradoxe Forderung, dürfe das Ästhetische moralisch und politisch in Dienst genommen werden; die Kunst müsse die unselige Allianz mit dem Engagement aufkündigen, die Ketten des Moralismus abstreifen und auf ihr ureigenes Terrain zurückkehren. Erst dann, wenn die Kunst ihre Freiheit wiedergewonnen, wenn sie das Weltbildgefängnis des »kritisch-sozialen Zeitalters« verlassen und sich von der »umfassende[n] Mentalität des Sekundären« (AW, 44) befreit habe, könne sie erneut ihr zeitloses Amt ausüben – das Amt einer souveränen Statthalterin des »Primären« in einer Sphäre eigenen Rechts und eigener Wahrheit. Mit der »Scheidung« von Kunst und NichtKunst, mit der »Entmischung der weltlichen von den verweltlichten heiligen Dingen« werde ein »›geläutertes‹ Erwarten« einhergehen – das Weltliche wird wieder weltlich, und die Kunst wieder heilig (AW, 40).4 Dass Strauß die »heilige Dichtung« mit der einen Hand aus den Fängen sekundärer Diskurse (»Kritik«, »Moral«) befreit, um ihre mühsam erstrittene Souveränität mit der anderen Hand wieder an die Kette einer »heiligen« außerästhetischen Wahrheit zu legen – dies ist für ihn deshalb kein Widerspruch, weil erst eine aus dem Gefängnis außerästhetischer Ansprüche entlassene Kunst unabhängig genug ist, ihre onto-theologische Tiefenwahrheit zu 3 | Im ersten Teil des Aufsatzes weist Strauß den Gedanken an eine Konsubstanzialität von Kultur und Politik noch zurück und gibt ihm, wie im Borchardt-Aufsatz, eine individualethische Wendung. »Soziale Demokratien brauchen keinen Heilshorizont. Viel eher der einzelne Freie, das aufgerichtete Bewußtsein, wird seiner bedürfen.« (AW, 40) Am Ende des Nachworts bringt er dann die Idee einer »revelatische[n] Befreiung des Menschen« ins Spiel, die Vorstellung vom »Zerreißen aller Texte und Texturen« – um dann doch vor diesem »Akt von fundamentalistischer Gewalt« zurückzuschrecken (AW, 51). 4 | Auch Heideggers Forderung nach Entmischung des Ästhetischen vom Sozialen dient nicht dem Ziel, »Dichtung« wieder zu schlechthinniger Autonomie zu verhelfen. Die Dekontamination der Kunst vom bloß Alltäglichen bildet vielmehr die Voraussetzung dafür, sie ursprungsphilosophisch für das Außeralltägliche zu öffnen und als metapolitische »Macht« gegenüber allen anderen (ethischen, politischen) Sprachspielen auszuzeichnen. Erst nachdem das Ästhetische von allen ethischen Beimischungen gereinigt ist, kann es ontologisch aufgeladen und als lebensverändernde Macht ausgezeichnet werden. »Es kann sein, daß wir dann eines Tages aus unserer Alltäglichkeit herausrücken und in die Macht der Dichtung einrücken müssen, daß wir nie mehr so in die Alltäglichkeit zurückkehren, wie wir sie verlassen haben.« Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen, GA Bd. 39, S. 22.

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offenbaren. Unter »Souveränität der Kunst« versteht er also nicht das von allen Repräsentationen entlastete Spiel ästhetischer Zeichen; im Gegenteil, Souveränität heißt für Strauß Offenbarung einer »theophanen Herrlichkeit« (AW, 41). Nur im Jenseits des Politisch-Ethischen offenbart Kunst ihr »Mysterium« und enthüllt »unbeweisbar« das Scheinlose unter dem Schein – die »Gegenwart des Logos-Gottes« und die Realpräsenz von Sinn: »Das Unbeweisbare in der Krone jenes Erkenntnisbaums, der durch den Roman, die Skulptur, die Fuge emporwächst, ist Zeugnis Seiner Anwesenheit. Wo kein Arkanum, dort kein Zeugnis, keine Realpräsenz.« (AW, 41) Das Pathos dieser Sätze provoziert die Frage, wie Strauß die Theologisierung der Kunst, oder vorsichtiger gesagt: die religiöse Besetzung des ästhetischen Scheins poetologisch plausibel machen will. Wie soll es möglich sein, innerhalb säkularer Sprachformen eine »heilige« Wahrheit poetisch zu repräsentieren? Und wie soll sich innerhalb sekundärer Sprachspiele ein außeralltägliches »Mysterium« ereignen, eine »unbeweisbare« primäre Wahrheit, die nicht ihrerseits bloß eine Modifikation des Alltäglichen darstellt? Weil Strauß vor demselben repräsentationslogischen Dilemma steht, für das er in Paare, Passanten keine befriedigende Lösung gefunden hatte, kommt ihm George Steiners Vorschlag wie gerufen, die christliche Eucharistie als Mustermodell für die Transformation von profanen in sakrale Zeichen in Dienst zu nehmen: Wie der Priester im Gottesdienst durch eine mystische Handlung Profanes in Heiliges verwandelt, so verwandelt auch der »eucharistische« Akt des Dichters die »übersprochenen« Worte zurück in ihren ursprünglichen Sinn. Im Augenblick ihrer dichterischen Transsubstantiation erscheinen die korrumpierten Zeichen plötzlich und wie durch ein Wunder als das andere ihrer selbst – als Präsenz des unvergänglichen Logos und als Anwesenheit des »Heiligen«. »Schaffen ist hier, wie bei jeder Ästhetik der Anwesenheit, nichts anderes als ein kunstvolles Enthüllen.« (AW, 43) Strauß, der die dekonstruktivistische Behauptung vom »Tod der Repräsentation« zurückweisen will, folgt Steiners Kunstreligion gleichsam aufs Wort und macht sich dessen Idee vom Mysterium der paradoxen Sinnkonstitution vollständig zu eigen. Im eucharistischen Akt sei das absolute Zeichen zugleich unterschieden wie auch selbstbezüglich, zugleich Name und Substanz, zugleich in der Welt wie außerhalb der Welt. »In der Feier der Eucharistie wird die Begrenzung, das Ende des Zeichens (und seines Bedeutens) genau festgelegt: der geweihte Priester wandelt Weizenbrot und Rebenwein in die Substanz des Leibs und des Bluts Christi. Damit hört die Substanz der beiden Nahrungselemente auf, und nur ihre äußeren Formen bleiben. Im Gegensatz zur ratio-

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Tragik der Freiheit nalen Sprachtheorie ersetzt das eine (das Zeichen, das Brot) nicht das fehlende andere (den realen Leib), sondern übernimmt seine Andersheit.« (AW, 41f.) 5

Warum am Anfang der Zeit jedes »Wort wesensmäßig Gottes ist«, erklärt Strauß mit der prominenten sprachtheologischen Figur, wonach der »halbverwehte« göttliche Aleph »pneumatisch« den Kontrakt zwischen Wahrheit und Wort stiftet. »Kam aber Gott näher dem Menschen nicht als im Geräusch/ des Aleph, im stimmlosen Tosen vor seinem ›Ich‹ …« (ETG, 21) Im Hauch des göttlichen Atems ereignete sich die Aus-Sprache Gottes in das ›Universum‹ der menschlichen Bedeutung; sie imprägnierte die Ordnung der Namen und beseelte den Text der einheitlichen Welt.6 »Das Wort Baum ist der Baum, da jedes Wort wesensmäßig Gottes Wort ist und es mithin keinen pneumatischen Unterschied zwischen dem Schöpfer des Worts und dem Schöpfer des Dings geben kann.« (AW, 41f.) Nothing can be lost: Wie alles Heilige, so ist auch die Verbalinspiration unverlierbar, weshalb der in der Textur der Wörter sedimentierte göttliche Geist zwar geschichtlich vergessen, nicht aber neutralisiert und aus der Welt geschafft werden kann.7 5 | Vor dem Hintergrund des jahrhundertelangen Streits um sakramentale Repräsentation wählt Strauß hier gleichsam die »katholische« Variante. Das Zeichen supplementiert nichts, es ist keine Stellvertretung und verweist auch nicht auf ein göttliches anderes Zeichen; es oszilliert auch nicht zwischen An- und Abwesenheit, sondern es ist die gedachte Realpräsenz des Göttlichen. Vgl. Daniel Weidner, »Sakramentale Repräsentation als Modell und Figur«, in: Stefanie Ertz/Heike Schlie/Daniel Weidner, Sakramentale Repräsentation, München 2012, S. 13-28. 6 | Strauß’ ontologisierende Deutung des Aleph ist allerdings in hohem Maße strittig. Für Gershom Scholem zum Beispiel stellt der »Konsonant Aleph […] im Hebräischen nichts anderes dar als den largynalen (nicht geschriebenen) Stimmeinsatz, der einem Vokal am Wortanfang vorausgeht […] Jede Aussage, die Autorität begründet, wäre eine, wenn auch noch so gültige und hochrangige, aber immer noch menschliche Deutung von etwas, was sie transzendiert.« Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a.M. 1974, S. 47f. 7 | Dass die göttlich inspirierten Wörter den Dingen »einwohnen« und deren innerste Signatur bilden – dies ist die mittelalterliche Sprachauffassung, die unter dem Druck des Nominalismus aufgegeben werden muss. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 115ff. – Für Strauß, so schreibt er im sympathisierenden Nachvollzug von Steiners Position, ist die Moderne die Nacht, in der die Substanz der Sprache verraten wurde. »Fortan sprach sich die Sprache selbst, und die Welt, Gottes Schöpfung, war ihr: die reale. Abwesenheit; nicht da, wo Worte. Von der Aufkündigung der semantischen Verbindlichkeit (bei gleichzeitiger Emanzipation des Gottmenschen) bis zur reinen Selbstreferenz der Diskurse, dem nihilistischen Vertexten von Texten, verging ein Jahrhundert …« (AW 49f.) – In einer späteren Formulierung beschreibt Strauß den »Kontraktbruch«

III. Literatur als Transsubstantiation

Mit wenigen Strichen hat Strauß den Grundriss seiner anamnetischen Poetik skizziert, und auf den ersten Blick folgt sie, vermittelt über George Steiner, ganz dem konventionellen religiösen Verständnis künstlerischer Offenbarung: Der Dichtung fällt die Aufgabe zu, unter den profanierten Schichten der Alltagssprache die göttliche Imprimatur der Wortbedeutungen freizulegen und das zerbrochene metaphysische Siegel zwischen Wort und Ding zu erneuern. Diese kunstreligiöse Mission versteht Dichtung als Gottesdienst im semantisch Profanen, als magische »Feier der Gleichzeitigkeit« (AW, 42) und »Gedenken im Sinne des Stiftungsbefehls«. Dementsprechend ist das Publikum auch nicht mehr nur Publikum, sondern eine gläubige Gemeinde, die schweigend ergriffen der Konsekration des Dichterpriesters beiwohnt. Mit der sakramentalen Verwandlung von Schein in Sein löst dieser den Panzer des kritisch-modernen, vorstellend-verstellenden Subjekts und nötigt es zur perzeptiven Selbstöffnung für die Offenbarung der Kunst. Denn erst Andenken und Kontemplation, erst Hingabe und Huldigung schaffen die Bedingungen dafür, dass das Mysterium der Kunstreligion im Subjekt wirksam wird – die Transsubstantiation medial »übersprochener« Wörter in die Selbstgegenwärtigkeit ihres göttlichen Ursprungs. Dieses entschieden kunstreligiöse Programm ist zunächst einmal als Antwort auf die poststrukturalistische Repräsentationskritik zu verstehen.8 Wie in einer kontraphobischen Reaktion auf seinen Gegner setzt Strauß »Präsenz« gegen Aufschub und »Wahrheit« gegen Unentscheidbarkeit, und in essentialistischer Zuspitzung versteht er Kunst nicht als ästhetische Anwesenheit der Dinge, sondern als Anwesenheit des Ursprungs der Dinge. Diese ursprungslogische Bestimmung mag man als reine Mystifikation verbuchen, als jüngstes Kapitel in der langen Geschichte der allein selig machenden bürgerlichen Kunstreliso: »Es geschah, als Mallarmé sagte: das Wort Rose bedeutet nichts anderes als die vollkommene Abwesenheit des so bezeichneten Gegenstands.« Aus dieser Nacht muss die dichterische Sprache wieder in die Helle des Ursprungs entfliehen; sie darf »keiner Kommunikation ›dienen‹, sie soll communio sein jederzeit: wie Christen in jeder Epoche gleichzeitig sind mit Christus (Kierkegaard), so Sprache zu jeder Zeit einig mit ihrer Stiftung, ihrem schöpferischen Element, der Poesie, ganz gleich, was sich jeweils an ihren historischen Rändern einrollt oder ausfranst. Leben kann sie nur im steten Ursprung« (B, 108f.). 8 | Strauß suggeriert einen präkommunikativen Begriff von Wahrheit und vertauscht Referenz und Kommunikation. Er erzeugt, mit einem Wort von Herbert Schnädelbach, eine grammatische Illusion, die auf der »Verkennung der Tatsache beruht, daß die referentielle Funktion der Rede von ihrer kommunikativen abhängt und nicht umgekehrt. Referenz ist selbst ein Sprechakt, der nach intersubjektiv geteilten Regeln erfolgt.« Herbert Schnädelbach, »Philosophieren nach Heidegger und Adorno«, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt a.M. 1992, S. 326f.

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gion. Und doch wird die geläufige kunstreligiöse Verkündigung in dem Augenblick zur politischen Crux, wo Strauß den Begriff des Opfers ins Spiel bringt. »Jedes Opus ist Opfer, alle Dichtkunst die Magd der anámnesis, im ursprünglichen Wortsinn des Alten und Neuen Testaments: ›sich vor Gott ein Ereignis der Vergangenheit so in Erinnerung zu bringen oder zu ›repräsentieren‹, daß es hier und jetzt wirksam wird‹. Hierin feiern Gedicht und Eucharistie dasselbe; im Versklang tönt noch der ›Brotbrechlaut‹ (Jones). Die Kunstlehre von der realen Gegenwart oder: die um die Kunst erweiterte Sakramentenlehre ist davon überzeugt, daß das Bildnis des Mädchens nicht ein Mädchen zeigt, sondern daß es das Mädchen ist unter der Gestalt von Farbe und Leinwand.« (AW, 42f.)

Diese Sätze werden verstörend zweideutig, sobald man sie mit Strauß’ Bemerkung über das jesuanische, vom Dichter im Schöpfungsakt wiederholte »Todesopfer« (AW, 41) zusammenliest. Sofort nämlich stellt sich die Frage, welches »Reale« und Ursprüngliche der Dichter – analog zu Jesus Christus – durch sein Selbstopfer zur Sprache bringt. Was verbindet den Strauß’schen Dichter mit Jesus am Kreuz, und vor allem: Was repräsentiert beider Opfer? Ist das kunstreligiöse Verständnis mit dem biblischen identisch – oder versteht Strauß das Opfer ebenfalls als Offenbarung des Ursprünglichen, als zeitlose Invariante der Logosstiftung, die einzuklagen den anamnetischen Auftrag des Dichters ausmacht? Im Rahmen eines kunstreligiösen Programms ist die Formulierung vom »Todesopfer« jedenfalls hochgradig ambivalent; sie besitzt einen auffällig mythologisierenden Zungenschlag, der die Rede vom »Opfer« stillschweigend aus dem biblischen Kontext herauslöst und den ethischen Skandal des Foltertods entschärft. Zugespitzt gesagt: Mit der kunstreligiösen Pathetisierung des »Todesopfers« blendet Strauß den biblischen Protest gegen den Fatalismus des antiken Opferglaubens ab und unterschlägt dessen revolutionäres Moment. Das sanft platonisierende Licht der poetologischen Spekulation ontologisiert den Tod am Kreuz, und dieser erscheint nun nicht mehr als ultimativer Bruch mit dem mythischen Gesetz von Rache und Gewalt; er erscheint unausgesprochen als Sühneopfer, mit dem der »Erlöser« jene Schuld aufhebt, die sich das schwache Menschenfleisch unter den unhintergehbaren Bedingungen des Sündenfalls hat zuschulden kommen lassen. In der Strauß’schen Formulierung protestiert das »Todesopfer« nicht gegen eine gottvergessene historische Gewalt und bringt ein Opfer gegen das Opfer; vielmehr vollzieht Christus an sich selbst das ungeschichtliche Gesetz der Geschichte und enthüllt am eigenen Leib das Immerwährende von Opfer und Gewalt als Grundtatsache einer

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notwendig tragischen, bis zum Jüngsten Tag von Leid und Schmerz durchkreuzten Schöpfung. Gottesvergessenheit ist Ursprungsvergessenheit.9 Auch wenn Strauß diese ursprungslogische Umdeutung des »Todesopfers« nicht ausformuliert, so ist schon seine Ausgangsformel von der »Wiederbegegnung mit dem Primären« (AW, 51) programmatisch unscharf und nivelliert bereits auf terminologischer Ebene die Unterscheidung von mythischem »Ursprung« und jüdisch-christlicher »Logosstiftung«. Strauß, und diesen Vorwurf kann man ihm nicht ersparen, ebnet die bewusstseinsgeschichtliche Zäsur des Monotheismus ein und löst die poetologische Bestimmung von »Religion« und »Mysterium« so weit aus dem Zusammenhang opferkritischer Bibeltexte, dass diese zwanglos mit vormonotheistischen Kategorien assoziiert werden können, mit der Rede von Ursprung, »Anfänglichem« und »Primärem«.10 Wie problematisch, wie prekär und folgenreich, womöglich auch: wie fahrlässig die von ihm betriebene Konfusion von Mythos und Monotheismus ist, bleibt Strauß keineswegs verborgen. Die »Kernspaltung«11 der biblischen Religion und die Neutralisierung ihres ethischen Skandalons wird ihm selbst unheimlich, er bekommt Skrupel und fragt sich, ob der Jude George Steiner tatsächlich in die Nähe seiner neopaganen Gewährsleute gerückt werden möchte, in die Nähe der von Strauß beifällig zitierten Rechtsintellektuellen und politischen Anti-Monotheisten wie Julius Evola und Nicolás Gómez Davila (AW, 47). Doch sein Selbstzweifel bleibt ohne Folgen. Strauß nimmt nichts zurück, im 9 | Indem Strauß den innerweltlichen Sinn der eschatologischen Zeit ursprungsmythologisch zurücknimmt, verliert das messianische Versprechen seinen auf Zukunft gerichteten Impuls, und das Hoffen auf »Erlösung« resigniert zur Forderung nach Wieder-Holung eines verlorenen Ursprungs in der ›vergesslichen‹ Gegenwart. Dieser Ursprung wird von Strauß mit pantragischen Kategorien aufgeladen, so dass Gottesvergessenheit tatsächlich identisch wird mit Ursprungsvergessenheit. – Zum Versuch, das Selbstopfer Christi auf ein »Sühneopfer« zu reduzieren, vgl. Micha Brumlik, »Carl Schmitts theologisch-politischer Antijudaismus«, in Bernd Wacker (Hg.), Die eigentlich katholische Verschärfung …, München 1994, S. 247-257. Zur gnostischen Entschärfung des Christentums vgl. auch: Thomas Assheuer: »Zur besonderen Verfügung: Carl Schmitt«, in: Kursbuch 166 (2007), S. 12-19. 10 | Die Nivellierung der Differenz setzt sich in der Strauß-Exegese bruchlos fort. In der Rekonstruktion von Thomas Oberender werden die Unterschiede von Gott und Göttern, Mythos und Religion, Ereignis und ›Ganz Anderem‹ so weit abgeschliffen, dass sie mit bloßem Auge kaum mehr zu erkennen sind. Vgl. Thomas Oberender, »Die Wiedererrichtung des Himmels«, in Text und Kritik, H. 81 (VI/1998), S. 76-99. 11 | Zum Begriff der »Kernspaltung« des Christentums und der Position von Botho Strauß vgl. Jürgen Manemann, Carl Schmitt und die Politische Theologie. Politischer Anti-Monotheismus, Münster 2002, S. 42ff.

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Gegenteil, er zielt auf die Mythisierung des Christentums und verschränkt den anti-tragischen Sinn des biblischen Schöpfungsbegriffs mit einem tragisch verstandenen Begriff des Ursprungs. Strauß, wie in den nächsten Kapiteln zu zeigen sein wird, greift die »unendliche« Differenz von Mythos und Religion an; er verschattet die bewusstseinsgeschichtliche Leistung von Juden- und Christentum – die Delegitimierung des Tragischen – und erklärt die biblischen Religionen selbst zu einer Spielart des Mythos. Auch wenn er weiterhin in ihrem Namen zu sprechen scheint, geht es Strauß, wie seine Selbstinterpretation von Ithaka unmissverständlich zeigt, um die Aufhebung des Unterschieds von Mythos und biblischer Religion, von Schicksal und Geschichte. »Apokatastasis« meint Wiederherstellung von Ursprung: »Nicht anders endet die Erzählung von der Heimkehr des Odysseus mit einem mythischen Wiederbeginn. Was dem Zeitalter an ›Utopie‹ verlorenging, kann ihm die Religion in Form der Apokatastasis, Wiederherstellung von allem, zurückgeben.« (EWW, 273)12 Dass Strauß so verfährt, dass er die Elementarunterscheidung zwischen Gott und Göttern angreift und die Zäsur zwischen den Bewusstseinsformen vor und nach Moses und Christus unscharf werden lässt – dies mag von der verständlichen Absicht getragen sein, das sakrale »Repräsentationsgeheimnis« der Kunst vor außerästhetischen Zumutungen und moralisierenden Vereinnahmungen zu schützen. Strauß möchte das »Numinose« gegen heteronome Ansprüche immunisieren und vor medialer Ausbeutung bewahren. Offensichtlich empfindet er den Monotheismus, dessen Opferkritik 13 die Säulen der tragischen Mythologie spektakulär zum Einsturz gebracht hat, als Gefahr für die kunstreligiöse Feier einer immer schon erlösten und von der Hiob-Frage glücklich verschonten Welt. Hinzu kommt ein generelles Unbehagen an der Politisierung von Religion. Das Christentum, so kritisiert Strauß in Niemand anderes, sei wechselweise auf sozialrevolutionären Messianismus oder auf dessen Gegenteil, auf Apokalyptik, fixiert gewesen und besitze keinerlei Sinn mehr für das zeitlos »Anfängliche«. »Die Christen sind des Anfangs nicht kundig; 12 | Dass Strauß die an die Vorstellung absoluter göttlicher Gerechtigkeit gebundene Idee der Apokatastasis mythologisch umdeutet, zeigt auch ein Satz aus der Büchnerpreisrede. »Wenn machtvolle Ordnungen ein Übermaß an Neuem vorbringen, dann müssen sie mit dem Widerstand, den geheimen Einflüssen der Dichter rechnen, die, wie David Jones sagt, ›an etwas Geliebtes erinnern‹. Anamnesis, nichts sonst, ist ihre Kunst und ihre Pflicht. Sie suchen die Asyle da und dort, suchen Unverletzliches. Unverletzliches Einst, das auf der langen Wanderung, auf der Suche nach Wohlsein verloren und vergessen wurde: Dichtung, Land, das nie faßlich, aber doch da ist, bewohnbar, fruchtbar, unverseucht, lebensschützend, lebensspendend. Ziel. Asyl.« (AW, 28) 13 | »Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer«, Hosea 6,6.

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sie sind seiner vergeßlich, sie nehmen die Schöpfungsgeschichte nicht ernst genug. Besessen sind sie dagegen vom Ende in Heils- und Unheilsgeschichte. Nicht von ungefähr sind es ihre eschatologischen Epigonen, die Marxisten, aus deren gebrochenen Vernünften, gescheiterten Hoffnungen jetzt die unheilsgeschichtlichen Dämpfe und Ahnungen am stärksten entweichen.« (NA, 133) Mit einem gewissen Recht könnte man einräumen, Strauß korrigiere mit seiner Rede vom »Anfänglichen« in der Tat ein spirituelles Defizit der biblischen Religionen und rufe gegen die Abstraktionen der monotheistischen Moral das »[u]nverletzliche Einst« (AW, 28) ins Gedächtnis, den Anfang der Schöpfung und die Zeit vor der Zeit. Doch selbst wenn es sich so verhielte, bliebe es Strauß unbenommen, die Feier des schöpfungsgeschichtlichen »Anfangs« produktiv auf die biblische Offenbarung zu beziehen, ohne das »Ursprüngliche« gegen biblische Mythoskritik auszuspielen.14 Dieser Gedanke bleibt ihm jedoch fremd. Strauß verdunkelt die Differenz zwischen dem mythischen und dem biblischen Verständnis des »Heiligen« und öffnet seine »Dichtungslehre« einer tragischen Metaphysik, in der das antimythologische, gegen die antike Gewalt- und Opferlogik gerichtete Erbe von Juden- und Christentums fast spurlos verschwindet.15

14 | Das ist das Programm Michael Theunissens in seiner Studie Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000. 15 | Ethischer Universalismus wäre demnach ein Negativ-Erbe des Christentums. In den Worten Heideggers: »Wir müssen […] alle Vorstellungen über die Gerechtigkeit, die aus der christlichen, humanistischen, aufklärerischen, bürgerlichen und sozialistischen Moral stammen, ausschalten.« Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. II, S. 325.

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IV. Das »Heilige« und das »Tragische« Auch wenn Strauß immer wieder das »Mysterium« der Kunst anruft und ihre »theophane Herrlichkeit« beschwört, so ist noch nicht recht klar geworden, worin deren »unvergängliche« Substanz eigentlich besteht und warum sie ein Antidot darstellt gegen die »weltliche Soteriologie« (AW, 40). Wie lauten die genauen Bestimmungen des »Primären« und »Anfänglichen«, und was »weiß« die Dichtung, das die »vergängliche« Literatur nicht weiß? Neben ersten Hinweisen im Borchardt-Aufsatz (Dichtung als Gedächtnis des existenziell »Zeitlosen«) stößt der Leser im Steiner-Nachwort auf eine unscheinbare, fast beiläufig fallengelassene Bemerkung, die allerdings, sobald man sie in den Begründungskontext eines poetologischen Programms einrückt, eine unerwartete Brisanz erhält. Strauß kommt auf die strukturelle Tragikvergessenheit des Wohlfahrtsstaates zu sprechen, auf die in Beton gegossene Abwehr von Lebensrisiken, von Leid, Unglück und Not. Suspekt scheint ihm der Versorgungsetatismus zunächst deshalb, weil dieser die existenzielle Differenz des Subjekts unkenntlich mache, jene sozial unaufhebbare »Not«, die nicht der gesellschaftlichen, sondern der natürlichen Verfassung des Menschen geschuldet ist und gleichsam zum archetypischen Kern des Lebens gehört. Unter Anspielung auf Heideggers Diktum von der ›Not der Notlosigkeit‹1 schreibt Strauß: »Viele werden erst lernen müssen, daß vom Reichtum an aufwärts die Not beginnt.« (AW, 40) Die »Not« entsteht, weil der Wohlfahrtsstaat das politisch Gerechte mit dem Existenziell-Expressiven verwechselt und es der gelebten Erfahrung entzieht. Die sozialstaatliche Daseinsvorsorge und der gesellschaftliche Reichtum, so könnte man Strauß verstehen, verdunkeln das unhintergehbare Faktum von Unglück und Not und verleugnen die Gegenwart der Tragödie. Wenn es sich so verhält, wenn Tragik und Not zum Zeitlos-Vorgesellschaftlichen gehören, dann muss selbstverständlich jeder Versuch scheitern, diese Daseinskonstanten durch sozialpolitische Praxis aufzuheben oder zu moderieren. Als Teil des »Primären« bleibt Tragik im Leben ständig präsent, und noch im Modus ihrer Entstellung und Verdeckung zeigt sich ihre Gegenwart, sie 1 | Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. II, S. 393f.

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zeigt sich in den stummen Verwerfungen des Alltags, in sprachlosem Leid und normalisiertem Unglück. Die Akkumulation von Tragik bezeichnet für Strauß das dunkle Familiengeheimnis des Sozialstaatskapitalismus, und damit ist die Frage nach der »Gegenwart der Tragödie« nicht länger nur eine ästhetische, sie ist für ihn zugleich eine ethisch-politische Frage. Allein die Kunst nämlich hält das politisch Verdrängte in Erinnerung, die unterdrückte Wahrheit eines »brutal untragisch[en]« Lebens. »Unsere Unglücke und schlechten Aussichten, Bedrohungen und Kämpfe sind auf schmerzliche, beinahe brutale Weise untragisch. Daher, und so war es immer, dies urtümliche Verlangen, die Tragödie zu schauen und von der Unermeßlichkeit des Leids berührt und gestärkt zu werden. Der Mensch, selbst nur ein Wurm im Leidwesen, ein kleiner Kriecher des Unglücks, ist der Tragödie bedürftig.« (NA, 207f.)2 Obgleich die Verleugnung von Tragik ebenso umfassend wie unbegriffen ist, so ist sie doch nicht total, denn mit dem Theater existiert für Strauß eine Gegenmacht, die das sozialpolitisch Verdrängte sichtbar macht und »unser kultisches Bedürfnis nach Tragödie« befriedigt. Das Theater bildet eine »tragische« Enklave in der antitragischen Immanenz der Wohlfahrtsökonomie; es durchschaut die staatlich organisierte »Not der Notlosigkeit« und macht die Gegenwart der Tragödie »gegenwärtig«. Die Tragödie »findet nur auf dem Theater statt. In keiner anderen Kunst. Und schon gar nicht in den Wirklichkeiten. Deren Katastrophen streifen nicht einmal unser kultisches Bedürfnis nach Tragödie, die erlöst von allen zwanghaften Erlösungsideen« (NA, 208). Doch warum sieht sich Strauß genötigt, die Tragödie ontologisch zu bestimmen? Warum soll sie das Reale von »Leid« und »Unglück« nicht nur reflektieren, sondern repräsentieren? Die Antwort könnte lauten: Um das Passionswissen der Kunst, also das tragische Mehr-Wissen vom ›unermeßlichen Leid‹ politisieren und gegen die ›Not der Notlosigkeit‹ des Sozialstaatskapitalismus in Stellung bringen zu können, muss Strauß dem Ästhetischen ein epistemisches Privileg verschaffen, das diskursiv nicht einholbar ist und den üblichen Begründungskontext der Demokratie sprengt. Nur dann, wenn es ihm gelingt, Theater und Theaterdichtung als Repräsentanzorgan des Tragischen auszuweisen, lässt sich eine Souveränität der Kunst behaupten, ein Wahrheitsanspruch gegenüber der Politik. Und in der Tat – genau so verfährt Strauß. Er politisiert das Ästhetische und versteht die Tragödie als Korrektiv einer auf Wohlstandsverwaltung reduzierten Demokratie, er versteht sie als das ontologisch beglaubigte »Externum« zur »politische[n] Relativierung von Existenz« (ABG, 23): »Es gibt gewissermaßen ein politisches Externum zur Bekämpfung und Leugnung der Allmachtsansprüche des Politischen. Eine geis2 | Diese Passage in Niemand anderes über die Tragik und das Tragische ist begrifflich nicht trennscharf und lässt den Leser im Unklaren darüber, ob die Tragödie als ästhetische nur angeschaut – oder ob sie am eigenen Leib als reale erfahren werden muss.

IV. Das »Heilige« und das »Tragische«

tige Reserve, die im Namen der Weisheit der Völker, im Namen Shakespeares, im Namen der Rangabwertung von Weltlichkeit, im Namen der Verbesserung der menschlichen Leidenskraft gegen die politischen Relativierungen von Existenz ficht.« (ABG, 23)3 Die programmatisch starke Behauptung, (Theater-)«Dichtung« sei nicht bloß Reflexion, sondern Repräsentation des Tragischen, zeitigt noch eine zweite, eine poetologische Konsequenz: Sie rückt das tragische Wissen der Gegenwartskunst in die Traditionslinie der griechischen Tragödie und versteht sie als Aktualisierung ihrer »überzeitlichen« Kontinuität. Überzeitlich nennt Strauß diese Wahrheit, weil sie eine doppelte Funktion erfüllt, eine aufklärende und eine tröstende. Zum einen sind der griechischen Tragödie die Urmuster des Historischen eingeschrieben, die zyklisch wiederkehrende Gewalt in den menschlichen Grundverhältnissen. Zum anderen enthält das »Blut aus der Griechenquelle« (FU, 12) ein Apotropäion gegen die »Welttrostlosigkeit« (NA, 206); das radikal anti-utopische Passionswissen der Tragödie stärkt die menschliche Leidensfähigkeit und lehrt das Unheil zu ertragen. »Die Tragödie gab ein Maß zum Erfahren des Unheils wie auch dazu, es ertragen zu lernen. Sie schloß die Möglichkeit aus, es zu leugnen, es zu politisieren oder gesellschaftlich zu entsorgen. Denn es ist Unheil wie eh und je; die es trifft, haben nur die Arten gewechselt, es wahrzunehmen, es anzunehmen, es zu nennen mit abgetönten Namen.« (ABG, 24) Weil die Gegenwart der Tragödie nicht vergeht und weil es Geschichte als Minderung von Leid so wenig gibt »wie der fliegende Pfeil des Zenon sich bewegt« (FU, 57), kann die »Welttrostlosigkeit« nicht politisch moderiert oder reflexiv entschärft, sie kann nur heroisch erduldet werden: »Welche Größe gewinnt gerade jetzt die Tragödie gegenüber der Humanitätsduselei, mit der wir im Anblick des Endes uns selber bedauern! Die Alten hatten die Tragödie noch zum Leiden-Lernen.« (NA, 206f.)4

3 | Strauß ist nicht der Erste, der Shakespeare zum großen Lehrmeister für den deutschen Geist ernennt. Shakespeare lehrt das in Deutschland Vergessene, nämlich die »Kraft zur Wirklichkeit« und das heroische Ertragen einer prinzipiell tragischen Geschichte. »Was uns fast allen fehlt, ist die Kraft zur Wirklichkeit. Und sehen wir uns da nach einem Meister um, der zugleich alle Wirklichkeit gebe und die Kraft sie zu ertragen, so ist es abermals Shakespeare. Seine Wirklichkeit für unser Lebensgefühl zu erobern und zu gestalten ist eine der Aufgaben des neuen deutschen Geistes.« Friedrich Gundolf, Shakespeare und der Deutsche Geist, Godesberg 1947, S. 320. 4 | In der Prosasammlung Paare, Passanten schreibt Strauß: Dass die Tragödie dem modernen Bewusstsein offensichtlich unerträglich ist und in den »Ambivalenz[en] und Doppelbindung[en]« der Medienwelt auch faktisch unmöglich geworden ist, dürfe die Regisseure nicht davon abhalten, dem »uralten Paradigma des Theaters Genüge« zu tun (PP, 186f.).

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Fragwürdig an diesen Sätzen ist nicht die Behauptung, die Weltgeschichte sei von gnadenloser Grausamkeit; fragwürdig ist das Verfahren, mit dem Strauß den Begriff der Tragik mythisiert und von einer historischen Beschreibungs- in eine überzeitliche Sinnkategorie verwandelt. Auf der von ihm gewählten ontologischen Folie erscheint historisches »Unheil« nämlich nicht empirisch als Folge politisch-gesellschaftlicher Kämpfe; es erscheint metaphysisch als Offenbarung einer übergeschichtlichen Wahrheit, die sich politischer Einwirkung prinzipiell entzieht (»es ist Unheil wie eh und je«). Im Gegensatz zu einem nicht-metaphysischen Verständnis von Tragik geht es Strauß nicht um »Erscheinungen in der Zeit«; es geht ihm um Erscheinungen aus dem »Grunde des Seins«,5 um eine transhistorische Gewaltstruktur, die in dem Maß, wie sie politisch bekämpft wird, ihre tragischen Effekte noch einmal potenziert – gerade die Verleugnung von Tragik provoziert deren gesteigerte Wiederkehr. Konsequent erscheinen Unrecht und Gewalt deshalb nicht als Teil eines zivilisatorisch korrigierbaren »Naturzustandes«; sie erscheinen bei Strauß als Ausdruck einer alternativlos »disponierenden« und prinzipiell tragischen Seinsordnung, die als Wahrheitsgeschehen durch die Gesellschaftswelt hindurchgreift und schon deshalb, weil sie schicksalhaft ist, als sinnvoll angenommen werden muss. »Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt.« (ABG, 11) Die fundamentalistische Behauptung, praktizierte Gewaltlosigkeit verschiebe den Ausbruch von Gewalt bloß in die Zukunft (»verschleppt« sie auf die »Kinder«), ergibt sich aus der Vorentscheidung, »Gewalt« und »Opfer« nicht als Folge sozialhistorisch beschreibbarer Kollisionen zu begreifen, sondern als Entäußerung einer unaufhebbaren tragischen Latenz. Strauß verabschiedet damit die jüdisch-christliche Unterscheidung zwischen historischem Unrecht (als sozialem Leiden an Macht und Gewalt) und existenziellem Unglück (als Leiden an Zeit und Endlichkeit); Unrecht wie Unglück erscheinen nun als zwei Gestalten eines identischen »Unheils« in der zeitlosen Fatalität des Geschichtlichen. Geschichte, sagt die dominante Prosastimme in Wohnen 5 | Zum metaphysischen (im Gegensatz zu einem nachmetaphysischen) Begriff der Tragödie vgl. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen, Frankfurt a.M. 1996. – Zum Komplex des Tragischen vgl. auch Gerhard Gamm, Nicht nichts, Frankfurt a.M. 2000, S. 15ff. – Das metaphysische Verständnis des Tragischen als Behauptung der überzeitlichen Universalität von Opfer und Gewalt verbindet Strauß mit Carl Schmitts Tragödientheorie in Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düsseldorf/Köln 1956. – Die normative Aufladung des Tragischen unterscheidet Botho Strauß allerdings von Karl Heinz Bohrer, der die griechische Tragödie als übernormatives Paradigma einer »Ästhetik des Schreckens« verstehen möchte. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Das Tragische, München 2009.

IV. Das »Heilige« und das »Tragische«

Dämmern Lügen, »Geschichte gibt es nur, um den steten Fluß der Träne zu sichern« (WDL, 187). Auch wenn man die gestische Provokation solcher Sätze in Rechnung stellt, lassen sie keinen Zweifel an der mythischen Grundschicht einer »sakralen Poetik«, die von einer explizit antitragischen Urszene, dem christlichen Abendmahl, ihren Ausgang nahm. Nachdem Strauß auf der Suche nach Realpräsenz seine »Poetik der Anwesenheit« am Modell der Eucharistie ausgerichtet hatte, verlässt er den christlichen Assoziationsraum wieder und »opfert« mit der Mythisierung von Negativität (»es ist Unheil wie eh und je«, ABG 24) die opferkritische Logik des eucharistischen Moments. Gegen die Zeit der Offenbarung – als Zeit geschichtlicher Freiheit – setzt er eine zeitlose Tragik, die in die geschichtliche Welt hineinspielt, ohne dieser Welt selbst anzugehören. Tragik ist der allmächtige Gott, verborgen, aber allgegenwärtig, nie Vergangenheit und immer Zukunft. »Die Ausgräber antiker Städte haben nur eine Verlassenheit zutage gefördert, niemals eine Vergangenheit. Wer weiß, ob nicht die Reiche und die alten Streite plötzlich wiederkehren. Auf dem leeren Markt, im Zwielicht der Zeit, steht alles bereit.« (FU, 35) Auch wenn Strauß den Titel »Religion« beibehält, so steht die Feier von Ursprung und Tragik dem antitragischen Sinn des christlichen Weltbildes – und das war das Weltbild des frühen Strauß – in unversöhnlicher Differenz gegenüber. »Die eigene Erlösungsmöglichkeit vernichtet die tragische Ausweglosigkeit […] Alle Grunderfahrungen des Menschen sind als christliche nicht mehr tragisch. Ist Christus das tiefste Symbol des Scheiterns in der Welt, so doch gar nicht tragisch, sondern im Scheitern wissend, erfüllend, vollendend.«6 Es ist lehrreich zu sehen, welche konkurrierenden Tragödientheorien Strauß implizit zurückweist. Vor allem scheint er sich von Positionen abzusetzen, die die Tragödie nicht als Wesenserkenntnis einer sinnhaften metaphysischen Ordnung verstehen, sondern als Bruch mit dem antiken Schicksalsglauben; nicht als Affirmation eines vorpolitischen Geschicks, sondern als Revolte gegen den Mythos tragischer Ausweglosigkeit. Der ungenannte Antipode mag hier Walter Benjamin sein, der die griechische Tragödie als Epochenbruch begriff, als Emanzipation von den unglaubwürdig gewordenen Göttern und dem erhabenen Fatalismus ihrer mythischen Schrecken. Benjamin versteht die Tragödie als Zäsur in der abendländischen Episteme; er feiert sie als Geburtsstunde einer politischen Freiheit, die im Medium der Kunst gegen die Gewalt anonymer Mächte rebelliert und dem anti-tragischen Monotheismus opferkritisch vorarbeitet. Welthistorisch zum ersten Mal bricht die griechische Tragödie mit dem »dämonischen Schicksal«, und zum ersten Mal besinnt sich der »heidnische Mensch« darauf, dass er »besser ist als seine Götter«. Benjamin: »Es ist gar keine Rede davon, daß die ›sittliche Weltordnung‹ wieder her6 | Karl Jaspers, Die Sprache/Über das Tragische, München 1990, S. 98.

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gestellt werde, sondern es will der moralische Mensch noch stumm, noch unmündig […] im Erbeben jener qualvollen Welt sich aufrichten. Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit, moralischer Infantilität ist das Erhabene der Tragödie.« 7 Zu dieser emanzipationslogischen Sicht geht Strauß sichtbar auf Distanz und kehrt zu einem metaphysischen Verständnis des Tragischen zurück, von dem Benjamin sich entschieden abgesetzt hatte.8 Dass der Pantragismus keine spekulative Fußnote im Strauß’schen Werk darstellt, belegt auch der Hymnus auf den bekennenden Tragiker Robinson Jeffers. Mit unverhohlener Bewunderung beschreibt die Textfigur den amerikanischen Schriftsteller als letzten Helden inmitten einer von Selbsterlösungsfantasien verhexten Moderne; verfemt von »Demokraten« und Friedensutopisten, weder »Städter« (FU, 21) noch Aufklärer, steht der Eremit Jeffers auf dem Kalvarienberg seiner Einsamkeit und überragt die träge Masse seiner tragikvergessenen Zeitgenossen. »Lange Verse, lange Gedichte. Voller Gewalt und Wahnsinn, voller Inzest, Vergewaltigungen, Feuerstürme und schwarzen klaffenden Wunden. Voller Blut und Geister Verstorbener. Voller Liebe und Haß. Alt waren die Geschichten, uralt das Blut aus der Griechenquelle …«. (FU, 12f.)9 Jeffers verkörpert Passionswissen, er ist Tragik in Gestalt, denn allein schon 7 | Walter Benjamin, »Schicksal und Charakter«, in: GS Bd. II,1, S. 174f. 8 | Hans-Thies Lehmann grenzt den Strauß’schen Begriff des tragischen Mythos zutreffend gegen den Heiner Müllers ab. »Nicht das Erkenntnispotenzial, das im Mythos aufbewahrt ist – Resistenz gegen Subjektivierung und den falschen Schein der SelbstDurchsichtigkeit –, vielmehr das Bedürfnis nach neuer Triebhaftigkeit, der Wunsch nach irrationaler Verausgabung stellen bei Botho Strauß die Quellen für das postmoderne Interesse an der ästhetisch-feinsinnigen Bricolage da.« Dagegen werde im Werk von Heiner Müller der »Mythos aufgeboten, um Schmerz, körperliche Qual und zwanghafte Schuldgeschichte in Bildern der Wiederkehr zu bannen. Gegen die hoffnungsträchtige Linearität der Zeit die Perspektive der Opfer, für die Geschichte noch stets nichts anderes als Arbeit und Qual bedeutet hat; gegen die schamlose Sinnzuschreibung der Schmerz; gegen den vorwärtstreibenden Prozeß die Körperlichkeit.« Hans-Thies Lehmann, »Mythos und Postmoderne – Botho Strauß, Heiner Müller«, in: Albrecht Schöne u.a. (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses Göttingen 1985, Tübingen 1986, S. 130f. 9 | Gleichwohl ist Jeffers bei Strauß kein reiner gnostischer Tragiker. Für ihn ist die Schöpfung gelungen, nur der Mensch ist missraten, weil die soziale Welt ein Abfall von der natürlichen Ordnung darstellt. Der Mensch ist für die göttliche Natur, aber nicht füreinander, für den »menschlichen Menschen« geschaffen. »Man haßte mich, weil ich nicht an den menschlichen Menschen glaubte. Die Sozialen verdammen den, der zu sagen wagt, daß Gottes Welt schön ist außer dem Menschen. […] Denn ich sagte nicht: Liebt euch um des Friedens willen. Sondern ich sagte: Laßt euch in Frieden, turn away from each other.« (FU, 23)

IV. Das »Heilige« und das »Tragische«

durch seine physische Erscheinung beglaubigt er die Gegenwart der Tragödie, die Einschreibung des Realen in das ephemere Leben. »Die Leute […] sollten ihn nur sehen, wie er alleine stand in der leeren Arena der Tragödie, aufrecht, ohne Chor und Helfershelfer. Er, der letzte, der den alten Schritt noch konnte, den uralten Opferreigen; der graue Ozean mit seinen Schreien und Nebeln trug ihm die Vorzeit zu, die rohe, immer wiederkehrende Greuelzeit.« (FU, 18) Entscheidend ist hier, dass Strauß seinen Heroen Jeffers als einen politischen Existenzialisten feiert, der als Einziger die Tragikverleugnung des amerikanischen Liberalismus durchschaut, die Lossagung der Demokratie von ihrem vorpolitischen Grund, der »Greuelzeit«. Kein Zufall also, dass Franklin D. Roosevelt als Jeffers Hauptgegner seinen Auftritt hat; er ist der »Verräter Amerikas«, der »falsche Missionar, der die ganze Welt zu Wohlstand und Demokratie erlösen wollte und dafür dies stolze, freie Land in einen sinnlosen Krieg stürzte« (FU, 23f.). In Jeffers Augen ist Roosevelt ein Selbsterlöser; er verwechselt soziale Gerechtigkeit mit dem Sinn des Existenziellen und versteht Demokratie als weltliche Soteriologie, als utopistische Befreiung von der zeitlosen Gegenwart der Tragödie. Dass Jeffers, jedenfalls in der Fassung, die Strauß ihm gibt, genau das tut, was er Roosevelt vorwirft – dass er in seiner Demokratiekritik nun seinerseits den kategorialen Unterschied zwischen dem Tragisch-Existenziellen und dem Praktisch-Politischen aufhebt, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen, begründet sich aus der Verfallslogik seines pantragischen Weltbildes. Die Demokratie, so der Vorwurf, verleugnet die Gegenwart der Tragödie; sie hat kein Bewusstsein davon, dass in der Geschichte kein Rosenwasser versprüht, sondern Blut vergossen wird.

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V. Der Dichter als Märtyrer der Moderne Die Behauptung, authentische Dichtung sei Repräsentation des Tragischen, wirft unvermeidlich die Frage auf, woher der Dichter weiß, was er weiß. Wie ist ein präkommunikativer Begriff des Tragischen zu verstehen, und wie ist es möglich, dass ein vergängliches Autorsubjekt teilhat an einer unvergänglichen Wahrheit? Woher also, um es mit einem Wort aus dem Borchardt-Aufsatz zu sagen, rührt die Fähigkeit, in der späten Moderne mit den »Zungen der Frühe« (AW, 9) zu sprechen? Strauß scheint sich dieser Aporie durchaus bewusst zu sein, und er weiß, dass er dem Dichter ein Erkenntnisprivileg verschaffen muss, das ihn nicht nur aus der »Masse« der sozialkritischen Schriftsteller heraushebt, sondern ihn dazu autorisiert, die »höllische« Geschlossenheit tragikvergessener Diskurse aufzubrechen und auf ihren verdrängten Tiefensinn transparent zu machen. »Das letzte Wort hat der Dichter. Nicht jetzt. Nicht zwischendrin, so lange alle noch laut und getrennt vor sich hin reden. Aber später, wenn die Stimmen verebben und die Erde ganz Ohr wird –.« (NA, 151f.) Bei dem Versuch, das dichterische Adelsprädikat repräsentationslogisch verständlich zu machen, scheiden von vornherein alle genieästhetischen Konzepte aus, die den Autor als schöpferisches Originalsubjekt vorstellen, als einen sterblichen irdischen Gott, der seine unsterblichen Werke in produktiver Innerlichkeit einsam aus sich hervorbringt. Bei Strauß verhält es sich anders. Bei ihm ist der Dichter zwar ebenfalls eine Exklusivfigur, aber er teilt keine der für die Avantgarde gängigen Zuschreibungen, erst recht ist er kein genialer Dandy und gehört keiner Bohème- und Celebrity-Kultur an. Der Strauß’sche Dichter, und darin besteht sein Alleinstellungsmerkmal, ist keine autonome Figur, sondern ein von Modernität unberührter »Beauftragter« – ein Gegenzeitlicher und Wächter, der von den Mächten des »Anfänglichen« ins Amt berufen und auf die »Tagesordnung des Ewigen« vereidigt wurde (WDL, 181). »Indessen gibt es für ihn keinen Zweifel,/dass er nicht zu den Bevorzugten,/sondern zu den Beauftragten gehört.« (ETG, 24) Mit der polemischen Leitdifferenz von zeitgenössischem »Schriftsteller« und »Beauftragtem« wiederholt Strauß noch einmal den (aus dem BorchardtAufsatz) vertrauten Sphärendualismus von profanem Weltwissen und sakra-

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lem Tiefenwissen. Während der Typ des sozialkritischen Schriftstellers zum »Medienwurmfortsatz« (FdK, 83) und »diätetische[n] Belletrist[en]« herabgesetzt wird, der die allgemeine »Bedeutungsleere« bloß verdoppelt,1 sucht »Er« (der Dichter) in kritischer Opposition zum Zeitgeist »nach der Kraft des Unsichtbaren« und redet »von einem anderen, höheren Ungegenstand« als die Sprache »selbst einer war« (B, 76). Und während der gemeine Schriftsteller ziellos auf der Oberfläche der Erscheinungen flaniert, erkundet der Dichter »Asyle da und dort« und sucht jenes »unverletzliche Einst, das auf der langen Wanderung, auf der Suche nach Wohlsein verloren und vergessen wurde« (AW, 28). »Sind wir nicht Aufklärer in des Dunklen Pflege?« (ETG, 68)2 In dieser Gegenüberstellung lässt Strauß das Aufklärungsschema intakt, verkehrt aber dessen Vorzeichen und vertauscht die kritischen Rollen. Nachdem die alten Aufklärer angeblich systemfromm geworden sind, besetzt der »Beauftragte« die frei gewordene Position – nun ist er der kulturell Andere, ein Nonkonformist und Dissident der »Jetztlebigkeit« (AW, 22). Die »Aufklärung«, zu der der Strauß’sche Dichter-Nuntius berufen ist, versteht sich dabei als eine »zweite« Aufklärung, die über den ›Sündenfall‹ der ersten Aufklärung 1 | »Heute ist der Schriftsteller ausschließlich ein diätetischer Belletrist. Er entfaltet seine stofflichen, stilistischen Reize oft genug auf einem Gesinnungs- oder Erkenntnisstand, vor einem Welt- und Menschenbild, die im Vergleich zu den Finessen seiner Beobachtungen und Einfühlungen als trivial und bedeutungslos anzusehen sind.« (B, 82) 2 | Dass das »Anfängliche« und das »Dichterische« eine unauflösliche Einheit bilden, ist nur plausibel, wenn man die Prämisse teilt, dass sich der unvordenkliche Anfang der Zeit dem Überlieferungsgeschehen großer Dichtung eingeschrieben hat. Nur dann, wenn klassische Literatur Spurenelemente des »Anfänglichen« enthält, ist der Dichter in der Lage, im Zwiegespräch mit den Klassikern (den »Entfernten«, seinem »Volk«) deren Wirkungsgeschichte fortzusetzen. Unter den Negativbedingungen einer ursprungsvergessenen Bundesrepublik spricht der Dichter (»so war es ja nicht immer!«) am »liebsten zu Entfernten, zu seinesgleichen, so wie er stets auch von ihnen gesprochen wurde. Sein Volk erstreckt sich von Dante bis Doderer, von Mörike bis Montale, von Valéry zurück zu Hamann und zu Seneca – ein zählbares Volk, gewiß, nicht beliebig viele, ein kleiner Bergstamm, Strahler und Kristallsucher über die Zeiten und Länder hin.« (AW, 29) So begleitet das Werk des Dichters »randabwärts eine Weile jene immerwährende Schrift, aus der er hervorging und in die er wieder einmünden wird« (AW, 29f.). – Bei Heidegger liest sich der Gedanke so: Dichtung ist »Stiftung« und »erwirkende Gründung des Bleibenden. Der Dichter ist der Begründer des Seyns. Was wir so im Alltag das Wirkliche nennen, ist am Ende das Unwirkliche. Indem der Wink der Götter gleichsam in die Grundmauern der Sprache eines Volkes durch den Dichter hineingebaut wird, ohne daß vielleicht das Volk dies ahnt, wird im geschichtlichen Dasein des Volkes das Seyn gestiftet, in dieses Sein eine Weisung und Angewiesenheit gelegt und in ihm hinterlegt.« Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen, GA Bd. 39, S. 33.

V. Der Dichter als Mär tyrer der Moderne

aufklärt, über die Idyllisierung von Geschichte und das Verdrängen von Tragik und Opfer. Aus diesem Grund spricht sie nicht im Namen der Zukunft, sondern im Namen der Vergangenheit; sie zielt nicht auf das Politische, sondern auf das Vorpolitische. Weil die »zweite Aufklärung« sich kritisch gegenüber der konformistischen Kritik verhält, versteht Strauß den Dichter auch nicht als reaktionären »Aufhalter oder unverbesserliche[n] Rückschrittler, zu dem ihn die politische Denunziation macht« – er versteht ihn als jemanden, der »voran« schreitet, »wenn es darum geht, etwas Vergessenes wieder in die Erinnerung zu bringen. Er hat jetzt und hier vor sich die dichten Schleier des technischen Scheins und der Bedeutungsleere, und er will sie teilen, zumindest für lichte Augenblicke, in denen Anwesenheit, Sinn, Logos offenbar werden« (AW, 49). Kurzum, im Betriebsgeräusch der Medien verkörpert der aufklärende Gegenaufklärer »die schwache Stimme in der Höhle unter dem Lärm. Ein leises, ewiges Ungerührtsein, das Summen der Erinnerung. Die Gegenwart schreibt auf seinem Rücken. Am Rand der einzigen allgewaltigen Terrapolis bietet er den verborgenen Auslaß für solche, die tiefer in die Zeiten wollen; aus der Stadt gelangt man nur durch ihn« (AW, 28). Erst hier, in der ›Tiefe‹ der »Zeiten«, zeigt sich die größte Gabe des Dichters, sein Sinn für die mythische Konvergenz des Verschiedenen. Im Chaos der zivilisatorischen Erscheinungen erkennt er den »ursprünglichen« Zusammenhang der Dinge, er sieht im Neuen das Uralte, die »abgefallene Wimper auf ihrem Augenhöhlenrand, die unter dem Make up lag wie eine verlorene Nadel des Altertums in einer feinen Tonschicht« (FU, 39). Auf verlorenem Posten und vom öffentlichen Argwohn begleitet gilt die Leidenschaft des Strauß’schen Dichters der retrovisionären Totalisierung der auseinander gefallenen Welt; er ist derjenige, »der’s zusammenfügen muß über die Jahrhunderte hin, der ganze Epochen säubert, bis er auf den Kern ihrer Frühe stößt und ihn bloßlegt« (AW, 8). In diesem »Kern der Frühe«, so lautet die zentrale poetologische Bestimmung, entdeckt er die Einheit der Schöpfung als complexio oppositorum von Gut und Böse. Die »inszenierte Welt des blinden Dichters« fasst »das Ganze« (NA, 143), und deshalb gleicht sein Weg der »Tour« eines »Mannes, der die Enden/zusammenfaßt, und packt das Bittere hier, das/Feierliche dort wie ein Bieger; dem zustieß von allen/das unverhoffteste Wort: Kelchschaft. Im Herzen Konvergenz.« (ETG, 30) Es kann nicht verwundern, dass zur kosmischen Konvergenz auch die Logik von Tragik und Opfer gehört, die angeblich abgeschafft zu haben den Legitimationsgrund der liberalen Moderne ausmacht.3 Aus dieser Lebenslü3 | »Konvergenz«, darauf weist Nadja Thomas zu Recht hin, schließt tragische Gegensätze nicht aus, sondern gerade ein. Die beschworene »Ganzheit« integriert soziale Konflikte in einen Gesamtkosmos und lässt sie als sinnvoll erscheinen. Vgl. Nadja Thomas, »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 220.

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ge erwächst dem Dichter nun die schwerste Aufgabe: Gegen die Übermacht der liberalen Tragikverleugnung soll er die Gegenwart der Tragödie sichtbar machen und den Beweis erbringen, dass sie als Grundtatsache alles Geschichtlichen von Menschenhand gar nicht aufgehoben werden kann. Diese »kosmische« Aufklärung übersteigt allerdings die Kraft der Worte und verlangt von ihm den Einsatz des ganzen Lebens. Um die liberale Opferverdrängung ans Licht zu bringen, muss sich der »Beauftragte« nämlich selbst zum Opfer bringen und klaglos die Rolle annehmen, die die anti-tragische Moderne für ihn vorgesehen hat – die Rolle des Märtyrers. Und tatsächlich: Indem der Dichter stoisch auf der Universalität von Opfer und Gewalt beharrt, macht er sich zum Gespött der Normalvernünftigen. Die Majorität der Anti-Tragiker und »Fortschrittler« erklärt ihn zum Ketzer und verbannt ihn aus ihrer Mitte; für sie ist er ein Idiot, ein Niemand, der zu niemandem spricht, ein »[p]oeta otiosus. Der zurückgetretene, der nutzlos gewordene, der in Vergessenheit geratene Ursprüngliche« (FU, 45). Der liberalen Öffentlichkeit erscheint seine Dichtung als ästhetische Häresie, als ein in »Fetzen zerplatzter Ballon in der Hochspannungsleitung« (FU, 55) – »[v]iele waren da, die vom Dichter nichts als die letzten Zuckungen eines überfahrenen Hundes sehen wollten –.« (FU, 59)4 Während der verfemte Dichter zerrissen ist zwischen »Verachtung für das eigene Unglück« und dem Dank »für diesen unermeßlichen Reichtum des Schmerzes« (FU, 58), erkennt Strauß im Opfer, das er gegen die liberale Opferverdrängung bringt, das Gnadenzeichen seiner epistemologischen Auserwähltheit. Am eigenen Leib, mit seinem Kainsmal und darum unwiderlegbar, bezeugt der Märtyrer die Gegenwart der Tragödie und das Faktum ihrer verleugneten Gewalt; mit seinen Wundmalen liefert er den unwiderlegbaren Beweis für die mythische Macht einer Opferlogik, deren Überwindung das ethische Selbstverständnis der säkularen Moderne einmal begründen sollte. Diese Offenbarung verwandelt die soziale Niederlage des »Beauftragten« endgültig in einen ontologischen Triumph. Die Moderne, die den »tiefer wissenden« Dichter als Sündenbock vor sich her treibt, hat den »uralte[n] Opferreigen« (FU, 18) nicht beendet, sie hat ihn bloß verleugnet. In diesen Bestimmungen sind die seitenverkehrten christologischen Muster mit Händen zu greifen. Seitenverkehrt deshalb, weil der von den »Fortschrittlern« gekreuzigte Dichter eben nicht eine christliche, sondern eine 4 | »Sein Lebtag war er durch die Straßen gewandert, ruhlos, abseits und gehorsam, als wäre ihm aufgegeben, nur ihm allein, ein Labyrinth auszuschreiten, das nur einen Augang hat, während alle anderen in Unkenntnis und Gleichmut es bewohnen, da sie alle Durchgänge für Ausgänge hielten und die unzähligen verschachtelten Bahnen, auf denen sie sich bewegen, für ihre Wege ins Freie.« (FU, 40) – Helga Arend erkennt die Figur des Außenseiters bereits in Strauß’ Erzählung Schützenehre. Vgl. Helga Arend, Mythischer Realismus – Botho Strauß’ Werk von 1963 bis 1994, Trier 2009.

V. Der Dichter als Mär tyrer der Moderne

vorchristliche Heilsbotschaft verkündet: Bei Strauß erscheint er nicht als Märtyrer Gottes, sondern – wie Robinson Jeffers – als Sohn des Seins; er lehrt auch nicht die Überwindung des Opfers, sondern verkündet dessen zeitlose Gegenwart. Ebenso wenig versteht sich der Strauß’sche Dichter als ein Friedensfürst, der gekommen ist, um durch sein Selbstopfer den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu unterbrechen; er ist vielmehr der pagane Fremde, der – Inversion der Inversion – von der Entfremdung der tragikvergessenen Zeit »entfremdet« und am eigenen Leib die Grundverdrängung der liberalen Welt sichtbar macht. In diesem kunstreligiösen Schema ist es dann nur konsequent, wenn den Dichter am Ende seines irdischen »Auftrags« die ästhetische Auferstehung erwartet, die Resurrektion seiner öffentlich exkommunizierten Sprache in der Ewigkeit des Schweigens. Im Sigé-Kapitel der Fragmente der Undeutlichkeit, einem monologischen »Dialog« zwischen der artikulierten (Dichter‑)Sprache und ihrem stimmlosen Ursprung, lässt Strauß das Schicksal des Dichters und seiner Sprache noch einmal Revue passieren. Zunächst treibt die Sprache als signifizierende Rede durch die Geschichte; wider Willen stiftet sie Verwirrung, bringt Unheil und macht sich schuldig.5 Selbst die Faktizität des »Bösen« hat ihre Ursache in einer vom stimmlosen Ursprung tragisch entfernten Sprache, das »Böse« ist eine Entäußerung des »gesprengten Anfang[s]« (FU, 63). Und doch geht die Sprache nicht restlos im Geschichtlichen auf; im Naturschatten der historischen Katastrophen bleibt ein ebenso unschuldiger wie unsagbarer Rest reiner ursprünglicher Stimme. »Ich bin Untertan jeder Verkehrung und jeder Widerrechtlichkeit und jeder Unvernunft gewesen […] Es war mir verwehrt, dem mächtigen Irrtum zu verfallen. Gepreßt gegen den Felsen der Vorsicht, ergriff mich der Schwindel vor dem durchschauten Bösen. Das deutsche Entsetzen der deutsche Selbsthaß die deutsche Leere.« (FU, 54) Abermals erscheint »Geschichte«, auch die deutsche, als Kontinuum des Schreckens; nicht einmal Großverbrechen können den fatalistischen Gleichmut der durch die Zeit irrenden Sprache erschüttern. »Aber was ich von Unheil und Untergang hörte […] hat meine ursprüngliche Trauer weder vermehrt noch vermindert« (FU, 58). Dann endlich wird der Weisungsempfänger des Seins erlöst; der Dichter gleitet den »Höllenkegel« der Geschichte »abwärts« (FU, 58) zurück in den »Ursprung«, um sich dort mit »unerweichliche[m]« Schweigen in heiliger »Muße« zu ergehen. Seine »Ataraxie« besteht darin, »die Wörter 5 | Nur noch die Stimme erschließt im »universellen Trug« einen symbolischen Ort. Der neugeborene Sohn am Ende von Beginnlosigkeit »öffnete die Augen und versuchte den Schleier davor zu der Stimme hin zu öffnen. Sie half ihm, einen ersten Ort in diesem universellen Trug auszumachen.« (B, 131) – Vgl. zur tragischen Trennung von Sprache und Stimme als »der beiden Moiren des Menschen« Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 158.

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sich finden zu lassen und nicht einzugreifen« (FU, 45). Damit kehrt sich auch die Referenzrichtung der Sprache um, und nun ist es das »Anfängliche«, das »er-hörte« Sein selbst, das sich dem Dichter schweigend zu-spricht. In der sigetischen Epiphanie zerfällt die Materialität der irdischen Worte, der Dichter wird reine Stimme, und vom Ursprung gesprochen verspürt er den tonlosen Hauch des Anfangs aus »aller Leere Grund«. »[N]icht unverständlich, sondern so, daß Schall und Verstehen in mich zurückkehrten.« (FU, 52)6 Dass Strauß das Selbstopfer des Dichters ausdrücklich als eine Ästhetik des Widerstands versteht, als Revolte gegen die liberale Opfervergessenheit, wirft die Frage auf, an wen seine metapolitische Botschaft adressiert ist. Zielt die »Aufklärung« der Auf klärung auf die Semantik der Gesellschaft, oder zielt sie auf deren politische Verfassung? Soll das mythische Dichter-Wissen die antitragischen Sprachspiele der liberalen Gesellschaft nur belehren – oder deren Systemlogik »im Ganzen« überwinden? Kurz: Hofft Strauß auf eine andere symbolische Praxis, oder hofft er auf ein zäsurierendes Ereignis – auf die Wiederkehr der Tragik? Auch diesmal bleiben die Adressierungen zunächst in der Schwebe. Mal versteht Strauß das Dichter-Wissen individualethisch als Medium privater Existenzerhellung innerhalb einer zähneknirschend akzeptierten liberalen Demokratie; dann wiederum versteht er es als metapolitische Anleitung zur Überwindung der liberalen Systemlogik. Um diese konstitutive Ambivalenz deutlich zu machen, empfiehlt sich ein vergleichender Blick auf zwei Textpassagen, in denen Strauß beide Versionen in Szene setzt. In seinem Gedichtband Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war beschreibt er, wie ein Dichter in die Rolle des Partisanen schlüpft, um einen existenziell taub ge6 | Am dunkelsten Punkt medial zerstörter Kommunikation öffnet sich der Horizont ursprünglicher Sprache und offenbart den »sigetisch« verborgenen Gehalt als Gegensinn zur frivolen ›Sichtbarkeit‹ zeitgenössischen Sprechens. »Wir wissen, daß wir nichts sagen. Daß alle Sätze vollkommen hauchdicht untereinander verbunden sind und sich in dunkler Abgeschlossenheit ohne jeden Reflex von außen bewegen. Wir sagen nichts: wir sprechen weiter. Die Wörter bleiben unter sich. Sie entlassen keinen Sinn. Sie bewahren die strengste Selbstbezogenheit« (FU, 45). Auch hier deutet Strauß den Moment differenzieller Selbstverschließung – das Déplacement der textuellen Wahrheit – nicht als Aufschub von Sinn, sondern als ein sprachontologisches Ereignis: Gerade durch seine Selbstbezüglichkeit enthüllt das Wort seinen unvordenklichen göttlichen Grund. Wenn Undeutlichkeit gleichzeitig die Eigenschaft Gottes (und damit Widerstand gegen die Tyrannei medialer Ausgesprochenheit) ist, dann liegt die Zukunft der Sprache in der Vergangenheit ihrer primären »Undeutlichkeit«: »Es mußte schlechthin alles zurückübersetzt werden in die Undeutlichkeit. Das poetische Umlauten gedachte der widerständigsten Verborgenheit, aus der man nichts mehr würde ›herausholen‹ können. Zurück ins Nicht-Verstehen!« (FU, 50)

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wordenen »Meßwert-Arbeiter« lyrisch aufzuklären und jenen dichten Schleier fortzuziehen, den Technik und Wissenschaften über seine Selbstempfindung gelegt haben. Für diesen Zweck schmuggelt der »Dichterbote« konspirativ ein »andere[s] Wort« in das imaginativ entleerte Leben des Informatikers; gewaltlos und ohne die personale Autonomie des Empfängers anzutasten, unterbricht er dessen Alltagsroutinen und öffnet das entzauberte Weltwissen für einen »vergessenen« Sinn.7 Die »Anamnesis« gelingt; der Klang aus der Fremde (»eine alte, abgerissene Liedstrophe«) macht den »Meßwert-Arbeiter« hellhörig und erlaubt ihm, gegen die Macht des technischen Scheins seinen »namenlose[n] Kummer« symbolisch »namhaft« zu machen und zu alphabetisieren. »Er taucht auf als ein Bruder/in den Träumen des weißen Wärters vor seinen Rechnern,/in der einsamen Nacht des Ingenieurs auf seinem Leitstand,/erscheint in den Schmerzanfällen des Meßwert-Arbeiters,/in seinem namenlosen Kummer/als der zerstückelte Bote der Erinnerung,/als eine alte, abgerissene Liedstrophe.« (ETG, 25) Dass die Fremd-Worte des »Dichters« den entfremdeten Gefühlen des »Ingenieurs« eine symbolische Adresse geben – darin liegt das sprachutopische Moment dieser Verse, die einen opaken Schmerz nicht beseitigen, sondern durch eine neue sprachliche Selbstwahrnehmung identifizierbar machen. Dieser individualethisch angelegten Aufklärung stellt Strauß ein zweites Szenario zur Seite, eine Fantasie der Destruktion. Ging es seinem Langgedicht modernitätskritisch darum, ein technoid verarmtes Vokabular metaphorisch zu erweitern, so zielt das zweite Szenario in Wohnen Dämmern Lügen – modernitätsverwerfend – auf einen Umsturz der symbolischen Ordnung im Ganzen, es zielt auf die Verheerung der zerstreuten »sekundären Diskurse« durch ein apokalyptisches Inferno. Die Insassen der Medien-Höhle werden hier nicht semantisch »aufgeklärt«, vielmehr wird die Höhle gleich selbst gesprengt. Das Sprachdesaster, von dem diese Version spricht, gleicht dem aus den Fragmenten der Undeutlichkeit: Die vertrauten Wörter der Alltagssprache haben ihre Bindungskraft und den Bezug auf »Wahrheit« und »Stiftung« verloren und streunen in sinnloser Wortwörtlichkeit durch den medialen Raum.8 Doch 7 | Das »andere Wort« opponiert der entleerten Immanenz, der »Ausgesprochenheit« medialer Diskurse: »Jede Epoche hat ihre Ausgesprochenheit, ihr geschicktes und erschöpfendes Sich-Selbst-Benennen. Dieser herrschsüchtigen Ausgesprochenheit, die die Gesamtheit der Begriffe kontrolliert, das ›andere Wort‹ einzuschleusen, ist sein geheimer, wichtigster Einfluß.« (FU, 46) Der Umstand, dass der »Meßwert-Arbeiter« den symbolischen Mangel überhaupt wahrnimmt, verdankt sich einem unstillbaren, nicht zum Schweigen zu bringenden Rest existenziellen Leidens. Erst dieser Schmerz öffnet den Spalt, durch den der Dichter das »alte Lied« einzuschleusen vermag. 8 | Vgl. die Parallelstelle in Fragmente der Undeutlichkeit: »Ziellos wirbelt das Ex-Wort durch das Geraune der Flure, Kammern und Zimmer. An Stimmen stößt es, an Fenster

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anders als im Fall des »Meßwertarbeiters« ist die Sprache so vollständig dement, dass der Wortmüll der Mediengesellschaft nur noch zerstört, nicht aber regeneriert und mit neuer Bedeutung belehnt werden kann. Strauß stellt sich vor, wie die leeren Signifikanten zu einem tödlichen »Feuerball« zusammenschießen, zu einer tyrannischen, alles vernichtenden »Masse« aus »Redeklumpen«, die über die Gesellschaft hinwegrollen und in einem Akt reinigender Gewalt an ihr Rache nehmen. Schlussendlich imaginiert die Prosastimme den Untergang der »ausgesprochenen« Welt als Anamnesis des Ursprungs. Die sich durch Vernichtung offenbarende Ursprungsmacht der Sprache und das alles niederwälzende »Sprach-Biest« aus »Ex-Wörter[n]« neutralisieren die Neutralisierer und sühnen die Sprach-Schuld der Gesellschaft. »Am Ende wird man am Schopf und am Leib ergriffen von der entfesselten wörtlichen Bedeutung, die uns mit animalischen Kräften überfällt. Das Sprach-Biest und das Menschen-Gestell …« (WDL, 193)9 Bezeichnenderweise ist es abermals ein »Dichter«, der unter der Maske eines Kinobesuchers die große semiotische Säuberung herbei gesehnt hatte. »Aber vielleicht ist meine Hoffnung bereits auf das Unheil gerichtet. Auf einen Bildersturm, wie die Welt ihn noch nicht gekannt hat … Es muß über uns kommen, aus uns selbst kommt nichts mehr.« (WDL, 179f.) Selbstredend möchte sich der Dichter für seine Gewaltfantasien nicht verantwortlich machen lassen; er wäscht seine Hände in Unschuld, zieht sich zurück auf die moralisch unbelangbare Rolle des Wahrsagers und erwartet (in einer Passage aus dem Bocksgesang) nicht den Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung, sondern das pagane Ensemble der »Götter«: »Die Wiederkehr der Götter, wie Malraux und Jünger sie voraussehen, die Hoffnung der Weisen – nur: wie heißen die Künftigen und wer empfängt sie? Wer steht in ›fürchtigster Frömmigkeit‹ (Rilke) vor ihnen und kennt dann ihre Namen nicht? […] Solche Wiederkehren

und Lampen; unbündig prallt es von einem zum anderen, verläßt die Schwerkraft der Stiftung.« (FU, 51) Oder auch in Niemand anderes: »Alle redeten sie und hörten es nicht. Aus dem losentbrannten Gerede wuchs ein Feuerball, rundrasend, dessen Wirbel jedes noch haftende Wort ausriß. Reden wälzte über alles hinweg, versengte die Verbindungen, bis alle Leitungen und Stränge ineinanderverschmorten und ein einziger schwarzer Redeklumpen entstand. Ausgesprochen war die sprachliche Erde. Schlacke. Nie wieder Rohstoff. Ungestalt.« (NA, 153) 9 | Das Ereignisdenken in der Sammlung Wohnen Dämmern Lügen scheint von der Vorstellung fasziniert zu sein, der Einbruch des Absoluten in die »verdorbene« Kommunikation sei bereits die entscheidende Rettung. Damit wird das Interesse am Wesen des Ereignisses auf das sich wesentlich Ereignende verschoben, auf den Akt der Zerstörung, der aus der Uneigentlichkeit herausreißt – die sinnlose Zerstörung erscheint selbst als Sinn.

V. Der Dichter als Mär tyrer der Moderne

kämen dem Einbruch des Unbekannten gleich, unter Umständen sogar: des einmalig Fürchterlichen.« (ABG, 21)10 Dass es nicht Gott, sondern die »Götter« sind, die von ihrem »Beauftragten« begrüßt werden, scheint einmal mehr die Vermutung zu bestätigen, Strauß habe die christliche Eucharistie als Vermittlungsmedium poetologisch zweckentfremdet, um unter dem Decknamen der »Religion« ästhetisches Wissen in ein vorreligiöses Ursprungswissen zu transubstantiieren – in das tragische »Wissen« vom »Immerwährenden«, den Invarianten von Unglück, Opfer und Gewalt. Während der junge Strauß die christliche Semantik als Interpretationsressource retten wollte, ersetzt er nun den Singular des Einen Gottes durch den Polytheismus der »Götter«, und damit versteht er das Göttliche nicht mehr als das, was älter ist als die Zeiten – er versteht das Göttliche vielmehr als die älteste Zeit, als geschichtliche »Frühe«.11 Diese erstaunliche Kehre widerruft den in Groß und klein bewegend in Szene gesetzten Wunsch nach einer pfingstlichen Erneuerung der »gottlosen« kommunikativen Welt und opfert sie der neuheidnischen Vorstellung eines destruktiv wiederkehrenden Ursprungs. Deshalb ist es durchaus konsequent, wenn die Strauß’sche Fantasie großformatig und flächig wird und sich nicht länger mit der Mikroanalyse von »spätkapitalistischem« Sprachleiden aufhalten will. Nun ist es die mit Sokrates, Moses und Christus anhebende Moderne selbst, die zur Rechenschaft gezogen wird und deren Zustand einen neuen Anfang erzwingt, einen Rückstieg hinter die monotheistische Achsenzeit und die Wiederkehr der »Götter«. Dieses manifeste Interesse, gleichsam hinter die jüdisch-christliche Zäsur zu gelangen, mag das Strauß’sche Phantasma motivieren, im Zenith einer ›grauenhaft‹ vernünftigen Moderne kehre das temporalisierte »Sein« in Gestalt revoltierender »Erdkräfte« (WDL, 182) zurück und spreche sein vernichtendes Urteil. »Im Haus des Seins werden polternd die Möbel gerückt. Es kann nicht schrecklicher kommen, als das schreckliche Bewußtsein schon ist. Alle erdenklichen Grauen. Schlimmer als erdenklich ist nichts. Am Furchtbaren ist das Furchtbarste, daß es eintritt, wie ausgemalt und vorhergesehen … Noch redet die Vernunft beherzt, im Benennen der Übel 10 | Strauß’ Bekenntnis zur Gnosis findet sich programmatisch in der Prosasammlung Niemand anderes: »Von der Gnosis zu lernen: daß Erkenntnis schon immer ein Funke Erlösung ist. Der Mensch trägt in sich den Lichtsamen. Damit ist er das einzige Geschöpf in der schwarzen, gefallenen Welt, das mit dem Jenseits-Gott verbunden bleibt. Gegen sie zu wenden: daß Materie, die hylische Welt vollends übel und verdorben ist.« (NA, 148f.) 11 | Mit anderen Worten: Im Gegensatz zum Strauß’schen Ursprungsdenken versteht Theunissen das »Heilige« nicht als das »Frühe« und »Anfängliche«, sondern als das, was der Zeit und den Zeiten vorausliegt. Damit wäre der Strauß’sche Weg, nämlich die »Heiligung« geschichtlicher Anfänge, verstellt. Michael Theunissen, Pindar, S. 946f.

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und der Sorge wird ihre Rede seltsamerweise immer behender und geschickter – doch die Erdkräfte scharren nur ein wenig und übertönen sie schon.« (WDL, 181f.)12

12 | Das Raffinement der Schlussszene in Wohnen Dämmern Lügen besteht nicht zuletzt darin, dass die Weltverwünschungen von dem leben, was sie verwerfen, denn auch sie gehören noch dem »Geschwätz« an, dem »Man« der öffentlichen, verdorbenen Kommunikation. Deshalb ersticken die prophetischen Seher an ihren eigenen Worten. Erst wenn alle menschliche Sprache versiegt ist, wird das Schweigen des Anfangs als einzig wahre Sprache hörbar sein.

Vierter Teil Tragödien ohne Tragik. Im »Niemandsgarten« des Liberalismus

I. Öffentlichkeit als »Gewaltherrschaft« »Ästhetisches Wissen«, so lautet die Grundformel der Strauß’schen Poetik, repräsentiert das Zeitlose der Zeit und speichert die Wahrheit des »Anfänglichen«, des »Immerwährenden« und »Tragischen«. Dieses Exklusivwissen sichert der Kunst ein konkurrenzloses Privileg gegenüber allen anderen Diskursen und promoviert sie zum metapolitisch maßstabsetzenden »Externum« (ABG, 23) der tragikvergessenen Demokratie. Der Dualismus von »außeralltäglichem« Kunstwissen und »alltäglicher« Tragikvergessenheit zieht drei naheliegende Einwände auf sich: Strauß, so lautet der erste Einwand, projiziert die normativen Hintergrundmuster seiner Gegenwartskritik zunächst in das zeitlose »Mysterium« der Kunst, um sie durch eine geschickte ontologische Umbuchung als übergeschichtliche Primärwahrheiten über das »Leben« und das »Tragische« wieder aus ihr herauszulesen. Bei dieser Operation macht er – zweitens – den kritischen Ort der Unterscheidung von »primär/außeralltäglich« und »sekundär/alltäglich« unkenntlich, also die Frage nach seiner eigenen Sprecherposition. Diese Sprecherposition liegt aber nicht jenseits der beiden Pole, sie ist nicht neutral. Vielmehr lokalisiert Strauß den normativen Ort seiner Unterscheidung im »Außeralltäglichen«, so dass die andere Seite dieser Unterscheidung (das »Alltägliche«) zwangsläufig als dessen defizienter Modus erscheint, als Dekadenz, Nihilismus oder sekundäre Medialisierung durch »Öffentlichkeit«. Der dritte Einwand schließt daran an. Strauß löst die Literatur aus dem Kontext einer funktional differenzierten Gesellschaft, überhöht sie zum »Externum« der Politik und empfiehlt ihr »tragisches Wissen« als Rezeptur gegen »politische Relativierungen von Existenz« (ABG, 23). Und dennoch – auch wenn diese Einwände die argumentative Statik seiner »sakralen Poetik« ins Wanken bringen, sollte man sie für einen Moment zurückstellen und fragen, welche zeitdiagnostischen Einsichten der Sphärendualismus von »primärer ästhetischer Wahrheit« und »sekundärer« Öffentlichkeit freisetzt, genauer: ob er sich für eine Strukturkritik an einer »spätkapitalistischen« Ökonomie der medialen Aufmerksamkeit produktiv machen lässt. »[U]nblutige Gewaltherrschaft« – so lautet die handliche Formel, mit der Strauß seine Polemik gegen die »Massenmedien« der »Massendemokratie«

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auf den Punkt bringt. Eine Form gewaltloser Gewalt üben Medien aus, weil sie das Traditionsgeflecht der Gesellschaft zerschneiden und »primäre« Überlieferungen durch sekundäre Vertextung verflüssigen. Anstatt das nationale Kollektiv auf ganzer Breite an seine Traditionen anzuschließen, erzeugen Massenmedien einen undurchdringlichen Nebel aus Wissen und Überinformation und erzwingen die Unterwerfung des Bürgers unter die öffentliche »Gewalt der Belanglosigkeit« (PP, 103): »Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig. Es kennt keine Untertanen und keine Feinde. Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonforme […]. Es herrscht der Drill des Vorübergehenden, gegen den keine Instanz der Erde sich noch auflehnen kann.« (ABG, 18f.) Obwohl Massenmedien strukturell autoritär sind, formieren sie Subjektivität nicht von außen mittels Gehorsamsforderungen und Verhaltenskommandos; sie formieren sie gouvernemental von innen, und zwar durch die Legierung des Bewusstseins mit Wissenspartikeln sowie durch die manipulative Ersetzung kulturell eingelebter Identitätsmuster durch sensationalistischen Schein. »Höllisch« nennt Strauß die Emission von Informationsmüll, weil sie das Einzelbewusstsein gegen den differenzierten kulturellen »Geist« abdichtet und Unterscheidungen erzeugt, die nichts mehr unterscheiden. »Öffentlichkeit, allesfressende, klettert wie die Wanderratte durch die Leitungsrohre […] Was für ein höllischer Schein! […] Information, Rostfraß des Geistes. Megatonnen von Vernunftabfall. Dasein als Unsinn. Das Gewäsch wäscht alle Kanten rund […]. Je größer die Masse an Information, um so neulicher ihr Wert …« (NA, 128) Den Einwand, Medien folgten einem kritischen Prinzip, lässt Strauß nicht gelten. Gerade in ihrer kritischen Attitüde vermutet er ein perfides sozialtechnologisches Moment, das den Opportunismus der »Masse« um so wirkungsvoller organisiert und deren Gefolgschaft sicherstellt. Denn indem Medien existenzerhellende Überlieferungen in ein standardisiertes Schema pressen (in das binäre Schema von Ja/Nein, alt/neu, wichtig/unwichtig), zerstören sie die Fähigkeit zum intuitiven Verstehen und diskriminieren jenen widerständigen Sinn, der in ihren »kritischen« Formatierungen nicht aufgeht. Was sich dem Relevanzraster des medialen Befragungs- und Bezweiflungsprinzips nicht fügt, wird ausgefiltert oder gewaltsam eingepasst, es wird wahlweise marginalisiert oder vulgarisiert, aber auf jeden Fall unwirksam gemacht. Im integrierenden Ausschluss des kulturell Nichtidentischen und in der dogmatischen Ausrichtung am Neuen erkennt Strauß die heimliche Signatur der Massenmedien. Sie ist verantwortlich für die symbolische Leere der Bundesrepublik, für ihren pseudokritischen Populismus, erst recht für die kollektive Wut auf das Schwierige und die Unduldsamkeit gegenüber dem ästhetisch Heterogenen – kein Wort darf in der »inzüchtige[n] Kommunikation« (ABG, 16) über die mediale Sprache hinausweisen. »[J]ede Begrenzung des Kommen-

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tars durch die Scheu vor dem Schöpfungsakt, dem Werk, [ist] längst gefallen. Die Schutzhülle des Textes ist zur Flechte des Parasiten geworden.« (AW, 45f.) Rastern, Normalisieren und Enttabuisieren kennzeichnen das Traditionsverarbeitungsschema einer Mediengesellschaft, die hysterisch darauf fixiert ist, sich die bestürzende Fremdheit ihrer metaphysikgeschichtlichen und ästhetischen Überlieferungen vom Hals zu halten.1 Das eigentlich diabolische Geheimnis der »Wanderratte« Öffentlichkeit verbirgt sich für Strauß in der Verschmelzung von Sakralem und Profanem zu einem konsumierbaren »Gemeng«. Im medialen Säurebad, so argumentiert er, werden religiöse Überlieferungen »kritisch« zersetzt, dekontextualisiert und entkernt; anschließend werden die dispersen Überreste religiöser Rede neu formatiert und zu Zwecken medialer Reizerzeugung wieder in den Verwertungskreislauf eingeschleust beziehungsweise mit »Gegenwärtigem« collagiert und verklebt. In einem unablässigen Re-Entry verwandeln Medien Altes in Neues und Fremdes in Vertrautes, das heißt: Sie fördern nicht die kommunikative Entbindung von »Glaubensstoff«, sondern benutzen ihn zur Selbstexotisierung des Profanen. »Abstieg des religiösen Stoffs in den Weltbetrieb. Und bildet dort mit den Vernünften ein unschönes Gemeng. Wie ließen aber diese Geister je sich wieder scheiden? Es gibt wohl den Drang des Menschen, den rohen Klumpen wieder auszuwerfen, den Glaubensstoff zu isolieren und wieder gegenüber zu haben: das Ganz Andere.« (NA, 133f.)2 Ein Gegenbeispiel zur mediengesteuerten Vulgarisierung von Sinn entdeckt Strauß allein in der talmudischen Überlieferung, in deren »Scheu vor der tabuverletzenden Benennung«: In der »tagtäglichen Glossierung« wurde das Wort geschützt und die Wahrheit der »unergründliche[n] Schrift« mit »Antwort umwebt«: »Das 1 | »Wurden etwa in seiner Umgebung Witze erzählt, so lieferte sein mimetischer Speicher oder Synthesizer Witze über Witze und schickte sie im Dutzend am Stück durch seinen Mund. Wurde aber neben ihm philosophiert […], so würgte er eben den unverdauten Diskurs hervor.« (KON, 127) Gleichwohl ist das Medien-Regime zwar erdrückend, aber nicht total – es bleibt eine letzte metaphysische »Schamgrenze«: »Über beinahe alles ist mit dem intelligenten Zeitgenossen zu reden, nur nicht über ein metaphysisches Problem. Man spürt allgemein eine Scheu, über derlei zu sprechen, die nicht ganz geheuer ist. Fluchend, blasphemisch, tabuverletzend darf man sich jederzeit auslassen. Aber die ernste Überzeugung stößt ab und macht verlegen wie eine üble Zote. Die satirische Intelligenz hat hier ihre Schamgrenze.« (NA, 143) 2 | Strauß geht es hier offensichtlich nicht – in den Worten Giorgio Agambens – um eine »absolute und restlose Profanierung«, die »mit einer ebenso leeren und vollständigen Weihung« zusammenfallen müsste« (ders., Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, S. 79); Strauß beschreibt vielmehr die mediale »Dispersion« von Religion, ihre Amalgamierung mit Profanität. Vgl. Hans-Joachim Höhn: »Postsäkulare Moderne? Beobachtungen zur Dispersion religiöser Traditionen«, in: Westend, Heft 2 (2011), S. 80-89.

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war ihr Text. Der uns beherrschende Text, die tagtägliche Zeitung, entlarvt indessen überall das scheinhafte Wort, er macht das Gewebe der Welt fadenscheinig.« (AW, 45) Die Negativfolgen der medialen »Totalherrschaft« (ABG, 13) zeigen sich allerdings nicht direkt, sondern nur vermittelt, sie zeigen sich im verschwiegenen Leiden des resonanzlosen Subjekts, in seiner Sprach- und Artikulationsnot sowie in hochgradig gestörten Selbstbeziehungen. Wie Strauß in seinen Stücken und Erzählungen überzeugend vorführt, müssen Selbstverhältnisse grundsätzlich als Interpretationsverhältnisse verstanden werden: Subjekte profilieren ihr Selbstsein im Licht kulturell tradierter Metaphern und gesellschaftlich kommunizierter »Prägemuster« (ABG, 16). In dem Maß nun, wie sich diese »Prägemuster« in Informationskaskaden verflüssigen, erodieren die symbolischen Voraussetzungen für Selbstwahl und Identität. Das mediale »Gemeng«, so lässt sich Strauß verstehen, bleicht die augenöffnende »Semantik des Selbst« aus und nimmt dem Einzelnen die Möglichkeit, seine existenzielle Wirklichkeit differenziert wahrzunehmen und seine Gefühlszustände im Licht kultureller Bilder abzutasten und symbolisch zu identifizieren. Vor allem Ängste können mangels apotropäischer Metaphern nicht mehr narrativ konsolidiert und müssen sprachlos abgespalten werden. »Bunte Welt der Demokratie, wahrer Materialismus, Blütezeit der Dinge, harte Rhythmen, schnelle Schnitte. Daneben Todesängste wie vordem, Unheils-Witterung, Dégouts und überdüngte Träume, Gelüsteschwund, auch Überdruß und Langeweile sind gründlich demokratisiert […] Millionen Eingeschlossener lassen sich eine Welt der Kommunikation vorspielen.« (AW, 26) »[O]hnmenschlich« nennt Strauß den »Trug« der Mediengesellschaften, weil sie überlieferte Existenzmetaphern auswaschen und die Artikulation von Elementarerfahrungen blockieren, den symbolischen Zugang zum Lebens-»Ernst«. »Übergesichtig sind die Leute. Jeder ein Zuviel, ein Supermarkt […]. Wir sind durch und durch veröffentlicht. […] Kein Augenblick, wo der Typ einmal für sich sein könnte – wann sehe ich einmal seinen irreduziblen, unzersetzbaren Ernst? Doch nur, wenn er ganz in sich zusammensinkt. Vielleicht nur diese vier, fünf Intensivstationen der Normalität, Schrei, Trauer, Glück, Fanatismus, in denen das verschwenderische Geschäft mit der Personifizierung eingeschränkt und die Person zu einem einzigen, klar erkennbaren Ausdruck zusammengefaßt wird.« (W, 30/31) 3

3 | »Das heisere Fauchen der Empörten, Betroffenen, die für all ihre längst ausgestandenen Ängste und ewig repetierten Gefühle keine wahre Stimme mehr haben – diese Schein-Worte, diese verbrauchten öffentlichen, subjektlosen, höchst subjektiven Worte sind wirklich nur noch Gezisch, Gebell, Gehüstle. Die Ich-Unmittelbarkeit ist der Ruin der Gefühle.« (ABG, 22)

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Medien sind allerdings auch »produktiv«. Sie erzeugen Subjektivität, sie normalisieren Biografien auf ein äußeres Muster und schaffen durch die Ausstoßung von Nulltext die Bedingungen dafür, »dass es den meisten Menschen gelingt, ihre Existenz […] als eine perfekte Ablenkung von ihrer Existenz zu führen« (PP, 165). »Oft will man seinen Ohren nicht trauen, wenn jemand von seiner Verzweiflung spricht. Man hat das Gefühl, daß Verzweiflung an sich als existenzielle Anfechtung, als Effekt der Individuation überholt und ausgestorben ist wie ein altes Handwerk. Wie die Langeweile so ist auch das Leidwesen durchgreifend sozialisiert worden.« (NA, 208) Die Medialisierung des Sozialen beseitigt zuletzt auch die existenzielle Differenz zwischen Subjekt und System, und die sprachlich elaborierte Person verwandelt sich in ein plapperndes Hybrid, bei dem »nur das Mundwerk weiter[läuft]« (ABG, 15). Vom »unendlichen Fernsehen durchströmt«, mutiert das Alt-Subjekt nun selbst in »eine Art Medium« (KON, 121), in ein synkretistisches Double des Öffentlichen. Damit verschwindet für Strauß ein weiterer Legitimationsgrund des liberalen Systems, nämlich die Unterscheidung von privat und öffentlich; an seine Stelle treten postmoderne Mischformen aus Mediensubjekten und »subjektivierten« Medien. »Man hat sich öffentlich entleert und behält für sich ein öffentlich-leeres Wesen zurück. Das Haus und der Sender bilden einen dichten Regelkreis der informierten Betuschelung.« (NA, 130) Nach dem Sieg der Medien über die Überlieferung verneint sich in einem letzten Akt das Subjekt der Aufklärung selbst; das animal symbolicum verlässt das historisch erreichte Niveau seiner Selbst- und Weltdeutung und fristet seine Tage als grau gewordener Troglodyt, versponnen in das ausweglos dichte Gewebe medialer Immanenz und identisch geworden mit dem »Man« öffentlicher Rede. »Der erschöpfte Eremit vor seiner Medienhöhle. Zerbissen von Meinungen, von tausend Anfechtungen der Gesinnung heimgesucht und gepeinigt, von Öffentlichkeit durchdrungen und halb zersetzt.« (NA, 127) Systematisch blockieren medienformierte Gesellschaften auch die kommunikative Erfahrung des Gegenüber, die für Strauß so wichtige Epiphanie des Gesichts. Noch ehe der Andere als unvertretbare Person auf dem kommunikativen Feld erscheint und noch ehe ihn überhaupt ein Wort erreicht, wird er von medialen Mustern perspektivisch erfasst, schematisiert und zugerichtet. »[W]ir erblicken einander über die distanzlose Weite der innersten Öffentlichkeit.« (NA, 129) Nicht Menschen »sehen« in Kommunikationen einander an, sondern TV-Formate kommunizieren miteinander, die stereotypen Existenzprofile der visuellen Industrie. »Ich weiß nicht mehr, wie ich dich umarmen, dich küssen soll. Die niederträchtigen Zurschaustellungen von Menschen, die sich nur zum Schein paaren vor toten Kameraaugen, haben mein geschlechtliches Empfinden verletzt und erniedrigt.« (WDL, 179) Oder in der von Strauß bevorzugten optischen Metaphorik gesagt: Die öffentlichen Ablagerungen im

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»Auge« der Sprache zerstören die Realerfahrung des Anderen und entstellen ihn zum Doppelgänger gleichförmiger medialer Muster. »Nichts lähmt ihn mehr als ein Gespräch zu zweien, in dem widertönt, was allenthalben den Äther erfüllt. Sprache als soziales Geräusch. Öffentlichkeit auf den Lippen des Einzigen tut weh. Es beängstigt ihn die Magie, der unbeschränkte Einfluß und Unterstrom der öffentlichen Subjektivität, der konformen Befindlichkeiten, die noch der Einsamste von sich gibt, eine Sprache, mit der er sich um so besser ›identifizieren‹ kann, als sie ihn sicher davor bewahrt, zu erfahren, wer er ist.« (NA, 42f.)

Unter den Bedingungen einer durchmedialisierten Gesellschaft bekommt Kommunikation sowohl etwas Simulatorisches wie auch extrem Selbstbezogenes; sie gleicht einem »Schau-Gespräch«, dessen Teilnehmer einander nicht mehr als Subjekte »ansprechen«, sondern sich zum Zweck egozentrischer Selbstanerkennung wechselseitig in Dienst nehmen. Die idealistische Utopisierung der Kommunikation zu einem diskursiven »Pfingsten« verkehrt sich hier in ihr Gegenteil: Die endlose Stimulation von autoaffektiven Wortketten dient nur mehr der Erzeugung von Eigenresonanz und macht Dialoge zur Propaganda in eigener Sache – Reden ist nicht mehr responsiv, sondern innerlich neutral und selbstbezogen. Deshalb sind Kommunizierende für Strauß »zutiefst Aus-Gesprochene […], Wortlose, die Schau-Gespräche führen: seht, ich zeige mich sprechend …« (ABG, 22). Schließlich wird die intersubjektive Entfremdung so total, dass sie unsichtbar bleibt und die täuschende Gestalt größtmöglicher Vertrautheit annimmt, die paradoxe Form unnahbarer Nähe. »Die meisten Überzeugungsträger, die sich heute vernehmen lassen, scheinen ihren Nächsten nur als den grell ausgeleuchteten Nachbarn in einer gemeinsamen Talkshow zu kennen. Sie haben offenbar das sinnliche Gespür […] für die Fremdheit jedes anderen, auch der eigenen Landsleute, verloren.« (ABG, 13)4 Warum Kommunikationen auch ohne Verständigungsorientierung weiterlaufen, erklärt Strauß mit der öffentlichen Produktion von dialogischen Kopplungen und Anschlussroutinen, die vom Einzelnen intuitiv dem Medienjargon entnommen und situationsgerecht eingepasst werden. Sie erzeugen ein modulierendes »Verstehensgeräusch« (ABG, 19), einen konsensuellen Schein, der die unaufhebbare Fremdheit und Entzogenheit des Anderen in »aufrichtig« 4 | Das ist auch der Grund, warum Strauß in der Mediengesellschaft keine »Bürger« mehr antrifft, sondern bloß »eine seltsame Spezies von Bürgerähnlichen, einen klassenlosen Mischtyp aus historisch reißfestem Synthetikmaterial. Was diese Population zusammenhält, ist im wesentlichen ihre kritische Öffentlichkeit, eine komplizierte Gemengelage von versprengten Interessen, Aufsichten, Gereiztheiten, Gesinnungs- und Sorgestimuli. Hier überlebt das Wort Kultur nur noch in kurioser Bedeutung, als Emphasezusatz im öffentlichen Jargon […].« (AW, 28)

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simulierte Vertrautheit überführt. »Der demokratische Schrecken: man lebt vom Flügelrauschen im Mund und kommt nur noch zur Stimmfühlung zusammen wie die Enten am Weiher.« (FU, 46) Kein anderes publizistisches Format bringt die Subjektivierungsmacht der Massenmedien für Strauß so unverhüllt ans Licht wie die Talkshow. Nachdem das Bilder-Regime des Fernsehens die schriftvermittelten Narrative zur Versprachlichung von Schmerz- und Endlichkeitserfahrungen bedeutungslos gemacht hat, installiert es mit der Talkshow eine Unterhaltungsform, die das gefährliche Sinnvakuum entschärft und nomadisierende Existenzängste systemkonform stillstellt. Paradoxerweise geschieht die existenzielle Dauerberuhigung des Publikums durch die »Veröffentlichung« von Einzelschicksalen, durch die Exhibition von individuellem Leid, von Tragik und Unglück. »Unerhört« nennt Strauß dieses Verfahren, weil Talkshows das irreduzibel Reale, den singulären Schmerz, erst zwecks Reiz- und Erlebnisverdichtung zur Schau stellen, um ihn dann massenwirksam zu moderieren und durch »abmäßigendes« Sprechen zu normalisieren. »Die Schande der modernen Welt ist nicht die Fülle ihrer Tragödien […], sondern allein das unerhörte Moderieren, das unmenschliche Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlung.« (ABG, 17) Das vermittelnde Ab-Moderieren im Existenz-Entertainment möchte Strauß durchaus wörtlich verstanden wissen. Indem Talkshows private Katastrophen propagandistisch ausschlachten und einen verlogenen quoteninteressierten Trost spenden, entziehen sie dem »unaussprechlichen« Leid des Einzelnen die Anerkennung. Diese Formatierung der Trauer macht Talkshows zu Agenturen der therapeutischen Industrie. Mit der leidvollen Verleugnung von Leid beseitigen sie den »untröstlichen« Kern traumatischer Erfahrung und vergesellschaften den einzig verbliebenen Widerstand des Subjekts – seinen sprachlosen Schmerz, das letzte, »unsagbare« Auf begehren gegen die Medialisierung des Existenziellen. »Namenlose Immanenz« und »höllischer Schein« – so lautet das phänomenal einseitige Urteil, das Strauß gegen medienformierte Gesellschaften vorbringt. Interessant an seiner Polemik ist die Beobachtung, dass das »unblutige« Regime der Öffentlichkeit eine mythische Schließung erzeugt, die im Gegensatz zum religiösen Glauben die Gesellschaft nicht auf ein »Außen« transzendiert, sondern sie in eine panoptische Spiegelhölle aus Simulakren und »informationellem Schein« interniert. Dass darin Selbsterhaltung und Selbstbewusstsein identisch werden, versteht Strauß als Rache der Aufklärung an sich selbst. Denn hatte die Aufklärung ihre Karriere im Namen von Autonomie und Mündigkeit begonnen, so lässt ihre letzte Mutation, die Weltbildhegemonie der Medien, eine kreisende »Bedeutungsleere« (AW, 49) entstehen, die die »kritischen« Subjekte wieder jener »dumpfen« Unaufgeklärtheit ausliefert, der sie durch Traditionskritik hatten entkommen wollen. Im »Medium« der Medien verkehren sich Aufklärung in Mythos und Autonomie in Hetero-

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nomie. »Was einmal die dumpfe Masse war, ist heute die dumpfe aufgeklärte Masse« (ABG, 18). Mit der »demokratische[n] Vereinnahmung des Herrlichen« (AW, 45), und das ist für Strauß die Quintessenz, erleidet der »Geist« als Fähigkeit zu kultureller Differenzierung dasselbe Schicksal wie die Religion – er stirbt ab und verstummt. Mit dem Tod der Bedeutsamkeit im »Massenzeitalter« (ABG, 19), wenn »alles mit allem in Berührung gerät«, verschwindet das Nicht-Identische und der Sinn der Dinge wird erratisch: »Wie nennt es sich? Was ist das? […] An diesen Dingen fehlen die Namen … die Dingwörter … wie kann ich es nennen? Was ist daran überhaupt nennbar? Fast nichts … Du wirst sehen, es wird immer schwieriger, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Sie sind sehr listig geworden und wissen sich heute den festen Bezeichnungen rasch zu entziehen. Dann stehst du da mit deinem leeren Wort – das Ding ist längst verwandelt!« (WDL, 191)

Welche Formulierung man auch wählt, für Strauß deflationiert die mediale Öffentlichkeit (1) die Bilder zum Verstehen der inneren und der äußeren Welt. Sie duldet (2) als Wahrheit nur, was sie in ihrem Ja/Nein-Schema je schon als »Wahrheit« vorverstanden hat. Damit erzeugen Medien (3) eine symbolische Immanenz (»Höhle«), in der das Existenz- und Wahrheitswissen von Kunst und Religion zuerst »kritisch« aufgeklärt und dann als disperse Event- und Sinnmuster in neuen Bedeutungsverbindungen wieder eingespeist wird. Medien enteignen (4) Individualität; sie betreiben die Ausbeutung des Existenziellen und beseitigen den somatischen Widerstand von Leid und Schmerz. Im Ergebnis deformieren sie (5) die »alte« sprachgebildete Subjektivität zum »plappernden« Duplikat öffentlicher Sprachformen und entstellen Interaktion zu einem »Verstehensgeräusch«, zum lose gekoppelten Austausch bedeutungsloser Bedeutungen.5 So eindrucksvoll plastisch Strauß die Subjektivierungsmacht einer kapital- und machtvermittelten Öffentlichkeit beschreibt, so unvollständig bleibt 5 | Die Sezession der Sprache beschreibt Strauß in Beginnlosigkeit so: »Das Wesen des Sprechenden besteht nun aus Flucht. So sehr er sich zusammenfassen will, strebt doch das Innerste auswärts, auswärts immerzu, den alten, oft durchquerten Korridor entlang, an den die halbgeöffneten Türen grenzen, Spalten, durch die man Menschen nur in Umrissen, Begebenheiten, nur für Sekunden wahrnimmt.« (B, 43) – In einer interessanten Parallele zu Strauß versteht Giorgio Agamben die »Absonderung« der Sprache als Spezifikum des medialen Kapitalismus. In der »Gesellschaft des Spektakels« wird dem »Gattungswesen«, und das ist für ihn die Sprache, ein »abgeschiedener Bereich« zugewiesen. In der von Ökonomie und Medien durchdrungenen Sprache ist nichts »anwesend«, es wird nichts offenbart, sondern es wird »das Nichts aller Dinge« offenbart. Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 75f.

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die Würdigung ihrer politischen Funktion. Weil er die Institution Öffentlichkeit auf die egalisierende Diktatur des »Man«6 und die Ersetzung staatlicher Souveränität (»unblutige Gewaltherrschaft«) verkürzt; weil er nicht zwischen der marktgetriebenen Realität der Massenmedien und dem normativen Strukturprinzip (als Kontrolle politischer Gewalt) unterscheidet, verfehlt Strauß die freiheitssichernde Funktion der Öffentlichkeit und erkennt in ihr allein die zersetzende Gestalt generalisierter Subjektivität (»Ichtum«). In der Opposition von »Kultur/Dichtung/Wahrheit« auf der einen und »Öffentlichkeit/Medien/ Subjektivität« auf der anderen Seite existiert kein Spielraum und keine Vermittlung – Öffentlichkeit ist nichts anderes als die finale Dekadenzgestalt der Aufklärung, eine Maschine zur Verflüssigung existenzieller Differenz und somit der Herrschaftsapparat liberaler Freiheit.7

6 | »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ›Öffentlichkeit‹ kennen. Sie regelt zunächst alle Welt und Daseinsauslegung und behält in allem Recht […]. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 127. 7 | Die Kompromisslosigkeit der Medienkritik und die verklärende Feier der Dichtung als Träger primärer Wahrheit scheinen sich wechselseitig so weit zu radikalisieren, bis Kunst und »Massendemokratie« einander unversöhnlich gegenüberstehen. Im Essay Anschwellender Bocksgesang forciert Strauß deshalb den Gedanken, die deutsche Überlieferung müsse in »Empfindungsreservaten« aufgehoben und in die Hände einer Auslegungselite gelegt werden, um sie vor öffentlichem Zerreden zu schützen (ABG, 20). Die Wenigen und »Versprengten« sind von der Masse »durch den einfachen Begriff der Kloake, des TV-Kanals für immer getrennt […]« (ABG, 20). Für Strauß sperrt sich kulturelle Wahrheit gegen ihre Diskursivierung und gehört immer nur den Wenigen; allein der Liberalismus glaubt, es gebe ein Kriterium für Wahrheit, das jeder ›in Anschlag‹ bringen könne. – Der Gedanke, dass Deutungseliten, sogenannte geistige Führer, ein überdemokratisches Privileg besitzen, stammt aus der Konservativen Revolution und war eine weit verbreitete Reaktion auf das Ende der Monarchie. Für Kurt Hiller etwa war den »Interessen des Volkes […] am besten gedient, wenn nicht die Mehrheit, sondern die Gesellschaft der sittlich und geistig Besten in ihm herrscht –: die demophilste Staatsverfassung ist die aristokratische. Wer sie aber sind, die sittlich und geistig Besten, das können sie nur selber entscheiden, wechselseitig, und keine Mehrheit!« Zitiert nach Peter Garloff, »Monarchie, Demokratie, Dekonstruktion«, in: DVJS 75 (2001), S. 353. – Parallelen zwischen Botho Strauß und Stefan George sieht Moray McGowan in »Die schwache Stimme …«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 200.

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II. Liberalismus und Gewalt Die Kritik an der »unblutigen Gewaltherrschaft« der Medienöffentlichkeit fügt sich nahtlos in das frühe Strauß’sche Beobachtungsschema, wonach die »spätkapitalistische« Bundesrepublik ihren Gewinn an Subjektautonomie mit einem schleichenden Verlust an freiheitsdeutenden Selbstbeschreibungen erkauft. »Leere Emanzipation« und »Leiden an Unbestimmtheit« bezeichnen die pathologischen Muster einer Gesellschaft, die tragisch, nämlich gegen ihre ureigenen Interessen, die »Prägemuster« (ABG, 16) der kulturellen Überlieferung konsumiert und unkenntlich macht. Deshalb ist die spätkapitalistische Freiheit für Strauß nur eine negative Freiheit. Nachdem sie die Sinnressourcen zur Bestimmung von Freiheit ausgetrocknet hat, erweisen sich deren Bürger als unfähig, ihre Autonomie existenziell zu verstehen und zwischen einem richtigen und einem »Falschleben« (TS I, 56) zu unterscheiden. Die ästhetische Kritik »tragischer« Freiheit hatte sich deshalb als produktiv erwiesen, weil Strauß damit die Möglichkeit eröffnet, Subjektkrisen als Kolonialisierungspathologien zu begreifen, als Konsequenz aus der Überformung der Alltagssprache durch die Funktionslogiken von Wissen (Hypochonder), Informationsökonomie (Rumor), Rechtssystem und trivialisierter Rationalität (Der Park). Doch je weiter Strauß seine Kritik an kultureller Neutralisierung treibt, an »Jetztlebigkeit« und Traditionsvergessenheit der Bundesrepublik, desto schwerer ist zu entscheiden, ob er sie kulturell oder politisch »beobachtet«, das heißt, ob er eine »tragische« Neutralisierungstendenz in der Gesellschaft angreift oder die Strukturlogik der liberalen Demokratie selbst. Die Frage lautet im Folgenden also, ob Strauß auch als politisch intervenierender Intellektueller jene Kehre nachvollziehen wird, die er mit allem imaginativem Recht als Schriftsteller in seinem Drama Ithaka und dem Roman Der junge Mann ästhetisch in Szene gesetzt hat. Wird auch der Intellektuelle Strauß den Analysefokus verschieben und seine Diskurskritik zu einer »epochalen« System- und Demokratiekritik radikalisieren? Anders gefragt: Geht es dem Intellektuellen Strauß noch um die kulturelle Einbildungskraft der Gesellschaft und die Kreativität ihrer Vokabulare – oder fasziniert ihn ein politischer Existenzialismus, der die Möglichkeitsbedingung existenzieller Erfahrung an einen staatlichen Souverän delegiert?

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Tragik der Freiheit

Liest man im Horizont dieser Frage noch einmal die Strauß’schen Veröffentlichungen aus den national erregten Jahren nach dem Mauerfall 1989, dann sticht eine rätselhafte Miniatur aus der Sammlung Wohnen Dämmern Lügen (1994) ins Auge, die – großzügig datiert – in den Veröffentlichungszeitraum des Essays Anschwellender Bocksgesang fällt. Strauß beschreibt in dem kurzen Text, wie im »ungenutzten«, nun aber öffentlich zugänglichen Park einer verlassenen Villa zwei verhaltensauffällige, merkwürdig jähzornige und gewaltbereite Frauen im Rahmen einer Resozialisierungsmaßnahme Gartenarbeiten verrichten. Rasch wird dem Leser klar, dass in diesem »Niemandsgarten« zwei gesellschaftliche Ordnungen aufeinanderstoßen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: auf der einen Seite die vermeintlich form- und gestaltlose Macht der durchsäkularisierten Bundesrepublik (mit den straffällig gewordenen Frauen und dem Freizeitlärm der egalisierten Massenkultur); auf der anderen Seite die Imago des metaphysischen Staates, die melancholisch beschworene Erinnerung an hierarchische Souveränität und die Einheit von Thron und Altar. »Der Park gehörte zu einer verschlossenen Villa […], und er lief in paralleler Ausdehnung zur Straße auf einen Treppenabsatz zu, der in das Halbrund einer Felsgrotte führte. Dort waren […] zwei Nischen zu erkennen, in die ursprünglich steinerne Statuen, allegorische Figuren, gehörten. Sie standen indessen leer. […] Die fehlenden Ausfüllungen der Nische störten, sie beunruhigten den Betrachter. Vor seinem inneren Auge zogen willkürlich Skulpturenpaare vorbei […], weltliche und sakrale Persönlichkeiten, Apostel und Philosophen, Heerführer und Musen …« (WDL, 50f.)

Strauß lässt den Leser nicht im Unklaren darüber, welcher Ordnung seine Sympathien gehören. In dunklen Glanz getaucht, gleiten die Insignien des metaphysischen Staates an seinem inneren Auge vorüber, während Massendemokratie und Massenöffentlichkeit nur kalte Verachtung auf sich ziehen. »Ein breiter Stereokasten überschwemmt den geköpften Garten mit Rap-Musik und gehetztem DJ-Geplapper.«1 Folgt man dem scharfen Gegenschnitt der Skizze, dem Abgleich von souveräner sakraler Macht (»weltliche und sakrale Persönlichkeiten, Apostel und Philosophen, Heerführer und Musen«) und postsouveräner »Freizeit«-Demokratie (»Tennisplätze, Fußballfeld, Schwimmbad«; WDL, 51), dann erscheint die Bundesrepublik als körperloser »Körper« ohne Repräsentation und Struktur. Das politische System der Freien und Gleichen, so pointiert die Beschreibung, hat die hierarchische Symbiose aus Staat und Religion zerstört und den corpus mysticum des Gottesgnadentums in die ge1 | Mit dem »Lärm« der »aufgeklärten« Öffentlichkeit endet auch für Carl Schmitt der »Prozeß der Vergesellschaftung des Staates«. Vgl. Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende, München 1996, S. 98.

II. Liberalismus und Gewalt

heimnislose Diesseitigkeit apokrypher verwaltungstechnischer Akte aufgelöst. Im Gegensatz zur christlichen Universalmonarchie fehlt es dem »Niemandsgarten« des Liberalismus an Symbolizität und Repräsentation; es fehlt ihm die Ikonografie der Macht und ein Zentrum zur Einhegung vorpolitischer Gewalt. Der Körper der Souveränität ist unsichtbar geworden, und das gesellschaftliche Kollektiv bleibt ohne Anschauung seiner selbst.2 Für die Säkularisierung der Staatsgewalt und die Neutralisierung des Politischen zahlt die liberale Demokratie, so scheint Strauß zu argumentieren, allerdings einen hohen Preis, nämlich den Preis wiederkehrender Gewalt. Nachdem der Staat als Erzieher der Herzen ausfällt und der »Garten der Macht« zum ortlosen Ort demokratisiert wurde, kurz: nachdem die zeitlosen Prägemuster von Kultur und Kirche den Einzelnen nicht mehr an Leib und Seele disziplinieren, entbehrt die Gesellschaft einer »höhere[n] Herrschaft« zur Niederhaltung des ontologisch Bösen. In Strauß’ Niemandsgarten durchbrechen dunkle Antriebe den Hedonismus des Sozialen; die menschliche Destruktivität zersetzt die machtlose Mitte der Gesellschaft und zerstört den Scheinfrieden der Liberalen – nach dem Tod des Königs ist jeder ein »König« und stigmatisiert in libertärer Willkür sein Gegenüber zum Sündenbock: Die Frau »mit dem verbrühten Gesicht und dem wollüstigen Haar hatte sich auf ihren Rechen gestützt und den Umriß einer lustlosen Bediensteten erfüllt, der man wohl ansah, daß sie in ihrem jungen Leben bisher keiner höheren Herrschaft als der ihrer Gefährtin gehorcht hatte« (WDL, 51). 2 | Mit anderen Worten: Strauß konfrontiert die ereignis- und geschichtslose Zeit der bundesrepublikanischen Moderne mit der »ursprünglich geschichtliche[n] Zeit« der Dichter, Denker und Staatsschöpfer: »Wir hörten schon, daß das geschichtliche Dasein der Völker, Aufgang, Höhe und Untergang, aus der Dichtung entspringt […] Diese ursprüngliche, geschichtliche Zeit der Völker ist daher die Zeit der Dichter, Denker und Staatsschöpfer, d.h. derer, die eigentlich das geschichtliche Dasein eines Volkes gründen und begründen. Sie sind die eigentlich Schaffenden.« Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen, GA Bd. 39, S. 51. – Nahezu gleichlautend ist die Bestimmung der Konsubstanzialität von Staat und Metaphysik bei Carl Schmitt in Politische Theologie, S. 20f. und S. 40f. – Wie eine Paraphrase der »Niemandsgarten«-Szene klingt Schmitts Kritik an der Illusion von Subjektautonomie und dem daraus entstehenden Kampf der Werte: »Danach ist es das menschliche Individuum, das in voller, reiner subjektiver Entscheidungsfreiheit die Werte setzt. […] Die reine subjektive Freiheit der Wertsetzung führt aber zu einem ewigen Kampf der Werte und der Weltanschauungen, einem Krieg aller mit allen, einem ewigen bellum omnium contra omnes, im Vergleich zu dem das alte bellum omnium contra omnes und sogar der mörderische Naturzustand der Staatsphilosophie des Thomas Hobbes wahre Idyllen sind.« Carl Schmitt, »Die Tyrannei der Werte«, in: Ders./Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 9-43, hier S. 31.

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Es ist dieser Bürgerkrieg der Wolfskinder, der für Strauß das Strukturgeheimnis der Bundesrepublik ans Licht bringt. Das liberale System, das ohne machtvolle exekutive Spitze operiert, beseitigt anthropologische Gewaltpotenziale nicht, sondern zwingt diese zum Wechsel ihrer Gestalt, zur molekularen Inversion. Weil die »dunklen« Antriebsüberschüsse des Einzelnen nicht mehr von staatlichen Weisungshierarchien autoritär in Form gesetzt werden, wenden sie sich nach innen und nomadisieren als Tragödien ohne Tragik formlos durch die Welt des Sozialen – das »Koma« des Staates produziert den »Amok« der Gesellschaft, in diesem Fall: die intimisierte Gewalt der jähzornigen Frauen. Während der vordemokratische Ordo-Staat, also die Einheit aus Macht, Religion und Kultur (König, Bischof, Dichter), das anthropologische Faktum menschlicher Gewalt bild- und machtpolitisch eingehegt hatte, verwandelt der bilderleere Liberalismus die Gesellschaft in eine Black Box aus entsicherten Antrieben und unberechenbarem Hass. Tragisch kehrt das vorpolitisch Reale, die »Schattenwelt« anthropologischer Gewalt, in die posttragische Gesellschaft zurück, gleichsam als Wiederkehr des Naturzustandes in die demokratisch egalisierte Spätkultur. »Mag sein, daß die Dunklere zuerst von seiner Schattenwelt ergriffen wurde. Von ihr jedenfalls gingen die ersten Befehle aus. Die rangunterscheidende Gebärde kehrte wieder, ein Verhalten, das sich nach den Regeln der intimen Gewalt zwischen den beiden entfaltete, durchdrang sie mehr, als daß sie es freiwillig gewählt hätten. Es führte sie sehr bald zu dem Entschluß, ihre Namen abzulegen und sich wieder mit den alten unheilvollen Titeln zu schmücken.« (WDL, 52)3

3 | Strauß deutet einen weiteren Grund für die Wiederkehr von Gewalt an: Im egalisierten demokratischen »Niemandsgarten« schafft nur noch das Vorpolitische, die »dunkle« Gewalt und »rangunterscheidende Gebärde«, eine substanzielle Differenz. Gewalt ist in der ›Wüste‹ der Gleichheit die letzte verbleibende Möglichkeit, eine Differenz zu schaffen – eine Unterscheidung, die noch etwas unterscheidet. – Der Verdacht, die »liberale Demokratie« habe keinen Sinn für das Vorpolitische, drängt sich Strauß bereits in Paare, Passanten auf; allerdings ohne dass er daraus eine radikal antidemokratische Konsequenzen ableiten würde: »Es ist jedenfalls nicht mehr die Stunde, in der wir getrost darauf vertrauen dürften, daß eine liberale Demokratie mit ihrem simplen Rand/ Mitte-Denken auch mit den parapolitischen und negativsten Bedürfnissen eines Volks auf Dauer fertig würde. Mit der Dauer wird es ohnehin knapp. Wir sollten darauf gefaßt sein, daß es in Zukunft sehr viel schneller als in den vergangenen dreißig Jahren zu abrupten Ereignissen kommt, in denen die abgedrängten Ströme sich sammeln und hervorbrechen können […].« (PP, 181)

III. Wiederkehr der Tragik Den prominentesten Versuch, die poetologisch entwickelte Denkfigur von der »Wiederkehr der Tragik« zu politisieren und zu einer Fundamentalkritik am bundesrepublikanischen Liberalismus auszuweiten, bildet zweifellos der Essay Anschwellender Bocksgesang, mit dem Strauß 1993 in die aufgewühlte Diskussion über den Verlauf der deutschen Vereinigung eingreift.1 Bei dem zuerst im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, anschließend in der rechtsradikalen Zeitschrift Der Pfahl (Matthes und Seitz Verlag) erschienenen Text handelt es sich zunächst um die Enttäuschungsverarbeitung eines Schriftstellers, der sich eingestehen muss, dass ihn seine Hoffnung auf eine Überwindung des liberalen Systemprinzips getrogen hat. Im Steiner-Nachwort hatte Strauß der forschungsüblichen und auch in der Öffentlichkeit populären Lesart widersprochen, im Mauerfall triumphiere der westliche Liberalismus über einen 1 | Zitiert wird nach der Langfassung, veröffentlicht in der Zeitschrift Der Pfahl, Heft VII (1993), S. 9-25. – Zur Reaktion auf den Essay vgl. auch Jens Schneider, Deutsch sein, Frankfurt a.M./New York 2001, S. 288ff. und die Debatte in den Weimarer Beiträgen 40 (1994), Heft 2, S. 165-320. – Wenn Endre Hárs den Bocksgesang unter ausdrücklicher »Ausklammerung des Politischen« liest, macht er seine Lektüre von einer kategorialen Vorentscheidung abhängig, die dem Text selbst nicht zu entnehmen ist. Vgl. Endre Hárs, Singularität, S. 101. – Eine Ästhetisierung politischer Geltungsansprüche findet sich auch bei Bernhard Greiner, der Strauß zum tragischen, von den Mänaden der Öffentlichkeit zerrissenen Opfer stilisiert. Bernhard Greiner, »Wiedergeburt des Tragischen aus der Aktivierung des Chors? Botho Strauß’ Experiment ›Anschwellender Bocksgesang‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 362-378. – Auch Bernd Graff besteht auf der Trennung von Politik und Ästhetik. Strauß nehme einen poetologischen Weltbildwechsel vor und mache den Versuch, »auch politische Ereignisse ästhetisch zu denken«. Doch damit ist das Problem nicht aus der Welt. Es bleibt immer noch die Frage, welche politischen Implikationen eine Wirklichkeitsbeschreibung mit sich führt, die behauptet, politische Ereignisse »nur« ästhetisch zu denken. Bernd Graff, »Wirklichkeit ist das, was wirkt«, S. 224. – Um Entskandalisierung ist auch Harald Zils bemüht, wenngleich um den Preis einer stark nivellierenden Lektüre. Harald Zils, Autonomie und Tradition, Würzburg 2009.

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anachronistisch gewordenen und von der Geschichte »abgewählten« Gegner. Strauß dagegen deutete das Datum 1989 ganz anders. In seiner Lesart bringt der Mauerfall nicht nur die kommunistischen, er bringt auch die westlichen Illusionskulissen zum Einsturz – der Mauerfall ist für ihn ein »Trugbrecher« (AW, 39), der die Moderne insgesamt in ihren Grundfesten erschüttert und ihre »weltliche Soteriologie« (AW, 40) entzaubert. Kurzum, während die Mehrheit der kommentierenden Zeitgenossen im Kielwasser des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama2 das Ende der Systemkonkurrenz noch als end of history und verdienten Sieg des demokratischen Kapitalismus feierte, prophezeite Strauß dem Westen selbst eine tiefe Krise. In dem Moment, wo er mit dem Untergang des Kommunismus seinen mimetischen Rivalen und damit seinen stabilisierenden Außenhalt verliert, ›platzt‹ ein sozialstaatlich sedierter Systemdefekt auf und bringt eine beispiellose innere Verwerfung zum Vorschein, eine metaphysische Leere und ein tragisches Nichtverstehen von Tragik. Ohne sichernden Gegenpol, ohne die negative Bürgschaft durch den kommunistischen Feind offenbart der Liberalismus plötzlich sein wahres Gesicht, er zeigt die ›Not der Notlosigkeit‹ und eine skandalöse Neutralisierung von Existenz. Aus diesem Grund verstand Strauß im Steiner-Aufsatz das Ende der bipolaren Weltordnung nicht bloß als eine zeithistorische Zäsur; er verstand es als charismatisches Zeichen, als Einbruch des Verdrängten in die modernen Selbsterlösungsroutinen. Spektakulär kehrt die im Kalten Krieg eingefrorene Geschichte zurück, sie springt wieder ins alte Gleis und weist Deutschland den Weg aus dem Niemandsgarten des Liberalismus in eine grundstürzend andere Formation von Politik und Kultur, von Macht und Leben.3 Doch nur vier Jahre nach der »Heilige[n] Wiedervereinigung« 4 hat sich die Aussicht auf einen Systemwechsel gründlich zerschlagen. Die erhoffte Zeitenwende war ausgeblieben und das »Geschichtszeichen« des Mauerfalls spurlos an der Bundesrepublik vorübergegangen. Im Wesentlichen hat sich für Strauß seit dem Wahrheitsereignis von 1989 nichts geändert. Die metaphysische Krise der liberalen Demokratie, der Mangel an Polarität sowie das Unheil in ihren »inneren und äußeren Lebensformen« erscheinen ihm so groß wie eh und je, und immer noch beherrschen der Kult der Tabuverletzung und »politische Relativierungen von Existenz« (ABG, 23) den nationalen Alltag. »Die Hypokrisie der öffentlichen Moral, die jederzeit tolerierte (wo nicht betrieb): die Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, 2 | Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992. 3 | Zum neurechten Topos von der »Rückkehr der Geschichte« vgl. die einschlägigen Argumentationsmuster bei Karlheinz Weißmann, Rückruf in die Geschichte, Berlin/ Frankfurt a.M. 1992. 4 | So die neopagane, das Nationale mit dem »Heiligen« identifizierende Formulierung in seinem Essay »Wollt ihr das totale Engeneering?«, in: DIE ZEIT, Nr. 52 vom 19.12.2000.

III. Wiederkehr der Tragik

Tradition und Autorität, sie darf sich nicht wundern, wenn die Worte in der Not kein Gewicht mehr haben.« (ABG, 11) Dennoch sieht Strauß zur Selbstkorrektur keinen Anlass. Weder will er seine nationalreligiösen Hoffnungen widerrufen, noch will er sich einen Mangel an historischer Urteilskraft vorwerfen lassen. Getäuscht, so scheint es, hat er sich lediglich in der militanten Beharrungskraft des Liberalismus, in dessen ungeahntem Selbstbehauptungswillen.5 Mehr denn je ist Strauß davon überzeugt, dass die Parole vom end of history fatal falsch war und Deutschland jederzeit mit der Wiederkehr der Geschichte rechnen muss, mit dem tragischen Einbruch des »Anfänglichen« in die Normalität seiner sozial saturierten Verhältnisse. Mitnichten nämlich sei die »Geschichte« verschwunden, sie habe sich bloß bis zur Unkenntlichkeit verborgen und treffe hinter dem Rücken der Akteure weiterhin ihre schicksalhaften »Dispositionen« (ABG, 11). Diese zu erkennen bezeichnet das Privileg des Dichters. Während die Bürger in scheinstabilen Verhältnissen wie gewohnt ihren Geschäften nachgehen, spürt Strauß bereits die Gegenwart der Tragödie und die Latenz des Schreckens. Dunkle »Vorgefühle« durchlaufen ihn, und mit dem wissenden Lächeln des Auguren vernimmt er den Rumor des Kommenden – der Dichter hört den »anschwellende[n] Bocksgesang«, die »systemüberschattend[e]« Wiederkehr von Gewalt und Opfer unter dem Parkett der »Massendemokratie« (ABG, 9). Deutschland, so macht Strauß dem Leser glauben, steht an der Zeitmauer: »Im Banne des Vorgefühls. Die Ursachen liegen im seismischen Bereich. Katastrophische, destruktionshaltige Vorgefühle durchlaufen den gesamten Organismus des Zusammenlebens und vergrößern sich dabei systemüberschattend.« (ABG, 22) Aus dieser düsteren Prophetie bezieht der Essay sein schwarzes Pathos und seine polemische Wucht. Effektvoll erzeugt er die Atmosphäre einer »diffuse[n] Stimulans- und Gewalterwartung«6 und überblendet eine politisch-beschreibende mit einer poetisch-prognostischen Perspektive. Strauß, so könnte man sagen, betreibt ein Spiel à deux mains und lässt die Beobachtungen des Intellektuellen bruchlos in die Tiefendeutung des Dichters übergehen: Als Intellektueller beschreibt er die Gestalt der gesellschaftlichen Misere, und als Dichter prophezeit er die Wiederkehr der Tragik. Erst diese stereoskopische 5 | Ansgar Maria Hoff plädiert dafür, in der Strauß’schen »Störung des demokratischen Gestus« ein »wütendes Interesse am Kritisierten« zu erkennen. Diese These ist allerdings nicht leicht mit der Strauß’schen Fundamentalkritik am liberalen Systemprinzip zu vereinbaren, die weniger auf die Rettung als auf die Überwindung des Kritisierten verweist. Ansgar Maria Hoff, »Nietzscheanische Momente im Werk von Botho Strauß«, in: Günter Seubold (Hg.), »Man ist viel mehr Künstler, als man weiß«, Bonn 2001, S. 243263, hier S. 261. 6 | Harald Weilnböck, »Die frühen Untertöne des Bocksgesangs«, S. 215.

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Sicht, erst das Ineinander von Protokoll und Prophetie erlaubt es Strauß, das tragische Wissen des Dichters in die politische Zeitdiagnose des räsonierenden Intellektuellen einzulesen und stillschweigend als normativen Maßstab seiner Liberalismuskritik ins Spiel zu bringen – das Existenzwissen des Dichters bildet die Richtschnur, an dem der Autor des »Bocksgesangs« seine Polemik gegen die tragikvergessene Architektur der Bundesrepublik auszurichten gedenkt.7 Die Wirkung dieser Operation ist beachtlich, denn vor der Drohkulisse wiederkehrender Tragik verdunkelt sich die Gegenwart schlagartig zum Menetekel des verfehlten Lebens. Die Ursache dafür sieht Strauß jedoch nicht in einer korrigierbaren politischen Fehlentwicklung, sondern in der Verfassung der Republik selbst, genauer: in einer liberalen Systemlogik, die durch eine »ebenso lächerliche wie widerwärtige Vergesellschaftung des Leidens und des Glückens« (ABG, 14) alle »Formen des Tragischen« (ABG, 15) im Dasein des Einzelnen und des Kollektivs negiert. Das Gesetz der liberalen Demokratie ist existenzielle Neutralisierung, es ist Austreibung von »Anwesenheit, von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit …« (ABG, 13)8 Auch wenn Strauß zunächst nur vom »Sinn« für das Tragische spricht (»verhängnisvoll ist es, keinen Sinn für Verhängnis mehr zu besitzen, unfähig zu sein, Formen des Tragischen zu verstehen«; ABG, 15), so reicht doch die Stoßrichtung seines Arguments über eine Kritik an liberalen Konsensidyllen und ihrer angeblichen Weltbildhegemonie weit hinaus. Strauß beklagt nicht allein den Verlust an symbolischen Formen zur Wahrnehmung von Tragik; er beklagt vielmehr die »Relativierung« tragischer Erfahrung selbst, das heißt: Er attackiert nicht allein die tragikvergessene Kommunikation der Gesellschaft, sondern die tragikvergessene Verfassung des Staates. Unübersehbar verschiebt Strauß den Analysefokus vom metaphorischen Sinn für das Tragische (im Raum der Kultur) auf die Realität des Tragischen (im Raum der Politik).

7 | Die politische Selbstverortung, »rechts« zu sein, ergibt sich für Strauß aus der Einsicht in die überzeitliche Wahrheit des Vorpolitischen. Rechts zu sein ist für ihn ein »Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will«. Rechtes Denken will keine Utopie, sondern sucht den »Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte«. Sie ist ihrem »Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation. Sie ist immer und existenziell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin« (ABG, 13). 8 | Vgl. zum Begriff des Tragischen im Bocksgesang auch Nadja Thomas, »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, S. 176ff.

III. Wiederkehr der Tragik

Dass der liberale Staat normativ keineswegs neutral ist, sondern im Medium des Rechts eine verdeckte Definitionsmacht über das Leben des Einzelnen ausübt, ist das erste, zwar nicht originelle, aber analytisch interessante Argument, das Strauß vorträgt. Unsichtbar greifen seine Grundnormen in das Dasein des Einzelnen ein und grenzen das vorpolitisch Lebendige, das »Ich bin« der Existenz, entweder systematisch aus oder nivellieren es auf ein vorgegebenes rechtliches Schema. Im liberalen Staat muss alles »liberal« sein, und da auch das singuläre Leben selbst einen liberalen Charakter annehmen muss, verschwindet die existenzielle Differenz des Einzelnen, sein Widerstand wird staatlich formiert und abgeschliffen. In diesem Dauerkonflikt zwischen dem subjektiv Realen und dem objektiven Recht, zwischen der unbestimmten Unendlichkeit des jemeinigen »Lebens« und der normalisierenden Gewalt der Gesetze verbirgt sich für Strauß das biopolitische Arkanum der liberalen Demokratie. Unter dem Schein existenzieller Neutralität relativiert sie die ›natürliche‹ Tragik des gelebten Leben und friert sie ein.9 Das zweite, damit zusammenhängende Formationsprinzip der liberalen Demokratie entdeckt Strauß im systematischen Ausschluss von Streit und Konflikt. Weil der liberale Staat auf die Vermittlung von Gegensätzen setzt, auf Ausgleich und Konsens, stellt er den sozialen polemos still; gesellschaftliche Antagonismen werden nicht offen ausgetragen, sondern schon im Vorfeld verrechtlicht, normalisiert oder durch Kompromiss befriedet. Der liberale Staat, das »System der abgezweckten Freiheiten« (ABG, 10), handelt im Verborgenen, er agiert verdeckt und scheinneutral über Mikropolitiken. Schon in Niemand anderes (NA, 207f.) beschreibt Strauß die liberale Gesellschaft als auf »beinahe brutale Weise untragisch«; im Bocksgesang spricht er vom Grabesfrieden einer Gesellschaft ohne Polarität, von den schwelenden Tragödien, die entstehen, weil Streit und Widerstreit in Konsens und Verhandlung aufgelöst werden. »Es ist der Mars auf Erden, so kalt, so leblos, vieldurchfurcht und ohne Atmosphäre.« (ABG, 17)10 Strauß überdehnt die Beschreibung biopolitischer Normalisierung allerdings zu der prekären Behauptung, der liberale Verhandlungsstaat beseitige durch die »politische[n] Relativierungen von Existenz« (ABG, 23) das Men9 | Vgl. zu den von Strauß aufgerufenen kulturnationalen Bestimmungen des Gemeinwesens als einer »vorpolitischen Gegebenheit« Clemens Pornschlegel, »Die reaktivierte deutsche Kulturnation«, in: Mesotes 3 (1994), S. 346-357. 10 | Wie ausgeprägt der kulturell begründete Vorbehalt gegen den westlich-demokratischen Verfassungsstaat ist, zeigt die Bemerkung zu Rosselinis Film Germania anno zero in Beginnlosigkeit. Strauß spricht vom »Rattenhuschen der Deutschen aus den Bränden des eigenen in die Trümmer des Versammlungshauses« (B, 120f.). Die ›Flucht‹ in die Demokratie setzte offenbar deshalb ein, weil nach 1945 »außerhalb des Dichters nichts eigentlich mehr deutsch sein« konnte (B, 121).

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schenrecht auf die Erfahrung von Tragik und entfremde den Bürger vom intensiven Erleben der nationalen Gemeinschaft. Weil der liberale Verhandlungsstaat zwischen »Politik« und »Leben« trennt und in einem Akt freiwilliger Selbstfesselung (›Konsens‹) auf die bedingungslose Ausübung von Souveränität verzichtet, verhindert er die Erfahrung von individueller und kollektiver Intensität (»Volksgemeinschaft«, ABG, 25). »Ganz ernstlich ist die Massendemokratie am wenigsten eine Erfahrung ihrer selbst als vielmehr die einer innersten, kraftvollsten Verborgenheit« (ABG, 9). Zugespitzt gesagt: Anstatt das Politische, also den vitalen Kern naturwüchsiger Macht, geschichtswirksam in Form zu setzen und damit individuelle wie kollektive Erfahrungen freizusetzen, schrumpft der liberale Staat auf einen permissiven Erlaubnisstaat, der den Einzelnen gewähren und sein diffuses Subjektbegehren widerstandslos ins Leere laufen lässt. »Wir haben unser Bestes zur Stärkung des Systems und zum Ausgleich der Kräfte gegeben.« (ABG, 18) Ihr subjektives Korrelat findet die Systemlogik des »Ausgleichs« im Phänotyp der toten Seele, dem opak verhangenen, entschlossen unentschlossenen Bürger mit seinem Mangel an Plastizität und einer frivolen Orientierung an Hedonismus und »egoistische[m] Heidentum« (ABG, 11). »Die herrenlose (und widerstandslose) Erziehung ist für niemanden gut gewesen, sie hat nur eine Vermehrung der Gleichgültigkeit hervorgebracht, eine jugendliche Müdigkeit.« (ABG, 19) Strauß klagt hier nicht nur darüber, dass der liberale Staat sich unter die Schwelle seiner Macht begibt und das unhintergehbare Wesensmoment des Politischen verleugnet; er klagt darüber, dass er auf die existenzielle Limitierung der von ihm rechtlich gewährten Freiheit verzichtet: Die Negation des Politischen terminiert in der Negation des Existenziellen.11 Aus diesem Grund versteht Strauß die machtpolitische Selbstbeschränkung der Verhandlungsdemokratie gerade nicht als Garantie für Freiheit und Selbstbestimmung; er versteht die zurückgenommene Souveränität vielmehr als eine empörende Form von biopolitischem Paternalismus und verkappter Normativität: Mit dem Verzicht auf existenzielle Grenzmarkierungen (›Limitsetzungen‹) unterwirft der Erlaubnisstaat die konkrete Lebendigkeit des Bürgers der abstrakten liberalen Norm, nämlich der Norm maßloser Freiheit und sinnloser Emanzipation. 11 | Strauß’ Vorwurf, der Liberalismus verrate die Ontologie des Staates, berührt sich mit der Position Ernst Noltes. Für Nolte stellt der Staat eine ursprüngliche Stiftung dar, deren Wahrheit darin besteht, sich in heroischer Selbstbehauptung der antihistorischen Mächte der Aufklärung (als da sind: die Ewige Linke, der jüdische Messianismus, Bolschewismus usw.) erwehren zu müssen. In Noltes Sicht kommt rechtem Antimodernismus eine Legitimität deshalb zu, weil er die Neutralisierung des Staates (und die Stillstellung des Tragischen) durch die »Ewige Linke« verhindert. Vgl. Ernst Nolte, Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte, München 1998, S. 17ff. und S. 669ff.

III. Wiederkehr der Tragik

»Das Limit-Diktum [der Ökologen, Th. A.] ließe sich übersetzen ins Politische, Sittliche und gewiß auch Sozialökonomische. Die Grenzen der Freiheit und der Erlaubnis scheinen im Angerichteten deutlich hervorzutreten.« (ABG, 15) Ein erstes Gegenmodell zum unlebendigen Leben der tragikvergessenen »Massendemokratie« entdeckt Strauß in einer außereuropäischen »Volksgemeinschaft«, nämlich in Tadschikistan. Das Land erscheint ihm deshalb vorbildlich zu sein, weil es das Politische nicht neutralisiert und Konflikte nicht rechtssystematisch abspaltet, sondern durch einen kollektiven Kult kraftvoll einbindet und friedensstiftend in Form setzt. Strauß entdeckt noch einen weiteren Vorzug dieser »Volksgemeinschaft«. In Tadschikistan existiert eine mustergültige, von keinem westlichen Moralismus und Pazifismus aufgeweichte Sittlichkeit, ein kampf bereites Bewusstsein für den jederzeit möglichen Ausnahmezustand, erst recht ein lebhaftes Wissen von jenem »Blutopfer«, das der Einzelne für seine Gemeinschaft und zur Rettung ihrer ethnokulturellen Substanz zu bringen hat. Anders als im Liberalismus ist das Politische hier existenziell und das Existenzielle politisch; die Gemeinschaft setzt sich nicht aus selbstbezogenen, nur über einen abstrakten Gesellschaftsvertrag verbundenen Einzelbürgern zusammen, sondern konstituiert sich über die kollektive Imagination des Todes. »Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.« (ABG, 11)12 Im Vergleich zum politischen Existenzialismus in Tadschikistan erweist sich die Bundesrepublik einmal mehr als Gesellschaft ohne Gemeinschaft, als Land ohne politischen Körper und ohne imaginäre Repräsentation des Ganzen. Sie kennt weder den ›vitalisierenden‹ Gegensatz von Freund und Feind, noch den tragischen Ernstfall als Kampf auf Leben und Tod. Deshalb, so scheint Strauß sagen zu wollen, ist der diskutierende deutsche Erlaubnisstaat zu einer opferproduzierenden Entscheidung weder willens noch in der Lage; durch den Verzicht auf die Ausübung bedingungsloser Souveränität fehlt ihm der Wille zur Selbstbehauptung; er hat keinen Sinn dafür, dass das eigentlich Politische – in den Worten Carl Schmitts – unauflöslich an die »reale Möglichkeit der physischen Tötung« gebunden ist, an das »Opfer« ebenso wie an die ultimative Unterscheidung von Freund und Feind, Eigenem und Fremdem.13 12 | Zum Verhältnis von Todes-Imago und politischer Ordnung vgl. Leander Scholz, Der Tod der Gemeinschaft, Berlin 2013. 13 | Was der Ernstfall für den Staat, ist die Grenzsituation für das Subjekt. Strauß ruft einen politischen Existenzialismus auf, der darauf zielt, die »in subjektiv-privater ›Existenzerhellung‹ gewonnenen ›Existentialien‹ auf den ›politischen Körper‹ als ganzen,

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Welche Optik man auch wählt, der Begriff des »Opfers«, das delegitimiert zu haben für Strauß den Sündenfall des liberalen Verfassungsstaates auszumachen scheint, bildet zusammen mit den Begriffen »Existenz«, »Leben«, »Gewalt« und »Tragik« das assoziative Zentrum des Essays.14 Strauß behauptet dabei nicht, Opfer und Gewalt seien unvermeidliche Nebenfolgen einer rechtmäßigen Verteidigung des »Sittengesetzes«. Er behauptet vielmehr, Tragik, Opfer und Gewalt seien substanzieller Teil des Politischen, und jeder Versuch, diese Grundbestimmungen politisch aufzuheben oder durch Kompromissbildung abzuschwächen, führe zu einer Opferkultkrise und damit, früher oder später, zur Wiederkehr des Verdrängten – zur Wiederkehr von Tragik. Den Tatbeweis für die Wiederkehr von Gewalt unter den Bedingungen liberaler Tragikverleugnung entdeckt Strauß im neu aufgeflammten Rechtsextremismus, in den heimtückischen Brandanschlägen auf Asylantenheime Anfang der neunziger Jahre. Für Strauß hat der Ausbruch von »große[m] Hass« seine Ursache im strukturellen Unvermögen der liberalen Demokratie, vorpolitische, aus »primordiale[n] Depots« einschießende (Gewalt‑)Energien einzubinden und ihre gefährliche Ambiguität in »ordnungsstiftende« Politik zu verwandeln. Die Politik des Liberalismus ist blind für die Ontologie des Sozialen; sie begreift nicht, dass rechtsextreme Gewalt eine pervertierte »Kultleidenschaft« darstellt, eine Manifestation des Vorpolitischen, das weder durch Aufklärung disambiguiert noch durch Konsens und »Massendemokratie« befriedet werden kann. »Jeder große Hass ist altertümlich und bezieht Nahrung aus primordialen Depots. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind ›gefallene‹ Kultleidenschaften, die ursprünglich einen sakralen, ordnungsstiftenden Sinn hatten.« (ABG, 24) Strauß verharmlost rechtsextreme Gewalt also nicht; im Deutungsschema des politischen Existenzialismus beschreibt er sie vieldas heißt auf den Staat« zu übertragen. Herbert Schnädelbach, »Politischer Existenzialismus«, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, S. 350ff. – Oder um Herbert Marcuse zu zitieren: Der »Staat wird – auf dem Wege über die Existentialisierung und Totalisierung des Politischen – auch der Träger der eigentlichen Möglichkeit des Daseins selbst.« Herbert Marcuse, »Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung«, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt a.M. 1975, S. 29f. – Zur Verbindung von Parlamentarismuskritik und »existenzieller Politik« vgl. auch die einschlägigen Passagen in Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1985, S. 81-90. 14 | Kein Staat ohne Opfer. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 33. – Zur kulturkritischen Kontextualisierung des Opfermotivs im Bocksgesang siehe auch Michael Reiter, »Philosophisches Unbehagen in der modernen Kultur. Der Protest gegen das Bürgerliche bei Botho Strauß, Amitai Etzioni, Carl Schmitt und Georg Lukács«, in: Günter Meuter/Henrique R. Otten (Hg.), Der Aufstand gegen den Bürger, Würzburg 1999, S. 185-207.

III. Wiederkehr der Tragik

mehr als Ausbruch des »Primordialen« und damit als tragische Folge einer von der liberalen Demokratie verursachten Opferkultkrise. Anstatt Gewaltenergien und Affektdynamiken kultisch in Form zu setzen, spaltet der postautoritäre Konsenstaat sie ab – sie werden solange privatisiert, anonymisiert und gestaut, bis sie sich – Wiederkehr des Tragischen – aus kontingenten Anlässen bürgerkriegsähnlich entladen.15 Mit dieser Erklärung ist für Strauß die Indizienkette im Prozess gegen den politischen Liberalismus geschlossen. Wenn der Rechtsextremismus mit den üblichen Mitteln der Soziologie nicht erklärt werden kann und klarerweise als Wiederkehr verdrängter primordialer Gewalt verstanden werden muss, dann ist dem anti-tragischen Selbstverständnis der Moderne, wonach Gewalt mit dem steigenden Grad an Fortschritt und Wohlstand verschwindet, der Boden entzogen. Die liberale Politik der Gewaltvermeidung erweist sich vielmehr selbst als Quelle von Gewalt, das heißt: Die Praxis von Ausgleich und Opfervermeidung steigert noch einmal jene menschliche Zerstörungskraft, die zu überwinden der Liberalismus vorgibt. Das Panorama des liberal verfehlten Lebens, die allgegenwärtige »Relativierung von Existenz«, veranlasst Strauß dazu, in einer äußerst knappen Skizze auf ein Gegenmodell zur demokratischen Systemintegration hinzuweisen, auf das monarchische Dispositiv des »Königs« (ABG, 25). Die Figur ist als doppeltes Begriffsbild zu verstehen; zum einen als Antithese zum liberalen Prinzip der Tragikvermeidung, zum anderen als personifiziertes Versprechen einer »friedensstiftenden« In-Form-Setzung vorpolitisch »deponierter« Gewalt.16 Der Grundgedanke lautet dabei, dass der König das Gewaltmoment des Politischen nicht abspaltet und exkludiert, sondern es durch Maßnahmen offen exekutiert. Während die liberale Demokratie das Politische durch apokryphe Entscheidungen ungreif bar macht und es in einem repräsentationsfeindlichen ›Niemandsgarten‹ strategisch verdeckt, wird die politische Gewalt im klassisch-monarchischen Regime als königliche »Entscheidung« offen vollzogen und sichtbar repräsentiert. Majestätisch zeigt der »König« den Willen zur Macht, und majestätisch bekennt er sich zum demokratisch nicht einholbaren 15 | Liberalismus ist permanent drohender Bürgerkrieg. Eumaios in Ithaka: »Nichts unheilvoller als ein Haufen von Adligen ohne den Fürsten, der sie im Zaum hält. Jetzt regiert uns Genußsucht. Sport. Prahlerei. Faule Jünglinge, keiner vom Rang eines Königs, die Odysseus nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen. Unter ihnen muß nun die Königin wählen. Jetzt murrt das Volk und drängt zur Entscheidung. Es will endlich regiert sein, egal auch von wem, nur daß Ordnung herrsche über Haus und Arbeit […]. Unruhe gibt es im Volk, jedermann fordert, daß endlich feste Gesetze die Willkür beenden. Sonst droht uns der Bürgerkrieg.« (TS III, 85) 16 | Zu dieser Unterscheidung vgl. Philip Manow, Im Schatten des Königs, Frankfurt a.M. 2008, S. 134f.

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Gewaltmoment politischen Handelns. Die Strauß’sche Begriffsperson verleugnet also nicht die Einsetzungsgewalt ihrer Macht, im Gegenteil: Demonstrativ stellt der »König« sie aus und rückt den mystischen Grund seiner Autorität in die Sphäre öffentlicher Sichtbarkeit – er zeigt die Macht im Recht und das Recht der Macht, und diese Macht ist existenziell. Die »heiße« Repräsentation des »Königs« schlägt die »kalte« Anonymität des tragikvergessenen Liberalismus.17 Aus dieser kurzen Grundbestimmung ergibt sich für Strauß der entscheidende Vorzug monarchischer Repräsentation, nämlich deren Fähigkeit zur kultischen Verwandlung »primordialer« Gewalt. Anders als die liberale Demokratie, die Gewalt biopolitisch privatisiert oder sie um den Preis einer latenten Opferkultkrise aufschiebt, gelingt es dem »König«, Gewaltdynamiken durch symbolische Schuldübernahme öffentlich in Form zu setzen und sichtbar zu entschärfen.18 Souverän begibt er sich im Fall von Aufruhr und »Hass« unter die Schwelle seiner Souveränität und macht sich vor aller Augen zum »Sündenbock«. Indem der König sich selbst zum Opfer bringt und den »einmütigen Hass aller in sich auf[sammelt]«, erlöst er die Gemeinschaft von destruktiven Energien und verwandelt sie »in Stabilität und Fruchtbarkeit«. Der »Herrscher übernimmt die Funktion des kultischen Opfers.« (ABG, 25) Ruhe und Frieden sind die Gaben, die der irdische Gott der »Volksgemeinschaft« legitimationswirksam entbietet, um sie für den Mangel an demokratischer Partizipation zu entschädigen.19 17 | Die Nähe zu Martin Heidegger ist schwer zu übersehen. »Der exemplarische Gewalttäter, als den Heidegger den ›Herrscher‹ innerhalb der Polis beschreibt, kann sich auf eine ›anfängliche‹ Auslegung dessen, was der Mensch ist, stützen. Der Herrscher potenziert in seiner Person nur das Wesen des Menschen, den – Heideggers Auslegung zufolge – das Chorlied der Antigone als Gewalttäter bestimmt.« Friedrich Balke, Figuren der Souveränität, München 2009, S. 468. 18 | Strauß bezieht sich in seinem Essay zustimmend, aber irreführend auf René Girard (ABG, 24). Dieser gewinnt seinen Begriff historischer Gewalt nicht, wie Strauß suggeriert, aus einer Ontologie des Tragischen, sondern aus einer Theorie mimetischer Rivalität. Für Girard, und darin besteht die entscheidende Differenz zu Strauß, durchbricht das Selbstopfer Jesu den mimetischen Zirkel und überwindet symbolisch die archaische Opferlogik. Zur deutschen Girard-Rezeption (und deren strategischer Nicht-Unterscheidung von Religion und Mythos) vgl. auch Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie, Münster 2003, S. 353. 19 | Auch in Beginnlosigkeit findet sich der Topos vom gemeinschaftstiftenden Selbstopfer des Königs: »Maß für Maß: wie im Homburg kommt aus Todesschauer Fügung. Alles verschlimmert sich Wende um Wende […] und nur der Ergänzer, der Fürst, erlangt, indem er sich selbst drein gibt, den Ausgleich der Verfehlungen, so daß jeder einzelne, der im Umfallen begriffen ist, durch ihn und an ihm zuletzt aufsteigt […]. Es

III. Wiederkehr der Tragik

Bleibt eine letzte Frage: Warum hinterlässt der opfervergessene Liberalismus den »Mars auf Erden«, während die souveräne Sanktionsmacht des »Königs« das »Leben« glücklich intensiviert? Oder anders: Warum versteht Strauß die exekutive Souveränität (königlicher) Macht als Heilmittel gegen die liberalen »Relativierungen von Existenz«? Warum verortet er wie in Ithaka die liberale Demokratie auf Seiten des Unlebendigen (Ereignislosigkeit, Hedonismus und Indifferenz), die Monarchie dagegen auf der Seite des Realen und Lebendigen? Wiederum drängt sich eine existenzialpolitische Antwort auf: Strauß argumentiert auch hier in den Bahnen eines etatistischen Vitalismus, dem zufolge die extensive Souveränität der Macht das Dasein des Einzelnen intensiviert und dessen Lebendigkeit steigert. Im Gegensatz zum ebenso unlebendigen wie machtgehemmten liberalen Erlaubnisstaat (»Mars auf Erden«) repräsentiert der Dezisionismus des Souveräns, also die reine, begründungslose und Opfer fordernde Entscheidung, eine Bewegung des ursprünglichen Lebens; in ihr manifestiert sich eine vorpolitische und deshalb auch nicht demokratisierbare Gewalt, die sich im Medium politischer Macht temporalisiert und das existenzvergessene Subjekt immer wieder neu und immer wieder anders »lebendig« sein lässt. Strauß scheint noch eine weitere, diesmal kryptotheologische Strukturähnlichkeit von »Macht« und »Leben« behaupten zu wollen. Wie der unbegreifliche göttliche Schöpfungsakt, so sind auch die Entscheidungen des »Königs« Entscheidungen aus dem vorpolitischen Nichts; sie beruhen nicht auf politischer Vernunft, nicht auf Argumenten und Legitimationsfiguren, sondern allein auf dem göttlichen »Willen zur Macht« und der Universalität des Opfers. Demnach stünde der Irrationalismus der »königlichen« Entscheidung in direkter Analogiebeziehung zum rational undurchdringlichen göttlichen »Leben«; der irdische Souverän wiederholt im politischen Akt das göttliche Wunder der Ausnahme und durchbricht den toten Mechanismus der rationalen demokratischen Regel. Mit der Gewalt seiner einschneidenden Entscheidungen konfrontiert der »König« den Einzelnen mit der irrationalen Faktizität des Lebendigen und gewährt ihm eine Selbsterfahrung, die ihm die abstrakte liberale Vernunft – die Verflüssigung souveräner Macht in prozedurale Demokratie – durch die »politische Relativierung« seiner Existenz tragisch vorenthält. Wenn das die Lage ist, wo findet sich dann ein Ausweg? Obwohl Strauß hartnäckig die unbesiegbare Irrationalität des ursprünglichen »Lebens« gegen die unerträgliche Leblosigkeit der demokratischen Vernunft ins Feld führt, ist die ernst- und zauberhafteste Apologie der Macht, die überhaupt nachvollziehbar ist.« (B, 123) Zur Königsmetapher vgl. auch WDL, 186. – Zum Topos von der (Selbst‑) Opferfähigkeit des Souveräns vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer, Frankfurt a.M. 2002, S. 104ff.

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gibt es für ihn unter den herrschenden Systemprämissen und im Angesicht des »Angerichteten« kein Zurück. »Zurück wohin? Nach dem, was bereits geschehen ist, wird es in uns und um uns nie wieder, wie es war … […]. Der Durst des Angerichteten nach weiterer Zerstörung wächst schnell.« (ABG, 15) Hinzu kommt, dass nirgends ein politisches Subjekt zu erkennen ist, das dem Geschichtszeichen von 1989 zu folgen bereit wäre. Offenkundig ist es der Mangel an handlungswilligen Akteuren (und womöglich auch das Bewusstsein davon, dass der politische Existenzialismus zur Vorgeschichte von 1933 gehört), der Strauß dazu nötigt, den aus seiner Sicht überfälligen Systemwechsel spekulativ an anonyme geschichtliche Gewalten zu delegieren. Nicht ein handelndes Subjekt, sondern die emergente »Geschichte« selbst soll hinter dem Schleier des »Angerichteten« ihre »tragischen Dispositionen« treffen und in den devitalisierten Zonen der Bundesrepublik den Aufstand gegen die liberale Tragikvergessenheit organisieren.20 »Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt.« (ABG, 11)21 Abermals ist Zerstörung die Gestalt, durch die sich das tragische Dispositiv gegen seine liberale Verdrängung ins Recht setzt, und wiederum offenbart sich die Wiederkehr von Tragik und das Ende der Opferkultkrise niemand anderem als dem tiefer wissenden Dichter. Im Lärm des Gewöhnlichen vernimmt er das Akkumulationsgeräusch kommender Tragik, den »anschwellenden Bocks20 | Die Mystifikation geschichtlicher Ereignisse zu einer historischen »Emergenz« teilt Strauß mit Ernst Jünger. Nach dem Zweiten Weltkrieg (und mit der Einsicht in seine eigene Schuld) sah sich Jünger gezwungen, den aktivistischen Traum des »abenteuerlichen Herzens« aufzugeben – die von ihm in der Weimarer Republik propagierte »Konservative Revolution« stand unübersehbar im Schatten des Präfaschismus und konnte als politisches Projekt nicht weiterverfolgt werden. Deshalb definiert Jünger »im metaphysischen Nachkriegsrefugium der ernüchterten faschistischen Intelligenz« (Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, Göttingen 2007, S. 518) 1945 seine Modernekritik um; nicht mehr ein gegenrevolutionär-aktivistisches Subjekt, sondern wiederkehrende chontische Mächte sollen nun den verhassten Liberalismus überwinden. Vgl. Thomas Assheuer, »Paläontologie der Gegenwart. Ernst Jüngers Tagebücher Siebzig verweht I-III«, in: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 269-281. 21 | Es gibt allerdings eine, bei Strauß nur angedeutete, nicht weiter verfolgte Alternative zur Zwangshomogenität der liberalen »Massendemokratie«: die Einsicht in die Unmöglichkeit von Gesellschaft, die »Apologie der Schwebe«, die Akzeptanz von Fremdheit und Entzogenheit: »Es scheint undenkbar, daß jemand in den Verhältnissen, in denen er lebt, die letzte und beste Erfüllung des gesellschaftlich unmöglichen Zusammenlebens erfährt.« (ABG, 12)

III. Wiederkehr der Tragik

gesang« primordialer Gewalt. »Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.« (ABG, 11) Tragisch, so lautet das »Vorgefühl« (ABG, 22), wird die Tragödie der Tragikvergessenheit zu Ende gehen, und tragisch, nämlich in einem Akt destruktiver Revanche, wird die Verleugnung des Opfers gesühnt werden. »Man kann tun, was man will: morden oder beten, revolutionieren oder freie Parlamente wählen – irgendwann zerbricht jede Form, und die Zeit läuft aus. […] Dabei handelt es sich um Verwerfungen, die aus dem schwerverständlichen Rumoren des Angerichteten, aus dem Erdinneren alles dessen, was wir mit viel Erfolg betrieben haben, beinahe zwangsläufig hervorgehen.« (ABG, 10) Auch wenn man anführen könnte, Strauß nehme in seinem Essay unbewusst und gleichsam unterhalb der eigenen Begrifflichkeit die Konflikte einer globalisierten Moderne vorweg, so ist die metapolitische Stoßrichtung seiner Prophetie von zahlreichen Kommentatoren zu Recht als moralische Provokation aufgenommen worden. Strauß, so lautete der Tenor einer durchaus schockierten Kritik, hält es mit einem politischen Existenzialismus, der das »Vorpolitische« gegen das politisch Gerechte ausspielt und die lebendige »Volksgemeinschaft« gegen die »Marslandschaften« der »Massendemokratie«. Sein Aufsatz behaupte eine »Tragik der menschlichen Gewaltsamkeit überhaupt; Tragik und Verhängnis, die dann wieder bis in die Ur-Zeiten mythischer Könige und Ur-Despoten zurückreichen, in die Zeiten des Ordals und der Seher […]. Jede Art von Politik verschwindet in einer vorzeitlich-mythologisierenden Kunst und wird dort – im ›tieferen‹ und unvordenklichen Spiel – aufgehoben.«22 Auch Bernd Witte hat recht, wenn er schreibt: »Solcherart mythisches Denken, das mit den barbarischen Atavismen des Blutopfers geschmäcklerisch kokettiert, möchte eine neue, die aufklärerische Kälte überwindende Religiosität heraufführen und ist in Wirklichkeit der Widerpart der jüdischen wie der christlichen Religion, in der Gott ein für allemal die Menschenopfer abgelehnt und mit den Menschen einen Bund geschlossen hat […] Der Anschwellende Bocksgesang beschwört so die Geburt der Tragödie aus dem Geist verfehlter Geschichte. Auschwitz wird nicht geleugnet, sondern als Fundament einer Erneuerung des Mythos instrumentalisiert. Hitler wird zur religiösen Kategorie umgedeutet, die zugleich eine ästhetische sein soll. Botho Strauß geriert sich damit als ein auf den Kopf gestellter Nietzsche […]. [Der] neue Nietzsche verkündet nicht: ›Gott ist tot!‹ sondern ›Gott lebt‹ denn die Geschichte ist voller Blutopfer.« 23

22 | Clemens Pornschlegel, »Die reaktivierte deutsche Kulturnation«, S. 352. 23 | Bernd Witte, »Botho Strauß – der Idiot in der Mediengesellschaft«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Jg. 41 (1994), H. 9, S. 816.

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Witte wirft Strauß nicht nur die mythisierende Umdeutung der biblischen Rede vom »Heiligen« vor; er vermutet dahinter auch ein moralisch zweifelhaftes Entlastungsmotiv, nämlich die Absicht, die mosaische Zäsur, also die Idee schuldfähiger Freiheit und universeller Rechte, abzublenden und aus durchsichtigen revisionistischen Motiven einzuklammern. Aus diesem politischen Anti-Monotheismus, so wäre zu ergänzen, ergibt sich die zweite Provokation des Essays, nämlich seine verschwiegen mitlaufende Behauptung, die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts müsse als ein Verhängnis verstanden werden, das dem monotheistisch geprägten Moralbewusstseins kognitiv unzugänglich bleibt. Strauß bestreitet deutsche Massenverbrechen und deutsche Schuld nicht, im Gegenteil, es handelt sich für ihn um eine unzweifelhaft monströse Tat, die zu Recht im Kollektivbewusstsein drückend präsent bleibe: Die »Verbrechen der Nazis sind so gewaltig, daß sie nicht durch moralische Scham […] zu kompensieren sind«. Strauß plädiert also nicht dafür, das Ungeheuerliche der Judenvernichtung zu beschweigen; er vertritt auch nicht die Auffassung, dass sich die Wahrheit der Shoah nur im vordiskursiven, sprachlosen Schrecken erfahren lässt. Vielmehr will Strauß das, was eine »über das Menschenmaß hinausgehende Schuld« hinterlässt (ABG, 22), anders erklären, und zwar in den Koordinaten einer Metaphysik des Tragischen. Seltsam zweideutig spricht er von einem »Verhängnis in sakraler Dimension des Wortes«, wobei unklar bleibt, ob sich die Wendung vom »Verhängnis« allein auf das factum brutum deutscher Schuld bezieht oder auf das ›Unbegreifliche‹ der Shoah selbst (ABG, 22). Liest man diese (wenigen) Sätze im Licht der titelgebenden Grundprämisse des Essays, wonach »die Geschichte« als Determinationsgeschehen verstanden werden muss und auch unter modernen Bedingungen »nicht aufgehört« hat, ihre »tragischen Dispositionen« zu treffen (ABG, 11), dann drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, Strauß mystifiziere den Judenmord zu einem von weit her kommenden Geschick,24 das weniger 24 | Die »Transzendierung« des Holocaust in eine pseudosakrale oder »kryptopoetische Sphäre« ist eine geläufige Technik in der konservativen Kulturkritik der fünfziger Jahre. Vgl. Thomas Sparr, »Zeit der Todesfuge. Rezeption der Lyrik von Nelly Sachs und Paul Celan«, in: Stephan Braese u.a. (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a.M., New York 1998, S. 43-52. – In den Fragmenten der Undeutlichkeit versucht sich der Strauß’sche Held, der Dichter Robinson Jeffers, an einer tragischen Deutung Hitlers. Für ihn kommt im Faschismus die tragik- und opfervergessene Moderne zu sich selbst; Hitler – so lautet die Figurenrede (!) – ist der »Welthund«, der »alles Böse der modernen Zivilisation auf sich genommen hatte und straffreien Raum hinterließ für anderer Leute Verbrechen, beispielsweise Bomben auf Japan zu werfen …«. – »Nun gut. Wahrheit braucht nicht allzuviele Freunde. Faschist oder nicht, wen kümmert’s? Darüber fällt Orions Gürtel nicht herab. Wer an die Quelle rührt, macht sich die Hände blutig.« (FU, 23f.)

III. Wiederkehr der Tragik

der sozialhistorischen Verfassung der deutschen Geschichte als vielmehr der Schicksalskomplikation der monotheistisch geprägten Moderne entspringt und darum dem mythosvergessenen Normalbewusstsein verschlossen bleiben muss. Im genealogischen Deutungsrahmen von tragischer Metaphysik und Opferkultkrise25 wären Holocaustforschung und »Vergangenheitsbewältigung« dann in der Tat sinnlos und womöglich eine überflüssige identitätspolitische Belastung der wiedervereinigten Nation – die »Verbrechen der Nazis […] stellen den Deutschen in die Erschütterung und belassen ihn dort« (ABG, 22). Das hieße aber auch, dass »Deutschland« die Praxis der moralisierenden Vergangenheitsbewältigung beenden und sich für die Dispositionen der Geschichte bereithalten kann. Die Substanz der künftigen Politik liegt in Gestalt deutscher Traditionen jedenfalls bereit und wartet auf »Wiederanschluss« an die Politik.

25 | In letzter Konsequenz endet eine Metaphysik des Tragischen im geschichtsphilosophischen Zynismus: Die jüdisch-christliche Inversion des Opfers und die religiöse Übertribunalisierung ontologischer Gewalt stellt die Weichen für eine Moderne, die den Zusammenhang von »Heiligem« und »Gewalt« auflöst und die opferkultische Lösung sozialer Antagonismen verhindert. Die daraus entstehende Opferkultkrise staut »primordiale« Konfliktenergien auf, die dann unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts tragisch manifest werden – als entsühnende Wiederkehr des verdrängten »Heiligen«. In dieser Lesart wäre die faschistische Barbarei eine Folge monotheistischer Gewaltverleugnung – und nicht der ungeheuerliche Versuch, das »Andere der mythischen Gewalt zu tilgen, das Andere der Repräsentation, also die göttliche Gerechtigkeit und jenes, was sie bezeugt, den Menschen«. Jacques Derrida, Gesetzeskraft, Frankfurt a.M. 1991, S. 122.

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Fünfter Teil Jenseits des Liberalismus

I. Macht und Metaphysik

»Das Staatswesen«

Der mediengetriebene »Spätkapitalismus« der Bundesrepublik, so lautet der Generaltenor im Strauß’schen Frühwerk, konsumiert Sinn und erzeugt eine moderne Form »leerer« Freiheit. Tragisch ist diese Freiheit zu nennen, weil sie im Prozess ihrer historischen Durchsetzung jene kulturellen Ressourcen austrocknet, in deren Licht sich die Motive und Ziele von Freiheit überhaupt erst bestimmen lassen. Auf der Suche nach Systemalternativen diskutiert Strauß nun zwei unterschiedliche, auch unterschiedlich konsistente Modelle, die gleichwohl eines gemeinsam haben: Sie verschieben die originelle Ausgangsfrage des Werks – die Frage nach der Selbstdeutung der Freiheit unter den kulturellen Bedingungen von »Liberalismus« und »Spätkapitalismus« – auf die Frage nach der politischen Organisation der Freiheit, das heißt: Sie verschieben die Werkperspektive von der symbolischen »Verfassung« der Gesellschaft auf die Verfassung des politischen Systems. Mitte der achtziger Jahre, nach dem Erscheinen seines Romans Der junge Mann, favorisiert Strauß zunächst die Idee eines organischen »Staatswesens«, das den konzeptionellen Skandal der Bundesrepublik, nämlich die Trennung von Kultur und Politik, beenden und durch eine Synthese von »Macht« und »Geist« ersetzen soll. Ganz anders das zweite, Anfang der neunziger Jahre entwickelte Programm einer »Übermoderne«. Während der Nationaltraum vom »Staatswesen« die technisch-wissenschaftliche Moderne als alternativlosen geschichtlichen Rahmen hingenommen hatte, verhält sich das neue Programm gegenüber der »alten« Moderne nicht mehr resignativ, sondern offensiv-überbietend. Strauß bringt eine Denkfigur der Konservativen Revolution ins Spiel, wonach die zustimmungsbedürftigen Funktionssysteme von Technik, Wissenschaften und Staat zwar in ihrer Eigenlogik nicht angetastet, wohl aber durch einen mythosanalogen Bilderkranz überwölbt und dadurch symbolisch stabilisiert werden müssen. Diese Remythisierung versteht Strauß nicht als Bewegung innerhalb der alten Moderne, sondern als Bewegung über sie hinaus – als einen durch die revolutionäre Entwicklung der Computertechnik ermöglichten Sprung in ein neues, hypermodernes Zeitalter.

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Tragik der Freiheit

Doch zunächst zum ersten Modell, zur poetisch artikulierten Sehnsucht nach dem organischen »Staatswesen«. In dem Langgedicht Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war träumt ein lyrisches Ich den Traum einer Nation, die ihre Bürger nicht nur rechtlich, sondern kulturell integriert, nicht bloß als Privatsubjekt, sondern als ganzheitliche »Person« und Volksgenossen – eben als einen substanziell Zugehörigen, der ohne die Erblast historischer Schuld wieder »im Namen eines Volkes der Deutsche« sein kann. »Kein Deutschland gekannt zeit meines Lebens./Zwei fremde Staaten nur, die mir verboten,/je im Namen eines Volkes der Deutsche zu sein./Soviel Geschichte, um so zu enden?//Man spüre einmal: das Herz eines Kleist und/die Teilung des Landes.« (ETG, 50) Das lyrische Ich scheint allerdings nicht nur an der »Teilung des Landes« und dem Schicksal der »Vaterlandslosigkeit« zu leiden; es leidet ebenso an der liberalen Verfassung der Bundesrepublik, an der im Grundgesetz verankerten Trennung des Kulturellen vom Politischen. Die liberale Demokratie spaltet die ursprüngliche Einheit von Kultur und Politik auf und erzeugt ein gleichgültiges Nebeneinander aus geistloser Macht (Verwaltung) und machtlosem Geist (Kulturindustrie). Die verfassungsmäßig erzwungene Sphärentrennung von Geist und Macht, so lautet die untergründige Klage, öffnet dem angelsächsischen Rationalismus des Rechnens, Vermessens und Maschinisierens Tür und Tor. Wie eine Kolonialmacht fällt die westliche Wissensindustrie in »Deutschland« ein; wie schon im Roman Rumor planieren die »stillen Maschinen« das Feld der kulturellen Einbildungskraft und ersetzen die assoziativ-welterschließenden Metaphern der deutschen Muttersprache durch ökonomisch verwertbare Information. Gleichsam unterhalb der Wahrnehmungsschwelle zerstört die Logik der utilitaristischen Kodes die romantischen Erinnerungsreste der deutschen Kultur und bringt den Gang der Geschichte zum Stillstand. »Langsam geht jetzt Geschichte, unzeitgemäß./Während die stillen Maschinen eilig/gleiches Gedächtnis verteilen über die Erde.« (ETG, 51) Zwar gehen aus dem clash of codes die »Maschinen« der kapitalistischen Wissensproduktion als Sieger hervor, aber aus Sicht des lyrischen Ichs bleiben die neuen symbolischen Ökonomien – jedenfalls im Vergleich zur muttersprachlichen Produktion von Bedeutsamkeit – zutiefst defizient. Denn unter dem Regime von Wissen und Information verlieren die Bürger nicht nur die Fähigkeit zur Orientierung in Raum und Zeit, sie verlieren auch ihre personale Identität, ihre Fähigkeit zu Selbstwahl und Selbstverortung. »Wo wohnen? Es gibt nur Zimmer ohne das Haus/Schiere Stube auf offenem Feld./Nur Rosen gibt es ohne das Wort./Unbegreifliche Siegelknäufe.//Nicht Haus, nicht Rose./ Nicht bald, nicht einst./Belanglos geboren in reines Vergessen./[…] Schwankend um den Nebelgrad von Person« (ETG, 15). Auch die traditionskritische »Öffentlichkeit« gehört zum liberalen Systemkomplex und verstärkt noch einmal das Leiden am Verlust von Vaterland und Muttersprache. ›Tödlich‹ nennt

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das lyrische Ich den Subjektivismus der Medien, weil sie dem Bürger vorgaukeln, er könne über die ihm unwählbare Herkunftskultur frei verfügen und »kritisch« mit »Ja« oder »Nein« zu ihr Stellung beziehen. Die scheinliberale Wahl der Herkunft besiegelt das Ende der deutschen Tradierungsgeschichte und markiert den »Tod« des »Gewesenen«. »Denn vor dem Tod des Gewesenen gewinnen die Ja und die Nein/die gleiche tragende Größe.« (ETG, 51) Kurzum, in der lyrischen Perspektive fällt das Nachkriegsdeutschland einem dreifachen Skandal zum Opfer: Der ›Eiserne Vorhang‹ halbiert die Nation; der funktional differenzierte westliche Teilstaat spaltet das Kulturelle vom Politischen ab und die »stillen Maschinen« des angelsächsischen Informationskapitalismus zermahlen die deutsche Romantik der Mythen und Bilder. Was dann an kulturellem Sinn noch übrig bleibt, wird »kritischen« Medien zur Weiterverarbeitung übergeben und darin aufgelöst. Nachdem alle Identitätsreserven in der informationsökonomischen Nutzenmatrix verschwunden sind, ist das symbolische »Deutschland« vollends unkenntlich geworden. Eine mythenlos verwestlichte Gegenwart herrscht über die erloschene Physis seiner Bürger. »In der Senke der Mythe spüren erloschene Drachen/ihr absurdes Körpergewicht« (ETG, 32). Gegen das Leiden an symbolischer Heimatlosigkeit bringt das Gedicht nun die Idee eines »Staatswesens« in Stellung, das die Einheit aus muttersprachlichem Geist und politischer Macht restaurieren und die von den »stillen Maschinen« verschlissenen Wörter wieder auf ein sinnrepräsentatives Zentrum ausrichten soll.1 Das lyrisch herbeigesehnte »Staatswesen« stellt die Verfassung der Bundesrepublik dabei gleichsam auf den Kopf. Während das Grundgesetz den Staat auf die Rolle einer Rechtsagentur zur Sicherung negativer Freiheit beschränkt und die Sinnfragen des Bürgers privatisiert, träumt das lyrische Ich von einem Idealstaat, der die Sphären von Kultur und Politik zu einem geschlossenen symbolischen Raum verschmilzt und das Liberalsubjekt zurückverwandelt in die alte, namhafte Person, in den »endlich Naiven« (ETG, 75). Auch wenn Strauß die Traumgestalt des romantischen Staates nur in wenigen Versen aufscheinen lässt, so durchzieht dessen Imago doch das gesamte Gedicht – als lyrisches Verlangen nach einer existenziellen Politik, die den Bürger nicht horizontal im Medium politischer Rechte vergemeinschaftet, sondern vertikal im Medium von kulturellem Sinn. Dementsprechend ist das erträumte »Staatswesen« weder eine Maschine noch betreibt es Politik als Mittel zum pragmatischen Zweck; es beruht auch nicht allein auf Vertrag und Verfahren und zieht auch keine scharfe Grenze zwischen Individuum und Gemeinschaft. Stattdessen wird das »Staatswesen« als ein Großsubjekt im Sin1 | Vgl. dagegen die konträre Lesart des »erhabenen Tons« durch Torsten Hoffmann, Konfigurationen des Erhabenen, Berlin/New York 2006, S. 199ff.

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gular vorgestellt, das das Leben des Einzelnen noch einmal mit dem »Leben« der Nation verschränkt. Das »Staatswesen« ist, mit anderen Worten, ein Gesamtdeuter des Daseins und kompensiert mit benevolentem Paternalismus die Existenzvergessenheit des Bürgers. »Es genügte ein Staatswesen, das innerlich aufwög/den vergeßlichen Menschen. So wie der Sioux seine Nation/im Herzen trug neben dem Jagdblut.« (ETG, 52) Im Gegensatz zum bundesrepublikanischen Verfassungsstaat, der Kultur und Macht funktional differenziert und die Antwort auf Sinnfragen selbstbewusst schuldig bleibt, versteht das Gedicht den wahren Staat nicht als subsidiären Förderer von Kultur (das wäre bestenfalls Liberalismus); es versteht den Staat als einen autorisierten Interpreten der nationalen Überlieferung mit Deutungshoheit sowohl über das kollektiv Gerechte wie über das individuell Gute. Der lyrischen Textfigur geht es also nicht allein um die Restauration von »Sinn« in der Sphäre des Öffentlichen; es geht ihr um eine kulturelle Vergesellschaftung, die den Systemdefekt der funktional differenzierten Demokratie, die Spaltung von Geist und Politik, aufhebt.2 Während das subjektive »Leben« die blinde Stelle des liberalen Verwaltungsstaates bezeichnet, erscheint im »Staatswesen« der Bürger wieder als das, was er vorpolitisch doch von Anfang an war – nämlich als Teil eines inklusiven ethnokulturellen »Wir«, dessen identitätsprägende Kraft nicht einmal von der Erinnerung an Auschwitz verschattet wird. In einer pejorativen, sich selbst qualifizierenden Anspielung auf Paul Celan heißt es: »Nicht aus raunendem Rauch bist du entstanden,/nicht aus zerfallender Sage./Sondern ein emsiges Staatswesen hat dich ausgestanzt/wie einen Weihnachtsstern aus glattem Mandelteig./Ein Wesen nicht einmal mit Knotenkeule/und brütender Stirn, nicht mit der Kathedrale/als Grundmaß und keine nihile Hoheit./Wohl aber leidgeprüft und manchmal/mit Trauer behangen wie mit falschen Klunkern./Bin ich denn nicht geboren in meinem Vaterland?« (ETG, 49) 3 2 | Für die Textfigur scheint die Konsubstanzialität von Macht und Geist auch aus funktionalen Gründen erforderlich zu sein: Der Staat bedarf des vorpolitischen Sinns, weil dieser ihn aus der Rolle einer bloßen Rechtsagentur erlöst und ihn substanzialisiert; umgekehrt bedürfen die Überlieferungen der schützenden Hand des Staates, um die sinnkritische Öffentlichkeit auf Abstand zu halten. Strauß spielt hier auf die romantische Staatsidee an, wonach Institutionen sprachlichen Sinn »speichern«. Prominent vertreten hat diese Idee zuletzt Arnold Gehlen. Vgl. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Band I, Frankfurt a.M. 1973, S. 216f. 3 | Die Kultur, so klingt der Subtext dieser Verse, ist von Auschwitz unberührt. Es liegt kein Schatten auf der deutschen Kultur, nicht jene »Dimension des Todes«, die sich ihr nach der Judenvernichtung als »undarstellbare Sinnstörungsinstanz eingeschrieben hat«. Anja Lemke, »Andenkendes Dichten – Paul Celans Poetik der Erinnerung TÜBIN-

I. Macht und Metaphysik

Das Langgedicht ist allerdings realistisch genug, um seinen nationalreligiösen Staatstraum als das einzuschätzen, was er ist: als rein ästhetische Fantasie. Strauß macht keinen Hehl daraus, dass es angesichts von deutscher Teilung und Verwestlichung um die symbolische Substanz des erträumten »Staatswesens« – um ›Mutter Sprache‹ – nicht gut bestellt ist, jedenfalls begegnet dem Leser das Deutsch der Deutschen als Jammergestalt, als eine bemitleidenswerte, vom Tod gezeichnete »Alte Frau«, die mit letzter Kraft die Webfäden der nationalen Erzählung zusammenhält: »[I]n Decken gehüllt, inmitten all dem erschütternden Blühen./Alte Frau. Vor der Ferne sitzt sie brav und hört und sieht/nicht mehr viel.« (ETG, 12)4 Doch der Schein der Schwäche trügt. Obwohl sie von den westlichen Informationsmaschinen (»gleiches Gedächtnis«) marginalisiert und ins Abseits gedrängt wurde, feiert das Gedicht die invalide »Alte« als eine vitale symbolische Macht, die noch im Exil ihrer selbst und im Modus des erzwungenen Schweigens ihren namenlosen Einfluss geltend macht. »Mutter Sprache« (und die in ihr gespeicherte »Kraft des Gewesenen«) ist »anwesend« in Gestalt ihrer Abwesenheit, sie ist gegenwärtig, aber verborgen und macht sich durch ihr Fehlen bemerkbar. »Gedächtnis –/ ruinöses Nichtgerufenwerden. Als hätte die/Mutter vergessen, mich zu Tisch zu bitten …« (ETG, 17) Selbst unter dem Regime des Informationskapitalismus bildet ›Mutter Sprache‹ das wahre Tradierungsmedium der kulturellen Nation; sie ist das apriorische Perfekt des Sprechens und als vorgängiger Sinnhorizont – als »Ort meines Ungeborenseins« (ETG, 12) – dem Sagenwollen immer schon voraus. Keine Weltbeheimatung ohne das »Deutsch«, den großen »ungefährtige[n] Schatten« der kleinen Person. »Überragt Dein Deutsch/als ein ungefährtiger Schatten, Unhold des Schweigens,/der, wollte er Luft schnappen, deine Kleinheit/verschlünge.« (ETG, 48f.)5 Für die spekulative Behauptung, ›Mutter Sprache‹ sei durch Abwesenheit anwesend, scheint das Gedicht selbst zu stehen, seine lyrische Evidenz. GEN, JÄNNER und TODTNAUBRG in Auseinandersetzung mit Hölderlin und Heidegger«, in: Ulrich Wergin/Martin Jörg Schäfer (Hg.), Die Zeitlichkeit des Ethos, Würzburg 2003, S. 103. 4 | Vgl. die konkurrierende Deutung dieser Gedichtzeilen bei Sebastian Reus, Unglückliches Bewusstsein, S. 251. 5 | Warum Muttersprache überindividuelles Seinswissen (»Zeitenstaub«) enthält, erklärt Strauß an anderer Stelle mit dem Hinweis, die Seinsauslegung klassischer Werke und das »erhöhte Bewußtsein« ihrer Autoren habe sich ihr eingesprochen. »Nur Sprache selbst kann auf eine sinnliche, partikuläre, nicht-historische Weise Vergangenheit, Zeitenstaub enthalten, Sprache, die ihrer Herkunft nach eine aus Werken gebrochene Sprache ist, also eine aus erhöhtem Bewußtsein hervorgegangene, die neues erhöhtes Bewußtsein schafft. Dies macht vielleicht den tieferen Sinn von Muttersprache aus. In einer fremden trägt einen die Eigenerinnerung der Sprache nicht.« (B, 78)

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Schon das Faktum seines ästhetischen Erscheinens macht den »unsagbaren« Schmerz über den Verlust des »Deutschen« sagbar, und die sture Schönheit seiner Verse rebelliert gegen die Vermessung der Welt, gegen das nivellierte »gleiche Gedächtnis« der westlichen Doxa. Diese Ästhetik des Widerstands, so legt es Strauß dem Leser nahe, adelt das Gedicht zum lyrischen Partisanen. Subversiv schleust es eine von Auschwitz unverschattete und moralisch unbelangbare Gegenerinnerung in die westliche Monokultur und bewährt sich damit als advokatorischer Hüter der vorenthaltenen Sprache.6 In unendlicher Entfernung zur mythenlosen Bundesrepublik bereitet das Gedicht die Festtafel, an der das vermisste Deutsch »für einen Tag« in der westlichen Sprachkolonie »zu Gast ist« und seine Existenz durch Anwesenheit bezeugt: Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war.7 Gewiss sollte es einer Gedichtinterpretation nicht darum zu tun sein, lyrische Fantasien auf ein staatsmetaphysisches Programm zurechtzustutzen oder sie mit der Elle der politischen Philosophie zu messen. Andererseits dürfen der manifest autoritäre Traum vom sinnerschließenden Souverän und das ästhetische Verlangen nach existenzieller Politik auch nicht ignoriert werden. Auffällig am Strauß’schen Langgedicht jedenfalls ist der Umstand, dass sich der Textfigur das Problem der politischen Legitimation des organischen »Staatswesens« nicht einmal mehr stellt.8 Bereits die Frage danach scheint sich zu er6 | Der Topos des Dichters als des »Hüters des nationalen Gedächtnisses und der Kultur des wahren Volkes« wird Ende des 18. Jahrhunderts »unter dem Druck der forcierten, europäischen Nationalstaatenbildung« entwickelt. Im »Kontext der rein kulturell-organisch konzipierten deutschen Nation […] gerät der Dichter zum literarischen Souverän eines geheimen, anderen Deutschland, zum Statthalter und Reichsverweser einer zukünftigen deutschen Nation.« Clemens Pornschlegel, »Die reaktivierte deutsche Kulturnation«, S. 351. 7 | Das Ausbleiben der Muttersprache ist nicht nichts, sondern das Walten der Wahrheit selbst und damit die negative Form ihrer Entbergung. Wie im Roman Der junge Mann ist die schmerzhafte Erfahrung des Ausbleibens nur als ästhetische möglich – nur in der lyrischen Epiphanie kommt das ›Ausstehende‹ ästhetisch zur Anwesenheit. Dass das Leiden am sprachlichen Entzug überhaupt noch einmal sichtbar wird, ist wiederum keine subjektive Regung des »Dichters«, sondern ein absolutes Zeichen, ein Wink des Absoluten. Er zeigt, dass die Alphabetisierungsenergien von »Mutter Sprache« unterhalb westlicher Sprachformen unversehrt präsent sind. »Plötzlich und leis/fügte es sich zu – die Flure, das Klingeln,/die Pfiffe – plötzlich Gedächtnis./Lang, lang hab ich gebraucht zu finden/das eigne Haus, gemacht aus Gewesenem.« (ETG, 12) 8 | Das ist ein konventioneller Topos der Aufklärungskritik und findet sich schon bei Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald: Autorität ist schon deshalb vernünftig, weil sie kulturelle Neutralisierung verhindert. Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration, Stuttgart 1998, S. 165ff.

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übrigen, besteht doch aus lyrischer Sicht die primäre Aufgabe der politischen Exekutive nicht in liberaler Freiheitssicherung, sondern in existenzieller Sinngewährung; nicht in der Garantie gleicher politischer Rechte, sondern in der Herstellung überindividueller »Ganzheit«. Politische Rechtmäßigkeit, so lautet die lyrische Verheißung, erlangt die staatliche Ordnung bereits dann, wenn sie dem Einzelnen den Sinn seines In-der-Welt-Seins präreflexiv verbürgt und seine inklusive kulturelle Zugehörigkeit sicherstellt.9 Volksnation statt Staatsnation: Der autoritäre Zug dieser Vorstellung verbirgt sich nicht in der Behauptung, demokratische Gesellschaften seien auf kulturelle Überlieferungen angewiesen – diesem Cantus firmus des Gedichts ist ebenso wenig zu widersprechen wie seiner Kritik am semantischen Funktionalismus der kapitalistischen Wissensindustrie. Das autoritäre Moment verbirgt sich vielmehr in dem Versuch, die Legitimation von Staatsgewalt auf eine vorgängige kulturelle Quelle zurückzuführen und das vorpolitische Ethnos gegen den politischen Demos auszuspielen, gegen die Institutionen von Parlament und Öffentlichkeit. In diesem Denkmodell kommt die demokratische Selbstregierung gleichsam immer schon »zu spät« und spielt nur an der Oberfläche, weil das eigentlich Politische, die homogene Tiefenidentität der Nation, die Gesellschaft der Bürger vordemokratisch immer schon zur wahren Gemeinschaft versammelt hat. Formelhaft gesagt: Als habe er damit die Lösung für die Lebenskrise seiner Theater- und Prosafiguren gefunden, imaginiert Strauß ein kritikimmunes staatliches Sinnmonopol, das seinen Bürgern den Realisierungsgehalt ihrer Freiheit vorgibt und durch existenzielle Politik die vom Liberalismus aufgerissene Lücke zwischen Individuum und Kollektiv schließt. Nicht länger ist der »vergeßliche« Einzelne ein Doppelwesen aus Privatmann und Staatsbürger – er ist wieder »im Namen eines Volkes der Deutsche« (ETG, 50).

9 | Hinter der Privilegierung des Staates steht die Überzeugung, dass kulturelle Kontexte das Subjekt »sprechen«, bevor es selbst zu sprechen in der Lage ist – Geltungskritik kommt immer schon zu spät. Dementsprechend kann sich das Subjekt nur zu dem machen, was es durch die Vorgängigkeit des kulturnationalen Kontextes immer schon »ist«.

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Annäherung an Ernst Jünger

Das Langgedicht Diese Erinnerung … ist eine Verlustanzeige, eine nationalreligiös intonierte Klage über die symbolische Gewalt der »Wissensgesellschaft« und die Umstellung von muttersprachlicher Bedeutung auf erzählfreie Information. Gleichwohl lässt Strauß keinen Zweifel daran, dass seine kulturkonservative Systemkritik angesichts faktischer Machtverhältnisse auf verlorenem Posten steht – das Gehäuse der funktional differenzierten Moderne ist uneinnehmbar, und die »stillen Maschinen« der Informationsökonomie bilden fürs Erste das hinzunehmende Schicksal der Welt. Deshalb musste sich sein Gedicht auf lyrische Dissidenz beschränken, auf den nationalen Partisanentraum eines insularen deutschen »Staatswesens« im Meer der mythenfeindlichen Moderne. Erst mit seinem zweiten Projekt, mit der Idee einer »Über-« bzw. »Hypermoderne«, lässt Strauß diesen melancholischen Fatalismus hinter sich. Das neue Programm versteht sich nicht mehr als Alternative in, sondern als Alternative zur funktional differenzierten Moderne; es soll ihre evolutionäre Dynamik nicht mehr kulturkritisch beklagen, sondern offensiv bejahen und die Moderne so weit über sich hinaustreiben, bis sie aus sich selbst heraus die technologischen Instrumente für einen Epochenwechsel bereitstellt und ihre eigene Überwindung ins Werk setzt – die Wiederversöhnung mit dem Mythos. Wesentliche Anstöße bezieht dieses Überbietungsprogramm aus dem ideengeschichtlichen Quellgebiet der »Konservativen Revolution« und von einem ihrer Vorkämpfer, dem Schriftsteller und Dichterphilosophen Ernst Jünger.1 Strauß’ Verhältnis zu Jünger geht über eine bloße Wertschätzung weit

1 | »Die mänichäische Feindschaft gegen den ›Westen‹, gegen seine Aufklärung und seinen Liberalismus, verbunden mit einer chiliastischen Aufladung des ›Deutschen‹ zur utopischen Chiffre für die Vision von der Verschmelzung ›organischer Kultur‹ mit der Technik – dieses Konglomerat könnte als das ›metapolitische‹ Programm der Konservativen Revolution bezeichnet werden.« Richard Herzinger, »Wachtposten in der Götter-

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hinaus und trägt Züge tiefer Verehrung,2 ja mehr noch: Er glaubt im Werk des »Waldgängers« sein eigenes Echo zu vernehmen, den »Refrain einer tieferen Aufklärung«.3 Tatsächlich gibt es verblüffende Parallelen. Wie Strauß in Der junge Mann, so entwirft Jünger in seinem Roman Eumeswil das Tableau einer manieristisch leerlaufenden Nachmoderne, in der die Vulkane der Geschichte erloschen und die Moleküle der Politik zum Stillstand gekommen sind. Eumeswil spielt in einer vergangenen Zukunft, und darin ist der Illusionsschleier von Fortschritt und Glück zerrissen, die mythischen Erzählungen sind verstummt und existenzielle Fragen zu bloßen Stil- und Habitusfragen herabgesunken. Die metaphysisch ungetrösteten Figuren bewohnen einen »götterlosen Raum«, in dem sich mythische Vergangenheit und nachmoderne Gegenwart in radikaler Fremdheit, wie zwei abgedriftete Kontinente, gegenüberstehen. »Er kennt die Werte und auch die Maße; um so heftiger wird die Enttäuschung, wenn er sie an die Gegenwart anlegt […] Im götterlosen Raum gleicht er dem Fisch, der noch die Kiemen regt, wenn ihn die Brandung auf die Klippe schleuderte. Doch was im Element ihm Lust war, verwandelt sich in Pein. Die Zeit der Fische ist vorbei.«4 Der einzige Schmerz, von dem Jüngers Figuren in Abständen überwältigt werden, resultiert aus ihrem Leiden an der unerzählbaren Zeit. »Da ist immer noch Ablauf, da ist immer noch Zeit.«5 Eumeswil ist eine Dystopie, doch es ist schwer auszumachen, ob sich ihr Autor mit der Behauptung vom »Tod des Mythos« abfinden will. Dem endzeitlichen Pessimismus seiner ästhetischen Beschreibungen hat Jünger jedenfalls stets eine anti-utopische Utopie entgegensetzt, eine politische Überbietungsidee, in der sich Mythos und Moderne noch einmal zu substanzieller »Ganzheit« verschränken und die sinnlos »ablaufende« Zeit narrativ rahmen. Dieses konservativ-revolutionäre Programm, die Remythisierung einer versachlichten Spätmoderne, verfolgt Jünger seit den zwanziger Jahren, und im Kern verlangt es vom Altkonservativen einen radikalen Einstellungswandel gegenüber den nacht des Nihilismus. Der melancholische Heroismus der Konservativen Revolution«, in: Ludger Heidbrink (Hg.), Entzauberte Zeit, München 1992, S. 207. 2 | »Die Epoche der deutschen Nachkriegsliteratur wird erst vorüber sein, wenn allgemein offenbar wird, daß sie vierzig Jahre lang vom Jüngerschen Werk überragt wird. Er ist nach dem Kriege der Vergegenwärtiger, der Gegenwartsautor schlechthin gewesen. Zwar nicht im Sinne des kritischen Realisten, dafür auf eine magisch-schauende, immer prospektive Weise.« Botho Strauß, »Refrain einer tieferen Aufklärung«, in: Heimo Schwilk (Hg.), Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, Stuttgart 1995, S. 323. 3 | Ebd., S. 323f. 4 | Ebd., S. 88. 5 | Ernst Jünger, Eumeswil, SW Bd. 17, Stuttgart 1977, S. 88. – Vgl. zu Eumeswil auch Peter Uwe Hohendahl, Erfundene Welten, S. 105-133.

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ungeliebten Mächten des Fortschritts: Er muss den Retro-Kult sinnloser Zivilisationskritik ebenso beenden wie den Windmühlenkampf gegen das ›stahlharte Gehäuse‹ von Technik und Wissenschaft. Diese Revision versteht Jünger jedoch keineswegs als Verrat, sondern, im Gegenteil, als Akt konservativer Treue zu sich selbst. Denn nur dann, wenn der Konservative den Selbstlauf von Technik und Wissenschaft rückhaltlos bejaht, vermag er deren revolutionäres Potenzial in Regie zu nehmen und seinen nie aufgegebenen Traum zu erfüllen – den Traum einer Versöhnung von Mythos und Moderne.6 Jüngers antimodernistischer Modernismus, vorsichtiger gesagt: sein selektiver Modernismus folgt der Fundierungsprämisse der Konservativen Revolution, wonach kein Weg hinter die technische Moderne zurückführt, sondern nur ein Weg über sie hinaus. Ausgerechnet die von Altkonservativen verteufelte moderne Technologie dient dabei als Mittel zum Zweck von Wiederverzauberung und Mythisierung, wobei es vor allem die neuen Kommunikations- und Bildmedien sind, die die von »Weltangst« zerrissene Gegenwart zu einem panoptischen Raum schließen und ein funktionales Analogon für die einheitsstiftende Macht des Mythos etablieren sollen. Warum Jünger (und später auch Strauß) so entschieden Wert auf geschlossene Bildräume und Mythos-Äquivalente legt, erklärt sich zunächst aus der offenbar stillschweigend akzeptierten Behauptung von der Instinktlücke des menschlichen Tiers. Diese angeborene Orientierungsschwäche kann in Jüngers Augen nicht kuriert, sie kann nur sozialtechnologisch abgefedert und durch stabile politische Institutionen kompensiert werden. In dieselbe Richtung zielt Strauß, wenn er in Beginnlosigkeit von einer »theozoologischen Lücke« spricht, »die der Mensch nur notdürftig und letztlich fehlangepaßt

6 | Für die Zwecke der organischen Wiederverzauberung setzen die Autoren der Konservativen Revolution auf die »systembildende Kraft technischer Rationalität«. Grundlage dafür ist ein Geschichtsbegriff, der die eigenen Setzungen an ein angebliches Ursprungsprinzip zurückbindet. Der revolutionäre Konservatismus ist sich der »Unumkehrbarkeit der historischen Enteignungsprozesse im Bereich aller Traditionsbestände bewußt« und geht deshalb von »wesentlich defensiven zu offensiven Strategien« über. Er verhält sich gegenüber der »Wirklichkeit nicht mehr sentimentalisch […], sondern er begibt sich auf die Suche nach einem neuen systematischen Anfang […]. In dieser Verkleidung tritt das Verhältnis von Wachsen und Machen in modifizierter Form wieder auf. Der rationalisierte Akt des Machens, der keine historische Kette fortsetzt, sondern ›abreißt‹, verhilft einer Ursprungserscheinung zum Durchbruch, die ›immer‹ ist, und wird darum mit konservativem Wachstum, d.h. seinem eigenen Gegenteil, identifiziert.« Ingeborg Maus, Rechtstheorie und Politische Theorie im Industriekapitalismus, München 1986, S. 142.

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ausfüllt« (B, 83).7 Auch für ihn ist diese »Lücke« eine gefährliche Quelle von Weltangst und muss durch symbolische Sinnsicherung entschärft werden, damit die Zivilisation wieder als das erscheint, was sie im Licht der Evolution immer schon ist: als zweite Natur. Jünger ist allerdings Soziologe genug, um zu sehen, dass die grassierende »Weltangst« ihre Ursache in der Gewalt der industriellen Moderne hat, im Gigantismus ihrer »Werkstättenlandschaften« und einer buchstäblich »ungeheuren« Technik, deren Zerstörungskraft das menschliche Vorstellungsvermögen schlichtweg überfordert. In Jüngers Sicht ist die moderne Gesellschaft ein Hochrisikoprojekt, aus dessen Mitte jederzeit eine archaische Urgewalt hervorbrechen kann, die in der Vormoderne durch stabilisierende Mythen rituell besänftigt und in Schach gehalten wurde. Diese mythische Absicherung fehlt in der Gegenwart; in skandalöser Arbeitsteilung haben historische Aufklärung und Religionskritik die sinnsichernden »alten Formen« zerlegt und den »Nomos« bis »auf die letzte Faser abgetragen«.8 In dieser Lage sieht der Konservative nur eine Möglichkeit, die Wiederkehr archaischer Gewalt im Raum der Hochzivilisation abzuwenden: Die entzauberte Moderne muss remythisiert, sie muss erneut zu einem sinnvollen Ganzen gerahmt und ihre explosive soziale Dynamik durch die »Zauberkraft« einer Großen Erzählung gebannt werden.9 Im weiten Feld der symbolisch ›zerschlissenen‹ Gesellschaft vermag Jünger jedoch nur einen Kandidaten zu entdecken, dem er zutraut, die Wiederverzauberung der tosenden »Werkstättenlandschaften« in Angriff zu nehmen: die Kunst. Nur das Ästhetische, glaubt er, verfügt über genügend plastische und visuelle Kapazitäten, um die kognitive Kälte der kapitalistischen Moderne abzumildern und die Risikoproduktion von Technik, Industrie und Wissenschaften imaginativ so weit zu entschärfen, dass sie dem Einzelnen nicht als permanente Bedrohung, sondern als sinnvoller evolutionärer Prozess erscheint.10 Kunst, so hofft Jünger, immunisiert gegen die Schrecken der Kontin7 | Von dieser »Lücke« spricht schon Hans in Kalldewey, Farce, vgl. oben FN 2 der Zwischenbetrachtung. 8 | Ernst Jünger, Über die Linie, SW Bd. 7, S. 261. 9 | Die Überzeugung, dass die »stählerne Schlange, die erstarrte Armatur des Arbeiters, den Menschen erwürgen wird, wenn er sie nicht verzaubert, motiviert die Artistenmetaphysik Jüngers«. Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, München 1989, S. 168. 10 | »Was sich dem Menschen vorstellt, auch Innerstes und Größtes, kommt aus der namenlosen Fülle, die er mit Namen anspricht und begrenzt […]. Der Mensch begrenzt und sondert durch sein Wort, doch ragt das Wort aus Tieferem […]. Dort ruht das Unaussprechliche, ruht kosmische Grundmacht, über die der Mensch durch die Sprache verfügt.« Ernst Jünger, Typus, Name, Gestalt, SW Bd. 13, S. 159.

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genz und produziert Sinn für die Sinnhungrigen; sie mildert die Naturgewalt von Technik und Wissenschaft und konkretisiert die Macht des Abstrakten. Allein durch Symbolisierung, allein durch Darstellung und Benennung macht sie die »namenlose« Angst des Subjekts »namhaft« und erlaubt ihm, seine Dämonen auf Abstand zu halten. Wie in den Anfängen der Gattungsgeschichte die »namenlose Macht des Universums […] vom Menschen durch das Wort gebannt«11 wurde, so soll die ästhetische Einbildungskraft die moderne Risikogesellschaft sinnfällig machen und retabuisieren. Kurzum, im Auge des Hurrikans erzeugt die Kunst wiedererkennbare Valeurs, konstante Muster und beruhigende Redundanzen. Damit leistet sie genau das, was einst der Mythos geleistet hatte: Kunst organisiert die Theodizee der Welt.12 Warum die Kunst zu mythos- und religionsanalogen Leistungen in der Lage ist, erklärt Jünger mit ihrer magischen Fähigkeit zum »stereoskopischen« Blick – die Kunst sieht doppelt und erfasst das »geheimere« Wesen hinter den Erscheinungen. Im ontischen Wirrwarr der beschleunigten »Maschinenmoderne« erkennt sie – und auch diese Denkfigur wird Strauß sich zu eigen machen – eine geheimnisvolle ontologische »Ruhe« und einen tieferen Sinn. »[U]nser höchstes Bestreben [gilt] jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen Körperlichkeit erfasst.«13 Während die titanischen Mächte der Sachlichkeit die Zeitgenossen in Panik versetzen, gelingt es der Kunst, hinter Risiko und Chaos, das heißt hinter den unleugbaren Zerstörungen der Zivilisation, das Unzerstörbare der Erdgeschichte zu erkennen, den namenlosen Trost der Evolution.14 Ästhetische Magie heißt für Jünger 11 | Ernst Jünger, Typus, Name, Gestalt, SW Bd. 13, S. 109. 12 | Jüngers Traum von der kosmologischen Wiederversöhnung lautet: »Das Universum lebt. Die Ägypter können daran nicht gezweifelt haben; die Mumie, die Pyramide, der Scarabäus bezeugen die Puppenruhe einer dem Weltlauf innewohnenden, zeitüberwindenden Kraft. Der Mensch hat an ihr Teil. In der Starre des Totenreiches schlummert ein Wissen, das jede Hoffnung übertrifft […] Die Sonne geht, wie über Gerechte und Ungerechte, auch über Tod und Leben auf. Die Materie fühlt und leidet nicht […], Sprache besitzt auch die Materie. Die Wasser schweigen, doch sie sprechen auch im Murmeln der Quellen […] Es wäre irrig zu glauben, daß wir Frieden, Heiterkeit und Qualen aus eigenem hineindeuten. Das geschieht in der Tat, doch nur deshalb, weil wir auf den eigenen, elementaren Fundus hinabgreifen. Dort ragt das gemeinsame Gesetz, zu dem unter den Künsten die Musik sich am nächsten, bis zum Unaussprechlichen, hinabtastet.« Ernst Jünger, Siebzig verweht, SW Bd. 4, S. 536f. 13 | Jünger entwickelt diesen Gedanken in seinem Essay Sizilischer Brief an den Mann im Mond, in: SW Bd. 9, S. 20f. 14 | Der entscheidende Gedanke lautet, dass es ohne ästhetische In-Form-Setzung der chaotischen Welt keine Versöhnung mit dem Opfer und den Mühen der Selbsterhaltung gibt. Erst mit der ästhetischen Symbolisierung des Alltags »würde auch die Tätigkeit,

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also: Indem die Kunst die chaotischen »Sonderungen« der Moderne in den unsichtbaren »Weltgrund« zurückspiegelt, offenbart sie Sinn im Sinnlosen, sie enthüllt das Ewige im Aktuellen und die Urgestalt im Zufall.15 Im magischen Spiegel der Kunst verschmelzen Subjekt und »Weltgrund« zu einer unauflöslichen Einheit, und selbst schwere Zivilisationsrisiken erscheinen nun als sinnvolle »Ausfaltungen« einer »ungesonderten Natur«, die immer schon weiß, was sie will. Damit ist die durchsäkularisierte Moderne metaphysisch wieder gedeckt, denn was immer geschieht, es ist gut: »Die typenbildende Macht des Universums drängt aus dem Ungesonderten […] empor. […] Weltgrund und Grund im Menschen sind eins.«16 »Wir müssen heute den bewußten Geist zum Instrument ausbilden, das erlöst. Er ist für uns der Stoff des Unaussprechlichen, und seine Bilder lassen sich auch mit unseren Mitteln erhöhen ins Ewig-Gültige […] Die geistige Überwindung und Beherrschung der Zeit wird sich nicht darin spiegeln, daß perfekte Maschinen den Fortschritt körnen, sondern darin, daß die Epoche im Kunstwerk Form gewinnt. Hierin wird sie erlöst. Nun kann zwar die Maschine niemals Kunstwerk werden, wohl aber kann der metaphysische Antrieb, der die gesamte Maschinenwelt befeuert, im Kunstwerk höchsten Sinn erhalten und damit Ruhe in sie einführen.«17 also die Arbeit, über die rotierende Bewegung hinaus […] in ihrer Ruhe erkannt werden. Die Technik würde eine Sinngebung erfahren, die keine Utopie vorauszusagen weiß. Erst wenn die Gerüste der Werkstättenlandschaft fallen, wird sich eine Kunst enthüllen, die an jene der großen Epochen […] heranreicht […]. Erst dann können die unermeßlichen Opfer […] als Stiftung erfaßt werden. Sie werden sinnvoll, das heißt: als Opfer erkannt.« Ernst Jünger, Typus, Name, Gestalt, SW Bd. 13, S. 146. 15 | Der stereoskopische Blick »annihiliert die Zeitlichkeit der mit menschlichen Artefakten aus den verschiedensten Epochen angefüllten Landschaft, eliminiert ihr Gewordensein und gibt den Durchblick frei auf das Sein an sich, das hinter den verschiedenen zeitlichen Gewandungen in seiner unveränderlichen Zeitlichkeit ruht«. Horst Seferens, »Leute von übermorgen …«, S. 155. 16 | Ernst Jünger, Typus, Name, Gestalt, SW Bd. 13, S. 91. – Auch die »Namen« und Mythen tragen allerdings ein Quantum Schuld, weil sie das Namenlose und Ungesonderte signifizieren und verstellen. In Jüngers Populärfassung von Heideggers ontologischer Differenz sind Dichtungen und Mythen nur »Texte« auf eine »Melodie«. Während sich die Texte der Zivilisation in wechselnden Diskursformationen über die Erde wälzen, bleibt die Melodie der Erde bis zum Ende aller Tage gleich. Erst jenseits von Mythos und Dichtung liegt das Namenlose. »Unter den Namen und ihrer Geschichte ruht das Namenlose wie eine Melodie, auf die bald dieser, bald jener Text gesungen wird.« Ernst Jünger, Siebzig verweht, SW Bd. 4, S. 180. 17 | Ernst Jünger, Über die Linie, SW Bd. 7, S. 275. – Nicht nur traditionelle ästhetische Formen sind in der Lage, die Angstpotenziale der Zivilisation zu konsolidieren; auch ab-

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Diese Sätze bergen unverkennbar das pagane Erlösungsgeheimnis in Jüngers Programm. Das Ästhetische, so stellt er es sich vor, webt den mythischen Faden der Notwendigkeit ins Labyrinth des Zufalls; es beruhigt die kinetisch überhitzte Weltmaschine und lässt sie selbst als Emergenz eines »metaphysischen Antriebs« erscheinen. So zerstört die Magie der Kunst den dämonischen Schleier der Angst. Sie macht Kontingenz sinnvoll, und inmitten von Chaos und Mobilmachung setzt sie die Zivilisation panoramatisch über sich selbst ins Bild: Nur »[w]o Sinn geschaut wird, können Opfer gebracht werden.«18 Jüngers Programm steht und fällt allerdings mit der repräsentationslogisch heiklen Behauptung, zwischen dem »namenlos« Elementaren und dem Ästhetischen bestehe ein unsichtbares Kontinuum. Nur so nämlich würde die Suggestion plausibel, dass bereits das »Namhaftmachen« der Welt, der pure ästhetische Akt des Künstlers, den »namenlosen« Weltgrund berührt und die anonyme Produktivität der Evolution ins Bild setzt. Doch genau darauf will Jünger hinaus. Für ihn existiert eine untergründige Verbindung zwischen dem »Ungesonderten« (der »namenlosen« schöpferischen Evolution) und der Welt der Erscheinungen (»Sonderungen«): »Aus der Erscheinung spricht die ungesonderte Natur und aus dem Namen spricht das Ungesonderte im Menschen, die beide nicht nur ähnlich, sondern identisch: ein und Dasselbe sind […] Der Name reicht ebenso tief in die Substanz der Dinge, wie die Erscheinung in die Substanz des Menschen reicht.«19 Die privilegierte Einsicht in das Kontinuum der Evolution macht den Künstler zur Exklusivfigur. Bewusstlos-gewusst setzt er die unsichtbare Einheit aus dem »Elementaren« und seinen zivilisatorischen Erscheinungen ins Werk; das Auge des Priesterkünstlers durchdringt das Dunkel der Dinge, und die Zauberkraft der ästhetischen Namen erkennt hinter dem Chaos der Moderne eine »höhere Einheit«, die Trost spendet und den »Verlassenen« versichert, dass »Anschluss« besteht. Dem Künstler, sagt Jünger, ist die »Wirklichkeit des Kreises offenbar, dem der Einzelne angehört als ein Punkt seiner Peripherie. Er sieht dort, wo jeder für sich im Kampfe liegt, die durchlaufende Front. Daher ist es seine Stimme, die inmitten der Verwirrung von einer höheren Einheit

strakte Formen nehmen dem formlosen Nihilismus von Technik und Wissen die Spitze. Im chaotisch Ungefähren erzeugen asemantische Formen geometrische Ordnungen und damit Unterscheidungen, die sich vom Unterscheidungslosen der Moderne unterscheiden. Dadurch werden die »Geheimnisse des Sichtbaren« zur Form erlöst und die anonymen Mächte der Sachlichkeit durchsichtig auf einen »unsichtbaren Plan«. Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 16f. 18 | Ders., An der Zeitmauer, SW Bd. 8, S. 538. 19 | Ders., Typus, Name, Gestalt, SW Bd. 13, S. 104.

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Kunde gibt oder die gleich der eines Meldeläufers bei Nacht das Herz in seiner Verlassenheit darüber beruhigt, daß der Anschluß besteht.«20 Dass Jünger der Kunst – und nicht mehr der Religion – die Aufgabe anträgt, die Theodizee der Welt ins Werk zu setzen, ist kein Zufall, sondern die logisch zwingende Konsequenz seines stoisch vorangetriebenen Remythisierungsprogramms.21 Die Religion scheidet für ihn als treibende Kraft der Wiederverzauberung nämlich nicht nur deshalb aus, weil ihre Bilder im Prozess der Selbstsäkularisierung verschlissen wurden; sie ist für Jünger ungeeignet, weil ihr transzendierender Wahrheitsbezug dem affirmativen Charakter seines mythischen Projekt zuwiderläuft und dessen Stabilität bedroht – der Monotheismus ist fundamental machtkritisch und entzieht dem mythischen Denken die Grundlage. Kaum anders ist zu erklären, warum Jünger mit dogmatischer Klarheit die Prämissen der biblischen Religionen angreift und von einer »tausendjährige[n] monotheistische[n] Inzucht« spricht, »ohne die auch der Marxismus nicht denkbar ist«.22 Die jüdisch-christliche Tradition, so scheint der Vorwurf zu lauten, beging Verrat am mythischen Wissen und setzte damit eine weltgeschichtliche Fehlentwicklung in Gang, deren verhängnisvoller Kern erst in der Moderne zum Vorschein kommt (»Marxismus«). Vor allem in der Theodizeefrage – in der Frage nach der Rechtfertigung des Leidens – vermutet Jünger den entscheidenden Sprengsatz, mit dem Juden- und Christentum das Pluriversum des griechischen Götterhimmels zum Einsturz brachten und die Erfahrung mythischer Zeit als Erfahrung intensiver Präsenz zerstörten. Insbesondere der christliche Monotheismus, und kaum anders lässt sich die Denunziation (»Inzucht«) verstehen, führte direkt in die Schlangenhölle der Immanenz, denn er versteht »Zeit« nicht mehr – wie der Mythos – zirkulär, sondern linear als Medium der Heilsgeschichte. »Wer nicht die Schlange überwindet, der überschreitet nicht die Schwelle zum neuen Zeitalter. Doch diese Überwindung kann nicht die christliche sein.«23 In Jüngers Augen entwertet die christliche Eschatologie den historischen Augenblick zur künftigen Vergangenheit, sie verschiebt seine Erfüllung spekulativ auf das ausstehende Ende der Geschichte und zerstört Intensität und Fülle. Damit entleert das 20 | Ders., Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung, SW Bd. 9, Stuttgart 1979, S. 175f. 21 | Jünger übernimmt Heideggers Kritik am Monotheismus: Während Heraklit das ursprüngliche Sein des Seienden als »Gesammeltheit des Gegenstrebigen« zur Sprache bringe, spreche das Neue Testament in ontischer Verkürzung nur vom Sohn Gottes. Für Heidegger gehört die monotheistische Abschattung der antiken Ursprungsphilosophie zur Irrtums- und Verdeckungsgeschichte der Metaphysik. Sie produziert politische Religionen und die verhängnisvollen Säkulargestalten des Monotheismus – zum Beispiel den Marxismus. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 102. 22 | Ernst Jünger, Siebzig verweht, SW Bd. 4, S. 202. 23 | Ders., Siebzig verweht, SW Bd. 4, S. 75.

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Christentum die Gegenwart zum Warteraum; es nötigt seine Insassen zum Leben im Aufschub und erzeugt genau die Erlösungsbedürftigkeit, die zu überwinden es in Aussicht stellt. Jünger unterfüttert seinen politischen Anti-Monotheismus mit einem zweiten Argument, und auch dieses stößt bei Strauß auf offene Ohren. Die biblische Mythoskritik erzeugt nicht nur einen unstillbaren Präsenz- und Sinnhunger; sie hinterlässt auch ein Vakuum, in das partikulare Interessen einströmen, die von wechselnden »Führern« zur massenwirksamen Politisierung genutzt werden. Die falschen Propheten der politischen Religionen treten auf den Plan; sie verwandeln das christliche Heilsversprechen in ein sozialutopisches Selbsterlösungsprogramm und die Welt in ein Schlachtfeld. Ohne diese Instrumentalisierung religiöser Heilsversprechen für den Tageskampf hätte es weder die Terreur (der Französischen Revolution) noch die politischen Religionen des 20. Jahrhunderts gegeben, weder Kommunismus noch Faschismus.24 Abschied von der zerfallenen »Schlange« der nihilistischen Gegenwart und Wiedereintritt in die nachchristliche Zeit des Mythos – das ist Jüngers »Sanierungsprogramm« für die Moderne, und Strauß wird seine zentralen Ideen adoptieren. Unmissverständlich nimmt Jünger den Monotheismus als Ermöglichungsgrund der »Schlangen«-Moderne negativ in Haftung und wickelt ihn nach rückwärts, in die vormosaische Antike, ab. Mit einem Federstrich trennt er die spekulativ ausgemalte Ära der Übermoderne von jüdisch-christlichen Traditionen und relativiert den Monotheismus zum Intermezzo im Auf und Ab der Götterwelt – die »Herrschaft des Alleingottes« erscheint nun als bloßes Zwischenspiel, als »Interregnum innerhalb des Polytheismus«.25 Erst mit der Abwertung des Monotheismus zum geschichtlichen Interim ist für Jünger der Weg frei, um zu jenen Fundamenten zurückzukehren, die »zeitlich den theologischen Setzungen vorausgehen«, also der Weg von der nihilistischen »Schlange« der monotheistisch vergifteten Moderne zurück zum »Kreis« des unvergänglichen Mythos.26 Diese Operation ist auch ein Eingeständnis. Jünger erkennt intuitiv, dass die Retro-Utopie der Übermoderne, also seine Idee, die Risiko-Zivilisation 24 | Die gnostisch inspirierten Autoren der Konservativen Revolution polemisieren deshalb gegen das biblische Denken, weil es »einem aufklärerischen Impuls (folgt): indem es unnachgiebig auf der Einzigkeit Gottes als des Schöpfers und Gebers der Weisung beharrt, entmachtet es die Fixierung an Vorgegebenes und eröffnet damit einen Raum menschlicher Freiheit. Monotheismus und die Idee menschlicher Freiheit hängen innerlich miteinander zusammen: Gegenüber dem einen gestaltlosen Gott […] verblassen die Mächte des Vorgegebenen, sie werden zum Stoff menschlichen Handelns.« Micha Brumlik, Die Gnostiker, S. 15. 25 | Ernst Jünger, Siebzig verweht, SW Bd. 5, S. 520. 26 | Ders., Über die Linie, SW Bd. 7, S. 278.

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durch Ästhetisierung in eine stabile zweite Natur zu verwandeln, nur dann erfolgreich und von Dauer sein wird, wenn sie streng gegen Machtkritik abgeschottet und vor Legitimitätszweifeln geschützt wird – vor jenen mythoskritischen Theodizee- und Geltungsfragen also, deren Ursprung Jünger zu Recht im monotheistischen Göttersturz vermutet. Jüngers politischer Anti-Monotheismus zeigt »Einflussangst«, er zeigt, dass die biblische Theodizeefrage den tiefsten Stachel im Fleisch des mythischen Denkens bildet, das zeitlose Ärgernis für ein Programm, das Individual- und Kollektivbewusstsein zu organischer Ganzheit »verschaltet« und deshalb die Frage nach Recht und Unrecht, Gleichheit und Gerechtigkeit für obsolet erklären muss. Im Interesse dieser organischen Ganzheit muss der Monotheismus entschärft werden, denn ›organisch‹ heißt für Jünger Allversöhnung, es heißt Naturalisierung des Sozialen und Geschichtlichen sowie Einheit von Normalität und Normativität. Denn was immer in der künftigen Hypermoderne auf der politischen Bühne geschehen mag, es soll als Teil einer hintergründig-natürlichen Bewegung erscheinen, hinter der sich nichts anderes verbirgt als das immerwährende Werden und Vergehen, das »Geheimnis des Lebens und des Todes«.27

27 | Ders., Sizilischer Brief an den Mann im Mond, SW Bd. 9, S. 11.

III. In der Hypermoderne Für Botho Strauß hat Ernst Jünger den Königsweg gefunden, um zwei sich scheinbar ausschließende Ziele gleichzeitig zu verfolgen: Vorbehaltlos bejaht der »Waldgänger« die riskante Dynamik der modernen Gesellschaft, und zwar ohne den urkonservativen Traum von der Wiederkehr des Mythos zu verraten. Jünger will die technisch-wissenschaftliche Evolution nicht aufhalten, im Gegenteil, er will ihre Logik so weit über sich hinaustreiben, bis sie aus sich selbst heraus jene Technologien hervorbringt, mit deren Hilfe die von Weltangst zerfurchte Moderne remythisiert und als tröstende »Ganzheit« ins Bild gesetzt werden kann. Dieses Programm, so hatte sich gezeigt, nötigt der konservativen Intelligenz jedoch einen radikalen Einstellungswechsel gegenüber den Funktionsmächten von Fortschritt, Wissenschaft und Technik ab. Sie muss ihre nostalgische Option – die Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Vormoderne – aufgeben und stattdessen die Moderne normativ halbieren: Das Erbe der Aufklärung, also die emanzipatorisch-machtkritische Dimension der Moderne, muss bekämpft, der industrielle und wissenschaftliche Fortschritt hingegen kompromisslos vorangetrieben werden. Wie entschlossen Strauß sich den halbierten Modernismus Jüngers zu eigen macht, zeigen die Prosasammlung Beginnlosigkeit und vereinzelt auch die Fragmente der Undeutlichkeit.1 Vor allem die Reflexionen und Aphorismen in Beginnlosigkeit sind es, in denen Strauß ungewohnt und auf zunächst irritierende Weise das Lob der (Natur‑)Wissenschaften mit der archaisierenden Verklärung des Alten (Dichtung, Kunst, Mythos) zusammenzwingt. Tatsächlich folgt die kontraintuitive Synthese des Verschiedenen einem gleichsam »kosmischen« Interesse. Strauß will Moderne und Vormoderne wieder so weit annähern, bis Wissenschaften und Technik als Erscheinungsformen des Elementaren verstanden werden können, als zwei historisch auseinandergetretene, aber komplementär aufeinander bezogene Sphären des einen urgeschichtlichen Ganzen. Von dieser unsichtbaren Interdependenz, so schreibt Strauß, 1 | Zur Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien bei Strauß vgl. Lutz Hagestedt, »Botho Strauß: Literatur als Erkenntnis? Reflexionen aus dem beschädigten Leben der Postaufklärung«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), H. 2, S. 266-281.

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haben moderne Gesellschaften kein Bewusstsein mehr, sie wissen von ihr nichts, und sie können es auch nicht. Radikal haben Wissenschaften und Technik sich dem Alltagsleben entfremdet und folgen ihrer eigenen systemischen Logik. Dabei entfachen die Formelkaskaden der big sciences einen gleißenden Abstraktionszauber, der ihre Herkunft aus einem evolutionär sinnvollen Gesamtgeschehen verdeckt und das Fassungsvermögen des gesellschaftlichen Normalbewusstseins übersteigt. Mit der Entfremdung von Wissenschaft und Alltag entstehen Panik und Weltangst, die Gegenwart wird zum »Mysterium. Man ist der Eingeweihte einer Passage, die man nicht überblickt.« (B, 79)2 Anders als in seinem Langgedicht Die Erinnerung … klagt Strauß hier nicht mehr über den Imperialismus des abstrakten Wissens und die Herstellung von »gleichem Gedächtnis«; was ihn nun umtreibt, ist die Frage, ob die abstrakten Mächte der Sachlichkeit, ob (Natur‑)Wissenschaften und Technik in einer kulturell plausiblen Gesamterzählung wieder so »gerahmt« werden können, dass sie einer panikanfälligen Gesellschaft nicht mehr als chronisches Risiko, sondern als zwei Gestalten des einen schöpferischen »Geistes« erscheinen. Liest man also die spiralförmig in sich zurücklaufenden Reflexionen in Beginnlosigkeit und die Fragmente der Undeutlichkeit vor dem Hintergrund dieser Frage, das heißt: liest man sie einmal nicht als Inszenierung postmoderner Unentscheidbarkeit, sondern schreibt sie einem verantwortlichen Sprecher zu, der den Namen Botho Strauß trägt, dann wird die Problemstellung überdeutlich: Wie lässt sich die Medusa des Fortschritts symbolisch bändigen und in der kollektiven Einbildungskraft als evolutionär sinnvolle Erscheinung verankern, als zustimmungsfähige Manifestation des »Unbefragbaren« (B, 44)? Wie vor ihm Ernst Jünger, so entdeckt auch Botho Strauß nur noch auf dem Feld des Ästhetischen das nötige imaginative Potenzial, um die »Großmächte« von Wissenschaft und Technik mit dem common sense zu versöhnen. Das Ziel heißt Ästhetisierung des Technischen und Kognitiven, und so weist Strauß der Kunst – ganz im Geist der romantischen Naturphilosophie – die Aufgabe zu, den Abstraktionszauber des bilderlosen Wissens zu brechen, es zu poetisieren und wieder »ahnungsvoll« zu machen. »Ich kenne die Modi, die Module und Morpheme! Nichts Neues, nichts Neues! Machen Sie mir dies Wissen erst einmal wieder ahnungsvoll, dann will ich gern wieder wissen!« (B, 21) Das poetisch »Ahnungsvolle«, so die programmatische Formel, versöhnt das Schauen mit dem Wissen, denn dort, »wo der Gedanke materialisiert, zu poetischem Material erlöst wird, treten Bild und Reflexion in ihr ursprüngliches Gewe-

2 | Mit jedem Wissensfortschritt wächst der unmarked space des Nichtwissens und damit der Abstand zwischen Alltagsverstehen und Wissenschaften. Mehr-Wissen vergrößert den unmarkierten Raum und vertieft damit das Geheimnis. »Jeder ihrer Fortschritte vertieft das Geheimnis des Ganzen.« (FU, 48)

III. In der Hypermoderne

be zurück« (B, 25).3 Strauß versteht die »poetische Vernunft« der klassischen Dichtung als »Führerin des Wissens, das sich selbst erforschen will« (FU, 49); durch Ästhetisierung macht sie das szientistisch Unverständliche anschaulich und gibt den Wissenschaften ein »mystisches Geleit« in die fortschrittsskeptische Gesellschaft. »Man braucht die Romantiker des Wissens, wie Novalis und Friedrich Schlegel es waren: jedes große Wissen braucht ein mystisches Geleit, wodurch es in den gesellschaftlichen Geist eingeführt wird. Ohne vorherige Verschmelzung wird es nicht symbolfähig.« (NA, 150)4 Selbst brandgefährliche Techniken wie die Atomenergie oder andere »demiurgische Zumutungen« sollen durch ästhetisches »Geleit« entschärft, wirksam tabuisiert und dann der Gesellschaft schmackhaft gemacht werden. Kunst treibt Risikomanagement: Indem sie das Allerneueste von Technik und Wissenschaft zur Erscheinung des Uralten verzaubert, zu einer Emergenz der Evolution, nimmt sie den Apokalyptikern den Wind aus den Segeln und beseitigt den Horror vacui einer »prognostisch verseuchten« und von Angstlust getriebenen Moderne.5 »Meistert man aber auf Dauer mit dem Verruf, der letztlich nichts anderes als überheblich-ängstliche Kritik ist, die demiurgischen Zumutungen der Technik?« (B, 48) Wie Ernst Jünger, so muss allerdings auch Strauß erklären, was Literatur und Kunst in die Lage versetzt, die chaotische Dynamik der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation auf einen mythischen »Tiefengrund« hin durchsichtig zu machen und symbolisch zu temperieren. Warum erkennt die Kunst etwas, was die Gesellschaft nicht erkennt? Wer verleiht ihr die epistemische Autori3 | »Der Poet wird die Metaphern einer entzückten Nüchternheit nicht noch einmal übertragen. Er, der Verbinder der Zeiten, der hochintegrierte Archivar, der Labyrinthier, der Modell-, Ideen-, Paradigmen-, Äonen-Verrechner, die enorme Hälfte, zur Ergänzung klaffend, bis beide, Wissen und Schauen, mit ihren offenen Enden sich berühren, der Poet, der Ergänzer der technischen Metapher, von dieser selbst auf den Plan gerufen, um sie zu brechen, zu öffnen, wieder einschweigbar zu machen und den Geist vor eine abrupte, unergründliche Schönheit zurückzuführen.« (FU, 47f.) 4 | Naturwissenschaftliches Wissen, so lautet Strauß’ legitimer romantischer Einwand, vermag seine kulturellen Bewandtniszusammenhänge nicht aus sich selbst heraus zu erzeugen; es ist auf externe kulturelle Bilder angewiesen, die wissenschaftliche Abstraktionen resymbolisieren und dem Alltagswissen verständlich machen. Gesellschaften, die sich nur noch naturalistisch aus der Beobachterperspektive der Forschung betrachten, berauben sich ihrer lebensorientierenden Grundlagen und setzen die nichtwissenschaftliche Reproduktionsvoraussetzung des Wissenwollens außer Kraft. 5 | »Wir sind alle prognostisch verseucht und erleben unsere Gegenwart oft nur als eine Art Moratorium oder als eine Periode des gnädigen Aufschubs. Kein Mensch versteht, weshalb noch nicht eintrat, was längst als Ereignis konzipiert ist und feststeht. So entsteht das ständige Gefühl einer vorläufigen Zeit.« (FdK, 102)

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tät, mit der sie die Funktionssphären der ausdifferenzierten Gesellschaft zur Einheit des Verschiedenen superkodiert? Die Antwort, die Strauß gibt, klingt vertraut: Wie Technik und Wissenschaften, so muss auch die Kunst als emergente Gestalt des weltbildenden »Geistes« begriffen werden, als eine erst in der Moderne unkenntlich gewordene Abspaltung des »Anfänglichen« und Elementaren.6 Kunst und Wissen verhalten sich demnach nur scheinbar antinomisch zueinander; in Wirklichkeit stehen sie sich in funktionaler Ergänzung gegenüber und weben hinter dem Schleier absoluter Fremdheit einträchtig am »Geheimnis« der Welt. Diese Arbeitsteilung stellt sich Strauß so vor: Während Naturwissenschaften und Technik die Materie kognitiv bearbeiten und sie mit tragischer Logik in rätselhaft-unverständliche Formelkaskaden auflösen, setzt die narrative Kraft der Kunst die ›nackte‹ Rationalität der erzählfreien Wissenschaften wieder als Gestalt des einen, lediglich »phänomenal« getrennten Geistes ins Bild. »Geist und Materie [sind] im empfindlichsten Bereich nicht zu trennen«; ihr »uralter Gegensatz – Paradigma des religiösen wie des wissenschaftlichen Denkens bis in unsere Tage – [muß] als aufgehoben gelten. Die Materie selbst enthält in ihren feinsten Spuren Unvergänglichkeit« (NA, 149).7 Mit dieser Bestimmung wähnt sich Strauß am Ziel. Wenn die Kunst (genauso wie Wissenschaften und Technik) als eine Entbergungsform des »AllEinen« verstanden werden muss, als ein ontologisch ausgezeichnetes Medium, 6 | Auch bei Jünger wird die »Erde« vom »Geist geführt«. Ernst Jünger, Strahlungen, S. 12. Allerdings ist dieser »Geist« weder Schöpfungs- noch Weltgeist, und auch Strauß reinigt ihn von allen eschatologischen und geschichtsphilosophischen Beimischungen und bestimmt ihn reduktiv als reine evolutionäre Emergenz. So hat sein Anti-Naturalismus am Ende eine radikalnaturalistische Konsequenz. 7 | Wissenschaftliche Abstraktion fällt an ihrem Extrempunkt mit dem Geheimnis der Schöpfung und dem Arkanum des Ursprungs zusammen. »Der wissenschaftliche Geist hat sich vorgearbeitet bis zur Schwelle des […] Unübersehbaren, des Undeutlichen, einer sich selbst organisierenden, anlaßfreien Akrokomplexität. Damit hat das Geheimnisvolle sich auf hohem Abstraktionsgrad wieder eingestellt. Aber hat es noch bindende Kraft?« (B, 76) Wie viele antimodernistische Modernisten lässt Strauß Poesie und Wissen, Wissen und Glauben in einem holistischen Modell konvergieren – diesmal mit Hilfe von Astrophysik, Chaostheorie und radikalem Konstruktivismus (von Förster, Maturana, Varela, Wheeler und Hawking). »Credo ut intelligam – nicht nur besteht zwischen Glaube und Wissenschaft kein letzter Widerspruch, denn Glaube und Erkennen sind im selben Menschengeist und nur in diesem angelegt; auch kann Wissenschaft niemals Geheimnisse an sich verplaudern oder gar lösen. Sie ist ihrem ganzen Bau und Streben nach in unseren zentralen, einzigen Auftrag gegeben: Zeuge des Alls zu sein, das unbeobachtet nicht existieren könnte. Das begonnen wurde, um gesehen zu werden.« (B, 107) Zur Popularisierung physikalischer Theorien vgl. Willy Riemer, »Problematik des Ursprungs«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), H. 2, S. 316-320.

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das die unkenntlich gewordene Einheit des sphärendifferenzierten »Geistes« zur Anschauung bringt, dann erweist sie sich als legitime Nachfolgerin von Mythos und Religion. Wie ihre Vorgänger, so verleiht auch die Kunst dem Faktischen den Schein »eschatologischer« Notwendigkeit; sie stellt kontingente Erscheinungen in ihren »Ungrund« 8 zurück und errichtet einen tröstenden »Trotz-Kosmos zur Werdewelt« (B, 39). »Die letzte Schönheit der Dinge offenbart sich nicht in ihrem Reichtum an Wechsel und Wandel. Sondern in ihrer leisdröhnenden Gleichheit. In ihrem leisdröhnenden Jenseits-jetzt.« (FU, 27) Mit einem Wort: Der magische Blick der Kunst synthetisiert die Funktionsbereiche von Wissen und Technik zum »Jenseits-jetzt« und macht sie dem daueralarmierten gesellschaftlichen Bewusstsein als konvergente Erscheinungen des einen »Geistes« verständlich. Die Ästhetisierung von Technik und Wissenschaft, und darin steckt die hypermoderne Logik des Strauß’schen Arguments, erzeugt das, woran es der von Zukunftsangst zerrissenen Moderne elementar mangelt: Sie erzeugt Affirmationsbereitschaft und Systemvertrauen.9 Allerdings sollte man sich vom Strauß’schen Romantizismus nicht täuschen lassen. Die Synthese aus Kunst, Wissen und Technik in Beginnlosigkeit ist Teil eines entschieden transhumanistischen Programms, das auch die sozialen und politischen Funktionssysteme mit einbezieht. Genauso wie Technik und Wissenschaften, so soll auch die politische Praxis in einen überwölbenden mythologischen Rahmen eingepasst und darin retabuisiert werden. Strauß zielt geradewegs auf die »Verschaltung« von Subjekt und System zu einer neomythischen Totale, und wie unverblümt er dies tut, zeigt seine Behauptung, die Entstehung des europäischen Faschismus verdanke sich einer kollektiven Sinnlücke, einem Mangel an mythischer Synthesis zwischen der Evolution des Technischen und dem Stand des kollektiven Bewusstseins. »Faszination durch die technische Erfindungskraft im gleichen Zug mit mythischer Rückbindung und Vereinfachung der Gefühle, das war ein Kennzeichen des europäischen Faschismus. Eine verfrühte, gefährliche Berührung unter naiven, vorkybernetischen Bedingungen, so daß man, wenn es nicht so seelenlos klänge, vermuten möchte, daß 8 | »Beginnlos« ist dieser »Ungrund«: »Zu wissen, daß kein Erstes und kein Letztes ist, weder Anfang noch Ende, weder Wurzel noch Grund, beansprucht die Weisheit der grenzenlosen Oberfläche, die vielleicht dann mit dem Böhmeschen ›Ungrund‹ identisch ist.« (B, 37f.) 9 | Strauß ahnt den Selbstwiderspruch, der mit seiner hochgestimmten Feier der kybernetischen Welt einhergeht: Sie bedarf einer offenen Stelle, die sie durchsichtig macht auf das Vorkybernetische hin. Deshalb seine Beteuerung, das Kybernetische habe eine »Sensibilität der Vergegenwärtigung hervorgebracht, die unmittelbar mit der Unschuld der vorkybernetischen Welt in Berührung setzt, mit Jugend und altmodischer Jugend, wie man sie besaß vor Eintritt in das veranstaltete Zeitalter« (B, 79).

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Tragik der Freiheit Grauen und politischer Größenwahn nicht zuletzt der Unangepaßtheit dieser Mächte, der nicht geschlossenen Kluft zwischen Mythos und Technik entstieg. Man war einfach nicht im technischen Stande, zwischen beiden reibungslos zu synchronisieren. Gleichwohl wird die Konjunktion ein weiteres Mal entstehen, sie wird vielleicht der entscheidende Versuch des Akrologs sein.« (B, 118f.)

Strauß begreift den Faschismus als historisch erstes Experiment gesellschaftlicher Wiederverzauberung, das gemessen am fortgeschrittenen Entwicklungsgrad der Technik jedoch »tödlich« zu früh kam. Weil in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die bildtechnischen Voraussetzungen nicht gegeben waren und der Faschismus unter »vorkybernetischen« Bedingungen operieren musste, misslang die symbolische Integration der Technik in das gesellschaftliche Bewusstsein – »man war einfach nicht im technischen Stande, zwischen beiden reibungslos zu synchronisieren«. Erst unter den »kybernetischen Bedingungen« der Gegenwart, so Strauß, stehen die Instrumente bereit, um die »Kluft zwischen Mythos und Technik« zu schließen und durch »Konjunktion« jene Lücke zu füllen, aus der das »faschistische Grauen« entstieg. Erst heute, nach der digitalen Revolution und dem evolutionären Sprung der Visualisierungstechniken, lässt sich der intellektuelle Traum von der Remythisierung des Politischen gefahrlos verwirklichen. Zum Ärger von Strauß stößt das soziokybernetische Großprojekt auf hinhaltenden Widerstand. Als sein erbittertster Gegner entpuppt sich das alte Subjekt der Moderne, das mit militanter Sentimentalität auf Kritik und Mündigkeit beharrt, auf dem Recht von reflexiver Distanz und personaler Selbstbestimmung. Ausgerechnet die antiquierten Nachfahren der Aufklärung, so scheint es Strauß zu sehen, verweigern sich einem Unternehmen, das auf nichts anderes zielt als auf die Überwindung jener weltlosen Subjektivität, die erst durch Mythos- und Religionskritik entstanden ist. Mit beißender Schärfe strengt Strauß deshalb einen Schauprozess gegen das »aufgeklärte Subjekt« an und versucht, den kantianischen Anspruch auf Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung als leere Prätention und moralistische Phrase zu entlarven. In den Augen der Anklage beruht das Selbstbewusstsein der ersten Person allein auf rationaler Selbsttäuschung – das »selbstbestimmte Individuum ist die frechste Lüge der Vernunft. Alles Besondere ist Abspaltung, Ausfällung von Typen und Mustern.« (B, 107) Vor allem die Hirnforschung wird demonstrativ in den Zeugenstand gerufen, um die subjektphilosophische Erbmasse abzuräumen und die Grandezza des cartesianischen Ego zu entzaubern. Strauß verfolgt eine Naturalisierungsstrategie und sucht Rückhalt bei einem psychophysischen Reduktionismus, der die Ideen von Personalität und Selbstbestimmung auf hirntypische Verschaltungen zurückzuführt – Denken und Gefühle sind alles Moleküle, sie sind Ausdruck eines unbeeinflussbaren neuronalen Determinationgesche-

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hens. Kurzum, Strauß legt dem »Subjekt« eine angeborene Hybris zur Last, eine von der biologischen Faktenlage ungedeckte intellektuelle Selbstüberhebung. »Was ist ich, Subjekt, Selbst […] oder gar ›die anderen‹? Nichts als Denker-Staub, der in ehrwürdigen Seminaren am späten Nachmittag im Zwielicht glitzert […]. Nichts zählt im Unzähligen.« (B, 41) Im Strauß’schen Naturtheater schrumpft das Subjekt auf eine neurophysiologisch bedingte Selbsttäuschung; es betritt die Szene wahlweise als »artiger Höfling unter dem absoluten Souverän der Neuronenherrschaft« (B, 11f.) oder als Hochstapler im Selbstlauf evolutionärer Systeme. »Tatsächlich sind ja die Ideen die Rezeptoren […], welche die Moleküle des Realen an sich binden, um dann ein entsprechendes Produkt, die vielfach stimulierte Persönlichkeit, herzustellen.« (B, 88) Ihren rhetorischen Effekt erzielen solche Invektiven zunächst dadurch, dass Strauß eine scheinneutrale biologische Beobachterposition einzunehmen behauptet und dabei seine eigene Normativität verdunkelt, den konstruierenden Charakter seiner Konstruktion.10 In der extrem naturalisierenden Perspektive der Notate erscheint nun die »aufgeklärte« abendländische persona als objektiv unaufgeklärt, als ein anthropozentrischer Aufschneider, der sich mit unbelehrbarer Arroganz über das Faktum hinwegtäuscht, dass der Mensch nichts anderes ist als das fantastische, an seine Fiktionen glaubende Tier.11 Zu den prominentesten menschlichen Selbsttäuschungen gehört für Strauß das Mentale, genauer: das kanonische Inventar philosophischer Ideen und kultureller Utopien. »Überzeugungen, Gesinnungen, ideelle Bekenntnisse, Programme und Weltbilder« sind für ihn lediglich Illusionskulissen und normative Attrappen, die dem eitlen »Weltbilderzeuger« Selbstwirksamkeit und Handlungsfreiheit suggerieren. Tatsächlich aber darf für Strauß das Kulturelle nicht »kulturell«, es muss funktionalistisch verstanden werden. ›Überzeugungen, Gesinnungen, Weltbilder‹ sind süßer Honig, die den evolutionären Anpassungszwang erträglich machen und dem scheinsouveränen Subjekt die saure Einsicht in seine biologische Determiniertheit ersparen: Die »zentralen Metaphern des Menschen (beruhen) auf irrtümlichen Vorstellungen, wünschenswertem Wissen«; es handelt sich um Sinn-Improvisationen und se-

10 | In Beginnlosigkeit ist der Autor selbstredend auch nur eine subjektlose Fiktion, nur ein Knoten im Netz der Evolution. Gleichwohl besitzt er ein Privileg: Er verkündet die Botschaft, dass alles in der Welt Konstruktion ist – nur die Botschaft von der Allkonstruiertheit selbst ist nicht konstruiert. Strauß, und darin steckt der performative Selbstwiderspruch, behauptet, einer Theorie sei grundsätzlich nicht zu trauen, abgesehen von der Theorie über die Unzuverlässigkeit von Theorien. 11 | So fiele denn die Totsagung des Subjekts mit der Rehabilitierung von Schicksal zusammen. Schicksalhaft ist die Dynamik komplexer, sich selbst organisierender Systeme, weil jeder Eingriff ihre autopoietische Stabilität gefährden müsste.

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mantischen Schein, um »behelfsmäßige Gürtel und Zügel, mit denen er seine zerfallende Gestalt zusammenzuhalten sucht« (B, 41).12 Strauß betrachtet kulturelle Weltbilder als kontingente Ordnungsfiguren und »provisorische Abgeschlossenheiten, die aus dem Ungleichgewicht des Geistes resultieren – im wesentlichen figuriert der Geist als der Komödiant des Geistes. In der Nähe, unter Aufsicht des Unbefragbaren bleibt ihm nichts, als beständig die Rollen zu wechseln.« (B, 44) Kulturelle Muster, so lautet die unter karikaturesken Beschreibungen verborgene Prämisse, stellen mithin keine normativen, sie stellen lediglich funktionale Kopplungen dar; sie sind Überlebenshelfer im Biobewusstseinshaushalt und verschalten die Imaginationsbedürftigkeit des menschlichen Mängelsubjekts störungsfrei mit dem Selbstlauf der Evolution. »Da wir […] überhaupt nur als pausenlose Weltbild-Erzeuger überlebensfähig sind, ist es kaum verwunderlich, daß Erschaffen und Herstellen, Poesie und Poiesis, als Fortsetzung und Maß des kognitiven Betriebs, zur Menschennatur gehört wie der Flug zum Vogel.« (B, 12)13 Dass Strauß »Mündigkeit« und »Selbstbewusstsein« als Selbstillusionierung »grundloser« biochemischer Prozesse versteht und die Kulturgeschichte auf ein Evolutionsgeschehen zurückschneidet, das sich blindlings im Medium fiktionsgläubiger Menschentiere vollzieht – dieser Naturalismus ist angesichts der gleichzeitigen Anrufung von »kosmischem Geist« nicht bloß kurios; er folgt auch konsequent den Weichenstellungen seines hypermodernen Programms. Um die futuristische Welt der Übermoderne symbolisch zu schließen und zu verhindern, dass darin – wie in der verachteten Aufklärungsmoderne – ein eigenständiger Raum von Autonomie und Kritik entsteht, nimmt Strauß das reflektierte Ich aus dem Spiel und reduziert das substanzielle In12 | In dieser Perspektive gibt es nur Evolution, nicht aber Geschichte. Sie ist bloß eine lebensdienliche, der narrativen Episodenbildung dienende Fiktion. Die astrophysikalische Formel, mit der Strauß alles heilsgeschichtliche, utopische oder kritische Denken zurückweist, heißt »Steady state« und soll die Behauptung von der mythischen Immergleichheit alles Geschehens wissenschaftlich validieren. »All nicht erschaffbar, nicht zerstörbar. […] Kein Anfang, kein Ende. […] Nichts beginnt, alles schwebt und weilt. Steady state.« (B, 9) Die Steady-state-Theorie gilt inzwischen als widerlegt. – Vgl. zur Strauß’schen Physikalisierung der Geschichte auch Jürgen Daiber, Poetisierte Naturwissenschaft, S. 75 und S. 78f. 13 | Der radikalnaturalistische Blick verbannt politische Ideen und Utopien ins imaginäre Museum lebensdienlicher Irrtümer und lässt von ihnen lediglich einen »glitzernden« Rest mineralischer Schönheit übrig. »Vieles wird schön, wenn es einfriert in Bedeutungslosigkeit. […] So etwa die Flunkereien der politischen Utopie, die Naivitäten der Emanzipation; sobald sie geschichtlich abgenutzt sind, werden sie irgendwann als geistiges Mineral hübsch glitzern.« (B, 82) Zur Kritik des evolutionären Naturalismus und der Physikalisierung des Mentalen vgl. Thomas Nagel, Geist und Kosmos, Berlin 2013.

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teresse an Handlungsgründen auf eine biologisch bedingte Selbsttäuschung. »Gründe«, so scheint es, bergen für Strauß ein explosives Negationspotenzial, das die unkonditioniert zustimmungspflichtige soziale Physik der Hypermoderne ins Wanken bringt – und damit die Stabilität eines Systems, das in einer nicht mehr kritisierbaren, eben mythischen Repräsentationsbeziehung zur Evolution stehen soll. Wie sehr es Strauß um den Exorzismus von Normativität zu tun ist, wie sehr er glaubt, dass Geltungsreflexion und kritische Subjektivität einer Remythisierung der Gesellschaft im Wege stehen, belegt seine Forderung, die »kritische Intelligenz« möge sich durch das Eingeständnis ihrer historischen Unerheblichkeit unter die Schwelle ihrer eingebildeten Freiheit begeben. Bedingungslos soll sie im sacrificium intellectus das »Opfer« des »Bewußtseins« bringen und damit jene »Überschreitung« begehen, »die vor hundert Jahren der Geist zur Entfesselung hin tat.« (B, 117) In Freiheit soll das Ichbewusstsein seine Fiktionalität eingestehen, und in Freiheit soll es sich als Epiphänomen natürlicher Prozesse zu erkennen geben – Subjektivität soll sich selbst im evolutionistischen Schema deuten. Erst mit diesem Selbstopfer, erst mit der Einsicht, dass es »grundlos« ist, Gründe zu fordern, beginnt für Strauß der Exodus aus der symbolischen Wüste der Moderne und der Einzug in die Soziokybernetik der Übermoderne. Auch die Frage, warum die Remythisierung der Moderne überhaupt denkmöglich und technisch machbar geworden ist, beantwortet Strauß mit einer Jünger’schen Denkfigur. Danach ist das Aufklärungssubjekt konstitutiv unfähig, seine Selbstüberwindung aus eigener Kraft ins Werk zu setzen, weshalb die Evolution ihm gleichsam auf die Sprünge helfen und ihm die technischen Mittel zur Remythisierung der Welt in die Hand geben muss. Für den erstaunlich weitsichtigen Jünger war es die »Elektrizität«, die mittels telematischer Gerätschaften die »Vergeistigung« und Vergemeinschaftung der »Erde« einleitete;14 gut dreißig Jahre später feiert Botho Strauß die »gedächtnisstützende[n] Maschinen« der digitalen Revolution als eine Himmelsgabe, die eine neue, technosophische Welt, die organische Ganzheit einer zweiten Natur, erstehen lässt. »Die Technik konstruiert immer organischer und konvergiert am Ende mit der Natur.« (B, 108) Im Silicon Valley, mit der Entwicklung der Computertechnik, diesem sensationellen Sprung der Technikgeschichte, rückt für Strauß die Erfüllung eines alten Traums in greif bare Nähe, der Traum von der mythischen Schließung der imaginativ erblindeten Moderne durch »Schaltkreise« zwischen »Einst und Jetzt« (DJM, 11): »Wenige Jahrzehnte« nach Gott14 | Ernst Jünger, An der Zeitmauer, SW 8, S. 573f. – »Die Erde überspinnt sich mit einem immer dichteren Netz von Drähten und Kabeln; ein Wald von Sendern und Empfängern wächst hervor. […] Die Apparate ahmen Augen, Ohren, Kehlköpfe nach. Sie senden Signale, Worte, Bilder, Farben auf astronomische Entfernungen.« Ebd., S. 527f.

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fried Benns »abendländische[m] Medley« wird »der Akrotechniker die Spur der Gottheit mit Hilfe gedächtnisstützender Maschinen wieder aufnehmen. Seinem Restlichtverstärker genügt der trübste Schein in der Finsternis, um die Welt in Glanz getaucht zu sehen.« (B, 116)15 Strauß versteht die Medientechnologie hier nicht mehr – wie in seinem Langgedicht – als Machenschaft, als Werkzeug kulturellen Vergessens, er versteht sie nun als mnemotechnische Prothese zur Wiedererinnerung mythischer Muster. »Data-Glove und Runenholz: die künstliche Hand, ausgestattet mit den empfindlichsten Sensoren, die lesende Haut berührt die düsteren Zeichen der Vorzeit.« (B, 116) Die »gedächtnisstützenden Maschinen« bilden gewissermaßen die Hardware für jene semantische Software, die in den kulturellen Depots des »Abendlandes« zum Download bereitliegt.16 »Es lassen sich in ein nachgiebiges Jetzt vielerlei Altertümer berufen, und sie kontemporieren willfährig mit uns, die wir längst keine Archäologen mehr sind, sondern Veranstalter, Inszenatoren von Gleichzeitigkeit.« (B, 116f.) Die »kontemporierende[n]« Ursprungswahrheiten sind also weder vergessen noch verloren; sie kreisen unzerstört in klassischen Werken und großen Dichtungen als »Trümmer« in der geschichtlichen »Umlauf bahn« (B, 107). »Der Mythos webt sein Wissen über unseren Köpfen fort – jedem gehört eine Herkunft aus Dunkelheit. Irgendwo ist deine Sage schon, und schon beendet.« (B, 107)17 15 | Im Roman Der junge Mann heißt es: Durch »die Lupe der Mikroelektronik« wird die Gegenwart an das Vergessene erinnert, an das »Prinzip des rückverbundenen Lebens« (DJM, 204). 16 | Die Strauß’sche Neubewertung der Medientechnologie findet eine interessante Parallele in Ernst Jüngers Roman Eumeswil, dessen Held Manuel Venator anfallsweise von der Sehnsucht nach Geschichte übermannt wird. Um ihm sein Leiden erträglich zu machen, stellt Jünger seinem Helden ein sogenanntes »Luminar« zur Verfügung – eine »gedächtnisstützende Maschine«, die eine Art Interface bildet zwischen traumloser Gegenwart und historischer Vergangenheit. Inmitten der imaginativ entleerten Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts liefert diese Zeitmaschine dem Historiker jene Erinnerungsbilder, die sein »Heimweh nach Geschichte« stillen und es ihm ermöglichen, zwischen den Zeiten zu wandern und sein anthropologisches Bildbedürfnis zu befriedigen. Das Luminar bannt die Dämonen der Leere und versetzt den Helden in die Position eines gottgleichen Herrn der Geschichte, der zugleich alles zu vergessen und alles zu erinnern vermag. – Die Unterschiede zwischen Jünger und Strauß liegen hier allein im illuminierenden Stoff, mit dem die Wiederverzauberung betrieben wird. 17 | Strauß versucht, die eschatologische Zeit der Offenbarung in die mythische Zeit des »Immerwährenden« zu überführen und damit Geschichte ethisch zu entlasten. Wenn alles ein »Abermals« ist, gibt es nichts, wovon die Menschheit am Jüngsten Tag zu erlösen wäre. »Im Anfang war das Abermals« (B, 105). »Anfangslos und immer ist der Grund, aus dem jeder entsteht, ein Ausriß davon das jeweilige Leben« (B, 51). Der

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Den Akt des »Wiedereinspiels« mythischer Muster, mit dem die Zwischenzeit von Aufklärung und Moderne zu Ende geht, bezeichnet Strauß als Apokatastasis (»Apokatastasis – Wiederherstellung aller Dinge, Allversöhnung, Wiederbringung selbst der Hölle zur Glückseligkeit …«; NA, 131). Mit ihr verwandelt sich die Chronopathologie der Moderne, das Leiden an fragmentierter »Zeit Zeit Zeit«, wieder in das Glück der Präsenz (DJM, 7), in die mythische Stabilität einer bejahungsfähigen, von Negativität verschonten und von einem natürlichen Tabu überzogenen Welt.18 »Von hier ginge strahlenförmig aus das leichte Lineament einer retabuierten Welt« (B, 66).19 Strauß spekuliert darauf, dass die Ära der Hypermoderne zuletzt auch die Logik der linearen Zeit beendet – der Zeitpfeil verlässt seine (Fortschritts‑)Bahn, er schwebt kreisförmig über die »Linie« und taucht ein in die Bilderschrift der »Frühe«. Historisch zum ersten Mal führt der Fortschritt nicht utopisch in die Zukunft, sondern anti-utopisch zurück in die Vergangenheit – Zeit und Ewigkeit fallen zusammen, und das »Künftige« erweist sich als Urgestalt wiederkehrender Vergangenheit. »Alles Künftige wird Erinnerung sein. Die Zukunft selbst wird ein Werk der Erinnerung sein.« (WDL, 185) »Warum nicht Ständigkeit wieder, wenn in der Akrotechnik der Feuerkranz geschlossen ist?« Weshalb sollte die »Hohe Maschine« nicht »der künftige Umleiter werden aller Fortschritte in die gesättigte Zeit […], in einen neuen Tonus des Erinnerns, jenseits von früh und spät, Progression und Vergänglichkeit« (B, 28)? Die Hypermoderne mythisiert nicht nur die physikalische Zeit; sie beendet auch die cartesianische Trennung von Ich und Welt. Der Makel der Moderne, die Produktion von Einsamkeit in einer Gesellschaft ohne Gemeinschaft, gegeschichtliche Augenblick wird dabei zur Synkope im Ewigen. »Ich bin wieder da,/wo ich niemals war./Nichts ist anders als es nicht war./Auf dem halbierten Tisch, dem karierten/Wachstuch das Glas,/darin nie etwas war./Alles geblieben, wie/ich es niemals verließ.« (B, 18f.) 18 | Mit dem Wiedereintritt in die zyklisch-mythologische Welt der Übermoderne wäre auch Leon Pracht aus Strauß’ Roman Der junge Mann erlöst: »Alle Welt spielt auf Zeitgewinn, ich aber verliere sie. Ich denke nur, daß aller Gewinn und Verlust der Stunden in der großen elektronischen Totale einem Ausgleich zustrebt. Ich denke, daß uns die neue Welt-Ein-Uhr auf wunderlichem Umweg dem ursprünglichen Äon näher bringt, in dem es nur Gleiche Zeit gab. Jeder Blick nahm sich ein Wort, jedes Ding seinen Dichter.« (DJM, 14) Zu den Parallelen zwischen dem Zeitverständnis der Konservativen Revolution und dem von Strauß vgl. auch Nadja Thomas, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. 19 | Diese normative Selbstneutralisierung seines Vokabulars dürfte ein Grund dafür sein, warum Strauß eher hilflos-»lyrisch« auf die Gentechik reagiert, die in der Logik seiner Argumentation ein evolutionäres und deshalb streng genommen nicht kritikfähiges Ereignis darstellt. Vgl. seinen Essay: »Wollt ihr das totale Engeneering?«, in: DIE ZEIT, Nr. 52 vom 19.12. 2000.

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hört damit ebenso der Vergangenheit an wie ihr hässlicher Sozialcharakter, die »artifizielle Autonomie […] des losgesagten, selbstbestimmten Menschen« (B, 88). Unter den Bedingungen der Hypermoderne bildet das Subjekt nicht länger eine Differenz zum Allgemeinen, sondern geht in neuer paradiesischer Unmittelbarkeit bruchlos in ihm auf, es taucht ein in das mythopoetische »Gewebe der Mitteilungen [und] der unterschwelligen Verständigungen« (B, 33). Im Strauß’schen Konzept werden Ich und Welt, Selbstbewusstsein und Seinsbewusstsein identisch; das logozentrische Zeitalter geht über in das ikonozentrische, und die abstrakte Schrift verwandelt sich zurück in das mythische Bild. In einer Art ›zweiten Schöpfung‹ erlöst sich schließlich das Subjekt der Aufklärung zum angelokratischen Mischwesen aus Mensch und Gott; es wird gewissermaßen neu geboren im »technologe[n] consensus« der neuen Urgemeinschaft.20 Mit einer Anspielung auf Teilhard de Chardin schreibt Strauß: »Civitas Dei: Gemeinschaft aller Gläubigen, Seligen und Engel […]. Der emergente Zusammenschluß der Systeme, der das Verstehen ausschließt, wäre der technologe consensus. In der Gestalt und Potenz der Übereinstimmung leistet die Technik alle Vorbereitung für die Angelokratie.« (B, 44) Damit ist das subjektlose Subjekt der Geschichte am Ziel. Nach einem unendlichen Experiment mit sich selbst und der moralfreien Entfaltung all seiner technischen und wissenschaftlichen Potenziale erwacht es aus dem Albtraum der Moderne in die »technosophische« Präsenz einer Welt ohne Außen, in der sich nicht nur die Differenz zwischen Normativität und Normalität auflöst, sondern auch die zwischen »Geist« und Ding. »Zuviel Hirn, zuviel Umriß von Bewußtsein ist in die Dinge getreten und in unsere Hände geraten. Wir können sie nie wieder allein lassen. Der Geist, um mehr als ihr Wärter, nämlich ihr Meister zu sein, wird technischer und metaphysischer zugleich werden. Nicht im Widerstand gegen sein technisches Zeug, sondern in Koevolution mit ihm wird er seine Souveränität behaupten. Nicht die Höllenphantasmagorie des Kulturkritikers, sondern die Weisheit des Technikers empfinge uns dann am Ende des langen Wandels. Dort, nahe dem Wunder, Technosophie.« (NA, 135) 21 20 | Zur Idee einer spirituellen Selbstüberholung der Moderne vgl. Michel Serres, Die Legende der Engel, Frankfurt a.M. 1995. 21 | Es geht Strauß dabei nicht nur um die Produktion von Sinn, sondern auch um die Produktion des Menschen selbst. Denn betrieb die »alte« Moderne die Dehumanisierung der Natur (zum bloßen Objekt) bei gleichzeitiger Denaturierung des Menschen, so beendet die Hypermoderne diesen Gegensatz, und der natürliche Mensch ist hier einer, der sich und seine Umwelt im gnostischen Selbstexperiment erschafft: »Vielleicht steht gar am Ende aller Künstlichkeit der wahre ›biologische‹ Mensch – das im Reich der Systeme mitversicherte Geschöpf, das sein gesamtes organisches Funktionieren nachgebildet und ins Äußere getragen hat. So daß erst der vollkommen artifizielle Mensch der

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Bezieht man die Science-Fiction der »technosophischen« All-Versöhnung zurück auf den Borchardt- und den Steiner-Aufsatz, dann trägt die »Dichtung« für Strauß am Ende doch noch den Sieg davon. Nachdem sie, aus seiner Sicht, von der »alten« Moderne ins Exil getrieben beziehungsweise zur Magd der Sozialkritik erniedrigt worden war, organisiert die Hypermoderne ihren »Wiederanschluss« an das symbolische Dasein – sie versöhnt Dichtung und Leben. »Lyrik [wird] dann etwas so Übergeordnetes sein, daß wir uns lediglich in ihrer Erwartung befinden können. Sie wird einmal aus jeglicher Erkenntnis erwartet. Von einem Gedicht kann man ebensowohl wie vom Geist sagen: es gäbe in ihm zur Erwartung keine Gegenregung mehr.« (B, 26) Mit der schönen Wendung (»keine Gegenregung«) beschreibt Strauß nicht mehr nur eine veränderte Rezeptionshaltung; er beschreibt zugleich einen Statuswandel des künstlerischen Werks. In der Hypermoderne sind Kunstwerke nichts Subjektiv-Artifizielles mehr; sie verlieren den täuschenden Schein des individuell Hergestellten und besitzen einen fraglos-natürlichen Sinn, der vom Rezipienten nicht mehr – wie im Zeitalter des »Sekundären« – hermeneutisch distanziert, sondern demütig angenommen und »ohne Gegenregung« internalisiert wird.22 Solche Passagen zeigen, wie einschneidend sich innerhalb weniger Jahre Strauß’ Traditionsverständnis verändert hat. Er versteht kulturelle Überlieferungen nun nicht mehr reflexiv, sondern funktional, das heißt: nicht mehr als Interpretamente zur Selbstbeschreibung autonomer Subjekte, sondern als symbolisch geronnene »Natur« zur Selbstbebilderung sinnbedürftiger menschlicher Biosysteme. Kulturelle »Vergangenheiten« müssen nicht verstanden, sie müssen lediglich vernommen werden, denn sie kompensieren ein Instinktdefizit und füllen eine brisante »theozoologische Lücke« (B, 83) im defizienten Naturhaushalt sprechender Tiere. Während dem Theaterkritiker Strauß die Vereinnahmung der Kunst zu systemstabilisierenden Zwecken als großes Übel galt, verklammert der Theoeigentlich naturgemäße wäre. Wenn also das prometheische Programm (ohne vorher zu verunglücken) abgewickelt ist, der Mensch alles gemacht hat, was er ist, und durch alles Gemachte erkennt, wer er ist – das Mit-Geschöpf –, wäre dann nicht erst die Pax natura erreicht? An die Stelle der Freiheit träte dann die vielbedingte Koexistenz von Werk und Geist, die Naturgesetzlichkeit von artifiziellem und biologischem Leben, die Systemharmonie von Organ und Apparat.« (NA, 136f.) 22 | Strauß hat recht, wenn er darauf beharrt, im Akt des Verstehens mache sich ein unbedingtes Moment geltend, von dem das verstehende Subjekt immer schon getragen wird – jenes Ungesagte, das sich reflexiv nicht vollständig auflösen lässt und eine vorgängige Substanz bildet, die alle auslegende Subjektivität übersteigt. Doch Strauß überdehnt die richtige Einsicht in die Vorgängigkeit kultureller Überlieferung zu der Behauptung, jede Form von Geltungsreflexion zerstöre deren sinnsichernde Kraft.

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retiker der Hypermoderne das Schöne differenzlos mit dem Nützlichen und macht die Frage nach der Wahrheit überflüssig. Die biologische Funktion der Kultur, also der Umstand, dass die reflexionsfreie »Rückfrage an die Vergangenheit« eine »theozoologische Lücke« ausfüllt und die reproduktive Fitness der Gattung sichert, erledigt die Frage nach ihrem semantischen Gehalt. »Wir können nur Schleifen legen, die rückfragen in die Vergangenheit. Nicht daß der Chip den Mörike-Vers ›speichert‹, ist für die Vergegenwärtigung der Werke von Bedeutung, sondern daß die technische Gestalt der Rückfrage eine unauflösliche Abhängigkeit von Einst und Jetzt festlegt, dank derer unser Gedächtnis ebenso die Werke wie diese unser Gedächtnis beleben.« (B, 112) Strauß ersetzt, mit anderen Worten, die Reflexionskultur der »alten« Moderne durch den affirmativen Kult der Präsenz; im hypermodernen Rezeptionsmodus liefern kulturelle Überlieferungen nur noch das symbolische »Fleisch« am Skelett der Kognition, sie beleben ein leerlaufendes Bewusstsein und stabilisieren die unberechenbare Psychodynamik eines notorisch instabilen Mängelwesens. »Wahr« ist das, was in Rückfrage-»Schleifen« symbolisch entborgen wird und die Sinnlücke des animal symbolicum »ohne Gegenregung« mit mythogenem Urstoff versorgt. Aus diesem ästhetischen Funktionalismus spricht ein gewiss verständliches Verlangen nach Präsenz und Selbstgegenwärtigkeit, überhaupt ein Bedürfnis nach kultureller Resonanz, die Strauß in der reflexiv gebrochenen und durchmedialisierten Moderne nicht mehr glaubt auffinden zu können. Gleichwohl ist die hypermoderne Indienstnahme der Kultur regressiv. Strauß kassiert die Freiheit, »Nein« sagen zu können; er naturalisiert das Ästhetische zur »organischen« Sinnstabilisierung gesellschaftlicher Systeme und entkoppelt es von der Möglichkeit aneignenden Verstehens. Mit beklemmender Konsequenz und wiederum analog zu Ernst Jünger gerät dabei ein weiteres Mal der Monotheismus als Quelle normativer Gefährdung ins Visier. Die biblischen Religionen betreiben offenbar Sabotage am Mythos; sie bedrohen den postreflexiven Modus der sozialen Integration, und ihr eschatologischer Vorbehalt steht der neopaganen Selbsterlösungsidee der Hypermoderne strikt entgegen. Das mag der Grund sein, warum Strauß, der doch aller Neutralisierung den Kampf angesagt hatte, den jenseitigen Gott zum alles durchströmenden »Geist« der irdischen Welt detranszendentalisiert und damit die – theologisch gesagt – kritische Spannung zwischen Schöpfung und Erlösung auflöst. Wenn die Schöpfung aber immer schon zu sich selbst erlöst ist, dann ist die HiobFrage obsolet und es gibt nichts mehr zu klagen und zu hoffen. Tatsächlich lautet die Verkündigungswahrheit der hypermodernen Religion: Für »die Kirche wie für die Naturgesetze« gilt der Grundsatz »quod ubique, quod ab omnibus, quod semper – was überall, was für alle, was immer gilt« (B, 117). Der Strauß’sche Gott fragt nicht mehr nach Schuld und Sühne und nach Gut und Böse; »ER« fingiert lediglich einen hypothetischen Anfang im beginnlosen

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Zyklus von Werden und Vergehen. »Schließlich: der vom Immerwährenden verschluckte Anfang. ER ließ geschehen, irgendwann. Doch der Glaube weiß tiefer: wir bedürfen des Anfangs, der Geist bedarf dieser Gewissheit und wäre nicht lebensfähig«, wenn die »Frage des Anfangs« nicht »wenigstens als Mythos erhalten bliebe« (B, 29). Fraglich bleibt nur, ob das Programm der »Wiederverzauberung«, das die Anmaßung der Aufklärung beenden soll, nicht deren ultimativen Triumph darstellt: die Anmaßung des prometheischen Subjekts unter der Maske seiner Selbstüberwindung.23

23 | Dass die Überwindung des seinsvergessenen Dezisionismus selbst dezisionistisch ist, auch dieses Problem teilt Botho Strauß mit seinem Vorbild Ernst Jünger. »Jüngers Postulat einer autoritativen Sinnsetzung betreibt genau das, was er dem Positivismus vorwirft, in viel weitreichenderem Maße, indem es einen Freiraum für eine voluntaristische Beherrschung und Vereinnahmung der Wirklichkeit schafft. Hier wird die stereoskopische Ästhetik zum Politikum, denn mit der Behauptung einer unbekannten Tiefenschicht schafft Jünger eine Projektionsfolie, auf deren Hintergrund sich eine politische Praxis rechtfertigen läßt, die an keinerlei rationale Begründungszusammenhänge gebunden ist, sondern beliebig auf ein inhaltlich unbestimmtes, also flexibel zu handhabendes Sein bezogen werden kann.« Horst Seferens, »Leute von übermorgen …«, S. 163.

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Schluss Wer sich dem frühen Werk von Botho Strauß nähert, zum Beispiel der Erzählung Die Widmung oder dem Theaterstück Groß und klein, dem begegnen auf Schritt und Tritt die Gespenster einer sinnlosen Emanzipation. Die Strauß’schen Figuren sind frei, aber einsam, sie klagen über »Bedeutungsleere« (AW, 49) und innere Unruhe, über fehlende Achtung und mangelnde Anerkennung. Die Sprache, die sie sprechen, ist ihnen fremd geworden, sie klingt tonlos und stumpf, die Wörter scheinen »besagt«, »übersprochen« oder sonstwie um den Sinn gebracht. »[N]ichtssagend« tönt die Sprache durch die Figuren hindurch, und gelegentlich »rutscht« ihnen »am Abend/leicht mal ein Wörtchen heraus« (TS I, 415). Die Akteure teilen keinen gemeinsamen kommunikativen Raum, sie bleiben »Alleinstehende«, sie sind vergesellschaftet, aber nicht individuiert, sie sprechen ungelenk, unsicher und wie unter Vorbehalt. Einige erwecken den Eindruck, sie stünden unter Schock und seien soeben einer historischen Katastrophe entronnen. Bei anderen Figuren wirkt das Charakterprofil unscharf; ihr symbolischer Ort ist – wie in der Erzählung Marlenes Schwester – hochgradig prekär. So entsteht hinter dem Rücken der Akteure, aber doch in ihrer Verantwortung eine mysteriös unerzählbare Welt, in der die Freiheit abstrakt und alle Leidenschaft erloschen scheint. Jeder Versuch, das »Leben der Wörter« wieder in Gang zu bringen, bleibt aussichtslos oder, wie bei Lotte in Groß und klein, rein privat. Strauß, und das begründet den Faszinationsgehalt seines frühen Werks, beschreibt kommunikative (Selbst-)Verhältnisse als abhängige Variable gesellschaftlicher Sprachformen. Das In-der-Welt-Sein des Subjekts, der gesamte Gebrauch seiner Freiheit, so lautet sein Refrain, gründet in der Sprache; je kreativer die öffentlichen Diskurse, je größer ihr Reichtum an Metaphern und Erzählungen, desto artikulierter ist die Autonomie des Subjekts. Umgekehrt gilt: Der »Tod« der Sprache bedeutet den Tod der sprachlichen Person.1 »Wenn das Meer der Worte sinkt, gehen auch mir die Worte aus.« (NA, 128) Dieser 1 | »Die natürlichen Sprachen lassen nach; es stehen unzählige künstliche bereit. Diese nähern sich dabei immer mehr jener Sprache an, die einmal über uns sprechen wird. Der Mensch wird über sich sprechen wie ein anderer.« (NA, 142f.)

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sprachphilosophische Holismus begründet auch die Aufklärungsstrategie der Stücke und Erzählungen; er erklärt, warum Strauß über den Umweg von Sprechweisen das Weltbild seines Personals »manipuliert«, warum er Wortbedeutungen austrocknet oder zu »leerem Gerede« entstellt. Strauß, und das ist der modus operandi seines Werks, entzieht seinen »Menschendarstellern« die kulturellen Muster der Selbstbeschreibung und erzeugt ein überwältigendes semantisches Vakuum. Ohne Bilder, ohne Metaphern und Erzählungen, mehr noch: ohne eine transzendierende Idee des guten Lebens scheitern seine Charaktere daran, sich differenziert zu ihren Grunderfahrungen in ein Verhältnis zu setzen, zu Vergänglichkeit und Tod, zu Krankheit und Verlust. Ob Richard Schroubek in Die Widmung oder Marie Steuber in Die Zeit und das Zimmer: Die Strauß’schen Figuren können nicht lieben und nicht trauern, sie können nicht tun und auch nicht lassen, sie leiden an allem und nichts, aber stets an fehlender existenzieller Dichte und ereignislos abfließender »Zeit Zeit Zeit« (Der junge Mann). »Die Zeit vergeht, aber nicht richtig« (TS I, 407). Erschüttert ist auch das Vertrauen in die kommunikativen Energien der Sprache. Die Figuren glauben nicht mehr, dass der Andere meint, was er sagt, und am Ende glauben sie sich selbst nicht mehr. Kommunikation erscheint als Unfall zwischen toxischen Subjekten, und Gespräche erschöpfen sich in der Verständigung über Nichtverstehen. Sie dienen, wie in der Grußszene in Besucher, dem narzisstischen Selbstbezug oder, wie Lotte auf ihrem Kreuzweg durch die Bundesrepublik erfährt, militanter sozialer Selbstbehauptung. In dem Theaterstück Die Zeit und das Zimmer zerfällt der grammatische Bezug auf Raum und Zeit nahezu vollständig, und in der Eingangsszene von Schlußchor vermögen sich die Figuren durch das »Auge« ihrer sexualisierten Sprache nur als fragmentierte Subjekte zu erkennen, als »In-di-vi-du-al-i-tät« (TS II, 421). Mit einem Wort: Die Geschichte steht still, das Leben ist müde und erschöpft sich im Engagement fürs Desengagement; Zukunft ist darin kein Versprechen, sondern die Wiederkehr von toter Vergangenheit als ewige Gegenwart. »Besagtes Leben, um noch einmal darauf zurückzukommen, wir haben ja nur unsere Erinnerungen. Alles Übrige: am Fenster stehen und hinausschauen, bis man vom Erdboden verschluckt ist.« (TS II, 323) Schon für den Theaterkritiker Strauß ist das Leiden an »Bedeutungsleere« kein unerklärliches Phänomen, sondern die Folge einer systemischen Exkommunikation von sprachlichem Sinn. Beunruhigt beobachtet der junge Rezensent, wie der mediengetriebene »Spätkapitalismus« das kulturell Imaginäre besetzt und sich in die Alltagssprache hineinfrisst, in Metaphern und Erzählungen. Selbst den Tod der Liebe versteht der junge Strauß als Effekt einer diskursiven Überwältigung; die ökonomische Logik unterwandert das erotische Sagenwollen und nötigt die Liebenden dazu, ihre Gefühle zu tauschen wie Geld.

Schluss

Der Theaterkritiker hatte damit sein Thema gefunden, und es war eindrucksvoll zu sehen, wie entschlossen der Bühnen- und Prosa-Autor dieser Passion die Treue hält und wie selbstbewusst er sich in die diskurskritische Tradition einschreibt. Auch der Schriftsteller Strauß inszeniert das Leben seines Personals als Symptom seiner Sprechweisen, und von Anfang an zeigt er ein starkes Interesse an Inversionsfiguren und symbolischen Umbuchungen. In seinem Erstling Die Hypochonder ersetzt eine Gruppe Naturwissenschaftler mit jakobinischem Eifer religiöse Metaphern durch funktionale »Dingworte«; in Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle verwandelt Strauß den christlichen Glauben in »weltliche Soteriologie« (»Zukunft«, »Fortschritt«), und die Vampirgeschichte in Marlenes Schwester konvertiert »Gott« in »Geld« und die christliche Jenseitsverheißung in ein paradiesisches Diesseitsversprechen. Die Umkodierungen im Symbolischen haben selbstredend Folgen für das Leben im Realen. In dem Maße, wie Traditionen monetarisiert (Trilogie des Wiedersehens), wie sie verrechtlicht und »aufgeklärt« (Der Park) werden, entsteht eine »Bedeutungsleere«, in die ungehindert neue Semantiken eindringen. In Kalldewey, Farce besetzt der »heilige« Sex den grammatischen Ort der wegtherapierten Metaphysik und sichert als Perversion des Sakralen die Einheit der aufgeklärten Gemeinde. Kritik der liberalen Freiheit – das ist die Melodie, die der frühe Strauß seinem Publikum vorspielt, und nach der erfolgreichen Medialisierung der Lebenswelt wird man seine Klage über den »Konsum von Sinn« möglicherweise plausibler finden als zu Zeiten einer selbstbewussten Moderne mit ihrem pathetischen Verständnis von Diskurs und Öffentlichkeit.2 Strauß besitzt ein haarfeines Gespür für semantische Verschiebungen und den Kurssturz existenzieller Erfahrung; er hat einen nachgerade inquisitorischen Sinn für die Banalisierung von Wortbedeutungen und beschreibt bereits in seinem Roman Rumor die Invasion des Informationskapitalismus in die »indigene« Alltagssprache – eine »Landnahme«, die am Ende ein neues Subjektprofil erzeugt, den Typus des rationalen Egoisten: affektiv neutral, innerlich abgedichtet und manifest selbstinteressiert. Auch Strauß’ Kritik an einem Modernisierungsdogmatismus, der Rationalisierungen mit Freiheitsgewinnen verwechselt, ist aktuell geblieben, ebenso seine Skepsis gegenüber den Biowissenschaften, die den anarchistischen Eigensinn symbolischer Kommunikation auf Zweck-Mittel-Beziehungen verkürzen (Die Hypochonder). Nach der (empirisch strittigen) »Wiederkehr der Religion« ist auch seine Polemik gegen das säkularistische 2 | Von heute aus gesehen lässt sich Strauß’ Poetik gewiss auch als Abwehrposition gegen eine ästhetische Ökonomie und ein »Regime des Neuen« verstehen, das die Einbildungskraft der Kunst systematisch für die Durchsetzung eines »Kreativitätsdispositivs« in Dienst nimmt. Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, Frankfurt a.M. 2012.

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Selbstmissverständnis des politischen Liberalismus neu zu bewerten; die konsequente Säkularisierung aller Diskurse, so lautet die Gegenposition nicht nur in Groß und klein, schmälert den Reichtum kultureller Welterschließungen und intensiviert die Tragik der »spätkapitalistischen« Freiheit. Tragisch, davon war der junge Strauß überzeugt, muss eine Freiheit genannt werden, die im Augenblick ihrer historischen Verwirklichung jene kulturellen Selbstbeschreibungen trivialisiert, in deren Licht sich der Sinn von Freiheit allererst bestimmen lässt. »Oje. Woran könnte ich bloß noch denken?« (TS II, 200) So überzeugend Strauß die Sinnkrisen seiner Figuren aus einer »spätkapitalistischen« Auszehrung hervorgehen lässt, so ist in seinen Theaterstücken und Erzählungen gleichwohl ein emanzipationskritischer Suopçon schwer zu überhören. Sein Werk enthält einen geradezu handgreiflichen Verdacht gegen die Pathosformeln von »Aufklärung« und »Autonomie«, und bereits der Theaterkritiker Strauß, damals eher Leser Adornos als Heideggers, spekuliert über eine Komplizenschaft von historischer Aufklärung und »spätkapitalistischer« Ökonomie. Aufklärung, wird er später schreiben, entzieht Traditionen den existenzerhellenden Gehalt; sie macht die Welt »unerzählbar« und neutralisiert die Voraussetzung ihrer eigenen Narration. »Früher konntest du mir die Sternbilder erklären,/Du wußtest, wo im Großen Hund der Sirius stand […]/ Früher konntest du mir die Französische Revolution wortreich ausmalen. Heute wüßtest du nicht einmal mehr, wann sie stattgefunden hat.« (TS II, 104) Ab Mitte der achtziger Jahre radikalisiert Strauß seine Zeitdiagnosen und verschärft die Kritik an »leerer« Freiheit zu einem Angriff auf die rechtlich verfasste Institution der Freiheit selbst. Die Radikalisierung von einer Modernekritik zu einer Moderneverwerfung, beispielhaft vollzogen in seinem Roman Der junge Mann, trägt alle Züge einer Kehre und führt einen ganz anderen, einen metaphysischen Begriff von Tragik ins Feld. Hatte die »Tragik« der liberalen Freiheit für den frühen Strauß ihre Ursache im Mangel an symbolischem Sinn, so resultiert sie für ihn nun aus einem Defekt im liberalen System. Während Strauß I die »spätkapitalistische« Überformung der Alltagssprache zum kritischen Thema macht, so erscheint bei Strauß II die Moderne selbst als Pathologie, als Neutralisierungsmaschine von »Existenz« und »Tragik«. Warum Strauß einen programmatischen Wechsel einleitet, warum er seine Medien- zur Demokratiekritik überdehnt und sich dem Sog der politischen Radikalisierung überlässt, zählt zu den schwer zu lösenden Rätseln des Werks. Seine eigenen Hinweise klingen seltsam widersprüchlich und sein Abschied von der negativen Dialektik Adornos auffallend plakativ. Vielleicht liegt der prononciert verächtliche Umgang mit den Errungenschaften der westlichen Moderne in der Enttäuschung begründet, dass die Versprachlichung des Sakralen religiöse Gehalte nicht produktiv entbunden, sondern lediglich verflüs-

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sigt hat.3 Die liberale Demokratie, so jedenfalls ließe sich Strauß verstehen, profaniert nicht nur die religiöse Überlieferung zum Selbsterlösungsglauben an »Fortschritt«, »Geschichte« und »Zukunft«; sie zerstört zuletzt auch die nicht-religiösen kulturellen Erzählungen und beraubt sie ihres existenzerschließenden Sinns.4 Die pessimistisch verdunkelte Zeitdiagnose, so hatte sich gezeigt, bringt Strauß allerdings begründungstechnisch in Verlegenheit. Denn wenn alles falsch ist und nach der säkularistischen Verflüssigung religiöser Weltbilder keine Sprache des »Richtigen« mehr existiert, dann muss die Gegenwartskritik einen eigenen Wahrheitsbezug ausweisen, das heißt: Strauß muss einen archimedischen Punkt ausfindig machen, von dem aus die säkulare »Höhle« gesprengt und die medial verdorbenen Wörter erneut auf ihren »primären« Sinn hin zentriert werden können. Auf den Spuren von Rudolf Borchardt und George Steiner entdeckt Strauß diesen Wahrheitsbezug in einer authentischen, von bloßer »Literatur« strikt unterschiedenen »Dichtung«. Während »nonkonformistische« Schriftsteller als Agenten des »Sekundären« die Wirklichkeit erzähltechnisch bloß verdoppeln, rettet die Arche Noah authentischer Dichtung das vergessene »Primäre« über das Meer der »Belanglosigkeit« (PP, 103) und erinnert in der »Mitternacht der Abwesenheit« an den »unvergängliche[n] Teil des Daseins«.5 Als Referenzrahmen für die dichterische Verwandlung von »sekundären Wörtern« in primären Sinn wählt Strauß das Transsubstantiationswunder der Eucharistie und damit ein Paradigma, das seit der frühen Neuzeit den zentralen Schauplatz für den Streit um Wahrheit und Repräsentation abgibt. Wie der 3 | »Von der Aufkündigung der semantischen Verbindlichkeit (bei gleichzeitiger Emanzipation des Gottmenschen) bis zur reinen Selbstreferenz der Diskurse, dem nihilistischen Vertexten von Texten, verging ein Jahrhundert, das die großen ›Zeichensetzer‹ der Moderne mit gewaltigen, heroischen Bedeutungsschöpfungen bestritten. Aber sie alle, ob Marx, Freud oder Wittgenstein, ob rational oder irrational, gingen hervor aus dem Verlust des tautologischen Urvertrauens in die Sprache: Ich bin, der Ich bin.« (AW, 49f.) 4 | Zur Versprachlichung des Sakralen vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, S. 118ff. 5 | In systemtheoretischer Lesart könnte man das Strauß’sche Verfahren als eine Operation beschreiben, die den fiktionalen Charakter ihres Arrangements dadurch zu unterlaufen sucht, dass sie einen ontologischen Grund (das »Immerwährende«) fingiert, der die Fiktion in eine absolute Geltungsbasis zurückprojiziert. Die literarische Fiktion erfindet Authentizität und erzeugt durch Remythisierung die Distanz von der Distanz zur Tradition – und damit eine Referenz auf Wahrheit. Das »Außer sich« der Fiktion bringt das Authentische hervor, um gleichzeitig alle Hinweise auf ihren selbstkonstruktiven Charakter zu verwischen. – Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 502.

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Priester im Gottesdienst Profanzeichen in Sakralzeichen verwandelt, in die Realpräsenz Christi, so soll der Dichter die »übersprochene« Sprache aus der babylonischen Gefangenschaft der Öffentlichkeit befreien und noch einmal ihren »heiligen« Sinn offenbaren. »Das Wort Baum ist der Baum.« (AW, 41) Bei dieser poetologischen Operation leiht sich Strauß das eucharistische Modell allerdings nur aus und benutzt es als Brücke für den Rückstieg hinter den christlichen Assoziationsraum. Strauß sagt Religion, aber er zielt auf mythische Bestimmungen, auf das »Tragische«, das »Opfer« und das »Anfängliche«. Anders gesagt: Strauß nimmt das Abendmahl zwar als Verwandlungsmodell poetologisch in Dienst, gleichzeitig aber blendet er den opfer- und mythoskritischen Gehalt des biblischen Monotheismus ab. Fragwürdig an diesem Verfahren ist auch der Umstand, dass es den elementaren Unterschied zwischen einem metaphysischen und einem nachmetaphysischen Verständnis des Tragischen nivelliert.6 In einem nachmetaphysischen Verständnis bezeichnet tragisches Wissen lediglich ein Interpretationswissen, es reflektiert historisch kontingente Gewalterfahrungen und beschreibt die Tragik ihrer Entstehung. Anders in einem metaphysischen Verständnis des Tragischen, und das ist das von Botho Strauß. In dieser Lesart repräsentiert die Tragödie eine ahistorische Struktur, die sich als Wahrheitsgeschehen mit schicksalhafter Gewalt und mythischer Fatalität geschichtlich entäußert. »Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt.« (ABG, 11) Entsprechend versteht Strauß die Moderne nicht als Zeit der überwundenen, er versteht sie als Latenzzusammenhang der verdrängten Tragödie, und jeder Versuch, ihr Gesetz politisch zu korrigieren, bleibt nicht nur vergeblich; er beschwört auch den »anschwellenden Bocksgesang« herauf, die Gefahr einer Opferkultkrise und damit das strafende Fatum einer intensivierten Wiederkehr von Tragik. Mit dieser kunstreligiösen »Transsubstantiation« lässt Strauß das Gottesprädikat gleichsam an das Tragische übergehen: Es ist verborgen, aber allgegenwärtig, es ist außerhalb der Geschichte und spielt doch in sie hinein. Damit ändert sich auch die Funktionsbestimmung der Kunst. Authentische Dichtung ist nicht bloß Reflexion, sie ist Repräsentation von Tragik; sie memoriert nicht mehr den ›Gottes-Text‹ der Welt; sie enthüllt die mythischen Inva-

6 | »Von ›Tragik‹ lässt sich philosophisch nur als Teil der Erschließung einer Welt, genauer: im Dienst der Erschließung der Entzweiungen einer Welt sprechen; sie allein sind die ›Quellen‹ der Tragik.« Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen, Frankfurt a.M. 1996, S. 41. – Von dieser fundamentalen Differenzierung im Begriff des Tragischen hält sich die Strauß-Forschung seltsam fern. Vgl. Günter Sautters Überlegungen zu Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang in: ders., Politische Entropie, Paderborn 2002, S. 58f.

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rianten der Geschichte und versteht sie als metapolitisches »Externum« zum zeitgenössischen Liberalismus.7 Die Wende zur tragischen Metaphysik hinterlässt im Werk tiefe Spuren. Sie macht den Ton kälter, die Charaktere anonymer und die szenischen Arrangements härter. Plädierten die frühen Dramen für eine konservatorische Rettung der »Bestände« (Kalldewey, Farce) beziehungsweise für eine »Neutaufe« metaphysischer Reflexionsbegriffe (Groß und klein), so bringen der metafiktionale Roman Der junge Mann ebenso wie das Theaterstück Ithaka die Idee einer neo-mythischen Epoche ins Spiel, die nicht mehr nur Texte rettet, Sinnschichten freilegt und neue kulturelle Selbstinterpretationen anstrengt, sondern einen radikal neuen politischen Anfang markiert, einen Anfang nach der verurteilten Moderne. Im Drama Der Schlusschor verwandelt sich der helle christliche Ton von Groß und klein in ein dunkles nationalreligiöses Tremolo, und die nach der Wiedervereinigung entstandene Prosasammlung Wohnen Dämmern Lügen »testet« die Erlösung der existenzvergessenen Gesellschaft durch die heilende Gewalt wiederkehrender Tragik. Vor allem in den essayistischen Zeitdiagnosen erwies sich die Neuausrichtung des Werks als politische Provokation ersten Ranges. Strauß deutet den Mauerfall von 1989 emergenztheoretisch als ein Wahrheitsereignis, das der »weltlichen Soteriologie« (AW, 40) des Liberalismus ein Ende bereitet und seine tiefe metaphysische Leere offenbart – die ›Relativierung von Existenz‹ (die ›Not der Notlosigkeit‹) in einer posttragischen, auf Ausgleich programmierten Wohlfahrtsdemokratie. »Es ist auf verlorenem Posten möglich zu sehen, was die ›Wächter der Demokratie‹ in ihrer Mitte offenbar nicht sehen können: zwei Drittel Wüste das bewachte Gebiet.« (FdK, 83)8 Eine ganz eigene Problematik erzeugt die Neuausrichtung des Werks in dem Augenblick, wo Strauß die Linien geschichtsphilosophisch auszieht und 7 | Die falsche Romantik einer remythisierenden Überdehnung des Ästhetischen zum Gesamt-Problemlöser beschreibt Christoph Menke in Die Souveränität der Kunst, Frankfurt a.M. 1991, S. 278-293. 8 | Strauß vertritt einen politischen Existenzialismus, der »Macht« und »Leben« in eine Analogiebeziehung setzt. Deshalb ist liberale Politik identisch mit Erfahrungslosigkeit: Weil der permissive Erlaubnisstaat Konflikte und Antagonismen durch Verhandlung moderiert und deshalb zu scharfen ›Limitsetzungen‹ nicht mehr in der Lage ist, entsteht ein Schattentheater der Tragikvergessenheit, eine systemische Lähmung des Lebendigen. »Es ist der Mars auf Erden.« (ABG, 17) Zudem ist der Liberalismus immanent reformunfähig. »Wirklich einschneidende, wirksame Maßnahmen lassen sich schon aus Systemgründen nicht durchführen …« (ABG, 15) Oder: »Es ist leichter, ein autoritäres Regime zu Fall zu bringen, als ein liberales System vor seiner Zerrüttung zu bewahren. Das eine ist künstlich, starr wie ein Kristall und kann gebrochen werden. Das andere ist organisch und kann nur absterben.« (FdK, 108)

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seine Metaphysik des Tragischen die Deutung der Shoah berührt. Strauß unterschlägt nicht die Verantwortung der Täter, im Gegenteil, sie hinterlässt in seinen Augen eine »über das Menschenmaß hinausgehende Schuld« (ABG, 22). Gleichwohl ist der Eindruck schwer abzuweisen, er verstehe die nationalsozialistische Barbarei im Rahmen des eigenen Geschichtsbildes, das heißt: als ein Geschehen, dessen Verhängnis-Charakter jeder historischen Erklärung unzugänglich bleiben muss und angemessen nur auf der Folie einer »disponierenden« Tiefengeschichte erfasst werden kann, die die Kontinuität der deutschen Kultur gleichwohl unberührt lässt.9 Zweifellos verrät das Strauß’sche Interesse, die NS-Mentalitätsgeschichte abzublenden und Herkunftstraditionen von der Traumatisierungsgewalt des Nationalsozialismus zu entlasten, eine im Diskurs der Vergangenheitsbewältigung ortlos bleibende Trauer über die faschistische Korruption romantischer Überlieferungen und eine pathetische Bitternis über den Verlust metaphysischer Weltsichten. Doch bei allem verständlichen Verlangen nach Entlastung leistet Strauß, zum Beispiel in Rumor, einer projektiven Fehlverarbeitung des Nationalsozialismus Vorschub, die die Bundesrepublik ganz unverhüllt zum Opfer einer kulturimperialistischen Unterwerfung durch raumfremde Mächte stilisiert. In Gestalt von Reeducation, Medialisierung und Metaphernraub bricht der »Westen« über das Land herein und – das ist die zweite Katastrophe – verlangt Deutschland das größte aller Opfer ab: die Aufgabe seiner kulturellen Identität.10 Doch die von Strauß beschworene Kontinuität des »Deutschen« gibt es nicht mehr, sie ist »zerstört durch die Erfahrung des vom deutschen Hitler-Staat organisierten Judenmordes. Vor diesem Einbruch des Grauens in die deutsche Geschichte verstummt die Bildung.«11 Strauß konfrontiert das Negativszenario von »Liberalismus« und »Massendemokratie« mit zwei Gegenmodellen, die sich an der Idee symbolischer Res9 | Zur eigentümlichen Unschärfe von Strauß’ Thematisierung des Nationalsozialismus siehe auch Christoph Parry, »Der Aufstand gegen die Totalherrschaft der Gegenwart«, in Text und Kritik, H. 81 (VI/98), S. 54-64, hier S. 62. 10 | Auch die Textfigur in Beginnlosigkeit klagt: »Jemand hat gesagt: das Volk ist das Höchste und das Niedrigste. Das mag in einem geschichtlichen, mehr noch in einem mythischen Sinn zutreffend sein. Heute aber bildet das Volk der Deutschen keinen geheimen Schatz in der Seele des einzelnen mehr, aus dem er Kraft schöpfen könnte. Es ist nichts als ein launiger, bequemer Mehrheitspotentat. Ein Auslöscher jeder, aber auch jeder ideellen Kraft. Es spricht nur noch aus Faulheit deutsch, die meisten seiner Regungen und Interessen ließen sich besser auf amerikanisch ausdrücken. Der Widerstand gegen die moderne Gesellschaft ist zuletzt kein Widerstand gegen das Kollektiv, sondern gegen einen Mangel an kollektiver Substanz.« (B, 122) 11 | Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 111.

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tauration beziehungsweise mytho-technischer Überbietung ausrichten. Das Langgedicht Ein Tag … imaginiert ein deutsches »Staatswesen«, das den politischen »Makel« der Bundesrepublik, die Trennung von (machtlosem) »Geist« und (geistloser) »Macht«, überwindet und durch eine Allianz von Politik und Kultur ablöst. Die politische Romantik des Gedichts ersetzt die funktional differenzierte Gesellschaft der verwestlichten Staatsnation durch eine kulturell homogene Volksnation, die vorpolitisch immer schon verständigt ist und so der demokratischen Selbstregierung kaum mehr bedarf. Politische Legitimität gewinnt dieses »Staatswesen« durch die Bereitstellung von kulturellem Sinn und durch Kompensation individueller Seinsvergessenheit. »Es genügte ein Staatswesen, das innerlich aufwög/den vergeßlichen Menschen. So wie der Sioux seine Nation/im Herzen trug neben dem Jagdblut.« (ETG, 52) Während Strauß den Traum vom sinnsichernden Kulturstaat noch innerhalb einer resignativ hingenommenen Moderne lokalisiert, verlegt er das zweite Alternativmodell in eine Zukunft nach den klassisch-liberalen Demokratien. Sein futuristisches Projekt entwirft ein drittes Weltalter, das die sphärendifferenzierte Gegenwart überbietet und zu neuer »Ganzheit« remythisiert. Strauß’ antimoderner Modernismus folgt dabei dem Grundgedanken der Konservativen Revolution, dass die Funktionsgesetze von Markt, Wissenschaften und Technik ein alternativloses evolutionäres Geschehen darstellen und deshalb nicht verändert, sondern nur wiederverzaubert und durch einen Kranz stabilisierender Weltbilder mythisch überwölbt werden können. Mit Hilfe digitaler Visualisierungstechnologien soll die mythenlose Moderne an archaische Bilderwelten (»Data-Glove und Runenholz«; B, 116) angeschlossen und so weit retabuisiert werden, bis die kritische Spannung zwischen Normalität und Normativität verschwindet. Während die technisch-wissenschaftlichen Funktionssysteme unverändert weiterlaufen, legen »Gedächtnismaschinen« ein lückenloses Netz sinnstiftender Bilder über die Gesellschaft und etablieren im kulturell Imaginären ein Äquivalent zum antiken Mythos. Im dritten Weltzeitalter der Hypermoderne kommt für Strauß der Gang der Geschichte an sein Ende. Die Humanisierung des menschlichen Tiers ist abgeschlossen, und nach zweitausendjährigem monotheistischem Zwischenspiel kehrt es auf technologisch avanciertester Stufe an jenen Ort zurück, von dem es einst aufgebrochen war – in eine wieder mythische, von Kritik verschonte Welt, in der die Vergesellschaftung des Einzelnen nicht über rechtfertigungsbedürftige Normen läuft, sondern reflexionsfrei über konformitätssichernde kultische Muster. Weil die Hypermoderne »Erlösung« nicht mehr – wie im Christentum – eschatologisch auf den Jüngsten Tag verschiebt, fallen Diesseits und Jenseits, Schöpfung und Erlösung in paradiesischer Unmittelbarkeit zusammen. Zum Raum wird hier die Zeit, und durch das Arsenal ihrer kulturellen Hervorbringungen lässt Strauß die Gattung symbolisch in ihren Ursprung zurückwandern: »Der technische Rekluse, die Ganzwelthaube über

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dem Kopf, gleicht dem Anachoreten in der Wüstenhöhle, dem die Welt in den Visionen der Versuchung erschien: präsent war« (B, 59). Wie die nostalgische Option des kulturellen »Staatswesens«, so verhält sich auch die Retro-Utopie der »Übermoderne« zu den Strauß’schen Dramen und Prosastücken wie die rettende Therapie zu einer aussichtslosen Diagnose. Im buchstäblichen Sinn des Wortes erscheint die digitale Revolution als eine »Technik der Wiedergewinnung«, die vergessene Traditionen einspielt und das chronische Leiden der Theater- und Romanfiguren kuriert, ihren Mangel an Weltsinn. Für diese Therapie zahlt Strauß allerdings den Preis einer Funktionalisierung des Kulturellen. Überlieferungen – oder in den Worten des Theaterkritikers: »Symbolwerte« – bezeichnen nun nicht mehr das exklusive Medium ästhetischer Erfahrung und individueller Selbstdeutung; sie sind, zum Beispiel in der Sammlung Beginnlosigkeit, lediglich soziokybernetisch nützliche Sinnofferten, die ein Instinkt- und Orientierungsdefizit ausgleichen, eine »theozoologische Lücke« (B, 83) im Bewusstseinshaushalt des menschlichen Mängelwesens. Dass dieses funktionalistische Kulturverständnis weniger an ästhetischer Reflexion als an Zustimmungsbeschaffung und Systemstabilisierung interessiert ist, wirft noch einmal ein Schlaglicht auf die Selbstradikalisierung des Strauß’schen Werks. War Strauß (I), der Autor von Groß und klein und Die Widmung, vom »Tod« des Subjekts und vom Absterben des Symbolischen alarmiert, so erkauft Strauß (II) die Rettung des Symbolischen ironischerweise durch die Preisgabe des reflexiven Subjekts. Wie in einer unfreiwilligen Parodie auf den ungeliebten Poststrukturalismus löst er die kritische Spannung zwischen Subjektautonomie und kultureller Semantik auf und schneidet die Deutungsfähigkeit des Einzelnen, die er doch ursprünglich hatte retten wollen, auf subalternen Nachvollzug und rezeptive Demut zurück – das Subjekt ist nurmehr das Medium für ein Selbstgespräch, das der unsterbliche Mythos mit sich selber führt. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die Kritik am literarischen Remythisierungsprogramm entzündete sich nicht an dem Umstand, dass Strauß ästhetische Wahrheit jenseits des monotheistischen Bezugsrahmens ansiedelt; sie entzündete sich vielmehr daran, dass er poetische Kreativität auf die advokatorische Repräsentanz von mythischem Wissen und tragischen Invarianten ermäßigt – »Dichtung« ist für ihn Offenbarung von »Immerwährendem« und der Dichter ein »Beauftragter«, ein Nuntius des Zeitlosen. Strauß substanzialisiert den ästhetischen Schein, und es ist nicht einfach, in Stücken wie Ithaka oder dem Roman Der junge Mann ähnliche tastende Gesten und eine vergleichbare Ambivalenz zu entdecken wie in der Widmung oder in Groß und klein, dem Traum von der Rettung des symbolischen Subjekts und vom Neu-Sehen der Welt durch das »Auge« einer regenerierten Sprache. Ithaka und der Roman Der junge Mann verabschieden die Hoffnung, ihr Personal könnte innerhalb

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des liberalen Systemrahmens noch einmal metaphysisch affiziert und verwandelt werden; stattdessen spekulieren sie im Nachklang des Mauerfalls 1989 mit den Mustern von Überwältigung und Untergang und proben den ereignishaften Bruch mit dem »Angerichteten«. Dass sie es unter einem ironischen Vorbehalt tun, ist kein Widerspruch, denn die Ironie bezeichnet nur das letzte Wort der erzählten Geschichte, nicht aber das letzte Wort einer metafiktionalen Konstruktion, die durch die Ironisierung von Ironie den Denk-Raum des Mythos offen hält. Zweifellos gehört die Geste von Destruktion und Totalverwerfung zum konventionellen »Set« der literarischen Modernekritik. In ihr soll die ästhetische Einbildungskraft noch einmal jene finale Spekulation über die »Welt im ganzen« anstellen, die sich eine nachmetaphysisch ernüchterte Philosophie nicht mehr zutraut. Doch im Fall von Botho Strauß bleibt ihr Ertrag eher moderat. Die Festlegung von künstlerischer Souveränität auf ein außerästhetisches Programm, vulgo: auf das mit Heidegger und Jünger absolvierte Warten auf die Wiederkehr des Mythos, erzeugt stereotype ästhetische Bilder, die es im Vergleich zum frühen Werk an literarischer Plastizität, an Konturschärfe und Detailgenauigkeit vermissen lassen. Gemessen an der Sammlung Paare, Passanten wirken die Gegenwartsbeschreibungen in Lichter des Toren (2013) eigentümlich beschreibungsarm, sie wirken körnig, großformatig und entrückt. Die Suche nach dem Außerhalb der sprachlich-normativen Welt und die Imagination eines »Unvergänglichen« mag interessante kontrastive Beschreibungen ergeben; doch zugleich steht sie unter dem Zwang, Phänomene nicht nur ästhetisch präsent zu machen, sondern sie auf eine metapolitische Wahrheit hin zu übersteigen.12 Vermutlich könnte Strauß in dem Vorschlag, den platonisierenden Anspruch auf ein letztes Wissen aufzugeben und die ästhetische Einbildungskraft wieder in die imaginative Souveränität zu entlassen, nur eine neue Spielart liberaler »Seinsvergessenheit« entdecken, eine letzte Finte der Emanzipation in ihrem ewigen Kampf gegen Metaphysik.13 Aber die von Strauß konstruierte Gegnerschaft von Freiheit und Metaphysik existiert nicht, im Gegenteil, die Frage nach den »letzten Dingen« erhält erst unter den Bedingungen von Sub12 | Diese Kritik an der Substanzialisierung ästhetischen Scheins verdankt ihre terminologische Klärung entscheidend Martin Seels Studie Ästhetik des Erscheinens. 13 | Die Kritik an kultureller Verarmung bleibt deshalb an ein nachmetaphysisches Verständnis von Metaphysik gebunden, weil es ihr prinzipiell nicht möglich ist, einen Standpunkt außerhalb ihrer eigenen kulturellen Kontexte zu beziehen. Anders als in Strauß’ Elitenmodell besitzt sie keinen privilegierten Zugang zu einer präkommunikativ verstandenen Wahrheit und begreift sich lediglich als »Element des kritischen Selbstbewußtseins der Kultur«. Vgl. Herbert Schnädelbach, »Kultur und Kulturkritik«, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt a.M. 1992, S. 181.

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jektautonomie und reflexiver Freiheit ihr ganzes Gewicht und ihre ganze Dignität.14 So gesehen behielte der frühe, leidenschaftlich am Subjekt interessierte Strauß tatsächlich gegen den älteren Recht. Jener verstand »Tragik«, »Tod«, »Gott« als metaphysische Reflexionsbegriffe, die nur um den Preis semantischer Selbstneutralisierung exkommuniziert und dem Diskursspektrum entzogen werden dürfen. Darum hatte das »Leiden an Unbestimmtheit« für ihn seinen Grund auch nicht in der Struktur der »tragikvergessenen« Moderne; es hatte seinen Grund in einer gesellschaftlichen Auszehrung von kulturellem Sinn. Zu Recht widersprach der junge Strauß der soziologisch ernüchterten Auskunft, die »Faktizitäten von Einsamkeit und Schuld, Krankheit und Tod« könnten nicht »hinweginterpretiert«, sondern nur ins Bewusstsein gehoben und »prinzipiell trostlos« ausgehalten werden.15 Strauß bestand darauf, dass auch das pure »Aushalten« existenzieller Kontingenz auf gesellschaftlich vorgehaltene Semantiken angewiesen ist, auf die explorative Kraft von kulturellen Erzählungen und religiösen Metaphern. Seine Bühnen- und Prosastücke imaginieren den Tod der Sprache, um ihre Erfahrung ästhetisch noch einmal zu gewähren.

14 | »Das moderne Geschehen ihres Sturzes verabschiedet die Metaphysik nicht restlos, sondern enthüllt und begründet im Gegenteil zum ersten Mal ihren Wahrheitsgehalt. Denn eben die moderne Erfahrung, die die Metaphysik als positive Einlösung der unendlichen Ansprüche obsolet macht, ist mit ihr ›solidarisch‹ (Adorno), weil sie die unendlichen Ansprüche der Metaphysik aus der intern unbehebbaren Krise der endlichen Erkenntnis allererst wahrhaft begründet. Die Metaphysik mußte somit bis zum Augenblick ihres irreversiblen Zusammenbruchs warten, um sich zum ersten Mal legitimieren zu können. Die Moderne […] ist zugleich Beendigung und Begründung der Metaphysik.« Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, S. 253ff. – Zur »spätbürgerlichen Neutralisierung der Metaphysik« vgl. Axel Hutter, »Adornos Meditationen zur Metaphysik«, in: Uwe Justus Wentzel (Hg.), Vom Ersten und Letzten, Frankfurt a.M. 1998, S. 236-257. 15 | Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, S. 165. An anderer Stelle zeigt Habermas ein luzides Gespür für die Dialektik der Aufklärung und fragt, ob sich »eines Tages ein emanzipiertes Menschengeschlecht in den erweiterten Spielräumen diskursiver Willensbildung gegenüber treten [könnte] und doch des Lichtes beraubt sei, in dem es sein Leben als ein gutes zu interpretieren fähig ist«. Jürgen Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 343.

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