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German Pages 238 Year 2015
Dirk Michael Becker Botho Strauß: Dissipation
Für Aaron und Miriam
Dirk Michael Becker (Dr. phil.), geb. 1971, studierte Deutsche Philologie, Soziologie und Kunstgeschichte an der Johannes GutenbergUniversität Mainz.
DIRK MICHAEL ßECKER
Botho Strauß: Dissipation. Die Auflösung von Wort und Objekt
[transcript]
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 13, Deutsche Philologie der ]ohannes Gutenberg-Universität Mainz im fahr 2003 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines der Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
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2004
transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Text und Kontext
7 2 Dissipation Der Weg zu den Teilchen 33
3 Anepigraphon Zur Verortung der Schrift im Text 42
4 Die Erde -ein Kopf Literatur über die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt etc. Biokybernetik und der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus als Paradigmen eines naturalisierten Menschenbildes
76 4.1 Geist, Hirn und GesellschaftDie Rhetorik eines neuen Bewusstseins 106 4.2 Kognition und Autopoiese Zur Metaphysik des Neuen 129 4. 3 Die Erkenntnis der Erkenntnis und die Konstruktion des Humanen 153
5 Die Gesellschaft der Gesellschaft 172
5.1 AnthropotechnikReflexionen über den Menschenpark
174 5.2 Prolongation
196 6 Die Ästhetik der Anwesenheit 209
6. 1 Von realer Gegenwar t 209 6.2 Poeta otiosus 217 7 Unentschiedene Totale
226 Anhang
228 Literatur
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Text und Kontext Daß es sich hier um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität handelt und nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ich glaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen. Friedrich Nietzsche
Manche glauben, sie seien müd, weil sie zuviel bereits wüßten. Wohl aber sind sie müd , weil sie nur die Unzahl der Dinge bemerken, ihre herkömmliche Einheit aber nicht. Daher können sie nicht mehr recht unt erscheiden, und all das Gleich-Zeitige wird ihnen dann auch gleichgültig. Botho Strauß
Gleichgültigkeit, im Sinne einer Indifferenz, von diesem Wort konnte, in Bezug auf den Verlauf der Be- bzw. Verachtung von Botho Strauß und seinem bisherigen Werk, niemals die Rede gewesen sein. Als einer der Wenigen vermochte dieser, jenseits von satanischen Versen, wenngleich mit angeblich »dunklem Beharren auf einer sakralisierenden Kunst im Jenseits der globalen Banalität >KulturÜbersetzenPorträtist"', in: Weimarer Beiträge 40 (1994) 2. S. 297-308. Sloterdijk (1999) S. 57. Ähnlich argumentiert auch Sigrid Berka im immanenten Bezug zu Strauß' Werk, welchem angeblich eine »inhärente Literaturtheorie" zugrunde läge, indem es " theoretische Positionen sich gegenseitig negieren [läßt], ohne auf eine einende Metasprache hinaus zu wollen" . Berka (1991) s. 204 . Der gegenüber Strauß erhobene Vorwurf er habe sich mit dem Bocksgesang "außerhalb des Kunstschutzgebietes" (Englhart [2000] 1) geäußert, lässt allerdings vermuten, dass diese sprachliche Metakompetenz dennoch von bestimmten Wissenschaftlern für sich erhoben wird, indem sie im Bezug auf Strauß' Literatur mit Dichotomien argumentieren , die sich in der Ästhetik eines unendlichen Welttextes selbst widersprechen müssten. Siehe dazu auch: Hars (2001) S. 99-102 . Niklas Luhmann machte diesen Aspekt zum Grundgedanken seines Vortrags von 1994 Die Realität der Massenmedien, in dem er »den vergleichsweise engen Rahmen der ,kommunikationswissenschaftlichen· Medienforschung" zu sprengen schien. Dort hieß es: »Eine Kommunikation kommt nur zustande, wenn jemand sieht, hört, liest - und so weit versteht, daß eine weitere Kommunikation anschließen könnte. Das Mitteilungshandeln allein ist also noch keine Kommunikation. Dabei ist fü r die Massenmedien (im Unterschied zur Interaktion unter Anwesenden) der aktuell mitwirkende Adressatenkreis schwer bestimmbar. ln erheblichem Umfange muß daher eindeutige Präsenz durch Unterstellung ersetzt werden. Das gilt erst recht, wenn die Kommunikation innerhalb oder außerhalb des Systems der Massenmedien mitberücksichtigt werden soll. Diese Inkompetenz hat den Vorteil, daß rekursive Schleifen nicht zu eng gezogen werden, daß die Kommunikation sich
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Text und Kontext
rung in ihrer kommunikativen Dimension medienwirksam funktionalisiert, angesichts einer solchen Basis von einander wechselseitig unzugänglichen und operativ geschlossenen Systemen, die auch insgesamt kein einheitliches, kohärentes Überzeugungssystem konstatieren aber überhaupt möglich ist, bleibt als Frage vorerst unbeantwortet. Und doch muss man sowohl Strauß als auch Sloterdijk als Denker, und nicht als menschliche Monaden andenken, die etwas zu sagen haben und für deren Position Argumente sprechen, die auch auf der Ebene des gewöhnlichen rationalen Denkens, zum einen von Relevanz und zum anderen auch vermittelbar sind.71 In diesem Andenken zeigt sich wiederum eine Kontinuität der Philosophie Heideggers, wenn dieser mit Recht sagt, dass es nicht an der technisch-theoretischen Exaktheit der Begriffe liegt,72 ob das Sagen Erfolg hat, denn das Andere ist dennoch ein Sagen in Begriffen. Einzig die Anerkennung dieses logisch-formalen
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durch Mißerfolge und Widerspruch nicht sofort blockiert, sondern daß sie sich ein geeignetes Publikum suchen und mit Möglichkeiten experimentieren kann. " Luhmann (1996) S. 14. Argumentativ wird dies von Niklas Luhmann in der Kunst der Gesellschaft gestützt. Dieser schreibt trotz aller Vorwürfe und Bedenken gegenüber einer Kunst als Kommunikation: »Da aber ganz offensichtlich Kommunikation trotzdem zustande kommt, trotzdem mit Kausalattributionen arbeitet, trotzdem Kommunikation sich unausweichlich selbst reproduziert, sprechen keine allgemeinen anthropologischen Prämissen gegen die Annahme, daß Kunst eine Art von Kommunikation sei, die in noch zu klärender Weise Wahrnehmung in Anspruch nimmt. Es gibt nach all dem einen Steigerungszusammenhang zwischen den operativen Schließungen organischer, psychischer und sozialer Systeme, und somit liegt es nahe, nach dem besonderen Beitrag der Kunst zu diesem Steigerungszusammenhang zu fragen. " luhmann (1997) S. 26. ln Paare, Passanten reflektiert Strauß diese auch von Marcuse geforderte 1:1 Adäquation von Denken und Sprache, zitiert: »Alles was klar gedacht ist, läßt sich auch klar ausdrücken, in jeder Sprache". Doch im Gegensatz zu Marcuse nennt Strauß das Ausdrückbare in seiner Gedankenreinheit, welches »das Schmutzig-Wesentliche mit all seinen Lebenswucherungen entbehrt" , eine " zwangsneurose des klaren Gedankens. " PP S. 190. Aber selbst Wittgenstein schrieb, konträr zu der Argumentation Marcuses, im Tractatus togico-philosophicus: "4. 116 Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen. Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können- die logische Form. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt. Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrükken." Wittgenstein 33.
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Botho Strauß: Dissipation
Widerspruchs ist zwingend notwendig, soll das philosophische Gedenken nicht im Unkontrollierbaren enden. 73 Das Missverständnis scheint daher nur konsequent deren eigene zynische Antizipation innerhalb ihrer Textur zu bewahrheiten,74 die das gewohnheitsmäßige Scheitern des literarischen Essays in einer aliterarischen Gemeinschaft nun erstmals durch die Drastik des Selbstopfers75 zum integralen Bestandteil seiner Genese wandelt, was der Literaturkritiker Bernhard Greiner im Anschluss an den Bocksgesang sogar als eine »Wiedergeburt des Tragischen« bezeichnet.76 Im Selbstversuch hatte Strauß mit Verweis auf die kulturanthropologische Studie Das Heilige und die Gewalt von Rene Girard eine performativ doppelt codierte MetaTheorie des Opferns entworfen, als er diesen zitierte und schrieb: »Der Ritus ist die Wiederholung eines ersten spontanen Lynchmords, in dessen Folge in der Gemeinschaft wieder Ordnung herrschte . ··" Der Fremde, der Vorüberziehende wird ergriffen und gesteinigt, wenn die Stadt in Aufruhr ist. Der Sündenbock als Opfer der Gründungsgewalt ist jedoch niemals lediglich ein Objekt des Hasses, sondern ebenso ein Geschöpf der Verehrung: Er sammelt den Haß aller in sich auf, um die Gemeinschaft davon zu befreien. 77
Von dieser wieder herrschenden Ordnung ist aber bislang nichts zu merken und so scheint die Provokation eines Selbstmordattentäters, der als postmoderner Intellektueller in seiner grundsätzlichen Abseitigkeit78 seine Auslöschung als ret1exives literarisches Moment zu instrumentalisieren versucht, geglückt. Metareflexiv nimmt Strauß diesen Gedanken in dem Kapitel Schrieb innerhalb seiner Analyse einer real gewordenen Passantenwelt vorweg, indem er sich selbst in die Dromokratie, das Machtsystem der Beschleunigung begibt, das durch den französischen Philosophen Paul Virilio definiert wurde. Dieser betrachtet die gesamte Menschheitsgeschichte als einen Beschleunigungsprozess, der heute, im Zeitalter gigantischer Informationsnetzwerke, auf seinen Endpunkt zurast. Im Wahn omnipräsenter Telekommunikation, der Verführung der simultanen Telepräsenz an allem, erfährt die Gesellschaft den geschichtslosen Augen73
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Siehe dazu auch die Kritik Rudolf Carnaps an Heidegger: Carnap (1931 ): »Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache", in: Erkenntnis, 2. AB S. 69. Greiner (1995). Siehe dazu auch: Windrich (2000) Kapitel V. 1. Kunst als Opfer. 137150. AW (1999) 76. Siehe dazu: Sloterdijk: Weltfremdheit (1993); ders. : Die Verachtung der Massen. (2000).
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Text und Kontext blick im Beobachten ihrer selbst, sieht ihre eigene Auslöschung im »rasenden Stillstand« .79 Diesem Stillstand gegenüber erhebt Strauß die Unordnung seiner Textur, die allerdings auf sehr zynische Weise in ihrer selbstreflexiven Radikalität dekonstruktivistischer Formulierung Gefahr läuft, Teil der Bedeutungslosigkeit zu werden. 8 Folglich fragt Strauß:
°
Was soll man sagen zu der grundsätzlichen Abseitigkeit von Schreiber und Schrift? Wer sind wir denn gegenüber der Medienmasse und der Gewalt der Belanglosigkeit? Nichts und nie etwas. Nur indem ich sage, es gibt mich nicht und dich, Schrift, nur am Rand einer Wellenbewegung, die mein Abtauehen hervorruft, weise ich uns die eben noch angemessenen Plätze zu. Der kugelnde Kopf eines Betrunkenen in fortströmender Flut, der kurz vor der Schwelle zum Ruf gurgelnd zurück ins Gewässer sinkt - das ist das Fading des Kunstwerks, und das im Entwischen Erwischte bildet den Kern seines Realismus. Unwichtig: ohne Gewicht ist inzwischen jegliches Buch. Das erfüllte, komplexe, schwerdurchdringliche, sofern es der »innere Markt« überhaupt noch entstehen läßt, findet ebenso wenig einen Boden, um anzuwurzeln, wie das anschmiegsame und gerngesehene Werk der Saison. Wo nichts aufgebaut wird, kann auch das Widerstrebende sich nicht halten. Gemeinsam fallen alle Werke der Herrschaft der Geschwindigkeit, der wachsenden Beschleunigung und der totalen Passage zum Opfer. ln der Dromokratie (dem Machtsystem der Beschleunigungen), in dem wir, wenn Paul Virilio recht hat, inzwischen leben bzw. uns die Zeit vertreiben, ist Bestand haben etwas Gesetzwidriges. Hier ist selbst die gründlichste Wahrheit dazu verurteilt, nur eine »Welle« von kurzer Dauer zu sein . 81 Die Wellen der Entrüstung im Literaturstreit um Strauß hingegen blieben keineswegs von kurzer Dauer. So schlug bereits 1981 der Prosaband Paare, Passanten, Strauß' Fortsetzung von Adomos Minima Moralia in den streng gehegten Gartenteich der Literaturkritik ein wie ein Pflasterstein. Die Wogen, die entstanden, waren nicht mehr zu glätten und trübten auf skandalöse Weise immer mehr den Durchblick und letzten Endes sogar den Überblick über die gesamte Situation.
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Virilio (1997). Siehe dazu auch: Endre Hars (2001) S. 35-38; Hars erklärt in dem Kapitel Kritik des Reflexionsmodells: Die Reflexion kann jedoch als eine ·Denkfalle, gerade über den eifrigsten dekonstruktivistischen Argumentationen zuschlagen. Hintergründigerweise ist dies auch dann der Fall, wenn der äußerliche Standpunkt einem neutralen Medium, wie dem Text überantwortet wird und zitiert im Weiteren Jacques Derrida mit dem Satz: »Die Texte dekonstruieren sich (selbst) aus sich selbst heraus«. Hier: S. 36. PPS.103f.
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Botho Strauß: Dissipation Sich nun selbst im wissenschaftlichen Diskurs provoziert zu fühlen, mit hineinzureden in diesen Skandal, in ein Stimmen- und Meinungsgemurmel um Botho Strauß bzw. Peter Sloterdijk (ein Entgegenreden würde ohnehin unverständlich bleiben), muss seit George Steiners Buch Von realer Gegenwart und dem daran anschließenden Essay von Strauß Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit82 als totale Missachtung deren ästhetischer Theorie erscheinen, welche den Ausleger und Deuter von Kunstwerken mit der Metapher des Parasiten83 belegte und jeden zum »esoterischen Poetisten« degradierte, der durch sein »familiäres Mitreden am Werk« den Poeten von seiner Poesie trennte. 84 Steiners Buch war ein Protest gegen den Strukturalismus, den Poststrukturalismus und den Dekonstruktivismus, weil er in ihnen, ihren int1ationären Datenmengen, Marginalien, Kommentaren und Fußnoten, die fundamentalen Bedingungen der menschlichen Existenz, das Mysterium der Conditio humana gefährdet sah, da er schrieb: Die Frage .. was ist Musik ?« könnte sehr wohl eine Variation der Frage sein: .. was ist der Mensch?«85 Die alte Frage nach dem, was im Sprechen, was in der Sprache der Dichtung, aber auch in der Malerei und der Musik, was im Aussprechen, im Benennen und Erfinden von Welt geschieht, sollte, so Steiner, durch die Werke der Kunst beantwortet werden, und nicht durch die »Unangemessenheit der sprachlichen Explikation«,86 durch »methodisches Drumherumreden«87. Strauß schloss sich in seinem Essay diesem Gedanken an. In »minutiösen Schnitten«, so warf er den Parasiten vor, spalteten sie Zeit, Ort, Sinn und Autorschaft vom Werk ab, »um es zu einer autonomen Textualität zu verarbeiten«,88 und um dann unter den endlosen Wucherungen des Kommentierens das geschaffene Werk, die Existenz des Primären aufzulösen.
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AW (1990).
Siehe dazu auch: Michel Serres: Le Parasite (1980) . Ein Vorwurf, der allerdings insofern inkonsequent scheint, wenn man die beiden neu erschienenen Herausgeberschriften von dem befreundeten Volker Hage betrachtet. Dieser veröffentlichte unter den Titeln Über Liebe und Gedankenfluchten, natürlich in Absprache mit dem seit langem vertrauten Autor Strauß, .. eigenständige Bruchstücke aus dem bisher Publizierten« in neuer Anordnung. AW AW AW AW
(1990) (1990) (1990) (1990)
S. S. S. S.
16. 316. 317. 312 .
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Text und Kontext
Literaturkritik wurde zum Paradoxon. 89 Denn schließlich war nicht nur Steiners Protest, der eines Literaturwissenschaftlers, sondern auch die Bemerkungen von Strauß waren selbst nur sekundäre Anmerkungen zur Realpräsenz des vom Poststrukturalismus geleugneten Primären, wonach seine Kri tik genau jenem Vorwmf entsprach, den man an anderer Stelle in ähnlicher Weise gegen ihn gerichtet hatte, um ihn des Missbrauchs an den primären (Natur-)Wissenschaften zu bezichtigen. Die jeweilige Kritik verdeutlicht aber in ihrer widersprüchlichen Logik nur das, was in der Beginnlosigkeit von Strauß zum evidenten Anspruch einer ästhetischen Erkenntnistheorie erhoben wird, in der sich die Doxa zum Paradoxon verkehrt. Geleugnet wird die prima causa, das Primäre, der Anfang, das Erste, und schließlich auch jegliche Episteme, die als Fundament für eine rationale Analyse und Argumentation hätte dienen können. 90 Vielmehr wird die autonome sekundäre Textualität, das Steady-state, das Kommen und Gehen der Theorien, die Flechte von Vermutungen, conjectures, und Widerlegungen, refutations, die Fluktuation zur einzig möglichen Art der Kommunikation, die der externe Beobachter, der Systemfremde generell zu formulieren vermagY 1 Strauß betont dies an den unterschiedlichsten Stellen und bezieht sich dabei unter anderem, ebenso wie seine Kritiker, auf die Erkennt89
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Siehe dazu auch: Pia Funke (1996) S. 8. Funke glaubt sogar, es sei die konsequenteste aller Weisen dieser paradoxen Ästhetik gerecht zu werden, wenn man versuchen würde gar nicht mehr über seine Literatur zu sprechen, was allerdings "die Unterlassung von Interpretation .. an sich bedeuten würde. Analog dazu liest sich ein Zitat von Paul Valerys Monsieur Teste, auf den Strauß in der Beginnlosigkeit mehrfach verweist: »Denker, Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler- Ursachen, lebendige, individuierte, winzige Ursachen, die wieder Ursachen enthielten und sich selber unerklärlich blieben - und Ursachen, deren Wirkung so nichtig, aber zugleich so ungeheuer wichtig waren, wie ich es gerade wollte ... Die Weltordnung dieser Sachen und ihrer Wirkungen bestand und bestand nicht. Dieses System von seltsamen Akten, von Werken und Wundern besaß die allmächtige und bedeutungslose Wirkung einer Kartenpartie. Inspirationen, Überlegungen, Werke, Ruhm, Begabungen - von einem bestimmten Blick hing es ab, daß diese Dinge nahezu alles waren, und von einem bestimmten anderen, daß sie sich fast zu nichts verminderten ... Vah~ry (1997) S. 34. Es gibt in diesem Zusammenhang einen wesentliche Unterschied, der auf der Differenzierung von Kommunikation durch Kunst als Funktion und der Kommunikation über Kunst beruht. Die Nichtbeachtung dieser Diff erenz führte in der Vergangenheit auf der Ebene der Kunstkritik der sekundären Kommunikation gerade zu diesen Vorwürfen, die gegenüber Strauß erhoben wurden, mit der Folge, dass die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems dann nur als Ausdifferenzierung eines besonderen Themas der Kommunikation über Kunst behandelt wurde. Siehe dazu auch: Luhmann (1997) S. 40.
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Botho Strauß: Dissipation nistheorie von Gerhard Roth, der im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus schrieb: Die Bereiche des internen und externen Beobachters sind überschneidungsfrei. Es gibt keine Phänomene, die sich dem internen wie externen Beobachter in gleicher oder vergleichbarer Weise darstellen. 92 93 Für die Literaturwissenschaft ergibt sich daraus ein Forschungsproblem, wonach die Kritik der Straußsehen Beschreibungen stets dieses Modell als Selbstkritik der Interpretation implizieren muss. Das Problem löst sich allerdings auch dann nicht, wenn man darin eine fast »überdeutliche Bezugnahme" von Strauß »auf die poststrukturalistische Texttheorie" 94 erkennen möchte, in der die Bedeutung der unterschiedlichen sprachlichen Diskurse stets das Postulat ihrer Selbstnegation in der Differenz von Signifikat und Signifikanten beinhalte t. 95 Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht somit weder in einer Ableitung der Theorie des Radikalen Konstruktivismus, noch des Poststrukturalismus, mit der unter ande ren auch Strau ß operiert, um so ein metatheoretisches Konzept für seine Literatur zu entwerfen, die angeblich selbstreferentiell und autopoietisch angelegt ist, sondern es beste ht darin, eine ästhetisch geleitete Erkenntnistheorie literarischer Kommunikation zu entwickeln, die sich zwar einerseits zur allgemeinen Wissenschaftstheorie in doppelter Kontingenz96 befindet, die sich andererseits durch Strauß über diese hinweg radikal poetologisch ä ußert. Dass dies mit einem impli zit an thropologischen Interesse geschieht, w ird im Späteren deutlich, we nn es sich zeigt, daß viele der traditionellen Begriffe der Ästhetik Probleme der allgemeinen Erkenntnistheorie sind und daß viele der traditionellen Begriffe und Fragestellungen der Ästhetik zusammen mit unseren Gewohnheiten, an die Künste isoliert von anderen Sachverhalten zu denken, allmählich veralten. 97
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Gerhard Roth (1978): »Die Bedeutung der biologischen Wahrnehmungsform für die philosophische Erkenntnistheorie", in: P. M. Hijl et al. (Hrsg.) 1978. 65-78, hier: 67. Zit, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus . Hrsg. v. S. J. Schmidt [1987] (2000) S. 19. Und selbst da der Literaturtheoretiker Jorge Luis Borges schrieb Lesen ist denken mit fremden Gehirn, schien weder das Lesen der Straußsehen Literatur, noch das Denken mit seinem Gehirn zu gelingen . Borges (1990). Vgl.: Braungart (1997) 297. Siehe dazu auch: Hars (2001) S. 9-56. Vgl.: Luhmann (1997) S. 25. Nelson Goodman (1998): Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie . [1968] S. 258.
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Text und Kontext
So glaubt auch der in der Tradition der analytischen Philosophie nach Wittgenstein stehende Nelson Goodman, daß das Gebiet der Ästhetik ein erstklassiges Beispiel einer kategorialen Problemlösungssituation darstellt, in der nicht das Bedürfnis nach Antworten auf vorgefertigte Fragen, sondern nach grundlegender Revision und Reorganisation besteht. 98
Hatten bislang die sekundären Diskurse immer wieder ein Zentrum in der Straußsehen Wort- und Gedankenwelt postuliert - als ob bei höchster Differenzierung und Diffusion noch von einem Zentrum die Rede sein könnte - revidiert diese Arbeit einen solchen Gedankengang und folgt einem anderen Weg, den Strauß ebenfalls auf den Abwegen der Wissenschaft und Philosophie beschreitet. Es ist ein Weg, der in kein Zentrum, zu keiner p rima causa einer poetisierten Anthropologie führt, sondern der sich in ein unendlich weites Labyrinth, in die unendliche Textur des Geschriebenen erstreckt, 99 die in ihrer dekonstruktivi stischen Offenheit zum menschlichen Charakteristikum wird. wo Zentral in dieser Arbeit ist allerdings somit wieder der Gedanke, dass es innerhalb einer inkommensurablen Möglichkeit an konkurrierenden Theorieangeboten kein Zentrum mehr gibt, mehr geben kann, worin sich eine erneute Paradoxie darstellt. Diese Paradoxie hat dennoch eine rationale wissenschafts- und zugleich literaturtheoretische Bedeutung, die in der Offenlegung der Prämissen einer fortschreitenden Nivellierung literarisch-fiktionaler und philosophisch-wissenschaftlicher Konstruktion der Wirklichkeit innerhalb der Literatur von Strauß liegt. Sie geht davon aus, daß die Trennung, der Zerfall, die Auflösung, die Essayistik, selbst jene der Wissenschaften, 101 deren gesamte Kausalität von Strauß in ihrer 98 99
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Goodman (1998) S. 258. Es ist sehr bezeichnend, wenn gerade an dieser Stelle bereits die Naturwissenschaft sich der Lesbarkeit verweigert, indem sie behauptet: »Wissenschaft ist kein ·Text'. Die Naturwissenschaften sind mehr als ein Reservoir an Metaphern ... " Sokal / Bricmont (2001 ) S. 234. Siehe dazu auch: Jacques Derrida (1966): »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen«, in: ders. : Die Schrift und die Differenz. S. 422-442. Walter Rügert machte bereits 1991 in Die Vermessung des Innenraums auf einen diesbezüglichen Forschungsbedarf aufmerksam : »Weiterhin ist in der Rezeption eine z. T. starke Divergenz auffallend zwischen dem, was als zentrales Thema in den Texten erkannt wird, und den Gegenständen der Rezeption selbst. Als eines der Hauptthemen gilt die Trennungserfahrung ... Dagegen ist in der Rezeption eine eingehende Beschäftigung mit diesem Thema bisher jedoch völlig unterblieben. " Rügert (1991) S. 8.
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Botho Strauß: Dissipation
literarischen Reflexion einer Absurdität von idealistischen Aporien überführt wird, 102 in der Aufgabe der Kategorien Sinn, Wahrheit und Wirklichkeit, und der Postulierung der temporären Paradoxie, aus primär ästhetischem Interesse, heute als neues Axiom der Wissensgesellschaft einzig sinnvoll scheint. Diese Absurdität des Seins grenzt in seiner Sinnsuche erneut ans Metaphysische, das Strauß in seinen Reflexionen das Andere nennt. 103
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Anstatt diese menschliche Trennungserfahrung als eine prinzipielle Trennung des Menschen vom Sein zu verstehen bzw. die Konsequenzen dieser Trennung zu reflektieren und dies, wie er fordert, zum Haupt· thema zu ernennen, interpretiert Rügert allerdings auch nur Themen (Gewalt, Sexualität usw.). Strauß" Forderung nach einem Ende der Dialektik, wie er sie in Paare, Passanten formulierte, müsste demnach in diese Richtung weiterge· dacht werden. Es bleibt jedoch die Frage, wie sich jemals ohne Dialektik denken ließe, wobei allein diese Frage schon der Beweis ihrer Kontinuität ist. ln den philosophischen Aufsätzen von Habermas ist diese Bezeichnung der erneuerten Metaphysik als das Andere ebenfalls zu finden. »Diese Motive des nachmetaphysischen Denkens, der linguistischen Wende, der Situierung der Vernunft und der Überwindung des Logozentrismus gehören, über Schulgrenzen hinweg, zu den wichtigsten Antrieben des Philosophierens im 20. Jahrhundert. Sie haben gewiß nicht nur zu neuen Einsichten, sondern auch zu neuen Bornierungen geführt. So hat zwar das methodische Vorbild der Wissenschaft die Entwicklung der Philosophie zu einer Fachdisziplin ohne Erkenntnisprivileg gefördert. Auf der anderen Seite hat es jedoch auch einen Szientismus ermutigt, der nicht nur die Darstellung des philosophischen Gedankens schärferen analytischen Standards unterwirft, sondern atemberaubende Wissenschaftsideale aufrichtet- seien es Disziplinen wie die Physik oder die Neurophysiologie, sei es ein methodisches Vorgehen wie das behavioristische. Weiterhin hat die linguistische Wende das Philosophieren auf eine festere methodische Grundlage gestellt und aus den Aporien der Bewußtseinstheorien herausgeführt. Dabei hat sich aber auch ein ontologisches Sprachverständnis herausgebildet, das die welterschließende Funktion der Sprache gegenüber innerweltlichen Lernprozessen verselbständigt und den Wandel der Sprachbilder zu einem poetischen Ursprungsgeschehen verklärt. Heilsam haben wohl die skeptischen Vernunftbegriffe die Philosophie ernüchtert und sie zugleich als Hüterin der Rationalität bestätigt. Auf der anderen Seite hat sich aber auch eine radikale Vernunftkritik ausgebreitet, die nicht nur gegen die Aufspreizung des Verstandes zur instrumentellen Vernunft protestiert, sondern Vernunft überhaupt mit Repression gleichsetzt - um dann fanatisch oder ekstatisch bei einem ganz Anderen Zuflucht zu suchen. " Habermas (1997): Nachmetaphysisches Denken. S. 16f.
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2 Dissipation Der Weg zu den Teilchen
Die Welt zerfällt in Tatsachen. Der Mensch ist eine davon. Ludwig Wittgenstein
Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zer· fallen selbst. Rainer Maria Rilke Jener schmerzhafte Bewußtseinsschub,
den Hof·
mannsthals Lord Chandos zu Beginn des 20. Jahrhun· derts ertrug, da ihm die Wörter, die Dinge in Teile zerfielen, erweist sich am Ende desselben als Gleich· nis des überschwenglichen, des komplexen Begrei· fens. Es ist nicht der Zufall gewesen, sondern »Dissi· pation«, nicht Auflösung, sondern Energiewandel, der zum Aufbau neuer Erkenntnisfelder beitrug. Der Weg zu den Teilchen war unabdingbare Voraussetzung, um Genaueres vom Ganzen zu erfahren. Botho Strauß
Dissipation [zu lat. dissipare] Zerstreuung, Zersplitterung, Zerfall, Zerlegung eines Begriffs in einzelne Teile. Unter dem Titel Dissipation beginnt ein Verfahren, das sich der ästhetischen Reflexion eines Theorieangebots innerhalb des gesellschaftlichen Kommunikationssystems widmet, welches sich in der Folge seiner funktionalen Differenzierung in Subsysteme zum maßlos Disparaten 33
Botho Strauß: Dissipation
(Botho Strauß), zur unerfahrbaren Realität (Max Scheler) wandelt. Eine unerfahrbare Realität, die sowohl die Verständlichkeit der »wirklichen« Welt, als auch das menschliche Vermögen, diese Welt als seine Welt zu begreifen, negierte. Dissipation ist der Weg zu den Teilchen, als unabdingbare Voraussetzung, um Genaueres vom Ganzen zu erfahren. Dissipation ist aber auch der paradoxe Versuch einer operativen Schließung des Gesamtsystems der Gesellschaft auf Basis der Kommunikation mittels der Kunst, speziell: der Literatur von Botho Strauß. 1 Ein auf kommunikationstheoretischer Ebene paradoxer Versuch deshalb, da jene Medien- und Reproduktionstechniken, welche die Literatur von Strauß in ihrer Wahrnehmung im gesellschaftlichen Raum organisieren, identisch zu jenen sind, deren Zugriff angeblich die Straußsehe Ästhetik ebenso wie seine enigmatische Sprache sich verweigert. 2 Dissipation bedeutet somit auch: Entropieerhöhung: 3 Entropieerhöhung, da der Weg zu den Teilchen, den unterschiedlichsten naturwissenschaftlichen, philosophischen Theorien und literarischen Diskursen des komplexen Gesellschaftssystems, welchen Strauß beschreitet, durch die sekundären Umwege zu einem nicht umkehrbaren, einem teilweise nahezu nicht nachvollziehbaren, wird. Selbst der Begriff der Entropie [griech. en >in(nerhalb)UmkehrAnthropologie, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts«, in: ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. S. 122-144. Andreas Englhart stellt diesen Gedanken in das Zentrum seiner sowohl philosophisch als auch literaturtheoretisch Strauß sehr nahe kommenden Dissertation Im Labyr inth des unendlichen Textes: Botho Strauß Theaterstücke1972-1996. Dem Kapitel 1.1.6. Wer spricht? Der Tod des Autors und die Verweigerung einer eindeutigen Perspektive ist Folgendes zu entnehmen: ,,Samuel Becketts >Wen kümmerts wer spricht< gilt ebenfalls für Strauß' >HypochonderCogito, ergo sum, seine Bedeutung." Englhart (2000) S. 45. RU S. 142.
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Anepigraphon - Die Verortung der Schrift im Text
manen als experimentum mundi ist daher gleichzeitig eine Infragestellung der wesentlichen Fundamente allen abendländischen Denkens, nämlich eine Infragestellung des Humanismus. Bei Heidegger findet man den Gedanken, dass es die Kunst sei, die essentiell Humanität darstelle, wodurch der Mensch in Kontakt bliebe mit dem Nicht-Disponiblen, mit dem Unüberwindbaren. Dieser Gedanke scheint sich heute selber, zumindest in der Künstlichkeil der Biotechnik, ad absurdum zu führen, die doch wie kaum eine andere zu unserer zweiten Natur berufen zu sein scheint. Das Gestell macht einigen Angst; doch ausgerechnet die Kunst ist es, die es zur Aufgabe hat, das Gestell in den Text zu übersetzen, es in eine ästhetische Form zu transzendieren. Die Deutung von Strauß und Sloterdijk als Misanthropen 100 ist somit zugleich Endstation und Sehnsucht des Humanismus als Projekt.
100
Reinhard Mohr: »Der antiliberale Reflex", in: Der Spiegel, 39/1999. S. 306f
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4 Die Erde - ein Kopf Literatur über die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt etc. - Biokybernetik und der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus als Paradigmen eines naturalisierten Menschenbildes
Bei Schlegel zuerst: daß es ein noch nicht in Idee und Fiktion auseinanderfallendes Projekt gibt - und die Einheit, die Wechselbeziehung der beiden auch nur als Projekt weiterzuführen ist; daß nur Verbindungen zählen, Pässe, nicht der fertige, durch die Form getilgte Stoff_ Formen sind ebenso auch Bewegungsformen_ Oft geschehen sie im Bereich der literarischen Materie, wo der Beobachter-Leser nicht zugleich Schönheit und Eile eines Gedankens, einer Chiffre bestimmen kann - beides ist so ineinander übergehend, daß man entweder die Schönheit oder die Flüchtigkeit zum Erkenntniswert nimmt. Etwas ist schön: so schnell es sich innerlich auch bewegt, es ruht. Etwas ist flüchtig: so schön es auch sein mag, es fliegt vorüber. Formen sind Nervenformen, Gittersprünge, Gedächtnisläufe, organische, technische Morpheme, die die Trennung von Innen und Außen, von Materie und Geist, von Empirie und Imagination aufheben; Mikroprozesse, Systemverwebungen, die insgesamt von keiner Ursache herrühren und zu keiner Schlüssigkeit tendieren. 1
1992 erschien unter dem Titel Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie jener kleine Prosaband von Botho Strauß, in dem er die Dichotomien der großen Denker des Humanismus: Realität und Fiktion, Innen und Außen, Materie und Geist, Empirie und Imagination mitsamt der
BE S. 60f.
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Die Erde - ein Kopf
ganzen Geschichtlichkeil an sich als falsch gedacht in Frage stellte und ihnen einzig die Idee entgegenhielt: 2 Vielleicht waren es Anzeichen einer tieferen Schwächung und vielleicht war diese gemeint, wenn er angab, unter •zunehmender Synchronizität' zu leiden. Weitgehende Auflösung von Gegensätzen, auch des sogenannten persönlichen Geschmacks. Das Ziel mochte sein: Verschwommenheit neu zu gewinnen, ähnlich der die das Kind erlebt, bevor ihm Zeit, Ding, Gesicht geschieden sind. Oder wie üppige, ziellose Vermehrung von Empathie, von ldentifikationsquellen überschwemmt .. . Wer wäre er, wenn nur Entsprechungen, einmal kein Gegensatz? Er war jedenfalls bereit, der •Schwächung' nichts entgegenzusetzen - außer seinem empfindlichsten Bemerken. Wie Forßmann, der Arzt, einst seinen Katheder, so wollte er nun ebenfalls im Selbstversuch die Sonde des Gedankens einführen ins Herz der Vernunft. 3 In dem kybernetischen Selbstversuch von Strauß war eine grundlegende R ech tfertigung für das Vorhandensein dieser Dichotomien nicht l änger zu erbringen. Diese m ussten vielmehr bei aller Differenzier theil- und so näherte sich Strauß auf verdächtige Weise im Anschluss an die A rgumentation der rezipierten Gehirnforschung einem erneuten Monismus4
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Strauß scheint sich durch die Setzung der Idee gegenüber dem Nihilismus jeglicher Erkenntnistheorie systematischen Philosophierens in die Tradition Nietzsches zu begeben. Die Parallelen werden offensichtlich , wenn Nietzsche Von den ersten und den letzten Dingen schrieb: »Kein Innen und kein Außen in der Welt. - Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff •Innen und Außen, auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen mit tiefen Gefühlen komme man tief ins Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse komplizierte Gedankengruppen regelmäßig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der •tiefe, Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das s t a r k e Gefühl übrig und dieses verbürgt nichts für die Erkenntnis als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist. « Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (1993) S. 27f. BE S. 45. Konträr zu diesem Monismuskonzept schreibt Strauß allerdings ebenfalls in der Beginnlosigkeit: .. will einer etwas gläubig und rational zugleich wissen, so wird er zu spüren bekommen, daß beides nicht auf eine Wurzel zurückzuführen ist, sondern daß - gegen die Lehre der Monisten - uns zwei Prinzipien eingegebenen sind. Das Eine, das Einzige, das Zweitlose gibt es nur im Wissen des Glaubens. Dem analytischen
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irgendwo, unter der eigenen Schädeldecke oder durch den eigenen Gedanken, wieder zusammengeführt werden. 5 In seiner neuronalen Ästhetik versuchte er, Gehirn und Wahrnehmungsprozesse wieder miteinander in Verbindung zu setzen, ohne dabei den Fehler zu begehen , den Wahrnehmungsvorgang nur aus der Beobachterperspektive zu betrachten. Statt dessen versuchte er durch seine subjektiven Beschreibungen zu zeigen, dass sowohl Innen- als auch Außenwelt gleichermaßen konstruiert waren. Und wie zum Beweis verkündet er mit speziellem Verweis auf die Namen von Humberto M. Maturana, Francisco J. Varela, Heinz von Foerster und Siegfried J. Schmidt die von ihnen gewonnenen Erkenntnisse innerhalb der Biokybernetik: Unser Gehirn besitzt keinen unmittelbaren Zugang zur Welt. Es ist vollkommen auf sich selbst bezogen. Es liefert die selektiven Muster, konstruiert die Modelle und Invarianten, das gesamte evolutionsgeprüfte Programm zur Herstellung einer uns verfügbaren Wirklichkeit. Erkennen hat nicht mit den Gegenständen zu tun, es ist effektives Handeln, rastloses Erschaffen. Was wir als bewußte Wahrnehmung empfinden, ist in Wahrheit die Fokuseinstellung unseres Gehirns auf eigene, in einem bestimmten Augenblick besonders stimulierte interne Prozesse. Isolieren, Scharfstellen, Stabilisieren. Ob ich einen Gegenstand in Betracht nehme, entscheidet eine vorwillentliche Reizung, ein
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Wissen kann es nicht in Aussicht stehen. Das Vielfältige strebt keiner Lösung entgegen." BE S. 30 Detlef Linke, Professor für Klinische Neurophysiologie und Neurochirurgische Rehabilitation und Mitglied des neurowissenschaftlichen Beirats des New York Psychoanalytic Institute, schreibt bezüglich dieser von Strauß angedachten Problematisierung der menschlichen Selbsterkenntnis in seinem Essay Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren: "Noch wissen wir nicht, wie es uns die elektromagnetischen Geschehnisse, die an den Eiweiß-Fett-Strukturen der Nervenzellmembranen erzeugt werden, gestatten, dass in unserem Kopf ein Licht angezündet wird, das wir dann zumeist als ·draußen· erscheinend erfahren. An dieser Stelle müsste eine experimentelle Hirnforschung versuchen, das Licht des Bewusstseins auszuschalten, ohne das Bewusstsein insgesamt auszuschalten. Ein derartiges Experiment bei einem anderen Menschen durchzuführen, erscheint nicht nur in ethischer Hinsicht problematisch. Vor allem ist völlig unklar, wie man dabei vorgehen sollte. Es müsste also sehr viel ausprobiert werden. Das bedeutet, dass man auf einen Mediziner angewiesen wäre, der im Selbstversuch mit seinem Bewusstsein experimentiert, so wie es der Herzspezialist Werner Forßmann mit dem Herzkatheter 1929 an seinem Herzen gemacht hat (wofür er 1959 den Nobelpreis erhielt). Interessanter Weise gibt es bereits viele Künstler, die derartige Experimente vorwegnehmen und im Werk wie im Selbstversuch Fragen der Hirnforschung nach der Beziehung von Erscheinen und Verborgenheit, von Bewusstseinshelle und mitunter auch Unzulänglichkeiten des eigenen Handelns aufwerfen oder gar beantworten. " Linke (2001) S. 17.
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Die Erde - ein Kopf enzymatischer Befehl. ... Alles, was überhaupt ist, geschieht unter der Schädeldecke.6
Isolieren, Auswählen, Scharfstellen, Stabilisieren. Dies ist nicht nur der interne Prozess des Gehirns, das versucht eine Welt zu erfassen, indem es sie, wenn auch in Kopplung mit den Sinnesorganen und dem Bewegungsapparat, so doch im Wesentlichen in Autopoiese durch sich selbst erschafft. Es ist zugleich die von Strauß exemplifizierte Auflösung der Begrifflichkeit, der res extensa, sowie des Begreifens der res cogitans und es ist ebenfalls das Prinzip seiner eigenen Betrachtungen, seines Denkens, seiner Literatur. Es ist ein Prinzip gegen alle Prinzipien, wie Strauß es im Bezug zu Schlegels Projekt für den Beobachter-Leser erläutert, das zu nichts Ursächlichem führt und auch zu keiner Schlüssigkeil mehr zu tendieren scheint. Statt einem geschlossenen gedanklichen System lässt Strauß in allem nur noch fraktale, stark diffundierende Strukturen erkennen/ Reflexionen über Punkt und Linie. Er selbst nennt es eine Artflicking araund des Geistes, 8 indem er ständig das eigene Programm ändert, 9 während er seine Gedanken in jeder Richtung versucht zu erproben, ohne dass er das Kriterium der Analytizität oder ein apriorisches Wissen voraussetzt. In ihnen sieht er nicht mehr als eine epistemische Illusion, die er durch die Morphogenese der Kunst, welche er in der Beginnlosigkeit immer wieder literarisierte, überwinden will: Jede Form für das Unformbare, das sich nur ausbreitet, um die unbekannte, unwiderstehliche Frequenz wiederkehrender Motive zu ermöglichen, jeder Versuch, dem Fleck und der Diffusion eine andere Form aufzuzwingen, würde den sofortigen Sturz der gesamten Schwingung, den Abbruch der Lebenslinie zur Folge haben . 10
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BE S. 10f. BE S. 8. Vgl.: BE S. 125. Der Neuropsychologe Damasio bezeichnet dieses Bewusstsein - ähnlich wie Strauß - als eine Art »Film-im-Gehirn«, betrachtet die einzelnen Sequenzen selbst jedoch nicht als ästhetisches Ereignis, sondern sieht sich als Wissenschaftler zumindest zwei Problemen gegenüber: »der Frage, wie der Film-im-Gehirn erzeugt wird, und der Frage, wie das Gehirn das Gefühl erzeugt, dass es einen Eigentümer und Beobachter dieses Films gibt. " ln diesem Kontext schreibt er: " Diese beiden Fragen sind so eng miteinander verwandt, dass dieses in jenem enthalten ist. Tatsächlich läuft die zweite Frage darauf hinaus, wie das Auftreten eines Eigentümers und Beobachters des Films innerhalb des Films bewerkstelligt wird. Dabei beeinflussen sich die physiologischen Mechanismen, die dem zweiten Problem zugrunde liegen, die Mechanismen, die für das erste zuständig sind. " Damasio (2000) S. 23. BE S. 56.
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Jedes Modell, jedes System als festgeschriebene Form war demnach Stasis bzw. führte direkt zum Ende einer diffundierenden Frequenz. Die schwingende Lebenslinie wurde durch sie zur iterationslosen flatline. Dem Geist hingegen in der beschriebenen Linie zu begegnen, heißt ihm ins Unformbare zu folgen, heißt »ständig das Programm wechseln« 11 und somit zu versuchen, dem Determinismus zu entkommen. »Der Geist besteht aus Entgleiten ... vom Hundertsten ins Tausendste ... «. 12 Nach Strauß wird dieses Entgleiten, wie es in Niemand anderes heißt, sogar zum »Grundspruch des Künstlers«, 13 der das »Dickicht der Ret1exionen und Ausgesprochenheiten, das er im Einzelnen gar nicht bemerkt, sondern unwillkürlich seinem Stoff einformt«, zu differenzieren beginnt. 14 Später nannte er auch seine Gründe: Er erschrak inzwischen vor den meisten Gedanken allein ihrer Plausibilität wegen. Wäre so manches nicht bis zum Ersticken komplett und zugespitzt dahingeschrieben, er hätte gewiß beim Lesen leichter atmen können, hätte hin und wieder "es öffnet sich" sagen dürfen statt abgerichtet immer nur »es stimmt" . Daß man bereit war, für eine gewisse Aufwallung von Klarheit, ja für eine einzige blutige Folgerichtigkeit ein ganzes Bündel, ein lebendiges Gemenge von mit aufsteigenden Gedanken zu unterdrücken, hinzuopfern, das schien ihm doch zu beweisen, daß uns keineswegs der gesunde, sondern der begradigte Menschenverstand regiert. Erkenntnisse aber waren das Lose selbst, entstiegen aus dem Rhythmus der Gedankenflucht, einem subideellen Geistesleben, in dem weder die eine noch die andere Auffassung sich halten oder fixieren ließ. Kaum ein Satz, kaum eine Wendung in der Sprache wohldurchdachter Mittei· lungen, etwa in Zeitungs- oder Zeitschriftenaufsätzen, die ihm nicht auf An11 12 13 14
BE 5. 125. BE 5. 48. NA 5. 174. Noam Chomsky verweist in seiner Arbeit über Sprache und Geist auf ein Zitat der russischen Formalisten: " Menschen, die am Meer leben, ge· wöhnen sich so sehr an das Rauschen der Wellen, daß sie es nicht mehr hören. Aus demselben Grund hören wir kaum jemals die Wörter, die wir äußern ... Wir sehen uns an, aber wir sehen uns nicht mehr. Unsere Wahrnehmung der Welt ist dahingeschwunden; was geblieben ist, ist bloßes Erkennen." Chomsky folgert daraus die Bedeutung des Künstlers, der das längst Selbstverständliche in die »Sphäre neuer Wahrnehmung" rückt. Chomsky sieht in diesem Kontext eine Analogie zu dem größten Fehler der klassischen Philosophie des Geistes, sowohl der rationalen als auch der empirischen, die davon ausgeht, »daß Erklärungen t ransparent sein müssen und sich nicht zu weit von der Oberfläche entfernen dürfen. " Die Literatur von Strauß ist demnach die konsequente Negation dessen, was Chomsky als nicht weiter in Frage gestellte Annahme der Möglichkeit, dass die Eigenschaften und Inhalte des Geistes der Introspektion zugänglich seien, bezeichnet. Chomsky (1970) S. 46f.
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Die Erde - ein Kopf hieb das Abgegriffene einer ganzen Denkart offenbarten; kaum etwas, das er nicht auf schmerzliche Weise als unterpoetisch und myzellos ausgedrückt empfand und als lineare Untat verabscheute. Nie war ihm dies unausgesprochen mittönende »bekanntlich« fast aus jedem Sagen, seine Öde und Gehabtheit anzeigend, so auffällig entgegengetreten als gerade zu einem Zeitpunkt, da die Erschütterungen jahrzehntealter Gewißheiten und ein bewegtes Weltgeschehen eigentlich verlangt hätten, daß man seine Gedanken in jeder Richtung neu erprobt. 15 16
»I unsettle all things (Emerson)«. »Ich lockere alles, was ist. Ich mache das Bestehende unbefestigt. Ich verunstete alles. Ich enthebe, ich entrücke,
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BE S. 17. Doch während man sich in der bisherigen Strauß-Forschung durch seine Gedankenflucht, mit der er versuchte der fragmentisierten Textur der Welt, zu der auch er zählte, gedanklich in jede Richtung zu folgen, lediglich stets erinnert fühlte an den Tod des Autors (siehe dazu die kritischen Anmerkungen von Hars [2001] im Kapitel 2: ·Der Tod des Autors· - remixed. S. 58-65 .) bzw. wo man sich dessen Todes schon gar nicht mehr erinnerte, nur noch das Verschwinden des Erzählers "hinter den Strukturen und den vielfach gebrochenen Perspektiven der Wiedergabe« (Eckhoff [1999] S. 6.) bemerkte, schrieb Wittgenstein im Vorwort zu seinen Philosophischen Untersuchungen, in denen er sich als Philosoph ebenfalls auf sprachlicher Ebene mit dem Begriff der Bedeutung, des Verstehens, des Satzes, der Logik, den Grundlagen der Mathematik und der Bewusstseinszustände auseinandersetzte: " Jch habe diese Gedanken alle als Bemerkungen, kurze Sätze, niedergeschrieben. Manchmal in längeren Ketten, über den gleichen Gegenstand, manchmal in raschem Wechsel von einem Gebiet zum anderen überspringend. Meine Absicht war es von Anfang, alles dies einmal in einem Buche zusammenzufassen, von dessen Form ich mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Vorstellungen machte. Wesentlich aber schien es mir, daß darin meine Gedanken von einem Gegenstand zum anderen in einer natürlichen und lückenlosen Folge fortschreiten sollten. Nach manchen mißglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, daß mir dies nie gelingen würde. Daß das Beste, was ich schreiben konnte immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; daß meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte sie, gegen ihre natürliche Neigung, in einer Richtung weiterzuzwingen. - Und dies hing freilich mit der Natur der Untersuchung selbst zusammen. Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen . ... Die gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen. Eine Unzahl dieser waren verzeichnet, oder uncharakteristisch, mit vielen Mängeln eines schwachen Zeichners behaftet. Und wenn man diese ausschied, blieb eine Anzahl halbwegser übrig, die nun so angeordnet, oftmals beschnitten, werden mußten, daß sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben konnten. - So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album." Wittgenstein (1997) S. 231f.
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ich entstelle.« 17 In der Beginnlosigkeit jedoch löst sich selbst dieses indexikalische Ich schließlich zunehmend auf und wird wesenlos. Dem entgegen stände, die Forderung wieder alles auf einen Punkt zu bringen, ... das Ausdrückbare in seiner Gedankenreinheit. Zwangsneurose des klaren Denkens. Der Mann muß sich mehrmals am Tag die Hirnlappen waschen. Und spürt's doch bei jedem klaren Satz, der herauskommt: wie schmerzlich er das Schmutzig-Wesentliche mit all seinen Lebenswucherungen entbehrt. Viel unsinniger werden . Jedes weitere Verstehen wird turbulent. 18
Allerdings ist diese Turbulenz des Entgleitens in der Reflexivität von Innenwelt und Außenwelt in der Hypostase allgewaltiger Information, in der auch die Welt ebenso wie das Ich nur noch ein Wahrnehmungspartikel neben Tausend gleichberechtigten anderen ist, und welcher Strauß in der Beginnlosigkeit mit »Gedankenflucht« 19 entgegnet,20 bei eindringlicher Analyse, die Deskription einer an sich fragilen ästhetischen Erkenn tnistheorie, die sich durch ihre hybriden Datenkonfigurationen in einen erkenntnistheoretischen Nihilismus wandelt. Entgegen dieser sekundären Welt fragt Strauß: Ich soll ein Fester sein? Wer wäre dieses Ich? Die Informationen existieren oh· ne Ich. Das Wissen nicht. 21
Strauß versucht daher, diese Erkenntnisse nicht mehr im Kontext der empirisch-wissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen des Radikalen Konstruktivismus, die sich im Grunde auf neue neurobiologische Erkenntnisse über das menschliche Gehirn stützen - wie die Überschrift vielleicht hätte suggerieren könnte - ebenso wie jene der Astrophysik 17 18 19
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NA S. 174. PP S. 190f. Das Wort Gedankenf lucht ist wahrscheinlich deshalb so tref fend, da selbst der Kybernetiker Maturana behauptete, beim Herantreten an die Folgen der grundsätzlichen Rekursivität (Rückbezüglichkeit) allen Erkennens (Denkens), die Flüchtigkeit eben jenes erkennen zu müssen, so dass er schließlich nicht einmal der Frage nach der Normalität seines Geistes entkam. Vgl.: Maturana (1987) S. 12. Der Philosoph Dieter Henrich spricht hingegen einzig von Fluchtlinien, und reduziert das gesamte philosophische Denken der Moderne auf lediglich zwei " letzte Theorien< entweder die Theorie des Geistes oder die der Materie, wodurch er der cartesischen Ontologie jedoch nur eine weitere Spielart hinzufügt, ohne diese in ihrem konzeptionellen Pragmatismus der Trennung von res cogitanslres extensa , Geist/Körper bzw. von body and mind in Frage zu stellen. Vgl.: Dieter Henrich (1982): Fluchtlinien. S. 99ff AW(1999)S. 101.
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und der Chaosforschung, als Input in eine andere Disziplin, sprich in die Literatur aufzunehmen und diese dort als Instrumente der poetologischen Erkenntnis zu erproben, sondern versucht sie als integralen Bestandteil einer literarischen Morphogenese der Kunst, die den Menschen als ein Seiendes, das sich zu sich selbst verhält, reflektiert. 22 Seine Literatur gerät angesichts dieser Strukturkopplung in die Gefahr einer ausschließlichen, teils strengen, teils verspielten Selbstbezüglichkeit, die in ihrer Idee das Einfache und Eindeutige durch die Poetologie der Worte zerfallen lässt und durch fraktale Strukturen ersetzt.- Aber handelt es sich dabei wirklich um eine Gefahr? »Wir wissen es nicht, wir spielen es«, 23 antwortet Strauß in Niemand anderes und argumentiert später mit Maturana: Nur was auf sich selbst bezogen sei, so behauptete er, lehre die kybernetische Biologie, könne seine komplexe Umwelt meistem. 24 Humberto M. Maturana, Physiologie-Professor der Universität Illinois hatte im November 1970 für das Biological Computer Labaratory einen Forschungsbericht verfasst, der innerhalb kürzester Zeit von einer breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit mit enormem Interesse diskutiert wurde. Maturana versuchte, in seinem Bericht Biology of Cognition eine neue erkenntnistheoretische Position zu formulieren , »die sowohl ein epistemologisches Verständnis des Phänomens der Kognition ermöglicht als auch eine adäquate Erkenntnis der funktionalen Organisation des erkennenden Organismus, die Phänomene wie begritniches Denken, Sprache und Bewußtsein hervorbringt.,,zs Strauß hingegen schreibt in Niemand anderes 1987, im selben Jahr, in dem Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus von Siegfried J. Schmidt herausgegeben wurde, auf den Strauß erst in der Beginnlosigkeit explizit verweist, gegen die erkenntnistheoretische Position des Radikalen Konstruktivismus, der versucht, mit empirischen Sinnesdaten eine Welt zu konstruieren, deren empirisch ontologische Existenz sie ja gerade negiert:
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Man könnte diese Problematik übertragen auf die Philosophie, mit den Standpunkten der reaktiven Philosophie (Habermas/Plessner), die auf reinem Faktenwissen basiert, gegenüber einer integrativen Philosophie (Gehlen), die den Versuch unternimmt, Wissenschaft zu vereinen. Da· bei wird deutlich, dass die Kollation der Straußsehen Textur zumindest die Vermutung zulässt, dass Strauß weniger als Literat, denn als Philo· soph gelesen werden müsste. - Wobei zum jetzigen Zeitpunkt noch völ· lig unklar ist, wie sich eine literarische von einer philosophischen Les· artunterscheiden ließe. NA S. 144.
AW (1999) S. 29. H. R. Maturana (1970) S. 33, zit. in: Schmidt (1987) S. 258.
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Botho Strauß: Dissipation Ich denke häufig, daß wir das entschlüsselte Leben umgehend in technische Metaphorik neu verschlüsselt haben. Die Vorstellung Descartes· von der Maschine Tier kehrt eigentlich in der kybernetischen Symbolik wieder. Anderes als einen komplexen Informationsapparat haben wir im Grunde des Lebendigen nicht erkannt. Unsere Wahrnehmung wird einseitig bestimmt von den Modellen, die wir technisch gerade selber herstellen und vorrangig gebrauchen. So folgt das mechanische, das organische, das informationstheoretische Modell. Und jedesmal schlüssig und unwiderleglich, bis zum nächst klügeren Modell. Die Episteme kommen und gehen. Man erkennt aber immer deutlicher das Vorläufige, das Widerrufliche und Ablösbare an jeder Bewußtseinstotalen. 26
Im wissenschaftlichen Diskurs schrieb man aber dennoch Maturanas Biology of Cognition die Bedeutung einer Neuformulierung der biologischen Phänomenologie zu, die in der Folge ihrer grundsätzlichen Rekursivität allen Erkennens, die Kognition an sich zu einem rekursiven Phänomen erklärte, indem sie die unmittelbare Wahrnehmung der Welt durch das Subjekt negierte und die ursprüngliche, besser: unreflektierte Möglichkeit des direkten Zugangs zu irgendeiner Welt, einer Realität für den Menschen nun auf immer und ewig verschloss. Die holistische Annahme, dass der Mensch nicht in der Welt lebt, die er als Medium von seinem Körper unterscheidet, sondern mit dieser Welt in Autopoiese, zu der sein Körper ebenso wie sein Selbst gehören, führte in der Logik ihrer Anwendung auf das erkenntnistheoretische Subjekt-Objekt-Problem zu dessen Auflösung. Es bewies sich somit, dass menschliches Erkennen in seiner Qualität und in seinem Umfang als ein Phänomen in einem chemikophysikalischen Universum (Medium) vollständig abhängig ist von den Selbstorganisationskapazitäten dieses Universums, von den anatomischen und funktionalen Eigenschaften der autopoietischen Systeme, die in diesem Univer· sum entstehen können und als deren eine Realisierung auch der Mensch angesehen werden muß und schließlich abhängig ist von den Eigenschaften, die diese Systeme in ihren Ontogenesen und Phylogenesen entwickeln ...
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Diese Einsicht bewirkte zugleich eine wissenschaftliche Umorientierung, die jenseits der traditionellen Kriterien: Objektivität, Falsifikation, Verifikation, Adäquatheit und Approximativität lag, und an deren Stelle eine
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NA S. 144. Rusch (1985) S. 210.
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kogni tive M ethodologi e gesetzt wurde, die ohne externe Ontologie auskommen musste. 28 Innerhalb der Kybernetik w urde Maturanas Biology of Cognition als »genialischer Welt- und Seinsentwurf« gefeiert, 29 , ein Welt- und Seinsentw urf, der einzig durch den V erwei s auf L udwig Wittgensteins
Tractatus logico-philosophicus r elativi ert wurde, 30 in dem Wittgenstein schrieb: Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können. Diese Bemerkung gibt den Schlüssel zur Entscheidung der Frage, inwieweit der Solipsismus eine Wahrheit ist. Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich. Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen der Sprache (der Sprache, die alleine ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten. Die Welt und das Leben sind Eins . (Der Mikrokosmos.) Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht. Wenn ich ein Buch schriebe »Die Welt, wie ich sie vorfand", so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht, etc., dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, daß es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: von ihm allein könnte nämlich in diesem Buch nicht die Rede sein. Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt .... Hier sieht man, daß der Solipsismus, streng durchgeführt , mit dem reinen Realismus zusammenfällt. Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität. Es gibt also wirklich einen Sinn, in welchem in der Philosophie nichtpsycholo-
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Vgl.: Schmidt ( 1985) S. 43. Roth (1987) 257, in: Schmidt (2000) S. 256-286. Roth schreibt nur einige Zeilen zuvor: »Die Faszination der Theorie der beiden Autoren [Maturana/Varela] liegt einerseits in ihrem ungeheuren Anspruch: Hier wird - häufig auf ein paar Seiten zusammengedrängt eine neuartige Erklärung der Phänomene des Lebens, der Funktion des Nervensystems, der Wahrnehmung, des Denkens, des Ich-Bewußtseins, der Sprache, der Evolution, der wissenschaftlichen Methode und vieles mehr angeboten, die - wenn dieser Anspruch zu Recht besteht - eine wirkliche Revolution der Biowissenschaften wie auch der Kognitionsund Kommunikationswissenschaften einzuleiten vermag. Zum anderen wi rd die Theorie in einer Form präsentiert, die logisch-begriff liche Prägnanz mit großer inhaltlicher Unbestimmtheit verbindet. " Diese Faszination für Form, ebenso wie für die große inhaltliche Unbestimmtheit wandelte sich seltsamer Weise auf poetologischer Ebene im Bezug auf Botho Strauß zum Vorwurf. Roth (1987) 257, in: Schmidt (2000) S. 256-286.
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Botho Strauß: Dissipation gisch vom Ich die Rede sein kann. Das Ich tritt in die Philosophie dadurch ein, daß »die Welt meine Welt ist". 31
Die Welt existierte nach Maturanas Kybernetiktheorie nicht mehr in einer ontologischen Außenwelt, sondern nur noch als neuronale Repräsentation, als Innenwelt der Außenwelt. Sie existierte als eine Welt, die gedacht bzw. vom materiellen Gehirn in einer synthetischen Eigenleistung erzeugt wurde. Sie existierte als ein Konstrukt, ein Korrelat, dessen Deutung und Bedeutung zum hermeneutischen Problem allen Erkennens und erst recht eines sich selbst bewussten Geistes wurde. Das von ihm diesbezüglich bereits in den letzten Zeilen seiner Biolology of Cognition entworfene Konzept einer ästhetischen Verführung, das in seiner Konsequenz ein »Multiversum der Wirklichkeiten«32 zur Folge gehabt hätte, blieb bei der Suche nach einer eindeutigen Lösung dieses Problems fast zwangsläufig unbeachtet. 33 So griff auch 1972 der Kybernetiker Heinz von Foerster die gesamte Problematik nur verkürzt auf, als er die recht eindeutige Forderung an die Wissenschaft stellte: Eine Beschreibung des Universums bedarf einer Beschreibung des »Beschreibers", also des Beobachters, dessen Beschreibung als Lebewesen den Biologen zufällt. Der »Beobachter" - ein Lebewesen-in-der-Sprache - wird in den Mittelpunkt jeden Verstehens und jeder Realitätsauffassung gestellt. 34
Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus35 hingegen sprach diese Meta-Kompetenz der Beschreibung nicht nur den Biologen zu, sondern transferierte spätestens mit dem Jahr 1987 für einen Massendiskurs die Themen Selbstreferentialität, Selbstorganisation, organisationelle Geschlossenheit, Strukturdeterminiertheit, autopoietische Systeme, neuronale Netzwerke, Evolution, Autonomie und Kognition in die Zuständigkeitshereiche der interdisziplinären Gebiete der Psychologie, der Soziologie, der Linguistik, aber auch der Literatur- und der Kunstwissenschaft,
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Wittgenstein (1997) S. 67f. Siehe dazu: Das Multiversum der Wirklichkeiten. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana über den Terror der Wahrheitsfanatiker und die Sehnsucht nach Gewissheit, in: Frankfurter Rundschau, 231/2002. S. 19. Maturana/Pörksen (2002) . Heinz von Foerster zit. in: Maturana/Varela (1987) S. 13. Siegtried J . Schmidt gab 1987 einen Sammelband unter diesem Titel heraus, in dem er versuchte, die empirischen Grundlagen, Konzepte und Konsequenzen der konstruktivistischen Kognitionstheorie zusammenfassend darzustellen und einen ersten »historischen" Überblick zu geben. Schmidt (2000).
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welche Strauß, erst zeitlich um weitere fünf Jahre verzögert, in den Reflexionen der Beginnlosigkeit fortsetzte :36 Licht soll es ebenfalls am ersten Tag der Schöpfung nicht gegeben haben. Der Beobachter fehlte, das lichtende Auge. Denn Licht existiert nur für jeman· den. • Die elektromagnetische Strahlung an sich ist schwarz. Gott sagte wann? Nicht vor dem fünften Tag, nicht vor der Geburt des ersten Lebewesens: es werde Licht und schuf das Auge. Das nennen sie den circulus creativus: daß statt etwas uns ein chaotisches Wehen von Teilchen und Strahlen umgibt, das erst in der Ordnungszentrale des Nervengeflechts zu Bild, Gestalt und Bedeutung gelangt. Alle physikalischen Gesetze bedürfen des Beobachters, der sie formuliert. Ein Universum, das den Menschen nicht hervorgebracht hätte, könnte gar nicht existieren. Es wäre Chaos geblieben, universelles Allerlei. ** Zweifellos haben wir es hier mit einem harten Solipsismus zu tun, bei dem die Rehabilitierung des Menschen - genauer gesagt: des Neocortex - als Krone der Schöpfung unvermeidlich scheint. Mit anderen Worten: wir betun uns nicht, es ist tatsächlich von absolutem Rang, was wir erkennen, wie wir entscheiden. Es ist immer der Königsweg, den der Mensch beschreitet. Gottes einzige Zeugen sind wir. * Vgl.: hier und im folgenden die Arbeiten zu autopoietischen Systemen von Heinz von Foerster, Humberto Maturana, Francisco Varela, Ernst von Glaserfeld u. a., sowie Siegtried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt 1987 •• John Wheeler, Steven Hawking
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Botho Strauß verweist an dieser Stelle gleichzeitig auf zwei unterschiedliche Diskurse: den Radikalen Konstruktivismus und auf Stephen Hawkings populärwissenschaftliche Versuche, kosmologische Denkmodelle der Astrophysik wiederzugeben. Beide verbindet Strauß im Prinzip des harten Solipsismus?s Doch im Gegensatz zu der von Strauß gewählten Zitation Hawkings schrieb dieser schon 1988, Strauß hätte dies folglich
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Lutz Hagestedt hinterfragt in seinem Essay Literatur als Erkenntnis kritisch, ob Strauß nicht fehlgeht in seinem Anspruch, neues Wissen in die Kunst der Gegenwart zu integrieren bzw. dies zu verarbeiten. Hagestedt bezeichnet es als einen "problematischen Aspekt