Die Urkunde: Text – Bild – Objekt 9783110649970, 9783110643961

The European Middle Ages are generally considered to be the “age of the charter,” but there are also charters of various

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German Pages 437 [438] Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Die Urkunde. Text ‒ Bild ‒ Objekt. Eine Einführung
Teil 1: Urkunden als Quellen und als Rechtsmittel
Jüdisches Urkundenwesen und christliche Obrigkeiten im spätmittelalterlichen Österreich
Datamining in Urkunden
Mit brief und insigel. Reflexe von Beglaubigungsstrategien in mittelhochdeutschen Romanen
Papstbriefe und Papsturkunden. Abgrenzungen und Überschneidungen im früheren Mittelalter
Die ‚Privaturkunde‘ im persisch-islamischen Kultur- und Rechtsbereich. Herausforderungen einer komparatistischen Diplomatik
Teil 2: Urkunden als Schriftbilder zwischen Recht und Repräsentation
Das Erscheinungsbild tibetischsprachiger Herrscherurkunden. Strategien zur Erzeugung von Feierlichkeit
Die sichtbare Macht. Visuelle Signale im Rahmen der kaiserlichen Privilegienurkunde in Byzanz
Graphische Symbole in Bischofsurkunden des hohen Mittelalters
„Same same but different“. Die Werkstatt der Avignoner Bischofsammelindulgenzen
Illuminierte Urkunden. Bildmedium und Performanz
Teil 3: Der Medienwechsel. Urkunden in Kopiaren und auf Stein
Urkundeninschriften und Urkunden imitierende Inschriften. Gestaltungsformen und Gestaltungsmöglichkeiten
Originale, imitierende Kopien, Fälschungen. Die Nutzung und Sicherung mittelalterlicher Herrscherurkunden durch geistliche Empfänger Italiens (10.‒12. Jahrhundert)
Visuelle Rechtsordnung und Herrschaftslegitimation in katalanischen Libri feudorum und Capbreus
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Die Urkunde: Text – Bild – Objekt
 9783110649970, 9783110643961

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Die Urkunde

Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung

Beihefte Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann und Thomas Honegger

Band 12

Die Urkunde

Text – Bild – Objekt

Gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

ISBN 9978-3-11-064396-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064997-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064891-1 Library of Congress Control Number: 2019949566 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band geht zurück auf eine von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierte interdisziplinäre Tagung „Die Urkunde. Text – Bild – Objekt“, die vom 27. bis 29. September 2017 in Bonn stattfand. Ihr vorrangiges Ziel war es, die verschiedenen mediävistisch arbeitenden Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen und die Funktion und Bedeutung von Urkunden oder vergleichbaren Dokumentenarten in unterschiedlichen Kulturräumen und durchaus auch zu unterschiedlichen Zeiten zunächst in Einzelstudien zu untersuchen, um eine Diskussion über die Disziplinen hinweg in Gang zu bringen. Da die Diskussionen und Gespräche auf der Tagung sehr anregend und intensiv waren – wofür ich allen Referentinnen und Referenten sowie Diskutanten noch einmal herzlich danken möchte! – bot es sich an, die Beiträge nun in einem Sammelband zu veröffentlichen, in der Hoffnung, die Diskussionen auch über den Rahmen der Tagung hinaus fortzusetzen auf dem Weg zu einer transkulturell ausgerichteten Diplomatik. Deswegen ist es mir ein besonderes Anliegen, der Fritz Thyssen Stiftung sehr herzlich für ihr Engagement zu danken, die durch ihre großzügige Förderung der Tagung diesen Gedankenaustausch überhaupt erst möglich gemacht hat und darüber hinaus die Drucklegung dieses Bandes mit einem namhaften Druckkostenzuschuss finanziert hat. Den HerausgeberInnen der Reihe, Ingrid BAUMGÄRTNER, Stephan CONERMANN und Thomas HONEGGER, gilt mein besonderer Dank für die Aufnahme des Sammelbandes in die Reihe „Das Mittelalter. Beihefte“, nicht zuletzt, weil dadurch dem Anliegen des interdisziplinären und transkulturellen Austauschs in besonderer Weise Rechnung getragen wird. Und last but not least möchte ich meinem Bonner Lehrstuhl sehr herzlich danken, insbesondere meinen Mitarbeiterinnen Anne Sowodniok und Naemi Winter, die sich mit großem Engagement der Korrektur und dem Satz dieses Bandes gewidmet haben. Bonn, Juli 2019 Andrea Stieldorf

https://doi.org/10.1515/9783110649970-202

Inhalt Vorwort  | V Andrea Stieldorf  Die Urkunde. Text ‒ Bild ‒ Objekt. Eine Einführung | 1

Teil 1: Urkunden als Quellen und als Rechtsmittel  Eveline Brugger  Jüdisches Urkundenwesen und christliche Obrigkeiten im spätmittelalterlichen Österreich | 19 Alheydis Plassmann  Datamining in Urkunden | 41 Andrea Schindler  Mit brief und insigel. Reflexe von Beglaubigungsstrategien in mittelhochdeutschen Romanen | 99 Klaus Herbers  Papstbriefe und Papsturkunden. Abgrenzungen und Überschneidungen im früheren Mittelalter | 125 Christoph U. Werner  Die ‚Privaturkunde‘ im persisch-islamischen Kultur- und Rechtsbereich. Herausforderungen einer komparatistischen Diplomatik | 141

Teil 2: Urkunden als Schriftbilder zwischen Recht und Repräsentation Peter Schwieger  Das Erscheinungsbild tibetischsprachiger Herrscherurkunden. Strategien zur Erzeugung von Feierlichkeit | 163 Andreas E. Müller  Die sichtbare Macht. Visuelle Signale im Rahmen der kaiserlichen Privilegienurkunde in Byzanz | 183

VIII | Inhalt

Irmgard Fees  Graphische Symbole in Bischofsurkunden des hohen Mittelalters | 199 Gabriele Bartz  „Same same but different“. Die Werkstatt der Avignoner Bischofsammelindulgenzen | 233 Martin Roland  Illuminierte Urkunden. Bildmedium und Performanz | 259

Teil 3: Der Medienwechsel. Urkunden in Kopiaren und auf Stein  Franz-Albrecht Bornschlegel  Urkundeninschriften und Urkunden imitierende Inschriften. Gestaltungsformen und Gestaltungsmöglichkeiten | 331 Wolfgang Huschner  Originale, imitierende Kopien, Fälschungen. Die Nutzung und Sicherung mittelalterlicher Herrscherurkunden durch geistliche Empfänger Italiens (10.‒ 12. Jahrhundert) | 363 Susanne Wittekind  Visuelle Rechtsordnung und Herrschaftslegitimation in katalanischen Libri feudorum und Capbreus | 383 Register  | 419

Andrea Stieldorf

Die Urkunde. Text ‒ Bild ‒ Objekt. Eine Einführung Transkulturelle Perspektiven für die Forschung Schlagwörter: Diplomatik, graphische Symbole, Glaubwürdigkeit, Transkulturalität

Das europäische Mittelalter gilt als d a s Urkundenzeitalter, doch auch in anderen vormodernen Kulturen kommen Urkunden (oder ihnen vergleichbare Dokumentenarten) zahlreich vor. Tatsächlich spielt dieser Quellentyp in nahezu allen Themenfeldern und Bezugsräumen mediävistischer Forschung eine wichtige Rolle: Er ist damit geradezu prädestiniert für inter- und transkulturelle Analysen. Umso erstaunlicher ist, dass Urkunden bislang nicht in vergleichender transkultureller Perspektive in den Blick genommen worden sind.1 Der vorliegende Band möchte eine erste Bestandsaufnahme, vor allem aber Anregung für die weitere Beschäftigung mit den Urkunden der Vormoderne über die Disziplinen hinweg sein. Um bei diesem zugleich interdisziplinären und transkulturellen Vorhaben den Austausch zwischen den Disziplinen zu erleichtern, stehen folgende Aspekte im Mittelpunkt, die jeweils in eigenen Themenfeldern bearbeitet werden: Zum einen der Quellenwert von Urkunden in ihrer Funktion als Rechtsmittel, zum anderen das visuelle Erscheinungsbild der Urkunden in Originalen sowie die Übertragung von Urkundentexten in andere mediale Zusammenhänge. Der Band geht zurück auf eine von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung, die unter dem Titel „Die Urkunde. Text ‒ Bild – Objekt“ vom 27. bis 29. September 2017 in Bonn stattfand. Er versammelt zum einen Beiträge aus dem durch Latein als Wissenschafts- und lange fast ausschließliche Urkundensprache geprägten Europa. Mit dem heutigen Spanien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien und England

|| 1 Lediglich ansatzweise werden diplomatische Quellen berührt in Michael BORGOLTE, Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen (Stiftungsgeschichten 4), Berlin 2005; vgl. demnächst den Tagungsband Mark MERSIOWSKY u. Ellen WIDDER (Hgg.), Rituale, Symbole und Willensbildung: Funktionen und Herrschaftspraxis im Spiegel mittelalterlichen Schriftwesens. Kulturhistorische Vergleiche zwischen Europa und Japan (im Druck). || Andrea Stieldorf, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Abt. Historische Grundwissenschaften und Archivkunde, Konviktstr. 11, 53113 Bonn, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-001

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sollen unterschiedliche Regionen mit verschiedenartig ausgeprägtem Urkundenwesen angesprochen werden. Diese traditionelle lateineuropäische Perspektive wird zum anderen erweitert durch den Blick auf andere Urkundenräume: Byzanz, Persien und Tibet; die Tagungsbeiträge zum Osmanischen Reich und zu China konnten leider nicht als Schriftfassungen erstellt werden, gaben jedoch wichtige Impulse für die Diskussionen auf der Tagung. Die Grenzen des Euromediterraneums wurden ebenso wie die Disziplinengrenzen bewusst überschritten, da die angeführten Räume, auch unter dem Begriff Eurasien zusammengefasst, häufig ähnliche Strukturen aufwiesen, sodass die Vergleichbarkeit der Beiträge gewährleistet ist.2 Eine Öffnung gegenüber der ‚klassischen‘ Diplomatik erfolgt zudem durch einen Beitrag aus der judaistischen Mediävistik, der sich zwar auf Mitteleuropa bezieht, aber die Interaktion zwischen christlicher und jüdischer Schriftkultur beschreibt. Weitere Perspektiven werden durch die Einbeziehung der Kunstgeschichte und der mediävistischen Germanistik eingebracht. Urkunden gelten in Anlehnung an die klassische, wenngleich immer wieder modifizierte Definition Harry BRESSLAUS als Dokumente rechtlichen Inhalts, die unter Berücksichtigung bestimmter Vorgaben ausgefertigt und beglaubigt wurden.3 Diese Umschreibung ist, gerade weil sie nicht nur auf den Urkundentext abzielt, sondern seine materielle Manifestation de facto mit einschließt, noch heute tragfähig und auf unterschiedliche Disziplinen anwendbar; tatsächlich greifen einige der in diesem Band versammelten Beiträge explizit auf diese Festlegung oder davon abgeleitete Formulierungen, die um den Dreischritt ‚Rechtshandlung – Form – Authentifizierung‘ kreisen, zurück.4 Was sich hingegen grundlegend verändert hat, ist der Zugriff auf Urkunden als historische Quellen, denn dieser wurde bedeutend erweitert. Natürlich haben etablierte Erschließungsformen wie Edition und Regestierung sowie methodische Herangehensweisen wie Urkundenkritik und Kanzleigeschichte ihre Bedeutung nicht verloren5 – vielmehr können diese durch Ergebnisse aus anderen Disziplinen wie der || 2 Vgl. z. B. Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 157‒168; Barry CUNLIFFE, By Steppe, Desert, and Ocean. The Birth of Eurasia, Oxford/New York 2015, S. 4‒33. 3 Harry BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1912, S. 1; vgl. als Beispiel für jüngere Einführungen z.B. Thomas VOGTHERR, Einführung in die Urkundenlehre, 2. überarb. Aufl. Stuttgart 2017, S. 11‒13. 4 Vgl. den germanistischen Beitrag SCHINDLER, Mit brief und insigel, S. 100; seitens der persischiranischen Diplomatik, WERNER, ‚Privaturkunde‘, S. 143; auch in dem tibetologischen Beitrag SCHWIEGER, Erscheinungsbild, der insgesamt breite Übereinstimmungen in der Phänomenologie zum europäischen Urkundenwesen feststellt, schwingt diese Auffassung deutlich mit. 5 Vgl. Theo KÖLZER, Diplomatik, in: AfD 55 (2009), S. 405‒424; Hubertus SEIBERT, Wozu heute Urkunden edieren? Zum Abschluß des Babenberger Urkundenbuchs, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 64 (2001), S. 295‒308; oder auch Brigitte MERTA, Andrea SOMMERLECHNER u. Herwig

Die Urkunde. Text ‒ Bild ‒ Objekt. Eine Einführung | 3

Kunstgeschichte bereichert werden–, doch werden sie ergänzt und erweitert durch zahlreiche Fragestellungen, die nicht mehr nur vorrangig die Texte von Urkunden zum Untersuchungsgegenstand haben. In Verbindung mit einer spezifischen Gestaltung des Urkundentextes durch die Verwendung klar identifizierbarer Formularteile sowie äußerer Merkmale waren Urkunden Rechtsobjekte, die in ihrer juristischen Bedeutung eindeutig erkennbar sein mussten. Durch sie wurde der schon per se verbindliche Rechtsakt gleichsam materialisiert. Dies führte dazu, dass die Generierung von Rechtskraft und die Einbindung der Urkunden in rechtliche Kontexte ein zentraler Aspekt der Forschung geworden sind, wobei quantitative Ansätze zunehmend eine Rolle spielen; auch der Beitrag von Alheydis PLASSMANN in diesem Band beschäftigt sich mit Fragen aus diesem Umfeld.6 Urkunden werden folglich nicht mehr nur als reiner ‚Textspeicher‘ gesehen, sondern als Objekte rechtlicher Relevanz, die zugleich in einem durch Rituale definierten und symbolisch deutbaren Kommunikationszusammenhang standen und wichtige repräsentative Funktionen sowohl für die Aussteller als auch für die Empfänger übernehmen konnten.7 Dabei konnten die intendierten Ziele weit über den Handlungsrahmen des Rechtsgeschäftes und seiner Beurkundung hinausgehen und auf die Perpetuierung der existierenden Sozial- und Machtbeziehungen zielen8. Neben den äußeren Formen

|| WEIGL (Hgg.), Vom Nutzen des Edierens. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Wien 3.‒5. Juni 2004 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 47), Wien 2005; sowie den interdisziplinären Sammelband Thomas BEIN (Hg.), Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte, Berlin 2015; zur Bedeutung der Kunstgeschichte für Fragen der Kanzleigeschichte vgl. die Beiträge von Gabriele BARTZ und Martin ROLAND in diesem Band mit den entsprechenden Beispielen. 6 Vgl. kritisch Benoît-Michel TOCK, La diplomatique numérique. Une diplomatique magique?, in: Antonella AMBROSIO, Sebastien BARRET u. Georg VOGELER (Hgg.), Digital Diplomatics. The Computer as a Tool for the Diplomatist? Köln u. a. 2014, S. 15‒21, der auf eine behutsame Auswertung drängt; sowie zu Urkunden als Rechtsmitteln Matthias SCHMOECKEL, Dokumentalität. Der Urkundenbeweis als heimliche “regina probationum” im Gemeinen Recht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 96 (2010), S. 186‒225. 7 Hier sei bespielhaft auf die Arbeiten von Hagen KELLER und seiner Schüler verwiesen, wie z. B. Hagen KELLER, Hulderweis durch Privilegien. Symbolische Kommunikation innerhalb und jenseits des Textes, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 309‒321; Christoph F. WEBER, Schriftstücke in der symbolischen Kommunikation zwischen Bischof Johann von Venningen (1458‒1478) und der Stadt Basel, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 355‒383; für die Tibetologie Dieter SCHUH, Politische Implikationen tibetischer Urkundenformeln, St. Augustin 1985; für westfränkische Urkunden vgl. Geoffrey KOZIOL, The Politics of Memory in Carolingian Royal Diplomas. The West Frankish Kingdom (840‒897), Turnhout 2012; die Bedeutung der Empfängerperspektive für die Diplomatik hebt insbesondere der Beitrag von Wolfang HUSCHNER, S. 369–370 in diesem Band hervor. Sie kommt auch im Beitrag von Martin ROLAND zum Tragen. 8 Vgl. Liam MOORE, By Hand and by Voice. Performance of Royal Charters in Eleventh- and TwelfthCentury León, in: Journal of Medieval Iberian Studies 5 (2013), S. 18‒32.

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wird zunehmend aber auch den Produktionsbedingungen oder auch der Überlieferungsgeschichte von Urkunden ein eigener Aussagewert zubilligt; Michael CLANCHY hatte dies mit Blick auf Schriftstücke im Allgemeinen mit der 1979 erstmals formulierten Wendung „making ‒ keeping ‒ using“, die weithin rezipiert wurde, zum Ausdruck gebracht.9 Die Beiträge des Bandes fragen nach dem rechtlichen ebenso wie dem symbolischen Wert von Urkunden, nach den Bedingungen der Urkundenproduktion, nach ihrer Stellung innerhalb der dokumentarischen Überlieferung, nach Kommunikationsprozessen sowie nach sozialen und juristischen Diskursen, die der Verankerung der Urkunden in ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld zugrunde lagen.10 Im ersten Themenfeld Urkunden als Quellen und als Rechtsmittel werden die Urkunden sowohl als Rechtsobjekte als auch in ihrem Quellenwert betrachtet. Eveline BRUGGER zeigt an Urkunden, die im spätmittelalterlichen Österreich aus dem Geschäftsverkehr zwischen Juden und Christen hervorgingen, dass jeweils die Rechtsformerfordernisse berücksichtigt wurden, wie sie im kleinräumigen (christlich) geprägten Umfeld üblich waren. So wurden Juden meist nicht mit ihren hebräischen Namen bezeichnet, sondern mit den alltäglichen Rufnamen, was ihre Identifizierung durch heutige Historiker erschwert. Entscheidend waren folglich die Bedürfnisse der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Dennoch wusste man auch unter Christen um die Bedeutung der hebräischen Unterschrift, sodass diese in besonders wichtigen Fällen, wie etwa bei Urfehdebriefen, auf den deutschsprachigen Urkunden erbeten wurde. Andererseits finden sich auf zahlreichen Urkunden hebräische Vermerke, die dem weiteren Geschäftsgang im Umfeld der jüdischen Kreditgeber dienten. Die Rolle von Urkunden als Objekte kultureller Begegnung durch die Hintergründe der daran beteiligten Parteien, die, wenngleich in unterschiedlicher Weise, auf die textliche und materielle Gestaltung der Urkunde Einfluss nehmen, wird in diesem Beitrag in besonderer Weise deutlich. Auch der Beitrag von Peter SCHWIEGER spiegelt die Bedeutung von Urkunden als Objekte wieder, in denen sich nicht nur einfach kulturelle Austauschprozesse spiegeln, sondern auch die Bedeutung kultureller Ausdrucksformen in Verbindung mit sich wandelnden politischen Machtverhältnissen, wie etwa Untersuchungen zum englischen Urkundenwesen und dem der Normandie unter englischem und französischem

|| 9 Vgl. Michael CLANCHY, From Memory to Written Record. England 1066‒1307, Oxford 1979, S. 25, für die Rezeption des Ansatzes z. B. Thomas HILDBRAND, Herrschaft, Schrift, Gedächtnis. Das Kloster Allerheiligen und sein Umgang mit Wissen in Wirtschaft, Recht und Archiv. 11. bis 16. Jahrhundert, Zürich 1996. 10 Vgl. als Beispiel für diesen umfassenden Zugriff den Sammelband Karl HEIDECKER (Hg.), Charters and the Use of the Written Word in Medieval Society (Utrecht studies in medieval literacy 5), Turnhout 2000.

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Einfluss deutlich zeigen.11 Urkunden als Zeugnisse kulturellen Austausches aber auch herrschaftlicher Übernahmen und deren Ausdrucksformen sind ein Aspekt, der eine weitere transkulturelle Erforschung lohnen würde, nicht nur, weil hier Transferprozesse besonders sichtbar werden, sondern auch, weil die Urkunden in ihrem rechtlichen, politischen und sozialen Umfeld verankert werden mussten und solche kritischen Punkte die Bruchstellen besonders offenlegen.12 Wie tiefgreifend Urkunden im gesellschaftlichen Bewusstsein der jeweiligen Zeit eingebettet waren, zeigt Andrea SCHINDLER am Beispiel ausgewählter mittelhochdeutscher Romane. Obwohl Urkunden und Siegel selten handlungsleitende Funktionen übernehmen, wenngleich dies durchaus vorkommt, so zeigt sich ihre Bedeutung und weitreichende Verankerung in der mittelalterlichen Adelswelt besonders an der breiten metaphorischen Verwendung von Begriffen aus diesem Wortfeld. Hierbei wird deutlich, dass sowohl dem Objekt Urkunde, als auch dem Siegel und schließlich der Schrift selbst beglaubigender Charakter zugesprochen wurde. Auf welchen Grundlagen dies letztlich ruhte, wie hier Vertrauen erzeugt wurde, dies sind Prozesse und Vorstellungen, deren Erforschung in den letzten Jahren verstärkt eingesetzt hat.13 Dies zeigen nicht nur Untersuchungen aus dem

|| 11 Am Beispiel der Urkunden der Plantagenets des 11. und frühen 12. Jahrhunderts lässt sich zeigen, in welch hohem Maße die Usancen des angelsächsischen Urkundenwesens fortgeführt und erst allmählich durch normannische Gewohnheiten wie die lateinische Urkundensprache verändert wurden; vgl. z. B. Richard SHARPE, The Use of Writs in the Eleventh Century, in: Anglo-Saxon England 32 (2003), S. 247‒291. Nach dem Übergang der Normandie an das französische Königtum 1204 dauerte es nur eine kurze Zeit, bevor Praktiken des französischen Urkundenwesens wie Datierungsformeln und Zeugenlisten in der Normandie rezipiert wurden; vgl. Daniel POWER, The Transformation of Norman Charters in the Twelfth Century, in: David BATES, Edoardo D’ANGELO u. Elisabeth VAN HOUTS (Hgg.), People, Texts and Artefacts. Cultural Transmission in the Medieval Norman World, London 2018, S. 193‒212. Im Beitrag von WERNER, Privaturkunde, S. 143f klingt dies für den perso-islamischen Bereich ebenfalls an. Aber auch Identifikationsmuster der Bevölkerung sind auf diesem Wege zu erkennen; vgl. Edward ROBERTS, Boundary Clauses and the Use of the Vernacular in Eastern Frankish Charters, c. 750‒c. 900, in: Historical Research 91 (2018), S. 580‒604. 12 Vgl. zu Urkunden als Quellen für kulturellen Austausch Teresa WITCOMBE, Maurice and the Mozarabic Charter. A Cross-Cultural Transaction in Early Thirteenth-Century Toledo, in: Journal of Medieval Iberian Studies 10 (2018), S. 234‒258; Bruno REUDENBACH, The „Marriage Charter“ of Theophanu. A Product of Ottonian Manuscript Culture, in: Manuscript Cultures 10 (2017), S. 15‒30; zur Dotalurkunde der Theophanu äußert sich auch Martin ROLAND in diesem Band. 13 Vgl. Rüdiger BRANDT, Schwachstellen und Imageprobleme. Siegel zwischen Ideal und Wirklichkeit, in: Gabriela SIGNORI (Hg.), Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung, Darmstadt 2007, S. 21‒ 28; DERS., Komplexitätsaufbau, Überkomplexität, Komplexitätsreduktion. Eine heuristische Analyse der Vertrauenserzeugung durch Siegel im Mittelalter, in: Achim ESCHBACH (Hg.), Audiatur et altera pars. Kommunikationswissenschaft zwischen Historiographie, Theorie und empirischer Forschung. Festschrift für H. Walter Schmitz, Aachen 2008, S. 264‒277; Dorothea WELTECKE, Trust. Some Methodological Reflections, in: Petra SCHULTE, Marco MOSTERT u. Irene VAN RENSWOUDE (Hgg.), Strategies of Writing. Studies on Text and Trust in the Middle Ages (Utrecht Studies in Medieval Literaca 13), Turnhout 2008, S. 379‒413; die allgemeinen vorstellungsgeschichtlichen Hintergründe

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Umfeld der Sphragistik, sondern auch neuere Überlegungen zur Rolle der verschiedenen Beglaubigungsformen von Urkunden, etwa den Zeugen.14 Die Bedeutung von Urkunden als Zeugnisse des vormodernen Rechtslebens zeigt sich auch in laufenden Diskussionen um typologische Fragen. Eine davon ist die Abgrenzung von Urkunden und Briefen, die auch in der arabischen Diplomatik eine Rolle spielt. Um die Zweckmäßigkeit der Unterscheidung von Brief und Urkunde geht es Klaus HERBERS am Beispiel der päpstlichen Schriftproduktion im Frühmittelalter. Die Differenzierung erweist sich als sinnvoll, nicht nur weil Briefe anderen Kommunikationssituationen, u. a. durch die Begleitung von Boten, angehören, sondern auch weil sie anders überliefert sind. Aufgrund der inhaltlichen Funktion zahlreicher Papstbriefe, Orientierung zu bieten, stellt sich hier die Frage nach der Abgrenzung zu (anderen) Rechtstexten, die im europäischen Umfeld, aber auch darüber hinaus zu diskutieren wäre. Die Chancen, die ein typologischer Zugriff auf das urkundliche Material bietet, zeigt auch der Beitrag von Christoph U. WERNER, der die Probleme des Begriffes ‚Privaturkunde‘ im Rahmen der europäischen Diplomatik, aber vor allem ihre Anwendbarkeit durch eine sich neu entwickelnde persoislamische Dokumentenlehre diskutiert. Hier wird deutlich, dass ein künftiger transkultureller Austausch der verschiedenen Diplomatiken intensiv terminologische Fragen wird diskutieren müssen, nicht nur um Verständnisproblemen zu begegnen, sondern auch um die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Disziplinen methodisch solide ausloten zu können. Selbst wenn direkte Übertragungen von Termini wie ‚Privaturkunde‘ in einen anderen kulturellen Zusammenhang nicht sinnvoll sein mögen, so zeigt ihre Diskussion im Zusammenhang mit der persischen Urkundenlehre, die derzeit eher zwischen Dokumenten staatlicher Kanzleien und islamrechtlichen Dokumenten unterscheidet, dass Unterscheidung privat/öffentlich, wie sie in dem deutschen Begriff mitschwingt, auch in kulturell anders geprägtem Material zu einer präziseren Beschreibung der Phänomenologie führen kann, wie an zwei Urkunden beispielhaft aufgezeigt wird. Eine weitere Perspektive eröffnet der bereits kurz angesprochene Beitrag Alheydis PLASSMANNs, die darauf aufmerksam macht, dass man auch kleinere Mengen von Urkunden quantifizierend auswerten kann, wenn man die entsprechenden Referenzrahmen und Fragestellungen richtig auswählt, was an einem Fallbeispiel deutlich gemacht wird. Anhand der Urkunden Heinrichs II. von England zeigt sie,

|| werden insbesondere aufgearbeitet von Brigitte BEDOS-REZAK, When Ego was Imago. Signs of Identity in the Middle Ages, Leiden/Boston 2011. 14 Vgl. Günther THOMAS, Vier Typen der religiösen Zeugenschaft, in: Matthias DÄUMER, Aurélia KALISKÝ u. Heike SCHLIE (Hgg.), Über Zeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure, Paderborn 2017, S. 227‒254, der komplexe Zugriffe auf das Phänomen der Zeugenschaft deutlich macht. An meinem Bonner Lehrstuhl entsteht gerade eine Dissertation zu den Trierer Bischofsurkunden des Hochmittelalters, im Rahmen derer auch den Beglaubigungsstrategien und -mitteln besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden soll.

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dass die Analyse von Ausstellungsorten und Zeugennennungen präzisere Auskünfte über die herrschaftliche Erschließung einzelner Regionen ermöglicht. Hier werden also insbesondere geographisch-statistische Informationen genutzt, um die Vernetzung des Königs zu den verschiedenen Kontinentalbesitzungen deutlich zu machen. So mag es vielleicht nicht überraschend scheinen, dass die Zeugenschaften belegen, dass Eleonores Kontakte in Aquitanien sehr viel weitreichender und tiefgreifender sind als die Heinrichs, doch belegt dieser auch auf anderem Wege zu verifizierende Befund, dass die methodische Herangehensweise als solche tragfähig ist. Ging es in den Beiträgen dieses Themenfeldes insbesondere um Fragen der Typologie, der Quellenkritik aber besonders auch um Urkunden als Objekte des Kulturtransfers, so leitet der ebenfalls immer wieder aufscheinende Gesichtspunkt der gesellschaftlichen und kulturellen Verankerung der Urkunden unmittelbar zu ihrer Gestaltung über, die hierfür wichtige Anhaltspunkte bietet. Die Urkunden als Schriftbilder zwischen Recht und Repräsentation stellt als zweites Themenfeld die Materialität und Gestaltung von vormodernen Rechtsdokumenten in den Mittelpunkt. Deren Erforschung wurde durch Untersuchungen seit den 1950er und 1960er Jahren vorbereitet, die noch ausgehend von der philologisch-historischen Untersuchung der Texte, insbesondere der Herrscherurkunden, bereits deren repräsentativen Charakter herausarbeiteten.15 Besondere Bedeutung erlangte die Visualität der Urkunden seit den 1990er Jahren. Die zunehmende Aufmerksamkeit für die dezidierte Funktionalisierung der Urkunden nicht nur hinsichtlich der Vermittlung des (Rechts-)Textes sondern auch hinsichtlich der visuellen Kommunikation mit dem Urkundenempfänger sowie anderen möglichen Betrachtern und die daraus resultierende Hybridisierung von Schrift und Bild führte dazu, dass der Begriff der ‚Schriftbildlichkeit‘ in der Diplomatik zunehmend Anwendung fand.16 Dem hohen Grad an Bildlichkeit insbesondere von Herrscher- und Papsturkunden, aber auch der Urkunden vieler anderer Aussteller, wird mittlerweile große Bedeutung zuerkannt, was insbesondere

|| 15 Vgl. aus den Arbeiten von Heinrich FICHTENAU beispielhaft: Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 8), Graz, Köln 1957 sowie zusammenfassend Herwig WOLFRAM, Diplomatik, Politik und Staatssprache, in: Archiv für Diplomatik 52 (2006), S. 249‒269 und den Sammelband Andreas SCHWARCZ (Hg.), Urkunden ‒ Schriften ‒ Lebensordnungen. Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung aus Anlaß des 100. Geburtstages von Heinrich Fichtenau (1912‒2000), Wien u. a. 2015; systematisiert wurde dieser Ansatz u. a. von Geoffrey KOZIOL, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca (NY) 1992. 16 Eingeführt in die geisteswissenschaftliche Diskussion wurde er 2003 von Sybille KRÄMER, „Schriftbildlichkeit'' oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: Horst BREDEKAMP u. Sigrid KRÄMER (Hgg.), Bild, Schrift, Zahl (Kulturtechnik), München 2003, S. 157‒176.

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Peter RÜCK und seinen Schülerinnen und Schülern zu verdanken ist.17 Wie sehr Rezeption und kritische Auseinandersetzung mit Peter RÜCKS Thesen seitens der Urkundenforschung geradezu internalisiert worden ist, zeigt sich an dem Aufgreifen Rückscher Überlegungen in zahlreichen Untersuchungen dieses Bandes auch über die Grenzen der klassischen Diplomatik hinweg.18 Und tatsächlich ist das Ineinandergreifen von Bildlichkeit und Schriftbildlichkeit ein Merkmal, das in den byzantinischen Herrscherurkunden ebenso zum Tragen kommt wie in den tibetischen, wie die Beiträge von Andreas MÜLLER und Peter SCHWIEGER in diesem Band beispielhaft zeigen. Und auch in Urkunden aus dem islamischen Kulturbereich oder in Japan spielen besondere Formen der visuellen Gestaltung immer wieder eine Rolle.19 Besonders gut untersucht ist dies bislang insbesondere für Lateineuropa. Im Verlaufe des europäischen Früh- und Hochmittelalters wurden zahlreiche visuelle Merkmale entwickelt, wie etwa die Verwendung spezifischer Urkundenschriften, die sich von der ansonsten gebräuchlichen Buchschrift abhoben, ferner Auszeichnungsschriften für einzelne Teile der Urkunde, graphische Zeichen wie das Chrismon, das Monogramm uvm.20 Für die Herrscherurkunden wird dieser an sich bereits recht gut untersuchte Aspekt21 im Beitrag von Wolfgang HUSCHNER in seiner Bedeutung durch die Rezeption in den imitativen Kopien herausgehoben. Wie sehr diese Art der Auszeichnung jedoch ein weitgehendes Alleinstellungsmerkmal von Herrscher- und Papsturkunden ist, macht der Beitrag von Irmgard FEES deutlich. Sie zeigt, dass die Verwendung graphischer Symbole in hochmittelalterlichen Bischofsurkunden eine Ausnahmeerscheinung ist, die meist in der Person des Urkundenausstellers begründet liegt. Die Zeichen changieren zwischen Orientierung an Vorbildern aus Papst- und Herrscherurkunden sowie eigenständigen Schöpfungen und belegen, dass in bestimmten Situationen, wenngleich sich diese

|| 17 Vgl. den Überblick von Peter WORM, Ein neues Bild von der Urkunde. Peter Rück und seine Schüler, in: Archiv für Diplomatik 52 (2006), S. 335‒370. Eine kritische Würdigung der Überlegungen von Peter RÜCK und ihrer Rezeption durch Thomas VOGTHERR soll demnächst im Archiv für Diplomatik erscheinen. 18 Explizit wird dies in den Beiträgen von Andreas MÜLLER und Irmgard FEES angesprochen. 19 Dies kam auch im Vortrag von Andreas KAPLONY zum Ausdruck, der sich auch in anderen Zusammenhängen schon hiermit beschäftigt hat; vgl. die Arbeiten von Andreas KAPLONY, insbesondere den Sammelband DERS. (Hg.), From Bawit to Marw. Documents from the Medieval Muslim World (Islamic History and Civilisation 112), Leiden 2015. Zu Japan vgl. künftig auch MERSIOWSKY u. WIDDER (Hgg.), Kulturhistorische Vergleiche (Anm. 1). 20 Vgl. z. B. Peter RÜCK (Hg.), Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Semiotik (Historische Hilfswissenschaften 3), Sigmaringen 1996. 21 Vgl. KELLER, Hulderweis, oder auch DERS., The Privilege in the Public Interaction of the Exercise of Power. Forms of Symbolic Communication Beyond the Text, in: Marco MOSTERT (Hg.), Medieval Legal Process. Physical, Spoken and Written Perfomance in the Middle Ages (Utrecht Studies in Mediaeval Literacy 22), Turnhout 2011, S. 75‒108.

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Hintergründe für uns derzeit kaum erschließen lassen, eine stärkere visuelle Auszeichnung der Bischofsurkunden vonnöten schien. Durch das Heranziehen der Überlieferung aus Frankreich, England, Spanien, Portugal, Italien sowie der osteuropäischen Länder wird ein Überblick über die Zeichen in europäischen Bischofsurkunden des Hochmittelalters geboten, der den Seltenheitswert dieser Zeichen zumindest für diesen Bereich zeigt. Der Verwendung von graphischen Symbolen, die über Chrismen und Unterfertigungskreuze hinausgingen, lag offenbar in vielen Teilen Europas die Dokumentation des hohen Ranges der Urkundenaussteller zugrunde.22 Während in West- und Mitteleuropa zumindest bei den Herrscherurkunden vor allem graphischen Symbolen eine wichtige Rolle zur Bezeichnung von Urkunden zukam, handelte es sich in Byzanz, wie bereits Peter RÜCK gezeigt hat, vor allem um skripturale Bezeichnungen.23 Diese werden in dem Beitrag von Andreas MÜLLER untersucht24, der dort auch auf die Überlieferungsprobleme byzantinischer Kaiserurkunden hinweist, von denen es insgesamt nur noch wenige Originale gibt, die zudem meist schwer zugänglich sind und auch nur zu einem Bruchteil in tauglichen Abbildungen vorliegen. Dieser quellenkritische Hinweis ist von Belang, weil hier möglicherweise mit einer weiteren Erschließung des Materials, auch wenn diese derzeit nicht wahrscheinlich scheint, mit differenzierteren Erkenntnissen zu rechnen ist. Am bisherigen Material zeigt sich das Fehlen graphischer Symbole und das Überwiegen bestimmter Schriftarten und deren elaborierter Ausführung zur Erzeugung von Feierlichkeit. Hierzu wird gezielt mit Übersteigerungen und Manierismen gearbeitet, etwa der sog. ‚Protokollschrift‘ oder ‚Perpendikelschrift‘. Darüber hinaus kommen farbig gestaltete Elemente, wie beispielsweise ‚Rotworte‘ mit Urkundenselbstbezeichnungen, zum Einsatz, die zunächst dem Kaiser den Bearbeitungsstand der Urkunde anzeigten, darüber hinaus einem Betrachter außerhalb der Kanzlei den Rang der Urkunde als kaiserliches Dokument verdeutlichten; vergleichbares gilt für kratos-Formel und Legimus-Vermerk. Insbesondere die kratos-Formel stellt einen unmittelbaren Bezug zur kaiserlichen Herrschaft her und verweist damit auf herrscherliche Alleinstellung und Repräsentation als eine Funktion der byzantinischen Herrscherurkunden. Auch in den tibetischen Herrscherurkunden sind es vor allem skripturale Signa, die Feierlichkeit erzeugen und die Urkunden der verschiedenen Herrscher als Objekte von besonderer herrschaftlicher Prägnanz zeigen sollen. Peter SCHWIEGER kann für Tibet zeigen, wie sehr die dortigen Herrscherurkunden, ausgestellt von Herrschern || 22 Darauf deuten auch die Beobachtungen von Mark MERSIOWSKY, Die Urkunde der Karolingerzeit, Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation, 2 Bde. (MGH Schriften 6), Wiesbaden 2015, S. 540‒542 hin. 23 Vgl. Peter RÜCK, Beiträge zur diplomatischen Semiotik, in: DERS. (Hg.), (Anm. 20), S. 13‒41, S. 30. 24 Vgl. auch Andreas MÜLLER, Die Entwicklung der roten Urkundenselbstbezeichnungen in den Privilegien byzantinischer Kaiser, in: Byzantinische Zeitschrift 88 (1995), S. 85‒104.

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ganz unterschiedlicher Provenienz, danach strebten, sich visuell von den Urkunden anderer Aussteller deutlich abzusetzen. Interessant ist dabei auch, dass sich trotz fehlender Einflussmöglichkeiten deutliche Ähnlichkeiten zum europäischen Urkundenwesen feststellen lassen, insbesondere bei den Formularteilen der Urkunden, deren Funktion weitgehend denen europäischer Urkunden entspricht.25 Zudem tritt die besondere Rolle des Beschreibstoffes, etwa qualitätvoller bunter Seiden, hervor, der die materiell herausragende Wirkung der Urkunden noch verstärkt, die man in europäischen Urkundenregionen lange nicht nur an der Verwendung des Pergamentes erkennen kann. Zudem zeigt sich die besondere Bedeutung der Urkunden als Objekte der visuellen Kommunikation an den Urkundenformaten und den oft beachtlichen Größen, die die Papyri, Pergamente und später Papiere annehmen konnten.26 Hinzu kommt als dreidimensionales Objekt das an der Urkunde befestigte Siegel, welches in Europa durch die Abbildung und damit Sichtbarmachung des zunehmend frontal dargestellten Ausstellers diesen dauerhaft vergegenwärtigte und zugleich eine kommunikative Situation zwischen Urkundenaussteller und Urkundenempfänger herstellte.27 Auch bei tibetischen oder arabischen Urkunden spielten Siegel – mit anderen Siegel- bzw. Schriftbildern – eine Rolle.28 Siegel und Siegelpraxis spielten selbstverständlich auf der Tagung und entsprechend in diesem Sammelband nur eine Nebenrolle. Im Unterschied zu den Urkunden selbst gibt es

|| 25 Auch gibt es mit der sog. Anfangsnotiz eine urkundliche Form (SCHWIEGER, Tibetische Urkunden, S. 6), die beispielsweise mit den Kaiserreskripten vergleichbar ist; vgl. hierzu die klassische Studie Peter CLASSEN, Kaiserreskript und Königsurkunde. Diplomatische Studien zum Problem der Kontinuität zwischen Altertum und Mittelalter (Byzantina keimena kai meletai 15), Thessaloniki 1977 oder auch Othmar HAGENEDER, Päpstliche Reskripttechnik. Kanonistische Lehre und kuriale Praxis, in: Martin BERTRAM (Hg.), Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des allgemeinen Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 117‒131), Tübingen 2005, S. 181‒196. 26 Vgl. z. B. Frank BISCHOFF, Urkundenformate im Mittelalter. Größe, Format und Proportionen von Papsturkunden in Zeiten expandierender Schriftlichkeit (11.‒13. Jahrhundert) (elementa diplomatica 5), Marburg 1996 sowie Irmgard FEES, Zum Format der Kaiser- und Königsurkunden von der Karolingerzeit bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, in: Erika Eisenlohr u. Peter WORM (Hgg.), Arbeiten aus dem Marburger Hilfswissenschaftlichen Institut (elementa diplomatica 8), Marburg 2000, S. 123‒132. 27 Vgl. Hagen KELLER, Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext, in: Konrad KRIMM u. Herwig JOHN (Hgg.), Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1997, S. 3‒51, S. 24‒26. 28 Vgl. zum Siegelwesen im lateineuropäischen Mittelalter z. B. die Studien von Brigitte BEDOSREZAK, Form and Order in Medieval France. Studies in Social and Quantitative Sigillography (Variorum Collected Studies Series 424), Aldershot 1993.

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freilich für Siegel bereits epochen- und kulturübergreifende Sammelbände, sodass dieser Aspekt nicht weiter vertieft wurde.29 Während sich die visuelle Gestaltung früh- und hochmittelalterlicher Urkunden mittlerweile als mediävistisches Allgemeinwissen etabliert hat, hat man lange Zeit herausragende Urkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit als Einzelfälle betrachtet. Auch wenn dieses Bild tatsächlich überwiegend schlicht gehaltener Dokumente vor dem Hintergrund explosionsartig ansteigender Urkundenproduktion insgesamt zutreffend sein mag, so wurde damit lange die gezielte Funktionalisierung einer hohen Visualität in Teilen des spätmittelalterlichen Urkundenwesens unterschätzt, was etwa der Umgang mit den Urkundeninitialen einiger herausragender Urkunden Ludwigs des Bayern belegt.30 Dass sich dies zu ändern begonnen hat, belegen zahlreiche jüngere Studien zu Notariatssigneten31, Wappenbriefen32 aber auch anderen illuminierten Urkunden.33 Diesen Wandel machen auch die Beiträge von Martin ROLAND und Gabriele BARTZ deutlich. Im spätmittelalterlichen Avignon wurden in einer Werkstatt bischöfliche Sammelindulgenzen illuminiert, die, wie Gabrielle BARTZ zeigt, die konkrete Ausstattung an den Wünschen und der Finanzkraft der Urkundenempfänger ausrichtete, die folglich regelrechte Kundenwünsche äußern können. Zugleich lässt sich die Entwicklung dieser Werkstatt über 30 Jahre bis 1348 verfolgen, wobei sich die Bedeutung der Urkunden für methodische Fragen innerhalb der Kunstgeschichte zeigt, denn die Datierungen der Urkunden ermöglichen eine präzise zeitliche Zuordnung der einzelnen Illuminationen, die man stilistisch gegebenenfalls anders eingeordnet hätte. Dieser Beitrag zeigt Urkunden ebenfalls sehr deutlich als dem Urkundeninhalt materiell greifbare Gestalt verleihende Objekte, die von ihren || 29 Vgl. Evelyn KLENGEL-BRANDT (Hg.), Mit sieben Siegeln versehen. Das Siegel in Wirtschaft und Kunst des Alten Orients, Berlin 1997; Vincent MAROTEAUX, Empreintes du passé. 6000 ans de sceaux, Rouen 2015. 30 Vgl. Christa WREDE, Leonhard von München. Der Meister der Prunkurkunden Kaiser Ludwigs des Bayern (Münchener Historische Studien. Abteilung Geschichtliche Hilfswissenschaften 17), Kallmünz 1980; auch Martin ROLAND äußert sich in seinem Beitrag zu diesen Urkunden. 31 Vgl. Notare und Notarssignete vom Mittelalter bis zum Jahr 1600 aus den Beständen der Staatlichen Archive Bayerns, bearb. v. Elfriede KERN u. a., München 2008; Notare und Notarssignete vom Mittelalter bis zum Jahr 1600 aus den Beständen der Staatlichen Archive Bayerns. Folgeband: Funktionen und Beurkundungsorte, Quellennachweise, Indizes und Nachträge, bearb. v. Elfriede KERN u. Magdalena WEILEDER, München 2012, sowie künftig die Dissertation von Magdalena WEILEDER. 32 Vgl. Gustav PFEIFER, Wappen und Kleinod. Wappenbriefe in öffentlichen Archiven Südtirols (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 11), Bozen 2001 sowie den Beitrag von Martin ROLAND in diesem Band. 33 Vgl. hier als Beispiel nur den gerade erschienenen Sammelband Gabriele BARTZ u. Markus GNEIß (Hgg.), Illuminierte Urkunden. Beiträge aus Diplomatik, Kunstgeschichte und Digital Humanities. Illuminated Charters. Essays from Diplomatic, Art History and Digital Humanities (Beihefte zum Archiv für Diplomatik 16), Köln, Weimar, Wien 2019.

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Empfängern bzw. dann Besitzern geradezu werbewirksam öffentlich eingesetzt werden. Martin ROLAND stellt die Nutzung von Urkunden in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, indem er nach bildlichen Darstellungen von performativen Akten fragt, die entweder die Urkunden selbst oder die in den Urkunden behandelten Rechtsgeschäfte betreffen. Dies untersucht er vor allem, aber nicht nur, am Beispiel illuminierter Urkunden. Er greift damit eine Fragestellung auf, die in der Forschung der letzten Jahre eine große Rolle gespielt hat und sicher auch weiter spielen wird, weil hierin eine wichtige Schnittstelle zwischen Schriftgebrauch und dessen Verankerung in einem parallel eben auch wesentlich durch Mündlichkeit und rituelle Kommunikation geprägten Umfeld zu sehen ist34 ‒ und bereichert die Diskussion um umfangreiches Bildmaterial. Dieses bestätigt den Eindruck von einem interessanten Spannungsverhältnis zwischen den Urkunden und anderen Rechtsobjekten, die im Kontext urkundlich verbriefter Rechtsgeschäfte eine Rolle spielen. Dies verweist erneut auf die Frage, wie das Wissen um Rechtsgeschäfte in der Gesellschaft verankert, gesichert und nach Möglichkeit perpetuiert wurde; eine Fragestellung, die man auch über rein diplomatische Ansätze hinaus transkulturell untersuchen könnte. Ein wesentliches Charakteristikum vormoderner Urkunden, das gewissermaßen bereits auf deren Objektcharakter verweist, zeigt sich in ihrer hohen Bildlichkeit. Auffällig ist dabei insbesondere der immer wieder zugreifende Zusammenhang zwischen elaborierter Zeichenhaftigkeit und Macht des Ausstellers, der in den Beiträgen dieses Bandes wiederholt thematisiert wird. Diesem Aspekt sollten künftige Forschungen gerade in transkultureller Perspektive besondere Aufmerksamkeit zuwenden, auch um den semiotischen Gehalt und dessen kulturelle Funktionalisierung besser erfassen zu können. Dies ergibt auch die Betrachtung des dritten Themenkreises Der Medienwechsel. Urkunden in Kopiaren und auf Stein, der das Aufbewahren und die Verwendung bzw. Rezeption von Urkunden durch Abschreiben in Kopiare und andere Handschriften sowie die Erstellung von Einzelkopien auf Pergament in den Mittelpunkt rückt.35 Darüber hinaus sind andere Überlieferungsträger wie Inschriften zunehmend von Interesse, wobei nicht nur mögliche Veränderungen der Texte, sondern auch die Übertragung der Schriftbildlichkeit in das neue Medium Thema ist

|| 34 Vgl. z.B. Michael MENTE, Dominus abstulit? Vernichten und Verschweigen von Schriftobjekten als kommunikativer Akt, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 427‒447; Georges DECLERCQ, Habent sua fata libelli et acta. La destruction de textes, manuscrits et documents au Moyen Âge, in: David ENGELS, Didier MARTENS u. Alexis WILKIN (Hgg.), La destruction dans l’histoire. Pratiques et discours, Brüssel u. a. 2013, S. 129‒161. 35 Der Tagungsbeitrag von Laurent MORELLE konnte nicht mehr rechtzeitig für diesen Band fertig gestellt werden und soll im Archiv für Diplomatik erscheinen.

Die Urkunde. Text ‒ Bild ‒ Objekt. Eine Einführung | 13

ebenso wie die Wahl der Beschreibstoffe Stein oder auch Metall zur Perpetuierung der Rechtsinhalte.36 Dabei wird deutlich, dass die hochgradig auf visuelle Kommunikation angelegte Gestaltung von Urkunden zwar nicht immer vollständig in andere Medien übertragen wird, dass aber doch sehr häufig einzelne, im konkreten Fall als besonders wichtig erachtete graphische Gestaltungselemente der Urkunden nachgezeichnet werden. Die Hintergründe für das Anfertigen von Einzelabschriften verweisen immer wieder auf die Bedeutung von Urkunden als Rechtsdokumente, wenn etwa Abschriften im Rahmen von Gerichtsverfahren angefertigt werden oder wenn eine Urkunde aus der Hand des Empfängers gegeben werden sollte, der den Rechtstitel dann in Form einer Abschrift sicherte. Darüber hinaus kann Wolfgang HUSCHNER beobachten, dass bei der Anfertigung imitativer Kopien ottonischer und salischer Herrscherurkunden in Italien (meist zu Sicherungs-, manchmal allerdings auch zu Fälschungszwecken) zwar besonders genau auf eine Wiedergabe des Layouts, des Schriftbildes und der graphischen Zeichen geachtet wird, dass aber dennoch auch hier Abweichungen möglich sind. Ähnliche Beobachtungen macht Franz BORNSCHLEGEL, wenn es um die Übertragung von Urkundentext und Urkundenbildlichkeit in das Medium der Inschrift geht. Der Beitrag nimmt sich erstmals systematisch der Frage an, ob und wie Urkundenschriften auf die Epigraphik einwirkten und untersucht zudem, welchen Einfluss die graphische Gestaltung der Urkunden auf die Gestaltung von Urkundeninschriften haben konnte. Wenngleich sich insgesamt vom 7. bis 17. Jahrhundert nur wenige Fälle nachweisen lassen, zeigen sich doch teilweise Mechanismen, die bei der Übertragung von Urkunden(-texten) in das Medium (Kopial-)Buch ebenso zu finden sind, wo die Übertragung der Schriftbildlichkeit der Urkunde durchaus eine gezielte Authentifizierungsstrategie sein kann. Letztlich lässt sich keine Regelhaftigkeit beobachten, da die genaue Vorgehensweise von den konkreten Intentionen des jeweiligen Kopiars abhängt, die sehr unterschiedlich sein können.37 Es ist jedoch auffällig, dass bei Urkundeninschriften immer wieder mit der

|| 36 Vgl. z. B. Susanne WITTEKIND, Lex und iuramentum. Gott als Wahrheitszeuge und Rechtsgarant in spanischen Gesetzescodices, in: Andreas SPEER u. Guy GULDENTOPS (Hgg.), Das Gesetz ‒ The Law ‒ La Loi (Miscellanea mediaevalia 38), Berlin 2014, S. 691‒710 sowie zu den Urkundeninschriften in Rom Jochen JOHRENDT, Ad perpetuam rei memoriam. Urkunden in Stein, in: Archiv für Diplomatik 60 (2014), S. 357‒380. 37 Vgl. zur vor allem in den letzten 20 Jahren aufgekommenen Kopiarforschung, die jedem Codex seinen eigenen Aussagewert zubilligt, Theo KÖLZER, Codex Libertatis. Überlegungen zur Funktion des Regestum Farfense und anderer Klosterchartulare, in: Atti del 9 Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo, Spoleto, 27 settembre ‒ 2 ottobre 1982, Spoleto 1983, S. 609‒853; Pierre CHASTANG, Des archives au codex. Les cartulaires comme collections (XIe‒XIVe siècles), in: Benoît GRÉVIN u. Aude MAIREY (Hgg.), Le Moyen Âge dans le texte. Cinq ans d’histoire textuelle au Laboratoire de médiévistique occidentale de Paris (Histoire ancienne et médiévale 141), Paris 2016, S. 25‒44; JeanBaptiste RENAULT, Originaux et cartulaires dans la Lorraine médiévale: XIIe‒XVIe siècles. Receuil d’études (Atelier des recherches sur les textes médiévaux 24), Turnhout 2017.

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Auszeichnung bestimmter Formularteile des Urkundentextes zu rechnen ist. Dabei kam es in der Regel nicht auf die exakte Nachzeichnung des Monogramms, Rekognitionszeichens o. ä. an, sondern mehr auf eine phänotypische Wiedererkennbarkeit des graphischen Symbols, die für die beglaubigende Wirkung der Abschrift bzw. der Wiedererkennbarkeit einer Abschrift als Herrscherurkunde offenbar als ausreichend erachtet wurde.38 Auch aufgrund des Wechsels der Materialität und damit verbundener Änderungen in der Schreibtechnik sind Konzessionen an das neue Medium zu beobachten, wie der Wechsel von der Urkundenminuskel zur Gotischen Minuskel in einer Urkundeninschrift Papst Gregors XI. von 1372; die Urkundenbildlichkeit wurde hier durch eine Wiedergabe der Papstbulle in zwei Medaillons rezipiert.39 Immer wieder lassen sich solche Urkundeninschriften finden, die auf gute Kenntnisse des Urkunden- und Kanzleibetriebes schließen lassen, auch wenn die genaue Ausgestaltung dem Material Stein angepasst werden musste. Dass es sich hierbei tatsächlich um eine intermediale Beziehung in beide Richtungen handelt, zeigt die Aufnahme inschriftlich geprägter Auszeichnungsschriften in einigen Herrscherurkunden der Zeit um 1000 und dann wieder in staufischer Zeit.40 Auch hier fänden sich also lohnende Ansätze für eine weitere interdisziplinäre und transkulturelle Betrachtung. Bei diesen Modifikationen lässt sich feststellen, dass es sich um Rezeptionsvorgänge handelt, die die Urkunden in ihrer spezifischen Schriftbildlichkeit aufgreifen und diese dem neuen Medium gemäß weiterverarbeiten, wie seitens der Kunstgeschichte bereits von Markus SPÄTH beobachtet worden ist.41 Beim Abschreiben wurde häufig die visuelle Gestaltung der Urkunden rezipiert, indem deren Schriftbildlichkeit teilweise Eingang in die Kopiare

|| 38 Vgl. Anne SOWODNIOK, Visualisierung von Texten. Das Gestaltungskonzept des Codex Eberhardi am Beispiel der Königs- und Kaiserurkunden, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 66 (2016), S. 1‒42. 39 BORNSCHLEGEL, Urkundeninschriften, S. 336‒337. 40 BORNSCHLEGEL, Urkundeninschriften, S. 334‒335 mit Verweis auf Die Urkunden Otto des III., hrsg. v. Theodor SICKEL (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2/2), Hannover 1893, Nr. 279. 41 Vgl. Markus SPÄTH, Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria während des 12. Jahrhunderts (Orbis Medievalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 8), Berlin 2007; DERS., Kopieren und Erinnern. Zur Rezeption von Urkundenlayouts und Siegelbildern in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters, in: Britta BUßMANN (Hg.), Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktionen in Mittelalter und Früher Neuzeit (Trends in Medieval Philology 5), Berlin 2005, S. 101‒128; DERS., Das ‚Regestum‘ von Sant’Angelo in Formis. Zur Medialität der Bilder in einem klösterlichen Kopialbuch des 12. Jahrhunderts, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 31 (2004), S. 41‒60, oder auch den Sammelband Julio ESCALONA MONGE u. Hélène SIRANTOINE (Hgg.), Chartes et cartulaires comme instruments de pouvoir. Espagne et Occident chrétien (VIIIe‒XIIe siècles) (Études médiévales ibériques), Madrid 2014.

Die Urkunde. Text ‒ Bild ‒ Objekt. Eine Einführung | 15

fand bzw. bei der Übertragung in das neue Medium andere bildliche oder graphische Maßnahmen eingesetzt wurden, um Authentizität oder Rechtskraft zu generieren oder aber identitätsstiftend zu wirken. Diese Beobachtungen werden nun weitergeführt im Beitrag von Susanne WITTEKIND, die sich mit den Auswirkungen des Medienwechsels vom Original zur kopialen Überlieferung in Spanien befasst. Sie widmet sich dieser Fragestellung aus kunsthistorischer Perspektive und zeigt an spanischen Abschriftensammlungen, dass sogar der Übertragungsvorgang von der Urkunde in das Buch Gegenstand legitimierender Abbildungen sein kann. Zudem stellen die Illustrationen die Herrscherfiguren in Interaktion mit anderen Personen dar und machen somit deren Herrschaftsstellung, zum Teil auch deren Grundlagen, deutlich; häufig ist dabei ein Bezug zu den Urkundentexten erkennbar. Diese Rezeptionsvorgänge belegen nicht nur einmal mehr den medialen Charakter vormoderner Urkunden, sie zeigen auch, dass der Umgang mit Urkunden in der Phase des ‚Keeping‘ durchaus von herrschaftlicher Relevanz war, weil es um die Deutungshoheit über die früheren Rechtsgeschäfte ging. Dies wiederum ist eine Beobachtung, die von der rezenten archivgeschichtlichen Forschung ebenfalls stark in den Fokus gerückt wird.42 Der interdisziplinäre bzw. transkulturelle Ansatz dieses Bandes ermöglicht es, über das Kennenlernen der jeweils anderen Urkundenwesen den Blick für die eigenen Untersuchungsgegenstände zu schärfen. Deutlich wurde zudem, dass es sich bei Urkunden um ein globales Phänomen der Vormoderne mit unterschiedlichen Ausprägungen handelt. Zugleich erweist sich die vormoderne Urkundenpraxis als eigenständiges Phänomen, das vor dem Hintergrund spezifischer Anforderungen zu betrachten und nicht lediglich als Vorstufe moderner Verwaltungspraktiken zu bewerten ist. All dies zeigt auch den Quellenwert der Urkunden für die einzelnen Disziplinen vor dem Hintergrund des gewandelten Standes der Diplomatik im 21. Jahrhundert. 43 Die Beiträge des Bandes zeigen die Chancen auf, die eine Relativierung des bisherigen Europazentrismus in der Diplomatik und ein entsprechender Perspektivwechsel durch den Austausch zwischen den verschiedenen mediävistischen Disziplinen, der stärker in Gang gebracht werden sollte, bietet. Die Diskussionen während der Tagung waren so lebhaft und anregend, dass eine Fortsetzung und Weiterentwicklung dieses Austausches sehr wünschenswert scheint. Tatsächlich böte eine solche Herangehensweise große Chancen, deutlich mehr über die Prinzipien, die hinter den Urkunden und ihrer Verankerung in den vormodernen Gesellschaften stehen, zu erfahren. Ansatzpunkte hierzu wären etwa die Untersuchung von Urkunden und Urkundenpraktiken in durch unterschiedliche

|| 42 Vgl. etwa Simon TEUSCHER, Document Collections, Mobilized Regulations, and the Making of Customary Law at the End of the Middle Ages, in: Archival Science 10 (2010), S. 211‒229. 43 Vgl. die Beiträge der Tagung „Diplomatik im 21. Jahrhundert“ in: Archiv für Diplomatik 52 (2006).

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Kulturen beeinflussten Regionen oder aber im Zusammenhang mit dem Austausch von Herrschaftsträgern. Überhaupt bildete der herrschaftliche Kontext für die Gestaltung und die Nutzung von Urkunden eine Frage, die immer wieder aufschien, sei es bei der zeichenhaften Gestaltung fast ausschließlich von Herrscherurkunden bzw. im europäischen Kontext auch von Papsturkunden. Auch bei der Übertragung von Urkunden in Kopiare oder auf Inschriften scheint dies ein wichtiger Aspekt gewesen zu sein. In den Diskussionen auf der Tagung spielte zudem der Zusammenhang zwischen Urkunden und Geschichtsschreibung eine große Rolle – auch dies könnte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.

| Teil 1: Urkunden als Quellen und als Rechtsmittel

Eveline Brugger

Jüdisches Urkundenwesen und christliche Obrigkeiten im spätmittelalterlichen Österreich Zusammenfassung∗: Aus dem spätmittelalterlichen Österreich sind zahlreiche Urkunden mit jüdischen Bezügen überliefert, von denen der Großteil aus christlich-jüdischer Interaktion hervorging. Sowohl die Urkunden jüdischer Aussteller als auch diejenigen, in denen Juden als Beteiligte auftraten, mussten daher formal und inhaltlich für beide Gruppen Rechtsverbindlichkeit garantieren. Das Interesse des Landesfürsten beschränkte sich weitgehend auf die Dokumentation jüdischer Darlehensgeschäfte; allerdings führten landesfürstliche Eingriffe in das jüdische Kreditwesen zur Herausbildung spezifischer Gewährleistungsformeln. Von größerem Einfluss auf die jüdische Beurkundungspraxis war die von den lokalen – häufig städtischen – Autoritäten geprägte diplomatische Tradition, die bei Bedarf auch entsprechend adaptiert werden konnte; dies gilt vor allem für die Beglaubigung deutscher Urkunden durch hebräische Unterschriften. Seltener war die Ausstellung hebräischer Urkunden, deren Aufbau jedoch ebenfalls weitgehend dem etablierten Formular folgte. Einen exklusiv jüdischen Raum in der ansonsten mit der christlichen Seite geteilten Sphäre der Geschäftsurkunden stellen die hebräischen Vermerke dar, die der Organisation dienten, aber auch für Polemik genutzt werden konnten. In den Urkunden, die von lokalen weltlichen oder geistlichen Obrigkeiten selbst ausgestellt wurden, sind meist keine spezifischen Unterschiede zwischen Urkunden mit jüdischen Bezügen oder ohne diese festzustellen, was freilich nicht über die vergleichsweise exponiertere Stellung der jüdischen Bevölkerung hinwegtäuschen darf. Schlagwörter: Urkundenformular, christliche Beziehungen

Unterschriften,

Glaubwürdigkeit,

jüdisch-

Das Themenfeld der jüdischen Geschichte, das gemeinsam mit der Judaistik und den themenspezifischen Sprach- und Literaturwissenschaften der Disziplin der Jüdischen

|| ∗ Dieser Beitrag basiert auf Forschungsergebnissen aus dem vom österreichischen Forschungsfonds (FWF) finanzierten Projekt „Regesten zur Geschichte der Juden in Ostösterreich 1405–1418“ (P 28609) und den Vorgängerprojekten P 24404, P 21236, P 18453 und P 15638. || Eveline Brugger, Institut für jüdische Geschichte Österreichs, Dr. Karl Renner-Promenade 22, 3100 St. Pölten, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-002

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Studien zugerechnet wird, umfasst unterschiedlich ausgerichtete Forschungsansätze, die einander im Idealfall intradisziplinär ebenso ergänzen wie interdisziplinär mit anderen religions-, kultur-, rechts- und sozialhistorischen Fachrichtungen. Für die mittelalterliche Geschichte der europäischen Juden, deren Lebensweise einerseits durch die eigene Religion und Tradition, andererseits aber durch die von der christlichen Mehrheit vorgegebenen Parameter bestimmt wurde, kann den zahlreichen inneren wie äußeren Faktoren, die die mittelalterliche jüdische Existenz prägten, nur durch solch einen breit gefassten Zugang Rechnung getragen werden. Dieser sollte sich idealerweise auf die ganze Vielfalt des überlieferten Quellenmaterials stützen können; trotzdem spielten urkundliche Quellen für die Forschungen zur jüdischen Geschichte lange Zeit eine eher bescheidene Rolle, die sich weitestgehend auf Dokumente des kaiserlichen oder päpstlichen Judenrechts beschränkte. Dem riesigen Quellencorpus der Privaturkunden wurde hingegen so wenig Bedeutung beigemessen, dass es nur herangezogen wurde, wenn keine ‚besseren‘ (idealerweise hebräischen) Quellen zur Verfügung standen. So kam Otto STOWASSER im Jahr 1922 in Hinblick auf die österreichische Quellenlage noch zu der resignierenden Einschätzung: „Die wichtigsten Quellen für die Geschichte des Judentums von 1340 bis 1420 sind allesamt verloren. Es bleiben nur die erhaltenen Schuldurkunden von diesem Material für uns benutzbar. Aber deren sind im Verhältnis sicher nur wenige.“1 Seither hat die Wertschätzung von Privaturkunden als Quellen der jüdisch-christlichen Interaktion jedoch einen massiven Aufschwung erfahren. Selbstverständlich dürfen die der Quellengattung inhärenten Verzerrungsfaktoren dabei nicht aus den Augen verloren werden: die tendenzielle Überrepräsentation der Eliten beider Gruppen zählt ebenso dazu wie die höhere Überlieferungsdichte im städtischen Bereich. Die Notwendigkeit der schriftlichen Fixierung von Geld- und Kreditgeschäften (besonders bei Geschäften um hohe Summen) führte zu einer Dominanz dieser Inhalte in den Urkunden, was allzu oft – unbewusst oder aus ideologisch motivierter Absicht – als Bestätigung des stereotypen Bildes einer ausschließlich vom Geldverleih lebenden jüdischen Bevölkerung betrachtet worden ist. Bei der Interpretation der Informationen, die aus den urkundlichen Quellen gewonnen werden (und hier wiederum besonders für Bereiche, zu denen keine Quellen anderer Art existieren), sind die besagten Faktoren daher stets im Blick zu behalten. Am Beginn einer Untersuchung urkundlicher Quellen im Kontext der jüdischen Geschichte stellt sich zudem die grundsätzliche Frage, wie weit im Rahmen christlichjüdischer Interaktion von einem ‚jüdischen‘ Urkundenwesen die Rede sein kann. Die Sichtweise der mittelalterlichen Juden als bloße Objekte christlicher Politik und Gesetzgebung war lange so verbreitet, dass sich erst in jüngerer Zeit verstärktes Inte-

|| 1 Otto STOWASSER, Zur Geschichte der Wiener Geserah, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 16 (1922), S. 104–118, hier S. 113.

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resse an der aktiven Rolle entwickelt hat, die die Juden im Kontakt mit ihrer christlichen Umwelt und den christlichen Autoritäten spielten. Dieser Kontakt, wie er uns in den überlieferten Quellen entgegentritt, war trotz allen Ungleichgewichts ein Austausch, an dem beide Seiten beteiligt waren und in dem auch die Standpunkte beider Seiten sichtbar werden.2 Für das Gebiet des heutigen Österreich, besonders für die im Spätmittelalter habsburgisch regierten Territorien, stellen Urkunden die wichtigste Quellengattung für diesen Austausch dar. Die oben zitierte Annahme Otto STOWASSERS hinsichtlich des Umfangs dieses Quellencorpus hat sich mittlerweile als klare Fehleinschätzung herausgestellt, denn die Überlieferung urkundlicher Quellen zur jüdischen Geschichte ist vor allem für die mittelalterlichen Herzogtümer Österreich und Steiermark ungewöhnlich reich; sie setzt in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts ein und nimmt ab der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts massiv zu.3 Auch wenn ein guter Teil dieses Materials im Umfeld von Kreditgeschäften entstanden ist, dokumentiert es wesentlich mehr als nur die Tätigkeit der Juden als Geldleiher, denn die Geschäftsurkunden4 waren das Ergebnis alltäglicher Interaktionen zwischen Juden und Christen und erlauben daher entsprechende Einblicke in das soziale Umfeld des jüdischen Wirtschaftslebens. Für die Frühzeit der jüdischen Ansiedlung im österreichischen

|| 2 Anna Sapir ABULAFIA, Integrating the Study of Christian-Jewish Relations into Medieval Urban History, in: Jörg OBERSTE (Hg.), Pluralität – Konkurrenz – Konflikt. Religiöse Spannungen im städtischen Raum der Vormoderne (Forum Mittelalter. Studien 8), Regensburg 2013, S. 163–173, hier S. 173; Jonathan ELUKIN, Living Together, Living Apart. Rethinking Jewish-Christian Relations in the Middle Ages, Princeton, Oxford 2007, S. 66–68; Ivan G. MARCUS, A Jewish-Christian Symbiosis: The Culture of Early Ashkenaz, in: David BIALE (Hg.), Cultures of the Jews. A New History, New York 2002, S. 449– 519, hier S. 450–452. 3 Zur Menge der Überlieferung vgl. die Statistik bei Eveline BRUGGER, Susanne FRITSCH, Claudia HAM u. Julia KLEINDINST, „... nach vnsers Landes recht ze Oesterreich, als der iudische brief sait...“ Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter – ein Arbeitsbericht, in: Martha KEIL u. Eleonore LAPPIN (Hgg.), Studien zur Geschichte der Juden in Österreich, Bodenheim 1997, S. 1–8, hier S. 4. Dieses Material wird am Institut für jüdische Geschichte Österreichs im Rahmen des Forschungsunternehmens „Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich“ aufgearbeitet und publiziert. Bisher sind vier Bände erschienen: Eveline BRUGGER u. Birgit WIEDL, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1338, Bd. 2: 1339–1365, Bd. 3: 1366–1386, Bd. 4: 1387–1404, Innsbruck, Wien, Bozen 2005, 2010, 2015, 2018; online verfügbar: https://ebook.fwf.ac.at/o:55 (Bd. 1), https://e-book.fwf.ac.at/o:58 (Bd. 2), http://e-book.fwf.ac.at/o:766 (Bd. 3), https://e-book.fwf.ac.at/view/o:1229 (Bd. 4). Der in Vorbereitung befindliche Band 5 wird die Jahre 1405–1418 umfassen. 4 Der Begriff „Geschäftsurkunde“ bzw. „-brief“ wird hier im Sinne von ‚Privaturkunde, die aus einer wirtschaftlichen Transaktion hervorgegangen ist‘ verwendet und folgt nicht der von Oswald REDLICH eingeführten Gleichsetzung von „Geschäftsurkunde“ mit „Carta“ (= dispositive Urkunde) im Gegensatz zur streng davon unterschiedenen „Notitia = Beweisurkunde“. Oswald REDLICH, Die Privaturkunden des Mittelalters. Urkundenlehre Bd. 3 (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. IV: Hilfswissenschaften und Altertümer), München, Berlin 1911, S. 4–8, 115–124.

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Raum (12./13. Jahrhundert) liefern sie in vielen Bereichen sogar die einzigen entsprechenden Informationen, da andere Quellengattungen wie Rechnungsbücher oder Pfandregister erst später einsetzen.5 Eine quantitative Einschätzung der christlich-jüdischen Kontakte im Rahmen des Geldgeschäfts wird allerdings durch die Überlieferungslage erschwert, da die Dominanz der urkundlichen Quellen im österreichischen Raum das kleine, alltägliche Pfandgeschäft fast völlig ausklammert, in dem wahrscheinlich der Großteil der jüdischen Geldleiher tätig war.6 Vor allem in der Frühzeit der jüdischen Ansiedlung beschränkte sich die Beurkundung von Finanzgeschäften auf das Umfeld der wirtschaftlichen und sozialen Eliten, und zwar sowohl auf christlicher als auch auf jüdischer Seite. Dies änderte sich im Lauf des 14. Jahrhunderts, in dem einerseits die Schriftlichkeit generell zunahm und andererseits ein allmähliches soziales Absinken des Geschäftsumfeldes derjenigen jüdischen Geldleiher, die urkundlich nachweisbar sind, festgestellt werden kann.7 Während kirchliche und weltliche Rechtsdokumente den theoretischen Rechtsstatus der Juden definieren,8 lässt sich in den Geschäftsurkunden und den häufig damit in

|| 5 Vgl. Birgit WIEDL, Juden in österreichischen seriellen Quellen des 14. Jahrhunderts, in: Alfred HAVERKAMP u. Jörg R. MÜLLER (Hgg.), Verschriftlichung und Quellenüberlieferung. Beiträge zur Geschichte der Juden und der christlich-jüdischen Beziehungen im spätmittelalterlichen Reich (13./14. Jahrhundert) (Forschungen zur Geschichte der Juden, Abt. A 25), Peine 2014, S. 123–145. Dies bedeutet selbstverständlich weder, dass Juden nur im Kreditgeschäft tätig waren, noch, dass Juden und Christen nur im Rahmen solcher Geschäfte in Kontakt kamen, vgl. Michael TOCH, Zur wirtschaftlichen Lage und Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters, in: Rolf KIEßLING (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches (Colloquia Augustana 2), Berlin 1995, S. 39–50; Robert CHAZAN, Reassessing Jewish Life in Medieval Europe, Cambridge 2010, S. 182– 189. 6 Joseph SHATZMILLER, Cultural Exchange. Jews, Christians, and Art in the Medieval Marketplace, Princeton, Oxford 2013, S. 10; Eveline BRUGGER, ...hat ein hebraisch zettel dabey. Der Umgang mit jüdisch-christlichen Geschäftsurkunden in der spätmittelalterlichen Praxis, in: Ludger LIEB, Klaus OSCHEMA u. Johannes HEIL (Hgg.), Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter (Das Mittelalter. Beiheft 2), Berlin, München, Boston 2015, S. 421– 436, hier S. 423–424. 7 Dass Letzteres nicht nur eine Folge der dichteren Überlieferung ist, lässt sich daran erkennen, dass Geschäftskontakte mit dem Adel und der hohen Geistlichkeit, die im 13. Jahrhundert den Großteil der Kunden jüdischer Financiers ausmachten, nicht nur anteilsmäßig am Gesamtbestand der Urkundenüberlieferung, sondern auch insgesamt zurückgehen, vgl. Eveline BRUGGER, Urkunden zum jüdischen Kreditgeschäft im mittelalterlichen Österreich, in: HAVERKAMP u. MÜLLER (Anm. 5), S. 65–82, hier S. 80–81. 8 Zu den Quellen zum landesfürstlichen, kirchlichen und städtischen Judenrecht in Österreich vgl. Eveline BRUGGER, Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung. Juden in Österreich im Mittelalter, in: DIES., Martha KEIL, Albert LICHTBLAU, Christoph LIND u. Barbara STAUDINGER, Geschichte der Juden in Österreich (Österreichische Geschichte. Ergänzungsband), 2. Aufl. Wien 2013, S. 123–227, hier S. 128–151; Birgit WIEDL, Codifying Jews. Jews in Austrian Town Charters of the 13th and 14th Centuries, in: Merrall L. PRICE u. Kristine UTTERBACK (Hgg.), Jews in Medieval Christendom – Slay Them Not (Études sur le judaïsme médiéval 60), Leiden, Boston 2013, S. 201–222. Selbst bei normativen, von (weltlichen)

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Zusammenhang stehenden konkreten Gerichtsdokumenten9 die praktische Umsetzung dieses Status im Alltag erkennen. Im Gegensatz zu den auf Verfolgungen konzentrierten historiographischen Texten geben sie Aufschluss über das ,normale‘ Zusammenleben in den Zeiten, in denen ein solches weitgehend friedlich – wenn auch häufig nicht reibungslos – möglich war.10 Im eigentlichen Sinne jüdische Urkunden, also Urkunden, die einen oder mehrere jüdische Aussteller haben, sind in diesem Quellencorpus deutlich seltener vertreten als von Christen ausgestellte Stücke, in deren Text Juden in verschiedenen Zusammenhängen und Funktionen auftreten und die meist unter dem Begriff ,Judenurkunden‘ subsummiert werden. Der Großteil beider Urkundenarten entstand im Zusammenhang mit jüdisch-christlichen Pfand- und Kreditgeschäften, resultierte also aus direkten jüdisch-christlichen Kontakten und musste daher formal und inhaltlich dem Bedürfnis beider Gruppen nach Rechtsverbindlichkeit Genüge tun. Im österreichischen Raum gab der Landesfürst den rechtlichen Rahmen für das jüdische Leben in seinen Ländern vor. Gerade die habsburgische Judenherrschaft ist charakterisiert durch eine sehr enge rechtliche Bindung der jüdischen Untertanen an den Herzog, der seine im 13. Jahrhundert gegen den Kaiser durchgesetzte Stellung als alleiniger Herr der Juden erfolgreich gegen Städte und Adel verteidigen konnte, was im Vergleich zu den anderen Territorien des Heiligen Römischen Reiches eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Die Habsburger legten Wert darauf, ihre Juden zu schützen, um sie finanziell nutzen zu können – ein Naheverhältnis, das für die Judenschaft je nach Anlass vorteilhaft oder aber auch von massivem wirtschaftlichen Nachteil sein konnte.11 In den ‚alltäglichen‘ jüdisch-christlichen Geschäftsurkunden

|| christlichen Obrigkeiten ausgestellten Judenordnungen bzw. -privilegien ist in vielen Fällen von vorangegangenen Verhandlungen mit den betroffenen Juden auszugehen, die in der Berücksichtigung jüdischer Rechtsvorstellungen mündeten. Vgl. Klaus LOHRMANN, Judenrecht und Judenpolitik im mittelalterlichen Österreich, Wien, Köln 1990, S. 72–77; zu vergleichbaren Befunden von der iberischen Halbinsel Jonathan RAY, The Jew in the Text: What Christian Charters Tell Us About Medieval Jewish Society, in: Medieval Encounters 16 (2010), S. 243–267. 9 Vgl. Birgit WIEDL, ...und kam der jud vor mich ze offens gericht. Juden und (städtische) Gerichtsobrigkeiten im Spätmittelalter, in: Mediaevistik. Internationale Zeitschrift für Interdisziplinäre Mittelalterforschung 28 (2016), S. 243–268. 10 BRUGGER (Anm. 7); Eveline BRUGGER u. Birgit WIEDL, ...und ander frume leute genuch, paide christen und juden. Quellen zur christlich-jüdischen Interaktion im Spätmittelalter, in: Rolf KIEßLING u. a. (Hgg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800 (Colloquia Augustana 25), Berlin 2007, S. 285–305; Birgit WIEDL, Der Alltag im Geschäft. Aspekte jüdisch-christlichen Zusammenlebens im Spiegel der mittelalterlichen Geschäftsurkunden, in: Tagungsbericht des 26. Österreichischen Historikertages (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 25; Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde. Sonderband 2015), St. Pölten 2015, S. 570–586. 11 Eveline BRUGGER, Geschützt, geschätzt, verfolgt. Jüdisches Leben innerhalb der christlichen Gesellschaft im Mittelalter, in: Österreich. Geschichte – Literatur – Geographie 61 (2017), S. 113–126, hier S. 113–120; LOHRMANN (Anm. 8), S. 54–112, 206–244.

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(hauptsächlich Schuld- und Pfandbriefe, Quittungen, Verkaufs- und Kaufbriefe sowie Rechtsentscheide zu Konflikten, die im Zug christlich-jüdischer Geschäftskontakte entstanden) tritt der Landesfürst trotz dieser engen Bindung jedoch selten in Erscheinung. Gelegentlich ersuchte ein jüdischer Geschäftstreibender in einem heiklen Fall um herzogliche Bestätigung,12 und nur in absoluten Ausnahmefällen entschied der Herzog selbst einmal einen Streitfall, in den ein sehr prominenter jüdischer Financier verwickelt war.13 Folgenreicher für die Entwicklung des jüdisch-christlichen Urkundenformulars waren die zunehmenden landesfürstlichen Eingriffe in jüdische Darlehensgeschäfte durch sogenannte Tötbriefe, mit denen der Herzog einem Adeligen, den er zu fördern wünschte oder dem er Geld schuldete, dessen bestehende Schulden bei jüdischen Untertanen des Herzogs ,tötete‘, diese also zum Schaden der jüdischen Gläubiger annullierte.14 Als Reaktion darauf finden wir in den Schuldbriefen, die christliche Kunden für ihre jüdischen Kreditgeber ausstellten, ab der Mitte des 14. Jahrhunderts als Teil der Gewährleistungsformeln vermehrt das Versprechen, die Schulden selbst zurückzuzahlen und nicht gen hof (also an den Herzog) abzutreten und sich auch nicht durch einen herzoglichen Tötbrief von den Schulden befreien zu lassen.15 Manche Darlehensnehmer gingen noch weiter: Wer aber das wir icht brief gegen in furprechten, es wern freybrief, töttbrief, gegenbrief, oder welherlay brief das wern die in an dem egenanten irm gelt geschaden möchten vnd die wir an irn willen

|| 12 Solche Bestätigungen können als Anzeichen für eine gestiegene Rechtsunsicherheit gewertet werden: So verkaufte z. B. der Jude Peltel aus Herzogenburg 1392 einige Besitzungen, die ihm in einem vorangegangenen Rechtsstreit zugesprochen worden waren, und ließ sich darüber von Herzog Albrecht III. einen Schirmbrief ausstellen, in dem dieser dem Juden versprach, ihn gegen Gewalt und Unrecht zu schützen, die ihm in dieser Sache widerfahren könnten, vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 103 Nr. 2003 sowie Eveline BRUGGER, Hetschel und wer noch? Anmerkungen zur Geschichte der Juden in Herzogenburg im Mittelalter, in: Günter KATZLER u. Victoria ZIMMERL-PANAGL (Hgg.), 900 Jahre Stift Herzogenburg. Aufbrüche – Umbrüche – Kontinuität (Sonderpublikation des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich), Innsbruck, Wien, Bozen 2013, S. 119–137, hier S. 133–134. 13 Eine Sonderstellung besaß im Herzogtum Österreich in dieser Hinsicht die Familie des Wiener Juden David Steuss, dessen Söhne 1388 von Herzog Albrecht III. das Privileg erhielten, dass gegen sie nur vor dem Herzog selbst Klage erhoben werden durfte: BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 31 Nr. 1894. 14 Eveline BRUGGER, „So sollen die brief ab und tod sein.“ Landesfürstliche Judenschuldentilgungen im Österreich des 14. Jahrhunderts, in: Eveline BRUGGER u. Birgit WIEDL (Hgg.), Jüdisches Geldgeschäft im Mittelalter (Aschkenas 20, Heft 2), Berlin, Boston 2012, S. 329–341, hier S. 331–339; LOHRMANN (Anm. 8), S. 171–173. 15 Vgl. z. B. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe (im Folgenden: AUR) 1366 III 12 (Regest bei BRUGGER u. WIEDL [Anm. 3] Bd. 3, S. 16–17 Nr. 1155): Wir geloben in auch mit unsern trewen an alles geverde, das wier si gen hof noch an dhain gewaltig gepet nicht schaffen suelen, nuer allain, das wier si selben gantzleich richten und weren suelen mit beraitem gelt, hauptguets und schadens, was des werden mag, wir sein lebentig oder tode.

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gewunnen, ee denn si desselben irs geltes haubtgüts, diensts, vnd schadens gar gewert wern, dieselben brief sullen allerding tot vnd ze nicht sein vnd wider den gegenburtigen brief chain chraft haben,

versprachen der steirische Hauptmann Rudolf von Wallsee und andere adelige Schuldner ihrem Geldgeber David Steuss, dem bedeutendsten jüdischen Geschäftsmann seiner Zeit in Österreich, in der 1378 von ihnen ausgestellten Schuldurkunde16 – und erklärten damit sogar eine eventuell nachträglich zu ihren Gunsten ausgestellte Herzogsurkunde von vornherein für ungültig. Diese Formel findet sich ab dem späten 14. Jahrhundert häufiger in entsprechenden Urkunden, wobei die Aussteller selbstverständlich nicht die Autorität besaßen, tatsächlich einen herzoglichen Tötbrief außer Kraft zu setzen. Da ein solcher allerdings kaum ohne aktives Bemühen der Begünstigten zustande kam, ist diese Wendung als Verstärkung des Versprechens zu verstehen, die Schulden selbst und ohne herzogliche Involvierung zurückzuzahlen und stellt aufgrund ihres zunehmenden Auftretens ein Indiz dafür dar, dass das finanzielle Risiko für das jüdische Kreditgeschäft durch herzogliche Eingriffe im Steigen begriffen war. Wesentlich seltener waren landesfürstliche Versuche, direkt auf die Praxis der Dokumentation jüdischer Darlehensgeschäfte einzuwirken. Einen solchen unternahm Herzog Albrecht II. 1340, indem er ein Judenbuch anlegen ließ, von dem leider nur eine neuzeitliche Abschrift der Einleitung überliefert ist17 und in das alle Judengeschäfte in Österreich eingetragen werden sollten, da es angeblich zuvor zu Fälschungen von Urkunden und Siegeln gekommen war – ein Vorwurf, der in den zeitgenössischen Quellen sonst nirgends festzumachen ist.18 Dieses zentrale herzogliche Judenbuch dürfte sich allerdings als zu ambitioniert erwiesen haben und daher über das Anfangsstadium nicht hinausgekommen sein.19 Erfolgreicher verlief die Anlage einiger städtischer Judenbücher: Als Herzog Albrecht III. 1388 der Stadt Bruck an der Leitha die Führung eines Judenbuches erlaubte, in dem man nu furbaz aller juden || 16 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, AUR 1378 VI 9 (recte VI 11); vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 260–261 Nr. 1575. 17 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 2, S. 19–20 Nr. 476. 18 Zu vereinzelten Beispielen aus dem späten 14. Jahrhundert vgl. Birgit WIEDL, Anti-Jewish Polemics in Business Documents from Late Medieval Austria, in: Verging on the Polemical: Exploring the Boundaries of Medieval Religious Polemic Across Genres and Research Cultures. Medieval Worlds, Comparative & Interdisciplinary Studies 7 (2018), S. 61–79 (http://www.medievalwor lds.net/0xc1aa5576_0x00390b23.pdf), hier S. 68; Alfred HAVERKAMP, Verschriftlichung und die Überlieferung von Quellen zur Geschichte des aschkenasischen Judentums während des späten Mittelalters: Überblick und Einsichten, in: DERS. u. Jörg R. MÜLLER (Anm. 5), S. 1–64, hier S. 13–22. 19 Eine entsprechende Handschrift existierte noch im 18. Jahrhundert, vgl. HAVERKAMP (Anm. 18), S. 13–14. Die erste urkundliche Erwähnung eines Judenbuch-Eintrages stammt allerdings erst aus dem Jahr 1386, wobei unklar ist, ob damit das herzogliche oder ein anderes Judenbuch gemeint war: BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 405 Nr. 1830; vgl. BRUGGER (Anm. 6), S. 429–430; LOHRMANN (Anm. 8), S. 157–158.

26 | Eveline Brugger geltschult gen christaenn leuten darin und darauz schreiben und vermerken solle, erwähnte er ausdrücklich, dies solle in der gleichen Weise geschehen, wie es in anderen Städten üblich sei.20 Das Wiener Judenbuch, das zumindest anfänglich in die Zuständigkeit des städtischen Judenrichters fiel, wird in Grund- und Satzbucheinträgen sowie in Gerichtsurkunden zu christlich-jüdischen Streitfällen des Öfteren erwähnt, kam in der Praxis also tatsächlich zur Anwendung.21 Bis auf wenige Ausnahmen wie die Judenbücher der Wiener Scheffstraße und des Stiftes Rein sind diese Aufzeichnungen jedoch verlorengegangen.22 Das gegen Ende des 14. Jahrhunderts angelegte Judenbuch der Wiener Scheffstraße wurde außerdem zusammen mit dem christlichen Satzbuch geführt, dessen Einträge von den gleichen Schreiberhänden stammen wie die des Judenbuches;23 es wurden also wohl sämtliche Einträge von denselben städtischen Schreibern und nicht vom Judenrichter oder dessen Schreiber24 verfasst. || 20 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 26 Nr. 1886; vgl. LOHRMANN (Anm. 8), S. 158–159. Städtische Versuche, auf das jüdische Kreditgeschäft Einfluss zu nehmen bzw. Kontrolle darüber zu erlangen, zielten generell mehr auf eine Dokumentation der jüdischen Urkunden ab und weniger darauf, auf die Form bzw. den Inhalt dieser Urkunden Einfluss zu nehmen. Aus diesem Grund verpflichtete eine Reihe von Stadtrechten die jüdischen Geldleiher, ihre Urkunden in regelmäßigen Abständen dem Stadt- oder Judenrichter vorzulegen, vgl. WIEDL (Anm. 8), S. 217–218; DIES. (Anm. 9), S. 245. 21 Vgl. die Belege bei Arthur GOLDMANN, Das verschollene Wiener Judenbuch (1372–1420), in: DERS. u. a., Nachträge zu den zehn bisher erschienenen Bänden der Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich 11), Wien 1936, S. 1–14, hier S. 6–13; die in den frühesten Nennungen mehrmals auftretende Bezeichnung judenrichter puech deutet darauf hin, dass ursprünglich der Judenrichter für die Führung des Buches zuständig war. Zu urkundlichen Erwähnungen vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 85–86 Nr. 1979, S. 146–147 Nr. 2075 und S. 297–298 Nr. 2318. Singuläre urkundliche Nennungen eines Judenbuches existieren auch für Klosterneuburg und Krems, vgl. ebd., S. 50–51 Nr. 1924, S. 295– 296 Nr. 2314. 22 David HERZOG, Das „Juden-Puech“ des Stiftes Rein, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 28 (1934), S. 76–146; Arthur GOLDMANN, Das Judenbuch der Scheffstraße zu Wien (1389– 1420), mit einer Schriftprobe (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 1), Wien, Leipzig 1908; Wilhelm WADL, Geschichte der Juden in Kärnten im Mittelalter. Mit einem Ausblick bis zum Jahre 1867 (Das Kärntner Landesarchiv 9), 3. Aufl. Klagenfurt 2009, S. 130–131; Birgit WIEDL, Jews and the City: Parameters of Urban Jewish Life in Late Medieval Austria, in: Albrecht CLASSEN (Hg.), Urban Space in the Middle Ages and the Early Modern Age (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 4), Berlin 2009, S. 273–308, hier S. 291–292, Anm. 84. Hingegen ist der Wiener Neustädter Liber Judeorum trotz des Namens kein Satz-, sondern ein Gewerbuch, das Eintragungen zum jüdischen Hausbesitz in der Stadt enthält; das mehrfach urkundlich fassbare Judenpuech von Wiener Neustadt ist nicht überliefert, vgl. Martha KEIL, Der Liber Judeorum von Wr. Neustadt 1453–1500. Edition, in: DIES. u. Klaus LOHRMANN (Hgg.), Studien zur Geschichte der Juden in Österreich, Wien, Köln, Weimar 1994, S. 41–99, hier S. 41. 23 Wien, Finanz- und Hofkammerarchiv, Alte Hofkammer, Vizedomamtshauptrechnungen, Urbare 1067; während das Judenbuch bei GOLDMANN (Anm. 22) ediert ist, ist das im selben Codex enthaltene christen puech (so die Bezeichnung auf fol. 38r) bisher unediert geblieben. 24 Zum ,Judenschreiber‘ vgl. GOLDMANN (Anm. 21), S. 5–6.

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Die Judenbücher hatten ebenfalls offiziellen Beweischarakter und ergänzten daher die Urkunden als Medium der Dokumentation jüdischer Geschäfte, konnten sie bis zum Ende der mittelalterlichen jüdischen Ansiedlung in Österreich jedoch nicht völlig ersetzen. Daneben wurde die zusätzliche Absicherung durch eine Eintragung der Urkunden in ein klösterliches oder städtisches Register im Lauf des 14. Jahrhunderts auch bei jüdisch-christlichen Geschäftsabschlüssen ein Faktor.25 Das Formular jüdisch-christlicher Geschäftsurkunden – im 13. Jahrhundert vereinzelt noch auf Latein, größtenteils jedoch auf Deutsch – unterscheidet sich in seiner Gesamtheit nur wenig von demjenigen, das in vergleichbaren Urkunden ohne jüdische Beteiligung zum Einsatz kam.26 Zudem sind im jüdisch-christlichen Geschäftsverkehr kaum Unterschiede zwischen den Urkunden jüdischer oder christlicher Aussteller festzustellen.27 In beiden Fällen traten jüdische Männer nicht unter ihrem hebräischen Namen (Schem ha-kodesch) auf, der der christlichen Umgebung wahrscheinlich nicht bekannt war, sondern unter ihrem im Alltag gebräuchlichen Rufnamen mit dem Zusatz der jud, so wie auch Frauen den Zusatz die judin verwendeten.28

|| 25 Der erste Hinweis auf den Eintrag eines Geschäftsbriefes mit jüdischer Beteiligung ins register (in diesem Fall ein Bergregister des Wiener Bergherrn Jakob Pfaffsteter) in Österreich stammt aus dem Jahr 1353, vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 2, S. 144 Nr. 747. 1373 wird erstmals der Eintrag eines Geschäfts mit jüdischer Beteiligung ins Klosterneuburger Bergregister, 1379 ins Wiener Stadtregister genannt, vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 175–176 Nr. 1424, S. 279 Nr. 1605. 26 Zur vorangegangenen Entwicklung des Urkundenwesens im heute österreichischen Raum bis zum frühen 13. Jahrhundert – also der Zeit, aus der dort die frühesten urkundlichen Belege zu Juden überliefert sind – vgl. Heinrich FICHTENAU, Das Urkundenwesen in Österreich vom 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 22), Wien, Köln, Graz 1971, S. 161–253. Zur Herausbildung des privaturkundlichen Formulars vgl. Roman ZEHETMAYER, Urkunde und Adel. Ein Beitrag zur Geschichte der Schriftlichkeit im Südosten des Reichs vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 53), Wien, München 2010, S. 263–265. 27 BRUGGER (Anm. 7), S. 72–75; BRUGGER u. WIEDL (Anm. 10), S. 285–289; LOHRMANN (Anm. 8), S. 171– 182; WADL (Anm. 22), S. 36–38. 28 Martha KEIL, „Petachja, genannt Zecherl“. Namen und Beinamen von Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters, in: Reinhard HÄRTEL (Hg.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer grundwissenschaftliche Forschungen 3, Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, S. 119–146, hier S. 129–141. Der Umkehrschluss ist allerdings nicht zulässig, da es sich bei der Bezeichnung der jud auch um einen christlichen Bei- oder Familiennamen handeln konnte, vgl. Birgit WIEDL, Wer ist Ernustus iudeus? Die schwierige Suche nach Juden in mittelalterlichen Archivbeständen, in: Elisabeth LOINIG u. Martha KEIL (Hgg.), Quellen zur jüdischen Geschichte Niederösterreichs (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 58), St. Pölten 2016, S. 37–61, hier S. 46–47; Markus WENNINGER, Von jüdischen Rittern und anderen waffentragenden Juden im mittelalterlichen Deutschland, in: Aschkenas 13/1 (2003), S. 35–82, hier S. 46–48.

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Im österreichischen Material finden sich nur sehr wenige Beispiele von Urkunden jüdischer Aussteller, in denen ein solcher Zusatz fehlt.29 Daten und Termine wurden auch in den Urkunden jüdischer Aussteller anhand christlicher Heiligenfeste und Feiertage festgesetzt, Jahresangaben erfolgten stets nach Christi Geburt. Für hochstehende geistliche und weltliche Persönlichkeiten verwendeten christliche und jüdische Aussteller dieselben ehrenden Anreden, wobei solche durchaus auch dem prominenten jüdischen Geschäftspartner eines christlichen Ausstellers zuteilwerden konnten.30 Lediglich die Bezeichnung ‚selig‘ für Verstorbene wurde üblicherweise nur für Christen verwendet; christliche Aussteller vermieden diese Bezeichnung für jüdische Verstorbene mit Hilfe von Wendungen wie der nu tod ist31 oder dem Vorsatz weiland bzw. quondam.32

|| 29 Besonders auffällig ist in dieser Hinsicht die Urkunde über den Verkauf eines Hauses in Wien, die Swarcza maister Taefleins tochter Pessachs witib 1375 ausstellte: Wien, Stadt- und Landesarchiv, Hauptarchiv-Urkunden Nr. 871; vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 207 Nr. 1482. Weder die Ausstellerin selbst noch ihr Vater oder ihr verstorbener Ehemann werden in der Urkunde als Juden bezeichnet, obwohl Swarzas Vater (der Bezeichnung maister nach zu schließen ein Rabbiner) anderweitig eindeutig als Wiener Jude nachweisbar ist und der Name Pessach ein relativ sicheres Indiz für eine Identifizierung des Betreffenden als Jude darstellt. 30 So sprach etwa der Kanzler Herzog Rudolfs IV., Johann von Platzheim-Lenzburg, seinen wichtigsten jüdischen Gläubiger 1364 als erber und weiser unser lieber freunt David der Steuzze an, vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 2, S. 305–306 Nr. 1081. 1301 wurde die Villacher Jüdin Taube in einer Urkunde Graf Walters von Sternberg als „Frau Taube“ (vron Tauben) bezeichnet, vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 1, S. 107–108 Nr. 107. Gerd MENTGEN, Netzwerkbeziehungen bedeutender Cividaler Juden in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Jörg R. MÜLLER (Hg.), Beziehungsnetze aschkenasischer Juden während des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Forschungen zur Geschichte der Juden, Abt. A 20), Hannover 2008, S. 197–246, hier S. 203–206 vermutet als Erklärung für die Anrede allerdings einen Zusammenhang mit Konversion. Zu ehrenden Anreden jüdischer Oberschichtsangehöriger durch Christen vgl. WENNINGER (Anm. 28), S. 45–46. 31 Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv, Gräfliches Fideikommissarchiv Auersperg, Urkunde Nr. 131; Regest bei BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 25 Nr. 1169. 32 So z. B. Admont, Stiftsarchiv, Nr. Rrr 64 (Regest bei BRUGGER u. WIEDL [Anm. 3] Bd. 3, S. 353 Nr. 1734): filius quondam Haeslini judei. Derselbe Häslein wird in einer von seinen beiden Enkeln ausgestellten Urkunde 1393 allerdings ebenso wie sein verstorbener Sohn Merchel mit dem Adjektiv salig bezeichnet (Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, AUR 1390 VII 12; Regest bei BRUGGER u. WIEDL [Anm. 3] Bd. 4, S. 65 Nr. 1946). WADL (Anm. 22), S. 206–208 hält einen Zusammenhang mit Konversion für möglich, da Häsleins Bruder zum Christentum übergetreten war, vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 69–70 Nr. 1250, doch ist dies abgesehen von der Tatsache, dass Häslein und Merchel ausdrücklich als Juden bezeichnet werden (ich Haesel und ich Jacob brueder Marchleins des juden saligem sun veriehen [...] fur uns und unsern en Haeslein saligen den juden), auch aufgrund der Namensformen unwahrscheinlich, da die beiden im Fall einer Taufe mit Sicherheit andere Namen erhalten hätten (Häsleins Bruder Freudman war z. B. auf den Namen Paul getauft worden). Es muss dahingestellt bleiben, ob es sich um ein Versehen eines christlichen Schreibers handelt oder ob die Wortwahl auf die jüdischen Aussteller zurückging, die damit die in hebräischen Urkunden bzw. Beglaubigungen für Verstorbene übliche Formel „sein Andenken zum Segen“ wiedergeben wollten, was aufgrund der christlichen Konnotation des Wortes „selig“ ebenfalls bemerkenswert wäre.

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Dieser pragmatisch geprägte Umgang miteinander steht in auffälligem Gegensatz zu der zunehmenden polemischen Schärfe judenfeindlicher Rhetorik in christlichen theologischen Schriften und in der säkularen Literatur, wobei schwer einzuschätzen ist, welche praktischen Auswirkungen – wenn überhaupt – das Zunehmen antijüdischer Diskurse im Lauf des Spätmittelalters auf die alltäglichen Interaktionen zwischen Juden und Christen hatte, aus denen das überlieferte Urkundenmaterial hervorging.33 Umgekehrt sind auch die gelegentlichen polemischen Spitzen in hebräischen Urkundenvermerken, auf die noch zurückzukommen sein wird und die sich in den Kontext des innerjüdischen, ebenfalls schärfer werdenden antichristlichen Diskurses einfügen, in ihrer realen Bedeutung für den Umgang mit den christlichen Kunden nicht immer klar einzuordnen.34 In den deutschen Urkundentexten sucht man explizite gegenseitige Anfeindungen vergeblich, auch wenn vereinzelte vage Andeutungen eventuell als judenfeindlich motiviert interpretiert werden können.35 Die lokalen Rechtsbräuche in Hinblick auf die Urkundenausstellung wurden von beiden Seiten eingehalten, wobei sich feststellen lässt, dass die Stadtgemeinde oder die örtliche Grundherrschaft, also die engste Umgebung der jüdischen Bewohner, entscheidend für die konkrete Abfassung der jüdischen Geschäftsurkunden war, auch wenn die Juden als Schutzbefohlene des Landesfürsten nur eingeschränkt den lokalen Autoritäten unterstanden.36 Ein Grund dafür dürfte (neben der Möglichkeit von Empfängerausfertigungen durch die christlichen Kunden) die Tatsache gewesen sein, dass jüdische Urkundenaussteller häufig dieselben christlichen Schreiber beauftragten wie ihre christlichen Geschäftspartner. Allerdings ist zumindest von dem schon erwähnten David Steuss bekannt, dass er in seinem Haushalt einen Juden namens Ascher als Schreiber beschäftigte, der mit Form

|| 33 Vgl. z. B. die gegensätzlichen Positionen bei ELUKIN (Anm. 2), S. 9–10; Hans-Jörg GILOMEN, Juden in den spätmittelalterlichen Städten des Reichs: Normen – Fakten – Hypothesen (Kleine Schriften des Arye Maimon-Instituts 11), Trier 2009, S. 7–58, hier S. 49–56; Gunnar MIKOSCH, Nichts als Diskurse. Juden in den frühen mittelhochdeutschen Predigten des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Franz X. EDER (Hg.), Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 253– 269, hier S. 267–268. 34 GILOMEN (Anm. 33), S. 34–40. Zur Polemik in hebräischen Vermerken vgl. Martha KEIL, „...und seinem Köcher Anglis“. Kulturtransfer, Polemik und Humor in jüdischen Geschäftsurkunden des mittelalterlichen Österreich, in: Aschkenas 26/1 (2016), S. 101–115, hier S. 111–115. 35 So enthielt die Klage eines Wiener Kaplans, der mit seinem jüdischen Nachbarn wegen des Rauchs aus dessen Küche in Streit lag, einen Hinweis auf den unraine[n] gesmach aus der jüdischen Küche, was als verdeckter Hinweis auf den judenfeindlichen Topos des odor iudaicus gewertet werden kann. Vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 173 Nr. 1421; Eveline BRUGGER, Smoke in the Chapel. Jews and Ecclesiastical Institutions in and around Vienna during the Fourteenth Century, in: Philippe BUC, Martha KEIL u. John TOLAN (Hgg.), Jews and Christians in Medieval Europe. The Historiographical Legacy of Bernhard Blumenkranz (Religion and Law in Medieval Christian and Muslim Societies 7), Turnhout 2016, S. 79–94, hier S. 88–89; WIEDL (Anm. 18), S. 72–73. 36 WIEDL (Anm. 22), S. 281–283.

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und Inhalt christlicher Geschäftsurkunden mit Sicherheit vertraut war, da er auch selbst als Darlehensgeber tätig war.37 Insofern könnte Ascher durchaus einen Teil der von David Steuss ausgestellten Urkunden, die ohne besondere Abweichungen das im Wiener Umfeld übliche privaturkundliche Formular übernahmen, geschrieben haben.38 Wie selbstverständlich den jüdischen Geschäftsleuten die lokale diplomatische Tradition war, zeigt sich in der Tatsache, dass auch die wenigen erhaltenen hebräischen Stücke39 dem etablierten Formular im Aufbau des Textes weitestgehend folgen. Nur die Datierung nach Christi Geburt wurde in hebräischen Urkunden durch die jüdische Weltära ersetzt; beglaubigt wurden sie durch eine oder mehrere Unterschriften.40 Solche Urkunden finden sich meist an die dazugehörige deutschsprachige Urkunde angeklebt oder -genäht und wurden im deutschen Urkundentext gelegentlich als hebraisch, häufiger jedoch als judisch brief bzw. judisch geschrift oder einfach judenschrift bezeichnet.41 Hebräische Stücke ohne deutsche Parallelurkunde sind für den österreichischen Raum extrem selten überliefert, da die meisten davon wohl rein innerjüdische Angelegenheiten betrafen und deshalb nur in Ausnahmefällen die Vertreibungen des Spätmittelalters überstanden.42 Eine Ausnahme bildet die Streitbeilegung zweier österreichischer Juden, des bedeutenden Geschäftsmannes Hetschel aus Herzogenburg und dessen zeitweilig in Regensburg lebenden Bruders Zecherl, mit einem prominenten Mitglied der Regensburger jüdischen Gemeinde. Das Stück ist neben den beiden Brüdern auch von einem Wiener Rabbiner unterzeichnet, wurde also höchstwahrscheinlich in Wien ausgestellt, und zwar auf Verlangen der ebenfalls in den Streit involvierten Stadtgemeinde Regensburg. Die Involvierung der Stadt stellte sicher, dass die Urkunde im städtischen Archiv aufbewahrt wurde und auf diese Weise die Vertreibung der Regensburger Judenschaft 1519 überdauerte.43

|| 37 Grundbücher der Stadt Wien 3: Satzbuch AI (1373–1388), bearb. von Franz STAUB (Quellen zur Geschichte der Stadt Wien, Abt. 3,3), Wien 1921, S. 42 Nr. 3196: Aschier iudeo, scriptori Steussonis. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 61–62 Nr. 1235. 38 Vgl. Anm. 74. 39 Die älteste überlieferte hebräische Urkunde aus dem österreichischen Raum stammt aus dem Jahr 1305 und beurkundet den Verkauf eines Weingartens in Klosterneuburg, vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 1, S. 119 Nr. 124 (Übersetzung: Martha Keil). 40 Zu den hebräischen Unterschriften siehe weiter unten. 41 Vgl. z. B. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 278 Nr. 1603. 42 Zur Überlieferungsproblematik innerjüdischer Quellen vgl. Martha KEIL, Heilige Worte – Schriften des Abscheus. Der Umgang mit Büchern als Paradigma des jüdisch-christlichen Spannungsverhältnisses, in: Karl BRUNNER u. Gerhard JARITZ (Hgg.), Text als Realie. Internationaler Kongress Krems an der Donau, 3. bis 6. Oktober 2000 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 704 = Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 18), Wien 2003, S. 49–61, hier 59–60; BRUGGER (Anm. 6), S. 425–426, S. 434–435. 43 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 192–193 Nr. 1455 (Übersetzung: Martha Keil).

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Wesentlich häufiger als ganze hebräische Urkunden sind hebräische Bestätigungen unter dem deutschen Text. Rechtskraft erhielten diese durch eine oder mehrere eigenhändige Namensunterschriften der jüdischen Beteiligten oder der diese vertretenden Unterschriftzeugen; für letztere Funktion wurde in größeren Gemeinden gelegentlich ein Rabbiner herangezogen. Jüdische Männer unterschrieben mit ihrem heiligen hebräischen Namen, jüdische Frauen führten neben der auch in deutschen Urkunden üblichen Angabe ihres Ehemannes meist zusätzlich ein Patronym, das auf Deutsch bei Jüdinnen eher selten und meist nur für die Töchter prominenter Väter verwendet wurde.44 Christliche Urkunden wurden in den hebräischen Bestätigungen zum Teil neutral mit der Wendung „in aramäischer Sprache“ oder einfach als Schriftstücke „in der Schrift der Nichtjuden (gojim)“ bzw. „des Mönchtums (galachut)“ bezeichnet. Gelegentlich wurde stattdessen jedoch der drastischere Ausdruck passul (untauglich bzw. rechtlich ungültig) verwendet: Die deutschsprachige Urkunde wurde damit zum „untauglichen Brief“ erklärt, der erst durch die hebräische Bestätigung Gültigkeit nach jüdischem Recht erlangte,45 auch wenn die deutschsprachigen Urkunden im jüdischchristlichen Geschäftskontakt selbstverständlich volle Gültigkeit besaßen, was schon daran erkennbar ist, dass von vornherein nur ein kleiner Teil davon hebräisch beglaubigt wurde. Das Problemfeld war den christlichen Beteiligten jedoch bewusst, weshalb diese in bestimmten Fällen ausdrücklich die Ausstellung einer hebräischen Urkunde bzw. Bestätigung zur Absicherung verlangten, auch wenn sie diese selbst nicht lesen konnten. Die prinzipielle Rechtsgültigkeit hebräischer Urkunden und Bestätigungen wurde damit von den christlichen Geschäftspartnern anerkannt;46 das bisher erhobene Quellenmaterial enthält allerdings keine Informationen zum praktischen Umgang mit solchen Dokumenten bei Anlässen, bei denen der Inhalt der christlichen Seite zugänglich gemacht werden musste, wie etwa vor Gericht, wo urkundliche Beweise üblicherweise vorgelesen wurden.47

|| 44 So tritt zum Beispiel die ab 1403 urkundlich genannte Hansüß, Tochter des David Steuss, in deutschsprachigen Urkunden regelmäßig nur mit ihrem Vatersnamen auf, obwohl sie mit dem bedeutenden Rabbiner Meir ha-Levi von Erfurt verheiratet war; vgl. Rudolf GEYER u. Leopold SAILER (Hgg.), Urkunden aus Wiener Grundbüchern zur Geschichte der Wiener Juden im Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 10), Wien 1931, S. 350 Nr. 1159; BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, 297–298 Nr. 2318, 302–303 Nr. 2327. 45 Martha KEIL, Jewish Business Contracts from Late Medieval Austria as Crossroads of Law and Business Practice, in: John TOLAN u. a. (Hgg.), Religious Minorities in Christian, Jewish, and Muslim Law (5th–15th centuries) (Religion and Law in Medieval Christian and Muslim Societies 8), Turnhout 2017, S. 353–367, hier S. 362–363; DIES. (Anm. 34), S. 112. 46 Vgl. BRUGGER (Anm. 6), S. 431–432. 47 Vgl. z. B. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 85 Nr. 1978: Als Beweismittel für die Klage des Juden Peltel aus Herzogenburg auf nicht ausgelöste Grundstückspfänder wurde die (deutschsprachige) Verpfändungsurkunde in der Schranne zu Joching verlesen.

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Besonders in als heikel eingeschätzten Angelegenheiten wurde von christlicher Seite auf die jüdischrechtliche Absicherung durch ein entsprechendes hebräisches Dokument Wert gelegt. Ein solcher Fall war der sogenannte Wiener Zinsrevers, eine massive Zinssenkung auf Darlehen an Wiener Bürger, die die Stadt Wien 1338 von ihrer jüdischen Gemeinde erzwang. Das Jahr 1338 markiert die erste überregionale Judenverfolgung im Herzogtum Österreich, die der herzogliche Judenschutz nicht verhindern konnte; deshalb war es dem Wiener Rat möglich, sowohl den Herzögen Albrecht und Otto als auch der jüdischen Gemeinde mit dem Versprechen, die Juden Wiens vor der Gewalt zu schützen, dieses Zugeständnis abzupressen, das sich die Stadt sowohl von den Herzögen als auch von der jüdischen Gemeinde – im letzteren Fall mit einer hebräischen Urkunde – bestätigen ließ. Beide Urkunden wurden zur zusätzlichen Absicherung später ins Große Stadtbuch kopiert, wobei der Urkunde der jüdischen Gemeinde eine (weitgehend korrekte) deutsche Übersetzung beigefügt wurde; leider ist nicht bekannt, von wem die Abschrift und Übersetzung des hebräischen Textes ausgeführt wurde.48 Hinsichtlich der Häufigkeit von hebräischen Bestätigungen zeigen sich im Urkundenmaterial deutliche regionale Unterschiede. Der Großteil der überlieferten hebräischen Beglaubigungen im Umfeld der heutigen Republik Österreich stammt aus dem Herzogtum Steiermark und hier vor allem aus dem Gebiet der Südsteiermark im heutigen Slowenien.49 Die Steiermark war ebenso wie Österreich ein habsburgisch regiertes Herzogtum, es wird sich also kaum um eine landesfürstlich vorgegebene Vor-

|| 48 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 1, S. 336–338 Nr. 439 (moderne Übersetzung: Martha Keil), S. 338 Nr. 440; vgl. Klaus LOHRMANN, Die Wiener Juden im Mittelalter (Geschichte der Juden in Wien 1), Berlin, Wien 2000, S. 71–74; DERS. (Anm. 8), S. 155–156, S. 178–179; zur Verfolgung von 1338 Manfred ANSELGRUBER u. Herbert PUSCHNIK, Dies trug sich zu anno 1338. Pulkau zur Zeit der Glaubenswirren, Pulkau 1992; BRUGGER (Anm. 8), S. 216–219; Mitchell B. MERBACK, Pilgrimage & Pogrom. Violence, Memory, and Visual Culture at the Host-Miracle Shrines of Germany and Austria, Chicago, London 2012, S. 69–80; Miri RUBIN, Gentile Tales. The Narrative Assault on Late Medieval Jews, 2. Aufl. Philadelphia 2004, S. 65–68; Birgit WIEDL, Die angebliche Hostienschändung in Pulkau 1338 und ihre Rezeption in der christlichen und jüdischen Geschichtsschreibung, in: medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 6 (2010), S. 1–14 (http://medaon.de/pdf/A_Wiedl-62010.pdf); DIES. u. Daniel SOUKUP, Die Pulkauer Judenverfolgungen (1338) im Spiegel österreichischer, böhmischer und mährischer Quellen, in: Helmut TEUFEL, Pavel KOCMAN u. Milan ŘEPA (Hgg.), Avigdor, Benesch, Gitl – Juden in Böhmen und Mähren im Mittelalter. Samuel Steinherz zum Gedenken, Brünn, Prag, Essen 2016, S. 129–158. 49 Zur jüdischen Besiedlung der Südsteiermark vgl. BRUGGER (Anm. 8), S. 182–184; Artur ROSENBERG, Beiträge zur Geschichte der Juden in Steiermark (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 6), Wien, Leipzig 1914, S. 92–96; Norbert WEISS, Das Städtewesen der ehemaligen Untersteiermark im Mittelalter. Vergleichende Analyse von Quellen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 46), Graz 2002, S. 130–174.

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gehensweise gehandelt haben – abgesehen davon, dass die Landesfürsten in die Beurkundungspraxis ohnehin selten eingriffen.50 Ob es sich um einen Rechtsbrauch der steirischen Judengemeinden handelte, muss dahingestellt bleiben; allerdings sprechen die zum Teil sichtlich ungeübten Handschriften der Unterschreibenden dafür, dass es eher den christlichen Geschäftspartnern als den Juden selbst ein Bedürfnis war, die Urkunden durch eine hebräische Unterschrift zu beglaubigen.51 Die Beglaubigung durch Unterschrift entsprach dem christlichen Usus des Siegelns, der im österreichischen Raum nur sehr selten von Juden übernommen wurde.52 Wie sehr im Rechtsverständnis beider Seiten das christliche Siegel und die jüdische Unterschrift in Hinblick auf ihre Funktion gleichgesetzt wurden, illustriert die gängige Formulierung judisch insigel bzw. verschribens judisch insigel als Ankündigung einer hebräischen Unterschrift in der Corroboratio.53 Die wenigen Beispiele für eigentliche Judensiegel aus dem heute österreichischen Raum dürften zum Teil auf ,ausländische‘ Kontakte zurückzuführen sein, die zwischen den Juden im Herrschaftsgebiet des Erzbischofs von Salzburg und der großen Regensburger Judengemeinde, wo die jüdische Siegelführung schon sehr früh nachweisbar ist, bestanden.54

|| 50 Für die Steiermark existiert ein solcher landesfürstlicher Eingriff in Form von neun fast wortgleichen Privilegien Herzog Wilhelms aus dem Jahr 1396 für die Bürger von Graz, Leoben, Bruck an der Mur, Judenburg, Voitsberg, Kindberg, Knittelfeld, Mürzzuschlag und Rottenmann; darin wurden die Juden des Herzogs verpflichtet, alle Schuldbriefe, die ihnen Bürger der genannten Städte ausstellten, vom Stadt- und Judenrichter besiegeln zu lassen: BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 156–160 Nr. 2090–2098. Eingehalten wurde dies nach dem Befund der Quellen allerdings nicht; es ist nicht einmal die tatsächliche Anwesenheit von Juden bzw. die Existenz eines Judenrichters an allen genannten Orten anderweitig nachweisbar. 51 Vgl. z. B. Ljubljana, Arhiv Republike Slovenije, SI AS 1063, Zbirka listin 4332; Regest bei BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 355 Nr. 1737. 52 Martha KEIL, Ein Regensburger Judensiegel des 13. Jahrhunderts. Zur Interpretation des Siegels des Peter bar Mosche haLevi, in: Aschkenas 1 (1991), S. 135–150, hier S. 135–140; DIES. (Anm. 34), S. 105–107; DIES. (Anm. 45), S. 358–361; WIEDL (Anm. 10), S. 485–486. Zu jüdischen Siegeln vgl. allgemein Andreas LEHNERTZ, Judensiegel im spätmittelalterlichen Reichsgebiet. Beglaubigungstätigkeit und Selbstrepräsentation von Jüdinnen und Juden. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich III der Universität Trier, Bd. 1: Textteil, Trier 2017, S. 1– 132. 53 KEIL (Anm. 52), S. 136; BRUGGER (Anm. 6), S. 431–432, Anm. 36. 54 Eines der ältesten erhaltenen Judensiegel aus dem heute österreichischem Gebiet ist dasjenige des Juden Aron aus Salzburg: Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, AUR 1335 VI 9; vgl. Andreas LEHNERTZ, Judensiegel in Aschkenas (1273–1347), in: Alfred HAVERKAMP u. Jörg R. MÜLLER (Hgg.), Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, Trier, Mainz 2014, JS01, Nr. 31: http://www.medieval-ashkenaz.org/JS01/CP1-c1-02qc.html sowie BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 1, S. 308 Nr. 391. Aron dürfte sich nur kurz in Salzburg aufgehalten haben und übersiedelte dann nach Regensburg, vgl. Eveline BRUGGER, Die Judenkontakte Erzbischof Friedrichs III. im Spiegel der Quellen, in: Salzburg Archiv 30 (2005), S. 33–43, hier S. 36; Gregor MAIER, Juden und Christen in den Kathedralstädten Augsburg, Regensburg, Salzburg und Passau in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, [Trier 2015]: http://ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2015/903/, S. 265, Anm. 103; WADL

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Auch im österreichischen Raum war den Juden selbstverständlich bewusst, dass das Siegel für Christen die wichtigste Form der Beglaubigung darstellte, weshalb die im 13. Jahrhundert üblich werdenden Siegelzeugen auch in den Urkunden jüdischer Aussteller zu finden sind.55 Gelegentlich kam dabei der für jüdisch-christliche Rechtsangelegenheiten zuständige Judenrichter zum Einsatz, doch war die Besiegelung jüdischer Urkunden keineswegs dem Judenrichter vorbehalten.56 Bei Immobiliengeschäften suchten Christen wie Juden häufig bei der Grundherrschaft um Besiegelung nach, wobei es auch für Juden keinen Unterschied machte, ob der Grundherr weltlich oder geistlich war.57 Der Einfluss geistlicher Autoritäten auf die jüdische Beurkundung blieb generell auf die weltlichen Funktionen geistlicher Grundherren beschränkt; die heftige kirchliche Debatte über die Legitimität des Zinsennehmens spiegelt sich in den Krediturkunden nicht direkt wider. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen lässt sich kirchlicher Einfluss zumindest vermuten, so wie in der Urkunde des konvertierten Juden Paul, der den adeligen Schuldnern ein noch als Jude vergebenes Darlehen erließ, was auf die immer wieder erhobene kirchliche Forderung zurückgehen könnte, ein Jude müsse bei seiner Taufe alle unrechtmäßig erworbenen Gewinne, also Zinseinkünfte, rückerstatten.58 Ein Vergleich mit Urkunden zu christlichen Darlehensgeschäften, deren Zahl die der Dokumente zu Schuld- und Pfandgeschäften mit jüdischer Beteiligung im österreichischen Material bei weitem übersteigt, zeigt nur geringe Unterschiede zwischen Urkunden zu christlichen und jüdischen Krediten. Selbst die unter Christen anfangs übliche Tarnung von Verpfändungen durch Scheinverkäufe wurde bald aufgegeben; dafür wurde die Höhe der Zinsen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts weder bei jüdischen noch bei christlichen Kreditgeschäften deklariert, vielmehr waren die Zinsen

|| (Anm. 22), S. 220–221. Möglicherweise deutet die für Salzburg einzigartige und in Regensburg schon etablierte Führung eines Judensiegels darauf hin, dass Aron ursprünglich aus Regensburg stammte. Zur Siegelführung der Regensburger Juden vgl. LEHNERTZ (Anm. 52), S. 187–323. 55 BRUGGER (Anm. 6), S. 432–433. 56 Zum Judenrichter vgl. BRUGGER (Anm. 8), S. 149–150; WIEDL (Anm. 8), S. 207–208, 217–219; DIES. (Anm. 22), S. 290–292. Der Judenrichter war als städtischer Amtsträger auch ein häufiger Siegelzeuge für Geschäfte zwischen Christen und kam in dieser Funktion nicht nur bei Urkunden mit jüdischer Beteiligung zum Einsatz. 57 So verkauften der Jude Isserl aus Ödenburg und seine Frau Nechel 1359 ein Haus bei der Himmelpforte in Wien, das dem dortigen St. Agneskloster grunddienstpflichtig war, mit der grundvrowen hand der erbern geistlichen vrowen swester Katreyn von Leizz, zu den zeiten maistrinn in sand Agnesen chloster datz der himelporten. Die Grundherrin fungierte auch als Sieglerin, da wir juden nicht insigeln geben – sie wäre aber von einem christlichen Verkäufer, der kein eigenes Siegel besaß, ebenso darum gebeten worden. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 2, S. 227 Nr. 926; vgl. BRUGGER (Anm. 35), S. 82–83. 58 BRUGGER und WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 69–70 Nr. 1250 (vgl. oben Anm. 32). Vgl. WADL (Anm. 22), S. 202–204; Gerd MENTGEN, Jüdische Proselyten im Oberrheingebiet während des Spätmittelalters. Schicksale und Probleme einer „doppelten“ Minderheit, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 142, Neue Folge 103 (1994), S. 117–139, hier S. 138.

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in der angegebenen Schuldsumme bereits enthalten und mit dieser gemeinsam zurückzuzahlen. Gängiger als bei Christen war bei jüdischen Kreditgebern lediglich die explizite Angabe von Verzugszinsen, die nach dem Verstreichen des festgelegten Zahlungstermins fällig wurden und aus kirchlicher Sicht unproblematisch waren, da sie als Entschädigung galten und keinen verbotenen Wucher darstellten.59 Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts finden sich in jüdischen wie auch in christlichen Schuldbriefen gelegentlich offen angegebene Zinsen, die als dienst, also als regelmäßige Abgabe vergleichbar mit einem Grunddienst bzw. einer Grundrente, deklariert wurden. Auch explizite Zinseszinsregeln kamen nun in einzelnen Fällen vor.60 Gerade die Deklaration von Zinsen als Dienst kam der Darlehenspraxis zwischen Christen entgegen, für die der Rentenkauf schon seit längerem eine beliebte Form des Geldverleihs gegen Zinsen darstellte.61 Schuldurkunden wurden bei der Aufnahme des Kredits dem Gläubiger ausgehändigt und blieben bis zur Rückzahlung in dessen Besitz, wobei es keinen Unterschied machte, ob der Kreditgeber Jude oder Christ war. So ist wohl auch die Bestimmung im seit 1244 gültigen österreichischen Judenprivileg zu verstehen, dass ein jüdischer Gläubiger als Beweis für Forderungen an seine adeligen Schuldner suas literas et sigillum vorzulegen habe.62 Aussteller der angesprochenen besiegelten

|| 59 BRUGGER (Anm. 8), S. 157–158; BRUGGER u. WIEDL (Anm. 10), S. 295–296; Hans-Jörg GILOMEN, Christlicher Glaube und Ökonomie des Kredits im Spätmittelalter, in: Gerhard FOUQUET u. Sven RABELER (Hgg.), Ökonomische Glaubensfragen. Strukturen und Praktiken jüdischen und christlichen Kleinkredits im Spätmittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 242), Stuttgart 2018, S. 121–160, hier S. 132–134; Michael TOCH, Jüdische Geldleihe im Mittelalter, in: Manfred TREML u. Josef KIRMEIER (Hgg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17), München 1988, S. 85–94, hier S. 89–90. 60 Vgl. z. B. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 28–29 Nr. 1176. 61 Die österreichischen Herzöge begannen Mitte des 14. Jahrhunderts, gegen die übermäßige Belastung des privaten Grundbesitzes mit Grundrenten vorzugehen, wobei sich feststellen lässt, dass diese Renten zum überwiegenden Teil von Christen – besonders häufig von geistlichen Einrichtungen – und nicht von Juden bezogen wurden; vgl. Hans-Jörg GILOMEN, Die ökonomischen Grundlagen des Kredits und die christlich-jüdische Konkurrenz im Spätmittelalter, in: Eveline BRUGGER u. Birgit WIEDL (Hgg.): Ein Thema – zwei Perspektiven: Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 139–169, hier S. 143–146; LOHRMANN (Anm. 8), S. 209–210; DERS. (Anm. 48), S. 79–81. 62 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 1, S. 35–38 Nr. 25, hier S. 35 §4: Item si iudeus super possessiones aut litteras magnatum terre pecuniam mutuaverit et hoc per suas literas et sigillum probaverit, nos iudeo possessiones assignabimus obligatas et ei eas contra violenciam defendemus. Der Schreiber des Privilegs unterscheidet suus und eius an anderer Stelle korrekt, weshalb die Übersetzung „ihre Briefe und Siegel“ (so – der Bearbeitung Joseph Wertheimers aus dem Jahr 1842 folgend – alle deutschen Übersetzungen des Stückes, vgl. die Angaben ebd., S. 37) zwar inhaltlich naheliegend, aber ungrammatisch ist. Zum Judenprivileg Herzog Friedrichs II. von 1244, das bis zur Vertreibung von 1420/21 die Grundlage des österreichischen Judenrechts bildete, vgl. LOHRMANN (Anm. 8), S. 53–80.

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Schuldbriefe waren mit Sicherheit die adeligen Schuldner, doch blieben die Urkunden bis zur Rückzahlung im Besitz des jüdischen Geldleihers, für den ,seine‘ Urkunden, also die von seinen Kunden bestätigten Darlehen, nicht nur Beweismittel im Fall von Streitigkeiten darstellten, sondern auch einen – buchstäblich – handfesten Teil seines Vermögens bildeten. Aus diesem Grund mussten bei den Besitzerhebungen, die die jüdischen Gemeinden unter ihren Mitgliedern zur Steuerfestsetzung durchführten, alle noch nicht ausgelösten Schuldbriefe als Vermögensbestandteil deklariert werden.63 Entsprechend wichtig war die sorgfältige und geordnete Verwahrung der kostbaren Dokumente, da eine verlorene oder beschädigte Urkunde im schlimmsten Fall die Uneinbringlichkeit der damit verbrieften Schulden bedeuten konnte.64 Einen Hinweis auf die Praxis des Umgangs jüdischer Financiers mit ihren ,Papieren‘ geben die hebräischen Vermerke, die gelegentlich auf der Rückseite oder unter der Plica einer Urkunde angebracht wurden und die keine rechtliche Bedeutung hatten, sondern wohl vor allem Ordnungszwecken dienten und bei länger laufenden Geschäften halfen, den Überblick zu behalten. Diese Vermerke konnten die Namen der Schuldner ebenso enthalten wie Angaben zu Bürgen, Pfandgütern oder zur Schuldhöhe; in einzelnen Fällen wurden auch die im Lauf der Zeit hinzukommenden Zinsen nachgetragen oder Teilrückzahlungen vermerkt.65 Die Angabe von Terminen mithilfe christlicher Heiligenfeste im Urkundentext wurde in den hebräischen Vermerken häufig übernommen, anstatt sie in den jüdischen Kalender umzurechnen; allerdings konnten solche Angaben durch den Zusatz tame (rituell unrein) als nichtjüdisch gekennzeichnet werden, wenn die Abgrenzung von entsprechenden jüdischen Festen (wie z. B. der christliche Faschingstag vom jüdischen Purimfest) notwendig schien.66

|| 63 Arthur J. ZUCKERMAN, Unpublished Materials on the Relations of Austrian and German Jews to the Central Governments, in: Saul LIEBERMANN u. Arthur HYMAN (Hgg.), Salo Wittmayer Baron Jubilee Volume on the Occasion of his 80th Birthday, Bd. 1, Jerusalem 1974, S. 1059–1094, hier S. 1086; vgl. Martha KEIL, Gemeinde und Kultur – die mittelalterlichen Grundlagen jüdischen Lebens in Österreich, in: BRUGGER u. a. (Anm. 8), S. 15–122, hier S. 44–45. 64 BRUGGER (Anm. 6), S. 426–429. 65 Zu nachgetragenen Zinsen vgl. z. B. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 117–118 Nr. 2015; zu Teilrückzahlungen ebd., S. 163–164 Nr. 2105. Zur Bedeutung hebräischer Dorsalvermerke vgl. Christian SCHOLL, Hebräische Rückvermerke als Quellen für den Historiker. Erkenntnismöglichkeiten und Überlieferung anhand Ulmer Beispiele des 14. und 15. Jahrhunderts, in: HAVERKAMP u. MÜLLER (Anm. 5), S. 83–96. Im Unterschied zu Scholls Befunden (ebd., S. 90–91, 95) findet sich im österreichischen Material der Großteil der überlieferten hebräischen Vermerke auf Schuldurkunden. 66 KEIL (Anm. 34), S. 108, 111–112. In hebräischen Urkunden bzw. Beglaubigungen, also Texten mit Rechtskraft, sind solche Wendungen deutlich seltener zu finden, auch wenn sie gelegentlich vorkommen; vgl. z. B. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 155–156 Nr. 1392 (Übersetzung: Martha KEIL): Der St. Martinstag ist in der hebräischen Beglaubigung als der „unreine Mirtin“ wiedergegeben, während die Jahreszahl nach dem jüdischen Kalender als „133 nach der [kleinen] Jahreszählung“ angegeben ist, was der christlichen Jahresdatierung 1372 in der deutschsprachigen Urkunde entspricht.

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Auch auf den Siegelpresseln finden sich manchmal (winzige) hebräische Vermerke; gehäuft treten solche im Umfeld der Familie des David Steuss auf.67 Ob es dafür einen praktischen Grund (wie etwa die leichtere Auffindbarkeit eines bestimmten Stücks in einem Stapel von Urkunden) gab, muss dahingestellt bleiben. Gelegentlich dienten solche Vermerke auf den Presseln auch der Identifizierung der Siegler, wie besonders deutlich an einer Schuldurkunde zu sehen ist, die Markgraf Prokop von Mähren 1390 gemeinsam mit sieben adeligen Bürgen für die Juden Salman aus Hosterlitz/Hostěradice, Joseph aus Retz und Kadym aus Znaim/Znojmo ausstellte: Auf jedem der acht Siegelpressel ist eine Kurzform des Sieglernamens phonetisch mit hebräischen Buchstaben wiedergegeben.68 Es ist so naheliegend wie voreilig, aus solchen Vermerken zu schließen, dass die jüdischen Geschäftsleute mit der Schrift oder Sprache der mehrheitlich deutschen Urkunden Probleme hatten. Im Gegenteil lassen manche Vermerke deutlich erkennen, dass die Verfasser auf Deutsch dachten und deutsche Formulierungen bzw. Syntax wörtlich ins Hebräische übertrugen.69 Deutsche Namen und Fachbegriffe wurden so gut wie möglich mit hebräischen Buchstaben transliteriert; ab dem 15. Jahrhundert finden sich sogar jüdische Namensunterschriften, die mit hebräischen Lettern in deutscher Sprache verfasst wurden.70 Dass gerade jüdische Geschäftsleute die lateinische Schrift zumindest lesen können mussten, liegt aus rein praktischen Gründen auf der Hand, auch wenn diese Schrift für den eigenen Gebrauch (den überlieferten Quellen nach zu schließen) nicht aktiv verwendet wurde.71 Bis zum Ausgang des Mittelalters ist kein lateinschriftlicher Text eines jüdischen Verfassers aus dem österreichischen Raum bekannt;72 allerdings

|| 67 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 39 Nr. 1196, S. 207–208 Nr. 1483, S. 221 Nr. 1507, S. 275–276 Nr. 1599, S. 382 Nr. 1786, S. 383–384 Nr. 1789, S. 423 Nr. 1858 sowie ebd., Bd. 4, S. 31 Nr. 1894, S. 259– 260 Nr. 2259. 68 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 58–59 Nr. 1936 (Transkription: Andreas Lehnertz). 69 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 178–179 Nr. 1429, S. 207–208 Nr. 1483 (Übersetzung: Martha KEIL); vgl. auch ebd., Bd. 4, S. 286–287, Nr. 2302 (Übersetzung: Andreas Lehnertz); zur Wiedergabe des deutschen Namens „Schneider“ verwendete der Schreiber des hebräischen Vermerks statt des entsprechenden hebräischen Wortes eine Form, die er aus der Wurzel des Verbs „schneiden“ bildete. 70 KEIL (Anm. 34), S. 109–110. Zur rituellen Verwendung der deutschen Sprache innerhalb der jüdischen Gemeinde aus Gründen der allgemeinen Verständlichkeit vgl. Martha KEIL, „Und wenn sie die Heilige Sprache nicht verstehen...“ Versöhnungs- und Bußrituale deutscher Jüdinnen und Juden im Spätmittelalter, in: Ernst BREMER u. a. (Hgg.), Language of Religion – Language of the People. Medieval Judaism, Christianity and Islam (MittelalterStudien 11), München 2006, S. 171–189, hier S. 175– 176. 71 KEIL (Anm. 63), S. 33–34, 78; Bettina SIMON, Judendeutsch und Jiddisch, in: Alfred EBENBAUER u. Klaus ZATLOUKAL (Hgg.), Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, Wien, Köln, Weimar 1991, S. 251–260, hier S. 254; Michael TOCH, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44), 3. Aufl. München 2013, S. 24–25. 72 KEIL (Anm. 34), S. 111.

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ist dieser Befund insofern einzuschränken, als sich nur in den wenigsten Fällen feststellen lässt, von wem die lateinschriftlichen Urkunden jüdischer Aussteller geschrieben wurden. Wie bereits erwähnt, ist davon auszugehen, dass vor allem im städtischen Umfeld dieselben christlichen Berufsschreiber herangezogen wurden, die auch die Urkunden der meisten christlichen Stadtbürger verfassten; konkret nachweisen lässt sich dies im österreichischen Material zum Beispiel für den Klosterneuburger Stadtschreiber Seifried Steck, der aufgrund seiner markanten Handschrift eindeutig als Schreiber einer Urkunde des jüdischen Ausstellers Aram aus Klosterneuburg nachzuweisen ist.73 Andererseits erscheint es zumindest im Fall des erwähnten Juden Ascher, Schreiber des David Steuss, wenig plausibel, dass der Schreiber eines so prominenten Geschäftsmannes nur für das Verfassen von hebräischen Texten, die im Geschäftsverkehr mit Christen eine untergeordnete Rolle spielten, eingesetzt worden wäre. 74 Zusammenfassend können wir feststellen, dass sich die aus jüdisch-christlicher Interaktion hervorgegangenen Urkunden weitestgehend am kleinräumigen diplomatischen Usus orientierten. Das konnte so weit gehen, dass in Einzelfällen nur schwer zu unterscheiden ist, ob eine in der Urkunde der jud genannte Person tatsächlich Jude war oder vielmehr so hieß, denn der christliche Bei- oder Familienname Jud war nicht selten.75 Trotz dieser starken Normierung lässt sich anhand des überlieferten Materials jedoch erkennen, dass sich nicht nur die Juden aktiv in der christlich definierten Rechtssphäre zurechtfanden, sondern dass auch die christliche Seite zumindest mit manchen Aspekten des jüdischen Rechtsverständnisses vertraut war und entsprechend darauf einging. Insofern wird man – um auf die eingangs aufgeworfene Frage zurückzukommen – von einem jüdischen Urkundenwesen sprechen dürfen, auch wenn dieses selbstverständlich nicht für sich allein, sondern im Kontext der lokalen

|| 73 Klosterneuburg, Stiftsarchiv, Urkunde 1388 VII 19; vgl. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 31–32 Nr. 1895. 74 Von David Steuss ist neben einer Reihe von Urkunden auch ein Brief an die Stadt Pressburg/Bratislava in einer geschäftlichen Angelegenheit erhalten: Archív hlavného mesta SR Bratislavy (Stadtarchiv Pressburg), Urkunde Nr. 654 (alt Nr. 571), Regest bei BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 264 Nr. 1582. Dieses Schreiben war mit dem Siegel des Wiener Judenrichters verschlossen; ein zweiter Brief von einem Verwandten Davids namens Vogel in derselben Sache dürfte von derselben Hand geschrieben worden sein und enthält keine Siegelankündigung, auch wenn noch Spuren eines rückwärtigen Verschlusssiegels erkennbar sind: Archív hlavného mesta SR Bratislavy (Stadtarchiv Pressburg), Urkunde Nr. 658 (alt Nr. 598), Regest bei BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 263–264 Nr. 1581. Es ist durchaus denkbar, dass gerade für solche Schriftstücke (für die eine Empfängerausfertigung im Gegensatz zu den Urkunden auszuschließen ist) David Steuss’ eigener Schreiber zum Einsatz kam, auch wenn der Judenrichter von Amts wegen als Siegelzeuge herangezogen wurde, da für David Steuss kein eigenes Siegel nachzuweisen ist. 75 Vgl. oben Anm. 28.

Jüdisches Urkundenwesen und christliche Obrigkeiten | 39

diplomatischen Tradition und der direkten Begegnung mit dem christlichen Gegenüber zu betrachten ist.76 Allerdings ist in Hinblick auf das Auftreten von Juden in urkundlichen Quellen auch in Betracht zu ziehen, dass es für die christlichen Autoritäten vor Ort in vielen Fällen schlicht keine Rolle spielte, dass sie es mit Juden und nicht mit Christen zu tun hatten. Dies gilt wie erwähnt besonders bei Fragen des Grundbesitzes. Jüdische Haus- und Grundinhaber treten in unterschiedlichsten Zusammenhängen in Urkunden auf – als Käufer77 oder Verkäufer, als Beteiligte an der Frage um zu leistende Grunddienste, gelegentlich auch nur als Nachbarn, deren Namen zur Bestimmung der Lage eines Grundstückes genannt wurden. Wie bei den Schuldurkunden sind auch hier die verwendeten Formeln die gleichen, da sich der Rechtsinhalt für Christen und Juden in den meisten Fällen nicht unterschied. Juden besaßen Grund, wurden als Besitzer an die Gewere gesetzt, hatten die auf den Grundstücken liegenden Abgaben zu leisten und traten mit ihren Grundherren auf dieselbe Art in Kontakt wie Christen. Neben solch friedlichen Transaktionen findet sich jüdische Beteiligung auch im weiten Feld der Urkunden, die aus Konflikten hervorgingen – als Kläger oder Beklagte in Gerichtsurkunden, als Partei in Nachbarschaftsstreitigkeiten, außerdem als Schiedsrichter, wenn in einem christlich-jüdischen Konflikt ein gemischtes Schiedsgericht tätig wurde, was sich vor allem im Herzogtum Steiermark für das 15. Jahrhundert nachweisen lässt.78 Eine Besonderheit findet sich hingegen in jüdischen Urfehdebriefen, deren formaler Aufbau sich nicht von entsprechenden christlichen Dokumenten unterschied, in denen zur Absicherung der christlichen Empfänger jedoch nicht nur eine hebräische Beglaubigung, sondern auch ein Schwur bei der „jüdischen Treue“79 sowie der

|| 76 Vgl. KEIL (Anm. 34), S. 103; DIES. (Anm. 45), S. 357; WIEDL (Anm. 18), S. 63. 77 Obrigkeitliche Einschränkungen des Grunderwerbs durch Juden sind im österreichischen Raum selten; bei geistlichen Besitzungen in Österreich unter der Enns (gehäuft im Raum um Krems an der Donau) finden sich ab dem späten 14. Jahrhundert allerdings Verbote an christliche Grundholden, die ihnen übertragenen Besitzungen an Juden zu verkaufen oder zu verpfänden. Vgl. BRUGGER (Anm. 35), S. 84, Anm. 19 sowie BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 123 Nr. 2035, S. 200 Nr. 2163, S. 246 Nr. 2239, S. 262–263 Nr. 2264–2265. 78 BRUGGER (Anm. 8), S. 150; LOHRMANN (Anm. 8), S. 202–205, 221; ROSENBERG (Anm. 49), S. 14–30; WIEDL (Anm. 22), S. 290, Anm. 77. Der früheste urkundliche Beleg für ein Verfahren vor einem gemischt besetzten Judengericht in der Steiermark stammt aus dem Jahr 1404: BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 301–302 Nr. 2325. Die theoretische Existenz eines Judengerichts für das Herzogtum Österreich ist nur durch Rechtsbestimmungen Herzog Rudolfs IV. für Wien, Wiener Neustadt, Bruck an der Leitha und Tulln dokumentiert, vgl. ebd., Bd. 2, S. 263 Nr. 992, S. 269 Nr. 1006, S. 288–289 Nr. 1047, S. 301–302 Nr. 1072. 79 Diese Formel findet sich – in Entsprechung der christlichen Formel „bei/mit unserer Treue“ – auch in der Corroboratio jüdischer Geschäftsurkunden, vor allem in Verbindung mit dem Siegel eines christlichen Siegelzeugen. Vgl. z. B. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 128 Nr. 2043.

40 | Eveline Brugger judischen ee, also der religiösen Identität der Schwörenden,80 verlangt werden konnte. Gerade Urfehdebriefe waren immer wieder ein Ergebnis vorangegangener antijüdischer Gewalt – gelegentlich zugunsten der jüdischen Betroffenen (wenn wir z. B. aus dem Urfehdebrief des Christen Lorenz Reyban erfahren, dass er 1386 dafür ins Gefängnis gekommen war, dass er einige Kremser Juden mit dem Tod bedroht hatte),81 häufiger jedoch zu deren Schaden. Das drastischste Beispiel für letzteres sind die – vom Aufbau her weitestgehend dem üblichen Formular folgenden – Urfehdebriefe, die sich die Salzburger Erzbischöfe 1404 von den im Zuge einer Verfolgung gefangengenommenen und enteigneten Pettauer Juden82 sowie 1498 anlässlich der endgültigen Salzburger Judenvertreibung von den Salzburger und Halleiner Juden83 ausstellen ließen. Dementsprechend darf bei der Auswertung urkundlicher Quellen nicht außer Acht gelassen werden, dass trotz aller Gemeinsamkeiten ein Ungleichgewicht bestand, in dem sich die jüdische Seite stets in der exponierteren Position befand. Man konnte einander im shared space der Urkunden durchaus auf Augenhöhe begegnen, doch blieb die Tatsache bestehen, dass die alltägliche Lebensrealität – und im Lauf des Spätmittelalters zunehmend auch die Rechtssicherheit84 – der jüdischen Bevölkerung auf einem labileren Fundament beruhte als diejenige ihrer christlichen Umgebung.

|| 80 Vgl. z. B. BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 2, S. 250–251 Nr. 966 sowie ebd., Bd. 4, S. 51–52 Nr. 1925: Die letztgenannte Urkunde stammt aus Regensburg, wo der beschworene Verlust der jüdischen Identität fixer Bestandteil der Sanctio jüdischer Hafturfehden war, vgl. LEHNERTZ (Anm. 52), S. 297–298. 81 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 3, S. 422–423 Nr. 1857. Vgl. Eveline BRUGGER, Neighbours, Business Partners, Victims: Jewish-Christian Interaction in Austrian Towns During the Persecutions of the Fourteenth Century, in: Ephraim SHOHAM-STEINER (Hg.), Intricate Interfaith Networks: Quotidian Jewish-Christian Contacts in the Middle Ages (Studies in the History of Daily Life [800–1600] 5), Turnhout 2016, S. 267–286, hier S. 279–280; LOHRMANN (Anm. 8), S. 163–164; DERS. (Anm. 48), S. 50–51. 82 BRUGGER u. WIEDL (Anm. 3) Bd. 4, S. 293–294 Nr. 2312. 83 Johann Egid SCHERER, Die Rechtsverhältnisse der Juden in den deutsch-österreichischen Ländern. Mit einer Einleitung über die Principien der Judengesetzgebung in Europa während des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte des Judenrechtes im Mittelalter 1), Leipzig 1901, S. 565–571; vgl. Markus WENNINGER, Die Entwicklung der Stadt Salzburg – zur Geschichte der Juden in Salzburg, in: Heinz DOPSCH u. Hans SPATZENEGGER (Hgg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Bd. 1/2: Mittelalter, Salzburg 1983, S. 747–756, hier S. 755–756; BRUGGER (Anm. 8), S. 227. 84 Eveline BRUGGER, Between a Rock and a Hard Place: Rulers, Cities, and "their" Jews in Austria during the Persecutions of the Fourteenth Century, in: PRICE u. UTTERBACK (Anm. 8), S. 189–200, hier S. 199–200.

Alheydis Plassmann

Datamining in Urkunden Zusammenfassung: Urkunden liefern uns oftmals gleichsam nebenbei Informationen, die neben dem eigentlichen herrscherlichen Akt als solchen in ihrer Gesamtheit Einblicke in Herrschaftsstrukturen und Vernetzungen geben können. Für die Itinerarforschung hat man dies schon lange gemacht, ist aber vor anderen Auswertungen oftmals zurückgeschreckt. In der Tat hängt die Möglichkeit einer statistischen Auswertung von Urkunden entscheidend von der Größe des Urkundenkorpus ab. Am Beispiel der Urkunden Heinrichs II. von England lässt sich aufzeigen, dass die geographisch-statistischen Informationen in den Urkunden verwendet werden können, um die Vernetzung des Königs innerhalb seiner verschiedenen kontinentalen Besitzungen deutlich zu machen. Dabei lassen sich auch kleinere Bestände wie etwa die Urkunden für aquitanische oder bretonische Empfänger dann auswerten, wenn sie mit den Ergebnissen aus größeren Beständen wie den Urkunden für normannische Empfänger abgeglichen werden. Die Betrachtung der diversen Herrschaften Heinrichs II. auf dem Kontinent führt zu Erkenntnissen über die Verflechtung der Regionen untereinander, aber auch über die Dichte der Verbindungen des Königs in der jeweiligen Region. Schlagwörter: Herrscherurkunden, Vernetzung, England, Frankreich

Aussteller,

Empfänger,

Urkundenzeugen,

Datamining ist nicht unbedingt etwas, was wir mit dem Mittelalter verbinden, und tatsächlich haben sich Mediävisten eher mit dem Problem zu beschäftigen, dass sie so wenige verlässliche Aussagen aus den Dokumenten gewinnen können. Wenn heutzutage mit Algorithmen die Vorlieben der Kunden für bestimmte Produkte errechnet werden und Werbung und Einkaufsvorschläge darauf abgestimmt werden, ist das eine Art von Datamining, die für mittelalterliche Quellen kaum in Frage kommt. Es wird hier auch gar nicht die Absicht verfolgt, in missgeleiteter Begeisterung für moderne Abfragetechniken und Berechnungen die Möglichkeiten für den Einsatz von Statistiken für Mittelalterforschung zu übertreiben; ganz im Gegenteil. Wenn überhaupt, soll dies ein Plädoyer dafür sein, dass die Aufbereitung von Daten und der Erkenntnisgewinn daraus nur dann sinnvoll sind, wenn man sich über die Art und Weise der Benutzung von Daten und der aus ihnen zu beziehenden Informationen genau Rechenschaft ablegt. Als Beispiel sollen im Folgenden die Urkunden

|| Alheydis Plassmann, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Abt. für Frühe Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte, Am Hofgarten 22, 53113 Bonn, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-003

42 | Alheydis Plassmann

Heinrichs II., von 1154 bis 1189 König von England, herangezogen werden, um Möglichkeiten des Datamining in Urkunden aufzuzeigen. Nicholas VINCENT hat für die Neuedition der Urkunden Heinrichs mehr als 3.000 Urkunden zusammengetragen.1 Von Friedrich I. Barbarossa, der annähernd ähnlich lang regierte, liegen in der Edition der MGH etwas über 1.000 echte Urkunden vor.2 Gegenüber den englischen Urkunden haben die Barbarossas indes den Vorteil, dass sie datiert sind, während eine zeitliche Bestimmung für die englischen Königsurkunden mit anderen Methoden versucht werden muss.3 Dieses Ungleichgewicht, wenn wir es denn so nennen wollen, zwischen den Zeitgenossen Barbarossa und Heinrich II. liegt vordergründig an der effektiven englischen Administration4, die– wie auch andere historische Bedingungen – eine Überlieferung wahrscheinlicher gemacht hat. Ein Ungleichgewicht besteht allerdings auch im Urkundenkorpus selbst. Der Großteil der Urkunden Heinrichs entfällt auf England, wie der Übersicht entnommen werden kann: Empfänger England Normandie Aquitanien (südlich der Loire)

Anzahl

In %

Ausstellungsort

In %

2.380

80

426

14

378

90

91

3

71

78

Anjou

33

1

25

73

Maine

19

0,6

13

72

|| 1 Die Urkunden wurden in der Edition von Nicholas VINCENT benutzt, die kurz vor der Veröffentlichung steht: Acta Henrici II., hg. v. Nicholas VINCENT, im Folgenden abgekürzt als AHII. Ich danke Nicholas VINCENT herzlich dafür, dass er mir eine elektronische Vorabversion zur Verfügung gestellt hat. Die Urkunden Heinrichs II. für Empfänger auf dem Kontinent sind zu einem großen Teil bereits ediert in: Recueil des actes de Henri II, Roi d'Angleterre et Duc de Normandie: concernant les provinces françaises et les affaires de France, hrsg. v. Léopold DELISLE u. Elie BERGER, 3 Bde. (Chartes et diplômes relatifs à l’histoire de France 7), Paris 1916–1927, indes hat Nicholas VINCENT 157 zusätzliche Urkunden in seiner Edition. Vgl. allgemein zu den Urkunden auf dem Kontinent auch Nicholas VINCENT, La Normandie dans les chartes du roi Henri II (1154–1189). Archives, intentions et conséquences, in: David BATES u. Pierre BAUDUIN (Hgg.), 911–2011. Penser les mondes normands médiévaux. Conference organisé par Le Centre Michel de Boüard – Centre de recherches archéologiques et historiques anciennes et médiévales (CRAHAM, Université de Caen), Caen 2016, S. 405–428, vor allem S. 405– 410. 2 Die Urkunden Friedrichs I. 1152–1190, hrsg. v. Heinrich APPELT (MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 10/1–5), Hannover 1975–1990. 3 Grundsätzlich vorsichtig: Nicholas VINCENT, The Charters of King Henry II. The Introduction of the Royal Inspeximus revisited, in: Michael GERVERS (Hg.), Dating undated medieval charters, Woodbrigde 2000, S. 97–120. 4 Dazu allgemein Robert BARTLETT, England under the Norman and Angevin Kings 1075–1225 (The New Oxford History of England), Oxford 2000, S. 193–201.

Datamining in Urkunden | 43

Empfänger Bretagne

Anzahl

In %

Ausstellungsort

In %

13

0,5

8

61

Im Fall Heinrichs II. besteht die Möglichkeit der geographisch ungleichgewichtigen Verteilung der Urkunden nachzuspüren: Die sogenannten patent rolls und charter rolls, die von der englischen Kanzlei erstellt wurden und ein Verzeichnis der Urkundenausgänge – wenn auch nicht vollständig – bieten, geben uns einen groben Überblick über den Urkundenausstoß des Herrschers in einem Jahr. Wenn wir diese für Heinrich II. auch nicht überliefert haben, können wir doch aus den Anfangsjahren der Regierung Johann Ohnelands belegen, dass die Empfänger auf dem Kontinent in einem Regierungsjahr Johanns in ähnlichen prozentualen Verhältnissen bedacht worden sind, wie in der gesamten Herrschaft von Heinrich II.5 Dass wir also nur 91 Urkunden für Empfänger südlich der Loire überliefert haben, bedeutet keinesfalls, dass der Überlieferungszufall uns hier überproportional des Materials beraubt hat! Das Gegenteil ist der Fall. Die Rolls der Regierung Johanns ergeben prozentual ein sehr ähnliches Bild wie die Urkunden Heinrichs II. in ihrer Gesamtheit.6 Wir können also davon ausgehen, dass sie einen ziemlich genauen Spiegel der herrscherlichen Aufmerksamkeit darstellen. Es lässt sich davon ausgehen, dass die geographische Verteilung der Urkunden Heinrichs II. nicht aufgrund der Verzerrung durch Überlieferung so unausgewogen ist. Tatsächlich entspricht dies statistischen Grundregeln: Eine ausreichende Anzahl von Beispielen wird uns Ergebnisse liefern, die statistisch relevant sind und die Verteilung des Gesamtkorpus widerspiegeln, selbst dann, wenn sie nur einen Bruchteil des Gesamtkorpus ausmachen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die geographische Verteilung in den Urkunden Heinrichs II. und bei den patent und charter rolls sich entspricht, sogar wenn uns von Heinrichs Urkunden insgesamt nur etwa das erhalten geblieben ist, was die Produktion eines durchschnittlichen Jahres ausmacht, also etwa 2%. Bei einer Anzahl von 105.000 geschätzten Urkunden7 ist diese Größe statistisch relevant. Bei den Urkunden für die Normandie mit etwa 500 Urkunden kommen wir auf eine Prozentzahl von 0,5% der möglichen Gesamtzahl – eine Zahl, die bei der hohen Anzahl von Urkunden wohl dennoch als relevant gelten darf. In statistisch nicht mehr relevanten Regionen bewegen wir uns, wenn wir uns etwa Urkunden für bretonische Empfänger ansehen. Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass bei einer Anzahl von 13 Urkunden eine Statistik nicht mehr zuverlässig erstellt wer-

|| 5 Zu diesen Verhältnissen vgl. John GILLINGHAM, Bureaucracy, the English State and the Crisis of the Angevin Empire, 1199–1205, in: Peter CROOKS u. Timothy H. PARSONS (Hgg.), Empires and Bureaucracy in World History. From Late Antiquity to the Twentieth Century, Cambridge 2016, S. 197–220. 6 GILLINGHAM (wie Anm. 5), S. 214. 7 Zu den Verlusten VINCENT, Normandie (wie Anm. 1), S. 409ff.

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den kann. Dies bedeutet aber nicht, dass wir die bretonischen Urkunden nicht verwenden können, wir müssen sie nur nach Möglichkeit mit dem übrigen Korpus abgleichen oder aber andere Möglichkeiten zur Überprüfung finden. Entscheidend ist nämlich, welche Fragen wir an das statistische Material stellen. Wenn wir etwa die Aussage treffen würden, dass Heinrich II. mehr kirchliche Empfänger bedacht hat als weltliche, ist das ganz offensichtlich verzerrend, weil wir von der Überlieferungschance im kirchlichen Umfeld wissen. Wenn es aber darum geht, in welchen Regionen Empfänger zu verorten sind, ist eine statistische Aussage möglich, weil der Überlieferungszufall einer geographischen Verzerrung eben nicht notwendigerweise in die Hände spielt. Soweit zu den Voraussetzungen; nun sollen die Möglichkeiten der geographischstatistischen Auswertung im Folgenden an einigen Beispielen mit unterschiedlich ausgerichteten Fragestellungen ausgelotet werden. Zunächst zur Vorgehensweise: Für die Auswertung der Urkunden Heinrichs wurde das Programm Excel verwendet. Dieses hat ein sogenanntes ‚Feature‘, dass die Aufbereitung von Daten in Karten ermöglicht. Natürlich ist es für die Verwendung dieses Features eine unabdingbare Voraussetzung, dass die Orte richtig identifiziert werden. Heute existierende Orte sind standardmäßig im Programm zu identifizieren, bei wüst gefallenen Orten lässt sich mit geographischen Koordinaten arbeiten. Als Beispiel für eine solche Kartenerstellung soll eine Übersicht über die Bezeugungen Thomas Beckets verwendet werden. Neben einer Demonstration der Methode kann mit diesem Beispiel gleichzeitig eine weitere Lanze für die statistische Auswertung gebrochen werden, nämlich die Frage nach der Bedeutung der Bezeugungen in Urkunden. In der Tabelle wurden die Ausstellungsorte der Urkunden verzeichnet und die Bezeugungen des Thomas Becket als Kanzler einerseits und als Erzbischof andererseits aufgeführt. Es fällt bei der Karte unmittelbar ins Auge (Karte 1), dass das Verhältnis zwischen König und Becket nach dessen Aufstieg zum Erzbischof offenbar schlechter wurde. Wenn man also allein aus den Bezeugungen des Thomas Becket auf eine Verschlechterung des Verhältnisses zum König schließen würde, läge man nicht falsch, auch wenn natürlich andere Gründe für eine Abwesenheit bei Hofe denkbar sind, wie etwa die Ausführung lokal gebundener Tätigkeiten. Der Befund als solcher muss selbstverständlich interpretiert werden. Natürlich sagen Zeugenlisten nicht immer etwas über die Bedeutung einer Person aus.8 Gerade Vertraute, die Aufträge erhalten, werden in den Zeugenlisten nicht || 8 Zum grundsätzlichen Problem vgl. Alheydis PLASSMANN, Die Struktur des Hofes unter Friedrich I. Barbarossa nach den deutschen Zeugen seiner Urkunden (MGH Studien und Texte 20), Hannover 1998, S. 3–13; skeptisch etwa David BATES, The Prosopographical Study of Anglo-Norman Charters, in: K. S. B. KEATS-ROHAN (Hg.), Family Trees and the Roots of Politics: The Prosopography of Britain and France from the Tenth to the Twelfth Century, Woodbridge 1997, S. 89–102; sowie Nicholas VINCENT, Les Normands de l'entourage d'Henri II Plantagenêt, in: Pierre BOUET (Hg.), La Normandie et l'Angleterre au Moyen Age. Colloque de Cerisy-la-Salle (4–7 octobre 2001), Caen 2003, S. 75–88, hier

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auftauchen, aber solche Aufträge haben wir im Zweifel eben auch anderweitig belegt. Zeugenlisten sind keinesfalls Anwesenheitslisten. Je höher der Status eines Zeugen, desto größer wohl die Wahrscheinlichkeit bei Anwesenheit auch in Belangen herangezogen zu werden, die für den Zeugen nicht von unmittelbarem Interesse waren. Zeugen von niederem Adel wurden hingegen nur dann genannt, wenn es um ihre Region ging. Ausnahmen sind die Beamten des Königs, für deren Heranziehung eher der vertraute Umgang mit dem Herrscher als der eigene Status von Bedeutung war. Über die Anwesenden lassen sich jedoch Aussagen treffen. Welche Informationen können wir nun aus den Urkunden gewinnen und geographisch-statistisch bearbeiten? 1. Ausstellungsorte a. Wo werden Geschäfte verhandelt? b. Wohin reisen die beteiligten Personen? 2.

Empfänger a. Welche Institutionen werden gefördert? b. Wo sind sie verortet? c. Bezugsgebiet/Inhalt d. Verbindung der Empfänger zu anderen Regionen?

3.

Zeugen a. Wer ist an den Geschäften beteiligt? b. Wie weit reisen die Personen? c. Gibt es Verbindungen zu Empfängern oder Inhalt?

Beginnen wir nun mit der Normandie, dem Gebiet, das am meisten Urkunden aufzuweisen hat9: In 90% der Fälle haben wir einen Ausstellungsort belegt und eine grobe Übersicht über die Ausstellungsorte zeigt uns bereits, dass Belange der Normandie keinesfalls immer nur in der Region behandelt wurden. (Karte 2) Bei der umfangreichen Reisetätigkeit von Heinrich ist dies auch kein Wunder. Bei genauerem Hinsehen, nämlich wenn wir die Karte nach Anzahl der ausgestellten Urkunden und nach

|| S. 77–78; Jörg PELTZER, Les évêques de l’empire Plantagenêt et les rois angevins: un tour d’horizon, in: Martin AURELL (Hg.), Plantagenêts et Capétiens: confrontations et héritages, Turnhout 2006, S. 461–484, hier S. 462 hat daher bei seiner Untersuchung der Bischöfe versucht, die Bezeugungen anhand der Entfernung und der Nichtbeteiligung am Rechtsakt zu gewichten. 9 Vgl. Übersicht 1 am Ende; vgl. zu den normannischen Urkunden auch VINCENT, Normandie (wie Anm. 1); zur Normandie unter angiovinischer Herrschaft vgl. Daniel POWER, Les dernières années du régime angevin en Normandie, in: Martin AURELL u. Noel-Yves TONNERRE (Hgg.), Plantagenêts et Capétiens. Confrontations et héritages, Turnhout 2006, S. 163–192 ; Maïté BILLORÉ, De gré ou de force. L’aristocratie normande es ses ducs (1150–1259), Rennes 2014.

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Bezugsgebieten differenzieren, lässt sich feststellen, dass zwei Zusammenhänge herausgearbeitet werden können. Zum einen – und dies ist natürlich nur eine Tendenz – lässt sich feststellen, dass normannische Urkunden eher in der Normandie ausgestellt werden. (Karte 3) Zum anderen gilt aber auch, dass Urkunden für normannische Empfänger mit englischem Bezug eher in England ausgestellt wurden, Urkunden mit allein normannischem Bezug eher in der Normandie. (Karte 4) Gleichzeitig kann die Überlieferung für einzelne Empfänger natürlich auf bizarre Art verzerrt sein, wenn wir – statistisch nicht ungefährlich – eine tiefere Erschließungsebene anstreben. Um dies zu verdeutlichen, sollen zwei Beispiele angeführt werden: Das Kloster Montebourg erhielt 31 Urkunden und Mandate zu seinen Gunsten10 und wenn wir die Daten aus diesen 31 Urkunden kartieren, können wir feststellen, dass Montebourg vor allem in der Normandie bedacht wurde, sich auch der Inhalt der Urkunden auf die Normandie bezieht, die Zeugen indes eine größere Verteilung aufweisen. (Karte 5) Dies liegt natürlich daran, dass Höflinge Heinrichs in den Urkunden zeugen, für die ein Zusammenhang zum Inhalt der Urkunde nicht gegeben ist. Montebourg ist insofern auch ein spezieller Fall, weil die Mönche offenbar die Abwesenheit des Königs fürchteten, wie sich an der narratio einer Urkunde zeigen lässt.11 Man ließ sich oftmals ein oder zwei Besitzungen bestätigen und gleichzeitig Rechtsstreitigkeiten bis zur Wiederkehr des Königs untersagen.12 In einer Urkunde, die sich in der Edition über mehrere Seiten hinzieht, erhielt das Kloster eine Bestätigung für immerhin 113 minutiös beschriebene Besitzungen.13 Zeugen hingegen werden oft nur wenige genannt. Im Gegensatz dazu hat das Kloster Mont-St-Michel mit 14 – auch überlieferungsbedingt – deutlich weniger Urkunden aufzuweisen14, aber weil in den Urkunden die durchschnittliche Zahl der Zeugen größer ist, lässt sich bei einer Kartierung die überregionale Verknüpfung des Klosters deutlich machen. Indes ist auch die Verbindung zur Region enger, die sich darin äußert, dass wir nicht nur mehr Höflinge, sondern Personen aus der Region nachweisen können, die in den Urkunden für Mont-St-Michel genannt werden. (Karte 6) Mont-St-Michel weist also sowohl überregional als auch regional mehr Verbindungen auf. Gleichzeitig sah man im Kloster an der Grenze zur Bretagne den Schutz durch den König nicht im gleichen Maße als entscheidend an. Abt Robert von Torigni reiste nach England und erhielt dort eine große Besitzbestätigung, aber man hielt es in diesem Fall offenbar nicht für nötig, diese sicherlich

|| 10 AHII Nr. 1833–1848. 11 AHII Nr. 1844. 12 Zahlreiche Mandate zum Besitzschutz sprechen für ein erhöhtes Bedürfnis nach königlichem Schutz AHII Nr. 1833, 1835, 1836, 1838, 1839, 1840, 1842 und 1848. 13 AHII Nr. 1845, als einzige von den Montebourg Urkunden sind diese Besitzungen nicht alle auf der Karte verzeichnet, weil die Identifizierung nicht immer möglich ist. 14 AHII Nr. 1859–1872. Zu der besseren Überlieferung von Montebourg vgl. Donald MATTHEW, The Norman Monasteries and their English Possessions, Oxford 1962, S. 10f.

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weitreichenden Besitzungen genau zu beschreiben: Es wurde einfach alles bestätigt, was von Wilhelm dem Eroberer dem Kloster überlassen worden war, ohne dass man es für nötig erachtete, auch nur eine Siedlung beim Namen zu nennen.15 Bei der Betrachtung der einzelnen Empfänger Montebourg und Mont-St-Michel kommt man also möglicherweise zu dem Schluss, dass die Befunde zu unterschiedlich sind bzw. kann das Einwirken der Empfänger auf den Urkundentext vermuten. Wenn wir dann aber die Betrachtung auf die Ebene aller Urkunden für die Normandie verlegen, können wir feststellen, dass beide Klöster in ein Muster passen. Mont-St-Michel gehört zu den großen, häufig beschenkten Klöstern, deren Verbindungen über den Kanal hinweg darin zum Ausdruck kommen, dass sie nicht nur englische Güter erhalten oder bestätigt bekommen, sondern dass sich diese Verbindungen in tatsächlicher Reisetätigkeit äußern. Montebourg auf der anderen Seite ist zu den mittleren Klöstern zu stellen, die sowohl vom Ausstellungsort als auch von den inhaltlichen Zusammenhängen her mehr im regionalen Kontext verbleiben. Die Zahl der Urkunden für einen Empfänger sagt also nichts über die Bedeutung des Empfängers aus. In Karte 7 lässt sich sehen, welche Empfänger wie häufig mit englischen Bezügen Urkunden ausgestellt bekamen. Bedeutendere, häufig beschenkte Empfänger hatten eine größere Chance, mit englischen Gütern beschenkt zu werden oder eine Bestätigung zu erhalten. Von den weniger bedeutenden Empfängern sind nur diejenigen im Seinebecken mit englischen Gütern in Verbindung zu bringen. Je wichtiger ein Empfänger war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit einer Ausstattung mit englischen Gütern oder einer Bestätigung derselben und desto größer war auch die Wahrscheinlichkeit einer Reise nach England, mit entsprechender Urkundenausstellung jenseits des Kanals. Dass die englischen Besitzungen für die Klöster oft von großer wirtschaftlicher Bedeutung waren, hat bereits Donald MATTHEW nachgewiesen.16 Schauen wir uns nun diesen Zusammenhang zwischen Ausstellungsort und Bezugsgebiet in den anderen Regionen des angiovinischen Imperium an: Für Aquitanien, also Empfänger südlich der Loire, haben wir mit 91 Urkunden schon ein deutlich kleineres Korpus,17 können aber möglichweise in Parallelität zur Normandie doch Aussagen treffen. Karte 8 zeigt Ausstellungsorte, Empfänger und Bezugsgebiete von

|| 15 AHII Nr. 1869. Zu Abt Robert von Torigni und seinem Verhältnis zu Heinrich II. vgl. demnächst Mark HAGGER, Angevin Rule in Normandy. The View from Mont Saint-Michel, in: Anglo-Norman Studies 42 (2019). 16 MATTHEW, Norman Monasteries (wie Anm. 14), S. 65–70; zu den englischen Besitzungen der Domstifte vgl. Jörg PELTZER, The Slow Death of the Angevin Empire, in: Historical Research 81 (2008), S. 553–584, hier S. 556–558. 17 Vgl. Übersicht 2; zu Heinrich II. in Aquitanien vgl. Nicholas VINCENT, King Henry II and the Poitevins, in: Martin AURELL (Hg.), La Cour Plantagenêt (1154–1204). Actes du Colloque tenu à Thouars du 30 avril au 2 mai 1999, Poitiers 2000, S. 103–135. Vincent betrachtet das engere Poitou, nicht das gesamte Gebiet südlich der Loire.

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Urkunden für Empfänger südlich der Loire.18 Wie deutlich zu sehen ist, werden auch in Aquitanien englische Besitzungen behandelt, indes nur in 10% der Urkunden19, im Gegensatz zu den 23% der Urkunden für normannische Empfänger.20 Die Erklärung, dass in der Normandie von beiden Seiten auf gewachsene Verbindungen zurückgegriffen wurde, liegt natürlich auf der Hand. Für aquitanische Empfänger lässt sich hingegen, genauso wie für normannische Empfänger auch, ein Zusammenhang zwischen Ausstellungsort und Bezugsgebiet erkennen: Auf Karte 9 wurden die Ausstellungsorte der Urkunden für Empfänger südlich der Loire kartiert und gleichzeitig vermerkt, welche Region der angiovinischen Besitzungen im Bezug genannt wurde. Ein Zusammenhang ist offensichtlich und wird durch den schon bereits erwähnten Befund der normannischen Empfänger bestätigt. Ganz ähnlich ist der Befund für andere Regionen mit noch weniger Urkunden. In der Grafschaft Anjou fällt die Kartierung der regionalen Zusammenhänge deutlich kompakter aus.21 (Karte 10) Nur in zwei Urkunden geht es um englische Besitzungen.22 Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich für die Grafschaft Maine, bei der von 19 nur eine Urkunde einen englischen Bezug aufweist.23 (Karte 11) Im Zentrum des angiovinischen Imperium, an der Drehachse sozusagen, können wir die regionalen Zusammenhänge, die uns von der Tendenz her in der Normandie schon begegnet sind, erneut deutlich machen. Für sich genommen wären die Aussagen zu Maine und Anjou möglicherweise nicht valide, im Kontext des statistisch relevanten Befundes aus der Normandie sind sie das durchaus. Denn trotz der vielfältigen Verbindungen zu England in der Normandie ist die Mehrzahl der normannischen Urkunden im Kontext des Herzogtums Normandie zu erklären. Dass die Verbindungen von der Normandie über den Kanal hinweg auch eine Frage der Gelegenheit waren, lässt sich wiederum an einem Vergleich gut feststellen. Heinrich II. hat die Normandie zum einen von seinem Vater Gottfried dem Schönen, der sie erobert hatte, übernommen, hat aber andererseits auch an die Herrschaft seines Großvaters Heinrichs I. angeknüpft, der über Normandie und England in Personalunion herrschte.24 Karte 12 zeigt die normannischen Empfänger der Urkunden

|| 18 Streng genommen gehören Orte wie Fontevraud oder Saumur in den Bereich des größeren Anjou, liegen aber südlich der Loire. Da etwa Fontevraud auch intensiv von Eleonore beschenkt wurde, schien eine Zuordnung zu Aquitanien sinnvoll. 19 In Übersicht 1 grau markiert. 20 In Übersicht 1 grau markiert. 21 Vgl. Übersicht 3. 22 AHII Nr. 56, Nr. 1762. 23 Vgl. Übersicht 4; Urkunde mit englischem Bezug AHII Nr. 1738. 24 David BATES, The Normans and Empire. The Ford Lectures Delivered in the University of Oxford During Hilary Term 2010, Oxford 2013, S. 28–63 und S. 128–159.

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Gottfrieds des Schönen.25 Bei einem Abgleich der Urkunden Gottfrieds mit den Urkunden Heinrichs II. zeigt sich, dass es nur wenige Empfänger gibt, die lediglich von Gottfried bedacht wurden. Heinrich II. hat also in der Normandie die Politik seines Vaters aufgegriffen. Gottfried bestätigte natürlich kaum englische Besitzungen, da England ihm und seiner Frau Mathilde verwehrt blieb. Heinrich II. hingegen bestätigte englische Besitzungen nach 1154 wieder. Für die Klöster in der Normandie ergab sich nach 1154 die Möglichkeit, erneut Bestätigungen für englische Besitzungen zu erbitten, und wir können an Karte 13 sehen, dass Heinrich II. das dann auch tat. Der König hat also dieselben Empfänger wie sein Vater bedacht und gleichzeitig die Verbindungen zu England wieder aufgegriffen, bzw. möglicherweise auf Drängen der Empfänger hin, solche wiederbelebt. Im Übrigen passt dieser Vergleich zu dem schon ausgearbeiteten Befund, dass kleinere Empfänger eher im regionalen Kontext bedacht wurden. Aber die wieder aufgenommenen Verbindungen zwischen England und der Normandie blieben einzigartig, wohingegen der Befund der anderen Regionen deutlich macht, dass eine Verknüpfung der angiovinischen Besitzungen auf dem Kontinent untereinander die Ausnahme blieb. Sehen wir uns nun die Zeugen an.26 Auf den folgenden Karten sieht man zunächst eine völlig ungewichtete Kartierung sämtlicher identifizierbarer Zeugen in Urkunden für normannische Empfänger in der Normandie (Karte 14) und in England (Karte 15) ausgestellt. Das sieht zunächst nach einer gleichmäßigen Verteilung der Zeugen über die Normandie und den Süden Englands mit leichten Streuungen in entferntere Gebiete hinein aus. Weiterhin ist es aber durchaus von Bedeutung, wo die Urkunden ausgestellt wurden. Ziehen wir die Ausstellungsorte in Betracht, wird nämlich trotz ungewichteter Betrachtung ein Regionalisierungseffekt deutlich. Wenn wir nach der Zahl der Bezeugungen gehen und die Kartierung entsprechend gewichten, wird deutlich, dass das Gros der Zeugen in Urkunden aus der Normandie auch aus der Normandie kommt. Um noch weiter zu differenzieren, wurden die Zeugen gemäß ihres sozialen Status aufbereitet. (Karte 16 und 17) Es lässt sich zeigen, dass die Regionalität der Zeugen nicht unbedingt mit ihrem sozialen Status zu tun hat. Während es durchaus zu erwarten und auch zu beobachten ist, dass ein geringerer sozialer Status eine geringere Mobilität bedeutet, ist es keinesfalls so, dass am oberen Ende der sozialen Skala die Mobilität zunimmt. Es ist nämlich auffällig, dass normannische Bischöfe die Reise

|| 25 Ein ausführliches Verzeichnis der Urkunden Gottfrieds bei Kathryn DUTTON, Geoffrey, Count of Anjou and Count of Normandy (Diss., im Druck). Ich danke Kathy Dutton dafür, dass sie mir eine Vorabversion ihrer Dissertation zur Verfügung gestellt hat; vgl. Übersicht 5. 26 Zu den Zeugen aus der Normandie auch VINCENT (wie Anm. 8); zu den Befunden aus der Normandie und Aquitanien vgl. Alheydis PLASSMANN, Ererbte und erheiratete Herrschaft. Die Einbeziehung von Eliten in der Normandie und in Aquitanien unter Heinrich II. von England, in: Wolfram DREWS (Hg.), Die Interaktion von Herrschern und Eliten in imperialen Ordnungen des Mittelalters (Das Mittelalter. Beihefte 8), Berlin 2018, S. 247–281.

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über den Kanal kaum auf sich nehmen. Bischöfe verbleiben ebenso wie übrigens auch der weltliche Hochadel im Zweifel in der Nähe ihres eigenen Territoriums.27 Es ist vielmehr so, dass die mobilsten Personen die Höflinge und Hofbeamten sind, was kaum überraschen dürfte. Neben diesen sind aber die Adligen der ‚zweiten Reihe‘ ebenfalls häufiger in den Zeugenlisten vertreten, die daher auch immer wieder in der Umgebung des Königs zu finden sind. Männer wie Hugo de Cressy aus der Normandie28 oder Seiher de Quincy aus Northamptonshire29 versprachen sich offenbar einiges von der Nähe zur Krone.30 Es lässt sich deutlich machen, dass eine solche Regionalisierung am oberen und unteren Ende des Adels mit den tatsächlichen Aufenthalten des Königs zu tun hatte. Wenn wir die Zeugenverteilung nicht nach Ausstellungsorten, sondern nach Bezugsgebiet differenzieren, wird deutlich, dass ein normannisches (Karte 18) resp. englisches Bezugsgebiet (Karte 19) allein diesen Regionalisierungseffekt nicht hervorruft. Wenn wir dies an den anderen kontinentalen Besitzungen überprüfen, können wir feststellen, dass der Befund der Normandie nicht allein dasteht. Dies mag möglicherweise mit den Aufgaben eines Bischofs zusammenhängen, was wir indes nur vermuten können.31 Was das Engagement der Bischöfe angeht, wird man mit diesem Befund vor Augen eher vorsichtig in der Einschätzung des persönlichen Verhältnisses einzelner Bischöfe zum König werden. Bischof Johannes von Poitiers etwa ist möglicherweise nicht wegen des Becket-Konfliktes, bei dem er sich indes auf die Seite des Erzbischofs schlug, nicht mehr am Hof Heinrichs II. aufgetaucht, sondern seine Abwesenheit ist schlichtweg der Tatsache geschuldet, das Heinrich II. Aquitanien so selten aufsuchte.32 Auch die Bischöfe von Angers und Nantes verbleiben in solch regionalen Kontexten.33 || 27 Zu den Bezeugungen der englischen Earls vgl. Nicholas VINCENT, Did Henry II have a policy towards his Earls, in: Chris Given-WILSON, Ann J. KETTLE, Len SCALES (Hgg.), War, Government and Aristocracy in the British Isles, c. 1150–1500. Essays in Honour of Michael Prestwich, Woodbridge 2008, S. 1–25, hier S. 13–18; natürlich sind die Earls auch jenseits des Kanals zu finden und auch jenseits von feierlichen Veranstaltungen bei Hofe, aber nur wenige zeigen sich sehr engagiert. Zu den Bischöfen PELTZER (wie Anm. 8). 28 Zeuge in: AHII Nr. 92, 181, 240, 260, 280, 401, 419, 420, 533, 535, 574, 703, 704, 863, 864, 1076, 1330, 1331, 1332, 1403, 1483, 1484, 1590, 1657, 1659, 1660, 1843, 1845, 1846, 2025, 2066, 2112, 2259, 2270, 2274, 2276, 2277, 2278, 2332, 2405, 2430, 2431, 2434, 2493, 2728. 29 Zeuge in: AHII Nr. 85, 166, 178, 181, 277, 278, 280, 683, 685, 864, 1076, 1403, 1483, 1484, 1657, 1659, 1660, 1932, 2099, 2112, 2274, 2277, 2278, 2282, 2283, 2332, 2405, 2409, 2433, 2493, 2684, 2748. 30 Vgl. hierzu auch VINCENT (wie Anm. 8), vor allem S. 84–88, über den Hof Heinrichs II. in der Normandie und des Königs Verhältnis zu den normannischen Adligen. 31 Zu den normannischen Bischöfen allgemein: Jörg PELTZER, Henry II and the Norman Bishops, in: English Historical Review 119 (2004) S. 1202–1229 und VINCENT (Anm. 8), S. 82. 32 Bischof Johannes taucht nur in AHII Nr. 553 auf; zu ihm vgl. PELTZER (wie Anm. 8), S. 471–473; Johannes ist häufiger am Hof Richards zu finden, der in Aquitanien weilte, vgl. ebd. 33 Bischof von Angers in AHII. Nr. 50, 53, 56, 288, 335, 1053, 1055, 1062, 1208, 1209, 1617, 1728, 1761, 2352; Bischof von Nantes in 50, 55, 57, 1620, 2668.

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Wenn wir nun die Zeugen in Maine und Anjou genauer anschauen, können wir feststellen, dass wir zwar die Höflinge ebenso beobachten können wie in den normannischen Urkunden, dass wir aber keine besonders engagierten Hofbesucher von mittlerem Status ausmachen können. (Karte 20) Auf der Karte ist verzeichnet, welche Zeugen eine Kanalreise auf sich nahmen, welche in ihrer Region verblieben und welche zumindest in die Nachbarregion reisten. Dies mag mit der geringen Urkundenanzahl zusammenhängen, zeigt uns aber möglicherweise auch, wie sehr die Tätigkeit von den Voraussetzungen in der Region geprägt war. In Maine ist sie in der Traditionslinie der Verwaltung der Grafschaft Maine zu sehen, auch wenn diese immerhin schon seit 1047 fest in der Hand des normannischen Herzogs war.34 Für die angestammte Grafschaft Anjou und ihre Zeugen gilt das Gleiche. Es ist wohl aufschlussreich, dass Heinrich II. nicht einmal in seinem angestammten Herrschaftsgebiet auf eine stärkere Verknüpfung der unterschiedlichen Besitzungen aus war. Schauen wir uns schließlich noch die Zeugen in den aquitanischen Urkunden an. Obwohl das Korpus hier etwas größer ist, wird deutlich, dass der Befund ebenso wie der in Maine und Anjou sich in seiner Gesamtheit von dem in der Normandie unterscheidet. Diese Abweichung bedarf einer Erklärung, welche im Fall von Aquitanien leicht zu finden ist. Aquitanien gehörte nominell Heinrichs II. Gattin Eleonore und die Interaktion zwischen König und Region blieb hier nicht nur auf den König beschränkt. Eleonore stellte zu Lebzeiten ihres Mannes 29 Urkunden für aquitanische Empfänger aus35 und ein Vergleich ihrer Urkunden mit denen Heinrichs II. verspricht gerade deshalb aufschlussreich zu sein, weil sich ein inhaltlicher Zusammenhang nur höchst selten ergibt.36 Zunächst einmal ist festzustellen, dass trotz der wenigen Urkunden Heinrichs II. die rein geographische Verteilung der Zeugen nicht sonderlich von der in der Normandie abweicht. Die Streuung ist lediglich etwas mehr nach Süden verschoben, was uns kaum verwundern dürfte. (Karte 21) Indes ist deutlich, dass sich im Gegensatz zur || 34 Hierzu David BATES, William the Conqueror, New Haven, London 2016, S. 187–191. 35 Die Urkunden Eleonores sind aufgeführt in Nicholas VINCENT, Patronage, Politics and Piety in the Charters of Eleanor of Aquitaine, in: Martin AURELL, Noel-Yves TONNERE (Hgg.), Plantagenêts et Capétiens. Confrontations et héritages, Turnhout 2006, S. 17–60. Die Urkunden werden auch Teil der neuen Edition der Acta Heinrichs II. sein; die Urkunden zur Zeit Heinrichs II. sind: Nr. 8, 31, 41, 48, 49, 55, 56, 57, 58, 67, 71, 84, 89, 92, 93, 98, 99, 100, 112, 113, 120, 121, 123, 133, 134, 139, 145, 152, 154a; vgl. Übersicht 6. 36 AHII Nr. *61, 285, 1063 (für Fontevraud als Petentin), 1338 (Petentin), 1657 und Nr. 952, 1048, 1182, 1632, 1633, 1634, 1635, 2460, 2911 als Zeugin; AHII Nr. 2081 ist eine Bestätigung einer Urkunde der Eleonore, AHII Nr. 2306 ist eine von beiden ausgestellte Urkunde; zu Aquitanien als erheirateter Herrschaft vgl. Alheydis PLASSMANN, Lordships acquired by marriage, in: Dominik BÜSCHKEN/DIES. (Hgg.), Staufen and Plantagenets. Two empires in comparison (Studien zu Macht und Herrschaft 1), Bonn 2018, S. 271–303.

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Normandie die Verteilung nicht wirklich ändert, wenn wir nur in Aquitanien ausgestellte Urkunden berücksichtigen. (Karte 22) Eine Regionalisierung der Zeugenschaft ist hier eben nicht zu beobachten.37 Man muss also die Frage stellen, wie es nun in Aquitanien mit den Kontakten des Königs in den Tiefen der Region aussieht. Im Fall Aquitaniens ist die höhere regionale Bindung in den Urkunden Eleonores auszumachen. Es sind die Zeugen in ihren Urkunden, die ein räumlich geschlosseneres Bild ergeben als in den Urkunden Heinrichs. (Karte 23) Wie dieser Befund zu deuten ist, ist natürlich eine Frage, die uns die Statistik als solches zunächst nicht beantworten kann. Drei Deutungen bieten sich an: Zum einen die der Arbeitsteilung, nämlich, dass sich die Urkunden Heinrichs und Eleonores ergänzen und wir ihre geographische Struktur am besten lesen, wenn wir sie gemeinsam berücksichtigen, zum anderen die des unverbundenen Nebeneinanders und schließlich, zum Dritten, die des Konfliktes, dass also Eleonore absichtlich andere Kontakte pflegte als ihr Mann. Um uns einer Antwort auf diese Frage möglicherweise zu nähern, soll zu allerletzt noch auf die Bretagne eingegangen werden, deren Verbindungen zum angiovinischen Imperium noch lockerer waren als die Aquitaniens. Heinrich II. beanspruchte mit einer überaus fadenscheinigen Begründung die Herrschaft über die Bretagne: Nachdem er einen männlichen Erben ausgebootet hatte, übernahm er die Vormundschaft über die Erbtochter Konstanze und übte in ihrem Namen, da sie als Frau für seinen Sohn Gaufred vorgesehen war, die Herrschaft über die Bretagne aus.38 Nun haben wir im Fall der Bretagne mit 13 Urkunden nur ein überaus schmales Urkundenkorpus39, das aber wohl doch die mangelnden Verbindungen Heinrichs in die Region hinein deutlich machen kann. Ähnlich wie in Aquitanien wird die Herrschaft nicht unbedingt vor Ort ausgeübt; das Gros der Zeugen rekrutiert sich aus dem Fundus der üblichen Höflinge, wenn man von einigen wichtigen bretonischen Großen absieht und wie bei Anjou und Maine ist eine Verknüpfung zu anderen Herrschaften auf dem Kontinent kaum auszumachen. (Karte 24) Zieht man die Urkunden Gaufreds und Konstanzes zum Vergleich heran40, fällt auf, dass vor allem Konstanze deutlich stärker in der Region verwurzelt ist. Dies lässt sich an einer Kartierung der Ausstellungsorte verdeutlichen. (Karte 25) Wenn wir uns die Empfänger ansehen, wird deutlich, dass Gaufred stärker in Verbindung mit seiner

|| 37 VINCENT, Henry and Poitevins (wie Anm. 17), S. 120–123 hat bereits darauf verwiesen, dass die Aquitanier selber nicht unbedingt nördlich der Loire vertreten sind. 38 Vgl. hierzu Judith A. EVERARD, Brittany and the Angevins. Province and Empire 1158–1203 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series), Cambridge 2000, S. 93–122. 39 Vgl. Übersicht 7. 40 Vgl. The charters of Duchess Constance of Brittany and her family, 1171–1221, hrsg. v. Judith EVERARD, Woodbridge 2000; von den Urkunden der Konstanze sind 11 zu Lebzeiten Gaufreds entstanden (Nr. 1–11); vgl. Übersicht 8.

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Frau agiert41, während Heinrich quasi neben den beiden tätig wird. (Karte 26) Wenn überhaupt fällt also die Interaktion zwischen dem König und seiner Familie in der Bretagne eher noch geringer aus als in Aquitanien, mit weitreichenden Folgen für die Vernetzung innerhalb der Region. Wenn wir die Empfänger aller drei Aussteller auf die angesprochenen Bezugsgebiete hin kartieren (Karte 27), lässt sich erneut die starke regionale Verbindung deutlich machen. Selbstverständlich ließen sich noch weitere Auswertungen der Urkunden erstellen. So wurde z. B. die Art und Weise der Privilegierung noch gar nicht angesprochen: Wie verteilen sich Besitzbestätigungen (immerhin 46% der Urkunden), wie Marktrechte, wie Schlichtungsbestätigungen? Auch in solchen Fällen sind möglicherweise Ergebnisse zu erwarten, die aber natürlich einer Interpretation harren, die wir leisten müssten. Anhand dieses statistisch relevanten Korpus konnte hoffentlich deutlich gemacht werden, dass es sich lohnt, die Informationen in Urkunden statistisch aufzubereiten und zu kartieren. Nicht in allen Fällen erwarten uns grundstürzend neue Ergebnisse, indes dürfte die Aufbereitung der Datenbasis uns auch den ein oder anderen überraschenden Einblick gewähren. Entscheidend ist jedoch, dass die Auswertung kaum ohne genaue Überlegungen stattfinden kann. Zum einen lassen sich Urkunden natürlich nicht ohne erheblichen Arbeitsaufwand in eine Datenbank übertragen, zum anderen bedarf es einer Auswahl von Fragestellungen, die an das Datenmaterial herangetragen werden. Dies ist keinesfalls eine rein automatisierte Anfrage, sondern erfordert genaue Überlegungen darüber, welche Antworten wir ablesen wollen. Dann – und nur dann – lässt sich bei der Auswertung der Daten, beim Datamining, wohl auch das ein oder andere Goldstück finden, das unsere Kenntnis über die Zusammenhänge von Herrscher und den Eliten und den räumlichen Relationen, in denen die Herrschaftsausübung und Interaktion steht, erweitern kann.

|| 41 Von den 30 Urkunden Gaufreds sind 11 mit Beteiligung Konstanzes entstanden: Nr. 2, 4, 7, 10, 11, 15, 16, 20, 21, 25, 28.

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Karten

Karte 1: Übersicht über die Bezeugungen Thomas Beckets.

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Karte 2: Übersicht über die Ausstellungsorte für Urkunden normannischer Empfänger.

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Karte 3: Übersicht über die Ausstellungsorte für Urkunden normannischer Empfänger nach Anzahl gewichtet.

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Karte 4: Übersicht über die Ausstellungsorte für Urkunden normannischer Empfänger nach Bezugsgebieten farblich differenziert.

58 | Alheydis Plassmann

Karte 5: Übersicht über die Urkunden für das Kloster Montebourg.

Datamining in Urkunden | 59

Karte 6: Übersicht der Urkunden für das Kloster Mont-St-Michel.

60 | Alheydis Plassmann

Karte 7: Welche normannischen Empfänger bekamen wie häufig mit englischen Bezügen Urkunden ausgestellt.

Datamining in Urkunden | 61

Karte 8: Ausstellungsorte, Empfänger und Bezugsgebiete von Urkunden für Empfänger südlich der Loire.

62 | Alheydis Plassmann

Karte 9: Ausstellungsorte der Urkunden für Empfänger südlich der Loire mit Regionen der angiovinischen Besitzungen im Bezug.

Datamining in Urkunden | 63

Karte 10: Übersicht der Urkunden für Empfänger in der Grafschaft Anjou.

Karte 11: Übersicht der Urkunden für Empfänger in der Grafschaft Maine.

64 | Alheydis Plassmann

Karte 12: Normannische Empfänger der Urkunden Gottfrieds des Schönen.

Karte 13: Übersicht der Urkunden für Empfänger in der Normandie nach Aussteller.

Datamining in Urkunden | 65

Karte 14: Kartierung sämtlicher identifizierbarer Zeugen in Urkunden für normannische Empfänger mit Ausstellungsort in der Normandie.

66 | Alheydis Plassmann

Karte 15: Kartierung sämtlicher identifizierbarer Zeugen in Urkunden für normannische Empfänger mit Ausstellungsort in England.

Datamining in Urkunden | 67

Karte 16: Zeugen in Urkunden mit normannischem Ausstellungsort gemäß ihrem sozialen Status.

68 | Alheydis Plassmann

Karte 17: Zeugen in Urkunden mit englischem Ausstellungsort gemäß ihrem sozialen Status.

Datamining in Urkunden | 69

Karte 18: Zeugen in Urkunden mit normannischem Bezugsgebiet.

70 | Alheydis Plassmann

Karte 19: Zeugen in Urkunden mit englischem Bezugsgebiet.

Datamining in Urkunden | 71

Karte 20: Zeugen in Urkunden für Maine und Anjou nach Reisebereitschaft differenziert.

72 | Alheydis Plassmann

Karte 21: Zeugen in Urkunden für Empfänger südlich der Loire ausgestellt von Heinrich II. und von ihm und Eleonore gemeinsam.

Datamining in Urkunden | 73

Karte 22: Zeugen in Urkunden für Empfänger südlich der Loire ausgestellt in Aquitanien von Heinrich II. und von ihm und Eleonore gemeinsam.

74 | Alheydis Plassmann

Karte 23: Zeugen in Urkunden Eleonores für Empfänger südlich der Loire zu Heinrichs II. Lebzeiten.

Datamining in Urkunden | 75

Karte 24: Empfänger in der Bretagne nach Ausstellungsort, Bezugsgebiet und Empfänger.

Karte 25: Kartierung der Ausstellungsorte von Urkunden Gaufreds, Heinrichs II. und Konstanzes.

76 | Alheydis Plassmann

Karte 26: Kartierung der Empfänger von Urkunden Gaufreds, Heinrichs II. und Konstanzes.

Karte 27: Empfänger aller drei Aussteller auf die Bezugsgebiete hin kartiert.

Datamining in Urkunden | 77

Übersichten Tab. 1: Heinrichs Urkunden für normannische Empfänger Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Argentan

Ailly, Eure

33

Rouen

Anselm (Roumare, Seine-Maritime)

59

Rouen

Anselm (Roumare, Seine-Maritime)

60

Argentan

Arden, Robert, Archidiakon von Lisieux

66

ohne Angabe

Argentan

67

Argentan

Aumale, Seine-Maritime

80

Argentan

Aumale, Seine-Maritime

81

Cirencester

Aumale, Seine-Maritime

82

Chinon

Aunay-sur-Odon, Calvados

83

Domfront

Aunay-sur-Odon, Calvados

84

Woodstock

Aunay-sur-Odon, Calvados

85

Woodstock

Aunay-sur-Odon, Calvados

86

Mortain

Aunay-sur-Odon, Calvados

87

Valognes, Manche

Avranches, Manche

88

Valognes, Manche

Avranches und Le Hommet

88

Rouen

Barbery, Calvados

unbekannt

Barfleur

92 104

Rouen

Bayeux

147

Bayeux

Bayeux

148

Falaise

Bayeux

149

Caen

Bayeux

150

Bur-le-Roi

Bayeux

151

Barfleur

Bayeux

152

Lyons-la-Forêt

Bayeux

153

Mirebeau

Bayeux

154

Mirebeau

Bayeux

155

Limoges

Bayeux

156

Limoges

Bayeux

157

Barfleur

Bayeux

158

Woodstock

Bayeux

159

Rouen

Bayeux

160

Bur-le-Roi

Bayeux

161

Bonneville-sur-Touques, Cal- Beaubec-la-Rosière, Seine-Maritime vados

163

78 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort

Empfänger

Rouen

Beaubec-la-Rosière, Seine-Maritime

164

Rouen

Beaubec-la-Rosière, Seine-Maritime

165

Le Grand-Quevilly, HauteNormandie

Beaubec-la-Rosière, Seine-Maritime

166

Le Mans

Beaubec-la-Rosière, Seine-Maritime

167

Rouen

Le Bec-Hellouin, Eure

175

Rouen

Le Bec-Hellouin, Eure

177

Rouen

Le Bec-Hellouin, Eure

178

Le Grand-Quevilly, HauteNormandie

Le Bec-Hellouin, Eure

179

Le Grand-Quevilly, HauteNormandie

Le Bec-Hellouin, Eure

180

Le Vaudreuil, Eure

Le Bec-Hellouin, Eure

181

Le Grand-Quevilly, HauteNormandie

Le Bec-Hellouin, Eure

182

Le Bec-Hellouin, Eure

Le Bec-Hellouin, Eure

183

Montfort

Le Bec-Hellouin, Eure

184

Montfort

Lyons-la-Forêt Argentan

Nummer

Le Bec-Hellouin, Eure

185

Le Bec-Hellouin, Eure

186

Le Bec-Hellouin, Eure

187

Bellencombre, Seine-Maritime

199

La Bellière, Seine-Maritime

201

La Bellière, Seine-Maritime

202

Argentan

Bernay, Eure

219

Neufchatel-en-Bray, SeineMaritime

Bival, Seine-Maritime

236

Valognes, Manche

Blanchelande, Manche

237

Blanchelande, Manche

238

Caen

Blanchelande, Manche

239

Bur-le-Roi

Blanchelande, Manche

240

Valognes, Manche

Blanchelande, Manche

241

Valognes, Manche

Blanchelande, Manche

242

Westminster

Blanchelande, Manche

243

Carentan

Bolleville, Manche

254

Barfleur

Bolleville, Manche

255

Rouen

Sainte-Hélène-Bondeville, Seine-Maritime

259

Rouen

Sainte-Hélène-Bondeville, Seine-Maritime

260

Clarendon

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

272

Datamining in Urkunden | 79

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Rouen

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

273

Rouen

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

274

Rouen

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

275

Rouen

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

276

Lillebonne

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

277

Lillebonne

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

278

Rouen

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

279

Lillebonne

Saint-Martin de Boscherville, Seine-Maritime

280

Bourg-Achard, Eure

286

Cherbourg

Caen

396

Westminster

Caen

397

Westminster

Caen

398

Westminster

Caen

399

Westminster

Caen

400

Caen

Caen

401

Caen

Caen

408

Rouen

Caen

409

Caen

Caen

410

Bayeux

Caen

411

Caen

Caen

412

Caen

Caen

413

Caen

Caen

414

Bridgnorth, Shropshire

Caen

415

Quevilly

Caen

416

Caen

Caen

417

Valognes, Manche

Caen

419

Rouen

Caen

420

Bur-le-Roi

Caen

421

Bonneville-sur-Touques, Cal- Cailly, Seine-Maritime vados Cerisy-la-Forêt

424 530

80 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Bur-le-Roi

Cerisy-la-Forêt

531

Bur-le-Roi

Cerisy-la-Forêt

532

Bur-le-Roi

Cerisy-la-Forêt

533

Bur-le-Roi

Cerisy-la-Forêt

534

Bur-le-Roi

Cerisy-la-Forêt

535

Bur-le-Roi

Cerisy-la-Forêt

537

Bayeux

Cerisy-la-Forêt

538

Caumont (Eure)

563

Cherbourg

567

Rouen

Cherbourg

568

Valognes, Manche

Cherbourg

569

Rouen

Cherbourg

570

Bur-le-Roi

Cherbourg

571

Bur-le-Roi

Rouen

Cherbourg

572

Bonneville-sur-Touques, Cal- Cherbourg vados

573

Northampton

Cherbourg

574

Caen

Cherbourg

575

Valognes, Manche

Cherbourg

576

Dieppe

648

Rouen

Conches-en-Ouche, Eure

683

Argentan

Condé-sur-Iton, Eure

684

Le Grand-Quevilly, HauteNormandie

Condé-sur-Iton, Eure

685

Westminster

Saint-Pierre-de-Cormeilles, Eure

691

Rouen

Saint-Pierre-de-Cormeilles, Eure

692

Valognes, Manche

Coutances

701

Barfleur

Coutances

702

Stoke by Ipswich

Coutances

703

Westminster

Coutances

704

Tinchebray

Le Dézert, Manche

758

Dieppe

760

Bayeux

Dieppe

761

Rouen

Dieppe

762

Argentan

Domfront

768

Envermeu, Seine-Maritime

846

Bur-le-Roi

Equeurdreville, Basse-Normandie

847

Rouen

Muzy, Eure

856

Datamining in Urkunden | 81

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Caen

Muzy, Eure

857

Le Neubourg

Muzy, Eure

858

Arques-la-Bataille, SeineMaritime

Eu, Seine-Maritime

862

Neuf-Marché

Eu, Seine-Maritime

863

Arques-la-Bataille, SeineMaritime

Eu, Seine-Maritime

864

Rouen

Eu, Seine-Maritime

865

Northampton

Evreux

870

Argentan

Evreux

871

Barfleur

Evreux

872

Clarendon

Evreux

873

Falaise

Falaise

900

Falaise

901

Westminster

Fécamp

908

Westminster

Fécamp

909

Westminster

Fécamp

910

Westminster

Fécamp

911

Fécamp

912

Newnham

Fécamp

913

Rouen

Fécamp

914

Rouen

Fécamp

915

Lisieux

Fécamp

916

Lyons-la-Forêt

Fécamp

917

Lillebonne

Fécamp

918

Fécamp

Fécamp

919

Clarendon

Fécamp

920

Fécamp

921

Fécamp

922

Bonneville-sur-Touques, Cal- Fécamp vados

923

Feckenham, Worcestershire

Rouen

Foucarmont, Seine-Maritime

1071

Rouen

Foucarmont, Seine-Maritime

1072

Le Grand-Quevilly, HauteNormandie

Foucarmont, Seine-Maritime

1073

Rouen

Foucarmont, Seine-Maritime

1074

Le Bec-Hellouin, Eure

Foucarmont, Seine-Maritime

1075

Argentan

Foucarmont, Seine-Maritime

1076

82 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort

Empfänger

Marlborough

Foucarmont, Seine-Maritime

1077

Le Mans

Foucarmont, Seine-Maritime

1078

Gournay-en-Bray, Seine-Maritime

1198

Hambye, Manche

1221

Bur-le-Roi

Hambye, Manche

1221a

Cherbourg

Hambye, Manche

1222

Hambye, Manche

1223

Caen

Le Hommet d‘Arthenay, Normandie

1330

Caen

Le Hommet d‘Arthenay, Normandie

1331

Caen

Le Hommet d‘Arthenay, Normandie

1332

Cherbourg

Hose, Martin de, Bellencombre, Seine-Maritime

1333

Westminster

Isle-Dieu in Perruel, Eure

1344

Westminster

Ivry-la-Bataille, Eure

1353

Salisbury

Saint-Helier, Jersey

1354

Chester

Saint-Helier, Jersey

1355

Chester

Saint-Helier, Jersey

1357

Barfleur

Nummer

St-Pierre-sur-Dives

Saint-Helier, Jersey

1358

Bridgnorth, Shropshire

Jumièges

1400

Brockenhurst

Jumièges

1401

Rouen

Jumièges

1402

Rouen

Jumièges

1403

Cherbourg

Lessay, Manche

1483

Cherbourg

Lessay, Manche

1484

Lessay, Manche

1485

Westminster

La Vielle-Lyre, Eure

1579

Westminster

La Vielle-Lyre, Eure

1580

Portchester

La Vielle-Lyre, Eure

1581

Salisbury

La Vielle-Lyre, Eure

1582

Argentan

La Vielle-Lyre, Eure

1583

Le Vaudreuil, Eure, HauteNormandie

La Vielle-Lyre, Eure

1584

Le Vaudreuil, Eure, HauteNormandie

La Vielle-Lyre, Eure

1585

Verneuil-sur-Avre, Eure

La Vielle-Lyre, Eure

1586

Argentan

La Vielle-Lyre, Eure

1587

Argentan

La Vielle-Lyre, Eure

1588

Chinon

La Vielle-Lyre, Eure

1589

Datamining in Urkunden | 83

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Windsor

La Vielle-Lyre, Eure

1590

Caen

La Vielle-Lyre, Eure

1591

Rouen

Lisieux

1596

Caen

Lisieux

1597

Bur-le-Roi

Longues-sur-Mer, Calvados

1653

Longues-sur-Mer, Calvados

1654 1655

Bur-le-Roi

Longues-sur-Mer, Calvados

Valognes, Manche

Longues-sur-Mer, Calvados

1656

Bur-le-Roi

Longues-sur-Mer, Calvados

1657

Winchester

Longueville-sur-Scie, Seine-Maritime

1658

Le Mans

Longueville-sur-Scie, Seine-Maritime

1659

Le Mans

Longueville-sur-Scie, Seine-Maritime

1660

Argentan

La-Lucerne d'Outremer, Manche

1678

Gonneville, Manche

Fontenay-le-Marmion, Calvados

1759

Westminster

Montebourg, Manche

1833

Winchester

Montebourg, Manche

1834

Valognes, Manche

Montebourg, Manche

1835 1836

Valognes, Manche

Montebourg, Manche

Montebourg, Manche

Montebourg, Manche

1837

Cherbourg

Montebourg, Manche

1838

Caen

Montebourg, Manche

1839

Barfleur

Montebourg, Manche

1840

Montebourg, Manche

1841

Montebourg, Manche

1842

Valognes Varreville

Montebourg, Manche

1843

Cherbourg

Montebourg, Manche

1844

Caen

Montebourg, Manche

1845

Caen

Montebourg, Manche

1846

Valognes

Montebourg, Manche

1847

Valognes

Montebourg, Manche

1848

Mont-Saint-Michel, Manche

1859

Mortain

Mont-Saint-Michel, Manche

1860

Caen

Mont-Saint-Michel, Manche

1861

Saint-James, Manche

Mont-Saint-Michel, Manche

1862

Reading

Mont-Saint-Michel, Manche

1863

Fougères

Mont-Saint-Michel, Manche

1864

Fougères

Mont-Saint-Michel, Manche

1865

St-Lô

Mont-Saint-Michel, Manche

1866

84 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort Valognes

Empfänger

Nummer

Mont-Saint-Michel, Manche

1867

Mont-Saint-Michel, Manche

1868

Ludgershall, Wiltshire

Mont-Saint-Michel, Manche

1869

Winchester

Mont-Saint-Michel, Manche

1870

Winchester

Mont-Saint-Michel, Manche

1871

Valognes

Mont-Saint-Michel, Manche

1872

Caen

Mortain

1874

Bayeux

Mortain

1875

Mortain

Mortain

1876

Caen

Mortain

1877

Bayeux

L'Abbaye Notredame de Mortemer, Eure

1878

Bayeux

L'Abbaye Notredame de Mortemer, Eure

1879

Quevilly

L'Abbaye Notredame de Mortemer, Eure

1880

Valognes

L'Abbaye Notredame de Mortemer, Eure

1881

Mortain

Moutons (Forets de la Lande-Pourrie, Mortain)

1885

Nassandres, Eure

1892

Brewood, Staffordshire

Le Neubourg und Vernon, Eure

1896

Rouen

La Noë, Eure

1931

Cherbourg

La Noë, Eure

1932

Barfleur

Perrières, Calvados

2025

Rouen

Perrières, Calvados

2026

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2060

York

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2061

Argentan

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2062

Argentan

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2063

Argentan

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2064

Falaise

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2066

Bur-le-Roi

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2067

Bur-le-Roi

Le Plessis-Grimoult, Calvados

2068

Poissy, Robert de (Acquigny, Eure)

2076

Poissy, Robert de (Acquigny, Eure)

2077

Poissy, Robert de (Acquigny, Eure)

2078

Poissy, Robert de (Acquigny, Eure)

2079

Poissy, Robert de (Acquigny, Eure)

2080

Pont-Audemer, Eure

2084

Caen

Pont-Audemer, Eure

2085

Fougères

Pontorson, Manche

2089

Datamining in Urkunden | 85

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Pontorson, Manche

Pontorson, Manche

2090

Westminster

Les Préaux, Eure

2093

Étrépagny, Eure

Les Préaux, Eure

2095

Oswestry

Les Préaux, Eure

2096

Montfort-sur-Risle, Eure

Les Préaux, Eure

2097

Pont-Audemer, Eure

Les Préaux, Eure

2098

Caen

Les Préaux, Eure

2099

Caen

Les Préaux, Eure

2100

Caen

Les Préaux, Eure

2101

Caen

Les Préaux, Eure

2102

Cherbourg

Quévilly

2112

Caen

Rouen

2254

Rouen

2255

Rouen

Rouen

2256

Alencon

Rouen

2257

Cherbourg

Rouen

2259

Winchester

Rouen

2260

Westminster

Rouen

2261

London

Rouen

2263

Reading

Rouen

2264

Westminster

Rouen

2265

Rouen

2266

Northampton

Rouen

2267

Reading

Rouen

2268

Argentan

Rouen

2269

Clarendon

Rouen

2270

Westminster

Rouen

2271

Quevilly

Rouen

2272

Caen

Rouen

2273

Rouen

Rouen

2274

Caen

Rouen

2275

Lyons-la-Forêt

Rouen

2276

Argentan

Rouen

2277

Rouen

Rouen

2278

Rouen

Rouen

2279

Rouen

Rouen

2280

Rouen

Rouen

2281

Quevilly

Rouen

2282

86 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Quevilly

Rouen

2283

Arques-la-Bataille, SeineMaritime

Rouen

2284

Guildford, Surrey

Rouen

2285

Rouen

2286

Caen

Rouen

2287

Argentan

Rouen

2288

Rouen

Saint-André-en-Gouffern, Calvados

2326

Argentan

Saint-André-en-Gouffern, Calvados

2327

Argentan

Saint-André-en-Gouffern, Calvados

2328

Argentan

Saint-André-en-Gouffern, Calvados

2329

Rouen

Sainte-Barbe-en-Auge, Calvados

2331

Caen

Sainte-Barbe-en-Auge, Calvados

2331a

Bur-le-Roi

Sainte-Barbe-en-Auge, Calvados

2332

La Flèche

Sainte-Marie-du-Bois, Manche

2336

Neufchatel-en-Bray, SeineMaritime

Sainte-Marie-Eglise, Manche

2337

Oxford

Saint-Evroult, Orne

2341

Lyons-la-Forêt

Saint-Evroult, Orne

2342

Rouen

Saint-Evroult, Orne

2343

Caen

Saint-Evroult, Orne

2344

Sées

Saint-Evroult, Orne

2345

Saint-Evroult, Orne

2346

Saint-Evroult, Orne

2347

Saint-Laurent-en-Lyons

Saint-Laurent-en-Lyons, Seine-Maritime

2362

Saint-Lô, Manche

Saint-Lô, Manche

2363

Valognes

Saint-Lô, Manche

2364

Rouen

Neufchatel-en-Bray, SeineMaritime Westminster

Saint-Philbert-sur-Risle, Eure

2377

Saint-Pierre-sur-Dives, Calvados

2378

Saint-Saens, Seine-Maritime

2380

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2381

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2382

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2383

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2384

Fordingbridge, Hampshire

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2385

Argentan

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2386

Argentan

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2387

Datamining in Urkunden | 87

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2388

Cherbourg

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2389

Caen

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2390

Cherbourg

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2391

Barfleur

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2392

Caen

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2393

Caen

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2394

Valognes

Saint-Sauveur-le-Vicomte, Manche

2395

Rouen

Saint-Valery-en-Caux

2397

Rouen

Saint-Valery-en-Caux

2398

Westminster

Saint-Valery-en-Caux

2399

Westminster

Saint-Valery-en-Caux

2400

Westminster

Saint-Valery-en-Caux

2401

Saint-Valery-en-Caux

2402

Bur-le-Roi

Saint-Valery-en-Caux

2403

Feckenham

Saint-Valery-en-Caux

2404

Lillebonne

Saint-Victor-l'Abbaye

2405

Argentan

Saint-Wandrille-Rancon, Seine-Maritime

2406

Bur-le-Roi

Saint-Wandrille-Rancon, Seine-Maritime

2407

Valognes

Saint-Wandrille-Rancon, Seine-Maritime

2408

Geddington

Saint-Wandrille-Rancon, Seine-Maritime

2409

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2424

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2425

Saint-Clement-Rancoudray, Manche

Savigny-le-Vieux, Manche

2426

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2427

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2428

Caen

Savigny-le-Vieux, Manche

2429

Saumur

Savigny-le-Vieux, Manche

2430

Windsor

Savigny-le-Vieux, Manche

2431

Gorron, Mayenne

Savigny-le-Vieux, Manche

2432

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2433

Valognes

Savigny-le-Vieux, Manche

2434

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2435

Le Mans

Savigny-le-Vieux, Manche

2436

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2437

Domfront

Savigny-le-Vieux, Manche

2438

Argentan

Sées

2449

88 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Rouen

Sigy-en-Bray, Seine-Maritime

2492

Argentan

Sigy-en-Bray, Seine-Maritime

2493

Rouen

Silly-en-Gouffern, Orne

2494

Rouen

Silly-en-Gouffern, Orne

2495

Argentan

Silly-en-Gouffern, Orne

2496

Argentan

Silly-en-Gouffern, Orne

2497

Angers

Silly-en-Gouffern, Orne

2498

Argentan

Soligny-la-Trappe, Orne

2669

Argentan

Soligny-la-Trappe, Orne

2670

Tricqueville, Eure

2676

Troarn, Calvados

2677

Worcester

Troarn, Calvados

2678

Worcester

Troarn, Calvados

2679

Worcester

Troarn, Calvados

2680

Caen

Troarn, Calvados

2681

Caen

Troarn, Calvados

2682

Troarn, Calvados

2683

Valognes

Troarn, Calvados

2684

Caen

Troarn, Calvados

2685

Rouen

Gruchet-le-Valasse, Seine-Maritime

2713

Argentan

Gruchet-le-Valasse, Seine-Maritime

2714

Rouen

Gruchet-le-Valasse, Seine-Maritime

2715

Rouen

Gruchet-le-Valasse, Seine-Maritime

2716

Cherbourg

Gruchet-le-Valasse, Seine-Maritime

2717

Rouen

Gruchet-le-Valasse, Seine-Maritime

2718

Silverstone

Valmont, Seine-Maritime

2720

Tours

Valmont, Seine-Maritime

2721

Tours

Valmont, Seine-Maritime

2722

Tours

Valmont, Seine-Maritime

2723

Le Val Notre-Dame (Noron l'Abbaye, Calvados)

2727

Le Val Notre-Dame (Noron l'Abbaye, Calvados)

2728

Le Val Notre-Dame (Noron l'Abbaye, Calvados)

2729

Bur-le-Roi

Barfleur

Val-Richer (Saint-Ouen-le-Pin, Calvados)

2734

Vaux-sur-Eure

2738

Datamining in Urkunden | 89

Ausstellungsort

Empfänger

Bonneville-sur-Touques, Cal- Verneuil-sur-Avre, Eure vados

St-Pair, Calvados

Rouen

Nummer 2748

Vescy, Guillaume de

2749

Walter, Goldschmied (Arques-la-Bataille, Seine-Maritime)

2760

Walter, Goldschmied (Arques-la-Bataille, Seine-Maritime)

2761

Waspail, Ralph

2789

Wesnevall, Guillaume de (L'Esneval, SeineMaritime)

2800

Tab. 2: Urkunden Heinrichs II. für Empfänger südlich der Loire Austellungsort

Empfänger

Nummer

St-Caprais, Agen

32

Argentan

Aimery de Mauleon

68

Belleperche

200

Caen

Bordeaux

261

Bourges

287

Angers

Bronzeau

335

Westminster

Charité-sur-Loire

550

Westminster

Charité-sur-Loire

551

Charroux

553

Charroux

554

Chatelliers

562

Periguéux

Dalon

741

Caen

Dalon

742

La Flèche

Montferrand

Le Dorat

772

Ennezat

844

Ennezat Fontaines

Saumur

845 1034

Fontevraud

1037

Fontevraud

1038

Fontevraud

1039

Thouars

Fontevraud

1040

Chinon

Fontevraud

1041

Saumur

Fontevraud

1042

Angers

90 | Alheydis Plassmann

Austellungsort

Empfänger

Nummer

Tours

Fontevraud

1043

Westminster

Fontevraud

1044

Westminster

Fontevraud

1045

Oswestry

Fontevraud

1046

Angers

Fontevraud

1047

Chinon

Fontevraud

1048

Saumur

Fontevraud

1049

La Flèche

Fontevraud

1050

Les Loges

Fontevraud

1051

Fontevraud

1052

Gisors

Fontevraud

1053

Chinon

Fontevraud

1054

Angers

Fontevraud

1055

Fontevraud

Fontevraud

1056

Chinon

Fontevraud

1057

Fontevraud

Fontevraud

1058

Chinon

Fontevraud

1059

Chinon

Fontevraud

1060

Chinon

Fontevraud

1061

Chinon

Fontevraud

1062

Alencon

Fontevraud

1063

Fontevraud

1064

Grace-Dieu

1199

Grande-Sauve

1202

London

Grandmont

1203

Le Mans

Grandmont

1204

Argentan

Grandmont

1205

St-Pierre-sur-Dives

Grandmont

1206

St-Pierre-sur-Dives

Grandmont

1207

La Sauve Majeure

Angers

Grandmont

1208

Chinon

Grandmont

1209

Angers Le Mans

Jarsay

1354

Liget

1495

Liget

1496

Liget

1497

Limoges, Abtei St-Martial

1501

Beaufort-en-Vallé

Loches

1616

Angers

Loches

1617

Datamining in Urkunden | 91

Austellungsort

Empfänger

Nummer

Loches

1618

Beaufort-en-Vallé

Loches

1619

Chizé

Luçon

1679

Bordeaux

Maillezais

1696

L'Isle Jourdain

Montazay

1832

Loudun

Montmorillon

1858

Poitiers

2081

Melle

Le Mans

La Réole

2186

La Rochelle

2221

Bordeaux

Sablonceaux

2306

Poitiers

Saintes

2339

Saintes

Saintes

2340

Westminster

Saint-Florent-lès-Saumur

2349

Brockenhurst

Saint-Florent-lès-Saumur

2350

Brockenhurst

Saint-Florent-lès-Saumur

2351

Chinon

Saint-Florent-lès-Saumur

2352

Saumur

Saint-Florent-lès-Saumur

2353

Canterbury

Saumur

Saint-Florent-lès-Saumur

2354

Saint-Jean-d'Angely

2359

Surgères

2569

Thouars

2638

Tours

2663

Tours

Tours

2664

Lyons-la-Forêt

Tours

2665

Tours

Tours

2666

Caen

Tours

2667 2668

Le Mans

Tours

Chinon

Turpenay

2691

Chinon

Varennes (bei Bourges)

2735

Tab. 3: Urkunden Heinrichs II. für Empfänger im Anjou Ausstellungsort

Empfänger

Valognes

Angers

Nummer 47

Le Mans

Angers

48

Le Mans

Angers

49

Mouliherne, Maine-et-Loire

Angers

50

92 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Fontevraud

Angers

51

Angers

Angers

52

Angers

Angers

Angers

53

Angers

54

Angers

55

Angers

56

Tours

Angers

57

Angers

Angers

58

Argentan

67

Châtillon-sur-Indre, Indre

Baugerais, Indre-et-Loire

Bonneville-sur-Touques, Calvados Beaumont-lès-Tours, Indre-et-Loire

146 172

Sées, Orne

Beauvoir-sur-Mer, Vendée

173

Chinon

Bourgueil, Indre-et-Loire

288

Angers

Cormery, Dép. Indre-et-Loire

693

Craon, Mayenne

716

Evron, Pays de la Loire

Evron, Pays de la Loire Fréteval, Nivelon de (Loir-et-Cher)

874 1095

Fulko, Kämmerer (Angers)

1096

Fulko, Kämmerer (Angers)

1097

Gamaches, Godfrey de (Pointoise, Val d’Oise9

1108

Chinon

St-Hilaire des Loges, Dép. Vendée

1621

Beaulieu-lès-Loches, Indreet_Loire

Le Louroux-Beconnais, Dép. Maine-et-Loire

1670

Chinon

Marmoutier, Indre-et-Loire

1761

Marmoutier, Indre-et-Loire

1762

Marmoutier, Indre-et-Loire

1763

Mayenne

1780

Monnaie, Indre-et-Loire

1825

Argentan

La Roë, Pays de Loire

2231

Saumur, Maine-et-Loire

Saint-Aubin de Luigné, Pays de Loire

2330

Le Mans

Tab. 4: Urkunden Heinrichs II. für Empfänger in Maine Austellungsort

Empfänger

Nummer

Barfleur

Chateau L’Hermitage, Dép. Sarthe

Winchester

Le Mans

1727

La Flèche

Le Mans

1728

561

Datamining in Urkunden | 93

Austellungsort

Empfänger

Nummer

Le Mans

Le Mans

1729

Le Mans

Le Mans

1730

Le Mans

Le Mans

1731

Le Mans

Le Mans

1732

Le Mans

Le Mans

1733

Le Mans

1734

Valogne

Le Mans

1735

Rouen

Le Mans

1736

Le Mans

1737

Le Mans

1738

Le Mans

Le Mans

1739

Le Mans

1740

Argentan

Abbaye de Perseigne, Dép. Sarthe

2027

Baugé

Ronceray (Le Mans)

2249

Saumur

Saint-Jean-de-la-Motte, Dép. Sarthe

2360

Roullée. Dép. Sarthe

2421

Tab. 5: Urkunden Gottfrieds des Schönen für normannische Empfänger Ausstellungsort

Empfänger Almenêches, Orne

Nummer 1

Saumur, Maine-et-Loire

Le Bec-Hellouin, Eure

30

Le Bec-Hellouin, Eure

Le Bec-Hellouin, Eure

31

Le Bec-Hellouin, Eure

32

Le Bec-Hellouin, Eure

33

St-Lo, Manche

Coutances

40

Rouen

Evreux

43

Rouen

Fécamp

44

Rouen

Fécamp

45

La Roussière, Eure

52

Argentan

Heauville, Manche

53

Rouen

Normannischer Laie

54

Mirebeau, Vienne

Lisieux

55

Villedieu-les-Bailleul, Orne

56

Saumur, Maine-et-Loire

Lessay, Manche

69

Argentan

Montebourg, Manche

72

Lisieux

Montebourg, Manche

73

94 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Rouen

L'Abbaye Notredame de Mortemer, Eure

74

Rouen

Les Préaux, Eure

78

Lisieux

Rouen

79

Rouen

80

Rouen

Rouen

81

Rouen

Rouen

82

Rouen

Rouen

83

Rouen

Rouen

84

Saint-Evroult, Orne

Saint-Evroult, Orne

85

Rouen

Saint-Wandrille-Rancon, Seine-Maritime

87

Argentan

Saint-Wandrille-Rancon, Seine-Maritime

88

Argentan

Savigny-le-Vieux, Manche

94

Argentan

Savigny-le-Vieux, Manche

95

Montreuil

Argentan

Savigny-le-Vieux, Manche

96

Sées, Orne

97

Saint-André-en-Gouffern, Calvados

113

Tab. 6: Eleonores Urkunden für Empfänger südlich der Loire (1152-1189) zu Lebzeiten Heinrichs II. Ausstellungsort

Empfänger Argenson

Nummer 8

Poitiers

Les Châtelliers

31

Perigeux

Dalon

41

Poitiers

Fontaines-en-Talmondais

48

Poitiers

Fontaine-le-Comte

49

Fontevraud

Fontevraud

55

Chinon

Fontevraud

56

St-Jean d‘Angely

Fontevraud

57

Alençon

Fontevraud

58

Fontevraud

Fontevraud

67

Fontevraud

Fontmorigny

71

La Rochelle, Petita von

84

Chizé

Luçon

89

Poitiers

Maillezais

92

Poitiers

Poitiers

Maillezais

93

La Meilleraie

98

Merci-Dieu

99

Datamining in Urkunden | 95

Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Poitiers

Montierneuf

100

Poitiers

Poitiers, St Hilaire

112

Rossay

Poitiers, St Hilaire

113

Poitiers

Sablonceaux

120

Poitiers

Sablonceaux

121

Chinon

St-Aignan-d'Oléron

123

St-Maixent

133

St-Maixent

134

Bordeaux

La Grande-Sauve

*139

St-Jean d‘Angely

Surgères

145

Vendôme

152

Vendôme

154a

Tab. 7: Urkunden Heinrichs II. für bretonische Empfänger Ausstellungsort

Empfänger

Saint-Thurial, Ille-et-Villaine

Bosoges, Robert de (Chateau-Gontier, Mayenne)

119

Beaulieu, Languédias, Côtes d'Armor

171

Saint-Brieuc, Côtes d'Armor

326

Dol

766

Dol

767

Vitré, Ille-et-Villaine

Fougères, Ille-et-Villaine

Nummer

Fougères, Ille-et-Villaine

1079

Langonnet, Morbihan

1446

Lanvalley, Côtes d'Armor

1447

Locmaria, Morbihan

1620

Thouars, Deux-Sèvres

Redon, Ille-et-Villaine

2182

Westminster

Raoald der Connetabel

2214

Saint-Thurial, Ille-et-Villaine

Alan Rufus

2301

Mortain, Manche

Le Tronchet, Ille-et-Villaine

2686

Le Mans

Tab. 8: Urkunden Gaufreds Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Roland von Dinan, Côtes d'Armor

1

Jerusalem

2

Dol

3

96 | Alheydis Plassmann

Ausstellungsort Angers

Empfänger

Nummer

Léhon, Côtes d'Armor

4

Léhon, Côtes d'Armor

5

Rennes

Alan Rufus

6

Rouen

Rouen

7

Winchester

St Mary, Kirkstead, Lincolnshire

8

London

Waxham

9

Bosco, John de

10

Christopher Panetarius

11

Waltham

12

Easby, North Yorkshire

13

Bassingbourn, Cambridgeshire

14

Malo Alneto, Hugo de

15

Langonnet, Quimper

16

Fournival, Gerard de

17

Rennes

Rennes

18

Bon Repos, Saint-Gelven, Côtes d'Armor

19

Rennes

Beaulieu, Languédias, Côtes d'Armor

20

Rennes

Savigny, Manche

22

Rennes

Savigny, Manche

23

Savigny, Manche

24

Abbaye de Boquen, Côtes d'Armor

25

Rennes

21

La Vieuville (Epiniac, Ille-et-Villaine

26

La Blanche Couronne (La Chapelle Launay, LoireAtlantique)

27

Nantes

28

Nantes

Buzay (Rouons, Loire-Atlantique)

29

Paris

Buzay (Rouons, Loire-Atlantique)

30

Nantes

Tab. 9: Urkunden Constanzes zu Lebzeiten Gaufreds und Heinrichs II. Ausstellungsort

Empfänger

Nummer

Quimperlé

Quimperlé

3

Rouen

4

Bon Repos, Saint-Gelven, Côtes d'Armor Rennes

5

Saint-Sulpice-la-Forêt, Ille-et-Villaine

12

Rennes, Saint-Melaine

13

Datamining in Urkunden | 97

Ausstellungsort

Rouen

Empfänger

Nummer

Saint-Gildas-de-Rhuys, Morbihan

14

Beaulieu, Languédias, Côtes d'Armor

15

Saint-Sulpice-la-Forêt, Ille-et-Villaine

16

Angers

17

Blain, Loire-Atlantique

Buzay (Rouons, Loire-Atlantique)

18

Nantes

Sibton Abbey, Suffolk

19

Saint-Gildas-de-Rhuys, Morbihan

Saint-Gildas-de-Rhuys, Morbihan

20

Andrea Schindler

Mit brief und insigel. Reflexe von Beglaubigungsstrategien in mittelhochdeutschen Romanen Zusammenfassung: Die uns überlieferte Literatur des Mittelalters ist Adelsliteratur, in der sich die Lebenswelt des (Hoch-)Adels, wenn auch deutlich idealisiert, spiegelt. Auch das Urkundenwesen bzw. der Akt der Beglaubigung durch Schriftstücke sowie deren Siegelung sind Teil dieser Kultur, Beglaubigungsstrategien werden auf verschiedenen Ebenen in der mittelalterlichen Literatur thematisiert. Schwierig ist allerdings die konkrete Identifizierung von Urkunden bzw. urkundlichen Schriftstücken in den Werken, da nicht nur ein einzelner mittelhochdeutscher Begriff für deren Benennung zur Verfügung steht und eine eindeutige Terminologie den literarischen Texten kaum zu entnehmen ist. In einem ersten Teil werden daher die verschiedenen Begriffe für Urkunden bzw. deren Bestandteile auf ihren semantischen Gehalt befragt und in ihrer Verwendung in literarischen Texten untersucht. Danach wird anhand einzelner Texte gezeigt, wie mündlich, v. a. aber schriftlich Legitimation durch ‚Bezeugungsinstrumente‘ wie Boten, Siegel oder Schrift erreicht wird und welche Funktion auf diese Weise beglaubigte Schriftstücke im jeweiligen literarischen Kontext haben. Schlagwörter: Glaubwürdigkeit, Eigenhändigkeit, Brief, Siegel, Boten

Die deutschsprachige Literatur des Mittelalters – Literatur im engeren Sinne verstanden als fiktionale Dichtung1 – bietet in Bezug auf Urkunden auf den ersten Blick wenig. Weder werden mittelalterliche Urkunden in ihrem Aufbau, ihrer Gestaltung, ihrer Herstellung oder ihrem Beglaubigungscharakter thematisiert oder detailliert beschrieben noch gibt es – soweit ich sehe – literarische Texte des Mittelalters, in denen an zentraler Stelle Kanzleien den Handlungsort bilden oder Urkunden gleichsam Handlungs-Motivatoren mit großer Bedeutung sind. Zwei Aspekte lassen allerdings den literaturwissenschaftlichen Blick auf das Thema dennoch als lohnenswert

|| 1 Fachliteratur, Historiographie, Reiseliteratur etc., die der weite (mediävistische) Literaturbegriff ebenfalls beinhaltet, werden weitgehend ausgespart; gleichwohl sind etwa Chroniken oder Reiseberichte häufig deutlich narrativ und auch fiktional. || Andrea Schindler, Universität des Saarlandes, Campus C 5.3, 66123 Saarbrücken, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-004

100 | Andrea Schindler

und auch als notwendig erscheinen: Zum einen sind Urkunden Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts – also zur Hochzeit der mittelhochdeutschen Literatur – nicht nur an geistlichen oder Kaiser- und Königshöfen ein übliches Bezeugungsmittel in Rechtsgeschäften, sondern etwa auch bei Herzögen wie Heinrich dem Löwen2, an dessen Hof auch intensiv Literatur gefördert wurde. Diese Literatur ist zum anderen Adelsliteratur: vom Adel gefördert, für den Adel geschrieben, vor dem Adel vorgetragen, am Hof mit adligem Personal spielend. Das Bild, das hier entworfen wird, ist freilich ein Ideal, dennoch wird die Lebenswirklichkeit des Publikums gespiegelt in der Gesellschaftsstruktur, in der Kultur (etwa bei Festen oder Turnieren), in Gegenständen wie Rüstungen oder Kleidung etc. Dass hier immer mit der genannten Idealisierung und Hyperbolik (im Positiven wie im Negativen) zu rechnen ist, versteht sich heute von selbst, dennoch: Die Adelsgesellschaft will sich über diese Texte ihrer selbst vergewissern, hat also ein Interesse daran, dass die dargestellte Welt der ihren ähnlich ist oder sie idealisiert. Da nun Urkunden in dieser Zeit keine geringe Rolle spielen und wir es in der Literatur zumeist überdies mit Hochadel – Königen oder gar Kaisern – zu tun haben, ist damit zu rechnen, dass Urkunden bzw. die Terminologie und entsprechende Beglaubigungsstrategien auch in die (höfische) Literatur des Mittelalters als Teil der feudalen Rechtskultur Eingang gefunden haben. Die Bedeutung und Wertschätzung von Urkunden oder ähnlichen Dokumenten sowie ihr Status als Bezeugungsinstrument sollten sich dann auch in den Texten wiederfinden. Die Suche danach gestaltet sich allerdings als schwierig. Für das, was wir mit dem Begriff der ‚Urkunde‘ bezeichnen, also (knapp nach Joachim SPIEGEL formuliert) „schriftl[ich] [...] aufgezeichnete Zeugnisse über rechtl[iche] Vorgänge“3, finden sich im Mittelhochdeutschen verschiedene Begriffe, u. a.4: – urkunde – hantveste – bulle – rodel – brief

|| 2 Vgl. Joachim BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 9 1999, S. 624–625. 3 Joachim SPIEGEL, Urkunde, -nwesen. A. Westliches Abendland. I. Allgemein und Deutsches Reich, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (2002), Sp. 1298–1302, hier Sp. 1298. 4 Vgl. das Lemma ‚urkunde‘ in: Erwin KOLLER, Werner WEGSTEIN u. Norbert Richard WOLF, Neuhochdeutscher Index zum mittelhochdeutschen Wortschatz, Stuttgart 1990, S. 447b–448a. Der vollständige Eintrag lautet: „brief, bulle, hantveste, instrument, rodel, schînbrief, urkünde, wette [2] banbrief, gruntbrief, hantgeschrift, karte, scheffelbrief, schîn, sigel, tôtbrief [3] begift, gift, sigeltor, verbrieven, verhantvesten“.

Mit brief und insigel | 101

Für das für den Legitimationscharakter von Urkunden oder Briefen zentrale Siegel lassen sich folgende Begriffe nennen:5 – sigel oder in(ge)sigel – wahszeichen Das etymologische Bedeutungsspektrum umfasst im Wesentlichen zwei Aspekte, die Legitimation durch Bezeugung (urkunde, hantveste, sigel) sowie die Form (bulle, rodel); daneben steht der Begriff brief, der sowohl etymologisch als auch in der Verwendung weniger spezifisch ist: Mhd. urkunde (ahd. urkundi, n.) ist eine Nominalbildung zu erkennen und bedeutet als Maskulinum (auch urkundære) etwa ‚derjenige, der bekundet/bezeugt‘ und als Neutrum bzw. Femininum ‚Bekundung‘, ‚Zeugnis‘, ‚Beweis‘,6 sodass eine „relativ große Bedeutungsvarianz“7 gegeben ist, was die Bezeugungsinstanz bzw. das Bezeugungsinstrument betrifft. ‚Bekundung/Zeugnis‘ war die „hauptbed[eutung] der ä[lteren] spr[ache]“8, „die heutige [...] bed[eutung] einer rechtskräftigen schriftlichen aufzeichnung, wodurch etwas bekundet wird, gehört im wesentlichen erst dem nhd. an“9. Dies bestätigt auch der Befund im ‚Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache‘: Für die Bedeutung „(schriftl.) Zeugnis, Urkunde“ werden drei Belege angeführt, die aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammen (1275, 1286, 1293).10 Das heißt, eine Verwendung des Wortes urkunde in unserem heutigen Sinn ist im Mittelhochdeutschen zwar existent, aber zum einen eine Nebenbedeutung, zum anderen tritt diese offenbar erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts auf.

|| 5 Vgl. das Lemma ‚siegel‘ in KOLLER/WEGSTEIN/WOLF (Anm. 4), S. 377a; der vollständige Eintrag lautet: „bulle, ingesigel, sigel, wahszeichen, zeichen [2] erbinsigel [3] besigelen, prëssel, sigelen, sigelmæzic, verbrieven“. 6 Vgl. Friedrich KLUGE, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet v. Elmar SEEBOLD, 23., erw. Aufl., Berlin, New York 1995, S. 851a, sowie Matthias LEXER, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von BENECKE-MÜLLER-ZARNCKE, Bd. I–III, Leipzig 1872/1876/1878, hier Bd. II, Sp. 2005f. 7 Beate KELLNER, ‚Wort‘ – ‚Wortzeichen‘ – ‚Schrift‘. Formen von Herrschaftssicherung, Sicherheitsleistungen und Rechtsbindung im „Friedrich von Schwaben“, in: Horst WENZEL in Zusammenarbeit mit Peter GÖHLER, Werner RÖCKE, Andrea KLARE u. Haiko WANDHOFF (Hgg.), Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 143), Berlin 1997, S. 154–173, hier S. 159. 8 DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm GRIMM. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, hier Bd. 24, Sp. 2456 (die zitierten Artikel sind online abrufbar unter: http://woerterbuch netz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB [13.02.2019]). 9 DWB (Anm. 8), Bd. 24, Sp. 2459. 10 WMU = Wörterbuch der Mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Unter Leitung von Bettina KIRSCHENSTEIN und Ursula SCHULZE erarbeitet von Sibylle OHLY, Peter SCHMITT und Daniela SCHMIDT. 4 Bde. Berlin 1991/1994/2003/2010, hier Bd. 3, S. 1957b. Das zu Grunde liegende Corpus ist in digitalisierter Form nutzbar: http://tcdh01.uni-trier.de/cgi-bin/iCorpus/CorpusIndex.tcl (13.02.2019).

102 | Andrea Schindler Die hantveste geht auf das Adjektiv handfest zurück – etwas fest in der Hand/gefangen haben – und kann in der Übertragung etwa mit ‚Bekräftigung durch Handschlag‘ beschrieben werden; daraus entwickelt sich schließlich die Bedeutung ‚Versprechen, Vertrag‘11, die im Mittelhochdeutschen deutlich vorherrschend ist: Das WMU verzeichnet neben der Hauptbedeutung „Schriftstück, Urkunde“ lediglich die „nur in alem[annischen] Urk[unden], in der Corroboratio“ zu findende Nebenbedeutung „Bestätigung, Beglaubigung“ sowie einen Beleg aus dem Jahr 1280 für „Kraft, Gültigkeit“.12 Bei beiden Begriffen – urkunde wie hantveste – steht damit die Bezeugung, die Versicherung des Geschriebenen im Zentrum: Zeugen bestätigen einen Rechtsakt ebenso wie ein Handschlag. Ähnliches gilt für das sigel: Mhd. sigel ist dem lateinischen sigillum ‚Siegelabdruck‘ entlehnt, das seinerseits ein Diminutivum von lateinisch signum ‚Zeichen, Kennzeichen‘ ist. Mit diesem ‚Zeichen‘ wird eine entsprechende Urkunde als authentisch bzw. rechtskräftig bestätigt; als pars pro toto kann sigel auch für die „mit einem siegel versehene urkunde“13 stehen. Das wohl ältere Wort insigel geht laut Friedrich KLUGE auf eine Kreuzung von sigillum und insigne (‚Kennzeichen‘) zurück und verstärkt damit diese Semantik.14 Beides kann sowohl das „instrument, womit gesiegelt wird“15, als auch das dadurch entstandene Siegel bezeichnen, wobei die Bedeutung des ‚Siegelstempels‘ für sigel weniger häufig erscheint. Allerdings ist sigel gegenüber insigel und ingesigel insgesamt der weitaus seltener verwendete Begriff: Das WMU verzeichnet für insigele/insigel 3700, für ingesigel 2620, für sigel 7 und für gesigel 2

|| 11 Vgl. KLUGE (Anm. 6), S. 353b. Vgl. das ähnlich gebildete ‚dingfest‘ in der Phrase ‚jemanden dingfest machen‘. 12 WMU (Anm. 10), Bd. 1, S. 801f. Vgl. auch DWB (Anm. 8), Bd. 10, Sp. 387. 13 LEXER (Anm. 6), Bd. II, Sp. 914. 14 Vgl. KLUGE (Anm. 6), S. 762b. 15 DWB (Anm. 8), Bd. 16, Sp. 896.

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Belege und bietet nur für insigele/insigel neben ‚Siegel‘ auch ‚Petschaft o[der] Handstempel‘ als Bedeutung.16 Das seltener gebrauchte Wort wahszeichen (8 Belege im WMU) wird mehrfach in Verbindung mit einer Form von sigeln oder sigel verwendet.17 Mit rodel und bulle werden die Form bzw. ein Teil der Urkunde bezeichnet: bulle ist entlehnt vom lateinischen bulla, das ursprünglich die ‚Siegelkapsel‘ meint; im Mittelhochdeutschen wird es meist für das (in der Kapsel enthaltene) Siegel oder pars pro toto für die Urkunde selbst verwendet,18 wobei in der Regel Siegel aus Gold, Silber oder Blei als ‚Bulle‘ bezeichnet werden.19 Die Spezifikation von ‚Bulle ‘ als Erlass des Papstes lässt sich auch für das Mittelalter nachweisen, wobei bulle nicht ausschließlich für päpstliche Siegel bzw. Urkunden genutzt wird.20 rodel (m./f.) geht über mittellateinisch rotulus/rotula auf die ältere Bedeutung ‚Rädchen, Röllchen‘ zurück und beschreibt damit die Form.21 Entsprechend bezeichnet das Wort u. a. eine Schriftrolle, aber auch eine Liste, ein Register oder eine Urkunde.22 Der brief schließlich basiert auf lateinisch breve/brevis ‚kurz‘ und ist eine allgemeine Bezeichnung für ein (kurzes) Schriftstück, das in der ursprünglichen Bedeutung wohl durchaus Rechtscharakter hatte,23 da im Wesentlichen rechtlich Relevantes aufgeschrieben wurde, um etwa Besitzansprüche o. ä. festzuhalten. Das wird auch

|| 16 WMU (Anm. 10), Bd. 1, S. 675b (gesigel); Bd. 3, S. 927a–928a (ingesigel); Bd. 3, S. 939b–941a (insigele/insigel); Bd. 3, S. 1575ab (sigel); dem selten belegten (7 Belege) und bei LEXER (Anm. 6) nicht verzeichneten Wort insigelde wird ebenfalls ‚nur‘ die Bedeutung ‚Siegel‘ zugeschrieben (vgl. Bd. 3, S. 928ab); vgl. auch die Einträge zu den Lemmata ‚Siegel‘, ‚Insiegel‘ und ‚Gesiegel‘ im DRW (Deutsches Rechtswörterbuch, online abrufbar unter https://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/ (27.02.2019); im DWB (Anm. 8), Bd. 10, Sp. 4142 heißt es für das Lemma ‚Insiegel‘ zum mhd. insigele, ingesigele: „seit dem mhd. auf das bild des petschaftes und dieses selbst eingeschränkt“. Das aus dem Slawischen entlehnte Wort ‚Petschaft‘, vgl. KLUGE (Anm. 6), S. 623a, ist im Mittelhochdeutschen ebenfalls belegt (petschat, betschat), aber selten und spät bezeugt, LEXER (Anm. 6), Bd. II, Sp. 2019 sowie Bd. III, Sp. 337 und DWB (Anm. 8), Bd. 13, Sp. 1579 nennen als frühesten Beleg Heinrichs von Neustadt wohl Anfang des 14. Jahrhunderts verfassten Roman Apollonius von Tyrland; das WMU (Anm. 10), Bd. 2, S. 1371a bietet für petschat ebenfalls nur einen Beleg aus dem Jahr 1296; vgl. auch das Lemma ‚Petschaft‘ im DRW. 17 Vgl. WMU (Anm. 10), Bd. 3, S. 2307. 18 Vgl. KLUGE (Anm. 6), S. 144b, sowie LEXER (Anm. 6), Bd. I, Sp. 381. Vgl. auch das Lemma ‚Bulle‘ im DRW (Anm. 16). 19 Vgl. Werner SEIBT, Thomas FRENZ, Alfred GAWLIK: Bulle‘, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (2002), Sp. 932–936. 20 So heißt es etwa im ‚Schwabenspiegel‘: „Des pâbest insigel heizet bulla“ (Das Landrecht des Schwabenspiegels in der ältesten Gestalt. Mit den Abweichungen der gemeinen Texte und den Zusätzen derselben, hrsg. v. Wilhelm WACKERNAGEL, Zürich, Frauenfeld 1840, S. 132 [140,1]). Zur Bulle als Schriftstück des Kaisers vgl. etwa die Goldene Bulle Friedrichs II. 21 Vgl. KLUGE (Anm. 6), S. 690a. 22 Vgl. WMU (Anm. 10), Bd. 2, S. 1452ab; LEXER (Anm. 6), Bd. II, Sp. 481. 23 Vgl. KLUGE (Anm. 6), S. 135a: „Mhd. brief, ahd. briaf, [...] Frühe Entlehnung aus l. breve n. ‚kurzes Schreiben‘ (zu l. brevis ‚kurz‘). [...] Die Bedeutung ist ursprünglich ‚Urkunde, kurze schriftliche Festlegung ...“.

104 | Andrea Schindler bereits in mittelhochdeutscher Zeit in Komposita wie banbrief oder gruntbrief verdeutlicht. Die Bedeutungsvielfalt von mhd. brief ist entsprechend groß: Der Begriff ‚Brief‘ konnte im Mittelalter für alle denkbaren schriftlichen Texte verwendet werden, für Urkunden, Verbriefung von Rechten und Pflichten, für ein offizielles Schreiben, Bekanntmachung, persönliches Schreiben, Botschaft, Nachricht u. Ä.24

Entsprechend schwierig ist die Unterscheidung etwa der Textsorten ‚Urkunde‘ und ‚Brief‘, die gleichwohl zumeist auf Basis formaler, aber v. a. auch inhaltlicher Kriterien vorgenommen werden kann.25 Für in dieser Hinsicht nicht näher spezifizierte briefe in (literarischen) Texten bleibt allerdings die Unsicherheit über die Textsorte bestehen; eine exakte terminologische Trennung war im Mittelalter offensichtlich nicht notwendig. Bei der Suche nach beglaubigten Schriftstücken bzw. Beglaubigungsinstrumenten in deutschsprachigen literarischen Werken des Mittelalters wurde auf die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB)26 zurückgegriffen. Zwar sind diese Texte auch Teil des umfangreichen Quellenmaterials des DWB, doch werden hier nur wenige Belege vor 1400 gegeben; die Belege bei LEXER wurden zur Ergänzung herangezogen. Abgefragt wurde in den in der MHDBDB bestehenden ‚Texttypen‘ Artusdichtung, Höfischer Roman, Heldenepik, Karlsepik, Lyrik und sog. Spielmannsdichtung.27 Das daraus entstehende Korpus umfasst zum Großteil Texte vom Ende des 12. und des 13.

|| 24 Sigrid RACHOINIG, Wir tun kund und lassen dich wissen. Briefe, Urkunden und Akten als spätmittelalterliche Grundformen schriftlicher Kommunikation, dargestellt anhand der Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 2), Frankfurt/Main u. a. 2009, S. 95. Vgl. auch LEXER (Anm. 6), Bd. I, Sp. 352; WMU (Anm. 10), Bd. 1, S. 289a– 290a; in diesem Korpus der mittelhochdeutschen Urkunden des 13. Jahrhunderts hat der überwiegende Teil der Belege die Bedeutung „Urkunde als rechtsgültiges Dokument“ (S. 289b). 25 Vgl. z. B. RACHOINIG (Anm. 24), S. 95–194; Ilpo Tapani PIIRAINEN, Schriftliche Kommunikation des Spätmittelalters in Preßburg/Bratislava, in: Britt-Marie SCHUSTER u. Ute SCHWARZ (Hgg.), Kommunikationspraxis und ihre Reflexion in frühneuhochdeutscher und neuhochdeutscher Zeit. Festschrift für Monika Rössing-Hager zum 65. Geburtstag (Germanistische Linguistik: Monographien 2), Hildesheim u. a. 1998, S. 177–183; Christine WAND-WITTKOWSKI, Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000, S. 22–38; Nicole SPENGLER, Zum Verhältnis der Textsorten ‚Urkunde‘ und ‚Brief‘, in: Alexander SCHWARZ u. Laure ABPLANALP LUSCHER (Hgg.), Textallianzen am Schnittpunkt der germanistischen Disziplinen (Textanalyse in Universität und Schule 14), Bern u. a. 2001, S. 205–215. 26 Vgl. http://mhdbdb.sbg.ac.at/; die Abfragen erfolgten am 16.07.2016. 27 Diese Gruppierung der Texte in der MHDBDB folgt – neben dem Prinzip der Gattungs-Zuordnung – offenbar pragmatischen Gesichtspunkten: Artusromane zählen freilich zu den Höfischen Romanen, werden aber in einer eigenen Gruppe gebündelt, vermutlich um überschaubare Textmengen bieten zu können.

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Jahrhunderts mit einigen wenigen Werken des 14. Jahrhunderts (z. B. der ‚Wernigeroder Alexander‘) und vereinzelt aus dem 15. Jahrhundert (z. B. die Lieder Oswalds von Wolkenstein). Die Abfrage dieser Begriffe in der MHDBDB liefert – erwartungsgemäß – recht unterschiedliche Ergebnisse. a) Die Belege zu brief sind, wie die bisherigen Ausführungen vermuten lassen, äußerst zahlreich und ziehen sich durch alle Texttypen; eine detaillierte Sichtung aller Belegstellen ist in diesem Rahmen nicht möglich.28 Die nicht seltenen „Briefeinlagen im Roman“ wurden in der Forschung bereits ausführlich untersucht,29 auch auf die bei Romanfiguren bereits seit dem 12. Jahrhundert große „Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit“30 wurde mehrfach hingewiesen. Auffällig ist im betrachteten Korpus, dass die Betonung des eigenhändigen Schreibens eines Briefes häufig mit Heimlichkeit einhergeht: Gahmuret etwa, Parzivals Vater, schreibt seinen Abschiedsbrief an Belakane mit seiner eigenen hant (P, V. 55,18)31, bevor er sich heimlich davonstiehlt; ebenso schreiben Ryal und Agly ihre heimlichen Liebesbriefe mit ir selbes hant (WvÖ, V. 1984).32 Entsprechend werden Briefe sowohl heimlich (still) als auch öffentlich (laut) gelesen, je nach Inhalt und Intention.33 Betrachtet man den Kontext in Hinblick auf wort- bzw. warzeichen,34 wird deutlich, dass briefe häufig mit Beglaubigungsinstanzen bzw. -instrumenten verbunden

|| 28 Eine Systematisierung nach Bedeutungen mit etlichen Belegstellen bietet das MWB (Mittelhochdeutsches Wörterbuch), online einsehbar unter http://www.mhdwb-online.de/ (23.02.2019). 29 Vgl. dazu grundlegend Christine WAND-WITTKOWSKI (Anm. 25), S. 39–86, Zitat S. 39; Martin MUSCHIK, Minne in Briefen. Studien zur Poetik des Briefwechsels in der Erzählliteratur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2013. 30 WAND-WITTKOWSKI (Anm. 25), S. 39. 31 Mit der Sigle P zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl LACHMANN, Übersetzung von Peter KNECHT. Mit Einführungen zum Text der LACHMANNschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd SCHIROK, Berlin, New York 22003. 32 Mit der Sigle WvÖ zitiert nach: Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hrsg. v. Ernst REGEL (Deutsche Texte des Mittelalters 3), Hildesheim 2003. Freilich gibt es auch Figuren, die nicht Lesen und Schreiben können (oder wollen) und darum schreiben oder lesen lassen, vgl. z. B. Div vrowe ir brif sus scriben hiez [MuB, V. 5127], den brief man vns lesen sol [MuB, V. 5698]; mit der Sigle MuB zitiert nach: Mai und Beaflor. Minneroman des 13. Jahrhunderts, hrsg. v. Christian KIENING u. Katharina MERTENS FLEURY, Zürich 2008. 33 Vgl. etwa den ‚Jüngeren Titurel‘: ... ich waene, man di zehant geschriben funde / an dem prief. den las man offenbaere. (JT, V. 2400,2f.); Artus, der witze riche, den prief was tougen lesende (JT, V. 2480,1). Mit der Sigle JT zitiert nach: Albrechts (von Scharfenberg) Jüngerer Titurel. Nach den ältesten und besten Handschriften kritisch hrsg. v. Werner WOLF (Band I und II/1,II/2); nach den Grundsätzen von Werner WOLF kritisch hrsg. v. Kurt NYHOLM (Band III/1,III/2) (Deutsche Texte des Mittelalters XLV, LV, LXI, LXXIII, LXXVII), Berlin 1955–1992. 34 Vgl. zur Wortgeschichte von wortzeichen und warzeichen und deren geringer Trennschärfe KELLNER (Anm. 7), S. 161–168. Dabei lohnt sich nicht nur ein Blick in die Überlieferung, wie KELLNER zeigt, sondern auch ein Vergleich mit den Editionen: In der noch immer gängigen mittelhochdeutschen

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werden. Boten sind grundsätzlich zur Übermittlung notwendig, werden aber etwa auch mit Sorgfalt ausgewählt35 oder können sich durch Bekanntheit als zuverlässig ausweisen,36 wodurch auch der Inhalt der Botschaft beglaubigt wird. briefe sind mehrfach ver- bzw. besiegelt,37 wobei dies gelegentlich nur dadurch zu erschließen ist, dass der Empfänger den brief uf brach (WvÖ, V. 11033). Daneben dient wiederholt, v. a. bei Kommunikation zwischen Liebenden, ein vingerlîn (M, V. 3898)38 als warzeichen, wobei die Wertschätzung von brief und vingerlîn in Bezug auf ihre Aussagekraft hinsichtlich der Beglaubigung unterschiedlich gesehen werden kann: Garel schickt seiner frawen Laudamie Brief und Ring und weist den Boten besonders auf die Wirkung des Rings hin: Fuͤ r meiner frawen mit dir dar Disen prief und daz vingerlein, So waiz wol deu lieb frawe mein, So si daz vingerlein an sicht, Daz mir laidez wirret nicht. Si gelaubet wol dem vingerlein, Daz gab mir die frawe mein, Do ich iungist von ir rait. Si waiz wol fuͤ r die warhait,

|| Ausgabe von Hartmanns ‚Erec‘ sendet Artus brieve und wortzeichen zu seinen Fürsten, um zur Hochzeit Erecs und Enites einzuladen (Hartmann von Aue, Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente hrsg. v. Albert LEITZMANN, fortgeführt v. Ludwig WOLFF, 7. Auflage besorgt v. Kurt GÄRTNER (Altdeutsche Textbibliothek 39), Tübingen 2006, V. 1895). In der seit 2017 vorliegenden Ausgabe des frühneuhochdeutschen Textes heißt es handschriftengetreu: briefe und warzaichen (E V. 2888/1895; mit der Sigle E zitiert nach: Hartmann von Aue, Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen ‚Erek‘, hrsg. v. Andreas HAMMER, Victor MILLET u. Timo REUVEKAMP-FELBER unter Mitarbeit von Lydia MERTEN, Katharina MÜNSTERMANN u. Hannah RIEGER, Berlin, Boston 2017). 35 Vgl. bspw. ‚Herzog Ernst‘: einn fürsten der im dar zuo tohte / er mit dem brieve sande ... (HE, V. 322f.). Mit der Sigle HE zitiert nach: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl BARTSCH mit den Bruchstücken der Fassung A hrsg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard SOWINSKI, Stuttgart 2003. 36 So erkennt etwa Bêne, die Vertraute Itonjes, die als Boten gesandten Knappen von Itonjes heimlichem Geliebten Gramoflanz (vgl. P, V. 713,1–4). 37 Vgl. etwa den ‚Prosa-Lancelot‘: PL, Teil II, S. 688, Z. 4, sowie Teil III, S. 73, Z. 14. Mit der Sigle PL zitiert nach: Lancelot, hrsg. v. Reinhold KLUGE, Teil I: Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147 (Deutsche Texte des Mittelalters 42), Berlin 1948; Teil II: Nach der Kölner Papierhandschrift W. f° 46* Blankenheim und der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147 (Deutsche Texte des Mittelalters 47), Berlin 1963; Teil III: Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147 (Deutsche Texte des Mittelalters 63), Berlin 1974. 38 Mit der Sigle M zitiert nach: „Melerantz von Frankreich“ – Der Meleranz des Pleier. Nach der Karlsruher Handschrift. Edition – Untersuchungen – Stellenkommentar, hrsg. v. Markus STEFFEN (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 48), Berlin 2011.

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So si daz vingerlein an sicht, Daz si der pot trewget nicht. (G, V. 17408–17418)39 Bringe meiner Herrin diesen Brief und das Ringlein mit, dann weiß meine geliebte Herrin gewiss, wenn sie das Ringlein ansieht, dass mir nichts fehlt. Sie glaubt gewiss dem Ring, den meine Herrin mir gab, als ich zuletzt von ihr fortritt. Wenn sie das Ringlein ansieht, weiß sie ganz gewiss, dass der Bote sie nicht betrügt.

Der Bote verweist gegenüber Laudamie auf das vingerlein, das ein gezeug der warheit (G, V. 17476) sein solle, bezieht sich dabei allerdings auf die Worte, die er zu überbringen hat: Daz ir gelaubet dester paz, / Swaz ich eu sag und wizzet daz, / Daz ich eu deu warheit / Sag (G, V. 17477–17480). Laudamie hinwiederum erfreut zwar der Anblick des Rings, den sie sofort erkennt, Bezeugungskraft hat für sie aber der (noch ungeöffnete!) Brief: Si sprach: „wol mich, der herre mein, Der ist vro und wol gesunt. Daz tuͤ t mir diser prief chunt.“ Den prach si auf. (G, V. 17488–17491) Sie sagte: „Wohl mir, mein Herr ist froh und gewiss wohlauf. Das erzählt mir dieser Brief.“ Den brach sie auf.

Während also Garel v. a. dem Ring zuschreibt, sowohl für sein Befinden als auch für die Zuverlässigkeit des Boten zu zeugen, bezieht der Bote dessen Beglaubigungspotential auf seine Worte, Laudamie hingegen erfreut zwar der Anblick des Ringes, für sie ist aber einzig der Brief Bürge der Wahrheit.40 Besonders auffallend ist bei Sichtung der Belege die häufige Personifikation von Briefen. Briefe sprechen, und zwar nicht nur beim Akt des Vorlesens und des Lesens durch eine Figur, sondern auch dann, wenn der Erzähler den Inhalt den Rezipienten ‚vorliest‘.41 Umgekehrt spricht aber auch Ginover in Wolframs ‚Parzival‘ zu Gawans Brief, der zwar kein Siegel, aber dafür dessen Handschrift aufweist: ôwol der hant diu dich schreip! (P V. 645,3) Darüber hinaus werden Briefe geküsst42 oder aber man verneigt sich vor ihnen wie die Herzogin Adelheid vor dem Brief des Kaisers im ‚Herzog Ernst‘: sie neic, dô sie den brief nam (HE V. 343); hier funktioniert die „Schrift

|| 39 Mit der Sigle G zitiert nach: Garel von dem bluͤ nden Tal von dem Pleier, hrsg. v. Wolfgang HERLES, Wien 1981. Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin. 40 An einigen Stellen werden auch weitere nicht näher spezifizierte warzeichen angesprochen (vgl. etwa P, V. 626,9–11). 41 Vgl. bspw. MuB, V. 5253. Konsequenterweise können Briefe auch schweigen (vgl. WvÖ, V. 3036). Dass Briefe auch ‚sprechen‘, wenn sie intradiegetisch nicht gehört werden, wird durch die Performanz der Texte im Akt des Erzählens konkret nachvollziehbar. 42 Vgl. z. B. M, V. 2940; P, V. 714,17.

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(resp. das Medium: der Brief, A. S.) als Instrument der Herstellung von unmittelbarer Präsenz“43, d. h. der Brief wird jeweils zum Stellvertreter des Senders.44 b) Nicht ganz so umfangreich ist die Belegliste für urkunde, doch auch sie umfasst zahlreiche Höfische Romane, Heldenepen, sog. Spielmannsdichtung und Lieddichtung. urkunde meint im untersuchten Korpus an keiner Stelle eine konkrete Urkunde bzw. ein Schriftstück, sondern es werden damit ein Bezeugungsakt (urkunde geben) oder ein Zeuge bzw. ein Zeichen zur Beglaubigung beschrieben. Dies deckt sich – obwohl das Korpus in Teilen über 1300 hinausgeht – mit den o. g. Befunden des WMU und des DWB. Als urkunde kann dabei Verschiedenes fungieren und damit auf verschiedenen Ebenen etwas bezeugt werden. Im ‚Tristan ‘ Gottfrieds von Straßburg etwa bringt der Truchsess des irischen Hofes den Kopf des (von Tristan getöteten) Drachen vor den König und verlangt dafür den ausgesetzten Lohn, Isolde. Das Drachenhaupt soll als corpus delicti beweisen, dass er der Drachentöter ist, und so schildert der Truchsess seinen vorgeblichen Kampf für die Königstochter: der eit verlôs vil manegen man; dâ sach aber ich vil lützel an, durch daz ich minnete daz wîp, unde wâgete den lîp dicke engestlîcher danne ie man, biz mir ze jungeste dar an alsô gelanc, daz ich in sluoc. ist ez dâ mite genuoc, hie lît daz houbet, seht ez an: daz selbe urkünde brâhte ich dan. (T, V. 9811–9820)45 Der Schwur [Isolde als Preis für das Leben des Drachen einzusetzen] kostete viele Männer das Leben; darauf achtete ich aber nicht, weil ich die Frau liebte und mein Leben oft in fürchterlicheren Kämpfen wagte als je irgendjemand, bis es mir zuletzt so gelang, dass ich den Drachen erschlug. Wenn es damit genug ist: Hier liegt sein Kopf, seht ihn an: Diesen Beweis brachte ich von dort mit.

Ähnliches findet sich extradiegetisch, wobei im folgenden Beispiel kein Beweis vorgebracht, sondern lediglich auf die eigene Autorität der Erzählinstanz verwiesen

|| 43 Peter STROHSCHNEIDER, Unlesbarkeit von Schrift. Literaturhistorische Anmerkungen zu Schriftpraxen in der religiösen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Fotis JANNIDIS u. a. (Hgg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte (Revisionen 1), Berlin, New York 2003, S. 591–627, hier S. 600. 44 Vgl. zur „Stellvertreterfunktion“ des Boten, die auf den Brief übertragen werden kann, Horst WENZEL, Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger, in: WENZEL u. a. (Anm. 7), S. 86–105, hier S. 97. 45 Mit der Sigle T zitiert nach: Gottfried von Straßburg, Tristan, hrsg. v. Karl MAROLD. Unveränderter vierter Abdruck nach dem dritten mit einem auf Grund von Friedrich RANKES Kollationen verbesserten Apparat besorgt von Werner SCHRÖDER, Berlin, New York 1977.

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wird. Im ‚Reinfried von Braunschweig‘ bezeugt der Erzähler, als er von all den heiligen Stätten in und um Jerusalem berichtet, die Reinfried nach deren ‚Eroberung‘ besichtigt, dass das Heilige Grab zur Zeit Reinfrieds nicht am selben Ort gewesen sei wie zur Gegenwart des Erzählers: ir sönt wizzen bî der stunt, dô diz wunder al ergienc und man got marterlîchen hienc für des menschen sünde, des gib ich guot urkünde daz ez niht lac als ez nu lît. daz grap bî der selben zît stuont vor der stat ein teil hin dan. (RvB, V. 18132–18139)46 Ihr sollt nun wissen, dass das Grab zu der Zeit, als das Wunder geschah und man Gott qualvoll für die Sünde der Menschen ans Kreuz nagelte, nicht dort lag, wo es heute liegt – das bezeuge ich gewiss. Das Grab lag zu dieser Zeit vor der Stadt ein Stück weit draußen.

Dem hier ausgestellten Selbstbewusstsein des Erzählers, der außer seinem Wort keinen weiteren Beleg für seine Behauptung zu brauchen meint, gegenüber stehen v. a. in historiographischen Texten nicht seltene Wahrheitsbekundungen auf discoursEbene, die auf die reale Welt als Bezeugungsinstanz verweisen, sodass (scheinbare) Überprüfbarkeit des Gesagten für die Rezipienten besteht. In der ‚Kaiserchronik‘ berichtet der Erzähler, dass Titus zur Erinnerung an einen vereitelten Anschlag die Namen der Attentäter für die Ewigkeit festhalten lässt, was man in Rom noch sehen könne: Duo hiez der kunic mære sîne listwurchære giezen ain sûl êrin, sô hiute ze Rôme ist anscîn: die zwelf hêrren hiez er dar an ergraben, mit golde screip man ir namen, sô man hiute dâ lesen mac ze ainem urkunde unz an den jungisten tac. (Kaiserchronik, V. 5531–5538)47 Da ließ der berühmte König seine Künstler eine eherne Säule gießen, die (noch) heute in Rom zu sehen ist: Die Namen der zwölf Herren ließ er darauf gravieren, mit Gold schrieb man ihre Namen, wie man heute dort lesen kann als Beweis bis zum jüngsten Tag.

|| 46 Mit der Sigle RvB zitiert nach: Reinfrid von Braunschweig, hrsg. v. Karl BARTSCH, Tübingen 1871. 47 Zitiert nach: Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg. v. Edward SCHRÖDER (Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken I,1), Hannover 1895.

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Ebenfalls an die Rezipienten richtet sich der Erzähler im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, wenn er seine Erzählung u. a. mit der âventiure urkünde (P, V. 583,4) legitimiert; der Erzähler der Geschichte beruft sich damit auf die Geschichte selbst, d. h. diese wird zur Bezeugungsinstanz – und ist damit unhinterfragbar.48 Auch im Bereich der Komik kann die Berufung auf einen Zeugen eingesetzt werden, wobei Komik durch die Diskrepanz zwischen dem konkret zu bezeugenden Sachverhalt und der Größe bzw. Autorität der dazu angerufenen Instanz entsteht. In einem Mutter-Tochter-Lied Neidharts beispielsweise äußert die Mutter, dass sie zwar alt, aber nicht arm sei und daher ggf. einen Liebhaber bezahlen könne; darauf erwidert die Tochter spöttisch, dieser könne für das Geld außer Husterei und Keuchen nichts erwarten, wozu sie Gott als Zeugen anruft: des sei got mein urkúnde (c30, 9,1).49 Bei den genannten Beispielen variieren jeweils die Kontexte und auch die Register stark, doch gerade das macht deutlich, dass das urkunden in der Literatur beinahe schon topisch zur Legitimation verschiedenster Sachverhalte dient. c) Für die bulle findet die Datenbank im durchsuchten Korpus nur einen Beleg aus dem ‚Lohengrin‘, der noch zu untersuchen sein wird.50

|| 48 An späterer Stelle stellt sich Wolframs Erzähler explizit über die âventiure, wenn er behauptet: wande ich in dem munde trage / das slôz dirre âventiure (P, V. 734,6f.). 49 Zitiert nach der Salzburger Neidhart-Ausgabe: Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hrsg. v. Ulrich MÜLLER, Ingrid BENNEWITZ u. Franz Viktor SPECHTLER, 3 Bde., Berlin, New York 2007. 50 Die MHDBDB liefert darüber hinaus zwei Belege aus einer der deutschen Übersetzungen der Chronik Böhmens des Přibik Pulkavan von Radenín (1374; Übersetzung [‚Pulkava Chronik‘]: 15. Jh.), in denen mit bulle jeweils das bezeugende Siegel bezeichnet wird: 68r: so haben / wir lassen schreyben vnd stercken mit vnnser guldein / Bullen dy gegenwurtig hantuest durch die hend Heinrici / von Barys; 70v: so haben / wir gepoten das geschryben wurde dyse gegenwurtige / handuesten vnd gesterckt mit der annhenckten guldenn / Bullen vnnßer meyestat (zitiert nach der MHDBDB: „Der digitale Text wurde von Vlastimil Brom anhand der handschriftlichen Faksimila [Cgm 1112, BSB München] transkribiert und zur Verfügung gestellt [http://mhdbdb.sbg.ac.at/mhdbdb/App?action=TextInfoEdit&text=PUC, 13.02.2018]). Matthias LEXER (Anm. 6), Bd. I, Sp. 381, verweist unter dem Lemma ‚bulle‘ auf zwei chronikalische Belege: a) Idoch so schribet seine H[eiligkeit] den herren von Behem in einer geslossen bullen (Urkundliche Beiträge zur Geschichte Böhmens und seiner Nachbarländer im Zeitalter Georg’s von Podiebrad [1450–1471], gesammelt und hrsg. v. Franz PALACKY [Œsterreichische Geschichts-Quellen 2, XX], Wien 1860, Nr. 181, Siena 19. April 1459). b) Die angeführten Belege aus der ‚Cronick des gotzhuses Rychenowe‘ des Gallus Öhem (um 1445–1522; Gallus Oheims Chronik von Reichenau, hrsg. v. Karl August BARACK [Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 84], Stuttgart 1866) zeigen den semantischen ‚Zwischenstatus‘ von mhd. bulle zwischen der ursprünglichen Bedeutung des Siegels bzw. der Siegelkapsel, wenn etwa die bulle eroffnot wird, und der pars pro toto-Übertragung auf die gesamte Urkunde: S. 33,7f.: Im wurden ouch eroffnot die bullen von bäbsten, küngen und kaisern. S. 69,11: Spricht Arnolffus in der pull. S. 93,2: Ich hab aber sölliche fryhaitbrieff und bullen nit gesehen, hierumb ist mir nüntz wissent gewesen, darvon ettwas zuͦ schriben. Unter dem Lemma ‚bullieren‘ (‚mit einem siegel versehen‘) verweist LEXER (Anm. 6), Bd. I, Sp. 381 auf einen Beleg aus Urkunde Nr. 37 der Sechzig Urkunden Kaiser Ludwigs des Bayern, hrsg. v. Friedrich von WEECH, München 1863, in der dem Augustinerorden die vom Papst verliehenen erbe und aigen bestätigt werden, alz si dar über des

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d) Die handveste erscheint im untersuchten Korpus einige Male, insgesamt aber nicht häufig und in den meisten Fällen metaphorisch, also nicht für konkrete Schriftstücke bzw. Urkunden. Auffallend ist die häufige Verbindung mit triuwe und tôt; so ist etwa in Wolframs ‚Parzival‘ die Rede von der triuwe handveste (P, V. 345,7) und in Wolframs ‚Willehalm‘ berichtet der Erzähler während des Kampfes der zehn Scharen des Heidenkönigs Terramer gegen die Christen: manec leben wart da übersigelt mit des todes hantveste. (Willehalm, V. 391,26f.)51 Zahlreiche Leben wurden da mit der Urkunde des Todes besiegelt.

Die ursprüngliche Bedeutung ‚etwas fest im Griff haben‘ (also eine Art Unverrückoder Unumkehrbarkeit) ist in diesen schon topisch wirkenden Formulierungen zu erkennen, wobei das Verb übersigeln im letzten Beispiel den klaren Bezug zum semantischen Feld der Urkunde deutlich macht. Dies zeigt auf ähnliche Weise der ‚Lohengrin‘: Der eilef wurden vier erslagen balde als ich die âventiure hoere sagen, doch heten sie vor lebens vil versigelet Mit des tôdes hantvesten, die nieman kan gebrechen, als man eteswâ hantveste tuot. (L, V. 4624–4628)52 Von den elf Männern wurden rasch vier erschlagen, wie ich die Geschichte erzählen höre, doch sie hatten davor viele Leben besiegelt mit der Urkunde des Todes, die niemand brechen kann, wie man es zuweilen mit Urkunden tut.

e) Die drei53 Belege zu rodel bieten tatsächlich konkrete Verwendung, sind aber im Kontext unspezifisch, d. h. man kann keine nähere Beschreibung des Gegenstandes ablesen, allerdings stehen alle drei Nennungen im Zusammenhang mit religiöser

|| selben pabsts gebuliert offen brief habent. – Außer in Chroniken findet sich eine bulle silberîn auch zweimal im ‚Renner‘ Hugos von Trimberg, der als moral-didaktisches Werk hier nicht berücksichtigt wird; beide Nennungen stehen im Kontext der Papstkritik. Vgl. Der Renner von Hugo von Trimberg, hrsg. v. Gustav EHRISMANN. Mit einem Nachwort und Ergänzungen v. Günther SCHWEIKLE, 4 Bde. (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), Berlin 1970, V. 9126, 9153. 51 Zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. 3., durchgesehene Auflage. Text der Ausgabe v. Werner SCHRÖDER, Übersetzung, Vorwort und Register v. Dieter KARTSCHOKE, Berlin, New York 2003. 52 Mit der Sigle L zitiert nach: Thomas CRAMER, Lohengrin. Edition und Untersuchungen, München 1971. 53 Die MHDBDB bietet eine vierte Nennung von rodel in der dritten Strophe des Meisterlieds 1 des Marner, doch hier handelt es sich um eine Nebenform von ruoder. Vgl. dazu Text und Kommentar in: Der Marner, Lieder und Sangsprüche aus dem 13. Jahrhundert und ihr Weiterleben im Meistersang, hrsg., eingeleitet, erläutert und übersetzt v. Eva WILLMS, Berlin, New York 2008, S. 306–313.

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Thematik. In der Alexiuslegende soll dem inzwischen verstorbenen Alexius der von ihm verfasste brief abgenommen werden,54 der – was vorher nicht erwähnt wird – offenbar in einem rodel steckt: dâ von sô lâz in, saelic lîp, enpfâhen von der hende dîn den rodel und daz brievelin daz behaft dar inne lît. (Alexius, V. 994–997)55 Deshalb, glücklicher Mensch, lass ihn aus deinen Händen den Rodel und das Brieflein empfangen, das darin eingeschlossen ist.

Der rodel scheint hier eine Art Gefäß für den brief zu sein, keine Schriftrolle – es sei denn, man verstünde brief hier als den Text auf der Schriftrolle. Bei Konrad von Würzburg ist zweimal – im ‚Trojanischen Krieg‘56 und in der ‚Goldenen Schmiede‘57 – von der jüden rodel (TK 19746; GS 1414) die Rede, jeweils im Zusammenhang mit bzw. Gegensatz zu der pfaffen schrift (TK 19746) bzw. der cristen buoch (GS 1415); es handelt sich also um eine Heilige Schrift der Juden.58 f) Für sigel schließlich gilt Ähnliches wie für urkunde: Die Verwendung im metaphorischen Sinn überwiegt, wobei auch hier die Verbindung zum semantischen Feld minne und triuwe häufig ist,59 allerdings mit mehr Variation: Bei der Totenklage über (den angeblich verstorbenen) Gawein in der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin rühmt || 54 Der brief lässt sich dem Toten erst nach einem Gebet bzw. einer Anrufung durch den Papst entwenden. Vgl. zum ‚Schriftwunder‘ in der Alexius-Tradition Margreth EGIDI, Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende, in: Peter STROHSCHNEIDER (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin, New York 2009, S. 607–657, hier S. 643–653, und speziell bei Konrad von Würzburg: STROHSCHNEIDER (Anm. 43), S. 602–608. 55 Zitiert nach: Konrad von Würzburg, Die Legenden. Bd. II, hrsg. v. Paul GEREKE (Altdeutsche Textbibliothek 20), Halle/Saale 1925. 56 Mit der Sigle TK zitiert nach: Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNs u. F. ROTHs zum ersten Mal hrsg. durch Adelbert VON KELLER (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 44), Stuttgart 1858. 57 Mit der Sigle GS zitiert nach: Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg, hrsg. v. Edward SCHRÖDER, Göttingen 21969. 58 Matthias LEXER (Anm. 6), Bd. II, Sp. 481 identifiziert der jüden rodel mit dem Talmud; aufgrund der ursprünglichen Bedeutung von rodel ‚Röllchen‘ läge die Verwendung des Begriffs allerdings für die Tora bzw. die Tora-Rolle näher (diesen Hinweis verdanke ich Eveline BRUGGER); die genannten Oppositionen zu christlichen Schriften wären jedoch schärfer, wenn rodel nicht die Tora und damit die in der (christlichen) Heiligen Schrift auch enthaltenen fünf Bücher Mose bezeichnete, sondern die jüdischen Auslegungen der Gesetzestexte im Talmud. Das DWB verzeichnet beide Möglichkeiten, vgl. DWB (Anm. 8), Bd. 14, Sp. 1107. 59 Vgl. zur Tradition von „Fälschungs-, Münz- und Siegel-Metaphorik [...] im höfischen Liebeskontext“ Urban KÜSTERS, Marken der Gewissheit. Urkundlichkeit und Zeichenwahrnehmung in mittelalterlicher Literatur, Düsseldorf 2012, S. 17–25, Zitat S. 19.

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Keye den Freund u. a. als jngesigel der trùwe (Crône, V. 17006)60; daneben wird uf staetikeit versigelt (JT, V. 5392,4), man spricht von der minnen insigel (T, V. 17020) und für die ewige Verbundenheit der Liebenden soll dirre kus [...] ein insigel sîn (T, V. 18359). Ähnliches beschreibt der Erzähler im ‚Erec‘ Hartmanns von Aue mit dem Herzenstausch zwischen Erec und Enite: der vil getreue man, Ir hertze fuͦ rt Er mit Im dan, das sein belib dem weibe versigelt in Irn leibe. (E, V. 3355–3358/2364–2367) Der äußerst treue Mann, ihr Herz nahm er mit sich fort, das seine blieb bei der Frau versiegelt in ihr.

Daneben gibt es auch etliche versigelte brief61, dabei knappste Beschreibungen des Siegels, etwa von einem brieff mit eim ingesiegel das guldin was (PL, I, S. 491, Z. 29), und durchaus auch falsche sigel62. Näheres über deren Beschaffenheit erfährt man jedoch kaum. Ein Beispiel für eine Beschreibung eines wahszeichens bietet Ulrich von Etzenbach in seinem ‚Alexanderroman‘: Der Perserkönig Darius schickt dem jungen Alexander einen brief, der mit zwei wahszeichen (A, V. 2484)63 versiegelt ist, deren Gestalt bezeichnenderweise nicht näher ausgeführt wird. Er warnt Alexander nicht eben höflich vor weiteren Provokationen, da dieser noch ein Kind sei, das nicht erfolgreich sein werde. Als Zeichen dafür schenkt er ihm u. a. Spielzeug (eine geisel, einen bal etc.). Alexander antwortet höfisch, aber durchaus provokant, indem er die Präsente jeweils metaphorisch als Zeichen seiner kommenden Weltherrschaft umdeutet. Sein brief wird ebenfalls mit einem wahszeichen versiegelt, das nun beschrieben wird: die âventiure mê mich mant, wie sîn künclich wahszeichen, des hant kunde prîs erreichen,

|| 60 Zitiert nach: Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 12282–30042). Nach der Handschrift Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg nach Vorarbeiten v. Fritz Peter KNAPP und Klaus ZATLOUKAL hrsg. v. Alfred EBENBAUER und Florian KRAGL (Altdeutsche Textbibliothek 118), Tübingen 2005. 61 Vgl. etwa Ulrich Füetrer, Lannzilet (Aus dem ‚Buch der Abenteuer‘), Str. 1–1122, hrsg. v. Karl-Eckhard LENK (Altdeutsche Textbibliothek 102), Tübingen 1989, Str. 96,4 und 914,5. 62 Vgl. etwa PL, II, S. 6, Z. 19–22: Und er thet briffe machen mit falschen ingesiegeln als konig Artus siegel waren, und ließ darinn schriben in der meynunge als konig Artus die gethan hett, und das der konigin die briffe in die handt worden; PL, III, S. 638, Z. 18 – S. 369, Z. 3: Wann er dete brieff machen mit eim falschen ingesiegel, gemacht geyn des konig Artus siegel, und die brieff wurden gesant der koniginne und wurden gelesen vor den fursten von dem lande die da waren, und sie lase ein bischoff von Ißlande. 63 Mit der Sigle A zitiert nach: Ulrich von Etzenbach, Alexander, hrsg. v. Wendelin TOISCHER (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 183), Tübingen 1888.

114 | Andrea Schindler an den brief versigelt wart. dâ was vlîz angekart, sîn bilde mit kunst dar an ergraben: in harnasche ûf eime orse haben sach man in in dem wahse streben, als ob er strît wolde geben. (A, V. 5600–5608) Die Geschichte erinnert mich, wie sein königliches Wachszeichen, das rühmenswert war, als Siegel auf den Brief gegeben wurde. Darauf verwendete man Sorgfalt, sein Portrait war kunstvoll darauf graviert: In Rüstung auf einem Pferd haltend sah man ihn im Wachs, als ob er kämpfen wollte.

Alexander wird hier in Rüstung auf dem Pferd gezeigt – Herrschaftszeichen werden nicht explizit erwähnt, aber es ist anzunehmen, dass das Siegel den v. a. vom 12. bis zum 14. Jahrhundert bei den „Herren des hohen Adels und [den] F[ürst]en“64 beliebten Reitersiegeln entsprechend gedacht bzw. vom Publikum des um 1290 entstandenen Romans damit verbunden und dass die „Darstellung[ ] des mit Schild, Lanze oder Schwert zum Kampf ausreitenden Herrn [als] ein Symbol der Herrschaft, der Macht“65 gesehen wurde. Damit unterstreicht Alexander seinen Anspruch und seine Haltung gegenüber Darius, der zwar sogar zwei wahszeichen verwendet, die aber mangels Beschreibung keine Aussagekraft im Text gewinnen. Festzuhalten bleibt, dass alle Begriffe dazu verwendet werden, entweder Unabänderlichkeit – beispielsweise der triuwe oder des Todes – oder aber die Legitimation von Nachrichten und Botschaften zu untermauern, wobei es hier durchaus auch um Mündlichkeit gehen kann, womit dann der Augenzeuge oder Überbringer selbst zum urkunde/urkundære wird. Auch die Möglichkeit der Fälschung wird thematisiert. Auffallend (aber letztlich nicht überraschend) ist, dass diese Begriffe aus der Rechtspraxis in der Literatur vielfach – im untersuchten Korpus oft ausschließlich – metaphorisch genutzt werden als starke Bezeugungen bzw. Bestärkungen von Sachverhalten aller Art, aber dabei nur bedingt austauschbar zu sein scheinen: Die Etymologie der Begriffe spielt in Phrasen wie der hantveste des todes offenbar durchaus eine Rolle, die den unausweichlichen Griff des Todes beschreibt, sodass hantveste hier nicht durch einen anderen Begriff wie urkunde oder bulle ersetzt werden kann. Ob für konkrete Urkunden Unterschiede in der Verwendung der Termini gemacht werden, lässt sich mangels Belegen kaum feststellen: Da urkunde oder auch handveste nicht für konkrete Schriftstücke mit Urkundencharakter, sondern jeweils in metaphorischer || 64 Rainer KAHSNITZ, Bildnis, A. Westen, V. Siegel, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (2002), Sp. 170– 173, hier Sp. 171. 65 Eberhard GÖNNER, Reitersiegel in Südwestdeutschland, in: Wolfgang SCHMIERER u. a. (Hgg.), Aus südwestdeutscher Geschichte. Festschrift für Hans-Martin MAURER. Dem Archivare und Historiker zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1994, S. 151–167, hier S. 152. Vgl. zu Reitersiegeln einführend Andrea STIELDORF, Siegelkunde. Basiswissen (Hahnsche Historische Hilfswissenschaften 2), Hannover 2004, bes. S. 79–82.

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Bedeutung vorliegen, kann etwa auch kein Abgleich mit Belegen für brief erfolgen, sodass hier Synonymität oder aber kontextuelle oder semantische Variation nicht festgestellt werden können. Einzig die bulle scheint eine deutliche Nähe zu päpstlichen Dokumenten zu besitzen, auch wenn dies aufgrund der geringen Zahl der Belege nur eine Tendenz sein kann. Nach dieser knappen Übersicht soll im Folgenden ein genauerer Blick auf drei mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Werke – ‚Lohengrin‘, ‚Reinfried von Braunschweig‘ und ‚Thedel von Wallmoden‘ – geworfen werden, in denen derartige Beglaubigungsstrategien und auch die in Frage stehenden Objekte mehrfach eine Rolle spielen. Zu fragen ist dabei nach der jeweiligen Darstellung (wobei diese erwartungsgemäß eher dürftig ausfallen wird), nach den Kontexten – wer bezeugt was vor wem – und nach der Funktion der urkundlichen Gegenstände. Der anonym überlieferte Roman ‚Lohengrin‘ entstand im ausgehenden 13. Jahrhundert66 und verbindet die Sage um Lohengrin mit der Reichsgeschichte: Nach einem einleitenden Part mit Bezügen zum ‚Wartburgkrieg‘ (L, V. 1–300) wird erzählt, dass der inzwischen verstorbene Herzog von Brabant sein Land und seine Tochter Elsa seinem Fürsten Friedrich Telramunt anvertraut hat, wobei er ausdrücklich formulierte, dass Elsa Telramunts Herrin bleibe: und hab die tohter mîn vür dîne vrouwen (L, V. 340). Telramunt jedoch möchte durch eine Ehe mit Elsa die Macht ergreifen und behauptet, Elsa habe ihm ein Eheversprechen gegeben. Um dies durchzusetzen, geht er bis zum Kaiser: mit klage erz an des rîches keiser brâhte (L, V. 346). Elsa kann für den nun anberaumten Gerichtskampf zunächst keinen Kämpfer finden, doch schließlich bestimmt der Gral per Inschrift Lohengrin, den Sohn Parzivals, der mit Schwan nach Brabant gelangt. Er besiegt in Mainz Telramunt vor den Augen Kaiser Heinrichs (= König Heinrich I.)67, || 66 Zur Problematik der Datierung vgl. Thomas CRAMER, Lohengrin, in: Verfasserlexikon, Bd. 5 (21985), Sp. 899–904, hier Sp. 901, sowie ausführlicher CRAMER (Anm. 52), S. 156–163; Christa BERTELSMEIER-KIERST u. Joachim HEINZLE, Paläographische Tücken! Noch einmal zur Datierung des ‚Lohengrin‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), S. 42–54; Heinz THOMAS, Paläographische Tücken: Zur Datierung des ‚Lohengrin‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995), S. 110–116; DERS., Brabant-Hennegau und Thüringen. Zur Entschlüsselung und zur Datierung des ‚Lohengrin‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 108 (1986), S. 40–64. 67 König Heinrich I. wird von Beginn an als keiser tituliert und erst spät mit Namen genannt (vgl. L, V. 2598); in Str. 316 (L, V. 3151–3159) wird ausdrücklich „eine Kaiserwürde durch Verdienst postuliert [...], die gleichberechtigt oder ersatzweise neben das Kaisertum durch Weihe tritt“, CRAMER (Anm. 66), Sp. 902; daneben wird ihm und allen Amtsnachfolgern der Titel des pater patriae verliehen: Sie iâhen mit gelîcher kür, / man solt in niwan keiser nennen hinnen vür, / swie er doch waer ze Rôme niht gewîhet. / Man gab im dannoch einen namen, / des er und sîn afterkünde sich niht dorfte schamen. / swelher nâch im ze solcher wirde gedîhet, / Daz er vater hiez des landes. Alsus wart er beschrîet / und beruoft mit gemeiner wal / von den vürsten und den landen über al. (Sie sagten mit gemeinsamem Beschluss, man sollte ihn zukünftig ausschließlich Kaiser nennen, obwohl er nicht in Rom geweiht worden wäre. Man gab ihm dennoch einen Namen, dessen er und seine Nachkommen sich nicht zu schämen brauchten: dass jeder, der nach ihm zu solchen Würden gelangte, 'Vater des Landes' hieße. So wurde er ausgerufen und proklamiert in gemeinsamer Wahl von den Fürsten und allen Landen.); vgl. zum

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heiratet Elsa und wird Landesherr – mit dem berühmten Versprechen Elsas, das hier allerdings nicht näher spezifiziert wird.68 Danach folgt ein recht umfangreicher Teil mit an die Reichsgeschichte (mehr oder weniger lose) angelehnten Episoden – Alastair MATTHEWS spricht von jeweils identifizierbaren „real-world antecedents“69: der Kampf Lohengrins für Kaiser Heinrich gegen die ungarischen Heiden; ein Fürstentag in Bonn; der Zug Kaiser Heinrichs mit seinen Fürsten auf Bitten des Papstes über die Alpen gegen die Sarazenen – wobei sich Lohengrin erwartbarerweise jeweils auszeichnet – sowie der Zug nach Rom mit der Kaiserkrönung Heinrichs. Dann wendet sich das Geschehen wieder Brabant zu: Die Gräfin von Kleve bringt Elsa dazu, Lohengrins Gebot zu brechen: Sie fragt ihn nach geslehte und namen (L, V. 6989). Nach der Enthüllung kehrt Lohengrin (mit Schwan) zum Gral zurück. Das Ende des Werkes bildet ein recht stimmiger „chronikartige[r] Abriß der deutschen Kaisergeschichte von Heinrich I. bis zu Heinrich II.“70 Wie nicht anders zu erwarten, werden Botschaften auch im ‚Lohengrin‘ zum Teil per brief ausgetauscht, etwa die Einladung an zahlreiche Fürsten, zum Gerichtskampf (resp. zur Hochzeit) zu kommen (vgl. L, V. 1622). Des Papstes Bitte um Beistand gegen die Heiden wird zunächst dem Kaiser per Boten gesandt, wobei hier kein Schriftstück erwähnt wird; allerdings haben die Boten für den von Prâbant (L, V. 3522) sunderlîch guot botschaft (L, V. 3527) dabei: Die bulle sie brâhten dem Prâbant, brieve vil, die man von manigem lande im sant, dâ bî wart rîcher kleinôt niht vergezzen. (L, V. 3571–3573) Die Bulle brachten sie dem Brabanter, viele Briefe, die man ihm aus vielen Ländern schickte, dabei wurde auch an prächtige Kleinodien gedacht.

Der syntaktische Zusammenhang von bulle und brieven ist nicht eindeutig: Die brieve können als Apposition zum Akkusativ-Objekt bulle verstanden werden, sodass die bulle – wie oben der rodel – ein Behältnis o. ä. für die Schriftstücke wäre. Wahrscheinlicher ist bei einem Blick auf den weiteren Text allerdings die Nebenordnung,

|| Konnex von Heidenkampf und Kaiserkrönung im ‚Lohengrin‘ Manuela SCHOTTE, Christen, Heiden und der Gral. Die Heidendarstellung als Instrument der Rezeptionslenkung in den mittelhochdeutschen Gralromanen des 13. Jahrhunderts (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 49), Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 175–194. 68 Bei Richard Wagner heißt es konkret: „Nie sollst du mich befragen, / noch Wissens Sorge tragen, / woher ich kam der Fahrt, / noch wie mein Nam’ und Art!“ Richard Wagner, Lohengrin. Romantische Oper in drei Aufzügen, Vollständiges Buch hrsg. und eingeleitet v. Wilhelm ZENTNER (Reclams Universal-Bibliothek 5637), Stuttgart 1995, S. 21. 69 Alastair MATTHEWS, The Medieval German Lohengrin. Narrative Poetic in the Story of the Swan Knight (Studies in German Literature, Linguistics and Culture), Rochester, New York 2016, S. 86. 70 CRAMER (Anm. 66), Sp. 901.

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sodass die Boten Lohengrin die bulle (des Papstes) und brieve (der Fürsten von manigem lande) bringen, denn sie sageten von dem pâbest im vriuntschaft unt wâre minne / unt von den landen holden muot (L, V. 3577f.), sodass beide Instanzen – Papst und Fürsten – auch hier nebengeordnet sind. Als sich das Heer bei Meiland sammelt, wird dem Kaiser eine weitere Botschaft des Papstes an einem brief gesendet (L, V. 4067) – hier fällt der Begriff der bulle nicht – , in dem die Lage und damit die Dringlichkeit der helfe geschildert werden; in beiden Fällen wird weniger eine Beglaubigung des Inhalts (bzw. Verifizierung des Absenders) thematisiert – wobei auffällig ist, dass die Bezeichnung bulle nur bei einer Botschaft des Papstes gebraucht wird – als vielmehr die Wertschätzung der Empfänger: Das zweite Schreiben des Papstes geht ebenfalls an den Kaiser, der Bote hat allerdings (wieder) ein zweites brievelîn dabei für den von Prabant (L, V. 4092) – damit wird Lohengrin (legitimiert durch die Autorität des Papstes) zum zweiten Mann im Reich und dies wird zweimal kurz hintereinander durch schriftliche Botschaften markiert.71 So wird gleichzeitig der hohe Stellenwert der briefe hervorgehoben. Auch ein Friedensschluss wird mit brieven wol vermachet (L, V. 6037) und mit Eiden bekräftigt, so dass die Dauerhaftigkeit gewährleistet scheint: Daz wart nâch des bâbstes rât, mit brieven wol vermachet und nâch des rât von Kriechenlant. mit ir eiden man ir helfe vürbaz verbant gein in. sus wart ez vesticlîch versachet. (L, V. 6037–6040) Das wurde nach Rat des Papstes und des (Herrschers) von Griechenland mit Schriftstücken sicher festgeschrieben. Mit ihren Eiden machte man ihre Hilfsleistungen ihm gegenüber zukünftig verpflichtend. So wurde es dauerhaft ins Werk gesetzt.

Garant für den (hoffentlich) dauernden Frieden ist die Kombination von (schriftlicher) Beurkundung und (mündlichen) Eiden; ähnlich, wenn auch knapper, wird in Bezug auf den Bonner Vertrag72 formuliert: daz wart verschriben mit eiden vesticlîche (L, V. 3500). Damit stehen Urkunden und Eide – wie „Boten und Botschaften“ – „[a]uf der Schnittlinie der beiden Bereiche, im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“73 und gerade das Zusammenspiel von Schriftgedächtnis und Körpergedächtnis bietet eine vesticlîche vertragliche Regelung. versigelen wird zweimal metaphorisch gebraucht im Kontext des Sterbens (vgl. L, V. 4480, 4626), ebenso die hantveste. Dieser bereits genannte Beleg ist in Bezug auf Urkunden allerdings interessant, es heißt:

|| 71 Auch die Tatsache, dass der Kaiser Lohengrin gerne als Stellvertreter im Reich zurücklassen würde, stellt freilich dessen hohe Position heraus. 72 Vgl. Karl F. WERNER, Bonn, Vertrag v., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (2002), Sp. 428–429. 73 WENZEL (Anm. 44), S. 86.

118 | Andrea Schindler Der eilef wurden vier erslagen balde als ich die âventiure hoere sagen, doch heten sie vor lebens vil versigelet Mit des tôdes hantvesten, die nieman kan gebrechen, als man eteswâ hantveste tuot. (L, V. 4624–4628)

Des tôdes hantveste ist unumstößlich, der Tod kann nicht rückgängig gemacht oder betrogen werden; weltliche hantveste jedoch sind nicht in diesem Maß endgültig und die darin getroffenen Vereinbarungen können gebrochen werden – ebenso kann die Urkunde oder einer ihrer Bestandteile wie das Siegel selbst ganz konkret gebrochen, also zerstört werden. Die Praxis des Schriftverkehrs zwischen den Mächtigen wird im ‚Lohengrin‘ durch diese schriftlichen Botschaften gespiegelt; Papst und Kaiser tauschen Nachrichten aus, ein Friedensschluss wird schriftlich und mit Eiden besiegelt. Es scheint weder nötig, die Schriftstücke näher zu beschreiben – zudem sind jeweils auch Boten des Papstes, die „den Absender zu repräsentieren und für die Echtheit der brieflichen Botschaft einzustehen [haben]“74, als Zeugen für die Rechtmäßigkeit der Schreiben dabei – noch die unterschiedlichen Typen terminologisch auseinanderzuhalten. Einzig bei einem brief des Papstes fällt das Wort bulle, der Friedensschluss bleibt lediglich in einem brief festgehalten. sigel und hantveste bleibt der metaphorische Gebrauch. Im ‚Reinfried von Braunschweig‘, einem anonymen und fragmentarischen Minne- und Abenteuerroman vom Ende des 13. Jahrhunderts, geht es ebenfalls nicht um Urkunden im engeren Sinne, aber es wird durchaus verhandelt, wer sich auf welche Weise wem gegenüber im schriftlichen Verkehr ausweist. Nachdem Reinfried von Braunschweig, Herr über Westfalen und Sachsen, im ersten Teil des Romans durch Rittertaten und kluges Handeln Yrkane, die Tochter des dänischen Königs, erobert und geheiratet hat, bricht er schließlich zu einem Kreuzzug auf: Nach mehreren kinderlosen Jahren verheißen ihm Träume, dies sei das Mittel, um Nachwuchs zu bekommen – in der Tat wird Yrkane in der Nacht vor der Abreise schwanger. Auf etliche Ereignisse im Heiligen Land, in dem Reinfried die Heiligen Stätten schließlich durch einen Sieg im Zweikampf gegen den König von Persia erringen kann, folgen Episoden, die zum Teil etwa aus der ‚Herzog Ernst‘-Tradition und/oder der Antike bekannt sind: der Magnetberg, die Pygmäen, die Sirenen etc. Nachdem Yrkane zu Hause inzwischen einen Knaben geboren hat – Reinfried genannt –, schickt sie einen Boten aus, ihren Mann zu suchen und zur Heimkehr zu bewegen, denn Reinfried ist bereits drithalbez jâr (RvB, V. 24826) unterwegs. Dieser Bote bringt auch Nachrichten aus Reinfrieds beiden Ländern Westfalen und Sachsen sowie aus Braunschweig mit.

|| 74 MUSCHIK (Anm. 29), S. 54.

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Diese briefe lohnen einen genaueren Blick: Nach einer kurzen Ansprache an Reinfried, in der der Bote ihn der Gesundheit Yrkanes versichert und von Reinfrieds Sohn erzählt, weist er auf deren Brief hin, der das Gesagte bezeuge75: daz disiu mære sîgen wâr, daz ziuget hie des brieves schrift. den lesent, dâ stât al diu trift an, wie ez dâ heime stât. diu minnenclîch Yrkâne hât gesendet iuch in verriu lant: sî schreip in mit ir selbes hant. (RvB, V. 24434–24440) Dass diese Nachrichten wahr sind, das bezeugt die Schrift dieses Briefes. Lest ihn, darin steht alles darüber, wie es zu Hause steht. Die liebliche Yrkane hat ihn euch in ferne Länder geschickt: Sie schrieb ihn eigenhändig.

Der Bote verweist nicht auf seine Autorität als Zeuge, auch nicht auf ein Siegel oder ein anderes warzeichen (Reinfried ließ seiner Frau seinerseits eine Ringhälfte zurück), sondern auf die Handschrift seiner Herrin, die Reinfried selbstverständlich bekannt ist und die Yrkane gleichsam im Brief präsent macht. Es wird auch im Folgenden nichts Äußerliches des Briefes erwähnt, den Reinfried – nach einer Phase der Handlungsunfähigkeit aus fröuden sô unmæzic grôz (RvB, V. 24447) – liest. Durch das eigenhändige Schreiben und das persönliche Lesen des Briefes entsteht eine direkte Kommunikation zwischen den Ehepartnern im Medium des Briefes. Die „Inszenierung eines fiktiven Dialogs“ erfolgt hier nicht, wie häufig, durch „das laute Vorlesen eines empfangenen Briefes durch eine andere Person als den Empfänger“76, sondern das direkte ‚Gespräch‘ korrespondiert mit dem Inhalt, denn Yrkanes Botschaft ist eine sehr persönliche, man könnte sie einen Liebesbrief nennen. Sie verweist auf zahlreiche antike Liebespaare, erinnert Reinfried an ihrer beider Liebe und bittet ihn inständig, wieder heimzukehren. Allerdings liest Reinfried den brief offenbar laut vor, denn es heißt: Dô er den brief alsus gelas, der palast voller herren saz, als ir dâ vor hânt gehôrt. nu hôrten sî biz ûf ein ort

|| 75 In der Zählung bei WAND-WITTKOWSKI ist Yrkanes Brief Nr. 6, die der Herren aus Westfalen, Sachsen und Braunschweig Nr. 7, 8 und 9 im Roman; vgl. WAND-WITTKOWSKI (Anm. 25), S. 343; vgl. zur Funktion von Yrkanes Brief zur „Verdichtung der Erzählwelt“ Ebd., S. 42. 76 Rolf KÖHN, Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters, in: Joerg O. FICHTE, Karl Heinz GÖLLER und Bernhard SCHIMMELPFENNIG (Hgg.), Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen, 1984, Berlin, New York 1986, S. 340–356, hier S. 351.

120 | Andrea Schindler den brief lesen alle. (RvB, V. 24685–24689) Als er den Brief so las, war der Palas voller Fürsten, wie ihr zuvor gehört habt. Nun hörten sie alle die Verlesung des Briefes vollständig an.

Das dennoch öffentliche Verlesen dieses inhaltlich eher privaten Briefes wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Angelegenheiten des Fürsten – gerade etwa auch die Geburt des Erben – letztlich eben nicht privat, sondern von öffentlichem Interesse sind.77 Indem Reinfried seine visuelle Wahrnehmung des Geschriebenen durch den Akt des Vorlesens zu einer auditiven macht, schafft er im Palas einen „Raum, in dem sich die darin anwesenden Körper zu einer Hörer-Gemeinschaft zusammenschließen“78, und dies hat Auswirkungen auf Reinfrieds Ansehen. Nachdem alle Anwesenden des brieves schrift (RvB, V. 24691) und die süeze[n] wort (RvB, V. 24693) ausgiebig gelobt und nach der vrouwen, also Yrkane, gefragt haben, überreicht der Bote den zweiten brief der rîchen fürsten (RvB, V. 24722) aus Westevâl, den dritten aus Sahsen sowie den vierten aus Brunswîc, in denen Reinfried ebenfalls gebeten wird, möglichst bald in sein Reich zurückzukehren, nicht ohne ihm (im vierten Brief, der zitiert wird) vorzuhalten, dass sein Verhalten – das lange Fernbleiben von wîp kint lant [und] liute[n] (RvB, V. 24747) – nicht seiner Position entspräche. Über diese briefe heißt es: man sach der lande brieve gar keiserlîch versigelt, verslozzen und verrigelt mit ingesigeln silberîn. (RvB, V. 24812–24815) Man sah die Briefe der Länder ganz und gar herrschaftlich besiegelt, verschlossen und verriegelt mit silbernen Siegeln.

Ob dies als Erkennungszeichen oder als Legitimation fungiert, wird nicht erwähnt, auch nähere Details zu den Siegeln fehlen. Da der Bote zum einen mit den Kenntnissen über die Lage in Reinfrieds Heimat und mit der durch die persönliche Handschrift Yrkanes ausgewiesenen schriftlichen Bestätigung seines Berichts legitimiert ist79 und

|| 77 Vgl. zum Stellenwert des Privaten in Briefen Jörg MEIER, Briefwechseltypologie der Frühen Neuzeit. Die Kommunikationsform ‚Brief‘ im 16. Jahrhundert, in: Franz SIMMLER (Hg.), Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum Internationalen Kongress in Berlin 20. bis 22. September 1999 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A – Kongressberichte 67), Bern u. a. 2002, S. 369–384, hier S. 369. 78 Mireille SCHNYDER, Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten, in: STROHSCHNEIDER (Anm. 54), S. 427–452, hier S. 433. 79 Über die ausführliche Erzählung von der einjährigen intensiven Suche des Boten nach seinem Herren wird er – durch triuwe ausgezeichnet – freilich schon vor Überbringung der Botschaft vor den

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zum anderen zumindest der brief aus Brunswîc, der zitiert wird, ähnlichen Inhalts ist, scheint ein weiterer Beweis für die Echtheit der drei Briefe aus Reinfrieds landen nicht notwendig. Die Erwähnung der keiserlîchen Versiegelung zeigt vielmehr den Unterschied dieser offiziellen Botschaften aus Westfalen, Sachsen und Braunschweig gegenüber der doch sehr persönlichen Yrkanes und bestätigt den Rang der Sender wie des Empfängers; Reinfried wird zwar v. a. für den brief seiner Ehefrau von den anwesenden Fürsten große Wertschätzung entgegengebracht, doch auch diese briefe heben durch Inhalt und Äußeres seinen Status in diesem Kreis. Der Stellenwert von Schriftlichkeit auch in ihrer Funktion der Beglaubigung ist im ‚Reinfried von Braunschweig‘ generell hoch; Werner RÖCKE hat herausgearbeitet, dass gerade Reinfrieds Reise zum Magnetberg und die damit verbundene Erfahrung wunderlîcher wunder [...] in vielen Fällen nicht nur beschrieben und bestaunt, sondern in eigens eingefügten Erzählungen erläutert und begründet werden. Besonders auffällig ist nun, daß diese Erzählungen in der Erzählung in vielen Fällen schriftlich erfolgen, d. h. in Stein geritzt, auf Säulen eingegraben, in Briefen festgehalten oder in Büchern aufgeschrieben werden.80

In diesem Kontext steht auch der Beglaubigungscharakter der genannten briefe und muss nicht noch einmal betont werden. Letztlich wird so freilich auch der Text selbst – der Roman ‚Reinfried von Braunschweig‘ – legitimiert und beglaubigt, denn er selbst ist ja nichts anderes als eine (schriftlich fixierte und wahrscheinlich mündlich vorgetragene) Erzählung dieser Ereignisse. An einem weiteren Beispiel soll zum Abschluss gezeigt werden, wie Texte auch diesen Aspekt der Beglaubigung von Botschaften im Laufe der Zeit bearbeiten und damit verändern können. ‚Thedel von Wallmoden‘, ein pseudohistorisches Lehrgedicht von Georg Thym, des Hauslehrers derer von Wallmoden, lehnt sich wie ‚Reinfried von Braunschweig‘ an die Sagen um Heinrich den Löwen an, der sich in diesem Text bereits lange im Heiligen Land aufhält, ohne dass zu Hause bekannt wäre, ob er

|| Rezipienten legitimiert; dadurch erhält er die „Seriosität“, an die „die Authentizität [...] einer schriftlichen Nachricht in hohem Maße [...] geknüpft [ist]“, MUSCHIK (Anm. 29), S. 54. In Kurzfassung berichtet er auch vor den hohen Herren, bei denen er schließlich Reinfried findet, von seiner Odyssee und weist sich damit als treuer Diener Yrkanes (und damit Reinfrieds) aus, vgl. RvB, V. 23930–23964. Hier fungiert weniger die durch die Reise erworbene „Welterfahrung als Beglaubigung“, vgl. HansJoachim BEHR, Welterfahrung als Beglaubigung. Überlegungen zu einem Argumentationsmuster in der deutschen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Dietrich HUSCHENBETT u. John MARGETTS (Hgg.), Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vorträge des XI. Anglo-deutschen Colloquiums 11.–15. September 1989 Universität Liverpool (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 7), Würzburg 1991, S. 85–95, sondern vielmehr die durch die auf sich genommenen Mühen gezeigte triuwe. 80 Werner RÖCKE, Lektüren des Wunderbaren. Die Verschriftlichung fremder Welten und abenthewer im „Reinfried von Braunschweig“, in: Harald HAFERLAND u. Michael MECKLENBURG (Hgg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), München 1996, S. 285–301, hier S. 287–288.

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überhaupt noch am Leben ist; seine Ehefrau wird daher zu einer neuen Heirat gedrängt. Thedel kommt nun mit übernatürlicher Hilfe auf einer dreibeinigen Geiß reitend ins Heilige Land, trifft dort auf seinen Herrn Heinrich den Löwen und bringt von diesem eine Botschaft an dessen Ehefrau mit, die er auch sogleich überbringt. Die Herzogin glaubt Thedels (in der Tat unglaublichem) Bericht zunächst nicht und verlangt einen Beweis, den Thedel in Form des briefs Heinrichs vorweisen kann. Das überzeugt die Herzogin sofort: Die Fuͤ rstin hielt fuͤ r jhren Mund Die Brieff / vnd kuͤ st sie / das ist war / Mit seufftzen weinend sprach sie dar. Thedel nun glaub ich deiner wort / Welch zuuorn sind von dir gehort. Diese Brieff hat hieher gesandt Vber Wasser / Meer / vnd treug Landt. Mein Herr / vnd aller liebst Gemahl / Den ich (ob Gott wil) wider sol Vmb mich haben seins lebens zeit / Ob er schon ist jtzund so weit. Er ist noch im Leben gewest / Do du von jhm bist hergereist. Vnd als die Brieff zu petzschirt sind / Aus seim Schreiben ich das befind. (TvW, V. 954–968)81

Der Herzogin genügt in der Versfassung, die alle drei Drucke (Magdeburg 1558, Straßburg um 1559/1560, Wolfenbüttel 1563) in beinahe identischem Wortlaut enthalten, ein Blick auf den Brief, um die Wahrheit zu erkennen; auch das nicht näher beschriebene Siegel wird erst später erwähnt. Im Brief selbst wird für die Herzogin sofort ihr Ehemann präsent, den sie im Medium des Briefes küsst. Der Straßburger Druck jedoch enthält vor jedem Abschnitt der Verserzählung zum Teil sehr umfangreiche Prosa-Summarien; im entsprechenden Summarium heißt es: Jhr F. G. name die brieff von ihme an / sihet fürs aller erst nach dem insigel / damit sie sind verpitschiert worden / welches als ihre F. G. gewahr worden / hielte sie die brieff für den mund / küsset sie / vnd als diß geschehen / fieng ihr F. G. an vor grosser freuden / vnd frolocken zuͦ seüfftzen / vnnd sprach zuͦ m Thedel Vnuorferd. Nuͦ n gib ich deinen worten waren glauben / dann nach dem ich die brieff von aussen ansehe / befind ich / das sie mit meines gnedigen herren auffgetrucktem pitschier versiglet / Da ich weiter dieselbigen auffbrech / wird ich inwendig gewar meines gnedigen herren eigenen handtschrifft / mit welcher sein F. G. vnderschriben. Ferner so vermercke ich auch beide an dem ende der brieff / an welchem ort sie geschriben / als namlich zuͦ Hierusalem / vnnd an dem dato würt kundt gethon / auff welche zeit sie gegeben sind worden. Auff solche warhafftige

|| 81 Mit der Sigle TvW zitiert nach der Neu-Edition in meiner Habilitationsschrift Wege in die Geschichte (im Druck).

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/ grundtliche / vnnd gewisse worzeichen / vnd erweyssliche kundtschafft muͤ ste ihr F. G. des Thedels reden glaubwürdige krafft vnd macht geben. (TvW, Straßburger Druck, S. 255, Z. 14–27)

Das ‚Beweisverfahren‘ der Herzogin ist hier mehrstufig. Zunächst betrachtet sie das Siegel und erkennt es als das ihres Mannes. Dies allein ist offenbar bereits ein Wahrheitsgarant, doch die Herzogin bleibt nicht dabei stehen und betrachtet nach den äußeren Zeichen auch die inneren: die eigenhändige Unterschrift Heinrichs, Ort und Datum am Ende des briefs, die nach ihrer Funktion und als Beglaubigungselemente als „inhaltliche[ ] Siegel“82 bezeichnet werden können. Dies in Übereinstimmung mit Thedels vorherigem Bericht sind nun warhafftige / grundtliche / vnnd gewisse worzeichen für die Botschaft Heinrichs; auf dieser Basis kann die Herzogin die geplante Heirat ablehnen und auf die Rückkehr ihres Mannes warten. Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass Urkunden in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters eine geringe Rolle spielen, die Reflexe von Schriftlichkeit und den damit verbundenen Beglaubigungs- und Legitimationsfunktionen aber dennoch deutlich sind. Das schriftliche Medium des briefs und damit verbunden Siegelungen erscheinen meines Erachtens nicht zufällig häufiger in Texten mit Bezug zur Reichsgeschichte und entsprechend höchstadeligem und päpstlichem Personal: im ‚Lohengrin‘, im ‚Reinfried von Braunschweig‘, aber auch im ‚Herzog Ernst‘, dem ‚Alexanderroman‘ Rudolfs von Ems oder dem ‚Karlsroman‘ des Stricker. Dabei dienen sie intradiegetisch weniger der Beglaubigung als vielmehr der Auszeichnung und Statuserhöhung von Sender und Empfänger; andere warzeichen scheinen häufig wichtiger zu sein. Wie u. a. im ‚Reinfried von Braunschweig‘ sichtbar wird, weisen briefe nicht nur auf den „grundsätzlichen, erkenntnistheoretischen Sinn [hin], den man im Mittelalter dahingehend formulierte, daß der Buchstabe Gehörtes sichtbar macht“83, sondern umgekehrt wird auch, wie das laute Verlesen von Yrkanes Brief belegt, über den brief Schrift wieder hörbar – und das ist wiederholbar – und bringt damit ein Bild des Senders zu den Empfängern (hier von Yrkanes großer Liebe zu Reinfried). Dass neben dem Überbringer und dem Siegel (bzw. anderen warzeichen) schließlich auch die Schrift selbst Bezeugungscharakter erhält, wird durch das eigenhändige Schreiben des briefs durch Yrkane und im Straßburger Druck des ‚Thedel von Wallmoden‘ explizit gemacht. Die Kommunikation wird auf diese Weise ‚direkter‘, vom Schreiber über das Medium Brief an den Empfänger. Die Unverrück- und Unumkehrbarkeit, die Urkunden innewohnt (innewohnen soll), hat sich in

|| 82 MUSCHIK (Anm. 29), S. 54. 83 Michael CURSCHMANN, HÖREN – LESEN – SEHEN. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 106 (1984), S. 218–257, hier S. 219.

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der Sprache durch ein „kommunikative[s] Verfahren wie de[n] metaphorischen Gebrauch“84 manifestiert, ja, sie wird dort in der bekannten Hyperbolik gegenüber konkreten Urkunden sogar noch gesteigert, um nicht fassbare Phänomene zumindest sprachlich greifbar zu machen. Die Beziehung zwischen ‚Realität‘ und Sprache und Literatur ist damit auch hier wieder eine des wechselseitigen Einflusses; über die Sprache gelangt der Legitimationscharakter etwa eines Handschlags, der sich semantisch in dem Begriff der hantveste niederschlägt, in die Schriftlichkeit, die damit die Bezeugungsfunktion übernimmt und sprachlich auf andere, v. a. nicht konkrete Bereiche wie Liebe oder Tod ausweitet.

|| 84 Manuel BRAUN, Historische Semantik als textanalytisches Mehrebenenmodell. Ein Konzept und seine Erprobung an der mittelalterlichen Erzählung Frauentreue, in: Scientia poetica 10 (2006), S. 47– 65, hier S. 49.

Klaus Herbers

Papstbriefe und Papsturkunden. Abgrenzungen und Überschneidungen im früheren Mittelalter Zusammenfassung: Der Beitrag arbeitet Unterschiede zwischen den entsprechenden Schreiben heraus, die in der Forschung bisher eher nivelliert werden. So ist auf den im Vergleich zu Urkunden geringeren Formalisierungsgrad und das breitere Variantenspektrum von Papstbriefen hinzuweisen. Vor allem aber zeigen sich Unterschiede sowohl in der konkreten Funktion als auch in der Rezeption: Bei Briefen spielt die Kommunikation über Boten eine gewichtige Rolle. Grundlegende Unterschiede lassen sich zudem in der Überlieferung konstatieren, die letztlich auch unser Bild des Genres ‚Papstbriefe‘ bestimmt. Deren Kenntnis beruht zumeist auf Briefsammlungen unterschiedlicher Konzeption und Zielrichtung oder auf ihrer Rezeption in Kanonessammlungen. Schlagwörter: Papsturkunden, Papstbriefe, Briefsammlungen, Responsa, Boten

1 Einführung Als Papst Johannes VIII. im Juli 879 an Bischof Wibod von Parma schrieb, lauteten die letzten Worte des Schreibens: Huius quoque textum epistolę, ut nullus agnoscat, cum legeritis, statim igne comburite – „Verbrennt die Ausfertigung dieses Briefes sofort im Feuer, nachdem Ihr ihn gelesen habt, damit ihn niemand zur Kenntnis nehmen kann.“1 Kaum vorstellbar, dass ein solcher Satz am Ende einer Urkunde gestanden hätte. Urkunden und Feuer verbindet man mit Unglücken und Katastrophen in den Archi-

|| 1 Iohannis VIII. papae, Registrum Epistularum, hrsg. v. Erich CASPAR (MGH Epistolae in Quart 7, Epistolae Karolini aevi V), Berlin 1928, ND Berlin 1993, Nr. 186, S. 149; die deutsche Übertragung folgt der Übersetzung ausgewählter Papstbriefe des 9. Jahrhunderts, hrsg. v. Klaus HERBERS und Veronika UNGER (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 51), Darmstadt 2019. – Herzlich danke ich Frau Unger für kritische Lektüre und Frau Sylle (beide Erlangen) für die Hilfe bei der Einrichtung zum Druck. || Klaus Herbers, Department Geschichte, Abteilung: Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstr. 4 BK 9, 91054 Erlangen, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-005

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ven. Urkunden wurden gezeigt, wieder vorgelegt und auch nach der Lektüre weiterhin genutzt, wie die Beiträge dieses Bandes in vielfältiger Weise unterstreichen. Den zitierten Brief kennen wir, obwohl die Ausfertigung wohl verbrannt wurde. Es ging um eine brisante Angelegenheit: Karlmann, der älteste Sohn Ludwigs des Deutschen und König von Italien († 880), oder dessen jüngerer Bruder Karl III. der Dicke († 887) sollten 879 helfen, gegen die Sarazenen vorzugehen, nachdem seit 877 kein Kaiser hierfür zur Verfügung stand. Die Worte, die ich zitiert habe, sind in der Abschrift des Registers Johannes‘ VIII. überliefert. Ediert ist diese Registerabschrift in der Epistolae-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica, nicht bei den Diplomata. Die Monumenta wollten zwischen Briefen und Urkunden klar trennen, obwohl dies nur bedingt gelungen ist und gelingen kann. Inwiefern unterscheiden sich aber Papstbriefe durch Aufbau, Formeln, aber auch durch Überlieferung und durch weitere Aspekte von Papsturkunden besonders im früheren Mittelalter? Zunächst seien einige bisherige Ansätze der Historischen Hilfswissenschaften sowie die neueren Studien zu den Briefen kurz berücksichtigt, denn päpstliches Schriftgut ist vielfältig, wie die Handbücher belegen: Urkunden, Briefe, litterae, Breve, motu proprio, Feierliches Privileg usw. (1). Nach einigen kurzen Hinweisen auf die inneren Merkmale und die Formalia (2) seien dann aber – exemplarisch – zunächst Schreibanlass, Produktion und Ausfertigung (3) sowie Aufbewahrung und Überlieferung (4) ins Blickfeld gerückt. Dies führt zu einer kurzen thesenhaften Bilanz (5).

2 Papstbriefe und Papsturkunden in der Forschung „Die Urkunden setzen die Form des antiken römischen Briefes fort“, so heißt es einleitend in der Papstdiplomatik bei Thomas FRENZ.2 Trotzdem hält er die Unterscheidung zwischen Brief und Urkunde nicht für relevant, weil sie in der Praxis keine größere Rolle spiele: „[…] in dieser ersten Periode wie auch später bei den Breven führt die Briefform zur Urkundenform wie umgekehrt Briefe des Papstes in der Urkundenform der litterae (clausae) ausgestellt werden“.3 Der Blick in weitere Einführungen und Handbücher macht die Befunde nicht einfacher, sondern lässt eher Ratlosigkeit zurück. Das gilt für die Lehrbücher4, aber auch für die neueren Untersuchungen im

|| 2 Thomas FRENZ, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit (Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen 2), Stuttgart 1986, 2. Aufl. Stuttgart 2000, S. 13. 3 Ebd. 4 Ludwig SCHMITZ-KALLENBERG, Die Lehre von den Papsturkunden (Diplomatik B; Grundriss der Geschichtswissenschaft 1 2, B), Leipzig 1906, S. 63–64; Harry BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien Bd. 1, 3. Aufl. Berlin 1958, S. 72–85; Paul RABIKAUSKAS, Diplomatica generalis, 5. Aufl. Rom 1998.

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Zusammenhang mit der Papstdiplomatik5; hier wird der mögliche Unterschied oft gar nicht thematisiert oder spielt eine untergeordnete Rolle.6 Streitfragen wie die um ein Brief- und/oder Privilegienregister gehören ohnehin längst der Vergangenheit an.7 Während aber die Monumenta Germaniae Historica offensichtlich gut mit der Trennung in Briefe und Urkunden und den entsprechenden Abteilungen leben können, merken die Bearbeiter und Bearbeiterinnen von Papstregesten in der täglichen Arbeit doch die Unterschiede, die Länge, aber auch Form und Überlieferung betreffen. Die inzwischen erschienenen Bände der Papstregesten zum 9. Jahrhundert mit zahlreichen Briefregesten8 unterscheiden sich eben doch stark von BÖHMER-ZIMMERMANNS Papstregesten zum 10./11. Jahrhundert, der in großem Maße Privilegien in Regestenform bietet.9 In geringerem Maße erfahren dies auch die Bearbeiter Marcus SCHÜTZ, Waldemar KÖNIGHAUS, Viktoria TRENKLE und Judith WERNER der dritten Auflage der ‚Regesta pontificum Romanorum‘ von Philipp JAFFÉ.10

|| 5 Liber Diurnus Romanorum Pontificum, hrsg. v. Hans FÖRSTER, Bern 1958; Liber Diurnus Romanorum pontificum. Ex unico codice Vaticano, hrsg. v. Theodor VON SICKEL, Wien 1889, ND Aachen 1966. Vgl. einführend: Hans-Henning KORTÜM, Liber Diurnus, in: Lexikon des Mittelalters, Band 5 (1991), Sp. 1942–1943; vgl. auch die Zusammenstellung der Studien von Leo SANTIFALLER: Harald ZIMMERMANN (Hg.), Liber Diurnus. Studien und Forschungen (Päpste und Papsttum 10), Stuttgart 1976; Veronika UNGER unterscheidet zwischen Brief und Privileg: DIES., Päpstliche Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert. Archiv, Register, Kanzlei (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 45) Wien, Köln, Weimar 2018, S. 7–27. 6 Hans-Henning KORTÜM, Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896–1046 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 17), Sigmaringen 1995; Jochen JOHRENDT, Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden (896– 1046) (MGH Studien und Texte 33), Hannover 2004. 7 Vgl. zusammenfassend zur älteren Forschung Klaus HERBERS, Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27), Stuttgart 1996, 2. Aufl. Stuttgart 2017, S. 59–60; Rudolf SCHIEFFER, Päpstliche Register vor 1198, in: Klaus HERBERS u. Jochen JOHRENDT (Hgg.), Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. NF 5), Berlin, New York 2009, S. 266 sowie UNGER ( Anm. 5). 8 Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751–918 (926/962), Bd. 4: Papstregesten 800–911, Teil 2: 844–872, Lieferung 1: 844–858, bearb. v. Klaus HERBERS (Johann F. BÖHMER Regesta Imperii I, 4, 2, 1), Köln, Weimar, Wien 1999; Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751– 918 (926/962), Bd. 4: Papstregesten, 800–911, Teil 2: 844–872, Lieferung 2, 858–867 (Nikolaus I.), bearb. v. Klaus HERBERS (Johann F. BÖHMER Regesta Imperii I), Köln u. a. 2012; Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918 (926/962), Bd. 4: Papstregesten 800–911, Teil 3: 872–882, bearb. v. Veronika UNGER (Johann F. BÖHMER Regesta Imperii I, 4, 3), Köln, Weimar, Wien 2013. 9 Sächsisches Haus 919–1024, Bd. 5: Papstregesten 911–1024, bearb. v. Harald ZIMMERMANN (Johann F. BÖHMER Regesta Imperii II, 5), Wien, Köln, Weimar 1969, 2. Aufl. Wien, Köln, Weimar 1998. 10 Regesta pontificum Romanorum ab condita ecclesia ad annum post Christum natum MCXCVIII. Edidit Philippus JAFFÉ. Editionem tertiam emendatam et auctam iubente Academia Gottingensi, sub auspiciis Nicolai HERBERS, Bd. 1–3, Göttingen 2016, 2017.

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Überlegungen zu Differenzierungen bieten aber, eher als die Diplomatik, die, nach der Einführung von Giles CONSTABLE11, in jüngerer Zeit intensivierten Forschungen zur Epistolographie12; nicht zuletzt auch zu den Artes dictaminis des hohen Mittelalters.13 Während nämlich die Urkundenlehre ihren festen Platz unter den Historischen Hilfswissenschaften besitzt, gilt dies nicht in gleichem Maße für die Lehre von den Briefen. Dies liegt auch daran, dass die zahlreichen Erscheinungsformen der Briefe eine Art kanonisierte Lehre zu dieser Quellengattung kaum möglich machen. Die jüngsten Überlegungen zu den Briefen schaffen hier zwar Abhilfe, machen aber zugleich die Vielfalt seit der Spätantike deutlich. Die epistola erfuhr als literarische Form seit dem 4. Jahrhundert einen neuen Aufschwung. Nach einer längeren Stagnationsphase sowohl im paganen (im Anschluss an Cicero, Plinius den Jüngeren und Seneca) als auch im christlichen Bereich, wo nach den Episteln des Neuen Testaments und den Schriften der Apostel die Briefform zunächst an Bedeutung verlor (z. B. bei Irenäus oder Justin), wurde die Spätantike zu einer Hochphase der Briefliteratur14, die einige ganz besonders signifikante Corpora vor allem der Kirchenväter

|| 11 Giles CONSTABLE, Letters and Letter-Collections (Typologie des sources du moyen âge occidental 17 = A–II), Turnhout 1976. 12 Detlev JASPER u. Horst FUHRMANN, Papal Letters in the Early Middle Ages (History of Medieval Canon Law 2), Washington D. C. 2001; Achim T. HACK, Codex Carolinus. Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert (Päpste und Papsttum 35), 2 Bde., Stuttgart 2006–2007; Christian HORNUNG, Die Sprache des Römischen Rechts in Schreiben römischer Bischöfe des 4. und 5. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 53 (2010), S. 20–80; und zur frühen Zeit: Christian HORNUNG, Directa ad decessorem. Ein kirchenhistorisch-philologischer Kommentar zur ersten Dekretale des Siricius von Rom (Jahrbuch für Antike und Christentum Erg.-Bd. Kleine Reihe 8), Münster 2011. 13 Benoît GRÉVIN, Le „Dictamen“ dans tous ses états. Perspectives de recherche sur la théorie et la pratique de l’ars dictaminis (XIe–XVe siècles) (Bibliothèque d’histoire culturelle du Moyen Âge 16), Turnhout 2015; Florian HARTMANN, Ars dictaminis. Briefsteller und verbale Kommunikation in den italienischen Stadtkommunen des 11. bis 13. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 44), Ostfildern 2013. 14 Vgl. hierzu: Roland DELMAIRE, Janine DESMULLIEZ u. Pierre-Louis GATIER (Hgg.), Correspondances. Documents pour l'histoire de l'Antiquité tardive. Actes du Colloque international de Lille, Université Charles-de-Gaulle-Lille 3, 20–22 novembre 2003 (Collection de la Maison de l’Orient et de la Méditerranée 40; Collection de la Maison de l’Orient Méditerranée/ Série littéraire et philosophique 13), Lyon 2009; Janine DESMULLIEZ, Christine HOËT-VAN CAUWENBERGHE u. Jean-Christophe JOLIVET (Hgg.), L’étude des correspondances dans le monde romain de l’Antiquité classique à l’Antiquité tardive: permanences et mutations. Actes du XXXe Colloque international de Lille, Université Charles-deGaulle-Lille 3, 20 – 21 – 22 novembre 2008, Villeneuve-d’Ascq 2010 ; sowie den jüngst erschienenen Sammelband von Thomas DESWARTE, Klaus HERBERS u. Cornelia SCHERER (Hgg.), Frühmittelalterliche Briefe. Übermittlung und Überlieferung (4.–11. Jahrhundert). La lettre au haut Moyen Âge: transmission et tradition épistolaires (IVe–XIe siècles) (Archiv für Kulturgeschichte. Beihefte 84), Köln, Weimar, Wien 2018; hier besonders Roland ZINGG, Grundsätzliche Überlegungen zu Briefen und Briefsammlungen des früheren Mittelalters bezüglich Quellengattung und Überlieferung, in: ebd., S. 141– 154.

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hervorbrachte.15 Gleichzeitig veränderte sich das Genre: Auf den theologischen Lehrbrief der Apostelzeit folgte eine breit gefächerte bischöfliche Korrespondenz aus persönlichen Briefen, Lehrschreiben, Synodalbriefen (die die Entscheidungen an Abwesende übermittelten) und Papstbriefen, die später teilweise als Dekretalen in die Überlieferung eingingen. Einige dieser Briefe sind schwer einzuordnen, wie zum Beispiel die Schreiben Gregors des Großen an den Westgoten-König Rekkared, in denen der Papst seine Botschaft in eine gefühlsbetonte Rhetorik kleidet. Solche Briefe sind auch von Mönchen und weltlichen Personen überliefert.16 Aus dem fränkischen Bereich sind Frothar von Toul17 zu nennen und vor allem der ‚Codex Carolinus‘18,der Papstbriefe enthält, aber im Frankenreich zusammengestellt wurde. Zu frühmittelalterlichen Papstbriefen kann über Einzelforschungen hinaus auf die schon genannten ersten drei Bände der Neuauflage JAFFÉS19, die BÖHMERschen Papstregesten des 9. Jahrhunderts20, aber auch auf weitere Hilfsmittel wie die Handbücher zu frühmittelalterlicher Briefüberlieferung und vorgratianischer Kanonistik von Detlev JASPER21, Lotte KÉRY22 und Linda FOWLER-MAGERL23 verwiesen werden.

|| 15 Vgl. etwa die internationale Tagung über „La correspondance d’Ambroise de Milan“ (26.–27. November 2009), Saint-Etienne-Lyon II, koordiniert von Aline CANELLIS und Paul MATTEI; vgl. den Sammelband Aline CANELLIS (Hg.), La correspondance d’Ambroise de Milan (Mémoires. Centre Jean Palern. UER de Lettres et de Sciences Humaines 35), Saint-Etiénne 2012. 16 Lettere originali del Medioevo latino (VII–XI sec.), Bd. 1: Italia, hrsg. v. Armando PETRUCCI, Pisa 2004; Lettere originali del Medioevo latino (VII–XI sec.), Bd. 2, 1: Francia (Arles, Blois, Marseille, Montauban, Tours), hrsg. v. Armando PETRUCCI, Pisa 2007. 17 Frotharius Tullensis, Theuthildis de Remiremont, La correspondance d’un évêque carolingien, Frothaire de Toul (ca. 813–847) avec les lettres de Theuthilde, abbesse de Remiremont, hrsg. v. Michel PARISSE (Textes et documents d’histoire médiévale 2; Collection des séminaires de Paris 1), Paris 1998. 18 HACK (Anm. 12); vgl. weiterhin: Florian HARTMANN, Hadrian I. (772–795). Frühmittelalterliches Adelspapsttum und die Lösung Roms vom byzantinischen Kaiser (Päpste und Papsttum 34), Stuttgart 2006, bes. S. 29–37 sowie Tina B. ORTH-MÜLLER, Philologische Studien zu den Papstbriefen des Codex epistolaris Karolinus (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 47), Bern u. a. 2013; vgl. jüngst auch die zweisprachige Ausgabe, Codex epistolaris Carolinus. Frühmittelalterliche Papstbriefe an die Karolingerherrscher, hrsg. v. Florian HARTMANN u. Tina B. ORTH-MÜLLER (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 49), Darmstadt 2017. 19 Vgl. Anm. 10. 20 Vgl. die bereits erschienenen Bände Anm. 8. In Druckvorbereitung sind die von Klaus HERBERS bearbeiteten Regesten zu Papst Hadrian II. (867–872). 21 JASPER u. FUHRMANN (Anm. 12). 22 Lotte KÉRY, Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400–1140). A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature (History of Medieval Canon Law 1), Washington D. C. 1999. 23 Linda FOWLER-MAGERL, Clavis Canonum. Selected Canon Law Collections Before 1140. Access with Data Processing (MGH Hilfsmittel 21), Hannover 2005.

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Die literaturwissenschaftliche Forschung24 hat eine qualitative Neubewertung der Briefgattung eingeleitet. Diese führte zur Betrachtung der stilistischen Charakteristika des Briefs, mit Blick etwa auf die Frage, warum die frühchristlichen Autoren diese Form zur Verbreitung ihrer theologischen Überlegungen25 wählten, wo doch in der paganen Tradition der Brief, in kurzer und stilistisch einfacher Form, vor allem der Kommunikation von Gefühlsäußerungen diente. Auf sprachlich-stilistischer Ebene folgt das Briefgenre klar definierten Regeln – in erster Linie der Wahrung eines Formulars. Briefe bedienen sich mitunter sehr unterschiedlicher Sprachniveaus, manchmal sogar in ein und demselben Schriftstück. Die Inhalte werden durch den Sprachstil unterstrichen und mitgetragen, z. B. wenn Gregor der Große in seinen Briefen an den Westgoten-König Rekkared26 sowohl die Du- als auch die Ihr-Form als Anrede benutzt. Der Erfolg des Genres führte zu einer Beeinflussung anderer Gattungen, insbesondere des Lehrtraktats und des „diplomatischen“ Briefs (Urkunden in Briefform)27, zu dem kaiserliche Reskripte, einige Typen des Papstbriefs und zahlreiche Urkunden des Frühmittelalters zu zählen sind. Papstbriefe hat es nicht nur in der Spätantike oder im 8. und 9. Jahrhundert gegeben, sondern auch in den folgenden Jahrhunderten. Ein ganz eigenes, hier nur kurz erwähntes Gebiet sind die Untersuchungen zu Briefen und Briefsammlungen der Päpste des späteren Mittelalters.28 Die Schwierigkeiten der Abgrenzung von Briefen und Urkunden rühren auch daher, dass Briefe insgesamt mehr Funktionen erfüllten. Der Brief ist ein Machtinstrument29: Man spricht dann auch vom ‚politischen‘ Brief. Der ‚Papstbrief‘ im Besonderen, gewann mit dem Moment seiner Absendung oft normativen Wert, der sich im

|| 24 Vgl. die an der Universität Tours veranstaltete Reihe von Tagungen zu „Epistulae antiquae“, deren Beiträge seit 2000 in fünf Bänden veröffentlicht wurden; sowie DESWARTE, HERBERS, SCHERER (Anm. 14). 25 Régis BURNET, Epîtres et lettres (Ier–IIe siècle). De Paul de Tarse à Polycarpe de Smyrne, Paris 2003, S. 11. 26 Thomas DESWARTE, Une Chrétienté romaine sans pape. L’Espagne et Rome (586–1085) (Bibliothèque d’histoire médiévale 1), Paris 2010, S. 207. 27 Olivier GUYOTJEANNIN, Lettre ou titre? Le modèle épistolaire dans les chancelleries médiévales, in: Sylvie LEFÈVRE (Hg.), La lettre dans la littérature romane du Moyen Âge, Orléans 2008, S. 19–36. 28 Vgl. zu Briefen und Briefsammlungen Elmar FLEUCHAUS, Die Briefsammlung des Berard von Neapel. Überlieferung – Regesten (MGH Hilfsmittel 17), München 1998; Hans Martin SCHALLER, Handschriftenverzeichnis zur Briefsammlung des Petrus de Vinea (MGH Hilfsmittel 18), Hannover 2002; zusammenfassend mit verschiedenen Beiträgen: Tanja BROSER, Andreas FISCHER u. Matthias THUMSER (Hgg.), Kuriale Briefkultur im späteren Mittelalter. Gestaltung – Überlieferung – Rezeption (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 37), Köln u. a. 2015. 29 Vgl. Bruno DUMÉZIL u. Laurent VISSIÈRE (Hgg.), Épistolaire politique. Bd. 1: Gouverner par les lettres (Cultures et civilisations médiévales 62), Paris 2014; Bruno DUMÉZIL (Hg.), Épistolaire politique.

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Zuge seiner Überlieferung intensivieren konnte. Dieser normative Wert ist eng gebunden an die Zusammenstellung von Brief- und Kanonessammlungen. Daher stellt die Aufbewahrung und Tradierung von Briefen einen nicht zu vernachlässigenden Untersuchungsgegenstand dar30; für die Papstbriefe des 9. Jahrhunderts ist neben diversen Einzelstudien31 2017 in Erlangen eine Dissertation von Veronika UNGER eingereicht worden.32

3 Päpstliches Schriftgut: Formalia, Ausstellung und Kontexte In einem durch Themen der Diplomatik bestimmten Sammelband erscheint zunächst der Blick in die Formulare des sogenannten ‚Liber Diurnus‘ einschlägig, um die Form und die Elemente eines Papstbriefes näher zu bestimmen. Den Indiculus epistolae faciendae, die erste Formel des ‚Liber Diurnus‘, hat Achim T. HACK gründlich untersucht.33 Es ist eine Anleitung zur Abfassung von Papstbriefen, die in den Artes dictaminis im 12. Jahrhundert weiterentwickelt wurde.34 Im Wesentlichen wird der Brief hier wie auch sonst in zwei bzw. drei Hauptteile eingeteilt: das Protokoll bzw. die Intitulatio, die eigentliche Epistola und das Eschatokoll. Dieses enthält in der Regel den Schlusswunsch sowie eine meist sehr verkürzte Datierung. Da die formalen Fragen bei HACK für die Papstbriefe des ‚Codex Carolinus‘ ausführlich und materialgesättigt behandelt wurden, gehe ich hier nicht weiter darauf ein, denn das Fazit ist bekannt: Innerhalb eines gegenüber den Urkunden reduzierten formalen Schemas bleibt ein

|| Bd. 2: Authentiques et autographes (Cultures et civilisations médiévales 66), Paris 2016; Paolo CAMMAROSANO u. a. (Hgg.), Art de la lettre et lettre d’art. Épistolaire politique III (Collection de l’École Française de Rome 517), Triest 2016. 30 Man denke etwa an die Sammlung von Briefen und Gedichten Fulberts von Chartres, die von ihm selbst und seinen Schülern als politisches Traktat zusammengestellt wurden: Mike BROWN, Chartres comme l’exemplaire féodal. Une interprétation de la collection des épîtres et des poèmes de Fulbert de Chartres comme traité sur la fidélité, la loi et la gouvernance, in: Micharl ROUCHE (Hg.), Fulbert de Chartres. Précurseur de l’Europe médiévale?, Paris 2008, S. 231–242. 31 Vgl. z. B. HERBERS (Anm. 7), bes. S. 49–94; DERS., Päpstliche Autorität und päpstliche Entscheidungen an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert, in: Wilfried HARTMANN (Hg.), Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquium 69), München 2007, S. 7– 30. Nachdruck in: Gordon BLENNEMANN u. a. (Hgg.), Pilger, Päpste, Heilige. Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Geschichte des Mittelalters, Tübingen 2011, S. 313–337 und zu den Handschriften die Vorworte zu den Bänden der Regesta Imperii (Anm. 8) sowie die Bemerkungen von HACK (Anm. 12), S. 83–90; HARTMANN (Anm. 18), S. 29–35. 32 UNGER (Anm. 5). 33 HACK (Anm. 12), S. 143–154. 34 HACK (Anm. 12), S. 155.

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hohes Maß an Varianz bestehen. Jedoch besteht weiterhin Forschungsbedarf, insbesondere was das Verhältnis von Briefen und ‚Liber Diurnus‘ betrifft. Wie kam es aber zur Ausstellung von Urkunden und Briefen? Der mühsame Weg zum Papstprivileg ist mehrfach dargestellt worden, z. B. aufgrund des bekannten Berichtes des Abtes von St. Peter in Oudenburg aus dem 12. Jahrhundert.35 Für die frühere Zeit sind vorsichtige Analogieschlüsse möglich bzw. Hinweise aus den petitiones oder narrationes abzuleiten. Es ging hier um Empfehlungen, Bitten, Interventionen, um Zugang zum Papst zu erhalten, was dann später zum erbetenen Schriftstück führte. Der Weg scheint mühsam und teuer gewesen zu sein. Privilegien wurden erbeten, aber Briefe nicht unbedingt. Die überwiegende Zahl der Papstbriefe des 9. Jahrhunderts sind Antworten. Damit erscheint aber unter den Briefen die Form des Responsum besonders wichtig.36 Schon Papst Zacharias soll beim Thronwechsel 751 auf eine Anfrage geantwortet haben37, insbesondere bei Missionierungsfragen erschien das Responsum häufig besonders angemessen.38 Das Register Gregors I. lässt dies gut erkennen,39 sein aus Antworten bestehender Libellus an Augustinus von Canterbury spricht eine deutliche Sprache.40 Gerade aus den Peripherien – aber nicht nur von dort – erreichten den Papst Anfragen: Bischof Salomon

|| 35 Vgl. z. B. Dietrich LOHRMANN, Berichte von der Kurie über den Erwerb umstrittener Prozeßmandate und Privilegien (12.–13. Jahrhundert), in: Klaus HERBERS u. Jochen JOHRENDT (Anm. 7), S. 311–330, dort auch weitere Belege zum Urkundenerwerb; Klaus HERBERS, Geschichte des Papsttums im Mittelalter, Darmstadt 2012, S. 158. 36 Zur Bedeutung der Anfragen vgl. zahlreiche Beispiele bei BÖHMER–HERBERS, Papstregesten (Anm. 8), S. VIII–X; vgl. ebenso Wilfried HARTMANN, Papsttum und Kirchenrecht um 900, in: Chiese locali e chiese regionali nell’Alto Medioevo. Spoleto, 4–9 aprile 2013, Bd. 1 (Settimane di studio della fondazione centro italiano di studi sull’alto medioevo 61, Spoleto: Fondazione Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo), Spoleto 2014, S. 233–258. 37 Annales regni Francorum. Inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, hrsg. v. Friedrich KURZE (MGH Scriptores rerum Germanicarum [6]), Hannover 1895, S. 9. 38 Vgl. mit Beispielen: Klaus HERBERS, Die Päpste und die Missionierung. Strukturen und Dokumentationsformen, in: Chiese locali e chiese regionali nell’Alto Medioevo (Anm. 36), S. 163–188, hier S. 183–184. 39 Gregorii I papae Registrum epistolarum, 2 Bände, hrsg. v. Paul EWALD u. Ludwig M. HARTMANN (MGH Epistolae in Quart 1–2), Berlin u. a. 1887–1899; S. Gregorii magni Registrum epistolarum, 2 Bände, hrsg. v. Dag L. NORBERG (C. C. Series Latina 140–140A), Turnhout 1982; zum Register und zur Korrespondenz Gregors I. vgl. Ernst PITZ, Papstreskripte im frühen Mittelalter. Diplomatische und rechtsgeschichtliche Studien zum Brief-Corpus Gregors des Großen (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 14), Sigmaringen 1990; Bruno JUDIC, La production et la diffusion du registre des lettres de Grégoire le Grand, in: Les échanges culturels au Moyen Âge: XXXIIe congrès de la Société des historiens médiévistes de l'enseignement supérieur public (Université du Littoral Côte d'Opale, juin 2001) (Publications de la Sorbonne. Série Histoire ancienne et médiévale 70), Paris 2002, S. 71–87; sowie JAFFÈ (Anm. 10), Nr. 2073–3163. 40 Vgl. Paul MEYVAERT, Le Libellus responsionum à Augustin de Contorbéry, une œuvre authenthique de Saint Grégoire le Grand, in: Jacques FONTAINE (Hg.), Grégoire le Grand. Chantilly,

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von Konstanz präsentierte dem Papst 864 verschiedene Anliegen Ludwigs des Deutschen, die vom Ehestreit Lothars über ein Erzbistum Hamburg-Bremen, Bulgarien, Mähren bis hin zu verschiedenen Fragen des Bischofsamtes reichten.41 Auch Erzbischof Ado von Vienne42 oder die Bretonen43 erhielten vergleichbare Responsa auf ihre Anfragen hin. Kirchenrechtlich strittige Fragen – so auch in Osnabrück während des Pontifikates Stephans V.44 – wurden offensichtlich gerne in päpstlichen Antwortschreiben erörtert. Vor allem rechtliche Unsicherheiten haben den Typus des schon aus der Antike bekannten Responsum gerade im päpstlichen Umfeld im frühen Mittelalter weiterverbreitet. Wie sehr man in Rom anscheinend auf solche allgemeinen Antwortschreiben eingestellt war bzw. einging, belegen die einzigartigen ‚Responsa ad consulta Bulgarorum‘, die in der aktuellen Situation der Missionierung Bulgariens in nicht weniger als 106 Kapiteln die römisch-westliche Position gegenüber byzantinischen Vorschriften und Gebräuchen darlegte. Hier musste in rechtlicher Hinsicht vieles entschieden bzw. aus der Tradition zusammengestellt werden; Anastasius Bibliothecarius war hierzu wohl wie kein anderer des frühen Mittelalters fähig.45 Zu sonstigen Diktatoren der Briefe im 9. Jahrhundert wissen wir leider wenig.46 Wie beginnt aber dieses Antwortschreiben? Auf eure Anfragen ist nicht viel zu erwidern, und wir sind der Ansicht gewesen, uns nicht bei jeder Frage allzu lange aufzuhalten. Denn wir werden unter Gottes Führung nicht nur die Bücher

|| Centre Culturel Les Fontaines, 15–19 sept. 1982. Actes (Colloques internationaux/ Centre National de la Recherche Scientifique 612), Paris 1986, S. 543–550; vgl. auch Karl UBL, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100) (Millennium. Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 20), Berlin u. a. 2008, S. 228. 41 BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 705 und 706 mit der einschlägigen Literatur. 42 Ebd., Nr. 675, 696 und 726 mit den Editionen und der einschlägigen Literatur. 43 Ebd., Nr. 203 mit den Editionen und der einschlägigen Literatur. 44 HERBERS (Anm. 31), hier: S. 22–24; Nachdruck S. 329–331. 45 Zu den Verfassern der einzelnen Schreiben vgl. die in Anm. 41–43 angegebenen Regestennummern bei BÖHMER–HERBERS (Anm. 8); neben zahlreichen älteren Werken vgl. zu Anastasius synthetisierend François BOUGARD, Anastase, in: Dictionnaire historique de la Papauté (1994), S. 86–87; Girolano ARNALDI, Anastasio Bibliotecario, in: Enciclopedia dei papi, Bd. 1 (2000), S. 735–746; zu ihm und Johannes Hymmonides bezüglich der Abfassung der Nikolaus-Vita im ‚Liber pontificalis‘ vgl. François BOUGARD, Anastase le bibliothécaire ou Jean diacre? Qui a écrit la Vie de Nicolas Ier et pourquoi?, in: Jean-Marie MARTIN, Bernadette MARTIN-HISARD u. Agostino PARAVICINI BAGLIANI (Hgg.), Vaticana et medievalia. Études en l’honneur de Louis Duval-Arnould (Millennio medievale 71), Florenz 2008, S. 27–40; zu seiner Rolle als „Gegenpapst 855“ vgl. Klaus HERBERS, Konkurrenz und Gegnerschaft. „Gegenpäpste“ im 8. und 9. Jahrhundert, in: Harald MÜLLER u. Brigitte HOTZ (Hgg.), Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen (Papsttum im mittelalterlichen Europa 1), Wien u. a. 2012, S. 55–70, hier S. 58–61. 46 Nelly ERTL, Diktatoren frühmittelalterlicher Papstbriefe, in: Archiv für Urkundenforschung 15 (1938), S. 82–132; Dietrich LOHRMANN, Das Register Papst Johannes‘ VIII. (872–822). Neue Studien zur Abschrift Reg. Vat. I, zum verlorenen Originalregister und zum Diktat der Briefe (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 30), Tübingen 1968.

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des göttlichen Gesetzes, sondern auch fähige Gesandte in eure Heimat und zu eurem ruhmreichen König, unserem geliebten Sohn, entsenden, die euch, soweit es Zeit und Vernunft gebieten, über Einzelheiten unterrichten sollen. Ihnen haben wir auch die Bücher anvertraut, die ihnen unserer Voraussicht nach im Augenblick unentbehrlich sind.47

Denkt man an die fast 40 Quartseiten, so erscheint diese einleitende Bemerkung zur angeblichen Kürze für heutige Leser fast ironisch. Wichtiger ist aber etwas anderes: Päpstliche Boten und Bücher begleiten den Brief. Es ist also ein Dreiklang, der diesen Antwortbrief deutlich von einem Privileg abhebt. Eine genauere Beachtung der Boten – schon Hartmut HOFFMANN meinte 1964, dass im Mittelalter das Wichtigste am Brief der Bote war48 – sagt auch einiges zu den Spezifika der Ausstellung. Zunächst führte die Tatsache, dass Boten einen Brief nach Rom übermittelten und eine päpstliche Antwort zurückbrachten, zu Wartezeiten. Einen Brief zu formulieren – gerade in der Auseinandersetzung mit Byzanz im 9. Jahrhundert – konnte Zeit benötigen. So erwähnt Nikolaus I. bzw. der vermeintliche Verfasser eines dieser Briefe am 28. September 865, der wartende Bote werde inzwischen ungeduldig und im gleichen Schreiben verwies Nikolaus I. Kaiser Michael von Byzanz darauf, er habe seine bereits fertige Antwort neu schreiben müssen, nachdem er den Brief des oströmischen Kaisers durch den Protospathar Michael erhalten habe.49 Die vorgesehene Kommunikation wurde also im Brief aktualisiert und angepasst. Weil es aber in vielen – jedenfalls in den erhaltenen Briefen – um teilweise brisante Rechtsfragen ging, lassen die Boten auch etwas zur Ausfertigung erkennen.50 Briefüberbringer lebten mitunter gefährlich.51

|| 47 Nicolai I. papae epistolae, hrsg. v. Ernst PERELS (MGH Epistolae in Quart 6, Epistolae Karolini aevi IV), Berlin 1925, ND Berlin 1995, Nr. 99, S. 568: Ad consulta vestra non multa respondenda sunt nec duximus per singula diutius immorari, qui Deo auctore non solum libros divinae legis, verum etiam et missos nostros idoneos, qui vos, prout tempus et ratio dictaverit, de singulis instruant, ad patriam vestram et ad gloriosum regem vestrum dilectum filium nostrum destinaturi sumus, quibus et libros, quos praevidimus necessarios illis nunc esse, commisimus. Übersetzung nach Lothar HEISER, Die Responsa ad consulta Bulgarorum des Papstes Nikolaus I. (858–867). Ein Zeugnis päpstlicher Hirtensorge und ein Dokument unterschiedlicher Entwicklungen in den Kirchen von Rom und Konstantinopel (Trierer Theologische Studien 36), Trier 1979, S. 400; vgl. auch BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 822. 48 Hartmut HOFFMANN, Zur mittelalterlichen Brieftechnik, in: Konrad REPGEN u. Stephan SKALWEIT (Hgg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Brauchbach zum 10. April 1964, Münster 1964, S. 141–170, hier S. 145. 49 Vgl. Nicolai I. papae epistolae (Anm. 47), Nr. 88, S. 474 und S. 454; vgl. BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 777. 50 Zum Folgenden vgl. Klaus HERBERS, Verlust. Veränderung. Ersatz. Beispiele der Briefpraxis im 9. Jahrhundert, in: DESWARTE, HERBERS u. SCHERER (Anm. 14), S. 129–137 mit weiterer Literatur; zu Boten und Überlieferung Veronika UNGER, Boten und ihre Briefe. Ordnungskategorien in Archiven und Briefsammlungen, in: ebd., S. 155–168. 51 Ebd.

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Als Nikolaus im Ehestreit Lothars II. Boten entsandte, bat er im November 862 Kaiser Ludwig II. „um Begleitung seiner Legaten bis zu einem (Grenz)ort, wo sie von solchen Leuten empfangen werden sollten, die sie unversehrt zu dem genannten König Lothar II. bringen könnten“.52 Es nützte nichts. Die Legaten wurden beraubt, päpstliche Briefe entwendet. Es waren angeblich Freunde König Lothars II. (ab amicis Hlotharii regis), wie ein späterer Papstbrief wissen will.53 Als der Papst aber davon erfuhr, stellte er Ersatzausfertigungen zur Verfügung. Seine zweite Instruktion an die Legaten war sodann wesentlich ausführlicher und bedachte Eventualitäten. Er beauftragte sie hier: gemäß der früheren Weisung zu handeln (secundum priorem praeceptionem nostram peragere), trug ihnen auf, falls die Synode nicht stattfinde oder König Lothar (II.) nicht erscheine, diesem die päpstlichen Befehle persönlich zu übermitteln, um anschließend wegen der Angelegenheit des (Grafen) Balduin (I. von Flandern) bei (König) Karl (dem Kahlen) die Briefe (epistolas synodicas)54 sowie die nun beigefügten Schreiben und die Mahnschrift55 diesem, allen Bischöfen und den Gläubigen öffentlich vorzutragen; er verweist abschließend auf zwei neue Briefausfertigungen anstelle der geraubten an König Karl (den Kahlen) und dessen Frau sowie auf einen weiteren beigefügten Brief an die Bischöfe der Gallia und der Germania.56

Diese Ersatzausfertigungen zeigen, dass zumindest manche Briefe wenigstens für eine gewisse Zeit in Rom archiviert wurden. Für die Herstellung heißt dies, dass bei wichtigen Dingen mehrere Exemplare ausgefertigt werden konnten. Aber hierzu ist inzwischen mehr bei Veronika UNGER zu lesen.57 Dies lässt sich auch an dem schon zitierten Brief Nikolaus‘ I. vom 28. September 865 an Kaiser Michael III. von Byzanz ablesen. In der langen Erzählung zum photianischen Streit betrifft eine Passage einen früheren Brief vom 25. September 860 nach Byzanz, den die Bischöfe Radoald von Porto und Zacharias von Anagni als Legaten überbracht hatten. Hierüber58 schrieb Nikolaus rückblickend, dass dreifach durch die Skriniare Zacharias, Petrus und Leo uno textu geschrieben und dann aufgeteilt worden sei:

|| 52 usque ad locum, quo a talibus suscipiantur hominibus, quorum comitatu ad praedictum regem Hlotarium, fratrem vestrum, illesi valeant pervenire […] BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 594; der Brief ist ediert in: Nicolai I. papae epistolae (Anm. 47), Nr. 4, S. 270–271. Zum folgenden Beispiel bereits HERBERS (Anm. 50), S. 130–131. 53 BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 602; vgl. Nr. 863. 54 Ebd., Nr. 594, 595, 596 und 597. 55 Ebd., Nr. 589. 56 Der Wortlaut entspricht dem Regest BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), NR. 605; der Brief an die Bischöfe der Gallia und der Germania ist regestiert in Nr. 604. 57 Vgl. UNGER (Anm. 5). 58 BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 525, der Brief ist ediert bei: Nicolai I. papae epistolae (Anm. 47), NR. 82, S. 433–439.

136 | Klaus Herbers quas ternas per Zachariam et Petrum atque Leonem, Deo amabiles scriniarios sanctae Romanae ecclesiae, uno textu scribi praecepimus et coram sancta ecclesia, quae apud nos est, dispertiti sumus.59

Von den drei Ausfertigungen sei dann aus Sicherheit für künftige Fragen eine in Rom geblieben (pro futura scilicet cautela et propter quae oriri poterat in posterum). Und dieser Fall sei nun auch bedauerlicherweise eingetreten. Das zweite Exemplar sei für den Kaiser gewesen, die dritte Fassung aber für die Legaten, damit sie diese vor Augen hätten und entscheiden könnten, was zu tun sei und sich so daran erinnerten, was ihnen der Papst aufgetragen habe. Misstraut wurde hier – fast schon ein Topos in der päpstlichen Korrespondenz mit Byzanz – dem oströmischen Kaiser, denn die Fassung für die Legaten sollte, wie weiter erläutert ist, gleichsam als Kontrollmöglichkeit dienen, wenn der Brief zum Beispiel nicht korrekt vorgelesen werde oder etwas Ähnliches geschehe. Legaten mit den Texten der Briefe vertraut zu machen, konnte eine Vorsichtsmaßnahme sein; auch am 13. November 866 wies Papst Nikolaus I. in einem weiteren Brief an Kaiser Michael auf den Wortlaut des vorliegenden Schreibens hin, den im Verlustfalle auch die Legaten kennen würden.60 Die päpstliche Gesandtschaft machte sich auf den Weg, – die Angelegenheit, die sie betrieb, verknüpfte sich mit dem Streit der Ost- und Westkirche um Bulgarien – aber sie wartete 40 Tage an der Grenze zum oströmischen Reich und wurde nicht eingelassen.61 Vorsorge für den rechten Text eines Briefes nützte nichts, ein nicht akzeptierter Brief war fast so viel oder so wenig wert wie ein nicht geschriebener Brief.

4 Überlieferung Die in den Beispielen aufscheinenden Möglichkeiten von verschiedenen Ausfertigungen führen zum nächsten Punkt, nämlich der Speicherung und Überlieferung. Die Überlieferung von Briefen und Privilegien unterscheidet sich im früheren Mittelalter grundlegend, obwohl es Mischhandschriften gibt, auf die ich hier aber nicht eingehen kann.62 So beruht beispielsweise unsere Kenntnis von der sogenannten Germanenmission, die mit vielen päpstlichen Briefen unterstützt wurde, auf einer auf Bonifatius zugeschnittenen Briefsammlung. Deren Überlieferung ist mehr als kompliziert und hat die editorische Forschung schon länger als ein Jahrhundert beschäftigt. Bei

|| 59 BÖHMER– HERBERS (Anm. 8), Nr. 777; Nicolai I. papae epistolae (Anm. 47), Nr. 88, S. 477. 60 BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 83. 61 BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 834. 62 Vgl. zum Beispiel die Handschriften Vallicellianus C 15, Parisinus 3859A und Parisinus 1557, hierzu die Einleitung bei BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), S. XII–XIV.

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allen einzelnen Problemen erscheint wichtig, dass die Handschriften, die seit dem 9. Jahrhundert überliefert sind, sehr unterschiedliche Anordnungen bieten, die wiederum verschiedenen Prinzipien folgen. Die Papstbriefe stehen dabei in der ersten Handschriftenklasse (München, Cod. lat. 8112) am Anfang, sie folgen nach dem Bischofseid des Bonifatius den Pontifikaten von Gregor II., Gregor III. und Zacharias, wobei datierte und undatierte Schreiben zu etwas verschiedenen Anordnungen geführt haben. Dazu traten Briefe an Amtsträger der Kurie, die secundum ordinem aufgeführt sind. Weitere Einzelheiten müssen hier ausgespart bleiben. Die sogenannte Collectio pontificia hat aber gewiss allein durch die Anordnung dazu beigetragen, den Missionierungsprozess Germaniens unter Bonifatius in hohem Maße päpstlich bestimmt erscheinen zu lassen.63 Und dieses Anliegen, die päpstliche Einflussnahme zu dokumentieren, hat wahrscheinlich gleichzeitig die Überlieferungschance maßgeblich beeinflusst. Die schon zitierten Responsa Nikolaus’ I. für die Bulgaren sind vor allem in einer Briefsammlung des Codex Vaticanus 3827 überliefert, von der weitere Abschriften abhängen. Dieser in Beauvais im 9. Jahrhundert entstandene Codex enthält bis zum Folio 125 Material zu gallischen Konzilien in der Form der Collectio Sancti Amandi; dann von Folio 126 bis 208 die Briefe Nikolaus’ I. in der Auseinandersetzung mit Byzanz.64 Die Responsa stehen am Ende dieser Reihe. Offensichtlich stellte man in Beauvais nicht nur Material zusammen, um die kirchliche Rechtsprechung zu optimieren, sondern auch Material zu den Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Westkirche, die zum Beispiel 868 auf dem Konzil von Worms thematisiert wurden.65 Unsere heutige Kenntnis päpstlicher Briefe aus dem frühen Mittelalter beruht demnach offensichtlich fast ausschließlich auf solchen Sammlungen, deren jeweiliger Zweck nicht immer deutlich ist, aber in jüngerer Zeit stärkeres Forschungsinteresse weckt. Dies geht aber nur im Schulterschluss mit der Untersuchung von konziliaren und kanonistischen Texten, die vielfach in den gleichen Sammelhandschriften

|| 63 Hierzu bereits Michael TANGL, Studien zur Neuausgabe der Bonifatius-Briefe, I. Teil, in: Neues Archiv 40 (1916), S. 639–790 mit tabellarischer Auflistung auf S. 690–691. 64 Hubert MORDEK, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse (MGH Hilfsmittel 15), München 1995, S. 858–863. 65 Vgl. Concilia aevi Karolini DCCCLX–DCCCLXXIV. Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860–874, hrsg. v. Wilfried HARTMANN (MGH Leges 3, Concilia IV), Hannover 1998, S. 292–307; vorbereitend der Brief Nikolaus I. an Hinkmar von Reims, vgl. BÖHMER–HERBERS (Anm. 8), Nr. 857; zum Hintergrund Wilfried HARTMANN, Das Konzil von Worms 868. Überlieferung und Bedeutung (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge 105), Göttingen 1977, S. 28–37; Klaus HERBERS, Ost und West um das Jahr 800. Das Konzil von Aachen 809 in seinem historischen Kontext, in: Michael BÖHNKE, Assaad E. KATTAN u. Bernd OBERDORFER (Hgg.), Die filioque-Kontroverse. Historische, ökumenische und dogmatische Perspektiven 1200 Jahre nach der Aachener Synode (Quaestiones disputatae 245), Freiburg u. a. 2011, S. 30–70 sowie S. 66–67.

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vertreten sind. Die Sammlungen waren damit auch Ausgangspunkt für Rezeption und weitere Wirkungen. Das Bild mancher Päpste des 9. Jahrhunderts basiert oft auf den Briefen und entspricht damit bis heute vielfach dem Bild zahlreicher Sammlungen. Nordwestfrankreich spielte für Papstbriefe in der Mitte des 9. Jahrhunderts eine wichtige Rolle: Corbie, Beauvais, Laon, Reims seien genannt. Inhaltlich schließen sich solche Befunde an neuere Untersuchungen zur Entstehung bzw. Überlieferung des ‚Constitutum Constantini‘ oder der ‚Pseudoisidorischen Dekretalen‘ an.66 Ein weiterer Punkt der Überlieferung ist aber noch kurz anzusprechen. Päpstliche Schreiben in Form eines Responsum waren für die kanonistische Rezeption besonders einschlägig, eine ansatzweise Untersuchung macht das bereits deutlich. Wenn auch die frühen Kanonessammlungen zwischen Konzilsbeschlüssen und päpstlichen Dekreten häufig unterscheiden, so waren einige der genannten Antwortbriefe (z. B. die Responsa an die Bulgaren) eigentlich sogar schon kleine Kanonessammlungen. Damit öffnet sich aber auch die Grenze zwischen Briefen und diesen Rechtssammlungen. Dies hatte für die Kanonistik wichtige Folgen, die ich an dieser Stelle nicht weiterverfolgen kann.

5 Fazit Ist eine Unterscheidung zwischen Brief und Urkunde überflüssig, wie FRENZ in seiner Papstdiplomatik suggeriert? Die verschiedenen Beispiele haben neben den hinlänglich bekannten Unterschieden im formalen Aufbau einige zusätzliche Aspekte erbracht. 1. Die Hinweise zum Verbrennen oder Berauben zeigen, dass Briefe einer anderen Kommunikationssituation zugehörig sind. Ein Privilegienempfänger erhielt zumeist ein individuelles Recht, das er durchsetzen musste; ein Briefempfänger konnte gerade bei den erhaltenen Papstbriefen Handlungshilfen und rechtliche Orientierung erfahren, obwohl auch der Freundschaftsbrief nicht ganz verschwand. 2. Mit dieser Unterscheidung hängt zusammen, dass briefliche Kommunikation meist auch aus Frage und Antwort bestand. Diese Grundvoraussetzung könnte dazu geführt haben, dass rechtliche Fragen dann meist in Form eines Responsum beantwortet wurden und damit eine besonders wichtige Briefform förderten. 3. Daraus ergibt sich, dass vor allem diese Responsa, aber auch andere Briefe eine besondere Nähe zu Konzilsakten und Kanonessammlungen aufweisen und damit

|| 66 Vgl. Klaus HERBERS, Rom oder Westfranken? Papst Nikolaus I. (858–867) in Überlieferung und Erinnerung, in: Janus GUDIAN u.a. (Hgg.), Erinnerungswege. Kolloquium zu Ehren von Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 49), Stuttgart u. a. 2018, S. 25–36.

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nicht nur die Frage der Abgrenzung von Urkunde und Brief, sondern auch von Brief und solchen Rechtsquellen zur Diskussion steht. 4. Papstbriefe wurden anders als Privilegien – zumindest im Einzelfall – mehrfach ausgefertigt, wie die zitierten Beispiele belegen. Die Konsequenzen für die Annahme einer Registerführung sind in der Arbeit von Veronika UNGER nachzulesen.67 5. Entsprechend der Kommunikationsform gewannen Boten, die Briefe überbrachten, in der Regel eine höhere Bedeutung für die Kommunikation als Privilegientransporteure, wenngleich zuweilen die gleichen Personen Briefe und Privilegien zu den Empfängern brachten. 6. Die Überlieferung von frühmittelalterlichen Briefen unterscheidet sich trotz der genannten Mischhandschriften grundlegend von derjenigen der Privilegien. Erst aus der Kenntnis der jeweiligen Sammlungen und ihrer Entstehungsbedingungen können die Inhalte der Papstbriefe angemessen kontextualisiert werden. 7. Damit ist ein Desiderat benannt, denn es geht künftig auch darum, die Situationen zu untersuchen, in denen Urkunden und Briefe gemeinsam überbracht oder auch archiviert wurden. Insgesamt stellt sich aber schon jetzt die grundlegende Frage, welche historische Erkenntnis daraus erwächst, wenn Papstbriefe und Papstprivilegien stärker unterschieden werden. Die Unterscheidung hilft jedenfalls, die Informationsmöglichkeiten der entsprechenden Schriftstücke schon bei der Befragung im Blick zu haben. Sie zeigt dem Historiker weiterhin oft den Weg vom Brief zur Kanonessammlung und trägt damit dazu bei, den Verrechtlichungsprozess, in den das Papsttum vom frühen bis ins hohe Mittelalter eingebunden war, in seiner Dynamik besser zu erfassen. Nicht nur eine nebensächliche Erkenntnis könnte auch darin bestehen, dass die Empfänger oder vor allem die Sammler durch ihre Zusammenstellung ein Bild vom Papsttum evozierten, das bis heute nachwirkt und vielleicht weniger römisch ist als oft angenommen.

|| 67 Vgl UNGER (Anm. 5).

Christoph U. Werner

Die ‚Privaturkunde‘ im persisch-islamischen Kultur- und Rechtsbereich. Herausforderungen einer komparatistischen Diplomatik Zusammenfassung*: Detaillierte Studien zur persisch-islamischen Diplomatik und anderen Bereichen orientalistischer historischer Hilfs- und Grundwissenschaften stammen vorwiegend aus dem deutschsprachigen Bereich. Seit ihren Anfängen in den 50er Jahren orientierte sie sich terminologisch und strukturell stark an den einschlägigen mediävistischen Handbüchern und den Traditionen der im 19. Jahrhundert in Deutschland entwickelten Diplomatik des Heiligen Römischen Reiches. Die Adaptation des Begriffes der ‚Privaturkunde‘ für alle Urkundenformen, die nicht eindeutig als Herrscherurkunden zu benennen waren, lag daher nahe und so ist der Begriff der Privaturkunde immer noch als übergreifende Gattungsbezeichnung vor allem für islamische Rechtsurkunden, wie Kauf- und Pachtverträge, Eheurkunden und Stiftungen, regelmäßig anzutreffen. Außerhalb des deutschen Sprachraums, selbst im englischen Bereich, ist eine solche Bezeichnung allerdings weder üblich, noch sofort verständlich. In dem Maße, in dem Urkundenlehre zunehmend als eigene Disziplin (sanad-šināsī) in den Ländern des persisch-islamischen Kulturraums verankert ist, stellt sich die Frage einer gemeinsamen Terminologie für die historisch arbeitende Iranistik in einer neuen Weise und Dringlichkeit. Darüber hinaus bieten grundlegende terminologische Diskussionen wertvolle weiterführende Ansätze zu einer Komparatistik von Urkundenkategorien und -typen, sowohl innerhalb einer international auf Englisch publizierenden, westlich geprägten Iranistik, im Austausch mit akademischen Traditionen in Iran und anderen Regionen der persophonen Welt, als auch im breiteren Kontext einer diachron arbeitenden islamwissenschaftlichen Diplomatik. Schlagwörter: Privaturkunden, islamischer Kulturraum

Urkundengattungen,

Diplomatik,

persisch-

|| * Die Arbeit an diesem Beitrag wurde unterstützt durch Förderung des European Research Council (ERC) für das Projekt Lawforms (grant agreement No 714569). || Christoph U. Werner, Universität Bamberg, Lehrstuhl für Iranistik, Schillerplatz 17, 96047 Bamberg, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-006

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1 Einführende Überlegungen zur Privaturkunde in der persischen Diplomatik [Der] historischen Realität […] wird der Begriff der Privaturkunde nur in unzureichender Weise gerecht, er ist kritikwürdig und streng genommen irreführend, aber gebräuchlich Josef HARTMANN1

Der vorliegende Beitrag ist Ausdruck einer terminologischen Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden diplomatischer Forschung. Es handelt sich zusätzlich um den Versuch einer Standortbestimmung und spiegelt dabei das anhaltende und teils wachsende Unbehagen außereuropäischer historischer Forschung an der Verwendung von etablierten Begriffen und Konzepten der deutschen Diplomatik. Andererseits ist gerade orientalistische historische Forschung im elementaren und praktischen Bereich von Quellenkunde und Grundwissenschaften oft sehr weit entfernt von luftigen Konzepten einer transnationalen oder transkulturellen Globalgeschichte und sucht nach greifbaren und handfesten Ansätzen. Die ‚Privaturkunde‘ steht uns dabei paradigmatisch als besonders anschaulicher Fall vor Augen und es mag von Vorteil sein, dass das Unbehagen hier – das Eingangszitat von Josef HARTMANN macht es deutlich – durchaus auch von mediävistischer Seite geteilt wird. Doch es geht mir um mehr als die Betrachtung der Tradition deutscher Diplomatik für die grundwissenschaftliche Forschung der Iranistik. Vielmehr ist diese Beziehung zu erweitern durch die Einbeziehung der wachsenden und eigenständigen inneriranischen Forschung im Bereich von Archivwesen, Diplomatik und Kodikologie sowie mit einer globalen akademischen Forschungslandschaft zum persischen Urkundenwesen, in der auf Englisch publiziert wird und in der unter anderem Kolleginnen und Kollegen aus Japan eine entscheidende Rolle spielen.2 In diesem Sinne ist die Frage nach der Privaturkunde im iranistischen Bereich eine terminologische Diskussion, bei der es im weitesten Sinne um Translation geht – nicht nur um die Übersetzung von Bezeichnungen und Begriffen, sondern auch um

|| 1 Josef HARTMANN, I. Schriftliche Quellen. 1. Urkunden, in: Friedrich BECK u. Eckart HENNING (Hgg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 4. durchgesehene Aufl., Köln 2004, S. 9–39, hier S. 11; es finden sich allerdings durchaus weiterhin aktuelle Studien zur deutschen Privaturkunde, vgl. Roman ZEHETMAYER, Funktion und Rechtskraft der besiegelten Privaturkunde im Reich bis zur Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 69 (2013), S. 503–530. 2 Vgl. zum Forschungsstand Christoph WERNER, Quellenkunde und Historische Hilfswissenschaften, in: Ludwig PAUL (Hg.), Handbuch der Iranistik. Bd. 2, Wiesbaden 2017, S. 57–66; vgl. auch Nobuaki KONDO, The Lives of Qabālas. Annotation, Transcription and Registration of Documents in Early Modern Iran, in: Eurasian Studies 12 (2014), S. 561–576.

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die Übersetzung von höchst unterschiedlichen kulturellen Konzepten und akademischen Traditionen.3 Diese Notwendigkeit des Übersetzens stellt sich vielleicht im Falle orientalistischer Fächer verstärkt, aber auch innerhalb einer europäischen Diplomatik ist es nicht immer einfach, dieselbe ‚Sprache‘ zu sprechen. Die Privaturkunde ist eines dieser Beispiele, in denen das Übersetzen eine Herausforderung darstellt – gerade wegen des generischen Verständnisses des Begriffs. Übersetzungen und terminologische Fragen bekräftigen daher unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen und definieren das diplomatische Arbeitsfeld in verschiedene Richtungen, vor allem in der Frage nach Recht und Diplomatik bzw. Geschichtsschreibung und Diplomatik. Dabei gilt es nicht nur eine Verständigung zwischen deutscher (in begrenztem Umfang auch europäischer) Diplomatik und orientalistischen Diplomatiken (Osmanistik, arabische Islamwissenschaft, Iranistik), sondern insbesondere der sich neuformierenden iranischen Disziplin der ‚Dokumentenlehre‘ (sanad-šināsī) zu etablieren. Diese unterscheidet nicht zwischen ‚Herrscherurkunden‘ und ‚Privaturkunden‘, sondern zwischen Dokumenten der staatlichen Verwaltung (asnād-i dīvānī) und islamrechtlichen Dokumenten (asnād-i šarʿī). Es gilt darüber hinaus zwischen regional getrennten Forschungsfeldern einer persophonen Urkundenlehre zu vermitteln, die vom Kaukasus über Iran und Mittelasien bis nach Indien reicht. Auch wenn es im Kontext des vorliegenden Bandes unnötig erscheinen mag, sei dennoch noch einmal zu Beginn auf grundlegende Definitionen verwiesen. Die Grundmerkmale einer Urkunde in Abgrenzung zu anderen schriftlichen Zeugnissen sind Rechtserheblichkeit, Schriftlichkeit, Formgebundenheit und Beglaubigung.4 In der klassischen Definition von Harry BRESSLAU für das frühe Mittelalter zählen zu den „öffentlichen Urkunden“ die Dokumente, „die von selbständigen oder halbselbständigen Herrschern, namentlich Königen und Kaisern, erlassen sind (inklusive der Papsturkunden, Anm. d. Autors). Zu der anderen Gruppe rechnen wir alle übrigen Urkunden, von wem immer sie ausgestellt sein mögen. Wir bezeichnen die letzteren als Privaturkunden.“5 Die Grunddefinition einer Privaturkunde ist also ihr nicht-öffentlicher Charakter und ein nicht-herrscherlicher Aussteller. Das Konzept einer spezifisch persisch-islamischen Urkundenlehre ist dem sprachlichen Wandel von primär arabischen Urkundenformen hin zur Verwendung des Persischen (später in Mittelasien auch zunehmend des Türkischen) geschuldet. Dieser graduelle Prozess, der in der Mongolenzeit des 13.-14. Jahrhunderts einsetzt, ist erst im 16. Jahrhundert abgeschlossen, wobei juristische Kernformeln, ebenso wie

|| 3 Vgl. Margrit PERNAU, Provincializing Concepts. The Language of Transnational History, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 36, 3 (2016), S. 483–499. 4 HARTMANN (Anm. 1), S. 10. 5 Harry BRESSLAU, Einführung in die Urkundenlehre für Deutschland und Italien, 2. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1912, S. 3.

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Beglaubigungsvermerke, bis in die Gegenwart auf Arabisch verbleiben. Zu beachten ist, dass es keine einheitliche ‚islamische‘ Diplomatik bzw. Urkundenlehre geben kann. Nicht nur sprachliche Unterschiede zwischen Arabisch, Persisch und Türkisch, auch rechtliche und kulturelle Divergenzen führen zu einem Mosaik von unterschiedlichen Praktiken und Realitäten. Eigenständige Studien zur persischen Urkundenlehre und Diplomatik in islamischer Zeit setzen erst gegen Ende der 50er Jahre ein; zu Beginn mit einem deutlich spürbaren, nationalistisch-iranischen Impuls.6 Die Verpflichtung gegenüber der Tradition der deutschen Diplomatik wird dabei bei Heribert BUSSE 1961 in seinem innovativen und Maßstäbe setzenden Beitrag „Persische Diplomatik im Überblick“ zum Programm: Ich glaube behaupten zu dürfen, daß die zukünftige persische (und überhaupt islamische) Diplomatik sich mehr und mehr an den Methoden der europäischen Diplomatik, die das Urkundenwesen in allen seinen Aspekten zu erfassen trachtet, orientieren muß.7

Während BUSSE sich vor allem auf Erlasse (‚Fermane‘) und das herrscherliche Kanzleiwesen Irans konzentriert, nimmt er doch auch Stellung zur Frage anderer Urkundengattungen. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf den Begriff der Privaturkunde, womit er Urkunden bezeichnet, die nicht von einer „Regierungsinstanz“ ausgefertigt seien.8 Interessant, insbesondere für unsere später folgende Diskussion, ist jedoch BUSSEs Verständnis von „Regierungsinstanz im Islam“, worunter für ihn auch „religionsgesetzliche Behörden“, also amtlich eingesetzte Richter (‚Qadis‘) zu fassen seien. In diesem Verständnis verbleibt dann für die ‚Privaturkunde‘ nur noch ein kleiner Restbereich: Eine Privaturkunde wäre im islamischen Bereich etwa die einem Schüler von dessen Lehrer erteilte Lehrerlaubnis (iǧāza), das Aufnahme-Diplom in einen Sufi-Orden, oder im Handelsleben die Quittung über einen erhaltenen Betrag.9

Ob es sich in diesen genannten Fällen überhaupt um Urkunden handelt, sei dahingestellt, da entweder die Formgebundenheit oder die Beglaubigung bei solchen Schriftstücken auch im islamischen Bereich nur bedingt gegeben ist. Wie dem auch sei, damit fand der Begriff der ‚Privaturkunde‘ für alle Urkundenformen, die nicht eindeutig

|| 6 Dies schließt direkt an die deutsche Forschungstradition zu einer dezidiert iranischen Nationalgeschichte an, wie sie von Walther HINZ und Bertold SPULER in den 30er und 40er Jahren initiiert wurde; vgl. Bert G. FRAGNER, GERMANY iv. Iranian studies in German: Islamic Period, in: Encyclopaedia Iranica, Vol. X, Fasc. 5 (2001), S. 543–555. 7 Heribert BUSSE, Persische Diplomatik im Überblick. Ergebnisse und Probleme, in: Der Islam 37 (1961), S. 202–245, hier S. 204. 8 Ebd., S. 207. 9 Ebd., S. 207.

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als Herrscherurkunden zu benennen waren, Eingang in die persische Diplomatik und wurde zu einem Sammelbegriff für alle möglichen Schriftstücke. Außerhalb des deutschen Sprachraums, insbesondere im weiteren europäischen Kontext, ist die Verwendung des Begriffs ‚Privaturkunde‘ allerdings weder üblich noch unbedingt verständlich. In dem Maße, in dem die Urkundenlehre zunehmend als eigene Disziplin in den Ländern des persisch-islamischen Kulturraums verankert ist, stellt sich nicht nur die Frage einer gemeinsamen Terminologie neu, sondern breitere Fragen einer Komparatistik von Urkundenkategorien und Genres. Neue Zugänge zu komparatistischen Fragestellungen spielen innerhalb der europäischen Diplomatik eine wichtige Rolle, klammern aber bisher außereuropäische Traditionen weitgehend aus.10 Es stellen sich somit eine Reihe von Fragen: Ist die Verwendung des Begriffs der ‚Privaturkunde‘ innerhalb der persisch-islamischen Diplomatik weiterhin als sinnvoll zu betrachten? Wie kann der Begriff in andere Systeme eingepasst bzw. übersetzt werden? Wie kann eine terminologische Harmonisierung zwischen europäischer Diplomatik, deutschen orientalistischen Traditionen und iranischen Forschungsansätzen erreicht werden? Es mag daher durchaus hilfreich sein, zuerst noch einmal weitere Definitionen von ‚Privaturkunden‘ zwischen diesen drei Ebenen durchzuspielen.

2 Privaturkunden im europäischen Umfeld Die Notwendigkeit, sich über terminologische Probleme innerhalb Europas zu verständigen, führte in den 90er Jahren zur Kompilation des „Vocabulaire international de la diplomatique“ durch die Commission internationale de diplomatique. Dort findet sich ebenfalls ein, wenn auch knapp gehaltener, Eintrag zur ‚Privaturkunde‘ auf Französisch: Un acte écrit est dit privé, s’il émane d’une personne privée, physique ou morale, ou bien d’une personne publique agissant à titre privé. On s’accorde aussi, en général, pour considérer comme acte privé un acte concernant une matière de droit privé passé entre personnes privées bien qu’il soit instrumenté devant une autorité publique (notaire ou juridiction gracieuse).11

Ergänzend werden auch Übersetzungen angeboten: Privaturkunde, Urkunde zwischen Privatpersonen – private deed – acte écrit privé. Interessant in dieser Definition ist die vollständige Abwesenheit einer Abgrenzung gegenüber Kaiser-, Königs- und

|| 10 Vgl. Karl HEIDECKER (Hg.), Charters and the Use of the Written Word in Medieval Society (Utrecht Studies in Medieval Literacy 5), Turnhout 2000. 11 Vocabulaire international de la diplomatique (Commission Internationale de Diplomatique, Comité International des Sciences Historiques), hrsg. v. Maria M. CÁRCEL ORTÍ, (Collecció Oberta 28), 2. Aufl., Valéncia 1997, online unter: http://www.cei.lmu.de/VID/VID.php.

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Papsturkunden und die Betonung des ‚Privaten‘. Entscheidend sind also die Privatperson bzw. die private Körperschaft, die eine Urkunde ausstellen, oder, wenn es sich um eine öffentliche Körperschaft handeln sollte, dann ihr Handeln in ‚privater‘ Kapazität. Ebenfalls bedeutsam ist der Verweis auf die Beurkundung einer privatrechtlichen Angelegenheit zwischen privaten Parteien, auch wenn sie vor einer öffentlichen Institution wie einem Notariat beurkundet wird. Diese französische Definition einer Privaturkunde, die sich auch in einer anderen Variante als acte entre particuliers12 findet, zielt also sehr viel stärker in den engeren privatrechtlichen Bereich einer Rechtsurkunde oder Notariatsurkunde. Wie wir sehen werden, ist ein solcher Gebrauch dem persisch-islamischen Verständnis von Privaturkunden als Rechtsdokumenten wesentlich näher. Die im „Vocabulaire international de la diplomatique“ für das Englische vorgeschlagene Übersetzung – private deed – ist einerseits unproblematisch, andererseits aber auch so nichtssagend, dass sie als Arbeitsbegriff kaum dienen kann. Hier, wie auch an anderer Stelle, entsteht der Eindruck, dass die detaillierte terminologische Aufteilung, die für die deutsche Diplomatik kennzeichnend ist, im angelsächsischen Bereich eher belächelt wird. So begründet Karl HEIDECKER in der Einführung zu seinem 2000 herausgegebenen Sammelband die Verwendung des generischen englischen Begriffs charter (equivalent to acte écrit) als Übersetzung für die deutsche ‚Urkunde‘ und verweist auf die inhärenten epistemologischen Probleme von terminologischen Übersetzungszwängen im Bereich einer vergleichenden Diplomatik.13 Er warnt jedoch auch vor zu viel Kleinteiligkeit in den Hilfs- bzw. Grundwissenschaften: „The development of fine terminological distinctions in the different traditions of scholarship obfuscates the object of diplomatics.“14 Eine entspannte Einstellung gegenüber begrifflichen wie formalen Aufteilungen findet sich auch bei Ben SNOOK in seinem Werk zur angelsächsischen Kanzlei, in dem er sich ebenfalls für den generischen Begriff der charter ausspricht: Traditionally, a distinction may have been drawn between documents issued by the king (which are usually called diplomas), those issued by ecclesiastics or noblemen (often called charters) and other material issued by private individuals, including grants, wills, memoranda, etc. (sometimes called deeds). […] Elsewhere, ‘diploma’ has been used to refer to documents issued by the king, whereas ‘charter’ has been used for everything else. However, for much of their history, the Anglo-Saxons seem not to have drawn a consistent distinction between these different

|| 12 Benoît-Michel TOCK, Les actes entre particuliers en Bourgogne méridionale (IXe–XIe siècles), in: Peter ERHART, Karl HEIDECKER u. Bernhard ZELLER (Hgg.), Die Privaturkunden der Karolingerzeit, Zürich 2009, S. 121–134. 13 HEIDECKER (Anm. 10), S. 2–3. 14 Ebd., S. 3; dies kombiniert mit einem Fragezeichen in Bezug auf den Begriff der Hilfswissenschaften (auxiliary sciences).

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kinds of documents in terms of how they were composed, stored and used; therefore, the word ‘charter’ has been used here to cover everything.15

SNOOKs Hauptargument zielt darauf, dass die angelsächsische Kanzlei und ihre Schreiber und Beamten wenig Notwendigkeit sahen, die von ihnen produzierten Dokumente in klare Kategorien aufzuteilen. Eine retrospektive Aufteilung sei daher artifiziell und wenig hilfreich: Ob Herrscherurkunde (diploma), Papsturkunde (ecclesiastical charter) oder Privaturkunde (private deed) mache in der Innensicht der Verwaltung kaum einen Unterschied und es sei daher einfacher lediglich von charter zu sprechen.16 Die Vorliebe für charter als übergreifender Begriff findet so auch Eingang in den amerikanischen Handbuchbereich für Studienanfänger, mit Formulierungen wie „diplomatics, or the science of charters“.17 Solche generischen Bezeichnungen existieren auch im persisch-islamischen Bereich – mehr dazu im weiteren Verlauf – mit allgemeinen Begriffen wie sanad (pl. asnād) für Dokument(e) aller Art. Ihre Verwendung macht es einfacher, über breite Bereiche und Entwicklungen zu sprechen. Gerade im angelsächsischen Bereich spielte wohl auch eine langsamere Entwicklung im allgemeinen Bewusstsein zur Bedeutung von schriftlichen und formalisierten Rechtsdokumenten eine Rolle. So verweist Corliss SLACK in ihrer Arbeit zu Crusade charters auf die begrenzte Schriftkompetenz und den frühen Charakter von charters als Dokumentation, nicht als Rechtsverträge: „Charters were originally important more as records of an event than as legal contracts, more like a snapshot of a wedding than like the marriage license.“18 In einem historischen Umfeld, wo Formalisierung und Differenzierung in Kanzleistrukturen nicht sehr weit fortgeschritten sind, und in einem Forschungsumfeld, das eher pragmatisch an terminologische Fragen herangeht, ist die nähere Definition von private deeds eher nachrangig. Das ist kein Problem, wenn man sich mit seinen Quellen im angelsächsischen Bereich bewegt – kann aber schwierig sein, wenn man auf das Englische als internationale Wissenschaftssprache, zum Beispiel im Austausch über islamische oder chinesische Diplomatik, angewiesen ist.

|| 15 Ben SNOOK, The Anglo-Saxon Chancery. The History, Language and Production of Anglo-Saxon Charters from Alfred to Edgar (Anglo-Saxon Studies 28), Woodbridge 2015. S. 1, n. 3. 16 Ebd., S. 19–20: „Another major difference (which has often been overlooked) is that the AngloSaxons seem, for much of their history, to have made little or no distinction between royal diplomas, private deeds and ecclesiastical charters.“ 17 Martha HOWELL u. Walter PREVENIER, From Reliable Sources. An Introduction to Historical Methods, Ithaca 2001, S. 46. 18 Corliss K. SLACK, Crusade Charters, 1138–1270, with English translations by Hugh B. FEISS, (Medieval and Renaissance Texts and Studies 197), Tempe 2001, S. XIV.

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3 Privaturkunden im orientalistischislamwissenschaftlichen Umfeld Wesentlich handhabbarer erscheint dagegen die oben vorgestellte französische Definition von Privaturkunden bzw. actes privés, die uns auch die Rückkehr zu unserem Verständnis von Privatkunden im persisch-islamischen Bereich erleichtert. In der Folge der Arbeiten von Heribert BUSSE beschäftigte sich Monika GRONKE erstmals dezidiert mit persischen Privaturkunden aus Iran und griff dabei auf den Korpus von Urkunden des 12. und 13. Jahrhunderts aus dem Heiligtum von Ardabīl zurück.19 Einer ihrer grundlegenden Artikel zum Thema erschien 1984 auf Französisch und ihre dort getroffene Ausgangsdefinition spiegelt die obige Charakterisierung der Commission wider: II convient dans ce contexte de prendre pour base une définition juridique: Sont considérés comme actes privés les documents qui traitent de relations d'affaires bilatérales entre particuliers (p. ex. achat et vente, gage, créance, donation, livraison de marchandises, etc.).20

Privaturkunden seien primär zu verstehen als Dokumentation bilateraler Verträge. In der zeitgleich erschienenen Einführung zur genannten Arbeit liest sich das weitgehend identisch: [...] Privaturkunden, worunter ich hier Dokumente verstehen möchte, die rechtsgeschäftliche Beziehungen zwischen Privatpersonen zum Inhalt haben (wie Kauf und Verkauf, Pfand, Miete, Schuld, Schenkung u.ä.); sie unterscheiden sich von den Urkunden, bei denen ein Herrscher oder staatliche Behörden auf der einen Seite beteiligt sind, die also Rechtsakte des staatlichen und kommunalen Bereichs enthalten […].21

Sehr gerne wird hier, wie auch bei anderen islamwissenschaftlichen Autoren, auf den von Ahasver von BRANDT postulierten ‚Verabredungsbegriff‘ der Privaturkunde verwiesen.22 Was in der Definition von GRONKE fehlt, sind einerseits Abgrenzungen gegenüber rechtlichen Dokumenten, die auf Grund begrenzter Formgebundenheit oder offizieller Beglaubigung keine Urkunden im engeren Sinn sind. Andererseits bleibt

|| 19 Monika GRONKE, Arabische und persische Privaturkunden des 12. und 13. Jahrhunderts aus Ardabil (Aserbaidschan) (Islamkundliche Untersuchungen 72), Berlin 1982. 20 Monika GRONKE, La rédaction des actes privés dans le monde musulman médiéval: théorie et pratique, in: Studia Islamica 59 (1984), S. 159–174, hier S. 160. 21 GRONKE (Anm. 19), S. 2. 22 Ahasver von BRANDT, Werkzeug des Historikers, 14. Auflage, Stuttgart 1996; weiterhin gültig auch in neueren Handbüchern, vgl. Thomas VOGTHERR, Einführung in die Urkundenlehre, 2. überarbeitete Auflage, Stuttgart 2017.

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die Frage nach der klaren Unterscheidung zwischen ‚staatlichen‘ und ‚nicht-staatlichen‘ Rechtsakten seltsam vage, was spätestens bei späteren Urkunden und entwickelten Rechtssystemen nach dem 14. Jahrhundert relevant wird.23 Anhand eines anderen Korpus, nämlich der im Ḥaram von Jerusalem gefundenen arabischen Urkunden, bemühte sich Christian MÜLLER unlängst um eine begriffliche Klärung von Gerichtsakten und Dokumenten der Mamlukenzeit aus dem 14. Jahrhundert.24 Der Begriff der Privaturkunde fällt dabei nur am Rande, bevorzugt spricht er mit Bezug auf den von ihm behandelten Korpus von ‚Rechtsdokumenten‘ bzw. ‚Rechtsurkunden‘.25 Entscheidend ist für ihn allerdings eine Unterscheidung zwischen dispositiven Urkunden (Dekrete, Erlasse) und ‚Zeugenurkunden‘, im Sinne von ‚Notizen‘ über einen bereits vollzogenen Rechtsakt.26 In diesem Verständnis erinnern sie entfernt an die oben erwähnten Crusade charters und verweisen auf einen Zwischenstand in der Entwicklung zu vollen ‚privaten‘ Rechtsurkunden. Diese ‚Zeugenurkunden‘, in der Terminologie MÜLLERs, decken sich zumindest inhaltlich und thematisch (Kauf, Pacht, Stiftung, Schenkung) mit den von GRONKE als ‚Privaturkunden‘ bezeichneten Dokumenten, wobei auf Unterschiede in den Details und der Rechtspraxis an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Die Arbeiten der arabischislamischen Diplomatik stehen hier stärker in der Tradition von Rudolf VESELY: Es ist für uns von Bedeutung, daß die Privaturkunden – wenn wir den juristischen Standpunkt einnehmen möchten – meistens mit den Gerichtsurkunden (vom Standpunkt der Diplomatik ausgehend) zusammenfallen. Wenn wir von Gerichtsurkunden sprechen, behandeln wir schon die Problematik der Privaturkunden.27

Als besonderer Stolperstein bei der Bewertung von Rechtsdokumenten bzw. rechtsspezifischen Privaturkunden im Kontext einer islamischen Diplomatik erweist sich

|| 23 Praktische Untersuchungen sind nicht notwendigerweise an terminologische Fragestellungen gebunden, vgl. Christoph WERNER, Formal Aspects of Qajar Deeds of Sale, in: Nobuaki KONDO (Hg.), Persian Documents, London 2003, S. 13–49, zur Privaturkunde S. 14. 24 Christian MÜLLER, Der Kadi und seine Zeugen. Studie der mamlukischen Ḥaram-Dokumente aus Jerusalem (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes 85), Wiesbaden 2013; sehr ausführlich Kapitel 1: die Dokumente, zur Privaturkunde hier S. 35; DERS., The Power of the Pen: Cadis and their Archives. From Writings to Registering Proof of a previous Action taken, in: Alessandro BAUSI u. a. (Hgg.), Manuscripts and Archives, Berlin 2018, S. 361–383. 25 MÜLLER (Anm. 24), S. 9. 26 Ebd., S. 33, 44–55. 27 Rudolf VESELY, Die Hauptprobleme der Diplomatik arabischer Privaturkunden aus dem spätmittelalterlichen Ägypten, in: Archiv Orientàlnì 40 (1972), S. 312–343, hier S. 320; vgl. Émile TYAN, Le notariat et le régime de la preuve par écrit dans la pratique du droit musulman, Beirut 1945.

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das noch immer verbreitete, oft dogmatisch gehandelte Diktum, es gebe im islamischen Recht keinen Urkundenbeweis.28 Für die kanonische Rechtslehre und frühe Epochen ist das sicherlich zutreffend, für spätere Epochen, insbesondere nach dem 15. Jahrhundert scheint es allerdings weltfremd, darauf zu beharren. So ist zumindest im iranischen Bereich des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der wir ausreichend Material für reale Prozesse und Auseinandersetzungen haben, die Vorlage von Urkunden vor Gericht meist unabdingbar für die Beweisführung.29 Auch in anderen orientalistischen Kontexten, unabhängig von der Epoche, stellt sich die Frage, wie Text- und Urkundengattungen zu bezeichnen sind, die nicht eindeutig einer bestehenden Kategorie zuzuordnen sind. So differenziert Andrea Marie ULSHÖFER in ihrer Studie zu den altassyrischen Privaturkunden zwischen Geschäftsbriefen assyrischer Kaufleute und Rechtsurkunden, die sie definiert als „Texte juristischen Inhalts, die bestimmten Formalien genügen müssen“. Dabei verweist sie beispielhaft auf Schuldurkunden, Verwahrungsurkunden, Empfangsbescheinigungen und Transportverträge.30 An dritter Stelle nennt sie ‚private Wirtschaftsurkunden‘, die sie als die für sie eigentlich relevanten ‚Privaturkunden‘ betrachtet. Letztere besaßen ebenfalls juristische Gültigkeit und, so ULSHÖFER, konnten daher im Streitfall vor Gericht als Beweismittel verwendet werden. Auf Grund der zeitlichen Distanz fällt es schwer, direkte Vergleiche mit mittelalterlichen Urkunden, europäisch oder islamisch, zu ziehen. Das ‚private‘ dieser altassyrischen Urkunden liegt also in ihrem nicht-öffentlichen und formal weniger verbindlichen Charakter. So unterschiedlich das verwendete Material, die geographischen Räume und die behandelten Epochen sind, dient der Begriff der Privaturkunde in orientalistischen Forschungszusammenhängen letztlich vor allem als Platzhalter für Urkundenmaterial, das nicht eindeutig zuzuweisen und zu kategorisieren ist. Entscheidend sind dabei vor allem (1) Fragen nach Rechtswirksamkeit und Beweiskraft von Urkunden, (2) Fragen nach der Formulargebundenheit von Dokumenten und (3) Fragen nach dem Zuständigkeitsbereich und der Staatlichkeit von ausstellenden oder notariell bekräftigenden Institutionen sowie nach der Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen der Gesellschaft. Je nach Gewichtung dieser Bereiche ergeben sich oft ganz unterschiedliche Definitionen von Privaturkunden, stets geprägt von ebenfalls stark divergierenden akademischen Traditionen und den konkreten Archiv- und Urkundenbeständen.

|| 28 Joseph SCHACHT, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964, S. 193; korrigierend Jessica M. MARGLIN, Written and Oral in Islamic Law. Documentary Evidence and Non-Muslims in Moroccan Shari‘a Courts, in: Comparative Studies in Society and History 59 (2017), S. 884–911. 29 Vgl. Nobuaki KONDO, Islamic Law and Society in Iran. A Social History of Qajar Tehran (Royal Asiatic Society Books), London 2017. 30 Andrea M. ULSHÖFER, Die Altassyrischen Privaturkunden (Altassyrische Texte und Untersuchungen. 4), Stuttgart 1995, S. 12–13.

Die ‚Privaturkunde‘ im persisch-islamischen Kultur- und Rechtsbereich | 151

4 Die Persische Privaturkunde: sanad und qabāla Im Grunde ist es daher nicht erstaunlich, dass die Binnenperspektive auf das persisch-islamische Urkundenwesen anders ausfällt, als der bislang geschilderte orientalistische Blick von außen. Andererseits wäre es genauso verfehlt, davon auszugehen, dass diese beiden akademischen Sphären nicht miteinander im Austausch stünden – ganz im Gegenteil: Die Übersetzungstätigkeit ist in beiden Richtungen sehr produktiv. Der Begriff der Privaturkunde hat bislang jedoch wenig Aufmerksamkeit gefunden – da er aus verschiedenen Gründen auf iranischer Seite als Sammelbegriff nicht benötigt wird und darüber hinaus, ähnlich wie im angelsächsischen Bereich, die Kategorien der frühmittelalterlichen deutschen Diplomatik nicht rezipiert wurden (und dazu auch kein Anlass bestand). In Iran setzte hilfs- oder grundwissenschaftliche historische Forschung, vor allem im quellenkundlichen Bereich, erst relativ spät in den 60er und 70er Jahren ein und somit ungefähr zur selben Zeit wie in den iranistisch-islamwissenschaftlichen Instituten Deutschlands, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Eine sich langsam herausbildende Wertschätzung von historischen Originaldokumenten zeigt sich in dieser Zeit in der Publikation von Zeitschriften wie „Barrasī-hā-yi tārīḫī“ (1966–1978), die erstmals systematisch Originalquellen in Edition vorstellten.31 Der Herausgeber dieser Zeitschrift, Ǧahāngīr QĀʾIM-MAQĀMĪ, veröffentlichte dann auch 1971 die erste persische Einführung zur Quellenkunde und Diplomatik.32 Darin schlägt er eine Aufteilung in vier Gruppen von historischen Dokumenten vor: 1. Schriftzeugnisse und Dokumente zu Angelegenheiten des Alltags und zur Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander. Diese sind in zwei Untergruppen zu unterteilen: Asnād-i mālī [=Finanzdokumente] sind Urkunden, die finanzielle Dinge behandeln, wie Pfand- oder Kreditverträge (asnād-i rahn va baiʿ-i šarṭ), Kaufverträge (qabāla-hā-yi ḫarīd va furūš), Pacht- und Mieturkunden (asnād-i iǧāra va istiʿǧāra), Kontraktverträge (muqāṭaʿa-nāma-hā), Geldanweisungen (baravāt), etc.

|| 31 Generell ist festzuhalten, dass in und außerhalb Irans die simple Veröffentlichung von persischen historischen Dokumenten fundierte diplomatische Studien bei weitem übersteigt. Der Wert solcher Quelleneditionen sollte dennoch nicht unterschätzt werden, vgl. Hashem RAJABZADEH, Religious and Judicial Documents from Qajar Iran, with the cooperation of Kinji EURA and a preface by Kazuo MORIMOTO (Persian Documents Series 3), Tokyo 2016; DERS., Legal Deeds, Judicial Documents and Religious Documents from Qajar Iran, with the cooperation of Kinji EURA and a preface by Kazuo MORIMOTO (Persian Documents Series 4), Tokyo 2017. 32 Ǧahāngīr QĀʾIM-MAQĀMĪ, Muqaddamaʾī bar šināḫt-i asnād-i tārīḫī [=Eine Einführung zur Kenntnis historischer Dokumente] (Silsila-yi intišārāt-i Anǧuman-i ās̠ ār-i millī 84), Tihrān 1350š (1971); diese Einführung wird bis heute als Standardwerk im akademischen Unterricht verwendet.

152 | Christoph U. Werner Asnād-i ḥuqūqī va qażāʾī [=Rechts- und Gerichtsdokumente] sind Urkunden, die aus dem direkten finanziellen Austausch herausfallen, wie Testamente (vaṣiyat-nāma-hā), Rechtsvertretungsdokumente (vikālat-nāma-hā), Eheund Scheidungsverträge (qabālaǧāt-i nikāḥ va ṭalāq) oder Freilassungserklärungen von Sklaven (āzādnāma-yi ġulāmān). 2. Iḫvānīyāt, oder Korrespondenz und Briefe zwischen Freunden und Familienangehörigen 3. Sulṭānīyāt, oder höfische Schreiben und Korrespondenz zwischen Herrschern und Prinzen 4. Dīvānīyāt, oder Schriftstücke, die staatliche Angelegenheiten im weitesten Sinne behandeln und von Einrichtungen der Verwaltung erstellt werden.33 Man erkennt in dieser Aufteilung, dass sich hinter der ersten Einteilung die ‚Privaturkunden‘ verbergen und unter der letzten Gruppe öffentliche Erlasse, Dekrete und Urkunden der herrscherlichen Kanzlei(en), worauf QĀʾIM-MAQĀMĪ im Hauptteil seines Werkes dann ausführlicher eingeht. Auch dem des Persischen oder Arabischen nicht Mächtigen werden in der Transliteration zwei Begriffe aufgefallen sein, die rekurrierend und austauschbar verwendet werden: sanad (pl. asnād) mit der Bedeutung Dokument oder Urkunde und qabāla (pl. qabāla-hā bzw. qabālaǧāt) mit der Bedeutung Vertragsdokument oder Geschäftsurkunde. Beide Begriffe werden kaum definiert und sind sehr vage und breit zu verstehen; im Englischen kann man sie mit documents, deeds oder eben auch charters wiedergeben. Zu beachten ist insbesondere, dass der Begriff sanad (pl. asnād) nicht per se als rechtswirksame Urkunde zu verstehen ist, sondern als Dokument oder Schriftstück. Im iranischen Verständnis können darunter auch Briefe oder Quittungen gezählt werden, ebenso wie Rechnungen, Tabellen oder handschriftliche Notizen. Asnād ist am ehesten mit ‚Archivalien‘ wiederzugeben, daher auch der Name des iranischen Nationalarchivs als Sāzmān-i asnād-i millī-yi Īrān (= Nationale Archivbehörde Irans). Gerade dieser sehr lose Basisbegriff, der in seiner Definition auf den rechtlichen und rechtswirksamen Aspekt von ‚Urkunden‘ verzichtet, trägt viel dazu bei, dass genauere Differenzierungen in vielen Fällen vermieden werden. Bei den ‚Privaturkunden‘ der ersten Kategorie fällt vor allem auf, wie sehr die diplomatische Unterscheidung unausgesprochen an Grundkategorien des islamischen Vertragsrechts zwischen bilateralen und unilateralen Rechtsakten orientiert ist. Die Vernachlässigung der ‚Privaturkunden‘ ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass Form und Inhalte so stark mit dem Bereich der islamischen Rechtspraxis verbunden sind, dass die Notwendigkeit einer diplomatischen oder historisch-quellenkundlichen Analyse von QĀʾIM-MAQĀMĪ zu seiner Zeit noch nicht gesehen wurde.

|| 33 Ebd., S. 41–43.

Die ‚Privaturkunde‘ im persisch-islamischen Kultur- und Rechtsbereich | 153

Die Zuständigkeit für diese Art von Dokumenten lag dafür aus iranischer Sicht weniger bei den Historikern als bei den schiitischen Klerikern und Rechtsgelehrten. Dies änderte sich erst in jüngerer Zeit, durchaus dem zeitlichen Abstand geschuldet: in den 60er Jahren waren islamische Rechtspraxis sowie die entsprechenden Formulare und Termini vielen Menschen noch sehr viel näher, da die Säkularisierung des Rechtssystems erst Anfang der 30er Jahre eingesetzt hatte. Dennoch ist bis heute die Nähe der ‚Privaturkunden‘ zum islamischen Recht und der einschlägigen Rechtsliteratur in Iran stärker ausgeprägt als in der westlichen Forschung. Folgerichtig präsentiert Umīd RIŻĀʾĪ in seiner Einführung zu Rechtsurkunden der Qajarenzeit (1796– 1921) ein binäres System von asnād-i dīvānī (Kanzleiurkunden) und asnād-i šarʿī (schariarechtliche Urkunden) als die für Iran vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts gültige Unterteilung.34 Dabei steht der Gattungsbegriff der asnād-i dīvānī – am ehesten mit ‚Kanzleidokumente‘ zu übersetzen – dem der schariarechtlichen Dokumente gegenüber. Dies ist keinesfalls seine Erfindung, er stellt allerdings erstmals eine Zusammenfassung eines breiten, weitgehend terminologisch unreflektierten Gebrauchs zusammen und stellt sie in den Kontext einer neuen, übergreifenden Wissenschaft von Archivalien und Urkunden in Iran (ʿilm-i sanad-šināsī). Dabei ist er sich durchaus des ‚Privaturkundenbegriffs‘ in der westlichen Forschung bewusst und zitiert mit kritischer Distanz sowohl QĀʾIM-MAQĀMĪ wie auch GRONKE.35 Er weist vor allem die von GRONKE vorgeschlagene Definition der persisch-islamischen Privaturkunde (in seiner Rückübersetzung asnād-i ḫuṣūṣī für das Englische private documents) als unzureichend zurück, da sie zu sehr auf Transaktionen beschränkt sei und andere Gattungen nicht abdecken könne. Stattdessen schlägt er als Synthese der beiden Positionen von QĀʾIM-MAQĀMĪ und GRONKE eine neue Aufteilung vor: 1. Asnād-i šarʿī für alle Dokumente, die auf Grundlagen des islamischen Rechts bzw. der Rechtswissenschaft (fiqh) beruhen 2. Asnād-i ʿurfī für alle Dokumente, die der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung entstammen und in zwei weitere Gruppen aufzuteilen seien, asnād-i dīvānī, für

|| 34 Umīd RIŻĀYĪ, Dar-āmadī bar asnād-i šarʿī-yi daura-yi Qāǧār [NT: Introduction to Shari'a Documents from Qajar Iran] (Studia Culturae Islamicae 92), Tokyo 2008, S. 3–4; weitere Arbeiten: DERS., Ǧustārhāyī dar sanad-šināsī-yi fārsī [=Studien zur persischen Diplomatik], Tihrān 1385š (2006); DERS., Qabālahā-yi pārsī. Pardāziš-i ṣūrī va muḥtavāyī [=Persische Vertragsurkunden. Eine formale und inhaltliche Untersuchung], Qum 1388š (2009); DERS., Naẓarīyaʾī bar sabk-i mubāyaʿa-nāmanigārī-yi fuqahā-yi Šāfiʿī dar Kurdistān [=Ein Blick auf den Stil der Abfassung von Kaufverträgen bei šāfiʿitischen Rechtsgelehrten aus Kurdistan], in: Vaqf: Mīrās̱ -i ǧāvīdān, Nr. 66, 17 (1389š/2010), S. 38– 47. 35 Vgl. Monika GRONKE, The Arabic Yārkand Documents, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 49 (1986), S. 444–507.

154 | Christoph U. Werner Dokumente der Verwaltung, und asnād-i šaḫṣī, für ‚private Dokumente‘ im Sinne von Briefen, Finanzregistern etc. Der Eindruck, dass es sich hier um selbstbezogene Diskussionen dreht, die durchaus Aspekte von ‚lost in translation‘ abbilden, ist nicht ganz falsch. RIŻĀʾĪ bleibt der Hintergrund des Begriffs der ‚Privaturkunde‘ in der europäischen Diplomatik unklar, insbesondere lässt er sich auf den Urkundenbegriff nicht ein, sondern verbleibt wie QĀʾIM-MAQĀMĪ auf der Ebene eines Archivalienbegriffs im quellenkundlichen Sinn. Zu Recht kritisiert er die inkonsequente Übertragung des Begriffs der ‚Privaturkunde‘ auf Dokumente und Urkunden des islamischen Rechts, andererseits übernimmt er eine šarʿ versus ʿurf-Dichotomie, die ihrerseits in Teilen ein westlich-orientalistisches Konstrukt ist.36 Denn in der Dualität zwischen šarʿī und dīvānī schwingt eine weitere Asymmetrie mit: während šarʿī unmissverständlich die Rechtssphäre des islamischen Rechts (der Scharia) bezeichnet, steht dīvānī indirekt für ein öffentliches, staatliches, nicht-religiöses Recht – auch wenn das nicht ausgesprochen, sondern nur indirekt konnotiert wird. Die Frage stellt sich, ob eine rein an (islam-)rechtlichen Kategorien ausgerichtete Definition von Privaturkunden im islamischen Kontext wirklich ausreichend ist. Ebenfalls wäre zu überprüfen, ob die Einbeziehung von einschlägigen Formularbüchern und Sammlungen aus dem persisch-islamischen Bereich nicht verstärkt als Grundlage für diplomatische Kategorisierungen und ‚Taxonomien‘ dienen könnte.37

5 Praktische Anwendung des Begriffs der Privaturkunde: Regesten und Datenbanken Terminologische Diskussionen verbleiben so lange auf einer theoretischen und abstrakten Ebene, wie es zu keiner praktischen Anwendung kommen muss. Schon bei der Erstellung von Regesten und Verzeichnissen von heterogenem Material – unter den obigen Beispielen aus dem arabisch-islamischen Bereich waren die Ḥaram Dokumente, aus dem persisch-islamischen Bereich die Heiligtumsdokumente aus

|| 36 Vgl. Christoph WERNER, ʿUrf oder Gewohnheitsrecht in Iran. Quellen, Praxis und Begrifflichkeit, in: Michael KEMPER u. Maurus REINKOWSKI (Hgg.), Rechtspluralismus in der Islamischen Welt, Berlin 2005, S. 153–175. 37 Vgl. exemplarisch Muḥammad b. Sabzʿalī IṢFAHĀNĪ (mutavaffā pas az 1259), Vaǧīzat at-taḥrīr. Dar čigūnagī-yi tanẓīm-i asnād-i šarʿī, millī va ḥuqūqī dar daura-yi Ṣafavī va Qāǧār [=Vademecum der Komposition. Über die Art und Weise der Abfassung von rechtlichen, religiösen und schariarechtlichen Dokumenten in der Epoche der Ṣafaviden und Qāǧāren], hrsg. v. Rasūl ǦAʿFARĪYĀN, Qum 1393š (2014).

Die ‚Privaturkunde‘ im persisch-islamischen Kultur- und Rechtsbereich | 155

Ardabīl – stellt sich die Aufgabe der Kategorisierung, der Gliederung und der Unterteilung oft neu. Diplomatische Ansätze helfen dabei, historisches Quellenmaterial zu gliedern und somit besser zu verstehen und der Interpretation und Analyse zugänglich zu machen.38 Viele historische Fragestellungen können erst aus dem Prozess einer Systematisierung heraus entstehen und fruchtbar gemacht werden. Besonders deutlich stellt sich diese Herausforderung bei der Erarbeitung von Datenbankkategorien: für den persisch-islamischen Bereich ist das die Datenbank Asnad.org – „Digital Persian Archive: An Image Database of Persian Historical Documents from Iran and Central Asia up to the 20th Century“ –, die seit 2004 mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Repertorium persischer Urkunden aus Zentralasien und Iran fungiert.39 Dort wurde eine an europäischen, diplomatischen Kategorien orientierte Unterteilung in (1) Imperial and Royal Decrees (2) Letters and Correspondence und (3) Private Deeds vorgenommen, ergänzt durch einen detaillierten, offenen Katalog von einzelnen Formen nach ihren originalsprachlichen Bezeichnungen (z. B. farmān anstelle von diploma or decree bzw. mubāyaʿa anstelle von deed of sale). Die Kategorie der Privaturkunden (Private Deeds) erwies sich allerdings als unbefriedigend, vor allem in ihrer Begrenzung auf Rechtsurkunden bzw. Notariatsurkunden nach islamischem Recht. Auch die Einordnung von ‚Erlassen‘, die nicht aus herrscherlichen Kanzleien stammen, also Privaturkunden im engeren europäischen Sinne darstellen, von ‚Erlassen‘, die formal Herrscherurkunden folgen, aber religionsrechtliche Rechtsakte (z. B. Stiftungen) zum Inhalt haben und von privatrechtlichen Verträgen, die entweder nicht ausreichend formgebunden sind oder nicht in institutioneller Weise beglaubigt wurden, stellte sich als problematisch heraus. Gerade im Bereich der Rechtsurkunden, die in vielen Fällen ganz einfache und simple Gebrauchsurkunden sind, spielen sorgfältige und anspruchsvolle kalligraphische Ausführung und der Einsatz von Schmuckelementen kaum eine Rolle. In vielen Fällen lassen sich ausstellende Institutionen und Autoritäten, also zum Beispiel die Namen von Richtern oder notariell tätigen Rechtsgelehrten, nicht eindeutig nachweisen oder belegen.

|| 38 Zur Frage von Archiven und Archivbeständen vgl. Jürgen PAUL, Archival Practices in the Muslim World prior to 1500, in: Alessandro BAUSI u. a. (Hgg.), Manuscripts and Archives, Berlin 2018, S. 339– 360; Emad al-Din SHEIKH AL-HOKAMAEE, La vision religieuse des Safavides, la conservation des archives pré-safavides et l'altération des documents, trad. Francis Richard, in: Anne REGOURD (Hg.), Documents et histoire, Islam, VIIe–XVIe siècle (Actes des premières Journées d'étude internationales, École pratique des hautes études, IV section, musée du Louvre, département des Arts de l'Islam, Paris, 16 et 17 mai 2008), Genève 2013, S. 137–154. 39 Online unter http://www.asnad.org; eine Erweiterung auf den südasiatischen Bereich im Rahmen des von Nandini CHATTERJEE geleiteten ERC Projekts Lawforms ist für 2019 vorgesehen.

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Um zumindest einen kleinen Einblick in die Vielfalt von ‚Privaturkunden‘ aus dem persisch-islamischen Bereich zu geben, sollen zwei Beispiele kurz vorgestellt werden:

5.1 Beispiel 1

Abb. 1: Ausschnitt aus einer Ernennungsurkunde des Schreins von Abū Isḥāq Kāzarūnī, datiert 5 Ǧumādā I 826 (16.4.1423); Bildnachweis: www.asnad.org.

Diese Urkunde stammt aus dem Jahr 826 h. q. / 1423 und wurde von Seiten des in Kāzarūn, in der Provinz Fārs in Iran gelegenen Sufi-Schreins (Buqʿa oder Ḫānaqāh) von Abū Isḥāq Kāzarūnī ausgefertigt.40 Die von dem Vorsteher des Schreins, Kamāl

|| 40 Die Urkunde wurde erstmals veröffentlicht von Īraǧ AFŠĀR, Sanadī darbāra-yi buqʿa-yi Šaiḫ Muršid Kāzarūnī, in: Āyanda 5, 1–3 (1358š/1979), S. 136–146; die neue, deutlich verbesserte Lesung von ʿImād ad-Dīn ŠAIḪ AL-ḤUKAMĀʾĪ ist 2017 als Appendix zu einer Facsimile-Edition dieses Dokuments veröffentlicht worden; die Urkunde ist online verfügbar unter http://asnad.org/en/document/391/.

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ad-Dīn Muḥammad Muršidī, untersiegelte Urkunde ernennt einen gewissen Šaiḫ Saʿd ad-Dīn zum stellvertretenden Vorsteher dieses Schreins und stellt ihn als solchen vor. Die Urkunde emuliert herrscherliche Erlasse des 15. Jahrhunderts unter Verwendung eines archaisierenden Stils. Keinesfalls, weder optisch, noch strukturell, noch inhaltlich, noch rechtlich könnte man sie als schariarechtliches Dokument (sanad-i šarʿī) bezeichnen. Stattdessen handelt es sich nach europäischem Verständnis um eine ‚Privaturkunde‘, da der Aussteller der Vorsteher eines Sufi-Schreins ist, keine herrscherliche oder königliche Kanzlei. Man könnte sie nach Analogien suchend als eine ‚Kloster- oder Stiftsurkunde‘ bezeichnen. Der Schrein imitiert und spiegelt staatliche Verwaltungsstrukturen, und er nimmt einen Rechtsakt, in diesem Fall eine Ernennung, aus eigener Kraft vor. Dabei ist jedoch offensichtlich, dass die Institution als solche kein öffentliches Recht vertreten kann. ʿImād ad-Dīn ŠAIḪ AL-ḤUKAMĀʾĪ, der Herausgeber der jüngsten Edition dieses Dokuments, bezeichnet sie konsequenterweise als Urkunde im dīvānī-Stil (sanad-i šibh-i dīvānī). In einer binären, iranischen Sichtweise handelt es sich also um ein unechtes dīvānī-Dokument, aus einer europäisch-diplomatischen Perspektive jedoch um eine ‚Privaturkunde‘ par excellence.

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5.2 Beispiel 2

Abb. 2: Schenkungsurkunde von ʿAlīšāh Ẓill as-Sulṭān, datiert Muḥarram 1237 (beg. 28.09.1821); Bildnachweis: www.asnad.org.

In dieser aus dem Jahr 1237 h. q. / 1821 stammenden Schenkungsurkunde überträgt der qajarische Prinz ʿAlīšāh Ẓill as-Sulṭān (1796–1855), zur Zeit der Ausstellung Gouverneur von Teheran, eine Reihe von dort neu errichteten Ladengeschäften an seine nicht namentlich genannte gesetzliche Ehefrau, die Mutter von Saif al-Mulūk Mīrzā.41 Die islamrechtlich gewählte Form dieser Schenkung ist eine muvāhaba bzw. ein hibanāma. In Form und Inhalt handelt es sich um ein Dokument, das nach den Kategorien von QĀʾIM-MAQĀMĪ in den Bereich Asnād-i ḥuqūqī va qażāʾī fallen würde, also in den Bereich unilateraler Rechtsakte (eine Schenkung gilt wie eine Stiftung als einseitige Rechtserklärung). Nach der Definition von RIŻĀʾĪ handelt es sich um ein sanad-i šarʿī, um ein schariarechtliches Dokument, und im Verständnis GRONKEs folgerichtig um

|| 41 Maḥmūd AḤMADĪ, Yak ṭuġrā hiba-nāmā az ʿAlī-Šah Ẓill as-Sulṭān, in: Barrasī-hā-yi tārīḫī 13,1 (2537 šš/1978), S. 175–190; die Urkunde ist online verfügbar unter http://asnad.org/en/document/552/.

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eine ‚Privaturkunde‘, die notariell beglaubigt wurde. Dennoch fällt diese Privaturkunde optisch aus dem normalen Rahmen. In der Anordnung der zentralen graphischen Elemente und Textblöcke, insbesondere des Gotteslobs in der Mitte oben (invocatio), der Namensnennung des Schenkenden mit seinem Titel rechts oben (intitulatio) und vor allem der im Stil einer Tughra gefertigten Floskel „Und nach dem Lobpreis [Gottes] und den Segenswünschen [auf den Propheten und seine Familie]“ (anstelle einer Einleitungsformel wie „Ein weltbeherrschender Befehl ist ergangen“) emuliert diese Privaturkunde eine herrscherliche Urkunde und betont den Status des Prinzen als Mitglied der Herrscherfamilie mit Thronansprüchen. Diese Ansprüche waren durchaus real und führten dazu, dass er im Jahr 1834 gegen den Thronprinzen rebellierte. Die graphische Übernahme von Elementen herrscherlicher Urkunden in den Bereich der Privaturkunden ist keineswegs selten und beweist den Austausch diplomatischer Ausdrucksmittel zwischen Kanzleiurkunden (dīvānī) und Rechtsurkunden (šarʿī) im persisch-islamischen Bereich.42

6 Fazit Die beiden abschließenden Beispiele zeigen, dass der Begriff der ‚Privaturkunde‘ in seinen unterschiedlichen Ausformungen und Ausgestaltungen zwischen einer iranischen und einer europäischen Diplomatik durchaus zum Verständnis von Urkunden beitragen kann. Insbesondere eine Rückkehr zur auf die Aussteller bezogenen Grunddefinition der Privaturkunde erweist sich auch im persisch-islamischen Kontext als produktiv. Dies verhindert eine zu enge Fokussierung auf schariarechtliche Dokumente und hebt gemeinsame Kanzlei- und Ausfertigungspraktiken stärker hervor. Zugleich ist es wichtig, innerhalb bestehender Herrschaftssysteme ein stärkeres Augenmerk auf Aussteller und Ausstellungspraxis zu richten. Möglicherweise kann der Begriff der ‚Privaturkunde‘ zumindest als Anregung dienen, die von Prinzen, Gouverneuren oder hohen Beamten mit eigenen Kanzleiprärogativen ausgestellten Urkunden besser zu erfassen und von zentralen Herrschaftsurkunden unterscheiden zu können. Eine Aufgabe der Forschung besteht darin, innerhalb einer vergleichenden ‚islamischen Diplomatik‘ Prozessen mehr Raum zu geben und das islamische Urkundenwesen nicht als statisch, sondern als höchst innovativ und wandlungsfähig zu begreifen. Dies heißt unbedingt, nicht von einer bestimmten Epoche, meist der Frühzeit, auf spätere Zeiträume zu schließen; nicht das frühe Mittelalter als Norm und spätere Entwicklungen als Abweichung zu begreifen. Dabei geht es auch um die geographi-

|| 42 Zu diesem Thema existieren bislang keine detaillierten Studien.

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sche und sprachliche Erweiterung von Räumen jenseits eines oft sehr eng verstandenen arabisch-islamischen Kernbereichs zwischen Damaskus und Kairo: Rechtsdokumente zirkulierten oft weiter als vorgesehen und wiesen oft mehrsprachige Komponenten auf. Wie in diesem Beitrag deutlich wurde, stellt die Translation von Urkundenbegriffen jenseits einer deutschsprachigen Diplomatik noch immer eine entscheidende Herausforderung dar. Es scheint dabei symptomatisch, dass sich auch in der arabisch-islamischen Diplomatik die oft feinteilige und sprachlich ausbalancierte Analyse von Rechtsbegriffen und Urkundentypologien noch immer vorrangig auf Deutsch abspielt.43 Es ist somit Aufgabe einer komparatistischen Diplomatik, das Bewusstsein für die Notwendigkeit semantischer Differenzierungen in andere Sprachräume zu tragen, sowohl im vorliegenden Fall in das Persische, als auch in andere europäische Sprachen.44 Gerade diese Translationsvorgänge sollten dabei nicht als lästig, sondern als bereichernd empfunden werden und zu neuen Diskussionen anregen. In diesem Sinne muss es darum gehen, diplomatische ‚Arbeitslandschaften‘ und ‚Urkundenlandschaften‘, um Jonathan JARRETT zu zitieren45, stärker miteinander zu verbinden und zu verknüpfen, auch über den europäischen Rahmen hinaus. Der bereits 1961 formulierten Forderung von Heribert BUSSE nach mehr Komparatistik ist damit erneut Nachdruck zu verleihen: „Zu der Betrachtung eines ‚Urkundenkreises‘ muß die Betrachtung des Urkundenwesens benachbarter Gebiete treten, aus der isolierenden also eine ‚vergleichende‘ Diplomatik werden.“46 Man kann die Diskussion um die ‚Privaturkunde‘ zu Recht als trivial oder nebensächlich betrachten und sich dafür aussprechen, diesen vagen Begriff hinter sich zu lassen – man mag sie aber auch zum Anlass nehmen, Gewissheiten zu hinterfragen oder, wie in diesem Beitrag, die interkulturelle Geschichte der Diplomatik selbst darzustellen und auf ganz unterschiedliche Forschungslinien und Entwicklungen hinzuweisen. Wenn man darauf verzichtet, eine endgültige Definition der ‚Privaturkunde‘ liefern zu wollen und den Begriff mit kritischer Distanz stehen lässt, so sollte er als kreativer Platzhalter oder als ‚Verabredungsbegriff‘ durchaus auch weiterhin seinen Dienst tun.

|| 43 Vgl. MÜLLER (Anm. 24). 44 Vgl. Toru MIURA, A Comparative Study of Contract Documents. Ottoman Syria, Qajar Iran, Central Asia, Qing China and Tokugawa Japan, in: Maaike VAN BERKEL, Léon BUSKENS u. Petra M. SIJPESTEIJN (Hgg.), Legal Documents as Sources for the History of Muslim Societies. Studies in Honour of Rudolph Peters (Studies in Islamic Law and Society 42), Leiden 2017, S. 266–291. 45 Jonathan JARRETT u. Allan S. MCKINLEY (Hgg.), Problems and Possibilities of Early Medieval Charters, Turnhout 2013, S. 9; vgl. auch Sébastien BARRET, Dominique STUTZMANN u. Georg VOGELER (Hgg.), Ruling the Script in the Middle Ages. Formal Aspects of Written Communication (Books, Charters, and Inscriptions), (Utrecht Studies in Medieval Literacy 35), Turnhout 2016. 46 Busse (Anm. 7), S. 242.

| Teil 2: Urkunden als Schriftbilder zwischen Recht und Repräsentation

Peter Schwieger

Das Erscheinungsbild tibetischsprachiger Herrscherurkunden. Strategien zur Erzeugung von Feierlichkeit Zusammenfassung: Der Beitrag bietet einen kurzen Überblick über die Entwicklung tibetischer Urkunden in der Vormoderne und widmet sich dann insbesondere den Aspekten tibetischsprachiger Herrscherurkunden, die auf visuelle Herausstellung der Herrscherwürde zielten und von der Schrift und dem Beschreibstoff über Siegel bis hin zu Illuminationen reichen. Die Terminologie der europäischen Diplomatik lässt sich zudem sehr gut auf tibetische Herrscherurkunden anwenden, da viele der Formularbestandteile eine ganz ähnliche Funktion aufweisen. Auch der Manierismus einer diplomatischen Schrift mit auffällig großen Ober- und/oder Unterlängen lässt sich in Tibet nachweisen. Schlagwörter: Herrscherurkunden, Diplomatik, Tibet

Urkundenformular,

Urkundenlayout,

1 Einführung Der Begriff ‚Tibetische Schriftkultur‘ wird gemeinhin mit der ungeheuren Menge buddhistischer Literatur in tibetischer Sprache und der damit verbundenen Buchproduktion assoziiert. Weniger bekannt sein dürfte, dass parallel dazu in Tibet im Zuge von politischer Herrschaft und Verwaltung ein reichhaltiges Schrifttum an Urkunden und Akten produziert wurde. Aufgrund der gegenwärtigen politischen Gegebenheiten ist uns bisher nur ein kleinerer Teil der insgesamt erhaltenen Urkunden und Archivmaterialien zugänglich. Aber dieser Teil ist beträchtlich und geht bereits in die Tausende. Die uns vorliegenden tibetischsprachigen Urkunden decken den Zeitraum von der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts n. Chr. bis ins 20. Jahrhundert ab. Zum Vergleich: Die uns bekannte, d. h. durch seriöse Quellenforschung abgesicherte Geschichte Tibets reicht gerade mal bis in die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts zurück. Für die Einführung der Schrift gilt ein Datum Mitte des 7. Jahrhunderts als wahrscheinlich. Die tibetische Schrift ist eine rechtsläufige Buchstabenschrift, die sich an der Lautstruktur der Sprache orientiert. Sie gehört zum indischen Schriftenkreis, d. h. zu den Schriften, die sich aus der frühen indischen Brahmi-Schrift entwickelt haben. Es

|| Peter Schwieger, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Brühler Str. 7, 53119 Bonn, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-007

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gibt 30 Grapheme, die Konsonanten, Halbvokalen sowie Vokalen in der Silbenanfangsposition zugeordnet sind. Hinzu kommen vier Vokalzeichen, die als Diakritika über oder unter die anderen Grapheme geschrieben werden, sowie einige Ligaturen, die für die Wiedergabe von Konsonantenclustern verwendet werden. Konsonantencluster sind ein Charakteristikum des Schrifttibetischen und erscheinen im Schriftbild als Anhäufung von Basisbuchstaben, Prä-, Super- und Subskripten. Diese Konsonantencluster werden heute in den meisten tibetischen Dialekten nicht gesprochen, sind jedoch in der Schrift nach wie vor präsent und haben entsprechend komplizierte Ausspracheregeln zur Folge. Die tibetische Schrift trennt keine Worte, sondern Silben. Die Identifizierung der Wortgrenzen setzt folglich Kenntnisse der tibetischen Morphologie und Lexik voraus. Die wenigen Satzzeichen fungieren vor allem als fakultative Vortragszeichen. Bekannt auch über Fachkreise hinaus ist die tibetische Buchschrift. Sie wird insbesondere für tibetische Blockdrucke verwendet. Daneben sind jedoch im Laufe der Geschichte in Abhängigkeit vom Zweck eine ganze Reihe anderer Schriftarten entstanden. Dazu zählen nicht nur kalligraphisch ausgefeilte Schriftarten, wie sie vor allem bei der Ausstellung von besonders repräsentativen Urkunden verwendet wurden, sondern auch flüchtige Geschäftsschriften und im Bereich der religiösen Literatur entstandene dekorative Schriftarten und Geheimschriften.

2 Historischer Überblick Ordnet man tibetischsprachige Urkunden den verschiedenen Perioden der tibetischen Geschichte zu, so lassen sich die Urkunden grob in solche der Yarlung-Dynastie (Yar klung),1 der Sakya-Mongolen-Herrschaft (Sa skya), der anschließenden fragmentierten Herrschaft lokaler Herrscher des tibetischen Adels und der Herrschaft des Ganden Podrang (dGaʼ ldan pho brang) – oder vereinfacht gesagt der Periode der Dalai-Lamas – unterteilen. Die Yarlung-Könige schufen das tibetische Großreich, das vom 7. bis zum 9. Jahrhundert ungefähr zeitgleich und zumeist in Rivalität zum chinesischen Kaiserreich der Tang-Dynastie existierte. Herrscherurkunden dieser Zeit sind als Steininschriften überliefert. Die daneben auf Papier fixierten und zum Teil detaillierteren archivierten

|| 1 Tibetische Namen und Begriffe werden hier um der besseren Lesbarkeit Willen in einer vereinfachten, sich ungefähr an der heutigen Aussprache orientierenden Transkription wiedergegeben. Beim ersten Auftreten tibetischer Namen und Begriffe wird in Klammern die auf Turrell WYLIE zurückgehende Transliteration hinzugefügt: Turrell WYLIE, A Standard System of Tibetan Transcription, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 22 (1959), S. 261–267. Den in Pinyin-Transkription wiedergegebenen chinesischen Begriffen werden bei ihrem ersten Auftreten die chinesischen Schriftzeichen hinzugefügt.

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Fassungen sind nicht erhalten. Die Texte wurden in Stelen eingraviert, die allgemein zugänglich an prominenten Stellen aufgestellt wurden. Am berühmtesten ist der tibetisch-chinesische Friedensvertrag von 821/22, dessen Steinsäule bis heute vor dem Eingang des Jokhang (Jo khang), des bedeutendsten buddhistischen Tempels in Lhasa, steht.2 Ebenfalls berühmt ist ein Erlass aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts.3 Graviert in eine Stele im ältesten buddhistischen Kloster Tibets, ist es das älteste Schriftzeugnis zum Buddhismus in Tibet. Mit dem Erlass garantierte der damalige Herrscher Besitzrechte des Klosters. Von der Form her handelt es sich bei den Herrscherurkunden der tibetischen Königszeit um Notitiae, d. h. sie fixieren eine zuvor durch Eidesleistung vollzogene Rechtshandlung. In den späteren Perioden der tibetischen Geschichte wurde die Notitia abgelöst durch die Charta. Lediglich in der Peripherie des tibetischen Sprach- und Kulturraums sowie im Bereich tibetischer Privaturkunden finden sich auch weiterhin Beispiele für die Form der Notitia.4 Nach einer Periode politischer Fragmentierung wurde Tibet im 13. Jahrhundert wieder weitgehend unter eine einheitliche Herrschaft integriert. Die Mongolen zwangen Tibet unter ihre Oberhoheit und regierten es für etwa hundert Jahre mit Hilfe der Hierarchen der tibetisch-buddhistischen Sakya-Schule und mit Rückendeckung mongolischer Truppen. Mit der Proklamation der Yuan-Dynastie durch Khubilai Khan (1215–1294, r. 1260–1294) im Jahr 1271 wurde Tibet ein gesondert verwalteter Teil des Yuan-Imperiums. Aus dieser Zeit sind uns mongolischsprachige Herrscherurkunden für tibetische Empfänger erhalten.5 Sie wurden von den Kaisern der Yuan-Dynastie, Kaiserwitwen und kaiserlichen Prinzen ausgestellt. Geschrieben wurden sie in einer Variante der Pakpa-Schrift (ʼPhags pa). Hierbei handelt es sich um die Schrift, die der tibetische Sakyapa-Geistliche (Sa skya pa) und erste kaiserliche Lehrer Pakpa (1235–1280) im Auftrag Khubilai Khans kreiert und die der Khan 1269 als einheitliche Schrift für die verschiedenen Sprachen des Reiches proklamiert hatte.6

|| 2 Hugh RICHARDSON, A Corpus of Early Tibetan Inscriptions (James G: Forlong series 29), London 1985, S. 106–143. 3 RICHARDSON (Anm. 2), S. 26–31. 4 Vgl. hierzu Dieter SCHUH, Ergebnisse und Aspekte tibetischer Urkundenforschung, in: Louis LIGETI (Hg.), Proceedings of the Csoma de Kőrős Memorial Symposium. Held at Mátrafüred, Hungary, 24–30 September 1976, Budapest 1978, S. 411–425, hier S. 423–425. 5 SGROLKAR, XIAO, VODZER u. a. (Hgg.), A Collection of Historical Archives of Tibet. Xizang lishi dang’an huicui (西藏历史档案荟萃). Bod kyi lo rgyus yig tshags gces bsdus, Beijing 1995, Nr. 1–6, 13. Karl-Heinz EVERDING, Herrscherurkunden aus der Zeit des mongolischen Großreiches für tibetische Adelshäuser, Geistliche und Klöster. Teil 1: Diplomata Mongolica. Mittelmongolische Urkunden in ’Phags pa-Schrift. Edition, Übersetzung, Analyse (Monumenta Tibetica Historica III/8), Halle (Saale) 2006. 6 Vgl. EVERDING (Anm. 5), S. 17–18.

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Tibetischsprachige Urkunden dieser Aussteller sind uns nicht im Original, sondern eingebettet in historiographischen Texten überliefert.7 Im Original liegen uns aus jener Zeit jedoch tibetischsprachige Herrscherurkunden eines anderen Ausstellers vor.8 Schon im Jahr vor der Proklamation der Yuan-Dynastie hatte Khubilai Khan den höchsten Geistlichen der Sakyapa zum kaiserlichen Lehrer ernannt. Als solcher residierten er und seine Nachfolger im Amt die meiste Zeit fernab von Tibet in der kaiserlichen Hauptstadt, die der Khan auf dem Gebiet des heutigen Peking errichtet hatte. Im Namen des Herrschers, d. h. versehen mit einer expliziten Autorisierungsformel, stellten auch sie für Tibet Herrscherurkunden aus. Überwiegend wurden durch beide Arten von Urkunden entweder Besitzrechte und Privilegien, v. a. Befreiung von Steuerleistungen und Frondiensten, gewährt und bestätigt oder Amtspersonen ernannt. Häufig waren die Empfänger der uns erhaltenen Urkunden tibetische Klöster. Die ihnen auf diese Weise gewährten Begünstigungen glichen in jeder Hinsicht jenen, die auch religiösen Einrichtungen anderer Religionen in den übrigen Teilen des Imperiums gewährt wurden. Diesen Umstand heben sogar die Narrationes einer Reihe uns erhaltener Herrscherurkunden hervor, welche die Großkhane – von Khubilai Khan (reg. 1260–1294) bis Toghon Temür (reg. 1333– 1368) – sowie mongolische Prinzen für tibetische Geistliche und Klöster ausgestellt haben. In stets ähnlich lautenden Formulierungen heißt es darin, dass die jeweils früheren Großkhane bereits per Erlass verfügt haben, „die buddhistischen Mönche, die Christen [und] die Taoisten – ohne dass sie sich um irgendwelche Abgaben [und] Steuern zu kümmern haben – zum Himmel beten und Wunschgebete vollziehen zu lassen.“ In einigen dieser Urkunden wurden den Buddhisten, Christen und Taoisten ausdrücklich auch die Muslime hinzugefügt.9 Bereits mit dem Niedergang der Yuan-Dynastie Mitte des 14. Jahrhunderts endete auch die Macht der Sakyapas in Tibet. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die

|| 7 Vgl. hierzu Dieter SCHUH, Erlasse und Sendschreiben mongolischer Herrscher für tibetische Geistliche. Ein Beitrag zur Kenntnis der Urkunden des tibetischen Mittelalters und ihrer Diplomatik (Monumenta Tibetica Historica III/1), Sankt Augustin 1977; Karl-Heinz EVERDING, Herrscherurkunden aus der Zeit des mongolischen Großreiches für tibetische Adelshäuser, Geistliche und Klöster. Teil 2: Diplomata Tibetica. Die vierzehn Urkunden für die Tausendschaft Mus. Mit einer Studie zur historischen Entwicklung des Mus chu-Tales im westlichen gTsang in der Zeit des 12.–15. Jahrhunderts (Monumenta Tibetica Historica III/9), Halle (Saale) 2006, S. 63–168. 8 SGROLKAR, XIAO, VODZER u. a. (Anm. 5), Nr. 9–12. 9 Siehe EVERDING (Anm. 5), Dokumente I–III, V, X (insbesondere S. 42, 50, 59, 79, 116). Vgl. auch Karénina KOLLMAR-PAULENZ, Religiöser Pluralismus im mongolischen Weltreich: Die Religionspolitik der Mongolenherrscher, in: Martin BAUMANN u. Samuel M. BEHLOUL (Hgg.), Religiöser Pluralismus: Empirische Studien und analytische Perspektiven, Bielefeld 2005, S. 69–92, hier S. 88. Der Umstand, dass Kleriker und Einrichtungen verschiedener Religionen zu Zeiten der Yuan-Dynastie von Steuern und Frondiensten befreit wurden, bedeutet nicht, dass es keinerlei Bevorzugung oder Benachteiligung der Anhänger der einen oder anderen Religion gegeben hat. Zu diesem Thema ebd., S. 87–88; Morris ROSSABI, Khubilai Khan. His Life and Times, Berkeley, Los Angeles, London 1988, S. 199–205.

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politische Herrschaft in Tibet erneut fragmentiert. Zentraltibet wurde in dieser Zeit von verschiedenen Familien der Aristokratie regiert, die jeweils in einem engen Patronatsverhältnis zu bestimmten buddhistischen Schulen standen. Kennzeichnend für diese Epoche ist eine Rivalität zwischen den beiden zentraltibetischen Provinzen. In die gewaltsamen Auseinandersetzungen um Macht und Vorherrschaft wurden auch die buddhistischen Schulen hineingezogen. In Osttibet konnten in dieser Zeit Sakya-Hierarchen regional begrenzt auch weiterhin weltliche Herrschaft ausüben. Aus dieser Zeit liegen uns zwei Arten von Herrscherurkunden vor: von zentraltibetischen Lokalherrschern ausgestellte Urkunden und von Kaisern der Ming-Dynastie für tibetische Rezipienten ausgestellte Urkunden. Letztere sind in der Regel zweisprachig und sowohl in chinesischer als auch in tibetischer Schrift fixiert. Bei ihnen handelt es sich ausschließlich um Urkunden, mit denen tibetischen Empfängern kaiserliche Ehrentitel verliehen wurden. Verbunden mit der Titelverleihung war die Übersendung eines kaiserlichen Siegels. Über die für tibetische Empfänger lukrative Etablierung eines förmlichen Tributverhältnisses hinaus implizierte die Titelverleihung keine Gewährung von Besitzrechten oder Privilegien und bedeutete auch nicht die Inklusion in das chinesische Beamtensystem. Die von den Ming-Kaisern verliehenen Titel und übersandten Siegel gaben ihren Empfängern dennoch in der tibetischen Gesellschaft Prestige. Zudem wurden sie von tibetischen Herrschern durchaus als Legitimationsnachweis für ihre Herrschaft benutzt. In dieser Funktion erscheinen Titel und Siegelabdruck dann auch auf tibetischen Herrscherurkunden jener Zeit. Soweit bekannt, weisen sie im Unterschied zu den tibetischen Herrscherurkunden der Sakya-Yuan-Periode im Eingangsprotokoll keine Autorisierungsformel auf. Mit anderen Worten: Tibetische Herrscher handelten hier nicht auf Weisung des chinesischen Kaisers bzw. führten nicht lediglich kaiserliche Weisungen aus. Auch waren diejenigen, die diese Titel und Siegel bei der Ausstellung von Urkunden verwendeten, nicht zu allen Zeiten auch diejenigen, die über die größte Macht verfügten.10 Von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bekam Tibet wieder eine Herrschaft, die nicht nur Zentraltibet einigte, sondern zeitweise auch ganz Osttibet unter eine einzige Herrschaft integrierte. An der Spitze standen die aufeinanderfolgenden Reinkarnationen des Dalai-Lama. Nicht immer hatten sie auch de facto die Macht. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lag die tatsächliche Macht in den Händen von Vertretern des Adels. In der übrigen Zeit standen häufig Regenten an der Spitze der tibetischen Regierung. Doch gehörten die Regenten mit einer Ausnahme ebenso wie die Dalai-Lamas alle zur buddhistischen Geluk-Schule (dGe lugs).

|| 10 Vgl. hierzu Peter SCHWIEGER, Significance of Ming Titles Conferred Upon the Phag mo gru Rulers. A Reevaluation of Chinese-Tibetan Relation During the Ming Dynasty, in: The Tibet Journal 34,3/4 u. 35,1/2 (2010) Special Issue: Roberto Vitali (Hg.), The Earth Ox Papers. Proceedings of the International Seminar on Tibetan and Himalayan Studies, S. 313–328.

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Beruhte die Macht zunächst auf einer engen Bindung an westmongolische Gruppierungen, wurde Tibet ab 1720 in das von den Mandschuren errichtete Imperium der Qing-Dynastie integriert. Tibet behielt eine eigene Regierung und Verwaltung, unterstand aber nun dem Lifan Yuan (理藩院), dem Ministerium zur Verwaltung der äußeren Schutzgebiete. Vom Zusammenbruch der Qing-Dynastie Ende des Jahres 1911 bis zur Besetzung Tibets durch die Truppen der Volksrepublik China im Jahr 1951 betrachtete sich die tibetische Regierung als unabhängig. Völkerrechtlich wurde der politische Status Tibets in dieser Zeit jedoch nicht abschließend geklärt. Aus dieser etwa dreihundert Jahre währenden Epoche der tibetischen Geschichte liegen uns die meisten Herrscherurkunden vor. Ausgestellt wurden sie von den DalaiLamas, den Regenten, dem tibetischen Ministerrat, zeitweise auch von den Khanen der Khoschoten und den vorübergehend regierenden aristokratischen Herrschern Tibets, des Weiteren von den in Lhasa residierenden Vertretern des Kaisers und schließlich von den aufeinander folgenden Kaisern der Qing-Dynastie selbst. Die Vielfalt derer, die in jener Zeit Herrscherurkunden ausstellten, zeigt bereits an, dass die politischen Verhältnisse bisweilen äußerst kompliziert waren und sich während dieser Zeit auch mehrfach gravierend veränderten. Die Urkunden regelten Ernennungen, Titelverleihungen, Gewährung und Bestätigung von Besitzrechten und Privilegien und Rechtsstreitigkeiten. Hinzu kommen Reisebegleitschreiben und regelmäßige Generalerlasse.

3 Das Erscheinungsbild tibetischsprachiger Herrscherurkunden Tibetische Herrscherurkunden unterscheiden sich in der Regel von Privaturkunden11 bereits durch ihr repräsentables Erscheinungsbild. Doch gibt es hinsichtlich der äußeren Erscheinung auch innerhalb der Herrscherurkunden beträchtliche Unterschiede. Die schlichteste Form der Herrscherurkunde ist die sogenannte Anfangsnotiz, wie sie uns aus der Herrschaftsperiode der Dalai-Lamas bekannt ist.12 Sie wurde einfach über eine eingereichte Petition geschrieben und zur Beglaubigung untersie-

|| 11 Bei den tibetischen Privaturkunden handelt es sich um Kauf- und Pachtverträge, Eheverträge, Testamente, Verpflichtungserklärungen, Schuldscheine, Quittungen, Freistellungsbelege, Teilungsurkunden usw. Reichhaltiges Quellenmaterial hierzu verzeichnet, ediert und beschreibt Hanna SCHNEIDER, Tibetischsprachige Urkunden aus Südwesttibet (sPo-rong, Ding-ri und Shel-dkar), 2 Bde. (Verzeichnis der Orientalischen Handschriften in Deutschland XI, 16/ XI, 17), Stuttgart 2012. 12 Zum Typus dieser Herrscherurkunden vgl. Dieter SCHUH, Zum Entstehungsprozeß von Urkunden in den tibetischen Herrscherkanzleien, in: Ernst STEINKELLNER u. Helmut TAUSCHER (Hgg.), Contributions on Tibetan Language, History and Culture, Wien 1983, Bd. 1, S. 303–328, hier S. 319–321.

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gelt. Eine korrekt formatierte Eingabe hatte daher am oberen Rand einen entsprechend ausreichenden Raum freizulassen. Der Respekt vor dem höhergestellten Adressaten verlangte einen weiteren großen Abstand zwischen der Nennung des Adressaten und dem Text der eigentlichen Petition. Die folgende Abbildung (Abb. 1) zeigt eine Eingabe zusammen mit einer solchen ‚Anfangsnotiz‘ genannten Herrscherurkunde aus dem Jahr 1819.13 Die Eingabe wurde vom Haushalt eines hochstehenden reinkarnierten Geistlichen eingereicht. Die Herrscherurkunde wurde vom damaligen Regenten ausgestellt.

Abb. 1: Eingabe zusammen mit einer Anfangsnotiz genannten Herrscherurkunde (1819).

|| 13 Digitized Tibetan Archives Material at Bonn University: Documents of Kündeling Monastery in Tibet, ID 897 (abrufbar unter: dtab.uni-bonn.de). Die Urkunde befindet sich heute in den Tibet Autonomous Region Archives, Xizang zizhiqu Danganguan 西藏自治区档案馆, in Lhasa.

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Darüber hinaus reichen die Unterschiede im Erscheinungsbild von Herrscherurkunden von der Wahl des Beschreibstoffs über die Größe der Urkunde, die jeweils verwendete Schriftart, die Schriftgröße, die kalligraphische Sorgfalt, den Zeilenabstand, die Mittel zur respektvollen Hervorhebung einzelner Personennamen und Titel, die Illumination, das verwendete Siegel, die Farbe des Stempelabdrucks bis hin zur Formatierung des Textes. Aufwendig gestaltete tibetischsprachige Herrscherurkunden waren nicht lediglich Rechtsinstrument, sondern fungierten darüber hinaus als feierlicher, Respekt einfordernder Ausdruck von Macht und Herrschaft, der selbst für diejenigen sichtbar war, die selbst nicht lesen und schreiben konnten. Beim Beschreibstoff handelte es sich überwiegend um handgeschöpftes Papier, wie es in Tibet bis heute noch auf der Basis von Seidelbastgewächsen hergestellt wird und dessen einzelne, hochformatige Bögen bei Bedarf zu mehrere Meter langen Rollen zusammengeklebt werden konnten. Das Papier konnte zusätzlich mit Seide unterlegt werden, die wenige Zentimeter über den Urkundenrand hinausragt und über den Rand geklappt wird. Für ein besonders repräsentatives Erscheinungsbild von Herrscherurkunden wurde der Text unmittelbar auf chinesische Seide geschrieben. Als Schreibstoff verwendete man eine aus Ruß gefertigte Tinte. Personennamen und Titel konnten entweder durch ein vorangestelltes spezielles Graphem zum Ausdruck von Respekt oder aber durch Verwendung roter oder goldener Tinte hervorgehoben werden. Geschrieben wurde mit einem einseitig zugespitzten Bambusstäbchen, das an der Spitze leicht gesplissen war, um die Tinte aufnehmen zu können. Die im tibetischen Urkundenwesen verwendeten Schriftarten reichen von flüssig geschriebenen Gebrauchsschriften bis hin zu speziellen Urkundenschriften, deren eleganteste Formen durch besonders lang gezogene Unterlängen und einen dementsprechenden Zeilenabstand auffallen. In der Regel wurde für eine Urkunde jeweils ein und dieselbe Schriftart gewählt, es sei denn, der Urkunde wurden später am unteren Rand ein oder mehrere Konfirmationsvermerke hinzugefügt. Solche Konfirmationsvermerke springen vielfach nicht nur durch einen anderen Duktus, sondern auch durch eine andere Schriftart ins Auge. Stand bei einer Urkunde allein ihre Funktion als Rechtsdokument im Vordergrund, so genügte häufig eine einfache Geschäftsschrift. Ihr eiliger Charakter konnte durch zahlreiche Ligaturen und Abkürzungen noch gesteigert werden. Auch wenn diese im Tibetischen ,laufende Schrift‘ genannte Schriftart von ihrem äußeren Bild her durchaus Ähnlichkeiten mit den bei uns gebräuchlichen Kursiven aufweist, so werden doch in dieser Schrift die einzelnen Buchstaben nur in Einzelfällen miteinander verbunden. Hinzukommen konnte jedoch eine Betonung elliptischer Bögen und kreisförmiger Schnörkel. Ein solcher schwungvoll-dynamischer Schreibstil war nicht allein abhängig vom Elan des jeweiligen Schreibers, sondern lässt sich nach meinem

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bisherigen Eindruck zumindest in seinen extremen Ausprägungen auch zeitlich und räumlich näher eingrenzen.14 Auf tibetischen Herrschersiegeln findet sich neben der tibetischen Buchschrift und der indischen Lantsa-Schrift vor allem eine Variante der bereits erwähnten Pakpa-Schrift, im Tibetischen auch Hor-Schrift genannt. Sie wurde von oben nach unten geschrieben. Die Spalten wurden von links nach rechts angeordnet. Zur Auffüllung von Spalten wurden Pseudographeme verwendet, deren Form nicht vorgeschrieben war.15 Die den tibetischen Herrschern von den Kaisern der Ming- und QingDynastie übersandten Siegel konnten zudem chinesische, mongolische und mandschurische Aufschriften aufweisen. War dies der Fall, so wurde für das Tibetische die tibetische Buchschrift verwendet. Stempelabdrücke konnten rot oder schwarz sein. Während für die in der Pakpa-Schrift geschriebenen mongolischsprachigen Herrscherurkunden der Sakya-Yuan-Periode ein Querformat verwendet wurde, dessen Höhe etwas mehr als einen halben Meter betrug und dessen Länge von zwei bis über vier Metern variierte, wurde für die tibetischsprachigen Urkunden jener Zeit ein Hochformat zwischen 55 und 56 cm Breite und einer Höhe zwischen 90 und 140 cm gewählt. Beschreibstoff war in beiden Fällen Papier, das nicht gerollt, sondern in regelmäßigen Abständen gefaltet wurde. Bei den tibetischsprachigen Urkunden betrugen die Abstände in der Regel zehn bis elf cm. Bei beiden Formaten wurden Intitulatio und Publicatio auch von der äußeren Erscheinung her hervorgehoben, wobei die Publicatio zwar noch eingerückt war, aber bisweilen absatzlos in den übrigen Kontext übergehen konnte. Außerdem wurde in den tibetischsprachigen Urkunden an oberster Stelle die Autorisierungsformel hinzugefügt. Wenn ich hier die aus der Diplomatik mittelalterlicher Urkunden bekannte Terminologie verwende, so folge ich damit einer Tradition, die seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an der Bonner Universität von Dieter SCHUH etabliert wurde. Die Tibeter selbst haben für die einzelnen Urkundenteile keine Begriffe geprägt. Mit der uns vertrauten Terminologie lassen sich jedoch die verschiedenen Teile tibetischer Urkunden klar und eindeutig voneinander abgrenzen, da ihr Aufbau weitgehend dem aus den Urkunden des europäischen Mittelalters bekannten Formular entspricht. Hiermit ist jedoch keinerlei entstehungsgeschichtliche Nähe impliziert, sondern lediglich eine funktionale und formale Übereinstimmung angezeigt, die sich durch Zweck und Verwendung erklärt. Prägend für die Gestaltung und weitere Ent-

|| 14 Vgl. Peter SCHWIEGER, Some Palaeographic Observations on Tibetan Legal Documents, in: Orna ALMOGI (Hg.), Tibetan Manuscript and Xylograph Traditions. The Written Word and Its Media within the Tibetan Culture Sphere, Hamburg 2016, S. 243–266, hier S. 259–263. 15 Dieter SCHUH, Grundlagen tibetischer Siegelkunde. Eine Untersuchung über tibetische Siegelaufschriften in Phags-pa-Schrift (Monumenta Tibetica Historica III/5), Sankt Augustin 1981, S. 44.

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wicklung tibetischer Urkunden ab dem 13. Jahrhundert dürfte das mongolische Kanzleiwesen gewesen sein, was seinerseits in Anlehnung an das Kanzleiwesen unterworfener Völkerschaften entwickelt wurde. Selbstverständlich müssen nicht in jedem Einzelfall alle uns bekannten Urkundenteile vorliegen. So ist beispielsweise im Falle von Herrscherurkunden eine Intitulatio nicht zwingend vonnöten, da der Aussteller im Prinzip auch durch den jeweils als Beglaubigungsmittel verwendeten Siegelstempel identifiziert wird. Doch in den Fällen, in denen eine Herrscherurkunde eine Intitulatio aufweist, verleiht sie ihr bereits durch den deutlichen Abstand, mit dem sie vom übrigen Urkundentext abgesetzt wird, ein höheres Maß an Feierlichkeit. Eher selten liegt eine Arenga vor. Umso mehr vermag ihre Verwendung daher im Einzelfall einer Urkunde ein besonderes Gewicht zu verleihen, indem sie ihre Ausstellung zu den allgemeinen Prinzipien der Herrschaft in Beziehung setzt.16 Tibetische Urkunden können kurzgefasst, aber auch sehr umfangreich sein, nicht nur durch Auflistung zahlreicher Zeugen, sondern vor allem durch ausführliche und detaillierte Narrationes. Weitgehend frei von formelhaften Elementen stellen Narrationes tibetischer Urkunden für die historische Forschung daher eine wahre Fundgrube dar. Schauen wir uns eine tibetischsprachige Urkunde der Sakya-Yuan-Zeit näher an.17 (Abb. 2) In der ersten Zeile – also an hervorgehobener Stelle, eingerahmt von Abschnittsanfangs- und Abschnittsendmarkierungen – sehen wir die wenigen Silben der Autorisierungsformel: rgyal po‘i lung gis,18 die wir in diesem Kontext gewöhnlich mit „auf Weisung des Kaisers“ übersetzen. Mit der Verwendung des Begriffs ‚Kaiser‘ folgen wir lediglich einer Konvention, der zufolge in der westlichen Literatur die Herrscher der aufeinander folgenden Dynastien des chinesischen Imperiums als Kaiser bezeichnet werden. In unserem speziellen Fall fungiert der analoge tibetische Begriff allerdings strenggenommen als Äquivalent zum mongolischen Begriff khan und nicht zum chinesischen huangdi (皇帝), dem wir in späteren Urkunden durchaus des Öfteren in einer tibetischen Transkription begegnen. Bei dem tibetischen Begriff handelt es sich um ein von dem Verb „siegen, siegreich sein“ abgeleitetes Nomen Agentis, das in der tibetischen Übersetzungsliteratur im Allgemeinen als Äquivalent zu Sanskrit rāja verwendet wurde und gemeinhin, also etwa im Rahmen tibetischer Erzählliteratur oder tibetischer Chroniken, von uns als ‚König‘ übersetzt wird.

|| 16 Zu einem Beispiel vgl. Peter SCHWIEGER, Teilung und Reintegration des Königreichs von Ladakh im 18. Jahrhundert. Der Staatsvertrag zwischen Ladakh und Purig aus dem Jahr 1753 (Monumenta Tibetica Historica III/7), Bonn 1999, S. 22, 180–185. 17 Die Urkunde befindet sich heute in den Tibet Autonomous Region Archives, Xizang zizhiqu Danganguan 西藏自治区档案馆, in Lhasa. Publiziert wurde die Urkunde in SGROLKAR, XIAO, VODZER u. a. (Anm. 5), Nr. 11. 18 Bei tibetischsprachigen Zitaten verwende ich die Transliteration nach WYLIE (Anm. 1).

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Abb. 2: Herrscherurkunde der Sakya-Yuan-Zeit (1321).

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In der zweiten Zeile – eingerückt um die Länge der Autorisierungsformel – folgt die Intitulatio zusammen mit dem Proklamationsnomen: „Rede des Künga Lodrö Gyeltsen Pel Zangpo19 dishi.“ Da das Tibetische da, wo das Deutsche rechtsverzweigend ist, nach links verzweigt, ist die Wortstellung im Tibetischen genau umgekehrt: Zuerst kommt der Name, dann der Titel, daran angefügt das Suffix zur Markierung des Genitivs und schließlich das Proklamationsnomen. Bei dem Titel handelt es sich um die Transkription des chinesischen Begriffs dishi (帝師), „kaiserlicher Lehrer“. Der hier Genannte war bereits der achte kaiserliche Lehrer und fungierte als solcher von 1314 bis 1327. Wiederum um die Hälfte der Länge der Intitulatio eingerückt folgt in den nächsten drei Zeilen die Publicatio. Sie muss nicht in jedem Fall drei Zeilen umfassen; manchmal sind es auch nur zwei: „Gesandt an die Oberhäupter des Befriedungsamtes (xuanweisi 宣慰司) in Dokham (mDo khams), die Oberhäupter des Amtes zur Unterdrückung von Rebellionen (zhaotaosi 招討司), die Landesschützer (genannten ortsansässigen Bevollmächtigten)20, die Hundertschaftsführer, die Zehnerschaftsführer und die einfachen Leute.“ Die übrigen Teile des Urkundenformulars, hier beginnend mit der sechsten Zeile, sind nun nicht mehr optisch voneinander abgegrenzt. Lediglich die letzten Silben des Schlussprotokolls sind durch ihre Mittelstellung hervorgehoben, was aber nicht bei jeder dieser Urkunden der Fall sein muss. Im Bereich der Publicatio und des Schlussprotokolls findet sich jeweils der rote Abdruck des Siegels des kaiserlichen Lehrers. Gelegentlich wird für die erste Position auch ein kleineres Siegel verwendet, während am unteren Ende der Urkunde stets ein großer Siegelabdruck zu sehen ist. Vom Ende der Sakya-Mongolen-Herrschaft in der Mitte des 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die politischen Geschicke Zentraltibets im Wesentlichen von drei Herrscherfamilien bestimmt. Aus den langwierigen, auch mit militärischen Mitteln geführten Streitigkeiten mit den Sakyapas gingen zunächst die Pakmodrupa (Phag mo gru pa) aus dem Lang-Klan (rLangs) als Sieger hervor. Sie waren fortan zunächst nicht nur de facto die Herrscher über Zentraltibet, sondern wurden als solche auch formal vom letzten Kaiser der Yuan-Dynastie anerkannt. Sie hatten ihren Sitz in der östlichen der beiden zentraltibetischen Provinzen. Eine wichtige Rolle spielten sie als erste Patrone einer neuen buddhistischen Schule, aus der dann die Reinkarnationen der Dalai-Lamas und Panchen-Lamas hervorgingen.

|| 19 Wylie-Transliteration: Kun dga’ blo gros rgyal mtshan dpal bzang po. 20 Luciano PETECH, Central Tibet and the Mongols. The Yüan‒Sa-skya Period of Tibetan History (Serie Orientale Roma 65), Roma 1990, S. 11, 56, 88, beschreibt die sogenannten Landesschützer (yul bsrungs, yul srung) als lokale Vertreter der mongolischen Prinzen in den ihnen jeweils als Apanage überlassenen tibetischen Territorien. Der Titel taucht jedoch auch noch in tibetischsprachigen Urkunden der Yuan-Zeit auf, die nach Auflösung des Apanagesystems ausgestellt wurden.

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Nur wenige Herrscherurkunden der Pakmodrupa liegen uns bislang vor. Sie stammen aus einer Zeit, als sie ihre Vorherrschaft bereits de facto an die Fürsten der westlichen Nachbarprovinz abgegeben hatten. Dennoch haben diese Fürsten und ihre unmittelbaren Nachfolger nie offen die Pakmodrupa als Rechtsnachfolger der Sakyapas in Frage gestellt. Drei Originalurkunden aus den Jahren 1502 bis 1533 konnten wir seinerzeit im Archiv in Lhasa digitalisieren. Von der äußeren Form her orientieren sie sich weitgehend an den Urkunden ihrer Vorgänger. Eine der beiden Urkunden21 – leider ein ziemlich beschädigtes Exemplar – weist allerdings eine verhältnismäßig unspektakuläre Schrift auf, während die beiden anderen eine elegante Schrift mit auffallenden Unterlängen zeigen, die in einem Fall sogar zu weit geschwungenen Bögen geformt sind. Die Siegel der Pakmodrupa zeigen Aufschriften in Lantsa-Schrift, Pakpa-Schrift und chinesischer Siegelschrift. Der Abdruck eines Siegelstempels mit chinesischer Siegelschrift ist von besonderem Interesse, da er die Verwendung eines kaiserlichen Siegels bei der Ausstellung von Urkunden der Pakmodrupa belegt. Ich habe darüber an anderer Stelle ausführlicher geschrieben.22 Das hier abgebildete Dokument (Abb. 3) aus dem Jahr 150823, auf dem sich Abdrücke dieses Siegels befinden, zeigt nicht nur in der Siegelaufschrift, sondern auch in der Intitulatio die beiden chinesischen Titel guanding guoshi (灌頂國師) und chanhua wang ( 闡化王). Ersterer ließe sich übersetzen als „Staatlicher Präzeptor für (die Übertragung von) Initiationen.“ Der zweite Titel heißt so viel wie „König der Erläuterung und Verwandlung.“24 In dieser Kombination waren die Titel einem Pakmodrupa zum ersten Mal im Jahr 1406 zusammen mit einer anderen Version dieses Siegels vom YongleKaiser verliehen worden.25

|| 21 Siehe Digitized Tibetan Archives Material at Bonn University: Documents of Kündeling Monastery in Tibet, ID 995 (abrufbar unter: dtab.uni-bonn.de). 22 SCHWIEGER (Anm. 10). 23 Digitized Tibetan Archives Material at Bonn University: Documents of Kündeling Monastery in Tibet, ID 989 (abrufbar unter: dtab.uni-bonn.de). Zur Datierung siehe SCHWIEGER (Anm. 10), S. 322. Die Urkunde befindet sich heute in den Tibet Autonomous Region Archives, Xizang zizhiqu Danganguan 西藏自治区档案馆, in Lhasa. 24 So die Übersetzung von SHEN Weirong, On the History of the Gling tshang Principality of mDo khams During Yuan and Ming Dynasties. Studies on Sources Concerning Tibet in Ming Shilu (1), in: Petra MAURER u. Peter SCHWIEGER (Hgg.), Tibetstudien. Festschrift für Dieter Schuh zum 65. Geburtstag, Bonn 2007, S. 227–265, hier S. 241. Der Begriff König bezeichnet SHEN Weirong zufolge den Dharma-König (fawang), den König der buddhistischen Religion. Von diesem gab es als Titel drei verschiedene. Einer von ihnen ist der hier genannte chanhua wang. In der Fachliteratur wird der Titel unterschiedlich übersetzt. Elliot SPERLING, Early Ming Policy toward Tibet: An examination of the proposition that the early Ming emperors adopted a “divide and rule” policy toward Tibet, Dissertation an der Indiana University 1983, S. 158 übersetzte den Titel beispielsweise als „prince who spreads magical transformations”. 25 SCHWIEGER (Anm. 10), S. 315.

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Abb. 3: Pakmodrupa-Herrscherurkunde (1508).

Wie bereits angedeutet, waren die politischen Verhältnisse in Zentraltibet vom Ende des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ziemlich kompliziert. Auch wenn die Pakmodrupa in dieser Zeit ihre Macht weitgehend eingebüßt hatten, erhielten allein sie unter den zentraltibetischen Herrschern vom chinesischen Kaiser weiterhin Titel und Siegel. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war in der westlichen Provinz Zentraltibets eine Herrscherfamilie an die Macht gekommen, deren Expansionsbestreben die Pakmodrupa mit der Zeit immer weniger entgegenzusetzen hatten. Indem sie daher kaum noch als Schutzherren der buddhistischen Geluk-Schule fungieren konnten, wandten sich die Gelukpa (dGe lugs pa) schließlich im 17. Jahrhundert militärisch stärkeren Gruppierungen unter den Westmongolen zu. Von den Fürsten der westlichen Provinz Zentraltibets, im Tibetischen Tsang genannt, konnten wir in Lhasa einige Urkunden digitalisieren. Im Vergleich zu den Herrscherurkunden der

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Sakyapas und der Pakmodrupas sind sie in jeder Hinsicht äußerst unprätentiös. Das verwendete Format ist klein, die Schrift eine Geschäftsschrift, die Siegelabdrücke kleiner und schwarz, und auf eine Intitulatio wird verzichtet. Ganz anders kommen dagegen die von den Ming-Kaisern für tibetische Empfänger ausgestellten Urkunden daher. Von der äußeren Erscheinung her waren die eindrucksvollsten die sogenannten gaoming (誥命), was man mit Ermächtigungs- oder Ernennungsurkunde übersetzen könnte. Für tibetische Empfänger wurden solche Urkunden zweisprachig ausgestellt: Chinesisch und Tibetisch. Beschreibstoff waren querformatige Seidenrollen. In der Regel haben sie eine Höhe zwischen 25 und 35 cm und eine Breite von zwei bis über vier Metern. Die Stoffe mit eingewobenem Muster und den Schriftzeichen fengtian gaoming (奉天誥命), verkürzt für „Ermächtigungsurkunde/ Weisung dessen, der das Mandat des Himmels erhalten hat“, sowie den Schriftzeichen für das Regierungsjahr des Herrschers wurden in einer kaiserlichen Seidenmanufaktur vorgefertigt. Stets war der Stoff in fünf verschiedenfarbige Teile untergliedert. Von rechts nach links folgten immer Blaugrau, Rot, Gelb, Weiß und Braungrau. Wurden die Rollen sehr lang, wiederholten sich die Farben. Mit der Zeit verblichen sie, sodass sie uns heute oft blass erscheinen.

Abb. 4: Herrscherurkunde des Jiajing-Kaisers für einen osttibetischen Sakyapa-Hierarchen (1555).

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Die oben abgebildete Urkunde (Abb. 4) konnte ich vor Jahren in Deutschland verfilmen.26 Sie wurde vom Jiajing-Kaiser im Jahr 1555 für einen weltliche und geistliche Herrschaft ausübenden Sakyapa-Hierarchen aus Osttibet ausgestellt und bestätigte ihn als Nachfolger seines verstorbenen Onkels im Amt des guanding guoshi. Diese Kirchenfürsten hielten dieses Amt seit dem Jahr 1405, als ihnen der Titel zum ersten Mal vom Yongle-Kaiser verliehen worden war. Die Verleihung solcher Titel an nicht-chinesische Lokalherrscher und ihre damit übernommene Verpflichtung zur Loyalität war Teil des sogenannten Tusi-Systems (土司) zur Sicherung der Grenzen des Imperiums. Unter den uns bislang bekannten von tibetischen Herrschern ausgestellten Urkunden stammen die prächtigsten aus der dreihundertjährigen Geschichte des Ganden Podrang. Mit diesem Begriff wird im Tibetischen die Herrschaft unter den DalaiLamas bezeichnet. Etabliert wurde diese Herrschaft 1642 unter dem fünften DalaiLama mit Hilfe der Khoschoten, einem Zweig der nicht zu den Tschingisiden gehörenden Westmongolen. Soweit ich es bisher überblicken kann, war der fünfte DalaiLama der erste tibetische Herrscher, der Urkunden unmittelbar auf gelber Seide schreiben ließ. Zu denen, die in der Folge gelbe Seide als Beschreibstoff nutzten, gehörten aber nicht nur die Dalai-Lamas, sondern auch Polhané (Pho lha nas, 1689– 1747), der aristokratische Herrscher Tibets in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Urkunden, ganz gleich ob auf Papier oder auf Seide geschrieben, konnten von nun an durch Illumination eindrucksvoll ausgeschmückt werden, und zwar sowohl durch figürliche Darstellungen von Geistlichen, Schutzgottheiten und aus der religiösen Kunst Tibets bekannten Fabelwesen als auch durch farbige Ornamentik. Hinzu kommen die von den Kaisern der Qing-Dynastie für tibetische Empfänger ausgestellten Urkunden, die ebenfalls auf gelber Seide geschrieben, aber auch in der Form der mehrfarbigen gaoming ausgestellt wurden. Kaiserliche Ernennungsdiplome für Dalai-Lamas konnten darüber hinaus ab dem 18. Jahrhundert sogar in Jade- oder Goldtafeln eingraviert werden, eine Tradition, die die kommunistische Regierung Chinas im Jahr 1995 mit der unter fragwürdigen Umständen erfolgten Ernennung eines 11. Panchen-Lama wieder aufleben ließ. Als Beispiel für eine auf gelber Seide geschriebene Herrscherurkunde habe ich ein Exemplar aus der Library of Tibetan Works and Archives (LTWA), dem tibetischen Archiv am Sitz der tibetischen Exilregierung in Dharamsala, Nordindien, ausgewählt.27 (Abb. 5) Die Urkunde wurde 1699 vom sechsten Dalai-Lama ausgestellt. Mit

|| 26 Sie befand sich seinerzeit im Besitz des inzwischen verstorbenen Namgyel Gonpo Ronge. Wo sie sich heute befindet, ist mir nicht bekannt. Zu einer Analyse und Übersetzung der Urkunde siehe Peter SCHWIEGER, A Document of Chinese Diplomatic Relations with East Tibet During the Ming Dynasty, in: MAURER u. SCHWIEGER (Anm. 24), S. 209–226. 27 Digitized Tibetan Archives Material at Bonn University: Tibetan Documents and Letters, ID 1672 (abrufbar unter: dtab.uni-bonn.de).

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ihr bestätigt der Dalai-Lama die Besitzrechte des Haushalts einer osttibetischen Reinkarnationslinie und fordert zur Achtung dieser Rechte auf.

Abb. 5: Herrscherurkunde des sechsten Dalai Lama (1699).

Neben der Intitulatio findet sich der rote Abdruck eines Siegels mit Pakpa-Schrift, das im Tibetischen als „Siegel für Rechtsverordnungen“ bezeichnet wurde.28 Am unteren Ende der Urkunde findet sich der Abdruck eines großen dreisprachigen Siegels, das bereits dem fünften Dalai-Lama vom ersten Qing-Kaiser auf dem Thron in Peking übersandt worden war. Auf Mandschurisch, Tibetisch und Chinesisch nennt es den

|| 28 Vgl. zum Siegel SCHUH (Anm. 15), S. 11–12.

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Titel: „Siegel des allwissenden Halters des Vajra, Dalai-Lama, des exzellenten, vollständig zur Ruhe gekommenen Buddha des Westens, des Herrn der buddhistischen Lehre im Bereich der Welt“.29 Eindrucksvoll konnten auch auf Papier geschriebene Urkunden sein. Bei der hier abgebildeten (Abb. 6) handelt es sich um eine Konfirmationsurkunde, die im Jahr 1817 vom damaligen Regenten ausgestellt wurde und mit der zuvor vom siebten Dalai-Lama gewährte Rechte und Privilegien eines tibetischen Adelshauses bestätigt werden.30

Abb. 6: Konfirmationsurkunde des tibetischen Regenten (1817).

|| 29 SCHUH (Anm. 15), S. 3–5. 30 Digitized Tibetan Archives Material at Bonn University: Tibetan Documents and Letters, ID 877 (abrufbar unter: dtab.uni-bonn.de). Die Urkunde befindet sich heute in der Library of Tibetan Works and Archives (LTWA) in Dharamsala, Indien.

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4 Fazit Herrscherurkunden finden sich bereits unter den ältesten uns bekannten schriftlichen Quellen tibetischer Geschichte. Aus der Zeit der Yarlung-Dynastie liegen sie uns nicht im Original vor. Die in Steininschriften oder als Abschriften in der tibetischen Literatur erhaltenen Urkunden jener Epoche erlauben zwar Aussagen über die Phraseologie der Urkunden und die Art und Weise, wie das Rechtsgeschäft vollzogen wurde, Feststellungen über das Erscheinungsbild, das der Herrscher seinen Urkunden gab, sind jedoch kaum möglich. Hinsichtlich ihrer äußeren Merkmale ist lediglich bekannt, dass sie den Abdruck eines Siegels aufwiesen.31 Ab dem 13. Jahrhundert liegen uns tibetischsprachige Herrscherurkunden dann auch im Original vor. Über den gesamten Zeitraum der tibetischen Geschichte verloren sie nicht an Bedeutung. Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, kurz bevor Tibet von chinesischen Soldaten der sogenannten Volksbefreiungsarmee besetzt und der Volksrepublik China einverleibt wurde, verliehen Dalai-Lamas und Regenten ihren Handlungen durch Ausstellen von Urkunden Rechtskraft und Dauer. Bemerkenswert ist, dass tibetische Herrscherurkunden im Laufe der Zeit und im Zuge einer zunehmenden Bürokratisierung von Herrschaft keinesfalls an kalligraphischem Aufwand und repräsentativer Gestaltung einbüßten und sich somit nicht zu einem schlichten, einheitlichen Erscheinungsbild hin entwickelten. Im Gegenteil: Kostbarkeit des Beschreibstoffes und farbliche Ausgestaltung wurden im Laufe der Zeit in einzelnen Fällen sogar noch gesteigert. Dabei musste der betriebene Aufwand nicht allein dem Rang und dem Wunsch des Empfängers geschuldet sein. Wie reichlich illuminierte Generalerlasse bezeugen, konnte offenbar auch der Aussteller ein Interesse daran haben, dass seinen Erlassen und Herrscherurkunden bereits durch ein aufwendig gestaltetes Äußeres die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

|| 31 Darauf weisen zentraltibetische Steininschriften und Beschreibungen tibetischer Geschichtsschreiber hin. Siehe RICHARDSON (Anm. 2), S. 48, 49, 52, 53, 126, 127; Cristina SCHERRER-SCHAUB, Enacting Words. A Diplomatic Analysis of the Imperial Decrees (bkas bcad) and their Application in the sGra sbyor bam po gnyis pa Tradition, in: Journal of the International Association of Buddhist Studies 25/1–2 (2002), S. 263–340, hier S. 268–269.

Andreas E. Müller

Die sichtbare Macht. Visuelle Signale im Rahmen der kaiserlichen Privilegienurkunde in Byzanz Zusammenfassung: Wissenschaftliche Beobachtungen zu den äußeren Merkmalen der byzantinischen Kaiserurkunden sind, obwohl sie durchaus vielversprechend und wünschenswert wären, immer noch Mangelware. Der Beitrag versucht, die Hintergründe für diese Situation auszuleuchten, und beginnt hierfür mit einer Darstellung der prekären Überlieferungslage. Am Beispiel des chrysoboullos logos, der sog. großen kaiserlichen Privilegienurkunde, wird sodann das Material zusammengetragen, welches sich zur Untersuchung visueller Signale anbietet (Protokollteile, Urkundentext, Rotworte, kratos-Stellung, Legimus-Vermerk, kaiserliche Unterschrift, Goldsiegel), und dahingehend befragt, in welchen Formen sich kaiserliche Macht hier sichtbar manifestiert. Zeitlich ist das Hauptaugenmerk dabei auf die zweite Hälfte des elften Jahrhunderts gelegt – auf jene Jahrzehnte also, in denen man den gestalterischen Höhepunkt der byzantinischen Kaiserurkunde zu suchen hat. Schlagwörter: Herrscherurkunden, Urkundenformular, Unterschrift, Siegel, Byzanz

Im Jahr 1996 legte Peter RÜCK einen gewichtigen Sammelband vor, der den graphischen Symbolen in mittelalterlichen Urkunden gewidmet war1 und im Kern auf das dritte Marburger Kolloquium für Historische Hilfswissenschaften, veranstaltet im September 1989, zurückging. Den Anfang des für den Druck bedeutend erweiterten Tagungsbandes machte dabei eine Studie aus seiner eigenen Feder mit dem Titel „Beiträge zur diplomatischen Semiotik“.2 Sie beginnt mit luziden Beobachtungen zu Themenstellung und Forschungslage: Jedes Schriftwerk transportiert über die inhaltliche hinaus Botschaften mannigfachster Art, ja es ist als spezielles Schriftwerk nur über die Zusatzbotschaften wahrnehmbar. Kein Typus mittelalterlichen Schriftwerks, weder Inschriften noch Bücher, weder Akten noch Briefe, ist stärker geprägt durch die Zusatzbotschaften als die Urkunde, und keiner repräsentiert und appelliert unverhohlener an das gesellschaftliche Bewusstsein und die Mentalität der Zeitgenossen, für

|| 1 Peter RÜCK (Hg.), Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Semiotik (Historische Hilfswissenschaften 3), Sigmaringen 1996. 2 RÜCK (Anm. 1), S. 13–47. || Andreas E. Müller, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, Universität Wien, Postgasse 7/1/3, A-1010 Wien, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-008

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keinen wäre Morisons Titel ‚Politics and Script‘ angemessener als für die Urkunde. Umso erstaunlicher, dass gerade sie unter diesem Gesichtspunkt in der jüngeren semiotischen Forschung weit weniger Beachtung gefunden hat als Inschriften und Buchseiten.3

Wenig später liest man diesbezüglich weiter: „Die Fixierung auf den Textinhalt hat die jüngere Diplomatik blind gemacht für jene Betrachtungsweise des orbis sensualis [...] – mit den bemerkenswerten Ausnahmen des Sickel-Schülers Wilhelm ERBEN und – auf byzantinischer Seite – Franz DÖLGERS.“4 Nicht nur der Blick des Mediävisten über den eigenen Zaun hinaus, hin zu seinem östlichen Nachbarn, erfreut hier und ist – als eher hehre Ausnahme – festzuhalten, sondern auch der Umstand, dass der Byzantinist dem Mediävisten fachlich einmal in etwas voraus zu sein scheint, und nicht hintan. In der Tat hatte sich der von Peter RÜCK so positiv in Szene gesetzte Franz DÖLGER immer wieder in seinen Arbeiten zu den byzantinischen Kaiserurkunden auch den phänotypischen Besonderheiten dieser Dokumente zugewandt, sie analysiert und sich an ihrer Deutung versucht.5 Dies ist in der Tat kein geringes Verdienst; und doch kommt man nicht umhin festzustellen, dass DÖLGERs Vorgehen hierbei stets eher kursorisch blieb. Ausgedehnte Studien, die das vorhandene Urkundenmaterial systematisch und möglichst vollständig auf graphische Symbole und visuelle Signale hin untersuchen und auswerten würden, hat weder er vorgelegt noch irgendeiner seiner Nachfolger auf dem Gebiet der byzantinistischen Diplomatik. Ganz zu schweigen davon, dass im Fach etwa versucht worden wäre, moderne Ansätze aufzugreifen und den Aufschwung der Semiotik, wie er im Sog der Publikationen von Umberto Eco in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts weithin sichtbar stattfand,6 für das byzantinische Urkundenmaterial in irgendeiner Form nützlich und fruchtbar zu machen. So steht die Byzantinistik in der Sache heute denn immer noch ziemlich genau da, wo sie einstmals Franz DÖLGER hingebracht und Peter RÜCK sie gelobt hat.

|| 3 RÜCK (Anm. 1), S. 13. 4 Ebd. 5 So geschehen etwa in einem Beitrag aus dem Jahre 1939, der die symbolischen Manifestationen der Herrschaftspropaganda in den inneren wie äußeren Urkundenmerkmalen herauszuarbeiten sucht: Franz DÖLGER, Die Kaiserurkunde der Byzantiner als Ausdruck ihrer politischen Anschauungen, in: Historische Zeitschrift 159 (1939), S. 229–250; Nachdruck in DERS., Byzanz und die europäische Staatenwelt. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Ettal 1953, ND Darmstadt 1964, S. 9—33 (Nr. 1); vgl. hierzu die positive Würdigung bei Peter RÜCK, Die Urkunde als Kunstwerk, in: Anton VON EUW u. Peter SCHREINER, (Hgg.) Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends, Bd. 2, Köln 1991, S. 311–333, hier S. 312, wo überdies zu Recht auf Franz DÖLGER, Geheimnisse der byzantinischen Kaiserkanzlei, in: Byzantinisch-neugriechische Jahrbücher 19 (1966), S. 56–61 für die Berücksichtigung grafischer Urkundenmerkmale verwiesen wird. 6 Umberto ECO, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt 1977; DERS., Einführung in die Semiotik, 6. Aufl., München 1988.

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Man könnte vielleicht meinen, dass – in Analogie zur Situation im Westen – die Fülle des überlieferten Urkundenmaterials, das für solche Untersuchungen zur Verfügung steht und im Einzelfall genau zu prüfen wäre, das eigentliche Problem darstellt, warum eben solche Studien nicht vorliegen, ja noch nicht einmal der Versuch unternommen wurde, sie überhaupt anzugehen. Mit Blick auf die byzantinische Kaiserurkunde muss freilich gesagt werden, dass sich die Kernproblematik genau entgegengesetzt darstellt – es sind aus dem gesamten byzantinischen Jahrtausend nicht unüberschaubar viele, sondern im Gegenteil bestürzend wenige Originalurkunden erhalten geblieben, an denen sich Untersuchungen und Betrachtungen festmachen lassen können. Genaue Zahlen zu eruieren ist allerdings trotz dieser Sachlage vergleichsweise mühsam, denn es bedingt für den angesprochenen herrscherlichen Bereich des byzantinischen Urkundenwesens die genaue Durchsicht von sechs stattlichen Regestenbänden7 (unter Einbezug der vorhandenen Urkundeneditionen, die sämtlich nicht nach dem Kanzleiprinzip aufgebaut sind) – ein doch recht zeitintensives Unterfangen. Unterzieht man sich der Aufgabe, so stellt man am Ende fest, dass sich lediglich etwa 250 herrscherliche Dokumente im Original erhalten haben. Der Hauptteil entfällt hierbei mit ca. 150 Stück auf den Bereich der Privilegienurkunden; die nächstgrößere Gruppe stellen kaiserliche Verwaltungsurkunden dar mit ca. 60 erhaltenen Originalen. Den Rest der Urkundenoriginale teilen sich kaiserliche Auslandsschreiben, Verträge mit den Seerepubliken Genua und Venedig, Geleitbriefe und ähnliches mehr – insgesamt nicht einmal 40 Dokumente. Gleichermaßen überschaubar wie die Zahl der Originale ist auch die Anzahl nennenswerter Überlieferungszentren: an erster Stelle sind hier (allem voran für den Bereich der Privilegienurkunden wie der Verwaltungsurkunden) die Archive der AthosKlöster zu nennen, in der Wichtigkeit gefolgt von den Archivbeständen des IoannesTheologos-Klosters auf der Insel Patmos; für die angesprochenen Verträge sind die

|| 7 Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reiches von 565–1453, bearb. von Franz DÖLGER (Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren Zeit, Reihe A): 1. Teil, 1. Halbband: Regesten von 565–867, 2. Aufl. besorgt von Andreas E. MÜLLER, unter Mitarbeit von Johannes PREISER-KAPELLER und Alexander RIEHLE, München 2009; 1. Teil, 2. Halbband: Regesten von 867–1025, 2. Aufl. neu bearb. von Andreas E. MÜLLER, unter verantwortlicher Mitarbeit von Alexander BEIHAMMER, München 2003; 2. Teil: Regesten von 1025–1204, 2., erw. und verbesserte Aufl. bearb. von Peter WIRTH, München 1995; 3. Teil: Regesten von 1204–1282, 2., erw. und verbesserte Aufl. bearb. von Peter WIRTH, München 1977; 4. Teil: Regesten von 1282–1341, München, Berlin 1960; 5. Teil (Schluß): Regesten von 1341–1453, unter verantwortlicher Mitarbeit von Peter WIRTH, München, Berlin 1965; Verweise auf diese Bände sind im Folgenden mit DR sowie der entsprechenden Regestennummer angeführt.

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entsprechenden Archive von Genua und Venedig anzuführen. Das vatikanische Geheimarchiv wiederum hat drei eindrucksvolle kaiserliche Auslandsschreiben von der Mitte des zwölften Jahrhunderts bewahrt.8 Diese konkrete Überlieferungssituation birgt freilich ein weiteres Problem. Mit Blick auf die kaiserliche Privilegienurkunde ist festzuhalten, dass von den ca. 150 auf uns gekommenen Originalen 80% (bzw. ca. 120 Dokumente) in den Archiven des Berg Athos ruhen und nur lediglich 20% (bzw. ca. 30 Dokumente) in Aufbewahrungsstätten außerhalb des Athos aufbewahrt werden.9 Nun war aber die Zugänglichkeit dieser klösterlichen Athos-Archive stets nur sehr begrenzt möglich und auch dann noch äußerst schwierig im Detail. Das spiegelt sich auch heute noch im Bildmaterial wider, welches der Forschung von den dort verwahrten und für sie so wertvollen Urkundenoriginalen zur Verfügung steht. Es sind dies so gut wie ausschließlich Schwarzweißaufnahmen, zusammengetragen in akademischen Bereisungen, die zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurden, stets verbunden mit sehr hohem Aufwand in der Vorbereitungsphase und trotz diesem, wie bereits angedeutet, mit erheblichen Schwierigkeiten am Ende, wenn es galt, die gewünschten diplomatischen Stücke zu Gesicht bzw. vor die Linse des Fotoapparates zu bekommen.10 Gerade bei visuellen Fragestellungen an die Urkunden drängt sich dabei aber die Aporie auf: Wie lässt sich die optische Anmutung von Dokumenten verlässlich analysieren und interpretieren, wenn von ihnen nur sehr minderwertiges Bildmaterial zur Verfügung steht? Was hier mit Blick auf die Archive der Athos-Klöster formuliert wurde, gilt – zumindest was die Qualität des greifbaren Bildmaterials betrifft – auch für die restlichen byzantinischen Dokumente, die in den übrigen Überlieferungszen-

|| 8 Alle drei sind beeindruckende Purpurrotuli, jeweils von mehr als 4 Metern Länge, die Schrift höchst kunstvoll in Chrysographie ausgeführt, mit Buchstaben von einer Größe von bis zu 10 cm: DR 1320a vom Juni 1139, DR 1320b vom April 1141 und DR 1348 vom August 1146. – Zu DR 1320a siehe ferner die annotierte kritische Edition bei Otto KRESTEN u. Andreas E. MÜLLER, Die Auslandsschreiben der byzantinischen Kaiser des 11. und 12. Jahrhunderts: Specimen einer kritischen Ausgabe, in: Byzantinische Zeitschrift 86/87 (1993/1994), S. 402–429, hier S. 422–429 (Nr. 4) (mit Abb. auf Tafel XVII). 9 Vgl. hierzu Andreas E. MÜLLER, Die byzantinische Kaiserurkunde ohne die Athos-Archive: ein Gedankenspiel (im Druck für den Band zur Tagung „Lire les Archives de l’Athos. International Conference“, Athen 18.–20.11.2015). 10 Selbst das große französische Editionsunternehmen der „Archives de l’Athos“, das seit mehreren Jahrzehnten verlässliche kritische Aufarbeitungen der Urkundenbestände dieser Archive in Druck schickt, hat angesichts der Sachlage von Anfang an darauf verzichtet, systematische Neubereisungen der Archive durchzuführen, die eine lückenlose, modernen Ansprüchen genügende bildliche Dokumentation der Archivbestände erbringen hätten können. Über die bislang erschienenen Bände des Unternehmens informieren http://www.peeters-leuven.be/Search_serie_book.asp?nr=300 (abgerufen am 9.10.2017) und http://www.orient-mediterranee.com/spip.php?article1005 (abgerufen am 9.10.2017).

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tren aufbewahrt werden: Farbfotografien sind von den Objekten nur in den allerseltensten Ausnahmefällen greifbar – und damit abermals kein Bildmaterial, das modernen wissenschaftlichen Ansprüchen auch nur annähernd genügen könnte. Alles in allem keine sehr günstigen Vorzeichen, um sich auf breiter Basis solchen Problemstellungen anzunähern, für die eine adäquate Möglichkeit der Anschauung des Forschungsgegenstandes von zentraler Wichtigkeit ist. So wird es vor dem gezeichneten Hintergrund vielleicht etwas nachvollziehbarer, warum bislang in der byzantinistischen Diplomatik auf diesem Feld erst so wenig getan ist. Im vollen Bewusstsein der hier aufgezeigten Einschränkungen sei im Folgenden der Versuch unternommen, für die kaiserliche Privilegienurkunde der Frage nach dem Sichtbarwerden von Macht nachzugehen und das wesentliche Material zusammenzustellen und zu bewerten, welches die Urkunden an die Hand geben. Das Folgende ist dabei mit Blick auf die Urkundenoriginale des 11. und beginnenden 12. Jh. formuliert (bis zum Ende der Herrschaft Kaiser Alexios’ I. Komnenos), für jene Zeit also, in der die originale Überlieferung in Byzanz überhaupt erst nennenswert zu werden beginnt und wo wir doch gleichzeitig schon unzweifelhaft den gestalterischen Höhepunkt dieser Urkunden vor uns haben.

1 Die Protokollteile

Abb. 1: Chrysoboullos Logos des Kaisers Alexios I. Komnenos vom August 1084 für das AthosKloster Laura (DR 1118 [1154]); Foto bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Die große kaiserliche Privilegienurkunde, der chrysoboullos logos, besteht zumeist aus mehreren zusammengeklebten Pergament- oder Papierbögen, die oftmals eine

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beachtliche Länge erreichen konnten, bis hin zu sieben Metern.11 Die Urkunde beginnt dabei in der Mitte des 11. Jahrhunderts – hier erst setzt die originale Überlieferung ein – mit einer verbalen Invocatio, gefolgt von der Intitulatio. (Abb. 1) Beide sind in einer Schrift ausgeführt, die allein diesen beiden Urkundenteilen vorbehaltenen bleibt; sie zeigt sich vom Kriterium der Lesbarkeit sehr weit entfernt und rückt ganz deutlich die optische Anmutung der Schrift in den Vordergrund. Die Ausführung der beiden Urkundenteile wird dabei stets auf eine Zeile beschränkt. Viktor GARDTHAUSEN bezeichnet sie naheliegend als „Protokollschrift“,12 Franz DÖLGER verwendet die Bezeichnung „Perpendikelschrift“ und beschreibt diese als „langgezogene, auf langen, dünnen Beinen stolzierende Zierschrift [...], eine künstliche Majuskel mit starken Kürzungen und belebenden Minuskelbuchstaben über der Zeile“, wobei er die „ganz nach malerischen Gesichtspunkten getroffene Verteilung der Buchstaben und das aus drei Strichen bestehende N“ hervorstreicht.13 Auch Herbert HUNGER, einer der großen Paläographen unseres Faches, widmete dieser Schriftform in einer Monographie zum „Schreiben und Lesen in Byzanz“ in einigen Zeilen seine Aufmerksamkeit. Er spricht dort von einer „exzentrischen Auszeichnungsschrift“ und charakterisiert sie als: artifizielle langbeinige Majuskel mit verschiedenen kleinen Minuskelbuchstaben, die zumeist oben an den stelzenförmigen Majuskelbuchstaben eingehängt sind, das Ganze ein verwirrender, auch durch die vielen Kürzungen unübersichtlicher und jeder ratio abgekehrter Auftakt, vielleicht eine Andeutung der in den Akklamationen gerne angesprochenen ‚gemeinsamen Herrschaft’ Gottes (dem ja die Invokation gilt) und des irdischen Kaisers, des Diktatgebers der Urkunde.14

Graphisch auffällig, allerdings in einer anderen, nicht weniger interessanten Form ist der unmittelbar daran anschließende Urkundenteil gehalten. Es handelt sich dabei, so ließe sich sagen, um eine spezielle Form der Inscriptio. Sie bildet zu dieser Zeit die zweite Zeile der großen Privilegienurkunde. (Abb. 2)

|| 11 Zum Urkundentypus und seinen Besonderheiten vgl. Franz DÖLGER u. Johannes KARAYANNOPULOS, Byzantinische Urkundenlehre. Erster Abschnitt: Die Kaiserurkunden (Byzantinisches Handbuch im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaft. 3. Teil, 1. Bd., 1. Abschnitt), München 1968, S. 117–125. 12 Viktor GARDTHAUSEN, Protokoll, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum 2 (1919), S. 91–106. 13 Franz DÖLGER, Facsimiles byzantinischer Kaiserurkunden. 67 Abbildungen auf 25 Lichtdrucktafeln. Aus dem Lichtbilderarchiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1931, Sp. 27. 14 Herbert HUNGER, Schreiben und Lesen in Byzanz. Die byzantinische Buchkultur, München 1989, S. 119.

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Die Forschung hat hier zunächst, wenig glücklich, von einer Pertinenzzeile gesprochen, später von der Eingangspromulgation;15 auch letzteres blieb als Benennung nicht unumstritten.16 Gehalten in griechischer Sprache und ausgeführt in einer griechisch-lateinischen Mischschrift wendet sie sich gleichsam an den gesamten Erdkreis: + pasin hois to paron hemon eusebes epideiknytai sigillion + („+ Allen, denen unser vorliegendes frommes Sigillion vorgewiesen wird +“). Der Machtanspruch des byzantinischen Kaisertums wird hier in Schrift umgesetzt und solchermaßen auf eindrucksvolle Weise visualisiert.

Abb. 2: Chrysoboullos Logos des Kaisers Alexios I. Komnenos vom August 1084 für das Athos-Kloster Laura (DR 1118 [1154]); Foto bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

|| 15 Otto KRESTEN, Zur sogenannten Pertinenzzeile der byzantinischen Kaiserurkunde, in: Βυζαντινά 3 (1971), S. 53–68. 16 Ludwig BURGMANN, Chrysobull gleich Privileg? Beobachtungen zur Funktion einer byzantinischen Urkundenform, in: Barbara DÖLEMEYER u. Heinz MOHNHAUPT (Hgg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 93), Frankfurt a. M. 1997, S. 69– 92, hier S. 71 mit Anm. 10.

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2 Der Urkundentext

Abb. 3: Chrysoboullos Logos des Kaisers Alexios I. Komnenos vom August 1084 für das Athos-Kloster Laura (DR 1118 [1154]); Foto bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

In einer neuen Zeile beginnt in weiterer Folge der eigentliche Urkundentext. Er ist in einer Minuskelschrift gehalten, die durchsetzt ist von Buchstabenformen, welche der kaiserlichen Kanzlei vorbehalten waren. (Abb. 3) Herbert HUNGER beschrieb Form und Funktion folgendermaßen: Diese Schrift zeigt in ihrer Stilisierung eine graphische Wiedergabe der byzantinischen Kaiserideologie mit ihren politischen und sozialen Implikationen. Senkrecht stehende Buchstaben mit riesigen Oberlängen (Delta, Eta, Kappa), weitgehende Reduktion der Unterlängen, Ausgleich des Schriftbildes durch gewaltige Südwest-Nordost-Diagonalen in Gestalt von Schnäbeln des Epsilon, barocke Schwünge des großen, unter die Grundzeile reichenden Lambda und Zeta, der Kürzung für καί (kai) und besonders des weit ausholenden Xi mit seinem unter der Zeile nach rechts rollenden Drachenschwanz. Diesen auftrumpfenden Großbuchstaben steht die große Zahl kleiner bis verschwindender Buchstaben des ‚Mittelbaus‘ gegenüber, zu denen auch das kuriose vierstrichige Ny, ebenfalls ein Reservat der Kaiserkanzlei, gehört.17

Somit lässt die kaiserliche Kanzlei hier abermals ganz bewusst ein Schriftbild entstehen, welches sich visuell deutlich von den übrigen Schriftzeugnissen der Zeit absetzt und – schon optisch der Sphäre des Profanen enthoben – in die Nähe des Herrschers gerückt wird. || 17 HUNGER (Anm. 14), S. 116–119.

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3 Die Rotworte Im Textfluss selbst sind sodann vom Schreiber fallweise Freiräume gelassen. In einem nachfolgenden, abschließenden Arbeitsschritt setzte der Vorsteher der kaiserlichen Kanzlei (ἐπὶ τοῦ κανικλείου, „Hüter des kaiserlichen Tintenfasses“) in diese Lücken einzelne Worte in roter Tinte ein.18 Es handelt sich dabei um Termini der Urkunden-Selbstbezeichnung sowie ferner um Elemente der Datierung im Eschatokoll (Abb. 4).

Abb. 4: Chrysoboullos Logos des Kaisers Nikephoros III. Botaneiates vom März 1081 für das AthosKloster Laura (DR 1052); Foto bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Diese Rotworte waren zunächst ein visuelles Signal für den Kaiser selbst: Die roten Einfügungen des Kanzleivorstandes waren dem Herrscher deutlich sichtbares Zeichen, dass er seine Unterschrift unter das Dokument setzen konnte, bezeugten sie ihm doch, dass der Kanzleivorstand das vorliegende Schriftstück gelesen und auf seine Korrektheit hin überprüft hatte. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist es einsichtig, wenn die Rotworte sich auch in Größe und Duktus zumeist recht klar von dem in schwarzer Tinte gehaltenen eigentlichen Urkundentext abheben. Auf diese Weise wurden sie auch für den Destinatärund in weiterer Folge für jeden Leser zum optischen Blickfang, was Würde und Feierlichkeit der äußeren Anmutung der Urkunde noch steigerte.

|| 18 Die rote Tinte, das sacrum encaustum, blieb dem Kaiser selbst und – von ihm befugt – dem Kanzleivorsteher vorbehalten; vgl. DÖLGER u. KARAYANNOPOULOS (Anm. 11), S. 28–30, 118–119, 126. Zu den roten Urkundenselbstbezeichnungen vgl. eingehend Andreas E. MÜLLER, Die Entwicklung der roten Urkundenselbstbezeichnungen in den Privilegien byzantinischer Kaiser, in: Byzantinische Zeitschrift 88 (1995), S. 85–104.

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4 Die kratos/κράτος-Stellung Eine äußerst markante und zugleich stark symbolträchtige Besonderheit der großen byzantinischen Privilegienurkunde begegnet ganz am Ende des Urkundentextes. Dieser schließt stets mit einer gleichlautenden Formel, welche sich als letztes Textelement an die datierenden Urkundenbestandteile anhängt. In Anlehnung an das letzte Wort dieser stehenden Wendung kratos (κράτος) hat die Forschung diesen Urkundenbaustein als κράτος-Formel bezeichnet19 (Abb. 5). Franz DÖLGER wies in einer Studie des Jahres 196220 in diesem Zusammenhang auf den auffälligen Umstand hin, dass die Textschreiber den Schluss der betreffenden Urkunden regelmäßig so gestalteten, dass hierbei das Wort κράτος „den Anfang einer neuen Zeile bildete und dort das (einzige) Wort des ganzen Textes blieb; an dieses reihte sich sodann unmittelbar die rotgeschriebene kaiserliche Unterschrift (bzw. das Legimus des Rekognitionsbeamten) an“.21 DÖLGER hatte zunächst geglaubt, dass es sich bei diesem Phänomen lediglich um „eine weithin von den Schreibern beachtete Kanzleiregel, aber kein sicheres Merkmal für Echtheit und Unechtheit der Urkunde“ handle.22 Eine von ihm durchgeführte systematische Überprüfung sämtlicher bekannter Chrysobulloi Logoi erbrachte freilich anderes, nämlich dass die rund 70 uns noch vorliegenden Originale von Chrysobulloi Logoi aus der Zeit von der 1052 bis 1391 das Wort κράτος in der beschriebenen Isolierung als Anfangswort der letzten Textzeile so gut wie ausschließlich aufweisen, während diese Isolierung bei den Fälschungen ebenso ausschließlich nicht zu beobachten ist, ein Zeichen, dass die – vielfach sonst geschickten – Fälscher dieses ‚Geheimnis‘ der Kaiserkanzlei nicht kennen.23

|| 19 Die Formel lautet: ἐν ᾧ καὶ τὸ ἡμέτερον εὐσεβὲς καὶ θεοπρόβλητον ὑπεσημήνατο κράτος. So etwa zu lesen – um ein willkürliches Beispiel zu nennen – im Chrysoboullon Sigillion des Kaisers Michael VI. vom Januar 1056 für das Athos-Kloster Laura (DR 932): Actes de Lavra. Première partie: Des origines à 1204. Édition diplomatique par Paul LEMERLE, André GUILLOU, Nicolas SVORONOS, avec la collaboration de Denise PAPACHRYSSANTHOU (Archives de l'Athos 5), Paris 1970, S. 192–194 (Nr. 32), hier S. 194, Z. 63–64. 20 Franz DÖLGER, Ein Echtheitsmerkmal des byzantinischen Chrysobulls, in: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 10 (1962), S. 99–105. 21 DÖLGER (Anm. 20), S. 99. 22 Franz DÖLGER, Die byzantinische und die mittelalterliche serbische Herrscherkanzlei, in: XIIe Congrès International des Études byzantines. Ochride, 10.–16. Sept. 1961, Bd. 1, Belgrad 1963, S. 83–103, hier S. 93 mit Anm. 39. 23 DÖLGER (Anm. 20), S. 99–100.

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Abb. 5: Chrysoboullos Logos des Kaisers Nikephoros III. Botaneiates vom März 1081 für das AthosKloster Laura (DR 1052); Foto bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

DÖLGER listet in seinem grundlegenden Beitrag die einzelnen Belege für die solchermaßen ausgestaltete Formel im Detail auf und wertete die Ausgestaltung, völlig zu Recht, als Echtheitsmerkmal für die byzantinische Kaiserurkunde. Er unternahm aber weder hier noch andernorts auch nur ansatzweise den Versuch, dem Phänomen eine weitreichendere Bedeutung zuzuweisen, etwa in ideologischer Richtung. Gerade das aber erscheint spannend und reizvoll. Schon die in der überwiegenden Zahl der Fälle duktusmäßig ganz offensichtlich bewusste Abhebung des Wortes24 ist ein sichtbarer Beleg dafür, dass der Schreiber – und im Vorfeld selbstverständlich die Kanzlei und der Kaiser selbst – dem Begriff eine besondere Stellung und Bedeutung zuweisen wollten. Blickt man auf das Bedeutungsfeld, welches dieses stets letzte und stets isolierte Wort κράτος abdeckt, so wird diese unschwer nachvollziehbar: κράτος heißt Macht, Majestät, Herrschaft (das Pendant zum lateinischen Begriff imperium). Dass die hier visualisierte ungeteilte Machtfülle vom byzantinischen Kaiser ganz bewusst in Szene gesetzt und in ihrer Symbolkraft durchaus verstanden wurde – und dann folgerichtig auch bewahrt und gehütet wurde –, lässt sich dabei zumindest für den Beginn des 14. Jahrhunderts eindeutig nachweisen.25

|| 24 Vgl. hierzu die Bemerkungen und visuellen Belege bei Andreas E. MÜLLER, Weder Klostomalles noch Babiskomites: Beobachtungen zur Schreiberhand von DR 2684 und DR 2775, in: Albrecht BERGER u. a. (Hgg.), Koinotaton Doron. Das späte Byzanz zwischen Machtlosigkeit und kultureller Blüte (1204–1461) (Byzantinisches Archiv 31), München 2016, S. 115–123, hier S. 119–121. 25 Vgl. Andreas E. MÜLLER, Die Lösung einer Aporie: die κράτος-Stellung in den byzantinischen Mitkaiserurkunden, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 64 (2014), S. 225–230, hier bes. S. 228–229.

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5 Der Legimus-Vermerk Auf den solchermaßen markanten Abschluss des Urkundentextes folgt mit dem Legimus-Vermerk, welchen der Kanzleivorsteher abschließend rubrizierend unter den Urkundentext setzte, ein weiteres starkes visuelles Signal (siehe Abb. 5, wo der Vermerk rechts vom Wort κράτος zu sehen ist). Es handelt sich hierbei um einen Rekognitionsvermerk, der in lateinischen Buchstaben ausgeführt wurde. Mit zunehmender Dauer des Gebrauchs verkam er mehr und mehr zur Paraphe, die ganz offensichtlich am Ende von den ausführenden Händen in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung nicht mehr verstanden wurde.26 Die kanzleimäßige Bedeutung des Vermerks ist dabei derjenigen der Rotworte parallel – auch dieser Vermerk bestätigte zunächst dem Kaiser die Verlässlichkeit des Dokuments, das diesem zur Unterschrift vorgelegt wurde. Und auch er wird darüber hinaus zu einem visuellen Baustein, der – in seiner sich dem Destinatär nicht unmittelbar erschließenden Bedeutung und im erhabenen Rot seiner schwungvoll-barocken Ausführung –, den feierlichen Eindruck des Dokuments weiter zu steigern wusste.

6 Die kaiserliche Unterschrift An den Legimus-Vermerk schließt sich das – von diplomatischer Seite her gesehen – zentrale visuelle Element der Urkunde an: die kaiserliche Unterschrift. Sie wurde in Byzanz stets zur Gänze eigenhändig durch den Kaiser in roter Tinte (Purpurtinte) ausgeführt. Im Rahmen der großen byzantinischen Privilegienurkunde war der Wortlaut hierbei als Namensformel gestaltet. Sie lautete vom Jahr 1079 bis zum Ende des Reiches unverändert: + N. N. ἐν Χριστῷ τῷ Θεῷ πιστὸς βασιλεὺς καὶ αὐτοκράτωρ Ῥωμαίων (ὁ Δούκας, Ἄγγελος etc.) + („+ N. N. in Christus, dem Gott, frommer Kaiser und Autokrator der Rhomäer [Dukas, Angelos etc.] +“).27 (Abb. 6)

|| 26 Vgl. zum Legimus-Vermerk die Angaben bei DÖLGER u. KARAYANNOPOULOS (Anm. 11), S. 34–36. 27 Zur Entwicklung der kaiserlichen Namensunterschrift in den Chrysoboulloi Logoi vgl. Franz DÖLGER, Die Entwicklung der byzantinischen Kaisertitulatur und die Datierung von Kaiserdarstellungen in der byzantinischen Kleinkunst, zitiert nach dem Nachdruck in: DERS., Byzantinische Diplomatik. 20 Aufsätze zum Urkundenwesen der Byzantiner, Ettal 1956, S. 130–151, hier S. 146–148; dort sind auch die kleinen Formulierungsschwankungen genau festgehalten, die bei dieser Formel in der Mitte des 11. Jahrhunderts zu beobachten sind, ehe sie nachfolgend ohne jegliche Variation im Wortlaut bis zum Fall des Reiches von den Kaisern unter den Urkundentext gesetzt wird.

Die sichtbare Macht | 195

Abb. 6: Chrysoboullos Logos des Kaisers Nikephoros III. Botaneiates vom März 1081 für das AthosKloster Laura (DR 1052); Foto bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Diese Reihe(n) roter Worte, zumeist vom Kaiser gekonnt unter den Wortlaut des Urkundentextes (und den Rekognitionsvermerk des Kanzleivorstehers) gesetzt, ist (oder sind) zentraler Blickfang der kaiserlichen Privilegienurkunde. Erstaunlich genug, dass sich bis auf den heutigen Tag keine Studie den duktusmäßigen Eigenheiten und graphischen Entwicklungen und Besonderheiten dieser Unterschriften von Herrscherhand zugewandt hat. Auch hier böte sich, angefangen mit dem symbolträchtigen Rot ihrer Ausführung, ein weites Feld für Überlegungen zum herrscherlichen Selbstverständnis und zum ideologischen Gehalt dessen, was sich dem Auge des Betrachters darbietet.

7 Die Goldbulle Das Rot der kaiserlichen Unterschrift wird vom Rot der Seidenschnur aufgegriffen, mittels derer jenes goldene Siegel am Ende der kaiserlichen Privilegienurkunde in eine Plica eingehängt wurde, welches der Urkundengattung ihren Namen gab: Chrysobull, bzw. chrysóboullos lógos (χρυσόβουλλος λόγος), i. e. „goldbesiegelter Logos“ (Abb. 7).28

|| 28 So für die „Große Privilegienurkunde“. Dem entspricht die Bezeichnung als chrysóboullon sigíllion (χρυσόβουλλον σιγίλλιον), i. e. „goldbesiegeltes Sigillion“, für die „Kleine Privilegienurkunde“. – Die Grunddaten zu Gestalt und Entwicklung der herrscherlichen Privilegienurkunde in Byzanz finden sich bei Andreas E. MÜLLER, Imperial Chrysobulls, in: Elizabeth JEFFREYS, John HALDON u. Robin CORMACK (Hgg.), Oxford Handbook of Byzantine Studies, Oxford 2008, S. 129–135.

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Abb. 7: Goldsiegel des Chrysoboullon Sigillion des Kaisers Michael VI. vom Januar 1056 für das Athos-Kloster Laura (DR 932); Foto: Actes de Lavra. Première partie: Des origines à 1204. Édition diplomatique par Paul LEMERLE, André GUILLOU, Nicolas SVORONOS, avec la collaboration de Denise PAPACHRYSSANTHOU (Archives de l’Athos 5), Paris 1970, Album, Tafel. XXIX, 32/VII (Ausschnitt).

Eine umfassende Studie zu den erhaltenen goldenen Urkundensiegeln fehlt bislang und damit fehlt auch das Wissen um die genaue Zahl an Siegeln, die uns erhalten geblieben sind.29 In unterschiedlicher Größe und Gewicht ausgeprägt, zeigen sie auf dem Avers in der Regel die Figur Christi, im 11. Jahrhundert mal thronend, mal in Büstenform, später dann nur mehr thronend; auf dem Revers den ausstellenden Kaiser, stehend, zumeist auf dem Suppedion, in Perlendiadem, Sakkos und Loros, in der Rechten das Labarum, später das Kreuzszepter, in der Linken im 11. Jahrhundert regelmäßig die Weltkugel, spätestens ab Ende des 12. Jahrhunderts ein Säckchen mit Erde bzw. Staub, die Akakia, als Symbol der Bescheidenheit.30 Waren die frühen Siegel noch aus massivem Gold, wurden sie später durch dünne Goldplättchen ersetzt,

|| 29 Wenn ich recht sehe, dürften etwa hundert solcher Goldsiegel aus dem byzantinischen Jahrtausend auf uns gekommen sein. – Nützlich für einen ersten Einstieg in die Materie sind – neben DÖLGER u. KARAYANNOPOULOS (Anm. 11), S. 40–45 – immer noch Franz DÖLGER, Aus den Schatzkammern des Heiligen Berges. 115 Urkunden und 50 Urkundensiegel aus 10 Jahrhunderten. Textband (mit zugehörigem Tafelband), München 1948, S. 316–319 und Philip GRIERSON, Byzantine Gold Bullae, with a Catalogue of Those at Dumbarton Oaks, in: Dumbarton Oaks Papers 20 (1966), S. 239–253. 30 Die Entwicklung der Ikonographie des Siegelbildes nach DÖLGER (Anm. 29), S. 317.

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die auf anderes Trägermaterial (Wachs, Blei) aufgebracht wurden.31 Charakteristisch ist dabei, dass die Seidenschnur, die das Innere des Siegels durchlief, so ausgerichtet war, dass die figürlichen Darstellungen Christi und des Kaisers auf den konvexen Ausbuchtungen zu liegen kamen, welche die Seidenschnur verursachte; dies ließ die figürlichen Darstellungen gleichsam aus dem Siegel hervortreten und verlieh ihnen eine gewisse Dreidimensionalität.32 Daneben bezeichneten Majuskelbuchstaben Namen und Titel des Kaisers. Damit aber hatte der Destinatär eine ebenso feierliche wie pretiöse Zurschaustellung der himmlischen wie der irdischen Macht vor Augen: Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes, und – wenn er an der Siegelschnur etwas drehte – seinen Kaiser, als dessen erhabenen, gleichermaßen strahlenden und alles überstrahlenden Stellvertreter. Gold als Siegelmaterial war und blieb in Byzanz den Kaisern vorbehalten, gleich wie die purpurne Seidenschnur – beides wird damit zur Manifestation kaiserlicher Macht wie kaiserlicher Gnade.33

8 Fazit Überblickt man die hier zusammengestellten, auf visuellen Eindruck ausgerichteten Elemente der byzantinischen Privilegienurkunde des 11. Jahrhunderts, so präsentiert sich dem Betrachter ein elaboriertes, vielgestaltiges, auf unterschiedlichen optischen Reizen aufgebautes System des Sichtbarmachens von Macht. Dieses wird ergänzt durch eine Vielzahl innerer Urkundenmerkmale, die gleichfalls helfen, das kaiserliche Schriftstück über das rein Profane hinaus zu heben. Man kann dabei nicht übersehen, dass in Byzanz mit dem Fortschreiten der Jahrhunderte dieses fein- und vielgliedrige System zunehmend vereinfacht wurde: Invocatio und Intitulatio fallen schon bald ersatzlos weg, gleiches gilt für die Inscriptio respektive Eingangspromulgation. Noch vor 1204 verschwindet auch das Legimus.34 Es bleiben die Rotworte, die optisch zunehmend dominant gestaltet werden, die kaiserliche Unterschrift und das goldene Siegel. Aber auch für diese reduzierte Form visueller Pracht- und Machtentfaltung gilt mit Nachdruck zu betonen, was eingangs dieses Beitrags mit den Worten Peter RÜCKs festgehalten wurde: Egal, ob im 11. oder im 15. Jahrhundert, die Urkunde || 31 DÖLGER (Anm. 29), S. 317; GRIERSON (Anm. 29), S. 243–244. 32 DÖLGER u. KARAYANNOPOULOS (Anm. 11), S. 42. 33 DÖLGER (Anm. 29), S. 317 hatte es mit Hinblick auf das kaiserliche Siegel seinerzeit so auf den Punkt gebracht: „Gold, Purpur, Seide – alles Symbole der kaiserlichen Macht.“ 34 Der späteste bekannte Beleg begegnet in einem Chrysoboullos Logos Kaiser Alexios’ III. Angelos vom Juni 1198 (DR 1646). In diesem Sinne ist die Angabe bei DÖLGER u. KARAYANNOPOULOS (Anm. 11), S. 123 zu korrigieren, wo zu lesen steht, dass in den erhaltenen Chrysobullen nach 1186 das Legimus fehlt; im Tafelteil des Werkes wird hingegen der Legimus-Vermerk der eben angeführten Alexios-Urkunde in Nachzeichnung abgebildet (Nr. 12–13), und die zugehörige Tafelerläuterung (S. 150) weist diesen richtig der Regestnummer 1646 und dem Jahr 1198 zu.

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zeigt sich als Schriftwerk, welches über seinen Textinhalt hinaus noch andere Botschaften mannigfachster Art transportiert und als spezielles Schriftwerk gerade – bzw. nur – über diese Zusatzbotschaften wahrnehmbar ist. Es wäre in der Byzantinistik hoch an der Zeit, diesen Elementen nachzuspüren und ihnen jenen Stellenwert einzuräumen, der ihnen ohne Zweifel zukommt.

Irmgard Fees

Graphische Symbole in Bischofsurkunden des hohen Mittelalters Zusammenfassung: Nach einem Überblick über die in der einschlägigen Literatur behandelten graphischen Symbole in den Urkunden von Erzbischöfen und Bischöfen in Europa, insbesondere in Frankreich, Spanien, Portugal und Italien, konzentriert sich der Beitrag auf Bischofsurkunden aus dem deutschsprachigen Raum, die im Wesentlichen auf der Basis des im Marburger Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden (LBA) erfassten Materials untersucht werden. Dieses Material ermöglicht es, das Phänomen in Relation zu den insgesamt überlieferten Bischofsurkunden zu setzen. Dabei zeigt sich, dass graphische Symbole in Bischofsurkunden im 10., 11. und 12. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum wie im übrigen Europa eher Ausnahmefälle darstellen, wenn man von Invokationszeichen wie Chrismen und Kreuzen sowie der Ausgestaltung der ersten Zeile absieht. Im deutschen Reich sind nur rund 2% der zwischen 800 und 1250 überlieferten bischöflichen Urkunden mit graphischen Symbolen ausgestattet. Vor allem in der Zeit zwischen 1050 und 1080 und ab den 30er Jahren des 12. Jahrhunderts erscheinen Namensmonogramme, Benevalete-Zeichen und andere Symbole im Eschatokoll der Urkunden. In einiger Häufigkeit und über längere Zeit hinweg werden sie nur in wenigen Erzbistümern und Bistümern verwendet, so vor allem in Salzburg, Augsburg und Köln. Nach etwa dem Jahr 1200 treten sie in echten Bischofsurkunden des deutschsprachigen Raums allem Anschein nach nicht mehr auf. Schlagwörter: Privaturkunden, graphische Symbole, Glaubwürdigkeit, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Skandinavien, Osteuropa

|| Irmgard Fees, Historisches Seminar der LMU München, Abt. Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-009

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Durch auffällige graphische Zeichen und Symbole1 zeichnen sich im frühen und hohen Mittelalter vor allem die Herrscher- und Papsturkunden aus. Zu den Zeichen, die begegnen, zählen Chrismon,2 Herrschermonogramm3 und Rekognitionszeichen4 der

|| 1 Mit ‚graphischen Zeichen‘ sind hier über bloße Schriftzeichen hinausgehende Phänomene gemeint, also Zeichen, die sich von den normalen im jeweiligen Text verwendeten Buchstaben graphisch abheben, jedoch damit nicht zwangsläufig auch als Symbole gelten können. Grundlegend für die folgenden Darlegungen sind die Ausführungen von Peter RÜCK, Beiträge zur diplomatischen Semiotik, in: DERS. (Hg.), Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Semiotik (Historische Hilfswissenschaften 3), Sigmaringen 1996, S. 13–47, bes. S. 15, wo der Autor die Begriffe ‚Zeichen‘, ‚Signet‘, ‚Signal‘ und ‚Symbol‘ prägnant definiert und gegeneinander abgrenzt. Die Terminologie ‚graphische Zeichen und Symbole‘ hat sich spätestens seit den bahnbrechenden Arbeiten und Publikationen von RÜCK in der Diplomatik etabliert; vgl. insbesondere den von ihm herausgegebenen, eben zitierten Sammelband „Graphische Symbole“, darin insbesondere die Beiträge von Hermann JUNG, Zeichen und Symbol. Bestandsaufnahme und interdisziplinäre Perspektiven, S. 49–66, sowie für den Bereich mittelalterlicher Urkunden Ruth SCHMIDT-WIEGAND, Die rechtshistorische Funktion graphischer Zeichen und Symbole in Urkunden, S. 67–79; daneben auch Armin HOFMANN, Die graphische Funktion des Symbols, S. 81–86, sowie Helmut GLÜCK, Das graphische Symbol im Text: linguistische Aspekte, S. 87–98. 2 Zu Entstehung und Entwicklung des Chrismons vgl. RÜCK (Anm. 1), S. 26f., und grundlegend Erika EISENLOHR, Von ligierten zu symbolischen Invokations- und Rekognitionszeichen in frühmittelalterlichen Urkunden, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 167–262; zur weiteren Entwicklung: Mark MERSIOWSKY, Graphische Symbole in den Urkunden Ludwigs des Frommen, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 335–383, hier S. 342–350; vgl. auch Mark MERSIOWSKY, Carta edita, causa finita? Zur Diplomatik Kaiser Arnolfs, in: Franz FUCHS (Hg.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte. Beiheft 19. Reihe B), München 2002, S. 271–374, hier S. 304–306; DERS., Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation, 2 Bde. (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 60), Wiesbaden 2015, Bd. 2, S. 129–134; Abbildungen der Chrismen der frühen Ottonenzeit bietet Peter RÜCK, Bildberichte vom König. Kanzlerzeichen, königliche Monogramme und das Signet der salischen Dynastie (Elementa diplomatica 4), Marburg 1996, S. 60–68; Beschreibungen und Abbildungen der Chrismen in den Herrscherurkunden des 12. Jahrhunderts bei Walter KOCH, Die Schrift der Reichskanzlei im 12. Jahrhundert (1125–1190) (Österreich. Akad. d. Wissenschaften, Phil. hist. Kl. Denkschriften 134), Wien 1979, passim, z. B. S. 26, 45, 62, 70 usw. 3 RÜCK (Anm. 2), mit der älteren Literatur. 4 Mark MERSIOWSKY hat in seinen neueren Publikationen – z. B. DERS., Urkunde in der Karolingerzeit (Anm. 2) – den Begriff ‚Subskriptionszeichen‘ anstelle von ‚Rekognitionszeichen‘ verwendet; das Zeichen steht tatsächlich für das Wort subscripsi in der Formel recognovi et subscripsi, während recognovi ausgeschrieben wird. Ich plädiere trotzdem für die Verwendung des etablierten Begriffs ‚Rekognitionszeichen‘, nicht zuletzt da es das Zeichen desjenigen darstellt, der die Rekognition vornimmt. – Zum Zeichen vgl. RÜCK (Anm. 1), S. 27f.; bis zum Ende der Karolingerzeit grundlegend Peter WORM, Karolingische Rekognitionszeichen. Die Kanzlerzeile und ihre graphische Ausgestaltung auf den Herrscherurkunden des 8. und 9. Jahrhunderts, 2 Bde. (Textbd., Abbildungsbd.) (Elementa diplomatica 10/1–2), Marburg 2004; zusammenfassender Überblick über die frühe Entwicklung und eingehende Behandlung des Zeichens in der Zeit der Ottonen: Wolfgang HUSCHNER, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien

Graphische Symbole in Bischofsurkunden des hohen Mittelalters | 201

Kaiser- und Königsurkunde sowie Rota5 und Benevalete6 der Papsturkunde. All diese Zeichen sind mittlerweile intensiv wissenschaftlich behandelt worden. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Forschung verstärkt auch den Zeichen in den sogenannten Privaturkunden zugewandt, so vor allem den Notarssigneten, deren Vernachlässigung lange beklagt worden war.7 Darüber hinaus gibt es aber nur wenige Untersuchungen zu graphischen Zeichen in Privaturkunden, und das hat seinen guten Grund darin, dass über die Schriftzeichen hinausgehende Symbole in diesen Stücken eher selten sind, sieht man von Invokationszeichen und von den Kreuzen, welche die Unterfertigungen in den Cartae des frühen Mittelalters einleiten, einmal ab. Der einzige Urkundentypus aus dem Bereich der mittelalterlichen europäischen Privaturkunde, in dem in nennenswertem Maße unterschiedliche graphische Symbole auftauchen, ist die Bischofsurkunde8 – zumindest, wenn man der einschlägigen Literatur folgt. Auf solche Zeichen wurde bereits in der älteren Handbuchliteratur aufmerksam gemacht; Beispiele und be-

|| und dem nordalpinen Reich (9.–11. Jahrhundert), 3 Bde. (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 52), Hannover 2003, Bd. 2, S. 531–546. 5 Joachim DAHLHAUS, Aufkommen und Bedeutung der Rota in den Urkunden des Papstes Leo IX., in: Archivum Historiae Pontificiae 27 (1989), S. 7–84; DERS., Aufkommen und Bedeutung der Rota in der Papsturkunde, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 407–423; vgl. auch RÜCK (Anm. 1), S. 30–34. 6 Zum Benevalete-Monogramm vgl. Otfried KRAFFT, Bene Valete. Entwicklung und Typologie des Monogramms in Urkunden der Päpste und anderer Aussteller seit 1049, Leipzig 2010; DERS., Der monogrammatische Schlußgruß (Bene valete). Über methodische Probleme, historisch-diplomatische Erkenntnis zu gewinnen, in: Irmgard FEES, Andreas HEDWIG u. Francesco ROBERG (Hgg.), Papsturkunden des frühen und hohen Mittelalters: Äußere Merkmale, Konservierung, Restaurierung, Leipzig 2011, S. 209–247. 7 Beklagt hatten das Fehlen von einschlägigen Untersuchungen etwa Wilhelm SCHMIDT-THOMÉ, Notarsignet, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 3 (1984), Sp. 1049–1055, und PeterJohannes SCHULER, Genese und Symbolik des nordeuropäischen Notarszeichens, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 669–687. Seitdem hat sich in der Erforschung der Notarszeichen viel geändert; zu den neuesten Veröffentlichungen, die auch Zugang zur älteren Literatur bieten, gehören Reinhard HÄRTEL, Zu Entstehung und Funktion des Notarssignets, in: Johanna AUFREITER u. a. (Hgg.), Kunst Kritik Geschichte: Festschrift für Johann Konrad Eberlein, Berlin 2013, S. 107–133; Magdalena WEILEDER, Ad solam memoriam oder ut plena fides adhibeatur? Zu notariell beglaubigten Transsumpten aus bayerischen und österreichischen Urkundenbeständen, in: Studia Historica Brunensia (im Druck); DIES., ‚Emblematische‘ Notarssignete der Frühen Neuzeit, in: Gabriele BARTZ u. Markus GNEISS (Hgg.) Illuminierte Urkunden. Beiträge aus Diplomatik, Kunstgeschichte und Digital Humanities (Archiv für Diplomatik. Beiheft 16) Köln u.a. 2018, S. 103–123. 8 Urkunden von Erzbischöfen und Bischöfen unterscheiden sich nicht grundsätzlich; wenn hier von Bischofsurkunden gesprochen wird, sind auch Urkunden von Erzbischöfen eingeschlossen. Zu Bischofsurkunden, auch zur Problematik des Begriffs, vgl. als besten aktuellen Überblick Reinhard HÄRTEL, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter, Wien, Köln, Graz 2011, S. 124–137.

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stimmte Charakteristika wurden angeführt, ohne dass naturgemäß detaillierte Aussagen zur Verbreitung des Phänomens gemacht werden konnten. Hingewiesen sei für den deutschsprachigen Raum auf die entsprechenden Ausführungen durch BRESSLAU,9 REDLICH10 und HEUBERGER,11 und auch im maßgeblichen aktuellen Handbuch zur Privaturkunde von Reinhard HÄRTEL werden ausdrücklich graphische Symbole in Bischofsurkunden erwähnt, die aus Herrscherurkunden und Papsturkunden übernommen wurden.12 Die moderne Spezialliteratur hat sich dem Phänomen ebenfalls zugewandt, allerdings aus unterschiedlichen Blickrichtungen. Grob kann man die Arbeiten in folgende Gruppen einteilen:

|| 9 Harry BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. 2, Abt. 1, 3. Aufl. Berlin 1958, S. 191: „Nicht selten kommen ferner in bischöflichen oder erzbischöflichen […] Urkunden des 10. bis 12. Jahrhunderts Monogramme vor, die den in den Königsurkunden gebrauchten Namenszeichen entsprechend gebildet sind, bisweilen auch Rotae, die denen der Papstprivilegien nachgeahmt werden“, mit Beispielen ebd., Anm. 3 und 4: Adalbero von Metz 940, Adalbero von Würzburg 1057, Eberhard von Trier 1061, Embricho von Augsburg 1067, Eberhard von Bamberg 1151, Philipp von Köln 1169. BRESSLAU erwähnt zudem Fälle in Bischofsurkunden aus Passau, Salzburg und Freising und verweist auf weitere Beispiele in den Urkunden der Erzbischöfe von Benevent, Ravenna und Trani im 12. Jahrhundert. 10 Oswald REDLICH, Die Privaturkunden des Mittelalters (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. 4, 3. Teil), München, Berlin 1911, ND München 1967, 2. Aufl. Darmstadt 1969, S. 94–95 erwähnt, zum Teil auf BRESSLAU gestützt, Arnolf (richtig: Adalbero) von Metz 940, Bischöfe von Langres 1101 und 1129, Adalbero von Würzburg 1057, Drogo von Thérouanne, Daimbert von Sens, Bischöfe von Bamberg um 1150, Eberhard von Salzburg (1147–1164), Konrad II. von Salzburg (1164– 1168) und Roman von Gurk 1145. 11 Richard HEUBERGER, Allgemeine Urkundenlehre für Deutschland und Italien (Grundriß der Geschichtswissenschaft zu Einführung in das Studium der deutschen Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. I. 2a), Leipzig, Berlin 1921, S. 34: „Bischofsurkunden des 10. bis 12. Jhs. zeigen den päpstlichen Benevaletemonogrammen und Rotae nachgeahmte Zeichen (Salzburg bzw. Würzburg, Bamberg, Hildesheim) sowie Handmale nach Art der königlichen (Metz, Trier, Bremen, Augsburg, Verdun, Köln, Passau, Freising, Salzburg)“, ohne Nachweis der Stücke; die Liste stützt sich offensichtlich auf die schon bei BRESSLAU und REDLICH genannten Fälle, neu sind jedoch Bremen und Verdun. 12 HÄRTEL (Anm. 8), S. 128–130; zu Bischofsurkunden führt HÄRTEL aus: „An äußeren Merkmalen der Herrscherurkunden wurden vielfach übernommen: das große Format […], einzelne graphische Symbole“ (ebd., S. 128); „Die aus Papsturkunden übernommenen äußeren Merkmale sind vor allem die an der Kurie gepflegte Ausbildung der urkundlichen Schriftformen, graphische Symbole (Rota und ‚Bene valete‘), die Anordnung der Unterschriften in Kolumnen“ (ebd., S. 129). Er nennt als Beispiele Urkunden der Bischöfe von Hildesheim und Würzburg in den 1050er Jahren.

Graphische Symbole in Bischofsurkunden des hohen Mittelalters | 203

1.

2.

3.

Untersuchungen zur Diplomatik von Bischofsurkunden allgemein oder von Urkunden bestimmter Bistümer. Hierzu zählen an erster Stelle die Beiträge im Sammelband „Diplomatik der Bischofsurkunde“,13 die einen Überblick über die Bischofsurkunden zahlreicher europäischer Länder bieten. Die Frühzeit der Bischofsurkunden in Deutschland behandelt Friederike ZAISBERGER.14 Zudem liegen überaus zahlreiche Spezialstudien zum Urkundenwesen einzelner Bistümer vor, die hier nicht im Einzelnen aufgezählt werden können.15 Untersuchungen zum Einfluss der Papsturkunde auf die Urkunden der europäischen Bischöfe und Erzbischöfe und damit auch zur Übernahme der charakteristischen Symbole, die die Papsturkunde seit den Reformen Leos IX. auszeichnen, also der Rota und des Benevalete-Monogramms. Den besten umfassenden Überblick zu diesem Thema hat Othmar HAGENEDER geliefert; er verfolgt die Verwendung von Rota und Benevalete in Bischofsurkunden in ganz Europa.16 Einschlägig sind auch zahlreiche Beiträge des Sammelbandes „Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen“.17 Auf die Übernahme eines einzelnen Zeichens, des Benevalete-Monogramms, konzentriert sich die Arbeit von Otfried KRAFFT.18 Untersuchungen zum Auftreten von graphischen Zeichen und Symbolen allgemein in den Regionen Europas oder bestimmten Städten, bei denen auch Bischofsurkunden erfasst werden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Aufsätze im Sammelband „Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden“ zu nennen.19 Peter RÜCK hat innerhalb seiner programmatischen, die Beiträge resümierenden Einleitung zu diesem Band die umfassendsten Angaben zum

|| 13 Christoph HAIDACHER u. Werner KÖFLER (Hgg.), Die Diplomatik der Bischofsurkunde vor 1250. La diplomatique épiscopale avant 1250. Referate zum VIII. Internationalen Kongreß für Diplomatik Innsbruck, 27. September – 3. Oktober 1993, Innsbruck 1995. 14 Friederike ZAISBERGER, Die Frühzeit der geistlichen Siegelurkunden in Deutschland (10. und 11. Jahrhundert), in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 74 (1966), S. 257–291, hier S. 279–281, wo Beispiele aus Köln, Mainz, Würzburg und Trier erwähnt werden. 15 Einen Überblick zu den Studien zum deutschsprachigen Raum bietet Hans FUHRMANN, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Köln im 13. Jahrhundert (1238–1297) (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 33), Siegburg 2000, S. 53f. mit Anm. 17–23; unter den später als diese Studie erschienenen Arbeiten ist hervorzuheben: Thomas LUDWIG, Die Urkunden der Bischöfe von Meißen. Diplomatische Untersuchungen zum 10.–13. Jahrhundert (Archiv für Diplomatik. Beiheft 10), Köln u. a. 2008. 16 Othmar HAGENEDER, Papsturkunde und Bischofsurkunde (11. –13. Jh.), in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 39–63, hier S. 43–46; angeführt werden, außer Beispielen aus Italien, Frankreich, Portugal und Spanien, aus dem deutschsprachigen Raum Fälle in Mainz, Salzburg, Augsburg und Passau. 17 Peter HERDE u. Hermann JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert (Archiv für Diplomatik. Beiheft 7), Köln u. a. 1999. 18 KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 135–150. 19 RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1).

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Thema gemacht, die nicht zuletzt in der Materialerfassung zuweilen über die Beiträge selbst hinausgehen.20 Im vorliegenden Beitrag stehen zwar die graphischen Symbole in Bischofsurkunden aus dem deutschsprachigen Raum im Mittelpunkt, doch werden sie in den Gesamtkontext der europäischen Überlieferung eingebettet, zu dem zunächst der Forschungsstand, soweit entsprechende Untersuchungen vorliegen, skizziert werden soll. Wir beginnen im Norden, in Skandinavien, wo graphische Symbole, die über Unterschriftszeichen wie Kreuze hinausgehen, in Bischofsurkunden allem Anschein nach keine Rolle spielen.21 Ähnlich sieht es in England aus. Aufgrund des in den „English Episcopal Acta“22 vorbildlich aufgearbeiteten und systematisch edierten Materials lässt sich konstatieren, dass Chirographen vergleichsweise häufig auftreten. Graphische Symbole jedoch scheint es nicht gegeben zu haben, wenn man von vergrößerten, geschwärzten, gespaltenen oder in anderer Form hervorgehobenen Buchstaben absieht. Sogar Kreuze, selbst im Zusammenhang mit Unterfertigungen, sind in England ausgesprochen selten.23

|| 20 RÜCK (Anm. 1); zu Bischofsurkunden hier S. 34 mit Anm. 179–195, S. 35 mit Anm. 199, 203–208, S. 38–40 mit Anm. 232–246, 251–261, S. 42. 21 Zu Dänemark: Herluf NIELSEN, Über die Urkunden der Erzbischöfe und Bischöfe des dänischen Mittelalters bis um 1250, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 551–558, erwähnt S. 556 besondere Zeichen, „Signaturen“, die ihn an Hausmarken erinnern, vor oder nach Unterschriften von Domherren; DERS., Einfluß der päpstlichen Kanzlei auf dänische Königs- und Bischofsurkunden bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.),Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert (Archiv für Diplomatik. Beiheft 7), Köln u.a. 1999, S. 147–160; DERS., Beobachtungen zu den graphischen Symbolen und Kanzleisignaturen in dänischen Urkunden bis um 1400, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 529–532; zu Schweden: Birgitta FITZ, Bischöfliche Diplomatik in Schweden vor 1250, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 559–564, erwähnt bei ihrer Beschreibung der äußeren Merkmale schwedischer Bischofsurkunden S. 560 keine graphischen Symbole. 22 English Episcopal Acta 1–45, Oxford 1980–2016. Diese enthalten immer auch Abbildungen von ausgewählten Stücken, Schriftproben und Siegeln. Zudem liegt eine Facsimile-Ausgabe vor, die auf 100 Tafeln nahezu doppelt so viele Abbildungen von Bischofsurkunden aus der Zeit zwischen dem späten 11. und dem Beginn des 14. Jahrhunderts bietet (Facsimiles of English Episcopal Acta 1085– 1305, ed. Martin BRETT, Philippa HOSKIN, David SMITH (English Episcopal Acta. Supplementary Volume 1), Oxford 2012). 23 Vgl. auch Christopher R. CHENEY, English Bishops’ Chanceries (Publications of the Faculty of Arts of the University of Manchester 3), Manchester 1950, S. 46f., demzufolge Unterfertigungskreuze in England sehr selten sind; Abbildungen solcher Kreuze etwa ebd., Plate VI, sowie in Facsimiles of English Episcopal Acta (Anm. 22), Taf. II, LXXXV. Vgl. dazu auch Jane E. SAYERS, The Land of Chirograph, Writ and Seal: the Absence of Graphic Symbols in English Documents, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 533–549; DIES., The Influence of Papal Documents on English Documents before 1305, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 161–200, bes. S. 163f. und Abb. 5 S. 183; Patrick N. R. ZUTSHI, The Papal Chancery and English Documents in the Fourteenth and

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Auch im östlichen und südöstlichen Europa treten graphische Symbole in Bischofsurkunden augenscheinlich nicht auf, weder in Polen,24 noch in Tschechien25 oder Ungarn,26 wenn auch in einem Ausnahmefall ein Erzbischof und ein Bischof Rotae anstelle von Unterfertigungskreuzen einsetzen;27 ebenso wenig in Rumänien,28 in Dubrovnik29 oder in den Urkunden der lateinischen Patriarchen von Jerusalem.30

|| Early Fifteenth Centuries, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 201–218. – Bei T. G. WALDMAN, Papal Influence on the Acts of the Norman and English Bishops, in: Manuscripta 24 (1980), S. 12, handelt es sich nur um die Erwähnung eines Tagungsvortrags, der offenbar nicht in schriftlicher Form erschienen ist. – Außer zu England auch zu Wales und Schottland äußern sich Julia S. BARROW, From the Lease to the Certificate: the Evolution of Episcopal Acta in England and Wales (c. 700 – c. 1250), in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 529–542, und Norman F. SHEAD, Scottish bishops’ acta before c. 1250: St. Andrews and Glasgow, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 543–550. 24 Die Breslauer Bischofsurkunden sind „schmucklos und einfach“, so Winfried IRGANG, Das Urkundenwesen der Bischöfe von Breslau bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 139–145, hier S. 143; zu Polen vgl. Tomasz JUREK, Das polnische bischöfliche Urkundenwesen bis ca. 1300, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 147–158; Stanislaw KURAS, L’influence de la chancellerie pontificale en Pologne médiévale, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 123–130. 25 Ivan HLAVÁCEK, Allgemeine Vorbedingungen der bischöflichen Diplomatik in Ostmitteleuropa und die ersten Schritte des Prager bischöflichen Urkundenwesens bis 1300, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 121–130; Jan BISTRICKÝ, Das Urkundenwesen der Olmützer Bischöfe des 12. und 13. Jahrhunderts, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 131–137; Ivan HLAVÁCEK, Zu den graphischen Elementen im böhmischen Urkundenwesen der vorhussitischen Zeit (bis 1419), in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 571–594; Jan BISTRICKÝ, Graphische Symbole in den ältesten böhmischen Urkunden, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 595–606; Zdenka HLEDÍKOVÁ, Die Einflüsse päpstlicher Urkunden und Kanzleibräuche auf das Urkunden- und Kanzleiwesen der Bischöfe und Erzbischöfe von Prag (prolegomena), in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 97–121. 26 László SOLYMOSI, Chartes archiépiscopales et épiscopales en Hongrie avant 1250, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 159–177; DERS., Graphische Symbole in den ungarischen Urkunden des 11.–13. Jahrhunderts, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 607–632; DERS., Der Einfluß der päpstlichen Kanzlei auf das ungarische Urkundenwesen bis 1250, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 87–96. 27 Vgl. KURAS (Anm. 24), der S. 125f. auf Erzbischof Heinrich Kietlicz von Gnesen und Bischof Laurentius von Breslau hinweist, die zwar nicht in einer Bischofsurkunde, wohl aber einer Urkunde Herzog Heinrichs von Schlesien von 1208 mit einer Rota unterfertigen. 28 Maria DOGARU, Elémentes figurés dans les documents féodaux roumains, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 643–668. 29 Ante MARINOVIC, Symboles graphiques dans les chartes médiévales de Dubrovnik, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 633–642. 30 Rudolf HIESTAND, Die Urkunden der lateinischen Patriarchen von Jerusalem und Antiochia im 12. Jahrhundert, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 85–95, der auch auf formale Aspekte eingeht, erwähnt keine graphischen Symbole.

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Zeichnen sich also die Urkunden der Erzbischöfe und Bischöfe im nördlichen und östlichen Europa sowie in England durch das völlige Fehlen von graphischen Symbolen aus, so bietet sich im westlichen und südlichen Europa ein anderes Bild. Im westlichen Europa finden sich Rotae, freilich unterschiedlicher graphischer Qualität, in einer Urkunde des Erzbischofs Daimbert von Sens von 111131, in einer allerdings gefälschten Urkunde des Erzbischofs Richard II. von Bourges von 1087– 108832, in einer Urkunde des Bischofs Drogo von Thérouanne (1030–1078),33 in einer Urkunde Bischof Geoffroys von Chartres (1122–1143)34 und in einer Urkunde des Bischofs Hubert von Thérouanne von 1079.35 Die Bischöfe Gerhard I. (1012–1051), Lietbert und Gerhard II. (1076–1092) von Cambrai verwendeten zur Unterfertigung von Urkunden in sechs Fällen Monogramme,36 Gerhard II. zudem zwei unterschiedliche Formen der Rota.37 Von diesen Einzelbeispielen abgesehen, scheinen die Erzbischöfe und Bischöfe in Frankreich und Flandern ihre Urkunden nicht mit graphischen Symbolen ausgestattet zu haben.38

|| 31 Arthur GIRY, Manuel de diplomatique, Paris 1894, S. 809 Anm. 3; REDLICH (Anm. 10), S. 94–95; HAGENEDER (Anm. 16), S. 44; RÜCK (Anm. 1), S. 34. 32 Olivier GUYOTJEANNIN, L’influence pontificale sur les actes épiscopaux français (Provinces ecclésiastiques de Reims, Sens et Rouen, XIe–XIIe siècles), in: Rolf GROSSE (Hg.), L’église de France et la papauté (Xe–XIIIe siècle). Actes du XXVIe Colloque Historique Franco-Allemand (Paris, 17–19 octobre 1990) (Studien und Dokumente zur Gallia Pontificia 1), Bonn 1992, S. 83–102, mit Abb. 2–5, hier S. 85, 100 mit Anm. 88; HAGENEDER (Anm. 16), S. 44. – Urkunde in: Alfred GANDILHON, Catalogue des actes des archevêques de Bourges antérieurs à l’an 1200, Bourges-Paris 1927, S. CLXXXVIII und Nr. 53 S. 36. 33 GUYOTJEANNIN (Anm. 32), S. 100 Anm. 88. 34 Ebd. 35 Thérèse de HEMPTINNE, Les symboles graphiques dans les chartes du comté de Flandre jusqu’au début du XIIIe siècle, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 509–528, hier S. 513, Abb. ebd., S. 520 planche 2d; vgl. auch Thérèse de HEMPTINNE u. Walter PREVENIER, La chancellerie pontificale et les centres ecclésiastiques de rédaction de chartes dans les anciens Pays-Bas méridionaux du XIe au XIIIe siècle, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 131–145, besonders S. 136f. 36 HEMPTINNE (Anm. 35), S. 515 mit Anm. 82. 37 Ebd., S. 515 mit Anm. 86, Abb. S. 525 Abb. 9b, S. 526 Abb. 10b. 38 Überaus umfangreich ist die einschlägige Literatur, die sich mit den inneren und äußeren Merkmalen der erzbischöflichen und bischöflichen Urkunden in diesem Raum befasst; besonders hinzuweisen ist auf die Überblicksarbeiten von GUYOTJEANNIN (Anm. 32); vgl. im übrigen Benoît-Michel TOCK, Une chancellerie épiscopale au XIIe siècle: Le cas d’Arras (Université Catholique de Louvain. Publications de l’Institut d’Études médiévales. Textes, Études, Congrès 12), Louvain-la-Neuve 1991, besonders S. 98–100; die Beiträge von PARISSE, COURTOIS, BOGHEN, DUFOUR-MALBEZIN, BRUNEL in: Michel PARISSE (Hg.), À propos des actes d’évêques. Hommage à Lucie Fossier, Nancy 1991; die Beiträge von PARISSE und ATSMA/VEZIN in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg) (Anm. 13); zum späteren Mittelalter vgl. Olivier GUYOTJEANNIN, Traces d’influence pontificale dans les actes épiscopaux et royaux français (XIIIe–XVe siècle), in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 337–364, besonders S. 338– 350.

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Im Gebiet des heutigen Spanien treten in den Urkunden einiger Erzbischöfe und Bischöfe Rotae auf;39 so verwendete Erzbischof Diego Gelmirez von Santiago de Compostela ein solches Symbol vermutlich bereits 1105, sicher aber seit 1115, und er versah es mit der Devise des Papstes Paschalis II., Verbo domini celi firmati sunt.40 Auch seine Nachfolger bedienten sich der Rota,41 ebenso die benachbarten Bischofssitze, wie Bischof Guido von Lugo 1135,42 Bischof Juan von Lugo (1152–1181)43 und Bischof Munio Adefonsiade von Mondoñedo (1112–1136).44 Außer in diesen galizischen Diözesen verwendeten die Bischöfe Spaniens jedoch in ihren Urkunden offenbar keine graphischen Symbole, die über Invokationszeichen, Unterschriftskreuze oder andere Unterschriftszeichen45 hinausgehen.46 Sporadisch treten auch in den Urkunden von Bischöfen aus Portugal graphische Symbole auf, die über Unterschriftskreuze hinausgehen, so 1120 in einer Urkunde bezüglich der Weihe der Kirche S. Victor in Braga durch Erzbischof Pelagius von Braga47.

|| 39 So María Luisa PARDO RODRÍGUEZ, La rueda hispana. Validación y simbología, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 241–258, hier S. 243, unter Verweis auf: Richard A. FLETCHER, The Episcopate in the Kingdom of León in the Twelfth Century, Oxford u. a. 1978, der S. 105–118 die äußeren Merkmale der Bischofsurkunden in der Region allgemein behandelt und S. 107–109 auf die Rotae von Compostela, Lugo und Mondoñedo eingeht. Eine Abb. nach S. 118 zeigt eine Urkunde des Bischofs Petrus III. von Lugo von 1132 mit einem Symbol, das an ein Rekognitionszeichen denken lässt. 40 Anton EITEL, Rota und Rueda, in: Archiv für Urkundenforschung 5 (1914) S. 299–336, hier S. 304f., mit Abb. S. 304; vgl. auch HAGENEDER (Anm. 16), S. 44. 41 EITEL (Anm. 40), S. 306; HAGENEDER (Anm. 16), S. 44. 42 EITEL (Anm. 40), S. 307 mit Abb.; HAGENEDER (Anm. 16), S. 44. 43 EITEL (Anm. 40), S. 307–310 mit Abb. S. 308 und 309 (Abb. 3, 5, 6). 44 Ebd., S. 310f. mit Abb. 7 S. 310; HAGENEDER (Anm. 16), S. 44. 45 María Josefa SANZ FUENTES, Documento y cancillería episcopal en Oviedo anterior a 1300, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 467–482, bildet einige Urkunden ab, die aufwendige Unterschriftskreuze und -zeichen sowie Notarssignete aufweisen: Abb. 1–4 S. 475–478. 46 María Milagros CÁRCEL ORTÍ, Diplomatica episcopal de Valencia (1240–1300), in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 393–409; Pilar PUEYO COLOMINA, Diplomatica episcopal cesaraugustana anterior a 1318 [zu Zaragoza], in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 411–427; Pilar OSTOS SALCEDO, Documentos y cancillería episcopal de Burgos anterior a 1300, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.), Diplomatik der Bischofsurkunde (Anm. 13), S. 429–453; María Luisa PARDO RODRÍGUEZ, Documentos y cancillerías episcopales de la Andalucía Bética en el siglo XIII, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 453–466, die die bischöflichen Urkunden in Valencia, Zaragoza, Burgos und Andalusien und jeweils auch deren äußeren Merkmale behandeln, erwähnen keine graphischen Symbole. – Vgl. auch Angel CANELLAS LÓPEZ, Algunos signos regios, eclesiásticos, notariales y privados medievales aragoneses, in: RÜCK (Hg.), Graphische Symbole (Anm. 1), S. 425–438, der S. 425–428 Abb. 23–27 und Abb. 31–39 bischöfliche Unterschriftszeichen anführt, bei denen es sich um Kreuze und Kreuzvarianten handelt. 47 HAGENEDER (Anm. 16), S. 44; Abb. bei Maria Cristina ALMEIDA E CUNHA, Traces de la documentation pontificale dans les documents épiscopaux de Braga (1071–1224), in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 259–270, hier Abb. 1 S. 268.

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Dies scheint ein Ausnahmefall zu sein, und es ist zweifelhaft, ob es sich tatsächlich um ein Zeichen des Erzbischofs handelt, der ansonsten immer mit seinem Namen und nicht mit einem Zeichen unterfertigt.48 Eine Urkunde Bischof Gilberts von Lissabon von 1159 enthält zwischen zwei Kolumnen mit Unterschriften eine Rota mit der Inschrift UL-IX-BO-NA (für Lissabon) in den Quadranten und einer Umschrift.49 Eine weitere, auf 1187/1188 zu datierende Urkunde enthält drei Rotae, die für den Bischof von Coimbra, für König Sancho I. und für den Prior von Santa Cruz stehen.50 Schließlich weist eine Urkunde des Bischofs von Coimbra von 1258 ebenfalls eine an eine Rota erinnernde Figur auf.51 Im 13. und 14. Jahrhundert werden Rotae immer seltener.52 Auch in Italien treten graphische Symbole nur in Urkunden weniger Erzbischöfe und Bischöfe auf. Unter den Patriarchen von Aquileia verwendete Pilgrim I. (1130/32– 1161) in seinen Urkunden Radkreuze53, so in einer von 1136, deren Echtheit zweifelhaft ist, und in mehreren aus der Jahrhundertmitte, darunter einer im Original erhaltenen. Ein einziges erhaltenes Original lässt Eigenhändigkeit vermuten. Diese Figuren bestehen aus einem Radkreuz mit eingeschriebenen Devisen, nicht immer denselben, u. a. 1152 Adiuva nos deus noster.54 In den Urkunden der Suffragane von Aquileia, also Padua,55 Vicenza, Treviso, Trient, Feltre, Belluno, Concordia, Triest und Poreč/Parenzo, gibt es offenbar keine graphischen Symbole.56 In Ravenna weisen zwei Urkunden des Erzbischofs Walter aus den Jahren 1133 und 1136 und zwei des Erzbischofs Moses von 1146 und 1147 Rota und Benevalete auf, ahmen also die Papsturkunde nach;57 Rota und Benevalete finden sich auch in einer

|| 48 ALMEIDA E CUNHA (Anm. 47), S. 261f. und Abb. 1 S. 268; vgl. auch EITEL (Anm. 40), S. 304. Die bei ALMEIDA E CUNHA abgebildete Urkunde weist zwei weitere Zeichen auf, die die Autorin jedoch nicht kommentiert. 49 José MARQUES, L’influence des bulles papales sur les actes portugais au Moyen Âge, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 271–306, hier S. 284 und Abb. 11 S. 299; die Umschrift gibt der Autor nicht wieder. 50 Ebd., S. 284f. und Abb. 12 S. 300. 51 Ebd., Abb. 14 S. 302. 52 Ebd., S. 285. 53 Reinhard HÄRTEL, Einflüsse der Papsturkunde im Urkundenwesen der Patriarchen von Aquileia, in: HERDE u. JAKOBS, Papsturkunde (Anm. 17), S. 61–76, hier S. 64f. 54 Ebd., S. 65 Anm. 8; es handelt sich um eine verkürzte Version der Devise von Papst Innozenz II., dem Pilgrim I. seine lange umstrittene Anerkennung verdankt. 55 Zu Padua vgl. auch Beniamino PAGNIN, Note di diplomatica episcopale padovana, in: Patrizia CANCIAN (Hg.), La memoria delle chiese. Cancellerie vescovili e culture notarili nell’Italia centro-settentrionale (secoli X–XIII) (I florilegi 4), Torino 1995, S. 17–40. 56 Jedenfalls werden solche bei Reinhard HÄRTEL, Metropolit – Suffraganbischöfe – Kapitel. Die Urkunden im Umfeld der Patriarchen von Aquileia, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg) (Anm. 13), S. 65–83, der einen Überblick über die äußeren und inneren Merkmale der Urkunden bietet, nicht erwähnt. 57 HAGENEDER (Anm. 16), S. 45 mit Anm. 106 S. 52, Abb. der Urkunde von 1146 ebd., Tafel 5 S. 60; die Rota hatte bereits EITEL (Anm. 40), S. 299 erwähnt; zu den vier Beispielen vor allem auch KRAFFT, Bene

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einzelnen Urkunde des Bischofs von Bologna, eines Suffragans von Ravenna, von 1133.58 Dass die Verwendung dieser Symbole für Bologna jedoch einen absoluten Ausnahmefall darstellt, betonte CENCETTI;59 er sei zu erklären durch das Vorbild von Ravenna, nicht durch Nachahmung einer Papsturkunde, und komme nie wieder vor. In einer Urkunde Erzbischofs Anselms von Mailand von 1098 erscheinen zwei Rotae, eine im Protokoll, die andere im Eschatokoll.60 Die Rota im Protokoll besteht aus zwei konzentrischen Kreisen, die ein Kreuz umrahmen und in die als Devise Domini est terra et plenitudo eius eingetragen ist. In der Rota des Eschatokolls findet sich mit dem Satz Misericordia domini plena est terra die Devise Papst Leos IX. (1049– 1054),61 in den durch ein Kreuz in vier Quadranten geteilten Innenraum der Rota sind Namen und Amt des Erzbischofs eingetragen. Unter den Urkunden Erzbischof Anselms scheint das Stück von 1098 eine Ausnahme darzustellen; erst ein halbes Jahrhundert später erscheint erneut eine Rota in einer Mailänder erzbischöflichen Urkunde.62 In einer nur kopial überlieferten Urkunde des Erzbischofs Otto von Genua von 1205 erscheint ein Zeichen, das aus einem durch ein Kreuz in vier Quadranten unterteilten Quadrat besteht; in die beiden oberen Quadranten wurden die griechischen

|| Valete (Anm. 6), S. 136f. Zu den Ravennater Bischofsurkunden vgl. im übrigen Giulio BUZZI, La Curia arcivescovile e la Curia cittadina di Ravenna dall’850 al 1118, in: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano 35 (1915), S. 7–187, der hier S. 139–143 auf die Verwendung von „Legimus“ in Anlehnung an Byzanz hinweist; die in den Urkunden ebenfalls aufscheinende sogenannte Notitia Testium ist ein charakteristisches Zeichen aller frühen Ravennater Urkunden, ebenso die Zeichen der Tabellionen und später die Notarssignete; zu Ravenna vgl. auch Giuseppe RABOTTI, Considerazioni di diplomatica arcivescovile ravennate, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 319–330 (zu Forschungsstand und Desideraten). 58 HAGENEDER (Anm. 16), S. 44f.; KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 136. 59 Giorgio CENCETTI, Note di diplomatica vescovile bolognese dei secoli XI–XIII, in: La memoria delle chiese (Anm. 55), S. 131–179, hier S. 158f., 172. 60 Maria Franca BARONI, La documentazione arcivescovile milanese in forma cancelleresca (sec. XI – metà XIII), in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 305–317, hier S. 306, 314 Anm. 15; vgl. auch Annamaria AMBROSIONI, Milano e i suoi vescovi, in: Atti dell’11° congresso internazionale di studi sull’alto medioevo, Milano 26–30 ott. 1987, Spoleto 1989, Bd. I S. 291–326, hier S. 318f. Anm. 73; Dino PUNCUH, Influsso della cancelleria papale sulla cancelleria arcivescovile genovese: prime indagini, in: HERDE u. JAKOBS (Hgg.), Papsturkunde (Anm. 17), S. 39–60, hier S. 57 Anm. 110. 61 BARONI (Anm. 60), weist darauf hin, dass diese Devise auch von Papst Calixt II. (1119–1124) verwendet wurde. 62 HAGENEDER (Anm. 16), S. 44.

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Buchstaben Alpha und Omega eingefügt, in die beiden unteren der Name des Erzbischofs, OT–TO.63 Das durch ein Kreuz geteilte Quadrat, jedoch ohne die beiden griechischen Buchstaben, tritt in den erzbischöflichen Urkunden Genuas im 14. Jahrhundert häufig auf, verliert sich jedoch im 15. Jahrhundert.64 Die Erzbischöfe von Benevent, die in vieler Hinsicht eine Ausnahmestellung genossen,65 ahmten im 12. Jahrhundert in ihren Urkunden in inneren und äußeren Merkmalen das Vorbild der Papsturkunde nach. So treten im Eschatokoll dieser Stücke seit 1140 neben in Kolumnen angeordneten Unterschriften auch Rota und Benevalete auf.66 In diesem gut untersuchten Fall kennen wir auch den Referenzrahmen: Aus der Zeit zwischen 781 und 1294 sind insgesamt 42 beneventanische bischöfliche Urkunden überliefert, darunter fallen zehn Stücke in die Zeit zwischen 1140 und dem Ende des 12. Jahrhunderts, 16 stammen aus dem 13. Jahrhundert.67 In der Zeit zwischen 1140 und 1289 sind sämtliche bekannten Urkunden der Erzbischöfe mit Rota und Benevalete ausgestattet, erkennbar auch in den nur kopial überlieferten Exemplaren; es handelt sich um insgesamt 13 Stücke, davon zehn im Original, drei in Kopie überliefert.68

|| 63 PUNCUH (Anm. 60), S. 56; ebd. S. 53 zur kopialen Überlieferung des Stücks. 64 Ebd., S. 56–59; vgl. auch Gabriella AIRALDI (Hg.), Le carte di Santa Maria delle Vigne di Genova 1103–1392 (Collana storica di fonti e studi 3), Genova 1969, S. XLI Nr. 182 S. 211–213, hier S. 213 Anm. 1: Urkunde des Erzbischofs Bartholomeus von 1331. 65 Bernhard SCHIMMELPFENNIG, Ein Bischof dem Papste gleich? Zu den Insignien und Vorrechten des Erzbischofs von Benevent, in: Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift Raymund Kottje zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1991, S. 391–411. 66 Hinweis bereits bei EITEL (Anm. 40), S. 299; HAGENEDER (Anm. 16), S. 44 mit Anm. 108 S. 52; PUNCUH (Anm. 60), S. 57 Anm. 110, unter Verweis auf Franco BARTOLONI, Note di diplomatica vescovile beneventana, parte 1: vescovi e arcivescovi di Benevento (secoli VIII–XIII), in: DERS., Scritti, a cura di Vittorio DE DONATO e Alessandro PRATESI, Spoleto 1995, S. 245–269, hier S. 250; Abbildungen in: Archivio Paleografico Italiano, vol. XIII/1, fascicolo 58 (künftig zit.: API XIII/1), Rom 1950, Taf. 6–10 und 12. 67 Herbert ZIELINSKI, Eine bischöfliche Siegelurkunde des 8. Jahrhunderts. Aspekte und Probleme der beneventanischen Bischofsurkunde, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 365–376, hier S. 366, gestützt auf BARTOLONI (Anm. 66) und API XIII/1 (Anm. 66). 68 Vgl. BARTOLONI (Anm. 66), S. 250; konkret: Erzbischof Gregor von 1140: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 17; Abb. API XIII/58 (Anm. 66) Taf. 6. – Eb. Gregor von 1142: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 18; keine Abb. im API XIII/58 (Anm. 66). – Eb. Petrus von 1147: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 19; Abb. API XIII/58 (Anm. 66) Taf. 7. – Eb. Heinrich von 1157: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 20 (kopial überliefert). – Eb. Heinrich von 1158: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 21; Abb. API XIII/58 (Anm. 66) Taf. 8; Abb. ZIELINSKI, Siegelurkunde (Anm. 67), Abb. 2 S. 374. – Eb. Heinrich von 1159: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 22; keine Abb. im API XIII/58 (Anm. 66). – Eb. Lombardus von 1176: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 23; Abb. API XIII/58 (Anm. 66) Taf. 9. – Eb. Lombardus von 1176: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 24; Abb. API XIII/58 (Anm. 66) Taf. 10. – Eb. Lombardus von 1177: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 25; keine Abb. im API XIII/58 (Anm. 66). – Eb. Roger von 1217: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 27; keine Abb. im API XIII/58 (Anm. 66). – Eb. Capoferro von 1276; BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 32; Abb. API XIII/58 (Anm. 66) Taf. 12. – Eb. Capoferro von

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Eine Rota in einer Urkunde des Bischofs von Acerenza in der Basilikata aus dem Jahre 1083 verzeichnet HAGENEDER,69 eine weitere in einer Urkunde des Erzbischofs von Trani in Apulien aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erwähnt EITEL.70 Weiterhin liegen Untersuchungen zu den Urkunden der Bischöfe von Asti71, Turin72, Korsika73 und Siena74 vor, die jedoch keine Hinweise auf das Vorkommen von graphischen Symbolen über Invokationszeichen und Unterschriftskreuze hinaus enthalten.75 Als Zwischenbilanz ist festzuhalten, dass graphische Symbole in den europäischen Bischofsurkunden des Mittelalters offenbar ein Ausnahmephänomen sind. In Skandinavien, England, Schottland und Wales sowie im östlichen Europa fehlen sie völlig. Auch im übrigen Europa handelt es sich bei den dokumentierten Beispielen fast ausschließlich um Einzelfälle: In Frankreich wird die Rota bei mehreren Erzbischöfen und Bischöfen (Sens, Thérouanne, Chartres) je ein einziges Mal verwendet, außerdem einmal in einer Fälschung (Bourges). Nur aus Cambrai kennen wir größere, aber keineswegs üppige Zahlen: sechs Urkunden mit Monogrammen sowie zwei mit Rotae. In Spanien verwendeten Bischöfe Galiziens (Santiago, Lugo, Mondoñedo) Rotae in nennenswertem, aber in der Literatur nicht genau beziffertem Ausmaß, ebenso in Portugal (Braga, Lissabon, Coimbra). In Italien gibt es, abgesehen von Benevent mit seinen 13 die Papsturkunden nachahmenden erzbischöflichen Urkunden mit Rota und Benevalete aus der Zeit von 1140 bis 1289, nur isolierte Einzelbeispiele: einige Rotae um die Mitte des 12. Jahrhunderts in Aquileia, vier Fälle in Ravenna in

|| 1278: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 34 (kopial überliefert). – Eb. Johannes von 1289: BARTOLONI (Anm. 66), Nr. 40; keine Abb. im API XIII/58 (Anm. 66). 69 HAGENEDER (Anm. 16), S. 44. 70 EITEL (Anm. 40), S. 299. 71 Gian Giacomo FISSORE, Problemi della documentazione vescovile astigiana per i secoli X–XII, in: La memoria delle chiese (Anm. 5), S. 41–94, zu äußeren Merkmalen hier S. 71, 73. 72 Patrizia CANCIAN, Fra cancelleria e notariato: gli atti dei vescovi di Torino, in: La memoria delle chiese (Anm. 55), S. 181–204; vgl. auch Gian Giacomo FISSORE, Prassi autenticatoria e prospettive di organizzazione burocratica nella documentazione episcopale torinese alle soglie del Trecento, in: Laura PANI (Hg.), In uno volumine. Studi in onore di Cesare Scalon, Udine 2009, S. 229–256. – Zu Turin vgl. auch KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 139, der auf eine auf den Namen des Turiner Bischofs Kunibert gefälschte Urkunde von angeblich 1065 mit Rota und Benevalete-Monogramm hinweist, aber betont, dass keine echten Turiner Bischofsurkunden mit Benevalete-Monogramm bekannt sind. 73 Silio Pietro SCALFATI, Ego episcopus firmavi hanc cartulam. Ein Beitrag zum Kanzlei- und Urkundenwesen der korsischen Bischöfe im frühen Mittelalter, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 331–346. 74 Antonella GHIGNOLI, Il documento vescovile a Siena nei secoli X–XII. Problemi della tradizione e critica delle fonti, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 347–363. 75 Vgl. auch Gian Giacomo FISSORE, I documenti cancellereschi degli episcopati subalpini: un’area di autonomia culturale fra la tradizione delle grandi cancellerie e la prassi notarile, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 281–304, und Giovanna NICOLAJ, Note di diplomatica vescovile italiana (secc. VIII–XIII), in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 377–392.

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derselben Zeit, je einen in Bologna, Acerenza und Trani, zwei in Mailand. Bemerkenswert sind schließlich die durch ein Kreuz unterteilten Quadrate, die in den Urkunden der Erzbischöfe von Genua im 13. und 14. Jahrhundert auftreten. Zwar ist es nicht möglich, den Anteil dieser durch graphische Symbole ausgezeichneten Urkunden an der Gesamtzahl der überlieferten Urkunden in den entsprechenden Diözesen oder Regionen zu beziffern, da, mit Ausnahme von England, entsprechende Übersichten fehlen.76 Doch ist kaum zu bezweifeln, dass bei einer systematischen Erfassung sämtlicher Urkunden etwa in Frankreich und Italien die Zahl der Beispiele nicht erheblich über die dokumentierten Beispiele hinaus ansteigen würde. Auf der iberischen Halbinsel dagegen erscheinen weitere Funde nicht völlig ausgeschlossen. Wenn also HAGENEDER von einer „verhältnismäßig weit verbreitete(n) Ausgestaltung der erzbischöflichen Privilegien mit Rota, Benevalete und in Kolonnen angeordneten Unterschriften“ spricht,77 so ist ihm nicht zuzustimmen. Bereits ZAISBERGER hatte darauf hingewiesen, dass graphische Symbole selten aufträten und „der Bischofsurkunde eigentlich fremd“ seien,78 und HÄRTEL betonte, dass etwa die Nachahmung der Papsturkunden „vielfach zufällig und punktuell“ erfolgt sei.79 Diese vorsichtigen Wertungen scheinen vollauf berechtigt. Für das mittelalterliche deutsche Reich nun ist es möglich, Bischofsurkunden annähernd systematisch zu erfassen und zu untersuchen, was im Folgenden geschehen soll. Die Ausgangsbasis für die Untersuchung bilden die Bestände des Marburger Forschungsinstituts „Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden“ (LBA), das die Urkunden aus Archiven auf dem Boden des mittelalterlichen deutschen Reiches von den Anfängen bis zum Jahr 1250 in großformatigen Schwarz-Weiß-Photographien dokumentiert und diese auch online verfügbar macht.80 Im Bestand des LBA finden sich

|| 76 So betont etwa MARQUES (Anm. 49), S. 284, dass ein systematischer Überblick über Bischofsurkunden in Portugal fehlt, sowohl für Portugal insgesamt wie auch für einzelne Diözesen. Frankreich dagegen verfügt über eine exzellente systematische Erfassung sämtlicher im Original überlieferter Urkunden, darunter eben auch der Bischofsurkunden, jedoch nur bis zum Jahr 1121; der größte Teil des 12. Jahrhunderts fehlt also: Benoît-Michel TOCK, Michèle COURTOIS u. Marie-José GASSE-GRANDJEAN, La diplomatique française du Haut Moyen Âge. Inventaire des chartes originales antérieures à 1121 conservées en France, Bd. 1: Introduction générale, album diplomatique, table chronologique, table des auteurs; Bd. 2: Table des destinataires, table des genres diplomatique, table des états de la tradition manuscrite, table des sceaux, table des chirographes, table des cotes d’archives ou de bibliothèques (Atelier de Recherches sur les Textes Médiévaux [ARTEM] 4), Turnhout 2001; zu Bischofsurkunden hier Band 1, S. 18–20. 77 HAGENEDER (Anm. 16), S. 46. 78 ZAISBERGER (Anm. 14), S. 279. 79 HÄRTEL (Anm. 8), S. 129. 80 http://lba.hist.uni-marburg.de (abgerufen am 10.10.2018). – Die Abbildungen im LBA werden in diesem Beitrag mit ihrer unveränderlichen Zugangsnummer (‚LBA-Zugangsnr.‘) identifiziert und zitiert, unter der sie sowohl in der online verfügbaren Datenbank wie in der Sammlung der konkreten

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rund 3.000 Photographien von im Original überlieferten Bischofsurkunden81, die auf das Vorhandensein von graphischen Symbolen hin untersucht wurden. Nicht behandelt werden im Folgenden die symbolischen Invokationen in Form von Chrismen und Kreuzen am Anfang des Urkundentextes, die graphischen Hervorhebungen der ersten Zeile in ihrer Gesamtheit oder in Teilen und ebensowenig die Nachahmungen der In-perpetuum-Formel der Papsturkunde; die Aufmerksamkeit gilt dagegen allen übrigen graphischen Symbolen. Dabei handelt es sich um folgende Phänomene, die sich ganz überwiegend im Eschatokoll der Urkunden finden: – Namensmonogramme, die das Monogramm der Königsurkunde nachahmen; – Namensmonogramme, die selbständig den Namen des Ausstellers gestalten; – Benevalete-Monogramme nach dem Vorbild des päpstlichen Privilegs; – die Rota nach dem Vorbild des päpstlichen Privilegs; – aufwendig gestaltete Kreuze, etwa Radkreuze, sowie andere nicht zu klassifizierende Zeichen. Unter den rund 3.000 zwischen 800 und 1250 im LBA dokumentierten Bischofsurkunden ließen sich nun lediglich 62 Stücke ermitteln, die ein solches graphisches Symbol aufweisen, das sind exakt 2,06%. Bei der Recherche in der Literatur wurden weitere, im LBA nicht oder noch nicht dokumentierte Exemplare ermittelt, die in die folgenden Untersuchungen miteinfließen. Sie erhöhen die Zahl der Beispiele um 23 Fälle, von denen allein 21 Salzburg und Augsburg betreffen, also die beiden Bistümer, die immer schon die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen haben; die beiden

|| Stücke in Marburg verzeichnet sind. – Allerdings sind anders als im französischen ARTEM-Projekt, vgl. TOCK, COURTOIS u. GASSE-GRANDJEAN (Hgg.), La diplomatique française (Anm. 76), nicht sämtliche überlieferten Urkunden erfasst. Das LBA dokumentiert die Urkunden nicht nach dem Ausstellerprinzip, sondern hat von Anfang seines Bestehens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an Archivbestände erfasst. Längst nicht alle deutschen, österreichischen oder Schweizer Archive sind hier bearbeitet worden; schmerzliche Lücken bestehen insbesondere bei Archiven in den neuen Bundesländern, die zu Zeiten der DDR aus politischen Gründen, nach der Wende aus finanziellen Gründen nur in Ausnahmefällen fotografiert werden konnten; Lücken bestehen auch in Bezug auf kirchliche und andere private Archive. – Auf Abbildungen wird in diesem Beitrag von wenigen Ausnahmen abgesehen verzichtet, da sich alle Urkunden leicht über die LBA-Zugangsnummern finden und online konsultieren lassen. 81 Die Zahl lässt sich nicht exakt angeben: Sucht man im LBA online nach Bischofsurkunden, die im Original überliefert sind, erhält man 4.027 Treffer. Dies entspricht jedoch nicht den tatsächlich dokumentierten Stücken, da Urkunden mit mehreren Ausstellern (z. B. Bischof und Domkapitel) mehrfach abgebildet und gezählt werden. Der Umfang dieser Mehrfachabbildungen lässt sich nur näherungsweise ermitteln; großzügig geschätzt wird etwa ein Viertel des Gesamtbestandes mehrfach verzeichnet. Damit gelangt man auf einen Bestand von rund 3.000 Bischofsurkunden aus der Zeit zwischen 800 und 1250. Die Zahl der Mehrfachabbildungen nimmt jedoch für das späte 12. und das 13. Jahrhundert stark zu, ist also im 9., 10., 11. und in der ersten Hälfte des 12. Jh. sehr viel geringer als in späteren Epochen. – Ich danke Herrn Dr. Hendrik Baumbach herzlich für seine vielfältige Hilfe und seine Erläuterungen.

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anderen betreffen Einzelfälle in Gurk und Passau. Graphische Symbole in Bischofsurkunden sind demnach eine Ausnahmeerscheinung; sie kommen zudem nur in begrenzten zeitlichen Perioden vor, und hier nur in den Urkunden weniger Bistümer oder einzelner Bischöfe. Gleichwohl ist die Zahl von 85 ermittelten Fällen gegenüber den für das sonstige Europa belegten Beispielen bemerkenswert hoch. Unter den Erzbischofssitzen oder Bischofssitzen, deren Inhaber Urkunden mit graphischen Symbolen ausstellten, sind einige, in denen nur ein einziges Mal oder in zwei oder drei, nicht selten zeitlich weit auseinanderliegenden Beispielen ein Symbol verwendet wird. Dazu zählen Würzburg, Genf, Regensburg, Passau und Gurk, wo jeweils ein isolierter Fall auftritt,82 Metz, Konstanz und Bamberg mit je zwei und Hildesheim mit drei Fällen. In Trier (4 Fälle), Freising (6) und Mainz (7) tritt das Phänomen etwas häufiger, aber immer noch selten auf. Eine Sonderstellung nehmen die Erzbischöfe von Köln und Salzburg sowie die Bischöfe von Augsburg ein. In Köln finden sich elf Beispiele aus drei Jahrhunderten; auf die zahlreichen Urkunden mit graphischen Symbolen in Salzburg (29) und Augsburg (14) ist die ältere Literatur bereits aufmerksam geworden. Die Einzelfälle, die auftreten, hängen offensichtlich mit den Persönlichkeiten zusammen, die die Urkunden ausstellen ließen, oder mit besonderen Gegebenheiten ihres Umfelds.83 So ist vom Würzburger Bischof Adalbero eine Urkunde aus dem Jahr 1057 überliefert,84 die ein kreisförmiges Symbol enthält: Zwei konzentrische Kreise umgeben ein in vier Teile gegliedertes Zentrum, in dessen Mitte wiederum eine Kreisform er-

|| 82 ZAISBERGER (Anm. 14), S. 264, erwähnt zudem eine Urkunde Bischof Walthers von Speyer von 1020 April 7, in der auf ein „großes, schwungvolles Antoniuskreuz“, das wohl von Walther selbst eingefügt worden sei, die Erklärung „signum Waltheri episcopi Spirensis in schöner verlängerter Schrift“ folge; in der Urkunde (LBA-Zugangsnr. 4121) ist der Schriftzug zu erkennen, das Antoniuskreuz jedoch nimmt sich so bescheiden aus, dass es kaum als graphisches Symbol zu bezeichnen ist. 83 Einige in den Urkunden der Bischöfe von Halberstadt erscheinende Zeichen wurden nicht in die Auswertung aufgenommen: zum einen das komplexe kreisförmige Zeichen, das der Notar Dietrich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf der Rückseite zahlreicher von ihm verantworteter Urkunden anbringt, da es sich um ein Notarszeichen handelt. Vgl. dazu Helmut BEUMANN, Beiträge zum Urkundenwesen der Bischöfe von Halberstadt (965–1241), in: Archiv für Urkundenforschung 16 (1939), S. 1–101, hier S. 92f., mit Abbildung eines Beispiels vor S. 97; vgl. auch RÜCK (Anm. 1), S. 34; Abbildungen zweier Beispiele unter LBA-Zugangsnr. 14488, 16209. – Nicht aufgenommen wurde auch der große Doppelkreis, den der Halberstädter Bischof Rudolf 1137 auf einer Urkunde der Äbtissin Gerburg von Quedlinburg anbringen und in den er eine Strafandrohung eintragen ließ; vgl. BEUMANN (Anm. 83), S. 50; RÜCK (Anm. 1), S. 34; Abbildung: LBA-Zugangsnr. 5351. 84 Urkunde von 1057 März 3 für das Würzburger Domstift; Monumenta episcopates Wirziburgensis, Teil 1, in: Monumenta Boica 37 (1864), S. 1–600, hier Nr. 67 S. 25–28; LBA-Zugangsnr. 7304; vgl. zur Urkunde ausführlich Peter JOHANEK, Die Frühzeit der Siegelurkunde im Bistum Würzburg (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 20), Würzburg 1969, S. 23– 26.

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scheint. In diesem inneren Kreis findet sich die Inschrift Domini, in den vier Quadranten est terra et plenitudo eius. Zwischen die konzentrischen Kreise hat man weiteren Text platziert: Orbis Terrarum et universi qui habitant in eo, wobei ein Kreuzeszeichen in das initiale O eingeschrieben ist. Wiedergegeben ist damit ein Vers aus Psalm 24,1, zu Deutsch „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnet“.85 Ganz offensichtlich ist das Vorbild dieser Zeichnung formal wie inhaltlich die Figur der Rota, die nur wenige Jahre zuvor, 1049, durch Papst Leo IX. in die Papsturkunde eingeführt worden war.86 Bischof Adalbero von Würzburg gehörte zu den führenden Vertretern der Kirchenreform im Reich; man geht wohl nicht zu weit, wenn man in der Urkunde den Versuch sieht, sich dem Reformpapst Leo IX. an die Seite zu stellen.87 Die Urkunde fällt zudem nicht nur durch die Rota-Figur aus dem Rahmen des Üblichen, sondern auch durch ihre Besiegelung mit einer Bleibulle.88 Es bleibt allerdings bei diesem einzigen Beispiel, sowohl was die Rota als auch was die Bleibulle anbetrifft. Unter den über 200 Urkunden der Würzburger Bischöfe aus der Zeit zwischen dem Jahr 1000 und dem Jahr 1200, die das Marburger Lichtbildarchiv dokumentiert, weist kein weiteres Stück ein graphisches Symbol auf.89 Allerdings diente die Urkunde Bischof Adalberos Ende des 12. Jahrhunderts als Vorlage einer Fälschung für das Würzburger Kloster St. Stephan zu angeblich 1057 März. Die

|| 85 Domini est terra et plenitudo eius, orbis terrarum et universi qui habitant in eo; Übersetzung: nach Martin Luther, Textfassung 1912. 86 DAHLHAUS 1989 (Anm. 5) und DERS. 1996 (Anm. 5). 87 ZAISBERGER (Anm. 14), S. 280, hatte darauf hingewiesen, dass die Rota-Inschrift derjenigen des Gegenpapstes Clemens III. (1080–1084) entspricht und daher nachträglich eingezeichnet worden sein müsse. Das schien JOHANEK (Anm. 84), S. 24, wegen der Gängigkeit des Bibelzitates nicht stichhaltig. Er hielt es, ebd., S. 25, für unwahrscheinlich, dass die päpstliche Rota nur wenige Jahre nach ihrer Einführung in Würzburg, wo es keine Papsturkunden aus dieser Zeit gab, hätte nachgeahmt werden können, sah den Grund für die Ähnlichkeit der beiden Zeichen vielmehr in einer gemeinsamen Wurzel, der „Verwendung von Symbolfiguren bei der Beglaubigung von Urkunden“ (S. 25) und vermutete als Vorbild für die Gestaltung der ganzen Urkunde eher die Königsurkunde (S. 26). Später revidierte er sich und hielt es wegen Adalberos enger Verbindung zur Kirchenreform für durchaus möglich, dass dieser mit seiner Verwendung der Rota eine „bewußte Angleichung an den neuen Urkundentyp der Kanzlei Leos IX.“ anstrebte; vgl. dazu Peter JOHANEK, Die Gründung von St. Stephan und Neumünster und das ältere Würzburger Urkundenwesen, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 31 = Archiv des Historischen Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg 102 (1979), S. 32–68, hier S. 42. 88 Vgl. Rainer LENG, Bleibullen an deutschen Bischofsurkunden des 11. Jahrhunderts, in: Archiv für Diplomatik 56 (2010), S. 273–316, hier S. 291–292. 89 Vgl. zu den Würzburger Bischofsurkunden im 11. und 12. Jahrhundert vor allem auch die Aufstellung bei JOHANEK (Anm. 84), S. 312–330.

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Rota-Figur der Vorlage wurde penibel nachgezeichnet, zudem hängte man dem Stück ein ebenfalls gefälschtes Bleisiegel an.90 Wie die Urkunde Adalberos von Würzburg stellen auch die folgenden Beispiele Einzelfälle dar: – Eine um 1073 ausgestellte Urkunde Bischof Friedrichs von Genf91 ist mit einem schwer zu deutenden Monogramm versehen; wahrscheinlich handelt es sich um ein Namensmonogramm. – In der Urkunde Bischof Heinrichs I. von Regensburg aus dem Jahre 1143 für das Kloster Paring ist unterhalb des Kontextes, im Anschluss an die Datierung und ohne jede weitere Erläuterung, ein Monogramm eingefügt, das wohl Namen und Titel des Bischofs wiedergibt; es erinnert sowohl an die Monogramme in den zeitgenössischen Herrscherurkunden wie an das Benevalete-Monogramm der Papstprivilegien.92 – In einer Urkunde des Passauer Bischofs Konrad, später Erzbischof von Salzburg, von 1155 für Stift Reichersberg findet sich ein Benevalete-Monogramm nach dem Vorbild des Privilegs Papst Eugens III. für das Stift.93 – Offenbar auf einen Salzburger Schreiber geht das Benevalete-Monogramm in einer Urkunde des Salzburger Suffraganbischofs Roman I. von Gurk zurück, das in einer Urkunde dieses Bischofs aus dem Jahre 1145 erscheint.94 – Der Metzer Bischof Stephan versah 1126 und 1133 zwei Urkunden für St. Arnulf in Metz mit einem Namensmonogramm.95 – Bischof Hermann I. von Konstanz verwendete unterschiedliche Symbole: Er versah eine Urkunde von 1157 mit einem unbeholfen wirkenden Radkreuz, das we-

|| 90 Urkundenbuch der Benediktiner-Abtei St. Stephan in Würzburg, Bd. 1, bearb. v. Franz J. BENDEL (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe 3: Fränkische Urkundenbücher und Regestenwerke 1), Leipzig 1912, Nr. 2 S. 4–5; LBA-Zugangsnr. 7538; vgl. JOHANEK (Anm. 84), S. 26f., und zuletzt LENG (Anm. 88), S. 293 mit Anm. 66. 91 Chartes inédites relatives à lʼhistoire de Genève (1113–1250), hrsg. v. Édouard MALLET (Mémoires et Documents de la Société dʼhistoire et dʼachéologie de Genève 4,2), Genf 1845, Nr. 69 S. 75f.; Schweizerisches Urkundenregister, 2 Bde., red. v. Basilius HIDBER, Bern 1863–1877, Nr. 1405; LBA-Zugangsnr. 12824. 92 Regesta rerum autographa ad annum usque MCCC e regni scriniis fideliter in summas contracta juxtaque genuinam terrae stirpisque diversitatem in Bavarica, Alemannica et Franconica synchronistice disposita, Bd. 1: 773–1200, hgg. v. Karl H. VON LANG, Josef LANG u. Josef WIDEMANN, München 1822, S. 170; LBA-Zugangsnr. 9135. 93 Urkunde von 1155 April 28; vgl. dazu KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 146 mit Anm. 86. 94 Urkunde von 1145 April 26; vgl. dazu KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 145 mit Anm. 85. 95 LBA-Zugangsnr. 90067, 90069; zu den Urkunden der Metzer Bischöfe des 12. Jahrhunderts vgl. Michel PARISSE, Les chartes des évêques de Metz au XIIe siècle. Étude diplomatique et paléographique, in: Archiv für Diplomatik 22 (1976), S. 272–316; zu den Urkunden Stephans (Étienne de Bar, 1120–1143) ebd., S. 296–299, wo jedoch die beiden Urkunden für St. Arnulf nicht erwähnt werden.

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der mit dem Kontext noch mit den Textteilen des Eschatokolls in irgendeiner Verbindung steht.96 Wenige Jahre später ließ er eine Urkunde mit einem aufwendigen Namensmonogramm ausstatten, das sich wie bei der Herrscherurkunde in eine Signumzeile einfügt, jedoch anders als in der Herrscherurkunde in der Corroboratio nicht angekündigt wird.97 Auch dies blieb jedoch Episode und setzte sich unter seinen Nachfolgern nicht fort. Interessanterweise wurden auf Hermann I. im 12. und 13. Jahrhundert zwei Urkunden für das Kloster St. Trudpert gefälscht, die beide mehrere einander ähnliche graphische Symbole und eine vorgeblich eigenhändige Unterschrift Hermanns enthalten.98 In Bamberg versah Bischof Otto I. (1102–1139) eine Urkunde für das Kloster Banz mit einem auffälligen Namensmonogramm,99 das in einer Fälschung des 12. Jahrhunderts für das Kloster nachgeahmt wurde.100 Die übrigen Urkunden Bischof Ottos I. weisen kein solches Zeichen auf.101 Ein Benevalete-Zeichen auf einer Urkunde Bischof Eberhards II. von Bamberg 1151, mit der ein Tausch zwischen

|| 96 Urkunde von 1057 Juli 8; Wirtembergisches Urkundenbuch, Bd. 2: 1138–1212, Aalen 1858, Nr. 36; Regesta episcoporum Constantiensium. Regesten der Bischöfe von Konstanz von Bubulcus bis Thomas Berlower 517–1496, Bd. 1: 517–1293, bearb. v. Paul LADEWIG, Innsbruck 1895, Nr. 945; LBAZugangsnr. 4509. 97 Urkunde von 1160 Juni 7; Wirtembergisches Urkundenbuch 2 (Anm. 96), Nr. 373; LBA-Zugangsnr. 1883. 98 Urkunde von angeblich 1149, LBA-Zugangsnr. 4504, und Urkunde von angeblich 1159, LBA-Zugangsnr. 4512. – Zu eigenhändigen Unterschriften in mittelalterlichen Urkunden allgemein vgl. die Arbeiten von Werner MALECZEK, die den Zugang zur gesamten älteren Literatur öffnen: Werner MALECZEK, Die eigenhändigen Unterschriften der Kardinäle – ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit? Mit einem Überblick über eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom Frühmittelalter bis ins 13. Jahrhundert, in: Stefan WEINFURTER (Hg.), Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen (Mittelalter-Forschungen 38) Ostfildern 2012, S. 239–300; DERS., Sottoscrizioni autografe come mezzo di convalida, sec. IX–XIII, Città del Vaticano 2014; DERS., Eigenhändige Unterschriften auf Urkunden vom 8. bis 13. Jahrhundert, in: Andreas SCHWARCZ u. Katharina KASKA (Hgg.), Urkunden – Schriften – Lebensordnungen. Neue Beiträge zur Mediävistik, Wien u. a. 2015, S. 161–192; DERS., Autographen von Kardinälen des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Claudia FELLER u. Christian LACKNER (Hgg.), Manu propria. Vom eigenhändigen Schreiben der Mächtigen (13.–15. Jahrhundert) (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 67), Wien 2016, S. 69–148. 99 Urkunde von (1114–1127); Placidus SPRENGER, Diplomatische Geschichte der Benedictiner Abtey Banz in Franken von 1050 bis 1251, mit 61 Beylagen u. 1 Kupfertaf., Nürnberg 1803, Nr. 8 S. 301f.; LBAZugangsnr. 7070. 100 Urkunde von angeblich 1114 September 21; SPRENGER (Anm. 99), Nr. 7 S. 297–302; LBA-Zugangsnr. 7069. 101 Zu den Urkunden der Bischöfe von Bamberg vgl. Hans-Ulrich ZIEGLER, Das Urkundenwesen der Bischöfe von Bamberg von 1007 bis 1139. Mit einem Ausblick auf das Ende des 12. Jahrhunderts, Teil 1–2, in: Archiv für Diplomatik 27 (1981), S. 1–110, und 28 (1982), S. 58–189; ZIEGLER behauptet in Teil 2, S. 74, sechs Monogramme „bzw. Beischriften“ auf Urkunden Ottos I. und auf Kaiserurkunden für Bamberg in der charakteristischen Form der Urkunde für Banz feststellen zu können. Auf den von

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Bamberg und Stift Reichersberg beurkundet wird, ist offensichtlich auf Reichersberg zurückzuführen, in dessen Urkunden entsprechende Zeichen mehrfach auftreten.102 Bischof Hecilo von Hildesheim fügte in eine zwischen 1054 und 1067 von ihm ausgestellte Urkunde ein kleines Rad- oder Weihekreuz ein, in dessen Quadranten jeweils ein Punkt sitzt; es ist am Ende der erläuternden Legende Signum HECILONIS episcopi platziert.103 Nahezu hundert Jahre später erscheinen erneut Kreuze in Urkunden der Bischöfe von Hildesheim: so in der Urkunde Bischof Brunos von 1154104 und der Urkunde Bischof Adelogs von 1177.105 Beide Kreuze stehen zwischen Kontext und Datierung, bei beiden handelt es sich um griechische Kreuze, die mit vier Punkten in den Winkeln und mit feinen Abschluss-Strichen an den Kreuzarmen versehen sind. Mit dem Signum Bischof Hecilos haben sie offensichtlich nichts zu tun, sondern hier ist es der Empfänger, auf den die Symbole zurückgehen – in beiden Fällen das Kloster Walkenried, wo in dieser Zeit ein offenbar zeichenfreudiger Schreiber arbeitete.106

In anderen Bistümern tritt das Phänomen häufiger und über längere Zeiträume hinweg auf:

|| ihm angeführten Urkunden Lothars III. Nr. 11 und 66 (Die Urkunden Lothars III. und der Kaiserin Richenza, hrsg. v. Emil von OTTENTHAL u. Hans HIRSCH (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae 8), Berlin 1927, Nr. 11 S. 13f. und Nr. 66 S. 102f.) finden sich solche Monogramme jedoch keineswegs, ebensowenig auf den übrigen von ihm angeführten Urkunden Ottos I. Allerdings weisen zwei im 13. Jahrhundert auf Bischof Otto von Bamberg gefälschte Urkunden für das Kloster Prüfening im Eschatokoll jeweils zwei Doppelkreise auf (Urkunden von angeblich 1138 Dezember 11; LBA-Zugangsnr. 6810, 6811); vgl. dazu RÜCK (Anm. 1), S. 34. 102 Nachweis und Beschreibung des Zeichens bei KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 146. 103 Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe, Bd. 1: Bis 1236, hrsg. v. Gustav SCHMIDT (Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 17), Leipzig 1883, Nr. 93; LBA-Zugangsnr. 5278; vgl. dazu Carl ERDMANN, Signum Hecilonis episcopi, in: Historisches Jahrbuch 60 (1940), S. 441–451. – Vgl. zum Zeichen auch ZAISBERGER (Anm. 14), S. 280; RÜCK (Anm. 1), S. 34. 104 Urkunde von (1160) Juli 30 für Kloster Walkenried; Urkundenbuch des Klosters Walkenried, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1300, bearb. v. Josef DOLLE nach Vorarbeiten v. Walter BAUMANN (Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Landesgeschichte 38; Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 210), Hannover 2002, Nr. 18 S. 67f.; LBA-Zugangsnr. 8251. 105 Urkunde von 1177 September 22 für Kloster Walkenried; Urkundenbuch Walkenried (Anm. 104), Nr. 20 S. 70f.; LBA-Zugangsnr. 8254. 106 In der Urkunde Graf Adalberts von Klettenberg für Walkenried von 1187–1192, ebenfalls eine Empfängerausfertigung, finden sich gleich mehrere kleinere graphische Symbole (Kreuze, Rosetten u. a.) im Eschatokoll; Druck der Urkunde: Urkundenbuch Walkenried (Anm. 104), Nr. 29 S. 78f.; LBAZugangsnr. 8258.

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Mit den Zeichen in den Urkunden Erzbischof Adalberos von Trier (1131–1152) hat sich Otfried KRAFFT befasst.107 In einer Urkunde aus dem Jahr 1138 für Gorze108 verwendete Adalbero ein Monogramm, das formal den Herrschermonogrammen der Zeit nachempfunden ist, inhaltlich jedoch den Benevalete-Gruß der Papsturkunde verarbeitet. KRAFFT wertete diese „Amalgamierung von Elementen aus den Urkunden beider Gewalten“ als deutliche Widerspiegelung „der zwischen ihnen zu verortenden Position eines Reichsbischofs“.109 In zwei weiteren Urkunden Adalberos aus den Jahren 1139 und 1150 sind die Zeichen sowohl inhaltlich wie formal eindeutig Benevalete-Monogramme.110 Interessanterweise unterfertigte der Erzbischof daneben eine der Urkunden zusätzlich mit Kreuz und autograph ausgeführter Unterschriftsformel.111 Bereits viele Jahrzehnte vor Adalbero verwendete ein anderer Erzbischof von Trier, Eberhard (1047–1066), in einer seiner Urkunden ein Monogramm, das formal sowohl an die Benevalete-Form Papst Leos IX. als auch an die Herrschermonogramme der Zeit erinnert, aber den Namen Eberhards verarbeitet. Es wird in der Corroboratio als eigenhändige Unterfertigung angekündigt und mit den Worten Signum Eberhardi archiepiscopi cuius presulatus anno XII facta est eingeleitet.112 Der Geschichtsschreiber Otto von Freising stattete als Bischof von Freising (1138– 1158) zwei Urkunden mit bemerkenswerten Monogrammen aus. In der frühesten erhaltenen Urkunde von 1154113 leitet der Satz Signum domini Ottonis Frisingensis episcopi zu einem quadratischen Monogramm über, das links mit einem kopfständigen T

|| 107 KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 147–149. 108 Urkunde von 1137 (richtig: 1138) November 24 für Gorze; vgl. zu den Drucken und zur Datierung KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 147–149; LBA-Zugangsnr. 90070. 109 KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 148. 110 Urkunden von 1139 Juni 21 und 1150 für Schiffenberg; bei einer weiteren Urkunde für Schiffenberg von angeblich 1141 handelt es sich um ein Scheinoriginal; vgl. umfassend, zu den Drucken und zur Datierung KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6); Abbildungen der Urkunden: LBA-Zugangsnr. 4476, 5414 und 313. 111 In der Urkunde von 1150 für Schiffenberg (Anm. 110) heißt es: + Ego Adalbero Trevirensis archiepiscopus hanc cartam … confirmamus et sigilli nostri inpressione signari iussimus. Die Urkunde weist zudem weitere Unterschriften in Kolumnen auf. 112 Urkunde von 1061 für St. Simeon zu Trier; Mittelrheinische Regesten oder chronologische Zusammenstellung des Quellen-Materials für die Geschichte der Territorien der beiden Regierungsbezirke Coblenz und Trier in kurzen Auszügen, Bd. 1: Vom Jahre 509 bis 1152, hrsg. v. Adam GOERZ, Koblenz 1876, Nr. 1384; LBA-Zugangsnr. 9187; in der Corroboratio heißt es: manu propria ut infra videtur corroborantes sigilli nostri impressione iussimus insigniri. – Vgl. zum Zeichen auch ZAISBERGER (Anm. 14), S. 280f.; KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), erwähnt dieses Stück nicht, da er sich auf Benevalete-Monogramme beschränkt. 113 Urkunde von 1154 für Kloster Frauenchiemsee; Die Regesten der Bischöfe von Freising 739–1184, bearb. v. Alois WEISSTHANNER, Gertrud THOMA u. Martin OTT (Regesten zur bayerischen Geschichte 1), München 2009, Nr. 435 S. 265; LBA-Zugangsnr. 8728; vgl. J. Paul RUF, Studien zum Urkundenwesen der Bischöfe von Freising im 12. und 13. Jahrhundert, Diss. München 1914, S. 28.

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beginnt, an dessen Schaftende ein O sitzt, und das rechts mit einem aufrecht stehenden T endet, an dessen Schaftende wiederum ein O platziert ist. Zwei sich kreuzende Diagonalen verbinden die vier Buchstaben. Wenige Jahre später, 1158, stellte Otto I. eine weitere Urkunde mit einem Monogramm aus,114 das wiederum von dem Vermerk Signum domini Ottonis Frisingensis episcopi erläutert wird und eine ähnliche Struktur wie das ältere aufweist – in der Konstruktion fehlt nur die zweite, von unten links nach oben rechts verlaufende Diagonale. Zusätzlich ist das Wort episcopus eingearbeitet; es handelt sich also um ein Titelmonogramm. Ottos Nachfolger Albert I. (1158– 1184) versah ebenfalls eine seiner Urkunden mit einem Monogramm,115 das wegen Beschädigung des Pergaments nicht einwandfrei zu erkennen ist, bei dem es sich aber wohl um ein reines Namensmonogramm handelt: Es wird von dem Satz Signum domni Alberti episcopi eingeleitet. Bischof Otto II. schließlich stattete zwei seiner Urkunden aus dem Jahre 1190 mit Monogrammen aus, die sich formal an den staufischen Herrschermonogrammen orientieren und in die der Name des Bischofs sowie sein Titel Frisingensis episcopus eingearbeitet sind.116 Auch eine nur kopial überlieferte Urkunde aus demselben Jahr wies offenbar ein solches Monogramm auf.117 Einige Jahre später, 1196, stellte Bischof Otto II. eine Urkunde für Kloster Moosburg aus,118 die ein völlig anderes graphisches Symbol zeigt: Es handelt sich um einen fein gezeichneten perfekten Kreis, in dessen Zentrum ein leicht schräg gestelltes T eingefügt ist. Im unteren Teil seines Schaftes ist das T von einem nahezu kreisförmigen O umgeben, in dem wiederum ein Querstrich mit dem Schaft des T ein Kreuz bildet. Links und rechts wird diese zentrale Buchstabenfigur von den Buchstaben F und S (für Freising?) flankiert (Abb. 1).

|| 114 Urkunde von 1158 für das Domstift Freising; Regesten der Bischöfe von Freising (Anm. 113), Nr. 474 S. 282–285; LBA-Zugangsnr. 9649; vgl. RUF (Anm. 113), S. 28. 115 Urkunde von 1163; Regesten der Bischöfe von Freising (Anm. 113), Nr. 514 S. 304–306; LBA-Zugangsnr. 9651; vgl. RUF (Anm. 113), S. 30. 116 Urkunde von 1190 August 15 für Kloster Dietramszell; RUF (Anm. 113), Nr. 65 S. 90; LBA-Zugangsnr. 8647; die Signumzeile lautet: Signum domni Ottonis Frisingensis episcopi. – Urkunde von 1190 August 17 für St. Andreas zu Freising; RUF (Anm. 113), Nr. 67 S. 90; LBA-Zugangsnr. 8875; die Signumzeile lautet: Signum domni Ottonis Frisingensis episcopi secundi. – Vgl. RUF (Anm. 113), S. 35f. 117 Urkunde von 1190 August 16; RUF (Anm. 113), Nr. 66 S. 90; vgl. ebd., S. 35 Anm. 3. 118 Urkunde von 1196; RUF (Anm. 113), Nr. 77 S. 91; LBA-Zugangsnr. 9067; Signumzeile: Signum Ottonis secundi Frisingensis episcopi. – Vgl. RUF (Anm. 113), S. 41–42.

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Abb. 1: Urkunde Bischof Ottos II. von Freising für Moosburg von 1196 (Ausschnitt, LBA 9067).

In Mainz schließlich treten uns drei Erzbischöfe entgegen, deren Urkunden graphische Zeichen enthalten. Der erste ist Liutpold, der um die Mitte des 11. Jahrhunderts in einer seiner Urkunden ein kreisförmiges Zeichen in der Form eines doppelten Chrismons verwendet.119 Der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gehören die Erzbischöfe Adalbert I. und Heinrich I. an. Adalbert (1111–1137) setzte unterschiedliche Formen eines Namensmonogramms ein: In einer Urkunde von 1126 für das Kloster Kaufungen erscheint inmitten einer in Elongata ausgeführten Signumzeile ein Quadrat, das von zwei Diagonalen durchschnitten und zusätzlich von einem Querstrich geteilt wird. Die Buchstaben des Namens Adelbertus sitzen an den Eckpunkten bzw. Schnittstellen der Linien und sind jeweils von oben nach unten zu lesen (Abb. 2). Die Corroboratio der Urkunde verweist darauf, dass der Erzbischof die Urkunde subscriptione nostra bekräftigt habe.120 Ein ganz ähnliches Zeichen, mit einer zusätzlichen Längsteilung, weisen zwei Empfängerausfertigungen ein und derselben Urkunde für das Kloster Reinhardsbrunn von 1125 auf (Abb. 3). Auch hier betont die Corroboratio, dass die Urkunde manu propria bekräftigt worden sei; die Zeichen stehen jedoch ohne Einbindung in eine Signumzeile unterhalb von Kontext und Datierung in der Mitte des Pergaments, neben dem in der rechten unteren Ecke platzierten Siegel.121 In zwei für das Kloster Disibodenberg ausgestellten Urkunden aus dem Jahr

|| 119 Urkunde von 1057 August 27 für Hersfeld; Mainzer Urkundenbuch, Bd. 1: Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), bearb. v. Manfred STIMMING, Darmstadt 1932, ND 1972, Nr. 299, eine Beschreibung des Zeichens ebd., S. 191 Anm. b; LBA-Zugangsnr. 3975; vgl. zum Zeichen auch ZAISBERGER (Anm. 14). S. 279f. 120 Urkunde von 1126 Juni 3 für Kaufungen; Mainzer Urkundenbuch 1 (Anm. 119), Nr. 540; LBA-Zugangsnr. 836. 121 Urkunden von 1125 für Reinhardsbrunn; Mainzer Urkundenbuch 1 (Anm. 119), Nr. 538; LBA-Zugangsnr. 2185, 2186. – STIMMING, Mainzer Urkundenbuch 1 (Anm. 119), S. 445, vermerkt, dass das Mo-

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1127 erscheinen, eingefügt in die Signumzeilen, Namensmonogramme Adalberts, die in ihrer Form die salierzeitlichen Herrschermonogramme kopieren. Auch sie werden in der Corroboratio mit Hinweis auf die eigenhändige Bekräftigung (propria manu) angekündigt.122 Erzbischof Heinrich I. von Mainz (1142–1153) schließlich verwendete im Jahre 1147 in einer Urkunde für Stift Weißenstein ein stark vereinfachtes, aber dem herrscherlichen Monogramm immer noch entfernt ähnliches Zeichen.123

Abb. 2: Urkunde Erzbischof Adalberts I. von Mainz für Kaufungen von 1126 (Ausschnitt, LBA 836).

Abb. 3: Urkunde Erzbischof Adalberts I. von Mainz für Reinhardsbrunn von 1125 (Ausschnitt, LBA 2186).

|| nogramm in den Reinhardsbrunner Urkunden „sonst nur auf einigen vom Propst Godeschalk geschriebenen Urkunden in den Jahren 1126 und 1127 vorkommt“, und meint damit wohl die Urkunden für Kaufungen von 1126 und für Disibodenberg von 1127. Die Monogramme auf den Urkunden für Kaufungen und Reinhardsbrunn ähneln einander durchaus; diejenigen auf den Urkunden für Disibodenberg (siehe folgende Anm.) sind jedoch ganz anders aufgebaut. 122 Urkunden von 1127 Februar 24 für Disibodenberg; Mainzer Urkundenbuch 1 (Anm. 119), Nr. 542; LBA-Zugangsnr. 9042, 2997. 123 Urkunde von 1147 März 9 für Stift Weißenstein; Mainzer Urkundenbuch, Bd. 2: Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Erzbischof Konrads (1200), Teil 1: 1137–1175, bearb. v. Peter ACHT, Darmstadt 1968, Nr. 94; LBA-Zugangsnr. 603.

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Der Kölner Erzbischof Wichfried (927–941), ein Neffe König Heinrichs I. und zeitweilig Erzkapellan Ottos des Großen, dessen Urkunden in ihrem äußeren Erscheinungsbild unverkennbar den Einfluss der Herrscherurkunde zeigen, wie schon GROTEN feststellte,124 ließ in mehreren dieser Urkunden ein Rekognitionszeichen anbringen, das eine frappierende Ähnlichkeit zu den entsprechenden Zeichen in den Urkunden König Heinrichs I. zeigt (Abb. 4):125 Die Zeichen sind in allen vier Urkunden einander sehr ähnlich, sie sind fünfstöckig, und jeweils zwei der Teile sind mit Endlos-Achterschlaufen gefüllt. Zudem weisen sie noch die et-Ligatur auf, die der Rekognitionsformel in den Königsurkunden (… recognovi et subscripsi) entstammt, in den Urkunden Wichfrieds aber völlig unmotiviert erscheint. Der Erzbischof verstand das Zeichen offensichtlich als sein persönliches Signum, denn in allen vier Fällen erscheint es in Urkunden, die von den Angehörigen des Domkapitels mitunterzeichnet werden und in denen das Zeichen mit der Formel Signum domni Uuichfridi archiepiscopi, qui hanc cartam fieri iussit oder ähnlich angekündigt wird.126 Eine weitere, nur abschriftlich überlieferte Urkunde Wichfrieds von 948, die ebenfalls zahlreiche Mitunterzeichner anführt, wies im Original offenbar auch ein solches Zeichen auf, das der Kopist zwar nicht nachzeichnete, für das er jedoch den Platz frei ließ.127 Dass Wichfried nicht alle

|| 124 Manfred GROTEN, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Köln vom 9. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, in: HAIDACHER u. KÖFLER (Hgg.) (Anm. 13), S. 97–108, hier S. 97. Zu den graphischen Symbolen in den Urkunden der Kölner Erzbischöfe vgl. auch RÜCK (Anm. 1), S. 39. 125 Urkunden von 927 Juli 7, 941 September 9, 941 November 23, 945 August 2; Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100, Bd. 2: Elten – Köln, S. Ursula, bearb. v. Erich WISPLINGHOFF (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 57), Düsseldorf 1994, Nr. 321, 248, 324, 326 (online verfügbar unter: http://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/content/tit leinfo/11945 (abgerufen am: 26.2.2019)); Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 1: 313–1099, bearb. v. Friedrich Wilhelm OEDIGER (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Bonn 1954–61, Nr. 321, 328, 329, 335); LBA-Zugangsnr. 8983, 9170 (Abb. auch in: Kaiserurkunden in Abbildungen, hrsg. v. Heinrich von SYBEL u. Theodor SICKEL, Berlin 1880–1891, Lieferung VII/29), 8984, 8985. 126 So in: Rheinisches Urkundenbuch 2 (Anm. 125), Nr. 321, 248; ebd., Nr. 324: Signum domni Uuichfridi archiepiscopi, qui hanc cartam fieri iussit ac roborari fecit; ebd., Nr. 326: Signum domni Uuichfridi archiepiscopi, qui hanc cartam fieri iussit et manu propria firmavit; vgl. zu diesen Formeln OEDIGER, in: Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), S. 29*; OEDIGER, ebd., S. 30*, weist die Zeichen eher dem Kölner Kanzler Heribert (927–945) als dem Erzbischof zu und sieht darin lediglich „ornamentale(s) Zeichen“. 127 Urkunde von 948 für Kloster Siegburg; Urkunden und Quellen zur Geschichte von Stadt und Abtei Siegburg, Bd. 1: (948) 1065‒1399, bearb. v. Erich WISPLINGHOFF, Siegburg 1964, Nr. 1; Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 340; LBA-Zugangsnr. 10087; auch eine angebliche Urkunde Erzbischof Wichfrieds für das Stift St. Severin in Köln von 948 April 2 weist das Rekognitionszeichen auf, Fälschung 11. Jh.; Rheinisches Urkundenbuch 2 (Anm. 125), Nr. 313; Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 338; LBA-Zugangsnr. 9171.

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seine Urkunden mit dem Zeichen ausstattete, zeigt ein Beispiel von 950.128 Von Wichfrieds Nachfolger im Amt, Brun I. (953–965), Bruder Ottos des Großen, ist ebenfalls eine Urkunde mit einem Rekognitionszeichen überliefert, das vom Siegel fast, aber nicht völlig verdeckt wird.129 Während von dessen Nachfolger Folcmar (965–969) keine Urkunden mit graphischen Symbolen erhalten sind, gibt es von Erzbischof Gero (969–976) wieder ein Beispiel: In einer Urkunde von 970 für das Kloster Gerresheim findet sich ein Rekognitionszeichen, das demjenigen Wichfrieds stark ähnelt, auch wenn es etwas flüchtiger gezeichnet ist.130 In diesem Fall geht das Zeichen vielleicht auf den Schreiber der Urkunde zurück, Ruotbertus, der nachweislich Verbindungen zur Reichskanzlei hatte, denn er schrieb einige Jahre später eine Urkunde Kaiser Ottos II. ebenfalls für Gerresheim.131

Abb. 4: Urkunde Erzbischof Wichfrieds von Köln für St. Ursula von 945 (Ausschnitt, LBA 8985).

Gut hundert Jahre nach Wichfried, Brun und Gero gibt es erneut einen Kölner Erzbischof, der graphische Zeichen in seinen Urkunden anbringt: Anno II. (1056–1075). In einem 1066–1075 entstandenen Chirograph für das Kloster Siegburg erkennt man als

|| 128 Urkunde von 950 Mai 29 für das Stift St. Ursula in Köln; Rheinisches Urkundenbuch 2 (Anm. 125), Nr. 327; Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 343; LBA-Zugangsnr. 9173. 129 Urkunde von 962 Dezember 25 für das Stift St. Cäcilien in Köln; Rheinisches Urkundenbuch 2 (Anm. 125), Nr. 250; Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 449; LBA-Zugangsnr. 9174. 130 Urkunde von 970 Januar 1 für Kloster Gerresheim; Rheinisches Urkundenbuch 2 (Anm. 125), Nr. 181; Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 501; LBA-Zugangsnr. 9456; auch dieses Zeichen weist eine unmotivierte et-Ligatur auf. 131 DO.II.153 von 977 April 12: Die Urkunden Otto des II., hrsg. von Theodor SICKEL (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2,1), Hannover 1888, Nr. 153 S. 173f.); vgl. dazu OEDIGER, in: Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), S. 26*.

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Teilungszeichen wohl zwei konzentrische Kreise, die von einem Kreuz gefüllt werden.132 Eine andere Urkunde Annos, ausgestellt 1073–1075, ahmt deutlich erkennbar die Herrscherurkunde der Zeit nach; das zeigt sich etwa in der Verwendung eines Chrismons in C-Form, in der Elongata der ersten Zeile und der diplomatischen Minuskel als Textschrift mit in Kapitälchen geschriebenen Namen. Diese Urkunde weist auch ein Monogramm auf, das in der Form sowohl dem königlichen Monogramm wie dem päpstlichen Benevalete ähnelt. Offenbar handelt es sich um ein Namens und Titelmonogramm, in das die Worte Anno archiepiscopus eingearbeitet sind.133 Auch ein weiteres Stück Annos für Deutz zeichnet sich durch ein Monogramm aus.134 Wiederum rund hundert Jahre später treten erneut graphische Symbole in den Urkunden eines Kölner Erzbischofs auf, und zwar in denjenigen Philipps von Heinsberg (1167–1191), seit 1167 Leiter der Reichskanzlei. In zwei seiner Urkunden, einer von 1169 und einer von 1188, finden sich aufwendige Monogramme, die offenbar durch das Herrschermonogramm Friedrich Barbarossas inspiriert sind; sie bilden den Schluss von Signumzeilen nach staufischem Vorbild.135 In Köln spielten offensichtlich weniger die Empfänger eine Rolle, da sie höchst unterschiedlich sind: die Stifte St. Ursula, St. Cäcilien und Rees, die Klöster Siegburg, Gerresheim und Deutz. Vielmehr mag die Nähe der Erzbischöfe zur Reichskanzlei Einfluss auf ihre Urkundenausstellung ausgeübt haben.

|| 132 Urkunde von 1066–1075; Urkunden und Quellen zur Geschichte von Stadt und Abtei Siegburg 1 (Anm. 127), Nr. 9 (zu 1065 August 8 bis 1075 Dezember 4); Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 1073; LBA-Zugangsnr. 10165; vgl. zum Zeichen auch ZAISBERGER (Anm. 14), S. 280, und RÜCK (Anm. 1), S. 41. – GROTEN (Anm. 124), S. 100 mit Anm. 28, führt eine Urkunde Hermanns II. (1036–1056) von 1046 (?) an, die am Ende der Datierungszeile ein kleines Namensmonogramm trägt: Rheinisches Urkundenbuch 2 (Anm. 125), Nr. 315 (hier zu 1043 Dezember 8); Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 810, deren Echtheit jedoch umstritten ist. 133 Urkunde von 1073–1075 für Kloster Deutz; Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins 1 (Anm. 64), Nr. 226; Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100, Bd. 1: Aachen–Deutz, bearb. v. Erich WISPLINGHOFF (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 57), Düsseldorf 1972, Nr. 138; online verfügbar unter: http://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/con tent/titleinfo/7305 (abgerufen am: 26.2.2019); Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 1075; LBA-Zugangsnr. 8998; auch erwähnt von GROTEN (Anm. 124), S. 100 mit Anm. 32; vgl. zum Zeichen auch ZAISBERGER (Anm. 14), S. 281. 134 Urkunde von (1056–1065); Rheinisches Urkundenbuch 1 (Anm. 133), Nr. 139; Regesten der Erzbischöfe von Köln 1 (Anm. 125), Nr. 952a; LBA-Zugangsnr. 9451; vgl. GROTEN (Anm. 124), S. 100. 135 Urkunde von 1169 Mai 19 für Stift Rees; Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins 1 (Anm. 64), Nr. 432; Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 2: 1100–1205, bearb. v. Richard KIPLING (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21/2), Bonn 1901, Nr. 929; LBA-Zugangsnr. 9803. – Auf ein weiteres Beispiel von 1169 weist GROTEN (Anm. 124), S. 107 Anm. 35, hin: Regesten der Erzbischöfe von Köln 2, Nr. 939. – Urkunde von 1188 Dezember 5 für Stift Rees; Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins 1 (Anm. 64), Nr. 507; Regesten der Erzbischöfe von Köln 2, Nr. 507; LBA-Zugangsnr. 9852.

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Die beiden herausragenden Fälle sind, wie eingangs bereits angemerkt, Salzburg und Augsburg. In den Urkunden der Salzburger Erzbischöfe Konrad I. (1106–1147), Eberhard I. (1147–1164), Adalbert III. (1168–1200) und Eberhard II. (1200–1246) finden sich graphische Symbole, das erste Mal 1136, das letzte Mal 1203, also über eine Spanne von weit über 60 Jahren. Insgesamt 29 Fälle sind belegt, auch in einer Fälschung erscheint ein solches Symbol. Othmar HAGENEDER und Otfried KRAFFT haben sich diesen Urkunden gewidmet und die Symbole beschrieben,136 so dass hier unter Verweis auf ihre Arbeiten auf die detaillierte Anführung der Einzelfälle verzichtet werden kann. Die Salzburger Monogramme sind ganz überwiegend Benevalete-Monogramme nach dem Vorbild der Papsturkunde und ahmen in vielen Fällen dieses Vorbild bis in die Einzelheiten nach.137 In einem Beispiel von 1161 ist zusätzlich der Name des Ausstellers, Erzbischof Eberhards I. (Eberhardus), eingearbeitet,138 und in zwei Fällen (1179, 1203) begegnen Rota-ähnliche Figuren.139 Sämtliche BenevaleteMonogramme werden in Salzburg als Schlussgruß der Urkunden eingesetzt, also nicht in eine Unterschriftsformel irgendeiner Art eingebunden. Das mehrdeutige Zeichen Erzbischof Eberhards I. von 1161 steht allerdings vor seiner eigenhändigen Unterfertigung und könnte somit als persönliches Zeichen gelten. Ähnliches gilt für die beiden Rota-ähnlichen Zeichen von 1179 und 1203, die direkt vor die Unterfertigung des jeweiligen Erzbischofs platziert sind. Über viele Jahrzehnte hinweg wird also in Salzburg an dem Einsatz von Zeichen generell und spezifischer noch an der Ausrichtung am päpstlichen Vorbild festgehalten. Sowohl Eberhard I. wie Adalbert III. waren im alexandrinischen Schisma Sympathisanten bzw. Parteigänger Alexanders III. Bei der Verwendung der Zeichen in den Urkunden der Salzburger Erzbischöfe spielte einerseits Empfängereinfluss eine Rolle, so durch das Stift Reichersberg und dessen

|| 136 HAGENEDER (Anm. 16), S. 44–46; KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 139–147. 137 KRAFFT, ebd., führt 25 Beispiele und eine Fälschung an und bildet fünf Monogramme S. 140–145 ab; im LBA sind elf Beispiele dokumentiert, in chronologischer Folge: LBA-Zugangsnr. 9312, 8721, 9314, 8895, 5364, 5367, 5370, 8879, 5431, 5436, 5754; vgl. auch LBA-Zugangsnr. 4994, Fälschung auf Erzbischof Konrad I., und LBA-Zugangsnr. 5373, Kopien einer Urkunde Erzbischof Konrads I. und einer Urkunde Erzbischof Eberhards I. mit Nachzeichnungen der Monogramme. 138 Salzburger Urkundenbuch, Bd. 2: Urkunden von 790–1199, gesammelt u. bearb. von Willibald HAUTHALER u. Franz MARTIN, Salzburg 1916, Nr. 355; vgl. dazu KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 143; Abbildung bei HAGENEDER (Anm. 16), Tafel 7 S. 62. 139 Urkunde Adalberts III. von 1179 Februar 10 für Reichersberg; Salzburger Urkundenbuch 2 (Anm. 138), Nr. 417 S. 574–576, hier S. 575 Anm. c: „Kreis mit Kreuz zwischen den Balken, De/us ad/iu/ra m e“. – Urkunde Eberhards II. von 1203 Februar 8 für Reichersberg; Salzburger Urkundenbuch 3: Urkunden von 1200–1246, gesammelt u. bearb. von Willibald HAUTHALER u. Franz MARTIN, Salzburg 1918, Nr. 567 S. 43–45, hier S. 44 Anm. c: „zwei Kreise, darin ein Kreuz und Alpha und Omega“; Abbildung bei HAGENEDER (Anm. 16), Tafel 6 S. 61.

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Propst Gerhoch.140 Andererseits wird auch der Einfluss einzelner Schreiber deutlich, die, so vermutet KRAFFT, „ihr Benevalete als Konfirmationszeichen hinterließen“.141 Neben Salzburg ist Augsburg das Bistum mit den meisten einschlägigen Belegen: Hier ließen sich 14 Urkunden mit graphischen Symbolen ermitteln, zudem ein nur kopial überliefertes, aber vertrauenswürdiges Exemplar des 11. Jahrhunderts, ausgestellt von Bischof Embricho 1067, aus dem man mit guten Gründen schließen kann, dass in Augsburg auch im 11. Jahrhundert schon Urkunden mit graphischen Symbolen versehen wurden.142 Schließlich ist auf einen berühmten Vorläufer im 10. Jahrhundert zu verweisen: Die Urkunde Bischof Ulrichs I. von 969 weist im Protokoll als Invokationszeichen ein auffälliges großes Tatzenkreuz auf, in dessen Winkel kleine, aus Punkten bestehende Kreise eingefügt sind.143 Die übrigen Beispiele entstammen alle dem 12. Jahrhundert, konkret der Zeit zwischen 1127 und 1154, und finden sich in Urkunden der Augsburger Bischöfe Hermann (1096–1133), Walther (1133–1152) und Konrad (1152–1167). Sie wurden überwiegend bereits von Valerie FEIST und Karl HELLEINER behandelt,144 auf deren Arbeit hier verwiesen werden kann. Die Augsburger Bischofsurkunden dieser Zeit sind in ihren äußeren Merkmalen und im Formular stark von der Papsturkunde beeinflusst.145 Die Monogramme jedoch, bei denen es sich ganz überwiegend um Namensmonogramme der Aussteller handelt, erinnern nur ganz entfernt an das päpstliche Benevalete-Monogramm; vielmehr sind sie ganz eigenständige, zudem sehr unterschiedliche Schöpfungen. In der Corroboratio angekündigt werden sie nicht. Von Bischof Hermann sind Monogramme in vier Urkunden überliefert, zudem ein weiteres in einer Nachzeichnung des 16. Jahrhunderts;146 alle sind Namensmonogramme. Von Bischof Walther haben sich sieben Urkunden mit

|| 140 Vgl. KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 142, 146f. 141 Ebd., S. 147. 142 Urkunde von 1067 Juni 29: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 314, in: Regesta Imperii Online. Das Monogramm ist als Nachzeichnung in einer Handschrift des 17. Jh. überliefert; es handelt sich offenbar um ein Namensmonogramm, da die Buchstaben R, B, E und S zu erkennen sind, die an den Grundbuchstaben M angeschlossen werden. 143 Urkunde von 969: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 144, in: Regesta Imperii Online. 144 Valerie FEIST u. Karl HELLEINER, Das Urkundenwesen der Bischöfe von Augsburg von den Anfängen bis zur Mitte des XIII. Jahrhunderts (897–1248), in: Archivalische Zeitschrift 37 (1928), S. 38–88, hier S. 79–80. 145 FEIST u. HELLEINER (Anm. 144), S. 62–64. 146 1127 Januar 30 für Kühbach: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 457, in: Regesta Imperii Online (LBAZugangsnr. 9073); 1128 Februar 29 für Wessobrunn: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 460, in: Regesta Imperii Online (LBA-Zugangsnr. 6534); 1129 März 13 für die Marienkapelle in Augsburg: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 461, in: Regesta Imperii Online; 1129 Juli 26 für Scheyern: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 465, in: Regesta Imperii Online (LBA-Zugangsnr. 9414); 1130 für Hegebach (Nachzeichnung des 16. Jh.): RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 468, in: Regesta Imperii Online (alle abgerufen am 08.03.2018); im LBA sind also nur drei dieser Stücke dokumentiert (LBA-Zugangsnr. 9073, 6534, 9414).

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graphischen Symbolen erhalten;147 zusätzlich gibt es von einem der Stücke zwei nahezu zeitgenössische Nachzeichnungen.148 Auch diese Zeichen sind überwiegend Namensmonogramme, allerdings ist eines ungewöhnlicherweise auf der Rückseite der Urkunde angebracht (1143 September 24 für Minderoffingen), und ein anderes in der Urkunde für Anhausen (1143 Oktober) hat eine für Augsburg sehr ungewöhnliche Form: Es ist zwar ein Namensmonogramm, erinnert aber nicht an das päpstliche Benevalete, sondern an die Zeichen des Mainzer Erzbischofs Adalbert I. in den Urkunden für Kaufungen und Reinhardsbrunn (Abb. 5).149

Abb. 5: Urkunde Bischof Walthers I. von Augsburg für Anhausen von 1143 (Ausschnitt, LBA 1867).

|| 147 1135 März 12 für St. Georg: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 488, in: Regesta Imperii Online (LBAZugangsnr. 8446); 1135 September 21 für Kaisheim: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 489, in: Regesta Imperii Online (LBA-Zugangsnr. 6969); 1143 März 10 für das Augsburger Domkapitel: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 501, in: Regesta Imperii Online; 1143 September 24 für die Taufkirche in Minderoffingen: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 505, in: Regesta Imperii Online; (1143 Oktober) für Anhausen: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 506, in: Regesta Imperii Online (LBA-Zugangsnr. 1867); 1150 für den Priester Agilward: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 522, in: Regesta Imperii Online; 1150 September 4 für das Hospital Hl. Kreuz in Augsburg: RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 524, in: Regesta Imperii Online (LBA-Zugangsnr. 8450) (alle abgerufen am 08.03.2018); im LBA sind also nur vier dieser Stücke dokumentiert (LBA-Zugangsnr. 8446, 6969, 1867, 8450). 148 Es handelt sich um Nachzeichnungen der Urkunde von 1135 September 21 für Kaisheim; das Original liegt im Klosterarchiv St. Bonifaz in München, Kaisheimer Urkunden Nr. 1 (LBA-Zugangsnr. 6969); eine Nachzeichnung von ca. 1160 ist vorhanden im Hauptstaatsarchiv München, Domkapitel Augsburg Urk. Nr. 6 (LBA-Zugangsnr. 8446), eine weitere Nachzeichnung von ca. 1160 ebd., Kloster Kaisheim Urk. Nr. 2 (LBA-Zugangsnr. 8942). Die Angaben zu den Lagerorten und der Einschätzung der Exemplare folgen RIplus Regg. B Augsburg 1 n. 489, in: Regesta Imperii Online (abgerufen am 08.03.2018). 149 Siehe oben, Abb. 2 und 3.

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Vom Augsburger Bischof Konrad sind drei Urkunden mit graphischen Symbolen überliefert, die sämtlich von der sonstigen Augsburger Tradition abweichen. Das früheste Beispiel ist die Urkunde von 1153 September 17 für Kloster Kühbach, deren Zeichen von Georg KREUZER folgendermaßen beschrieben und interpetiert wird: „In diesem Diplom folgen auf die Corroboratio die Worte: Signum propria manu subscripsimus. Trotz entsprechender Vorkehrungen durch ein Zeichen in zwei konzentrischen Kreisen, deren Innenraum frei ist, unterblieb eine eigenhändige Beteiligung des Ausstellers“.150 Nicht auszuschließen ist aber, dass das Zeichen selbst die eigenhändige Unterfertigung darstellte. In zwei weiteren Urkunden Bischof Konrads, beide aus dem Jahr 1154 und für das Stift Steingaden,151 erscheinen Monogramme, die, anders als sonst bei den Augsburger Bischofsurkunden üblich, dem päpstlichen Benevalete-Monogramm sehr ähnlich sehen; bei beiden handelt es sich jedoch um Namens- und Titelmonogramme.152 Schließlich hat wahrscheinlich auch der Nachfolger Bischof Konrads, Hartwig (1167–1184), wenigstens eine Urkunde ausgestellt, die mit einem Namensmonogramm versehen war;153 in einer Urkunde des Augsburger Bischofs Siboto von 1253 Juni 12154 wird die Urkunde Hartwigs inseriert, und hier findet sich auch eine Nachzeichnung des Monogramms, wenn auch mit der verderbten vorausgehenden Signumzeile Sigillum (wohl für richtig Signum) Hainrici (wohl für richtig Hartwici) Augustensis episcopi.155 Damit lässt sich konstatieren, dass in Augsburg unter vier aufeinanderfolgenden Bischöfen des 12. Jahrhunderts Urkunden mit Monogrammen versehen wurden, bei denen es sich mit einer Ausnahme sämtlich um Namensmonogramme handelt, einmal auch um ein Monogramm, in dem zusätzlich der Titel episcopus (in der zu eps abgekürzten Form) verarbeitet wurde. Die Tradition wurde wohl bereits im 11. Jahrhundert durch Bischof Embricho begründet, hatte vielleicht sogar in der Ulrichs-Urkunde von 969 einen Vorläufer, und bricht zum Ende des 12. Jahrhunderts ab. Es ist an der Zeit, die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassend anzuschauen. Anders als aufgrund der älteren Spezial- wie Handbuchliteratur zu vermuten gewesen war, stellen graphische Symbole in Bischofsurkunden des deutschsprachigen Raums, von Invokationszeichen wie Chrismen und Kreuzen und der

|| 150 RIplus | SFG: Regg. B/DK Augsburg 2 n. 26, in: Regesta Imperii Online (abgerufen am 08.03.2018); vgl. auch RÜCK (Anm. 1), S. 34 bei Anm. 185. 151 1154 August 11 für Stift Steingaden: RIplus | SFG: Regg. B/DK Augsburg 2 n. 30, in: Regesta Imperii Online; 1154 November 3 für Stift Steingaden: RIplus | SFG: Regg. B/DK Augsburg 2 n. 31, in: Regesta Imperii Online (beide abgerufen am 08.03.2018). 152 Vgl. KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 149 mit Anm. 106. 153 Urkunde von 1181 Juli 8 für das Kloster Lorch: RIplus | SFG: Regg. B/DK Augsburg 2 n. 114, in: Regesta Imperii Online (abgerufen am 08.03.2018). 154 Württembergisches Urkundenbuch Bd. 4, Nr. 144 S. 443f.: http://www.wubonline.de/?wub=1495 (abgerufen am 22.01.2018). 155 Vgl. dazu FEIST u. HELLEINER (Anm. 145), S. 69.

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Ausgestaltung der ersten Zeile abgesehen, im 10., 11. und 12. Jahrhundert eher Ausnahmefälle dar; im 13. Jahrhundert scheinen sie völlig verschwunden zu sein. In einiger Häufigkeit und über längere Zeit hinweg treten sie nur in wenigen Bistümern oder Erzbistümern auf, so vor allem in Salzburg, Augsburg und Köln. Zu betonen ist jedoch, dass auch die Bischöfe bzw. Erzbischöfe von Salzburg, Augsburg und Köln keineswegs alle ihre Urkunden mit graphischen Symbolen versahen oder versehen ließen. Immer ist es eine Minderheit der überlieferten Stücke, die solche graphischen Symbole enthält. Diesen grundsätzlichen Befund, der anhand der Bestände des Marburger Lichtbildarchivs gewonnen wurde, verändern auch die zusätzlich ermittelten Beispiele nicht wesentlich. Aufschlussreich ist die zeitliche Streuung des Phänomens: Im 9. Jahrhundert gibt es keine Beispiele, was jedoch auch an der äußerst geringen Zahl überlieferter Bischofsurkunden aus dieser frühen Zeit liegen kann. Im 10. Jahrhundert treten unter 24 im Original überlieferten Urkunden156 sechs Stücke auf, die alle den Erzbischöfen von Köln zuzuweisen sind. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts findet sich unter rund 40 Urkunden kein einziges Beispiel, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, genauer in den Jahrzehnten zwischen 1050 und 1080, kennen wir unter rund 120 Urkunden acht Fälle, in denen Erzbischöfe oder Bischöfe Urkunden ausstellten, die graphische Symbole aufweisen; zudem sind hier sieben unterschiedliche Bistümer betroffen. In den Jahrzehnten zwischen 1080 und 1120 kennen wir nur ein einziges Beispiel – dagegen treten in der Zeit zwischen 1120 und dem Ende des Jahrhunderts über 70 Fälle auf. Allerdings ist in dieser Zeit auch die Überlieferung wesentlich breiter als in der Zeit davor. Einen vereinzelten Fall kennen wir noch aus den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts (1203); sonst gibt es aber aus der Zeit nach dem Jahr 1200 keine Beispiele mehr.157 Was die Formen betrifft, so treten am häufigsten Namensmonogramme auf, die zwar in manchen Einzelheiten das Vorbild der Herrschermonogramme oder des Benevalete der Papsturkunden verraten, im Grunde aber unabhängige Schöpfungen darstellen. Eher selten sind dagegen Zeichen, die, dem Inhalt nach Namensmonogramme der Urkundenaussteller, die Herrschermonogramme der Zeit nachahmen, so in Stücken von 1127 und 1147 in Mainz, von 1169 und 1188 in Köln und von 1190 in Freising. Zahlreich begegnen dagegen Erzbischöfe und Bischöfe, die ihre Urkunden mit einem Benevalete-Monogramm nach dem Vorbild der Papsturkunde versehen; hier tritt insbesondere Salzburg hervor, außerdem kommen solche Fälle in Bamberg, Trier, Augsburg, Passau und Gurk vor. Die päpstliche Rota dagegen wird sehr selten || 156 Aus dieser Zeit gibt es keine Mehrfachabbildungen, die Zahl ist also korrekt; zusätzlich existiert ein Original-Konzept (LBA-Zugangsnr. 15860). 157 Abgesehen von Fällen, in denen Bischöfe oder Erzbischöfe Transsumpte von älteren Urkunden erstellen; dann werden nicht selten die graphischen Symbole nachgezeichnet; vgl. z. B. die Urkunde der Bischöfe Dietrich von Naumburg und Heinrich von Merseburg von 1250 April 2 (LBA-Zugangsnr. 1776).

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zum Vorbild genommen; lediglich 1057 in Würzburg sowie 1179 und 1203 in Salzburg finden sich Beispiele. Schließlich fallen ungewöhnliche Formen auf, die sich in kein Schema pressen lassen: Es gibt Rad- oder Weihekreuze, Kreisformen unterschiedlicher Ausprägung, buchstabenbesetzte unterteilte Quadrate, auch ganz unbeholfen anmutende Zeichen, und bemerkenswert ist schließlich das Rekognitionszeichen in den Urkunden Kölner Erzbischöfe des 10. Jahrhunderts. Fragt man nach den Gründen für die Aufnahme graphischer Symbole, so bieten sich mehrere Antworten an. Das Bemühen, die persönliche oder sogar eigenhändige Beteiligung am Rechtsakt und der Urkundenausstellung zu demonstrieren, ist wohl die naheliegendste Erklärung, die auf viele der hier vorgestellten Fälle zutrifft.158 Eine korroborative Funktion ist in diesem Zusammenhang ebenfalls anzunehmen, angesichts der Tatsache, dass die Zeichen sowohl im 11. wie im 12. Jahrhundert nicht selten in den Corroborationes angekündigt werden, so in Beispielen aus Köln, Trier und Mainz.159 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass im römisch-deutschen Reich eine erheblich größere Variationsbreite von Zeichen verwendet wird als im übrigen Europa. Während in Frankreich, auf der iberischen Halbinsel und in Italien häufig die päpstliche Rota nachgeahmt wird, in Italien auch das Benevalete-Monogramm eine bedeutende Rolle spielt, treten Nachahmungen der Herrschermonogramme offenbar gar nicht auf. Das sieht im deutschen Reich deutlich anders aus: Hier dienen die Monogramme der Könige und Kaiser durchaus als Vorbilder, und es finden sich darüber hinaus auch Rekognitionszeichen nach dem Muster der Herrscherurkunden sowie eine Reihe von unabhängigen Schöpfungen, wie die buchstabenbesetzen unterteilten Quadrate oder die Monogramme der Augsburger und Bamberger Bischöfe. Das Benevalete-Monogramm spielte wie im übrigen Europa eine wichtige Rolle, der Rota kam im Unterschied zu Frankreich, Portugal, Spanien und Italien jedoch eine eher geringe Bedeutung zu. Bei der Verwendung der Symbole mögen im 11. Jahrhundert auch die Reformbestrebungen der Kirche und der beginnende Investiturstreit von Bedeutung gewesen sein; ein Bischof konnte seine politische Haltung durch die Aufnahme von Rota und Benevalete in seine Urkunden verdeutlichen, wie es wohl Adalbero von Würzburg 1057 tat. Im 12. Jahrhundert könnten die Schismen eine Rolle gespielt haben, in denen die geistlichen Fürsten des Reiches sich – wie im Falle von Salzburg – auf die Seite der päpstlichen Partei stellten und dies auch in ihren Urkunden zum Ausdruck kommen lassen wollten. Deutlich wird, dass besonders Metropoliten über ganz Europa || 158 So interpretiert HÄRTEL (Anm. 8), S. 130, die von ihm angeführten Beispiele in Urkunden der Bischöfe von Hildesheim und Würzburg aus den 1050er Jahren als „Versuche, die persönliche Beteiligung des Bischofs an der Beurkundung auszudrücken“; KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 139, sieht in den Zeichen ein besonderes Authentizitäts- oder Legitimitätsversprechen. 159 RÜCK (Anm. 1), S. 33, vermutet besonders bei der Rota und dem Radkreuz bzw. dem geviertelten Kreis eine korroborative Bedeutung.

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hinweg sich graphischer Symbole bedienten, wie die Beispiele etwa von Santiago, Aquileia, Ravenna, Mailand, Benevent, Salzburg, Köln, Mainz, Trier zeigen, und dass ihre Suffragane sie darin zuweilen nachahmten.160 Nicht zuletzt bietet sich die Vermutung an, dass in der Zeit, in der die Gestalt der Bischofsurkunde noch keine feste Form gewonnen hatte, mit verschiedenen Elementen der Ausgestaltung von Urkunden experimentiert wurde. Die Königsurkunde bildete für die frühen Bischofsurkunden zweifellos ein Vorbild, wie sich anhand der Aufnahme der diplomatischen Minuskel in die Urkunden oder der Gestaltung der ersten Zeile mit Chrismen und Elongata deutlich feststellen lässt. Zuweilen spielte offenbar die Königsnähe des Ausstellers und die Vertrautheit mit den Gepflogenheiten der herrscherlichen Kanzlei eine Rolle.161 So experimentierte man offensichtlich auch mit graphischen Symbolen, die in Königsurkunden seit jeher vorhanden waren, und ebenfalls mit solchen aus Papsturkunden. In mehreren Fällen ließ sich Empfängereinfluss konstatieren. Denkbar ist, dass diese Empfänger, die in ihren Archiven graphisch eindrucksvolle Kaiser- und Papsturkunden besaßen, ähnlich eindrucksvolle Exemplare auch von ihrem Bischof erwarteten oder erbaten, oder gar, bei Empfängerausfertigungen, eigenmächtig graphische Symbole in die Urkunden aufnahmen. Daneben kam den Zeichen auch eine repräsentative Rolle zu; sie trugen zur Erhöhung der Feierlichkeit des Urkundenbildes bei und drückten insbesondere im Falle der Namens- und Titelmonogramme zweifellos auch das Selbstbewusstsein des ausstellenden Bischofs oder Erzbischofs aus. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Beneventaner Erzbischöfe, deren gesteigertes Repräsentationsbedürfnis sich auch in anderen Indizien äußerte.162 Erstaunlich ist es letztendlich, dass die große Mehrzahl der europäischen und auch der deutschen Bischöfe auf die Verwendung von graphischen Symbolen in ihren Urkunden verzichtete. Angesichts der eindrucksvollen Ausgestaltung sowohl der Kaiser- und Königs- wie der Papsturkunden und angesichts auch der Tatsache, dass sogar die Notare die von ihnen ausgestellten Urkunden sicher nicht allein zur Sicherung gegen Fälschungen, sondern auch zur Erhöhung der Feierlichkeit der Stücke durch auffällige Signete kennzeichneten, verwundert die Zurückhaltung der kirchlichen Würdenträger umso mehr.

|| 160 Vgl. GUYOTJEANNIN (Anm. 32), S. 95; HAGENEDER (Anm. 16), S. 44. 161 HEMPTINNE (Anm. 35), S. 515. 162 Vgl. SCHIMMELPFENNIG (Anm. 65); KRAFFT, Bene Valete (Anm. 6), S. 137.

Gabriele Bartz

„Same same but different“. Die Werkstatt der Avignoner Bischofsammelindulgenzen Zusammenfassung: Seit ihrem Aufkommen Ende des 13. Jahrhunderts sind Bischofsammelindulgenzen immer großformatig gewesen; schon in Rom hat man damit begonnen, ihnen durch Dekoration zusätzliche Attraktivität zu verleihen. Am päpstlichen Hof in Avignon im 14. Jahrhundert sind sie dann massenweise ausgestellt worden. Ab 1326 wurden die Anfangsinitialen mit Farben betont, schon zwei Jahre später wurden sie vollfarbig gestaltet. Über 20 Jahre hat die Werkstatt der Avignoner Bischofsammelindulgenzen für die Illuminierung dieser plakatgroßen Urkundengattung gesorgt. Obzwar kein Produzent großer Kunst, sondern eher rascher Handwerksarbeit, bietet die Werkstatt die einzigartige Gelegenheit, einen Verbund von Malern/Schreibern über einen längeren – und durch die festen Daten der Urkunden auch sicheren – Zeitraum zu studieren. Deren Wille am Beharren einmal gefundener Kompositionen ist ebenso zu beobachten wie erstaunliche Innovationen; beides wird man in direkter Absprache mit den Auftraggebern entwickelt haben. Neue Mitarbeiter brachten moderne Kompositionen in die Werkstatt ein. Das eigentlich Erstaunliche ist aber das zeitliche Nebeneinander von Althergebrachtem und Innovativem. Schlagwörter: Sammelindulgenzen, Frankreich, Deutschland

https://doi.org/10.1515/9783110649970-010

Werkstatt,

Illumination,

Performanz,

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Der Titel ist ein Zitat aus dem thailändischen Englisch (Tinglish). Damit wird etwas bezeichnet, das ganz gleich und doch anders ist. Ebenso verhält es sich mit vielen Erzeugnissen der Avignoner Ablass-Werkstatt, der ich mich im Folgenden aus kunsthistorischer Sicht widmen möchte.1 Die Werkstatt der Avignoner Bischofsammelindulgenzen ist ein Verbund von Malern und Schreibern an der päpstlichen Kurie, der sich ausschließlich mit der Produktion von plakatgroßen Indulgenzen befasste, die von mehreren Bischöfen gesiegelt wurden. Sie bestand – nach den bisher bekannten Urkunden – zwischen 1314 und 1348. Ihre umfangreiche Produktion bietet aufschlussreiche Erkenntnisse über die Entwicklung von Layout, Ikonographie der Darstellungen und stilistischen Eigenheiten: Sie könnte somit als Paradigma für die Organisation von (Buchmaler-)Werkstätten der Zeit dienen. Bischofsammelindulgenzen sind Urkunden, in denen mehrere Bischöfe einen Ablass gewähren. All jene Sünderinnen und Sünder, welche die im Text festgelegten Voraussetzungen erfüllen, erhalten einen teilweisen Erlass der zeitlichen Strafen im Fegefeuer – bei Bischöfen im Umfang von 40 Tagen.2 Diese Urkunden gewannen be-

|| 1 Im Rahmen des vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten interdisziplinären Projekts „Illuminierte Urkunden als Gesamtkunstwerk“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und an der Karl-Franzens-Universität Graz wurde auf monasterium.net eine Datenbank erstellt (http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/collection), die mit Schmuck versehene Urkunden des Mittelalters aus ganz Europa versammelt. Historische Hilfswissenschaftler (Andreas Zajic und Markus Gneiß), Digital Humanists (Georg Vogeler und Martina Bürgermeister) und KunsthistorikerInnen (Martin Roland und ich) arbeiteten gemeinsam an der Erschließung und digitalen Präsentation von Urkunden mit gemalten sowie gezeichneten Dekorationen. Ab November 2017 wurde das Projekt „Illuminierte Urkunden“ für ein Jahr von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften als Go!Digital-Projekt gefördert und beschäftigte sich hauptsächlich mit der Urkundengattung der Bischofsammelindulgenzen. Alle im Folgenden genannten Urkunden mit gemalter oder gezeichneter Dekoration sind in der Datenbank monasterium.net in der Sammlung „Bischofsammelablässe“ erfasst, siehe http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkundenBischof sammelablaesse/collection. Dort finden sich auch Regesten und Einzelnachweise, Links zu den jeweiligen Urkunden sowie Abbildungen (Gabriele BARTZ, Markus GNEISS, Martin ROLAND). Um den Abdruck unschöner Links zu vermeiden, werden hier nur der Aufbewahrungsort und das Datum zitiert. Mithilfe des Datums lassen sich die Urkunden in der Datenbank leicht auffinden; dort auch die Literaturangaben zu den einzelnen Urkunden. Ich danke Markus GNEISS und Martin ROLAND für die Lektüre dieses Texts. 2 Grundlegend Nikolaus PAULUS, Geschichte des Ablasses im Mittelalter, Bd. 1, 2. um eine Einleitung und eine Bibliographie von Thomas LENTES erweiterte Auflage, Paderborn 2000; sowie Alexander SEIBOLD, Sammelindulgenzen: Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit (AfD Beiheft 8), Köln, Weimar, Wien 2001; als erste haben Otto HOMBURGER und Christoph VON STEIGER 1957 die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Diplomatikern und Kunsthistorikern an zwei Ablassurkunden er|| Gabriele Bartz, AkademieVON derSWissenschaften, Institut für Mittelalterforschung, TEIGER, Zwei illuminierte Avignoneser Ablassbriefe in probt, vgl. Otto Österreichische HOMBURGER u. Christoph Abteilung für Schriftund Buchwesen, E-Mail: [email protected] Bern, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 17 (1957), S. 134–158.

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reits ab den 1280er Jahren für die Bittsteller große Attraktivität, weil sie – einer ungeschriebenen Verabredung zufolge3 – den auf der Urkunde verzeichneten Ablass mit der Anzahl der siegelnden Bischöfe multiplizierten.4 Insbesondere Kirchen im deutschen Sprachraum haben von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch gemacht, ihre Kirchenfabrik zu finanzieren.5 Seit ihrem Aufkommen in den 1280er Jahren waren Bischofsammelindulgenzen stets großformatig. Anfangs genügte dem den Urkunden innewohnenden Anspruch auf herausragende Sichtbarkeit allein das plakatartige Format und eine große

|| 3 Das Urkundendiktat beschließt, im Satz mit der eigentlichen Ablassgewährung, die Formel: singuli nostrum [...] relaxamus. Dies verleiht der Deutung, man könne die Ablasstage mit der Anzahl der Bischöfe multiplizieren, eine gewisse Grundlage. Kanonisch-rechtlich ist das allerdings wohl nicht korrekt; vgl. PAULUS (Anm. 1), S. 259–267; Markus GNEISS u. Martin ROLAND, Wie wir sündige Menschen in den Himmel kommen – Gedankensplitter zu Ablass und Fegefeuer, in: Ausst.-Kat. Bilderpracht und Seelenheil. Illuminierte Urkunden aus Nürnberger Archiven und Sammlungen, Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, 12. Februar bis 5. Mai 2019, Nürnberg 2019, S. 39–44; sowie Markus GNEISS, 40 Tage und noch mehr. Bemerkungen zu Bischof- und Kardinalsammelablässen aus diplomatischer Sicht, in: Ebd., S. 57–64 (mit älterer Literatur). 4 Hippolyte DELEHAYE, Les lettres d’indulgence collectives, in: Analecta Bollandiana 45 (1927), S. 97– 123 und S. 323–343, hier S. 109, der sich als erster grundlegend mit Bischofsammelindulgenzen beschäftigte – wenn er auch der gemalten oder gezeichneten Dekoration der Urkunden keine Beachtung schenkte – nannte als erstes Beispiel eine nur kopial überlieferte Sammelindulgenz für die Michaelskirche in Lüneburg 1281 August 30, Orvieto; vgl. UB des Klosters St. Michaelis zu Lüneburg, S. 85, Nr. 114, online:http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/dis play/bsb10477853_00093.html; die früheste uns bisher bekannte Urkunde, die auch als Ausfertigung erhalten ist, wurde am 30. September 1281 für die Michaeliskirche in Lüneburg ausgestellt: Dresden, Hauptstaatsarchiv, Bestand 10001, 990; die bei der Kurie ausgestellten Sammelindulgenzen sind freilich nicht singulär; bereits am 30. September 1220 beispielsweise gibt der Erzbischof von Magdeburg sowie die Bischöfe von Naumburg, Merseburg und Brandenburg Ablass für den Dom von Magdeburg am Tage der Ankunft der Reliquien und der Kirchweihe: Magdeburg, Landesarchiv Sachsen-Anhalt – Abteilung Magdeburg, U5 XII Anhang Nr. 3; weitere Forschungen werden sicher noch andere Urkunden ans Licht bringen. Zu den von ihm so genannten Protosammelindulgenzen vgl. SEIBOLD (Anm. 2), S. 181–190. 5 Wie wichtig Ablassbriefe als Attraktion und Verdienstmöglichkeit waren, zeigen etwa einige Objekte, die ihrerseits Werbung für Ablässe machen: Das erste bekannte Beispiel einer Verbindung von Ablass und Bild belegt die Halberstädter Ablasstafel, Halberstadt, Domschatz, Inv. 32, aus der Zeit nach 1290, auf der Ablassgeber, Ablassgelegenheit und Summe aller Ablässe (acht Jahre und 85 Tage) verzeichnet sind; siehe dazu Die Inschriften des Doms zu Halberstadt, hrsg. v. Hans FUHRMANN (Die deutschen Inschriften/Leipziger Reihe 3 [75]), Wiesbaden 2009, Nr. 27; Christine MAGIN, Ablassinschriften des späten Mittelalters, 2011: https://rep.adw-goe.de/bitstream/handle/11858/00-001S0000-0001-CC1F-9/Magin-Ablassinschriften.pdf?sequence=1, S. 2–3, Abb. 1; sowie Martin ROLAND u. Andreas ZAJIC, Illuminierte Urkunden des Mittelalters in Mitteleuropa, in: Archiv für Diplomatik 59 (2013), S. 241–432, hier S. 313, Abb. 5.

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Schrift.6 Bereits in Rom aber hat man damit begonnen, ihnen durch Dekoration zusätzliche Publikumswirksamkeit zu verleihen. Das Anfangswort Universis wird in Auszeichnungsschrift in der ersten Zeile geschrieben.7 Die Größe der Ablass-Urkunden hängt mit ihrer werbewirksamen Funktion zusammen, denn sie wurden wohl in den Kirchen an Stangen aufgehängt, ausgelegt oder sogar am Portal angeschlagen.8 Teilweise sind die Schlaufen zum Aufhängen noch erhalten.9 Auch ist es wahrscheinlich, dass der Priester während des Gottesdienstes die Ablassgelegenheit angekündigt haben wird. Die große Schrift, die vielen Siegel – und später auch die Illuminationen – werden als ikonische Zeichen gewirkt haben. An welchen Tagen die Urkunden tatsächlich öffentlich präsentiert wurden, ist unklar. Einige führen so viele Ablass-Tage an, dass die Urkunden beinah ganzjährig ausgestellt gewesen sein müssten. Im 14. Jahrhundert sind am päpstlichen Hof in Avignon aufwändig dekorierte Sammelindulgenzen dann massenweise ausgestellt worden.10 Es ist unklar, ob in der

|| 6 Pierre-François FOURNIER, Affiches d’indulgence manuscrites et imprimées des XIVe, XVe et XVIe siècles, in: Bibliothèque de l’école des chartes 84 (1923), S. 116–160, hier S. 116, war der erste, der deshalb den Begriff ‚Plakat‘ verwendet; das Französische mit dem Verb afficher macht diese Assoziation freilich leicht. 7 Zur Entwicklung der Dekoration von Bischofsammelindulgenzen noch in Italien, vgl. http://mo nasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/VoravignonerBischofsammelindulgenz – alle Einträge in dem von mir für diese Urkunden entwickelten Glossar stammen aus meiner Feder. Ein besonders schönes Beispiel ist die Urkunde für den Halberstädter Dom von 1296 (ohne Monat und Tag), Anagni: Magdeburg, Landesarchiv Sachsen-Anhalt – Abteilung Magdeburg, U 5, XII Anhang Nr. 33; die schon sehr große U-Initiale ist drei Zeilen in den Text eingelassen. In den Zwischenräumen und auf den oberen Rand ausstrahlend finden sich Tintenornamente, aber auch Drolerien. Dieser Schreiber hat weitere Sammelindulgenzen auf diese lebendige Weise dekoriert, vgl. den Glossareintrag: http://mo nasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/SchreibermitdenDrolerien. 8 Die Quellen dazu sind bisher spärlich. Einen Zufallsfund stellen die registrierten Urkunden in Rouen dar, wo am 1447 Juli 1 die Erlaubnis für die Kanoniker von Evreux vermerkt ist, ihre Ablässe an den Türen der Kathedrale anzubringen; vgl. Charles DE ROBILLARD DE BEAUREPAIRE, InventaireSommaire des Archives départementales antérieures à 1790, Seine-Inférieure, Archives écclésiastiques, Série G (Nos 1567–3172, Bd. 2, Paris 1874, G. 2131; online: http://visualisation.archivesdepartementales76.net/accounts/mnesys_ad76/datas/medias/inven taires/FRAD076_IR_G_Inventaire_sommaire_T2.pdf. 9 So z. B. die Bischofsammelindulgenz für die Heilig-Geist-Kapelle des Katharinenspitals in Regensburg von 1300 (ohne Monat und Tag), Rom: Regensburg, Archiv des Katharinenspitals, Urk. 141; siehe auch die in Anm. 41 beschriebene Urkunde; eine Abbildung von verschiedenen, an Sammelindulgenzen angebrachten Schlaufen findet sich im Beitrag von Martin ROLAND in diesem Band; vgl. dort auch seine Überlegungen zur Performanz von Sammelindulgenzen. 10 Clemens V., zuvor Erzbischof von Bordeaux, wurde 1305 zum Papst gewählt. Er ließ sich in Lyon krönen; 1309 installierte er den Papsthof dann dauerhaft in Avignon.

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ersten Avignoner Zeit weniger Urkunden ausgefertigt wurden oder ob nur wenige erhalten sind, jedenfalls stammt die erste bekannte vom 5. Juli 1311.11 Zunächst werden diese Stücke nur tintenfarbig ausgestattet, ab 1314 ist dann ein deutlich höherer Anspruch festzustellen.12 So hat ein Zeichner die U-Initiale aus Kreisbögen gestaltet.13 (Abb. 1) Die kreisförmigen Initialen sind mit dem Zirkel angelegt worden. Auf die Lesbarkeit des Buchstabens wurde nur wenig Wert gelegt. Dieser Zeichner kann als erstes Mitglied der Ablass-Werkstatt gewertet werden, selbst wenn seine Initialen bisher nur von 1314 bis 1320 nachzuweisen sind. Über den weiteren Verlauf seiner Karriere ist nichts bekannt.

|| 11 Bischofsammelindulgenz für die Stiftskirche in Essen, 1311 Juli 5, Avignon: Essen, Münsterarchiv, Bestand A, Urkunde 3; diese sehr schlecht erhaltene Urkunde geht, soweit man das sehen kann, noch hinter das zurück, was in Rom üblich gewesen ist. Das lässt vermuten, dass die Schreiber, die in Rom mit den Sammelindulgenzen betraut waren, den Umzug nach Avignon nicht mitgemacht haben; vgl. den Glossareintrag http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/AvignonerBischofsammelin dulgenz sowie DELEHAYE (Anm. 4), S. 327. 12 Die hier aufgezeigten Entwicklungen sind von Urkundenfunden hergeleitet, weshalb jede neu entdeckte das Bild leicht verändern kann. Bei circa 700 (Stand Januar 2018) erfassten Exemplaren kann man freilich davon ausgehen, dass die groben Linien festgelegt sind; vgl. auch ROLAND u. ZAJIC (Anm. 5), S. 308–337 noch mit einem kleineren Quellenbestand und deshalb leicht abweichenden Schlussfolgerungen. 13 Vgl. den Glossareintrag http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/Zeichnerderkreisfo ermigenUInitiale; ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Indulgenz, die im Februar (ohne Tag) 1319 in Avignon für die Peterskirche auf dem Vysehrad ausgestellt wurde: Prag (Praha), Národní archiv, Archiv kolegiátní kapituly vyšehradské, 120. Die Initiale ist aus einem fast geschlossenen Kreisbogen gebildet, wobei der rechte Schaft durch einen weiteren, der den ersten zwei Mal schneidet, betont wird.

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Abb. 1: Bischofsammelindulgenz für die in der Pfarre Enns gelegenen Kirchen St. Laurenz und St. Maria am Anger sowie für die dazugehörigen Filialkirchen und Kapellen, 1318 Juli (ohne Tag), Avignon: Linz, Oberösterreichisches Landesarchiv, Bestand Enns (Depositum), E/11.

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Abb. 2: Bischofsammelindulgenz für die Pfarrkirche zu Rheydt, 1326 April 25, Avignon: Duisburg, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland.

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Eine erste Historisierung – zwar noch in Tintenfarbe14 – begegnet 1323 bei der Indulgenz für Saint-Martin-de-Picquigny.15 Die Initiale ist in Form eines burgähnlichen Bauwerks gehalten und im Binnenfeld befindet sich eine Vera Ikon. Bleibt diese bemerkenswerte Gestaltungsform mit der Figuren-Initiale ein Solitär, so wird die Vera Ikon im Binnenfeld beispielgebend.16 Es ist noch nicht abschließend geklärt, wem dieser außergewöhnliche Schmuck zu verdanken ist. Der Ablass vom 25. April 1326 für Rheydt mit einer Vera Ikon im Binnenfeld der Initiale führt schließlich den langen Reigen der farbig gestalteten Bischofsammelindulgenzen an.17 (Abb. 2) Die ersten Farbtupfer in der noch weitgehend von der Schreibertinte bestimmten Zeichnung sind Gelb und Lila oder Rosa. Diese Farbzusammenstellung ist zumindest in der französischen Buchmalerei nicht häufig. Im Binnenfeld des meist mit Maßwerkmotiven geschmückten U befindet sich eine dreizipfelige Vera Ikon.18 Auch einige weitere vergrößerte Initialen der ersten Zeile und – etwas kleiner – im Text werden mit aus der Schreibertinte ausgesparten Ornamenten verziert und leicht koloriert. Ein Schreiber/Zeichner hat diesen dreizipfeligen Typus der

|| 14 An diesem und weiteren Beispielen zeigt sich die Schwierigkeit, Systematik in die Ordnung eines nicht nach solchen Prinzipien zustande gekommenen Bestands zu bringen: Um die massenhaft vorhandenen Avignoner Bischofsammelindulgenzen mit gemaltem und gezeichnetem Schmuck nach Gesichtspunkten der Dekoration zu ordnen, traf das Projekt „Illuminierte Urkunden“ die Entscheidung, dass tintenfarbig mit dekorativem oder figürlichem Schmuck versehene Urkunden lediglich als „illuminierte Avignoner Bischofsammelindulgenzen“ zu bezeichnen sind. Wir haben diese methodische Ungenauigkeit – denn selbstverständlich handelt es sich bei der Vera Ikon um eine Historisierung, also eine auf den Inhalt der Urkunde bezogene Illuminierung – in Kauf genommen, um nicht das Sujet, sondern die Ausführung in Tintenfarben vom Gros der farbig gestalteten Urkunden abzugrenzen; vgl. monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/IlluminierteAvignonerBischofsammelindulgenz. 15 1323 April 11, Avignon: Amiens, Archives départementales de la Somme, Chapitre collégiale de Saint-Martin à Picquigny, cote 18 G 13, No 1. 16 Bisher sind zwei aufschlussreiche Beispiele einer nur tintenfarbig gezeichneten Vera Ikon-Initiale bekannt: Bischofsammelindulgenz für die Klosterkirche von Marien-Saal in Alt-Brünn, 1325 Dezember 8, Avignon: Brünn (Brno), Moravský zemský archiv, Cisterčiacki Brno (1225–1748) 1325 XII 08, und die Bischofsammelindulgenz für die Marienkirche zu Reichersberg, 1326 April 3, Avignon: Reichersberg, Stiftsarchiv, Urkunden (1137–1857) 1326 IV 03. Während die Urkunde für Maria-Saal eine interessante Auseinandersetzung des Maßwerkmeisters mit Motiven des Kreismeisters darstellt, ist die eher linkische Ausführung der Initiale für Reichersberg wiederum an Dekorationsformen des Maßwerkmeisters orientiert, reflektiert aber auch die Burgzinnen, die beim Ablass für Picquigny prägend sind. 17 1326 April 25, Avignon: Duisburg, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland. 18 ROLAND u. ZAJIC (Anm. 5), S. 321–322; vgl. http://monasterium.net/mom/index/IllUrk Glossar/VeraIkon.

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Vera Ikon auf Sammelindulgenzen entwickelt und ihn nahezu ausschließlich verwendet.19 Der Zeitraum für die Verwendung der in Schreibertinte gezeichneten Vera Ikon ist vergleichsweise kurz. Sie ist in den Jahren 1325 bis 1327 nachzuweisen. Wahrscheinlich begann in den frühen 1320er Jahren die Nachfrage nach Sammelindulgenzen zu steigen, die besonders geschmückt waren, denn der Kreismeister erschafft bis 1323 seine an Art Déco-Design erinnernden Initialen,20 doch bereits ab 1321 ist der Maßwerkmeister tätig.21 Beim Ablass für den Dom zu Trier vom Juni 132322 hat sogar ein anderer Zeichner einen Heiligen mit einem Bittsteller im Binnenfeld dargestellt, mithin ist eine weitere Form der Historisierung entstanden, freilich noch einfarbig in der Schreibertinte. Diese Art der Dekoration wird Schule machen. Neben Schreibern/Zeichnern, die einfachere Initialen anfertigen, sind also in den Jahren von 1321 bis 1323 zumindest drei leicht zu unterscheidende Persönlichkeiten mit Innovationspotential in der Werkstatt der Avignoner Sammelindulgenzen tätig. Dabei ist interessant, dass der Schmuck der Urkunde für den Dom von Trier erst später wieder aufgegriffen wird, die Figuren-Initiale für Picquigny aber ein Einzelfall bleibt. Die dort erstmals auftauchende Vera Ikon wird dann vom Maßwerkmeister weiterverwendet.23 Dass es sich tatsächlich um eine Werkstatt handelt und nicht um nebeneinander arbeitende Einzelhandwerker, zeigt die Art, mit der Neuerungen mit Rückbezug auf

|| 19 Wegen seiner charakteristischen Art, Buchstabenschäfte mit Aussparungen zu versehen, die an spitzgiebelige Fenster oder an Maßwerkformen denken lassen, habe ich ihn den Meister mit den Maßwerkmotiven genannt; vgl. http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/ZeichnermitdenMas swerkmotiven; als einzige Urkunde, die mit einer Vera Ikon geschmückt ist, aber nicht von seiner Hand stammt, gilt bisher der Ablass für Reichersberg (vgl. Anm. 16). 20 Bisher spätestes Beispiel ist die Indulgenz vom September (ohne Tag) 1323 in Avignon für die Marienkapelle in Coburg: Wittenberg, Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, s 155/27. 21 Bisher frühestes Beispiel ist die Bischofsammelindulgenz für die Klosterkirche von Abbenrode und die Pfarrkirche Külingerode, 1321 Januar 21, Avignon: Magdeburg, Landesarchiv Sachsen-Anhalt – Abteilung Magdeburg, U 8a, A. Abbenrode Nr. 35 a + b; die Zinnenbekrönung beim rechten Buchstabenschaft der U-Initiale weist auf die Indulgenz für Picquigny (vgl. Anm. 15) voraus. 22 Bischofsammelindulgenz für den Altar des heiligen Matthias, des heiligen Kastor und der heiligen Juliane im Dom von Trier, 1323 Juni (ohne Tag), Avignon: Koblenz, Landeshauptarchiv, Bestand 1D, Nr. 307. 23 Äußerungen über ein erstes Auftreten gewisser Phänomene sind mit großer Vorsicht getroffen worden und als Aussagen nicht endgültig. So ist die Quellenlage in der Datenbank für die Jahre 1321 und 1322 noch recht dünn, sodass nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, dass der Zeichner für Picquigny (vgl. Anm. 15) auch der ‚Erfinder‘ der Vera Ikon war.

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Elemente der früheren Dekorationen eingeführt werden.24 Das aufschlussreichste Beispiel dafür ist die Urkunde vom 6. April 1325 für Bendern,25 wo sich der Zeichner mit den Maßwerkmotiven die kreisrunde Gestaltungsweise des U zu eigen macht. Auch er baut dort, wie der Kreismeister, die Initiale aus einem Kreisbogen auf, der in seinem Inneren rechts und links durch weitere ringförmige Abteilungen akzentuiert wird, in denen Ornamente ausgespart sind. Unten und oben rechts sowie links oben sind an die äußere Kreisform Zwickel mit dreiblättrigen Aussparungen angebracht. Derartige verspielte Dekorationen wird man beim Kreismeister vergeblich suchen. Im Dezember des gleichen Jahres nutzt der Maßwerkmeister diese Form, um im Binnenfeld eine Vera Ikon unterzubringen.26 Die erste wirklich vollfarbige U-Initiale auf den Ablässen aus Avignon enthält eine Variation der Vera Ikon, bei der ein Brustbild des Erlösers und meist die erhobene Segenshand mit den Wundmalen gezeigt wird. Das bisher erste Auftreten dieses Sujets im Jahr 1328 beim Ablass für die Leonarduskirche in Zoutleeuw (Léau) ist gleich ein Paukenschlag:27 Neben der Christusbüste im Binnenfeld befindet sich links auf dem Randstreifen der heilige Bischof Leonhard, dem die Kirche in Zoutleeuw geweiht ist. Darunter, ohne Bildfeld, ist ein kniender Geistlicher dargestellt, der bezeichnet ist: Magister Johannes de Sceverstene clericus. (Abb. 3) Bereits zwei Jahre, nachdem die ersten farbigen Initialen auf Sammelindulgenzen auftauchten, zeigt sich mit dem Ablass für Zoutleeuw eine erstaunliche Anpassung an Kundenwünsche. Denn bei dieser Urkunde wird auf den Kirchenpatron Bezug genommen, und auch der Stifter der Urkunde, Magister Johannes, ist gezeigt – hier freilich noch wie ein additiver Zusatz zum Bildfeld mit Leonhard und der Christusbüste in der Initiale. Erst ab 1333 werden

|| 24 Erstaunlich ungelenk ist die Initiale auf 1325 April 2 für die Liebfrauenkapelle in Fraukirch, Koblenz, Landeshauptarchiv, Bestand 1A, Nr. 1835, gezeichnet: Die Initiale zitiert im rechten Schaft mit einem Kreisbogen den Meister der kreisförmigen U-Initiale und mit den darauf befindlichen turmartigen Strichen den Maßwerkmeister; auch dessen gern verwendetes ‚Markenzeichen‘, das bärtige Enface-Gesicht, ist im M(atris) zu finden. 25 Bischofsammelindulgenz für die Marienkirche in Bendern, 1325 April 6, Avignon: Bendern, Pfarrarchiv. 26 Bischofsammelindulgenz für die Klosterkirche Marien-Saal in Brünn (vgl. Anm. 16). 27 Bischofsammelindulgenz für St. Leonhard in Zoutleeuw (Léau), 1328 Juni 7, Avignon: Leuven, Rijksarchief, Sint-Leonardus Zoutleeuw, Nr. 966/32bis. Das Mischwesen mit Kopftuch im rechten Buchstabenschaft verbindet motivisch mit der Indulgenz für Ailingen, die wohl am 24. August 1329 ausgestellt wurde (Ailingen, Pfarrarchiv); angesichts dieser Urkunde und ihrem Mischwesen hatte sich HOMBURGER (Anm. 2), S. 119, an liturgische Handschriften des Breisgaus erinnert und er verwies auf einen gewissen Magister Gualterius, Kanonikus an St. Thomas in Straßburg, der in der päpstlichen Bibliothek beschäftigt war. Doch verbieten die unterschiedlichen Hände, die Initialen mit Mischwesen in Sammelindulgenzen vor allem vor 1330 ausführten, diese Interpretation. Weiterhin ist die Beweiskraft einer in Avignon nachweisbaren Person ohne eine nachvollziehbare Verbindung zu den Illuminierungen der Ablass-Urkunden doch eher gering. Francesca MANZARI, La miniatura ad Avignone al tempo die papi: 1340–1410, Modena 2006, hatte die Zuweisung an Magister Gualterius noch übernommen.

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Petenten serienmäßig auf den Urkunden dargestellt, meist im rechten Buchstabenschaft.28

Abb. 3: Bischofsammelindulgenz für St. Leonhard in Zoutleeuw (Léau), 1328 Juni 7, Avignon: Leuven, Rijksarchief, Sint-Leonardus Zoutleeuw, Nr. 966/32bis. Mit freundlicher Genehmigung des Rijksarchiefs Leuven.

Während solcher Urkundenschmuck ungewöhnlich und luxuriös ist, kann die Initiale für Stift Elten als das Normale gelten.29 Bereits in leicht verballhornter Form erscheint die Christusbüste ohne die erhobenen Hände. Dabei handelt es sich wohl weniger um die durch häufigen Gebrauch bereits missverstandene oder schlecht

|| 28 Vgl. den Glossareintrag http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/DerPetent. 29 Bischofsammelindulgenz für das weltliche Damenstift Elten, 1328 Dezember 24, Avignon: Duisburg, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, Stift Elten, Urk. 8.

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erhaltene Vorlage, sondern um eine Eigenheit des Zeichners mit den Maßwerkmotiven; auch Wundmale werden von ihm häufig nicht gezeichnet.30 Man erkennt an den Aussparungen in den Buchstabenschäften und in dem Balken mit der Kreuzform rechts, dass es sich wohl um den Künstler handelt, der auch die Vera Ikon-Urkunden gestaltet hat. Der Ablass für Zoutleeuw (Léau) mag von jemand anderem illuminiert worden sein – in seiner Gestaltung steht er für lange Zeit allein. Gleichwohl ist dieser Entwurf der Christusbüste für die Werkstatt bindend geworden. Damit kann man für die Christusbüste eine ähnliche Entwicklung beobachten wie bei der Vera Ikon: Ein außerordentliches Stück – eventuell auch von nur zeitweise in der Werkstatt Tätigen – steht am Beginn und wird dann von den anderen kopiert und variiert. In den frühen 1330er Jahren ist die Christusbüste das beliebteste Sujet.31 (vgl. Abb. 3) Man ist bei der Umsetzung stets vom selben Entwurf ausgegangen, der jeweils an die Größe der zu illuminierenden U-Initiale angepasst wurde: ein frontal aus dem Bild schauender Christuskopf mit einem kurzen Bart und einem Kreuznimbus, der so aussieht wie ein Schwimmring. Es handelt sich dabei um eine dem Malteserkreuz ähnliche Form, die von weißen Streifen gerahmt ist. Das Haupt ist im Vergleich zu den Schultern und Händen überproportional groß, es sitzt auf einem kräftigen Hals. Das meist rote Gewand mit rundem Halsausschnitt kann bei sorgfältigerer Ausführung auch andersfarbige Ausschnittbesätze haben. Die erhobenen Hände sind sehr klein, mit den Handflächen zum Betrachter gewendet und präsentieren das Wundmal. Die Rechte ist zum Segensgestus erhoben. Auch scheint es, dass die aus dem Fonds der Buchstabenschäfte ausgesparten Blattranken zur Vorlage gehören, einschließlich des Farbwechsels von Rot und Grün. Mittlerweile hat sich auch die Textverteilung der ersten Zeile eingependelt; eigentlich werden nur noch die Worte Universis Sancte Matris in Auszeichnungsschrift dort untergebracht, wobei (U)n(iversis), S(ancte) und M(atris) ebenfalls mit farbigem Schmuck versehen wer-

|| 30 Man hat ein bisschen den Eindruck, als fehlte ihm das Verständnis für das Dargestellte. 31 Als Beispiele für viele andere: Die Bischofsammelindulgenz für das Dominikanerinnenkloster von Kirchberg, 1329 August 29, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 2; die für die Kapelle des heiligen Bartholomäus und des heiligen Zeno im Schloss Reifenstein, 1330 April 6, Avignon: Wien, Deutschordens-Zentralarchiv, Urkunden, 1562; die für Purgstall, 1331 März 28, Avignon: New York, The Pierpont Morgan Library, M 762; die für das Kloster Böddecken, 1335 Januar 16, Avignon: Münster, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Abt. Westfalen, Urkundenselekt, AB 10; oder auch die für die Kapelle in Biel, 1337 Februar 8, Avignon: Biel, Pfarrarchiv, D 4. Einen Eindruck von der Masse der erhaltenen Urkunden mit der Christusbüste liefert die Abb. 2 bei Martin ROLAND, Masse und Individualität. Illuminierte Urkunden zwischen individuellem Repräsentationsobjekt und breiter Wirkung, in: Jeffrey F. HAMBURGER u. Maria THEISEN (Hgg.), Unter Druck. Mitteleuropäische Buchmalerei im 15. Jahrhundert (Tagungsband zum internationalen Kolloquium in Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften, 13.1.–17.1.2016), Petersberg 2018, S. 297–312; die Tatsache, dass das M(atris) mit Fischformen gefüllt ist, war bereits HOMBURGER (Anm. 2), S. 148 aufgefallen – für ihn galten sie als Charakteristikum der Werkstatt.

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den. Dabei hat es sich eingespielt, dass in den Binnenfeldern des M meist Fische dargestellt werden. Die Initialen mit den Christusbüsten zeigen auch beispielhaft die Technik der ‚normalen‘ Ablässe: Jede Farbe wird lediglich in einer Schicht aufgetragen, und nur äußerst selten kommen Schattierungen oder Muster hinzu. Die Gesichter der Christusbüsten sind – unter Verwendung derselben Entwurfszeichnung – recht unterschiedlich gestaltet worden: Man entdeckt einige Initialen, bei denen Haare und Bart ausnehmend sorgfältig behandelt sind32 oder bei denen die Augen durch blaue Pupillen besondere Ausstrahlung erhalten.33 Oder man beobachtet eine erstaunlich ovale Gesichtsform; die Figur erscheint vor einem lila Hintergrund.34 Doch will es nicht überzeugend gelingen, bei der Illuminierung dieser Urkunden einzelne Hände zu bestimmen. Es werden individuelle Merkmale wohl bewusst unterdrückt, um Werkstattidentität hervorzuheben. Die einzige Ausnahme stellt der Meister mit den Maßwerkmotiven dar. Seine Initialen mit der Christusbüste sind meist aus Rot-, Orange- und Lilatönen aufgebaut. Der ornamentale Schmuck in den Schäften wird mit Tinte konturiert.

|| 32 Zu denken ist beispielsweise an die Urkunde für das Dominikanerinnenkloster von Kirchberg, 1329 August 29 (vgl. Anm. 31). 33 Bischofsammelindulgenz für Purgstall, 1331 März 28 (vgl. Anm. 31). 34 Bischofsammelindulgenz für das Kloster Böddecken, 1335 Januar 16; vgl. auch jene für die Kapelle in Biel, 1337 Februar 8 (vgl. Anm. 31).

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Abb. 4: Bischofsammelindulgenz für Notre-Dame in Dinant, 1330 September 1, Avignon: Namur, Archives de l'état, Archives ecclésiastiques n. 311 Chapitre Notre-Dame de Dinant, No. 1.

Die Christusbüste bleibt quasi bis zum Ende der Ablass-Werkstatt ein mögliches Sujet für die Illuminierung: noch 1345, als schon längst andere Moden die Dekoration von Sammelindulgenzen bestimmten, ist sie ausgeführt worden.35 Man hat aber gleichzeitig auf die Entwicklung neuer Sujets gesetzt.36 Maria mit Kind ist in ihrer Funktion als Fürbitterin ähnlich umfassend einsetzbar. Bei ihrem ersten bekannten Auftreten, 1329 für Benninghausen, passt sogar das Patrozinium der begünstigten Kirche.37 Bei dieser qualitativ hochwertigen Illuminierung findet sich im vergrößerten zweiten Buchstaben (U)n(iversis) im Binnenfeld nur ein zweifarbiger feiner Mustergrund. Die genauso aus dem Gros der Werkstattproduktion hervorragende Urkunde vom Sep-

|| 35 Bischofsammelindulgenz für das Spital in Rottweil, 1345 März 6, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 11. 36 Vgl. meine Überlegungen zu den meist auf das Patrozinium zugeschnittenen Sujets http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/IkonographischeDiversifizierung. 37 Bischofsammelindulgenz für das Zisterzienserinnenkloster [St. Marien] in Benninghausen, 1329 Oktober 24, Avignon: Münster, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Abt. Westfalen, Urkundenselekt, AB 10.

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tember 1330 für Dinant zeigt im Binnenfeld der U-Initiale ebenfalls eine sitzende Madonna, im ‚n‘ aber befindet sich die Christusbüste.38 (Abb. 4) Auch bei der Sammelindulgenz für die Zisterzienserinnen in Koblenz findet sie sich in der n-Initiale.39 Im Binnenfeld des U(niversis) ist der Bezug zur empfangenden Institution besonders spezifisch: Die Nonnen sind betend unter Mariens Umhang dargestellt. Es handelt sich also gewissermaßen um eine einarmige Schutzmantelmadonna. Die Neuerung der ikonographischen Diversifizierung bei den Sujets der U-Initiale wird behutsam vollzogen, indem man auch hier wieder Elemente der früheren Dekoration übernimmt. Zwar wird man fortan hauptsächlich Maria vorfinden, doch sind auch Christus, die Trinität und Heilige dargestellt worden. Selten kommt es zu erzählenden Szenen, wie der Verkündigung oder der Darstellung von Martyrien. Wie schon bei der Christusbüste verwendete man gemeinsam genutzte Entwürfe, die abgewandelt wurden. Der Bischof beispielsweise, der beim Ablass für Zoutleeuw (Léau) als Bischof Leonhard firmierte (Abb. 3), wird mit leicht veränderter Gestik – er trägt nun seine Krümme in der Linken und eine Mitra auf dem Haupt – als die Figur für heilige Bischöfe genutzt: Als Nikolaus im März 1334 für Ulrichen,40 im April 1335 wieder als Nikolaus für Aken,41 im August 1340 als Magnobodus für Angers,42 etwas windschief 1342 für Cuijk43 und in ähnlicher Haltung im Dezember 1345 als Severin

|| 38 Als Zusatz findet man den namenlosen Beter im rechten Buchstabenschaft der Anfangsinitiale. Diese Lösung wird Schule machen. Ebenso kreativ, aber letztlich nicht mehr aufgegriffen wurde die dreiseitige Bordüre mit ausgesparten Kreuzblumen aus abwechselnd rotem und grünem Grund um das Textfeld, wie auch die zweizeiligen Initialen im Textfeld. Bei dem Ausführenden scheint es sich um einen besonders innovativen Geist zu handeln, der aus der sonst in der Werkstatt betriebenen Routine ausbricht; Bischofsammelindulgenz für die [Kollegiat-]Kirche Notre-Dame in Dinant, 1330 September 1, Avignon: Namur, Archives de l’État, Archives ecclésiastiques n. 311 Chapitre NotreDame de Dinant, No. 1. 39 Bischofsammelindulgenz für das Zisterzienserinnenkloster in der Leer in Koblenz, 1330 Januar 28, Avignon: Koblenz, Landeshauptarchiv, Bestand 118, Nr. 25a. 40 Bischofsammelindulgenz für die Kapelle St. Nikolaus in Ulrichen, 1334 März 21, Avignon: Ulrichen, Pfarrarchiv, Nr. 1. 41 Bischofsammelindulgenz für das Nikolaistift in Aken, 1335 April 6, Avignon: Magdeburg, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt – Abteilung Magdeburg, U 4a, Aken Stift St. Nikolai, Nr. 21. Bei dieser Urkunde hatte man zunächst ein materialsparendes Verfahren angewendet, um sie mit Schlaufen zum Aufhängen zu versehen: Aus dem oberen Rand wurde ein Pergamentstreifen generiert. Das hat aber nicht gut gehalten und während der offensichtlichen Verwendung der Urkunde zu Schäden geführt, weshalb man flicken und neue Schlaufen annähen musste; vgl. Abb. 18a im Beitrag von Martin ROLAND in diesem Band. 42 Bischofsammelindulgenz für die Kirche Saint-Maimbeuf, 1340 August 31, Avignon: Angers, Archives départementales de Maine-et-Loire, G 712. 43 Bischofsammelindulgenz für die Agathakapelle im Kreuzherrenkloster St. Odilia in Cuijk, 1342, Avignon: Sint Agatha, Erfgoedcentrum nederlands kloosterleven, Kruisherenklooster St. Agatha, 1025.

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für Hamm.44 Stets wird die Vorlage leicht variiert und natürlich in der Größe dem Bildfeld angepasst. Dabei sind die Stillagen divers; es handelt sich nicht um denselben Ausführenden.45 Ende der 1320er, Anfang der 1330er Jahre entwickelt die Werkstatt der Avignoner Sammelindulgenzen eine erstaunliche Reihe von Neuerungen. Es scheint, als haben deren Mitglieder gemerkt, dass die farbigen Initialen mit unterschiedlichen Sujets den Absatz der Urkunden erhöhen, und sich deshalb Gedanken gemacht, wie man die Urkunde attraktiver gestalten konnte. Ein Layout, das wegen zu großer Schwierigkeit bei der Ausführung nicht wiederholt wurde, bietet der Ablass für Gent, wo neben der U-Initiale mit der Kreuzigung und der n-Initiale mit der Christusbüste noch ein Q(uoniam) im Textfeld, nach der Aufzählung der Aussteller am Beginn der Arenga, mit einer stehenden Madonna geschmückt ist.46 Dieses Layout hat sich schon deshalb nicht durchsetzen können, weil die Anzahl und die Namen der den Ablass gewährenden Bischöfe, die zu Beginn genannt werden, nicht immer gleich beim Schreiben feststanden. Man hat oft genug ein Standardformular verwendet und zu Beginn ein paar Zeilen frei gelassen, in die dann später die Namen der siegelnden Bischöfe eingetragen wurden. So war es zu schwierig, die für die Bischofsnamen benötigten Zeilen im Vorhinein zu bemessen und frei zu halten. Die Vorstellung einer linearen Entwicklung bei Sujets und Layout der Sammelindulgenzen ist deshalb nicht richtig: Neben Experimenten wie bei den Urkunden für Zoutleeuw (Léau) (Abb. 3), Koblenz, Dinant (Abb. 4) oder Gent bestimmt Routine die Produktion der Avignoner Ablass-Werkstatt. Die Standard-Illumination besteht aus einem mit Christusbüste, stehender oder sitzender Madonna ausgemalten Binnenfeld der U-Initiale und – wenn der Geldbeutel es ermöglichte – einem knienden Petenten im meist rechten Buchstabenschaft.47 Zurückgreifend auf das richtungsweisende Layout des Ablasses für Zoutleeuw (Léau) machte man sich auch daran, noch aufwändigere und damit kostspieligere

|| 44 Bischofsammelindulgenz für St. Severin in Hamm, 1345 Dezember 28, Avignon: Duisburg, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Abt. Rheinland, Herrschaft Homburg, Urkunden, Nr. 2. 45 Als zu Beginn der 1340er Jahre ein neuer Mitarbeiter mit moderneren Entwürfen in die Werkstatt eintritt, verwendet er die seinigen, vgl. z. B. für die Bischofsammelindulgenz für die Pfarrkirche von Deutschnofen, 1342 August 4, Avignon: Trient (Trento), Archivio provinciale, Pergamene e carte trentine (PAT), busta 4, N° 3. 46 Bischofsammelindulgenz für die Kartause Koningsdal in Gent, 1330 November 12, Avignon, Ausstattung teilweise in Gent (?): Gent (Gand), Rijksarchief, Fonds Sint-Baafs, Kartuizers Gent, Nr. 18. 47 Mit stehender Madonna und kniendem Laien beispielsweise die Bischofsammelindulgenz für die Kapelle der heiligen Maria im Wald Dreieich, 1330 Oktober 8, Avignon: Darmstadt, Hessisches Staatsarchiv, A1 Nr. 209/1 oder mit Christusbüste und kniendem Mönch die Bischofsammelindulgenz für den Willibrordus-Altar in der Abteikirche des Klosters Echternach, 1331 Januar 25, Avignon: Trier, Stadtarchiv, Urkunde P 5.

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Gestaltungsideen mit mehr Bildgelegenheiten zu entwickeln. Der bisher erste erhaltene Niederschlag dieser Idee ist beim Ablass von 1332 für Zürich verwirklicht.48 Das bunt gestaltete Initialfeld und eine thronende Madonna im Binnenfeld der U-Initiale wird so weit in den linken Rand hinausgezogen, dass dort ein rechteckiges Bildfeld für einen Bischof darunter passt, der sich in Haltung und Kleidung nur wenig vom Patroziniumsheiligen in Zoutleeuw unterscheidet und ein Schriftband trägt: Ratificamus et confirmamus. Mit der Figur ist der Lokalbischof gemeint, der den Ablass bestätigt. Dabei handelt es sich um eine seltene bildliche Referenz auf die Praxis, dass der Lokalbischof die Urkunde bestätigte und noch weitere 40 Tage Ablass hinzufügte.49 Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt bis zur Bildleiste, die den Textspiegel auf allen Seiten umschließt: Im Oktober 1332 wird bei der Urkunde für Lahnstein im Binnenfeld der U-Initiale ein Gnadenstuhl dargestellt, in den Buchstabenschäften links Johannes der Täufer und rechts eine stehende Maria mit Kind.50 (Abb. 5) Von der Anfangsinitiale geht ein Streifen aus: dort sieht man in Vierpass-Medaillons Christus, umrahmt von Peter und Paul, sowie rechts am Rand wohl Magdalena und darunter Katharina. Links unterhalb der Initiale befindet sich der Bischof mit dem Schriftband Ratificamus et co(n)firmam(us). Für die Auftraggeber scheint es nicht um eine bildliche Referenz zu den Patrozinien der Kirchen in Lahnstein und auf Lahneck gegangen zu sein, denn weder die Trinität noch die sonst wiedergegebenen Heiligen haben einen besonderen Bezug. Es ging schlicht um eine besonders prächtig illuminierte Urkunde, deren sorgfältige Ausführung diesem Anspruch auch gerecht wird. Obschon die Indulgenz für Lahnstein vom Oktober 1332 die erste mit einer dreiseitigen Bildbordüre ist, scheint die frühere Urkunde für Zürich vom September mit ihrem versatzstückartigen Gebrauch von Elementen des von mir so genannten Rahmentyps ein Hinweis darauf zu sein, dass diese Gestaltungsform von Ablassurkunden schon vor dem ersten erhaltenen Exemplar entwickelt worden war.

|| 48 Bischofsammelindulgenz für St. Felix und Regula [Großmünster] in Zürich, 1332 September 1, Avignon: Zürich, Staatsarchiv, Propstei, C. II., 262. 49 Tatsächlich böte diese Figur die Gelegenheit, die Geste des Ausstellens zu zeigen oder aber die Bischofsfigur mit einer Urkunde mit mehreren Siegeln in Händen darzustellen. Eine solche Detailfreude überstieg jedoch wohl den Anspruch der Werkstatt, der es angesichts der großen Nachfrage um unkomplizierte Entwürfe zu tun war. 50 Bischofsammelindulgenz für drei Kirchen bzw. Kapellen in Lahnstein bzw. auf Lahneck, 1332 Oktober 15, Avignon: Lahnstein, Stadtarchiv, Bestand Oberlahnstein, Abt. 21 Nr. 5. Zur Entwicklung dieses Layouts vgl. den Glossareintrag http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/Rahmentyp.

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Abb. 5: Bischofsammelindulgenz für drei Kirchen bzw. Kapellen in Lahnstein bzw. auf Lahneck, 1332 Oktober 15, Avignon: Lahnstein, Stadtarchiv, Bestand Oberlahnstein, Abt. 21 Nr. 5. Mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Lahnstein.

Denn offenbar war es möglich, wie aus einem Baukastensystem – je nach Anspruch und Geldbeutel – die entsprechenden Bildgelegenheiten einer dreiseitigen Bildleiste zu ordern. So ist beispielsweise beim Ablass für St. Jakob in Hohenberg die ursprünglich als Lokalbischof gemeinte Figur im Bildfeld links unterhalb der U-Initiale nimbiert, der Patroziniumsheilige Jakob steht im rechten Buchstabenschaft, links Petrus mit Schlüssel.51 Rechts am Rand findet sich ein isoliertes Bildfeld, wieder mit Katharina. Alle, bis auf den Bischof links, sind bezeichnet. Dabei wirkt es, als hätte der Maler eine sicher in einer Anweisung enthaltene Information in Schönschrift als Titel wiederholt. Die U-Initiale verliert zusehends an Lesbarkeit zugunsten einer größeren Fläche für die Heiligen; der Maler hier möchte am liebsten noch den Zwickel des Initialfeldes hinzunehmen, um das optische Ungleichgewicht zwischen dem Bogen des U links und dem Schaft rechts auszugleichen. Der Maler mit seiner differenzierenden

|| 51 Bischofsammelindulgenz für die Jakobskirche auf dem Hohenberg [bei Ellwangen], 1332 Oktober 27, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 4. Neben dem nimbierten Lokalbischof links gibt es noch einen zweiten ohne Heiligenschein im (U)n(iversis).

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Zeichenweise verwendet zwar die Entwürfe der Werkstatt, scheint aber nicht dort, sondern eher in klassischer Buchmalerei in Frankreich ausgebildet worden zu sein, wie auch die einzeiligen Initialen im Textblock nahelegen. Bisher ist noch keine weitere Indulgenz seiner Hand aufgetaucht. Es scheint, als gehörte er zu der Gruppe reisender Buchmaler, die nur kurz in Avignon Station machten. Die Urkunden, die man aus Avignon bekam, wurden an den Empfängerorten wertgeschätzt, doch manchmal wollte man sich den Service der Avignoner AblassWerkstatt nicht im vollen Umfang leisten: Zwar haben beispielsweise die St. Galler in Säckchen für die Siegel aus gemustertem Stoff investiert, bei der Illuminierung aber gespart.52 Sie erwarben eine einfache Illuminierung mit stehender Madonna und Petenten, die in etwa so aussah wie die für Wels.53 Einmal zuhause angekommen, hat man die Ausstattung erweitert: in der Mitte oben eine Christusbüste, flankiert von Gallus und Othmar, die durch Spruchbänder und Blickbeziehungen mit Christus kommunizieren. Links und rechts fügte man eine aus einem Wolkenkranz kommende segnende Hand vor einem Kreuznimbus hinzu. Die gesamte obere Zone ist mit einer roten Rahmenleiste versehen. Die eigentliche Zurichtung für das Kloster wurde demnach erst am Empfängerort vorgenommen; neben den Figuren erscheinen auch noch komplexe Schriftbänder, die sie dialogisch verbinden. Ob diese Zutaten tatsächlich im Kloster St. Gallen ausgeführt wurden, bedarf noch weiterer Prüfung. Unbedingt sind die Malereien aber eine wichtige Quelle für Buchmalerei südlich des Bodensees. Mit Fortschreiten der 1330er Jahre werden die Darstellungen wichtiger als die Lesbarkeit der U-Initiale. Offensichtlich strebten die Maler eine symmetrische Anordnung der Dargestellten auf einer (Horizont-)Linie an. Das Binnenfeld wird nahezu rechteckig und insbesondere der linke Schaft mit seiner Rundung geht in den Illuminationen fast unter, wie auch der rechte von seinem ursprünglich erhöhten Ausgangspunkt auf die Basislinie des Initialfeldes herabsinkt.54 Nachdem man seit 1331 mit diesem Problem kämpfte55, hat man in der Werkstatt der Avignoner Sammelindul-

|| 52 Bischofsammelindulgenz für die Besucher des Klosters St. Gallen und all seiner Altäre, Kirchen und Kapellen, 1333 Mai 20, Avignon, Ausstattung in St. Gallen (?): Sankt Gallen, Stiftsarchiv, C1 A1. 53 Bischofsammelindulgenz für die Pfarrkirche des heiligen Johannes Ev. und die zugehörige Katharinenkapelle in Wels, 1332 Juni 16, Avignon: Wels, Archiv der Stadtpfarrkirche; Kurt HOLTER, Verzierte Ablaßbriefe des 14. Jhs. aus Avignon in Oberösterreich, in: Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereins 108 (1963), S. 172; Seibold (Anm. 2), Anm. 528, 554. HOLTER nahm ohne weitere Begründung einen „südländischen Gehilfen (Italiener oder Südfranzose)“ als Ausführenden an. Seine Annahme fußte auf den Überlegungen HOMBURGERS (Anm. 2), der als Hauptmeister einen Maler/Schreiber aus dem Oberrhein erkannte. 54 Vgl. auch den Glossareintrag http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/Layout. 55 Bei der Urkunde für Cembra hat man den rechten Schaft des U noch weiter oben beginnen lassen, sodass die darin dargestellte Figur kleiner werden musste und auch keine rechte Standfläche bekam; Bischofsammelindulgenz für die Pfarrkirche (Marienkirche) in Cembra, 1331 September 15, Avignon: Trient (Trento), Archivio provinciale, Pergamene e carte trentine (PAT), busta 4, N° 1.

252 | Gabriele Bartz genzen zwei Lösungen entwickelt. Die Rundung des U links kann ganz hinter der Figur im Schaft verschwinden oder dessen Konturlinie führt über sie hinweg. Wie ein Triptychon nimmt sich beispielsweise die Initiale des Ablasses für Krumbach aus.56 Das Binnenfeld ist ein Rechteck geworden, in dem die stehende Maria mit Kind gezeigt ist. Die Schäfte ähneln wirklich Altarflügeln, denn links wurde für die heilige Magdalena die Buchstabenkontur teilweise nur in Vorzeichnung belassen. Die U-Initiale wird noch einmal, im Jahr 1343, einer Neukonzeption unterworfen, die ihr Potenzial ausreizt, wie Architektur wirken zu können. In diesem Zusammenhang ist die zehn Jahre früher entstandene Urkunde für Kirchberg von besonderem Interesse. Dort sind nämlich die Heiligen in den Schäften wegen des nach oben gezogenen rechten Schafts zwar noch von unterschiedlicher Höhe, doch stehen sie – Skulpturen gleich – auf Postamenten. Maria im Binnenfeld ist von einer gebogten Arkatur überfangen, an deren Spitze eine Öse zum Aufhängen gemalt sein könnte.57 Offenbar hat man bereits in den frühen 1330er Jahren auch diese Gestaltungsmöglichkeit ausprobiert. In gänzlicher Negation des Buchstabens wird beim Ablass von 1343 für die St. Johanneskirche in Mühlhausen die Leiste, welche die Initiale und die Figuren im Binnenfeld umfängt, oben als Arkatur geführt.58 Die drei Heiligen – Johannes der Täufer, Jodocus und Johannes der Evangelist – drängen sich im Binnenfeld. Die spätesten Initialen dieses Typs fallen beinahe mit dem Ende der Tätigkeit der Avignoner AblassWerkstatt zusammen: So werden beispielsweise beim Ablass für San Zoilo in Cáseda im Binnenfeld zwei Säulen dargestellt, die eine Art Westfassade einer Kirche über dem Buchstaben tragen.59

|| 56 Bischofsammelindulgenz für die der heiligen Maria, dem heiligen Georg sowie der heiligen Maria Magdalena geweihten Kirche in Krumbach, 1337 Mai 18, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv BadenWürttemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 28. 57 Bischofsammelindulgenz für St. Valentin in Kirchberg, 1333 Januar 18, Avignon: Linz, Oberösterreichisches Landesarchiv, Pa. VI/75. 58 Bischofsammelindulgenz für die St. Johanneskirche in Mühlhausen, 1343 April 15 oder 30: Mühlhausen, Stadtarchiv, Urkunde Nr. 0/415. 59 Bischofsammelindulgenz für die Kirche oder Kapelle San Zoilo bei Cáseda, 1346 September 18, Avignon: Cáseda, Archivo Parroquial.

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Abb. 6: Bischofsammelindulgenz für die Kirche in Fröndenberg, 1342 Januar 2, Avignon: Münster, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv, Stift Fröndenberg, Urk. 162.

Weitreichende Änderungen vom Layout dürften immer von Individuen ausgegangen sein, die neu in die Werkstatt gekommen sind, selbst wenn man den Zeitpunkt und den Maler für die Entwicklung des Rahmentyps nicht mehr nachweisen kann. Der Maler des Ablasses von 1342 für Fröndenberg denkt das Layout mit der Bildleiste noch einmal neu: Bei kleinerem Figurenmaßstab erscheinen die zwölf Apostel in Vierpässen und die Verkündigung in Bogenarkaden, mit dem Engel links (er war zunächst als Katharina angelegt) und Maria rechts (sie war als Margarete gemalt; beide wurden nur notdürftig getilgt). Damit der Bildrahmen den Textspiegel sauber umgreifen kann, wird die U-Initiale zurück in das Textfeld geholt. Im Binnenfeld der Initiale befindet sich Christus als Weltenrichter, vor den Initialschäften flankierend zwei kniende Engel mit Weihrauchfässern. (Abb. 6) Der stilistische Unterschied zu den früheren Arbeiten dürfte bei der Urkunde für Fröndenberg leicht zu erkennen sein. Der Maler setzt nahezu naturalistische Weinblätter in die Zwickel der Vierpässe, modelliert die Gesichter kleinteilig, charakterisiert Haare und Bärte als lockig und gestaltet Gewänder vergleichsweise aufwändig. Seine Figuren folgen nicht den sonst üblichen Vorlagen und sie nehmen Bezug aufeinander, sei es in Haltung, Gestik oder Blicken. Es handelt sich wohl um einen neuen Mitarbeiter der Werkstatt, der sein Metier andernorts gelernt und andere Vorlagen mitgebracht hat. Konnte man bis zum

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Eintritt dieses Mitarbeiters noch einen zwar virtuosen, aber stets schematischen Umgang mit Entwurfszeichnungen feststellen, so beobachtet man bei diesem eine variierende Vorgangsweise: Das Christuskind auf Mariens Schoß wendet sich beispielsweise bei der Indulgenz für die Propstei Frauenberg intensiv dem vor ihm knienden Beter zu und nimmt durch Gestik und Blickbeziehung Kontakt zu ihm auf.60 Zwar ist es anhand der beschriebenen Kriterien leicht, die neue Stillage von der bisherigen zu unterscheiden. Doch im Einzelnen ist zu überlegen, ob nicht zusätzlich arbeitsteilige Prozesse in der Werkstatt gegriffen haben. So fällt beispielsweise auf, dass mit dem Auftauchen der moderneren Entwürfe auch ein neuer Hintergrunddekor einhergeht, der aus spiralig geführten, teils herzförmigen Blättern in Schwarz oder recht dunklen Farben besteht. Zwar beobachtet man ihn in erster Linie bei Arbeiten des neu in die Werkstatt eingetretenen Mitarbeiters, doch würde man nicht alle Urkunden, die diese Dekoration aufweisen, nur einem Maler zuschreiben wollen.61 Dasselbe gilt auch für Produkte der alteingesessenen Mitarbeiter.62 Damit könnte man die banale Aussage treffen, dass Innovationen in eine Schreiber-/Malerwerkstatt lediglich von außen kommen. Doch auch die älteren Werkstattmitglieder haben neue Ideen für attraktive Layouts entwickelt. Man begann ab 1340 damit, die Figuren am Rand ohne einen Bildrahmen unterzubringen.63 Damit ist der Startschuss für die letzte große Veränderung beim Layout gefallen. Zunächst zaghaft,

|| 60 Bischofsammelindulgenz für die Propstei Frauenberg, 1344 April 28, Avignon: Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Bestand Urk. 77, Propstei Frauenberg, Nr. 120. 61 Beispielhaft für diese Art des Hintergrunddekors sind die Bischofsammelindulgenzen für die Kapelle der heiligen Agatha im Pfarrgebiet der Kirche St. Benedikt und St. Ulrich in Deutschnofen, 1342 August 12, Avignon: Trient (Trento), Archivio provinciale, Pergamene e carte trentine (PAT), busta 4, N° 4, für die Dreikönigskapelle in Bozen, 1342 August 13, Avignon: Litomerice, Staatsarchiv, Zweigstelle Decin, Familienarchiv Thun, II, 2, für die St. Peters- und Margaretenkapelle im Pfarrgebiet von Deutschnofen: 1342 August 14, Avignon: Trient (Trento), Archivio provinciale, Pergamene e carte trentine (PAT), busta 4, N° 5. Sind diese drei Indulgenzen, weil an drei aufeinanderfolgenden Tagen ausgestellt, mit diesem Dekor versehen, verändert sich das Erscheinungsbild bei der früher ausgestellten Bischofsammelindulgenz für die Pfarrkirche in Creglingen, 1342 April 6, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 29; eine deutliche stilistische Veränderung hat sich dann bei der Urkunde für die Pfarrkirche St. Jakobus in Rüsselbach vollzogen, 1344 März 28, Avignon: Nürnberg, Staatsarchiv, Rst. Nürnberg, Kirchen auf dem Land, Urkunden 212 (alt: MA 1992, U 2910), wieder anders stellt sich die Ausführung beim Ablass für die Propstei Frauenberg dar (vgl. Anm. 60). 62 Hier ist es vor allem interessant, die Entwicklung der Blätter an den Initialen bis hin zum vollständigen Bordürenschmuck als Blattranke zu beobachten. 63 Bisher frühestes Beispiel ist die Bischofsammelindulgenz für die Kirche Saint-Maimbeuf vom 31. August 1340 (vgl. Anm. 42). Die Christusbüste, die seit dem Beginn der Illuminierung von Bischofsammelindulgenzen vorkommt, taucht auf dem oberen Rand auf, zwischen Petrus und Paulus, was aus den Urkunden mit dem Bildrahmen geläufig ist. Es wirkt, als wären diese Büsten gleichsam als Erkennungszeichen für eine Bischofsammelindulgenz aus Avignon dort platziert.

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mit einzelnen Blättchen, die oben aus der U-Initiale sprießen, gelangt florales Beiwerk in die Illumination der Avignoner Bischofsammelindulgenzen.64 Im ausgeprägtesten Fall schlängeln sich diese Blätter in unterschiedlicher Länge über den oberen Rand und schließen die dort gemalten Heiligen in Medaillons ein. Auch die Schmalseiten des Textspiegels werden mit Ranken eingefasst.65 (Abb. 7)

Abb. 7: Bischofsammelindulgenz für das Kloster Hirsau, 1347 Januar 12, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 14.

Der sogenannte Blattrankentyp zeigt also die Figuren am Rand ohne einen Bildrahmen und setzt an den oberen Rand fleischige Blattranken, die dem Akanthus ähneln. Gleichzeitig werden die Initialschäfte schmaler und die Figuren wandern ins Binnenfeld, was insbesondere bei den Petenten, die meist ohne einen Fürbitter vor Maria mit || 64 Zum Blattrankentyp vgl. den Glossareintrag http://monasterium.net/mom/index/IllUrkGlos sar/Blattrankentyp. 65 Bischofsammelindulgenz für das Kloster Hirsau, 1347 Januar 12, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 14.

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Kind oder Heiligen knien, eine frömmigkeitsgeschichtliche Neuerung darstellt.66 Wie schon bei den Urkunden mit den Bildleisten am Rand, ist auch hier eine mögliche Staffelung der Ausstattung zu beobachten. Die Empfänger konnten von kleinen Blattfortsätzen bis hin zur den Textblock rahmenden Bordüre mit Medaillons oder Heiligen am Rand (vgl. Abb. 7) unterschiedliche Ausführungen ordern. Man möchte meinen, dass neben derartig innovativen Konzepten die althergebrachten Schemata keine Chance auf Absatz hätten haben sollen. Betrachtet man jedoch die Produktion eines Jahres – 1345, also wenige Jahre vor dem Ende der Werkstatt im März 134867 – so wird man eines Besseren belehrt: An demselben Tag, dem 6. März 1345, werden sowohl Urkunden mit einer einfachen Initiale mit der Christusbüste, die zu diesem Zeitpunkt schon seit 17 Jahren in Verwendung ist, genauso gekauft68 wie mit einer Schutzmantelmadonna, unter deren Mantel heilige Jungfrauen knien,69 mit einer Initiale, aus der Blattfortsätze entsprießen.70 Wird man diese Erzeugnisse den älteren Mitarbeitern der Werkstatt zuordnen wollen, begegnet bei der Indulgenz für Schwäbisch Gmünd vom 13. Mai eine Kreuzigung mit Petenten im rechten Schaft und erstaunlich kleinteiligem Dekor, die sicher von einem jüngeren Mitglied der Werkstatt gemalt wurde.71 Selten zu beobachten, aber doch nachweisbar, ist

|| 66 Bei der Bischofsammelindulgenz für die Propstei Frauenberg (Anm. 60) ist es beispielsweise der Dekan des Klosters Fulda, der so der sitzenden Maria erstaunlich nahekommt. Die Nonnen des Klosters werden in gebührendem Abstand außerhalb der Initiale links in einem Blattkringel dargestellt. 67 Mit der bisher letzten Urkunde im März 1348 hat die Werkstatt ihre Arbeit eingestellt; das momentan letzte bekannte Stück (Stand Januar 2018) ist die Bischofsammelindulgenz für das Heilig-GeistSpital in Nürnberg, 1348 März 5, Avignon: Nürnberg, Stadtarchiv, A1 1348 März 5; fortan waren nur noch nicht illuminierte Urkunden erhältlich, die man gegebenenfalls bei Buchmalerwerkstätten in Avignon oder am Empfängerort verzieren lassen konnte. 68 Bischofsammelindulgenz für das Spital in Rottweil, 1345 März 6 (vgl. Anm. 35). 69 Bischofsammelindulgenz für den Jungfrauen-Altar in der St. Ägidienkapelle in Aachen, 1345 März 6, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 12. 70 Ebenfalls mit von der Initiale ausstrahlenden Blattfortsätzen ist die Initiale bei der Bischofsammelindulgenz für die neue Kapelle von Sainte-Marie-des-Clercs in Lüttich, 1345 April 3, Avignon: Privatbesitz (ehem. Paris, Drouot). Spektakulär – und bisher einzigartig – ist an dieser Urkunde, dass der kniende Petent, der zusammen mit der stehenden Madonna im Binnenfeld Platz gefunden hat, durch sein Wappen identifiziert ist. Leider ist es noch nicht gelungen, den jetzigen Besitzer der Urkunde ausfindig zu machen; auf dem Foto des Auktionshauses ist das Wappen leider nicht identifizierbar. 71 Bischofsammelindulgenz für die Pfarrkirche zum Heiligen Kreuz, alle (auch erst in Zukunft zu errichtenden) Altäre, sowie alle Filialkirchen und -kapellen der Pfarrkirche sowie für die Spitalskirche in Schwäbisch Gmünd, 1345 Mai 13, Avignon: Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv, H 52 U 13. Die Sammelindulgenz für Flaschberg, 1345 April 11, Avignon: Privatbesitz, ist ebenfalls im modernen Stil ausgemalt worden. Dort findet sich – freilich auf eine kleinteiliger gemalte Weise – der spiralige Hintergrunddekor (vgl. Anm. 61). Johannes der Täufer im härenen Gewand im Binnenfeld der U-Initiale blickt zum Petenten im rechten Schaft und weist auf die Lamm-GottesScheibe in seiner Linken. Auch jene ist detailfreudig dargestellt, das Lamm (das eher ausschaut wie ein Esel) hält, durch elegantes Anheben der rechten Vorderpfote, das Kreuz. Bei diesem Maler handelt

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die Übernahme von Ideen der moderneren Machart bei den Mitarbeitern aus der früheren Zeit: So etwas kann man etwa beim Ablass für die Severinskirche in Hamm vom 28. Dezember feststellen, wo im Binnenfeld einer Initiale des ‚Blattrankentyps‘ ein kniender Petent neben dem Heiligen untergebracht ist und man – mit Wohlwollen – eine Blickbeziehung zwischen beiden feststellen kann.72 Dass die Werkstatt auch weiterhin bestrebt war, das Bildlayout zeitgemäß zu gestalten, beweist der Ablass für die Geißler (Battuti) in Cividale vom 28. November:73 In seltener Zuwendung zu den Empfängerwünschen hat ein jüngerer Mitarbeiter im Binnenfeld der U-Initiale eine thronende Maria mit einem Christuskind dargestellt, das sich grüßend zur Prozession der Geißler hochwendet, die sich, gerahmt von Engeln, auf dem oberen Rand der Initiale zubewegt. Für die Kunstgeschichte ist das ein erstaunlicher Befund, denn nach fortschrittsbezogenen stilistischen Kriterien gedacht, würde man die ‚altmodische‘ Variante der Christusbüste nicht gleichzeitig mit einer so innovativ erscheinenden Komposition wie der für die Flagellanten von Cividale zusammen sehen wollen.74 Die Vielfalt und Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Malstilen und Layouts erstaunt ebenfalls. Ohne die festen Daten würde man die Urkunden niemals in diese Reihenfolge bringen. Nach der letzten derzeit bekannten Ablass-Urkunde vom 5. März 1348 für Nürnberg75 kann man keine weiteren Arbeiten der Werkstatt der Avignoner Sammelindulgenzen mehr nachweisen. Die Urkunden wurden fortan nur noch mit den großen

|| es sich nicht um den, der zu Beginn der 1340er Jahre in die Werkstatt eingetreten ist. Eine weitere, bis dahin unbekannte Stillage begegnet bei der Bischofsammelindulgenz für die Pfarrkirche St. Georgen im Attergau, 1345 Juli 31, Avignon: St. Georgen im Attergau, Pfarrmuseum. Dort findet man – im weitesten Sinn – eine der seltener in der Werkstatt realisierten erzählenden Szenen – in diesem Fall der heilige Georg zu Pferde, wie er den Drachen ersticht. Insbesondere das recht schematisch gezeichnete Pferd weckt Erinnerungen an spanische Malerei. Die Initiale ist durch Feuchtigkeitsschäden in Mitleidenschaft gezogen worden; eine Autopsie des Originals muss klären, ob das Gesicht des Heiligen übermalt worden ist. 72 Bischofsammelindulgenz für St. Severin in Hamm, 1345 Dezember 28 (vgl. Anm. 44). 73 Bischofsammelindulgenz für die Società der Flagellanten von Cividale, 1345 November 28, Avignon: Udine, Biblioteca Civica ‘Vincenzo Joppi‘, Fondo Principale, 1228/III, n. 16. 74 Noch am 18. Dezember 1345 ist die Urkunde für die Margaretenkapelle von Hopton Cangeford in Avignon mit einer Christusbüste gestaltet worden: Chelmsford, Essex Record Office, D/DW T I/21. 75 Vgl. Anm. 67.

258 | Gabriele Bartz

Buchstaben in Tintenfarbe ausgeführt und die Bittsteller mussten selbst für eine Illuminierung sorgen. Nur wenige nahmen Avignoner Buchmalerwerkstätten76 in Anspruch und nur unwesentlich mehr beauftragten Buchmaler in ihrer Heimatgegend.77 Meistens blieben die U-Initialen ungeschmückt.78 Zwar handelt es sich bei der Werkstatt der Avignoner Sammelindulgenzen um keine hoch innovative und in der künstlerischen Ausführung bedeutende Malergruppe. Doch hat sie über die mehr als 30 Jahre ihres Bestehens ständig an der Weiterentwicklung der Dekoration der Urkunden gearbeitet. Somit kann die AblassWerkstatt durchaus als beispielgebend für Buchmalerwerkstätten gelten, deren Arbeiten nicht durch feste Daten gesichert sind. Eine Buchmalerwerkstatt wird sich immer nach den Wünschen der Kunden gerichtet haben, die eben einmal etwas Modernes und bei einer anderen Gelegenheit etwas Bewährtes haben wollten – vielleicht einfach nur deshalb, weil den Käufern die klare Zeichnung der Christusbüste mit ihrer unbestreitbaren Fernwirkung besser gefiel. Gleichzeitig spielt immer der Finanzrahmen eine Rolle: Wenn es nicht so viel kosten soll, kann man nur etwas Einfaches bekommen, was dann in unseren Augen rückwärtsgewandt erscheint. Das Auftauchen von sehr unterschiedlichen Stilen zu gleicher Zeit ist unerwartet. Die Mitglieder der Werkstatt lernen voneinander, sind bei Neuerungen immer bemüht, so etwas wie einen Werkstattstil und somit ein Erkennungsmerkmal zu erhalten, indem Elemente vorheriger Gestaltungsweisen übernommen werden. Eine Händescheidung nach stilistischen Kriterien ist deshalb nur dort möglich, wo Unterschiede klar zutage treten. Das aufschlussreichste Ergebnis der Untersuchung von gemaltem Dekor der Avignoner Bischofsammelindulgenzen ist jedoch das zeitgleiche Nebeneinander von Altem und Modernem, das modernen Vorstellungen von Stilentwicklung widerspricht.

|| 76 Z. B. die Bischofsammelindulgenz für die Katharinenkapelle in Fulda, 1353 November 12, Avignon: Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. 78 Nr. 12. 77 Das bekannteste Beispiel ist die Bischofsammelindulgenz für die Zisterzienserinnen von Herkenrode, 1363 April 6, Avignon, Ausstattung in Flandern (Herkenrode?): Sint-Truiden, Provinciaal Museum voor religieuze Kunst, Inv. KPL/sd/251 (Depositum des Stedelijk Museum in Hasselt); die bisher letzte bekannte Bischofsammelindulgenz, die in Avignon ausgestellt wurde, ist die für St. Katharina bei Wunsiedel, 1364 Oktober 1, Avignon, Ausstattung in Franken: Wunsiedel, Stadtarchiv, U 201. 78 Z. B. die Bischofsammelindulgenz für die Kapellen in Egg und Metten, 1349 April 8, Avignon: München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Kloster Metten Urkunden 46.

Martin Roland

Illuminierte Urkunden. Bildmedium und Performanz Zusammenfassung: Wenn eine Urkunde aussieht wie ein Werbeplakat – groß und mit bunten Figuren –, dann ist offensichtlich, dass dem Objekt nicht nur eine im engeren Sinn juristische (rechtsichernde) sondern auch eine medial auf den Rezipienten zugewendete Funktion zugedacht wurde. Was aber performativ abläuft, wenn illuminierte Urkunden im Spiel sind, bleibt oft ungewiss. Selbst Offensichtliches – wie das Zeigen von illuminierten Sammelablässen – ließ sich bisher kaum mit belastbaren Quellen belegen. Nach einer Definition, was unter einer ‚illuminierten Urkunde‘ zu verstehen ist (Abschnitt I) und einigen Bildbeispielen zu Performanz ‚normaler‘ Urkunden (Abschnitt II) folgt ein Überblick über die Schnittmenge von Performanz und illuminierten Urkunden. Dieser ist nach dem auf Michael CLANCHY zurückgehenden Dreischritt von Machen, Verwenden und Bewahren von Urkunden geordnet. Recht (auch Unrecht) zu setzen, ist zentrales Machtmittel. Selbstverständlich werden daher auch performative und bildmediale Methoden genutzt, um diese Macht zu inszenieren. Wenn diese beiden Aspekte in Originalausfertigungen zusammentrafen, dann geschah Besonderes. Ob bzw. wie sich die beiden Medien beeinflussen, wird im Folgenden untersucht. Schlagwörter: Illumination, Performanz, Schwörbriefe, Wappenbriefe, England, Frankreich, Deutschland, Italien

Sammelindulgenzen,

Illuminierte Urkunden bedeuten für den Auftraggeber zusätzlichen Aufwand. Dieser Aufwand ändert am Rechtsinhalt nichts. Zu fragen ist: Warum tut man sich das dann an? Die hinläufige und richtige Antwort ist, dass man jemanden beeindrucken will. Beeindrucken ist, das steht wohl außer Streit, etwas Performatives. Ein Beispiel macht den Unterschied augenfällig: Die Stadt Kaschau/Košice/Kassa erhielt 1369 und 1423 jeweils inhaltlich nahezu identische Verleihungen von Wappen. (Abb. 1a und b)

|| Martin Roland, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Mittelalterforschung, Hollandstraße 11–13, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-011

260 | Martin Roland

13691 war der illuminierte Wappenbrief zwar schon ‚erfunden‘, aber noch nicht nach Ungarn vorgedrungen. Die Urkunde König Ludwigs des Großen (reg. 1342–1382) ist folglich schmucklos. 1423 hat Sigismund von Luxemburg, damals auch schon römischer König, die Tradition illuminierter Wappenbriefe schon gekannt und massiv für seine politischen Interessen genutzt.2 Dass man mit dem Engel als Wappenhalter, mit den schimmernden Farben seiner Flügel, mit der Feinheit des Filigrans, das den waldgrünen Grund überzieht, und mit den subtil gemalten Akanthusfortsätzen, die das Bildfeld mit dem Pergamentgrund verklammern, den Betrachter beeindrucken konnte, macht den Unterschied der beiden Ausfertigungen aus.3 Dies ist für Kunsthistoriker evident, für alle anderen macht der Vergleich mit der unterschiedlichen sozialen Wertigkeit von zwei Autos – ein Fiat Cinquecento als Parallele zur undekorierten Urkunde und ein Ferrari neben der illuminierten Urkunde – klar, welche optischen Wirkmechanismen hier bis heute am Werk sind.4 Der Besitz eines prestigeträchtigen Fahrzeugs beeindruckt, wirkt also nach außen, er hebt aber auch das WirGefühl der Familie. Optische ‚Prestige-Marker‘ können zum Identifikationsobjekt von Familien und anderen Gruppen werden, die sich gleichsam um so einen Gegenstand versammeln.

|| 1 Kaschau (Košice), Archív mesta Košice (AMK), fond Magistrát mesta Košice (MMK), Tajný archív (TA), sig. C-Insignia nr. 1: 1369 Mai 7, Diósgyőr: Ludwig der Große von Ungarn verleiht der Stadt Kaschau einen Wappen- und Siegelbrief: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/136905-07_Kaschau-Kosice/charter; Martin ROLAND u. Andreas ZAJIC, Illuminierte Urkunden des Mittelalters in Mitteleuropa, in: Archiv für Diplomatik 59 (2013), S. 241–432, hier S. 354. – Alle in diesem Beitrag zitierten Links wurden am 18.01.2019 überprüft. 2 Kaschau (Košice), Archív mesta Košice (AMK), fond Magistrát mesta Košice (MMK), Tajný archív (TA), sig. C-Insignia nr. 2: 1423 Jänner 31 Preßburg/Bratislava: http://monasterium.net/mom/Illumi nierteUrkunden/1423-01-31_Kaschau-Kosice/charter (Martin ROLAND); ROLAND u. ZAJIC (Anm. 1), S. 354, 377–379. 3 Über den Gebrauch von Wappenbriefen gibt es kaum belastbare Fakten, allerdings durchaus glaubhafte Vermutungen (das Vorzeigen innerhalb der Peer-Group); zu Wappenbriefen vgl. ROLAND u. ZAJIC (Anm. 1), S. 340–391; Martin ROLAND, Wappen und Urkunden im Mittelalter. Die Schnittmenge in Thüringen mit einem Schwerpunkt im Vogtland, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 69 (2015), S. 93–129; DERS., Medieval Grants of Arms and their Illuminators, in: Torsten HILTMANN u. Laurent HABLOT (Hgg.), Heraldic Artists and Painters in the Middle Ages and Early Modern Times (Heraldic Studies 1), Ostfildern 2018, S. 135–155; Andreas H. ZAJIC, The Influence of Beneficiaries on the Artistic Make-up of Imperial Grants of Arms (Or: How Do Heraldic Images Get into Late Medieval Charters?), in: Ebd., S. 113–132. – Im Kontext der hier vorgelegten Studien können Wappenbriefe nur punktuell mitberücksichtigt werden; Ausnahmen bilden ein Hinweis zum Making illuminierter Wappenbriefe in Abschnitt 3.1.2 und ein in Abschnitt 3.2.2 besprochener Wappenbrief von 1355, auf dem eine Übergabeszene darstellt ist. 4 Martin ROLAND, Illuminierte Urkunden im digitalen Zeitalter. Maßregeln und Chancen, in: Antonella AMBROSIO, Sébastien BARRET u. Georg VOGELER (Hgg.), Digital Diplomatics. The Computer as a Tool for Diplomatists?, Köln [u. a.] 2014, S. 245–269, 323–332 (Farbtafeln), hier S. 269 und 329 (Abb. XI ist die hier beschriebene Abbildung).

Illuminierte Urkunden. Bildmedium und Performanz | 261

Ähnliche Mechanismen sind auch im performativen Kontext zu beobachten: Eine Demonstration vermittelt den Teilnehmern durch gemeinsames Tun ein Wir-Gefühl und kann andererseits nach außen einen politischen Gegner beeindrucken. Dabei wirken optische und performative Elemente zusammen: Einheitliche Kleidung (vgl. das Phänomen des ‚Schwarzen Blocks‘) und auffällige Verhaltensmuster (vielfach Gewalt) sind zu nennen. Auch beim Wappenbrief von 1423 spielen die überraschende und qualitätvoll ausgeführte Optik und die Inszenierung des Zur-Schau-Stellens – hier wohl vor allem an besuchende Vertreter anderer Städte – zusammen, um die eigene Position zu stärken.

1 Illuminierte Urkunden: eine Definition Das in Wien an der Akademie der Wissenschaften beheimatete Projekt, das ich als Kunsthistoriker zusammen mit Andreas ZAJIC als Historischer Hilfswissenschafter (Grundwissenschafter) und Georg VOGELER als Digital Humanist leite und das eine Datenbank anbietet, die illuminierte Urkunden elektronisch zur Verfügung stellt5, versteht illuminierte Urkunden als Originalausfertigungen mit graphischen oder gemalten Elementen, die entweder über das allgemein Übliche der Zeit hinausgehen oder einen speziellen Kanzleigebrauch dokumentieren. Besonderes Augenmerk ist auf Urkunden mit figürlicher (gegenständlicher) Ausstattung, die historisiert ist, und auf die Verwendung von Farben zu legen. Mit eingeschlossen sind auch urkundenspezifische graphische Elemente.6

Urkundenspezifische graphische Elemente können einerseits einfach ‚dazugehören‘ – Invokationszeichen (Chrismon), Monogramm, Rota, Benevalete – andererseits können sie mehr oder weniger klar rechtssichernde Funktion haben – Rekognitionszeichen, Notarssignete, Signa von Zeugen. Dieser gleichsam semiotische Aspekt illuminierter Urkunden wird bei der Klassifizierung derselben als ‚Niveau 3‘ bezeichnet7 und muss in diesem Beitrag weitestgehend beiseitegelassen werden.

|| 5 Datenbank ‚Illuminierte Urkunden‘: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/collection. 6 ROLAND (Anm. 4), S. 260. Eine Vorversion der Definition in ROLAND u. ZAJIC (Anm. 1), S. 244–245. 7 Zu den Niveaus illuminierter Urkunden ausführlich: Martin ROLAND, Wenn das Archiv digital gegen den Strich gebürstet wird. Erfahrungen eines Kunsthistorikers mit analogen und digitalen Findmitteln, in: Irmgard C. BECKER, Gerald MAIER, Karsten UHDE u. Christa WOLF (Hgg.), Netz werken. Das Archivportal-D und andere Portale als Chance für Archive und Nutzung. Beiträge zum 19. Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 61), Marburg 2015, S. 233–250; die zugehörige Präsentation ist online abrufbar: http://www.univie.ac.at/paecht-archiv-wien/IllUrk/Roland_Marburg-2014_Archivwisenschaftli

262 | Martin Roland

Jener graphische Dekor, der ab dem 13. Jahrhundert vor allem die erste Initiale, den Ausstellernamen oder die ganze erste Zeile beherrscht – in der hier verwendeten Systematik ‚Niveau 2‘ – muss ‚Status‘ vermittelt haben. Sonst hätten sich nicht Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. mit Fleuronnée,8 also mit der Feder gezeichnetem Dekor, das die vollfarbigen Initialen (Lombarden) umgibt, zu übertrumpfen getrachtet. Dieser Dekor wird Schritt für Schritt üppiger; kalligraphische Meisterwerke sind in der Neuzeit keine Seltenheit.9 Dieser Aspekt ist für kanzleigeschichtliche Fragestellungen von entscheidender, in der Diplomatik bisher weitestgehend vernachlässigter Bedeutung.10 Auch dieser Bereich kann in diesem Beitrag nicht behandelt werden, da der Dekor das Zeitübliche nur graduell übersteigt oder sogar Kanzleitypisches dokumentiert, sich also am Standard ausrichtet. Damit richtet sich auch die Performanz an dem allgemein für Urkunden in der Zeit zu Erwartenden aus (siehe Abschnitt 2). Eine spezifische Performanz ist vor allem bei jenen illuminierten Stücken zu vermuten, die im Projekt als ‚Niveau 1‘ eingestuft werden: Diese Urkunden weisen figürliche (gegenständliche) Ausstattung auf, die historisiert ist, also auf Inhalt, Aussteller, Empfänger oder Rezipienten Bezug nimmt. Zugehörig sind weiters alle Urkunden, die Farbe(n) prominent in ihr Gestaltungskonzept einbeziehen.11 In Abschnitt 3.2.6 werden Urkunden behandelt, denen Objekte (mit performativer Vorgeschichte?) beigegeben sind. Diese seltene Sonderform war mir zum Zeitpunkt, als diese Definition publiziert wurde (2014), noch unbekannt. Beigefügte Objekte wären nach heutigem Kenntnisstand ebenfalls unter Niveau 1 einzuordnen.

|| ches-Kolloquium.pdf; die Datenbank des oben genannten Projekts (Anm. 5) bietet eine spezielle Index-Suche, mit der alle Beispiele der Niveaus angezeigt werden können: http://monasterium.net/mom/index/illurk-vocabulary. 8 Für zahlreiche Beispiele siehe die Ergebnisse der Abfrage ‚Fleuronnée‘ in der Datenbank (Anm. 5). 9 Beim Vortrag wurde ein 1620 August 12 vom Pfalzgraf Hieronymus Fabri ausgestellter Wappenbrief für Mattheus Wibmperger gezeigt, der im Dorotheum in Wien am 11. Juni 2010 um (bloß) 300 Euro ausgerufen wurde und bei dem – zumindest aus heutiger Sicht – der graphische (Schrift-)Dekor die bunte Wappenminiatur deutlich in den Schatten stellt. 10 Als Gegenbeispiel ist Walter KOCH, Das staufische Diplom. Prolegomena zu einer Geschichte des Urkundenwesens Kaiser Friedrichs II., in: Filippo D’ORIA (Hg.), Civiltà del Mezzogiorno d’Italia. Libro, scrittura, documento in età normanno-sveva, Salerno 1994 S. 383–424, hier S. 411 und 416, zu nennen, der in seinem Beitrag auch die Verwendung von ‚bildhaften‘ Zierelementen und das Streben nach Ästhetik thematisiert. 11 ROLAND, Digitales Zeitalter (Anm. 4), S. 259.

Illuminierte Urkunden. Bildmedium und Performanz | 263

2 Bildbeispiele für Performanz von Urkunden Um das Umfeld performativer Möglichkeiten illuminierter Urkunden einordnen zu können, muss der performative Gebrauch von ‚normalenʻ Urkunden in den Blick genommen werden12, um eine belastbare Folie aufspannen zu können. Als beispielhafte Bildquelle bieten sich die zahlreichen Übergaben von Urkunden an, die im Cod. 3044 der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in Wien vorkommen, ein illustriertes Exemplar der Chronik des Konstanzer Konzils, ein mit Ulrich von Richental verbundener Text.13 Die Bilder des Codex beruhen auf wohl monumentalen Vorlagen, die auf

|| 12 Der Autor ist kein Vertreter des performative turn und ist daher nicht in der Lage, eine der Definition von ‚illuminierter Urkunde‘ vergleichbare Begriffserklärung für handlungsorientiertes Betrachten historischer Fakten zu liefern. Beispielhaft für jüngere Forschungsansätze, die sich mit der Schnittmenge aus Performanz und Urkundenwesen auseinandersetzen, seien genannt: Geoffrey KOZIOL, The Politics of Memory and Identity in Carolingian Royal Diplomas. The West Frankish Kingdom (840–987), Turnhout 2012, S. 33–36, 42–62; Christoph DARTMANN, Thomas SCHARFF u. Christoph F. WEBER (Hgg.), Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, Turnhout 2011, darinnen besonders die beispielreiche Studie von Christoph F. WEBER, Podestà verweigert die Annahme: Gescheiterte Präsentation von Schriftstücken im kommunalen Italien der Stauferzeit (S. 263–317); Anna ADAMSKA, Studying Preambles Today. A Paradigm Shift in Diplomatic?, in: Sébastien ROSSIGNOL u. Anna ADAMSKA (Hgg.), Urkundenformeln im Kontext. Formen der Schriftkultur im Ostmitteleuropa des Mittelalters (13. –14. Jahrhundert), Köln [u. a.] 2016, S. 35–45, hier S. 36– 37, 41–43; einen überraschenden aber sehr beachtenswerten Beitrag liefert Volker HONEMANN, Vorformen des Einblattdruckes. Urkunden – Schrifttafeln – Textierte Tafelbilder – Anschläge – Einblatthandschriften, in: DERS., Sabine GRIESE, Falk EISERMANN u. Marcus OSTERMANN (Hgg.), Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000, S. 1–43, der von einer Quellengattung ausgeht, dem Einblattdruck, dessen öffentlicher (und oft auch performativer) Charakter offensichtlich ist. 13 Zur Textgeschichte vgl. Wilhelm MATTHIESSEN, Ulrich Richentals Chronik des Konstanzer Konzils. Studien zur Behandlung eines universalen Großereignisses durch die bürgerliche Chronistik, in: Annuarium historiae conciliorum 17 (1985), S. 71–191 und S. 323–455; zu den Bildern Lilli FISCHEL, Kunstgeschichtliche Bemerkungen zu Ulrich Richentals Chronik des Konstanzer Konzils, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 68 (1959), S. 321–337; zuletzt zusammenfassend, aber mit einigen sehr problematischen Grundthesen behandelt von Gisela WACKER, Ulrich Richentals Chronik des Konstanzer Konzils und ihre Funktionalisierung im 15. und 16. Jahrhundert. Aspekte zur Rekonstruktion der Urschrift und zu den Wirkungsabsichten der überlieferten Handschriften und Drucke, Phil. Diss. Tübingen 2002 (http://hdl.handle.net/10900/46177); darin (S. I–XXXII) ein Katalog der vielfach illustrierten Überlieferungsträger; man geht von einer lateinischen Materialsammlung (dem ‚latin‘; MATTHIESSEN, S. 117–120; WACKER, S. 29–34) aus. Dann folgt eine von Ulrich Richental verfasste volkssprachliche, sehr persönlich gehaltene erste Fassung (Ich-Form; vor 1424; WACKER, S. 226–235) und schließlich eine zweite objektivierte Textüberlieferung (vor 1431; WACKER, S. 235–253). Beim Bildprogramm sind Codices zu unterscheiden, die die Illustrationen getrennt überliefern (Prag, NB, Cod. XVI A 17 [1. Fassung], ebendort, Cod. VII A 18 [2. Fassung]) und solche, die die Bilder (bzw. Bildsequenzen) in den Text integrieren. Wenn die lateinische Quellensammlung – wie der verlorene Salemer Codex nahelegt (WACKER, S. 23–27, 215, XX–XXVII) – gar nicht viel anderes als ‚offizielle‘

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Grund des sehr spezifischen und höchst modernen Stils direkt auf Konrad Witz zurückgehen und die unmittelbar nach dem Ende des Konzils, also in den 1420er Jahren, entstanden sein müssen.14 Die Begründung für diese Arbeitsthese kann im Rahmen dieses Beitrages nicht dargelegt werden und ist auch für die hier anstehende Fragestellung nur insofern von Bedeutung, als Konrad Witz für den neuen ‚Realismus‘ in der mitteleuropäischen Malerei des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts steht. Damit werden Bilder aus realienkundlicher Sicht ein gutes Stück vertrauenswürdiger. Gleichzeitig wirken sie für den Betrachter manipulativer, da das Auge impliziert, die Szene habe tatsächlich stattgefunden (was oft höchst unsicher ist) und zwar in der im Bild wiedergegebenen Form.

2.1 Das Vorlesen der Urkunde Das ‚hörend Lesenʻ der Publicatio zeigt die Illustration von Herzog Friedrich von Österreich und Herzog Ludwig von Bayern-Ingolstadt, der den Flüchtigen Friedrich nach Konstanz vor den König brachte. Beide knien während des Verlesens der Urkunde vor König Sigismund.15 (Abb. 2, a) Der österreichische Herzog beschwört, so berichtet Richental, die (ihm aufgezwungene) Urkunde, die der Chronist inseriert.16 Während dem Ereignis im Text durchaus eine gewisse Dramatik innewohnt, erstaunt, dass dieser politisch entscheidende Moment so unauffällig dargestellt wird. Das Bild konzentriert sich auf das Performative des Urkundenverlesens, eine ganz und gar nicht ungewöhnliche Handlung. Zudem wird eine parallele Darstellung daneben gestellt: Eine Urkunde für Filippo Maria Visconti wird verlesen (Abb. 2, b).17 Die Ver-

|| Konzilsakten war, dann könnte der ursprünglich unabhängige Bildzyklus denselben ‚offiziellen‘ Charakter gehabt haben und von Richental nur für die diversen Fassungen seiner ‚privaten‘ Konzilschronik verwendet worden sein. 14 Der älteste Überlieferungszweig und das ursprünglich unabhängige Bildprogramm müssen beide vor 1424 entstanden sein. Für den Text ergibt sich dies aus den Textfiliationen, für das Bildprogramm aus der Tatsache, dass – trotz Abweichungen – alle Überlieferungsgruppen auf denselben Bildzyklus zurückgreifen. Die Verbindung mit Konrad Witz ist nicht neu; vgl. zuletzt WACKER (Anm. 13), S. 104– 114. Dieser These entgegen steht freilich, dass wir keine anderen Werke aus den 1420er Jahren kennen. Zu archivalischen Verirrungen zu Konrad Witz, die jedenfalls keinen Aufenthalt des Malers in der Bischofsstadt nahelegen, siehe Konstanz J. HECHT, Der Aufenthaltsort des Konrad Witz in Konstanz. Ein Problem und seine Lösung. Neue Forschungen zur Lebensgeschichte des Meisters, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 6 (1937), S. 353–370. 15 Wien, Östereichische Nationalbibliothek, Cod. 3044, foll. 68r–72r: fol. 69rv: Urkundenabschrift (bei Richental 1415 März 27), foll. 68r und 69v–70r: Bericht zu Mailand, foll. 70v–72r: Illustrationen. 16 Dass der Text vollständig wiedergegeben wird, soll – so wie die wirklichkeitsgetreuen Bilder – die Glaubwürdigkeit des Textes stärken. 17 Anwesend ist nicht Filippo Maria Visconti selbst, wie das Bild vermuten ließe (vgl. die Kopfbedeckung, die die Figur abgenommen hat), sondern lediglich sein Botschafter (foll 69v–70r: Text;

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dopplung des Bildmotivs nimmt noch mehr von der Ungewöhnlichkeit der Unterwerfung des österreichischen Herzogs. Die Darstellungen folgen offensichtlich einer mit Bedacht gewählten Bildregie, die die tatsächlichen Vorgänge deutlich überformt.

2.2 Schwur und Wappenwimpel Auf fol. 103r der Konzilschronik wird, als ein beliebig ausgewähltes Beispiel, gezeigt, wie Graf Adolf von Cleve zum Herzog erhoben wird. Der Chronist berichtet, dass er schwůr och den brief zů halten so im verlesen ward. Neben das Vorlesen des Textes tritt, als weiteres Bildmotiv, das Beschwören des Rechtstextes. Auf fol. 103v ist die (am 22. Mai 1417 erfolgte) Belehnung von Graf Eberhard von Nellenburg (kinderlos gest. 1422) und dessen Erhebung zum Landgrafen von Hegau und Madach18 in Schrift und Bild dargestellt. (Abb. 3) Der Chronist berichtet, dass der Graf in der großen Stube der Augustiner König Sigismund einen Brief von König Ruprecht19 zeigte und vorlas. Dann kniete der Graf nieder und erhielt ein Schwert um Land und Grafschaft zu beschirmen. In weiterer Folge gab der Kanzler dem Grafen den Eid, den Eberhard schwor. Schließlich nahm Sigismund die Stange mit dem Banner und übergab sie dem Grafen.20 Diese Beispiele genügen, um die ‚Standardperformativität‘ von Urkunden zu umreißen und diese dem Sonderfall gegenüberzustellen, der auftritt, wenn Ausfertigungen mit künstlerischem Dekor performativ benutzt werden.

|| fol. 72r: Illustration). Der Chronist berichtet, Sigismund habe den Visconti durch (die im Bild nicht dargestellte) Übergabe des Fahnenwimpels an seine Botschafter und die Urkunde zum Herzog von Mailand ernannt; vgl. Regesta Imperii XI,1 Nr. 1575 zu 1415 April 7. 18 Die Urkunde hat sich erhalten: Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, D Nr. 578: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=4-3939957; siehe auch Regesta Imperii XI,1 Nr. 1697. 19 1401 August 16, Augsburg: König Ruprecht von der Pfalz verleiht Lehen, Herrschaften und Grafschaften an Berthold von Nellenburg, in: Regesten der Pfalzgrafen am Rhein 2: 1400–1410, hrsg. v. Lambert Graf von OBERNDORFF, Innsbruck 1939, Nr. 1495; 1401 September 11, Augsburg: König Ruprecht von der Pfalz belehnt Bertold und seine Brüder mit Landgrafschaft Hegau und Madach, in: Ebd., Nr. 1620; http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=4-3417451. 20 Darnach empfieng sin lehen graff Eberhart [IV.] von Nellenburg, lantgraff im Höwgöw (Hegau) und im Madach und empfieng die zů den Augustinern in der grosen stuben und zogt unnserm heren dem kunig den brief, so er het von kunig Růprechten säligen sinem vordern. Do der verlesen ward, do kniwet graff Eberhart nider. Do nam der kunig ain blos schwert und gab das graf Eberharten in sin hand und hiess in das land und die grafschaft beschirmen. Darnach gab im der cantzler den ayd do er nu geschwůr. Do nam der Kaiser (!) die stang, dar an sin baner was, in sin hand und gab das usser siner hand in graf Eberharts hand. Also stůnd er uff und waren nit vil heren daby. (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3044, fol. 103v) – Die Bezeichnung Sigismunds als Kaiser zeigt, dass (zumindest) die hier zitierte späte Abschrift schon von Sigismunds Kaiserkrönung 1433 wusste.

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3 Illuminierte Urkunden und Performanz Die Quellenbelege für die Einbindung illuminierter Urkunden in performative Vorgänge sind dünn gesät. Viele Urkunden sind zudem extrem problematisch, Fälschungen und Verfälschung sind häufig. Die präsentierte Beispielreihe folgt dem auf Michael Clancy zurückgehenden Dreischritt von Making, Using und Keeping.21

3.1 Das Making 3.1.1 Das Schreiben illuminierter Urkunden Die Illustrationen der Richental-Chronik zeigen fertig mundierte Urkunden. Das Making ist schon geschehen. Während Schreiberbilder in Handschriften oft vorkommen und von der ikonographisch orientierten Buchmalereiforschung gut bearbeitet sind, fehlen entsprechende Darstellungen auf illuminierten Urkunden. Als einzige Ausnahme kann der Notar Othinus namhaft gemacht werden, der 1293 ein Remake einer unechten Stiftungsurkunde für Sainte-Glossinde in Metz aus dem Jahr 974 schrieb22 und der sich in dieser Tätigkeit an der Initiale I(n nomine) mit Feder und Schabmesser zu schaffen macht und sogar namentlich bezeichnet ist. Weiters ist auf die in Abschnitt 3.2.4.1 behandelten Capbreu zu verweisen, bei denen das Schreiben des Dokuments ebenfalls ein Teil der Illustration ist. (Abb. 12 a und b) Dem Making sind auch die eigenhändige Unterschrift von Aussteller und Zeugen und der Vollziehungsstrich zuzuweisen, die mitunter feststellbar sind. Darstellungen oder zeitgenössische Berichte, wie dies performativ ablief, sind – zumindest mir – keine bekannt. Ob das Beifügen von Stäbchen (festucae) dem Making zuzuordnen ist, hängt von der sehr problematischen Interpretation des Kontextes ab (dazu Abschnitt 3.2.6).

3.1.2 Die Bürokratie des Machens illuminierter Urkunden Bevor die Urkunde, auch eine illuminierte, an den Empfänger gelangte, mussten mehr oder weniger viele bürokratische Hürden überwunden werden. In England war

|| 21 Michael T. CLANCHY, From Memory to Written Record. England 1066–1307, 2. Aufl. Oxford 1993. 22 Metz, Archives départementales de la Moselle, H 4058 (5): http://monasterium.net/mom/Illumi nierteUrkunden/1293_Metz/charter (Martin ROLAND; mit Literaturangaben). Die Datenbank „Chartes originales antérieures à 1121 conservées en France“ (http://www.cn-telma.fr/originaux2) verzeichnet die als ‚Pseudo-Original‘ eingestufte Urkunde: http://www.cn-telma.fr//originaux/charte313/. Bemerkenswert ist, wie der Kopist die graphischen (Beglaubigungs-)Zeichen der Vorurkunde interpretierend wiederholt.

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der Geschäftsgang bereits im Mittelalter elaboriert. Um als Petent etwa einen illuminierten Wappenbrief zu erhalten, musste man – wie üblich – ein (hier freilich illuminiertes) Warrant einreichen. Die Kanzlei fertigte dann die mit dem Wappen versehene Urkunde aus (Letters patent). Der Inhalt und das gemalte Wappen wurden schließlich in die entsprechende Registerrolle übertragen. Adrian AILES verweist auf den (für illuminierte Wappenbriefe) einzigartigen Fall des am 23. November 1472 von König Edward IV. an Louis de Bruges (Lodewijk van Grunthuse) verliehenen Wappens, bei dem alle drei Schritte erhalten blieben und ein gemaltes Wappen zeigen.23 (Abb. 4) Bemerkenswert ist zudem, dass es sich dabei um den zweitältesten erhaltenen vom englischen König selbst und nicht von einem Wappenkönig ausgestellten Wappenbrief handelt, der sich erhalten hat. Dass auch die Bildkomponente in der Bürokratie der Kanzlei eine Rolle spielte, war bisher noch kaum Gegenstand von Untersuchungen. Erste Ansätze finden sich bei Andreas ZAJIC, der Bildkonzepte nennt, die in den Reichsregistern König Maximilians eingelegt sind24, und in einem Aufsatz von mir, der Beispiele von Bildelementen nennt, die mit dem Text der Urkunde in die Kanzleiregister der französischen Könige des 14. Jahrhunderts kopiert wurden.25

|| 23 Warrant zu: Edward IV. verleiht Louis de Bruges de la Gruthuse und seinen legitimen männlichen Erben als Earl of Winchester ein Wappen: London, The National Archives, C (Chancery), 81 (Warrants for the Great Seal), 1505 (Edward IV, 12. Regierungsjahr), No. 4 (C 81/1505); dem Warrant folgend wird 1472 November 23, Westminster, ein Letters patent ausgestellt: London, British Library, Ms. Egerton 2830; die ausgefertigte Urkunde wurde in die Patent Rolls eingetragen: London, TNA, C (Chancery), 66 (Patent Rolls), 529 (Part 1), m 11 (C 66/529): Calendar of the Patent Rolls preserved in the Public Record Office: Edward IV., Henry VI. A. D. 1467–1477, London 1900, S. 338; H. C. Maxwell LYTE, Catalogue of Manuscripts and other Objects in the Museum of the Public Record Office with a Brief Description and Historical Notes, 9. Aufl. London 1922, S. 41; William H. ST. JOHN HOPE, On a Grant of Arms Under the Great Seal of Edward IV to Louis de Bruges, Seigneur de la Gruthuyse and Earl of Winchester, 1472, in: Archaeologia or Miscellaneous Tracts Relating to Antiquity 56 (1898), S. 27–38 (die Ausfertigung befand sich damals im Besitz des Autors); Adrian AILES, Royal Grants of Arms in England before 1484, in: Peter COSS u. Christopher TYERMAN (Hgg.), Soldiers, Nobles and Gentlemen. Essays in Honour of Maurice Keen, Woodbridge 2009, S. 85–96, hier S. 88–89. 24 ZAJIC (Anm. 3), S. 127–131 mit Abb. 5–8. 25 ROLAND, Medieval Grants (Anm. 3), S. 137; Paris, Archives nationales, JJ 52, fol. 35r: Verleihung eines ‚Zeichens‘ an die Blinden von Bayeux. Die betreffende Seite im digital verfügbaren Registerband: http://www.culture.gouv.fr/Wave/image/archim/JJ/PG/frchanjj_jj052_0036r.htm; im Registerband JJ 56, foll. 32v–33v, ist die Gründungsurkunde des königlichen Priorats in Poissy eingetragen (1317 Jänner, Saint-Germain-en-Laye); die Vertreter der vier Hofämter fügen der Urkunde ihre Signa bei, die im Register nachgezeichnet wurden vgl.: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkun den/1317-01-99_Paris/charter; im Registerband JJ 145, fol. 193r, und JJ 147, fol. 68r, ist jeweils das Wappen eingemalt, das Karl VI. dem Gian Galeazzo Visconti verliehen hat (1394 Jänner 27 bzw. 1395 Jänner 29: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1394-01-27_Paris/charter bzw. http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1395-01-29_Paris/charter).

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3.2 Das Using 3.2.1 Fallbeispiel: Kaiser Ludwig der Bayer und seine ‚Prunkurkunden‘ Die benannten Beispiele aus der Konzilschronik fokussieren auf den performativen Rechtsakt. Die Darstellungen zeigen das Vorlesen der Urkunde, die Übergabe eines Rechtssymbols und die Leistung des Eides, so wie der Chronist das (angeblich) beobachtet hat. Die Übergabe des Wappenwimpels, die dort vorkommt (Abb. 3), ist schon deutlich früher das zentrale Bildthema in einer historisierten Initiale, die hier als erstes Fallbeispiel dienen soll. Am 14. August 1338 erhebt Kaiser Ludwig (der Bayer) in Frankfurt am Main Otto und dessen Sohn Barnim zu Herzögen von Pommern26 (Abb. 5), – ein Rechtsakt – die Erhebung in den Reichsfürstenstand – der durchaus vergleichbar den beiden Erhebungen ist, die Richental schildert. Die Initiale des feierlichen Diploms zeigt, wie Leonhard von München, der Haus- und HofUrkundenillustrator des Kaisers, wollte, dass diese Szene im Archiv der Belehnten optisch verankert bleiben soll. Der Kaiser und sein künstlerisch begabter Notar, dessen Wirken Christa WREDE in ihrer Dissertation untersucht hat27, schreiben schon in das Making der Urkunde ein, wie die Belehnung ablaufen soll. Die Hersteller sind sich der Macht des Bildes bewusst, sie ahnen, dass das Bild ins Gedächtnis einschreibt, wie etwas gewesen ist. Und selbst wenn die Handlung anders ablief, ab dem Zeitpunkt, an dem die Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung standen, verfestigte sich ein bis heute wirkmächtiges Bild, das das Verhältnis von kaiserlicher Autorität und Vasallen festschreibt. Über die damals vollzogenen Handlungen ist wenig bekannt; weder ob und gegebenenfalls wie stark die Subordination demonstriert wurde. Das Bild zeigt im Schaft der Initiale L(udovicus) den thronenden, zu den ‚Bittstellern‘ gewendeten Kaiser und als Ende des unteren Balkens des Buchstabens treue und durchaus unterwürfige Vasallen; kauernd halten die beiden Herzöge den Fahnenwimpel, den sie als Rechtssymbol erhalten hatten.28 Reichsfürsten haben sich selbst bestimmt anders ge-

|| 26 Greifswald, Landesarchiv, Repositur 2, Nr. 59a: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUr kunden/1338-08-14_Greifswald/charter (Martin ROLAND). 27 Christa WREDE, Leonhard von München, der Meister der Prunkurkunden Kaiser Ludwigs des Bayern, Kallmünz 1980, zu dieser Urkunde S. 60–61., S. 121–123 (Kat. 11). 28 Die älteste figürlich historisierte Urkunde Kaiser Ludwigs zeigt die proskynetisch vor dem Kaiser knienden Vertreter der Stadt Dortmund: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/133208-25_Dortmund/charter. Die Übergabe eines Rechtssymbols ist in diesem Fall nicht dargestellt. Ganz prominent ist die Übergabe des Wappenwimpels bei der Übergabe Litauens als freies Eigen an den Deutschen Orden zu sehen, weil die bayerischen Rauten des Wimpels auch Teil des Rechtsgeschäfts sind: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1337-11-15_Berlin/charter; dass hier freies Eigen mit einem Wappenwimpel übergeben wird, erstaunt; vgl. auch Anm. 35.

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sehen. Das kann man sogar belegen. Ein Jahr später, am 10. März 1339, stellt der Kaiser für Balduin von Luxemburg, Erzbischof von Trier und entscheidender Strippenzieher der Reichspolitik, in Frankfurt am Main eine vom Rechtsinhalt unbedeutende Urkunde aus.29 Von der in der Initiale dargestellten ‚Handlung‘ steht nichts im Text der Urkunde. Zu sehen sind dort der Erzbischof, der dem Kaiser gegenübersteht; beider Haupt ist mit einer Insignie bedeckt, sie reichen einander die Hand zum Gruß. (Abb. 6) Dabei handelt es sich nicht, wie man – kennte man nur dieses Einzelstück – vermuten könnte, um die Selbstdarstellung des Erzbischofs, sondern um einen Auftrag des Kaisers an seinen kunstsinnigen Notar. Die zentrale Botschaft dieser Urkunde besteht darin, dass der Kaiser mit der Darstellung einem wichtigen Verbündeten schmeicheln möchte, von dem er wohl schon ahnt, dass seine Loyalität enden wollend sein wird. Er bedient sich der Kunst, um den feinsinnigen Erzbischof, Auftraggeber wichtiger Handschriften, zu beeindrucken. Die Performativität spielt sich nicht nur in dem (angeblichen) Handschlag ab, sondern beim Betrachten der Urkunde, denn der Kaiser adressiert ganz bewusst das Eitelkeitsgen des Erzbischofs. Wie wichtig es ist, das Verhältnis zwischen dem Dargestellten und dem Auftraggeber der Darstellung zu ermitteln, zeigt ein Vergleich mit Eberhard Windeck, einem kleinen und windigen Höfling. Seine kurzfristige Anwesenheit am Hof Sigismunds nutzt er, um Material für ein Sigismundbuch zu sammeln. Dieses vermittelt durch eingestreute Urkundenabschriften Seriosität und transportiert als gewollten Nebeneffekt die vorgebliche Hofnähe des Autors, die verbaliter und im Bild für die Nachwelt dokumentiert wird. Aus einer ungeordneten Materialsammlung haben die Nachkommen des Chronisten von dem Buchunternehmen, das unter dem Namen ‚Diebold Lauber‘ firmiert, eine attraktiv aussehende Lektüre konfektionieren lassen.30 Die Illustration der Werkstatt zeigt, wie Windeck ein Lehen, den Brückenzoll in Mainz, erhält.31 (Abb. 7a) Sicher nicht zufällig wird eine Bildformel verwendet, die einen tatsächlich stattgehabten performativen Akt evoziert, was durchaus zweifelhaft ist. Mit welcher Unverfrorenheit die Windecks sich hier selbst darstellen ließen, wird klar, wenn man

|| 29 Koblenz, Landeshauptarchiv, Abt. 1a (Urkunden der geistlichen und staatlichen Verwaltung), Nr. 4983: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1339-03-10_Koblenz/charter. 30 Martin ROLAND, Was die Illustrationen zu Eberhard Windecks Sigismundbuch präsentieren, was man dahinter lesen kann und was verborgen bleibt, in: Karel HRUZA u. Alexandra KAAR (Hgg.), Kaiser Sigismund (1368–1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen, Wien [u. a.] 2012, S. 449–465 und Farbtafeln I–XX. Zur Chronik vgl.: Windeckes Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Zeitalters Sigmunds, hrsg. v. Wilhelm ALTMANN, Berlin 1893 (online: http://digi.ub.uni-heidel berg.de/diglit/windeck1893/0013). 31 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13.975, fol. 228v; ALTMANN (Anm. 30), S. 194–195; der Eintrag im Reichsregister H, fol. 46v, dokumentiert die damals ausgestellte Urkunde: 1424 August 2: König Sigismund verleiht Eberhard Windeck ein Lehen auf den Zoll von Mainz, in: Die Urkunden Kaiser Sigmunds (1410–1437), hrsg. v. Wilhelm ALTMANN, Bd. 1 (Regesta Imperii XI/1), Innsbruck 1896/97, S. 420, Nr. 5929; in der illustrierten Parallelüberlieferung des Sigismundbuches in Privatbesitz ist dieser Abschnitt in Verlust geraten. vgl. ROLAND (Anm. 30), S. 454–455

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sieht, dass genau dieselbe Bildformel dazu verwendet wurde, die Belehnung mit dem Herzogtum Sachsen darzustellen.32 (Abb. 7b) Bei der formelhaften Gleichartigkeit der Illustrationen spielt freilich auch das Phänomen effizienter Buchproduktion mit: Laubers Betrieb standardisiert die Buchprodukte zu Markenartikeln und reduziert gleichzeitig die Szenen zu Bildformeln.33 Diese Formelhaftigkeit ist der fundamentale Unterschied zu den Illustrationen der Konzilschronik, die am Beginn untersucht wurden.34 Der Quellenwert ist dementsprechend deutlich geringer.

3.2.2 Übergabe eines Wappens Während Belehnungen offenbar tatsächlich als Übergabe von Wappenwimpeln performativ inszeniert werden können, ist bei der Verleihung von Wappen beinahe auszuschließen, dass ein Wappen physisch übergeben wurde. Trotzdem wird das 1355 mittels einer genialen Bildformel auf einem aus vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen, und eben deswegen nicht schulbildenden Wappenbrief dargestellt, den Jacopo di Santa Croce von Kaiser Karl IV. erhielt.35 Die Miniatur eines oberitalienischen Buchmalers kombiniert die Notwendigkeit, das Wappen wiedererkennbar darzustellen, mit dem Wunsch, Performatives hereinzuholen. Beide Protagonisten sind in der vollen Pracht ihrer Gewänder dargestellt. Die Übergabe wird durch das Berühren des übergroßen Wappenschildes angedeutet. Die Komposition wurde aus bestehenden Konzepten zusammengestellt. Grundlegend für das Layout mit dem aus dem Schriftspiegel ausgesparten Bildfeld ist der erste erhaltene kaiserliche Wappenbrief von 1338, den Ludwig der Bayer für die Grafen Carbonesi ausstellte.36 Die reine Wappendarstellung wird jedoch – sicherlich angeregt durch die bereits erwähnten historisierten Initialen, die Urkunden Ludwigs, wenn der Kaiser dies für opportun hielt, schmückten – mit einer Übergabeszene kombiniert, wie dies eine Urkunde vom 15. November 1337 für den Deutschen Orden zeigt: Ludwig überreicht das gar nicht in seinem Besitz befindliche Litauen, repräsentiert durch einen Wimpel mit bayerischen

|| 32 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13.975, fol. 265v: ALTMANN (Anm. 30), S. 233–234; Regesta Imperii XII/2 (Anm. 31), S. 74, Nr. 7092 (zu 1428 Mai 20). 33 Im Detail dazu ROLAND (Anm. 30), S. 455–459. 34 Zum Vergleich der Bilder siehe ROLAND (Anm. 30), S. 461–463. 35 1355 Mai 25, Pisa: Kaiser Karl IV. ernennt Giacomo di Santa Croce aus Padua zum Familiaren und verleiht ihm ein Wappen; Venedig, Fondazione Giorgio Cini, Inv.-Nr. 2042: http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1355-05-25_Venedig/charter (Daniel MAIER, Martin ROLAND). 36 Bologna, Biblioteca Comunale dell’Archiginnasio, Manoscritti Gozzadini, 74/a: http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1338-02-08_Bologna/charter (Daniel MAIER, Martin ROLAND).

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Rauten.37 So bemerkenswert diese Darstellung aus kunsthistorischer Sicht ist, mit der performativen Realität hat sie – trotz der für Wappenbriefe einzigartigen Darstellung von Handlung – nichts zu schaffen.38 Es wird auch an diesem Beispiel deutlich, dass die dargestellte Handlung keineswegs auf ein tatsächliches historisches Ereignis verweisen muss.

3.2.3 Urkundenübergabe als Bildmotiv auf illuminierten Urkunden Die bisherigen Beispiele haben entweder den performativen Akt der Belehnung illustriert oder eine imaginäre Wappenübergabe inszeniert, nicht aber die Übergabe der Urkunde selbst. Wenig überraschen wird auch die Urkundenübergabe selbst, also die Handlung, die den performativen Grundbestand bildet, auf illuminierten Urkunden dargestellt und bildet sogar das vergleichsweise häufigste Bildmotiv.39 Auf der Urkunde ist somit zu sehen, wie die Urkunde selbst übergeben wird, eine erstaunliche Selbstreferenzialität.

|| 37 Zum ephemeren Rechtsinhalt und der komplexen Bildregie siehe ROLAND u. ZAJIC (Anm. 1), S. 394; vgl. auch http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1337-11-15_Berlin/charter und Anm. 28 dieses Beitrags. 38 Ein weiteres Kuriosum ist hier anzuführen: Die Incipitseite von Giovanni Bianchinis Tabulae astronomiae, Ferrara, Biblioteca Communale Ariostea, Ms. I 147, fol. 1r zeigt eine Dedikationsszene: der Autor, präsentiert von Borsa d’Este, überreicht Kaiser Friedrich III. sein Werk. Gleichzeitig hält der Kaiser ein Blatt mit Bianchinis gebessertem Wappen: https://www.researchgate.net/publica tion/313438854_Copernicus_and_the_Astrologers/figures?lo=1. Das performative Setting wirkt in dieser Renaissance-Miniatur des Giorgio d’Alemagna realistisch und glaubwürdig und tatsächlich ist zumindest gesichert, dass Bianchini 1452 Mai 18 eine Nobilitierung und Wappenbesserung erhielt: http://f3.regesta-imperii.de/show.php?urk=16417. Verbindet man das hier überlieferte Bild mit den Beobachtungen von Andreas ZAJIC zu Bildkonzepten (vgl. Anm. 24), dann könnte man vermuten, dass hier vielleicht sogar Bianchini ein Bildkonzept dem Kaiser übergab (z. B. im Jänner 1452), um dann im Mai auf der Rückreise von der Kaiserkrönung den fertigen Wappenbrief zu erhalten. 39 Urkundenübergaben sind, wenig überraschend, auch außerhalb des hier behandelten, auf illuminierte Originalausfertigungen beschränkten Quellenkorpus dargestellt worden. Neben den in Abschnitt 2 genannten Beispielen ist hier auf Chartulare und andere Kopialbücher zu verweisen, bei denen oft der Urkundentext mit einer historisierten Initiale beginnt, die die Urkundenübergabe zeigt. Dazu jüngst Markus SPÄTH, Kopieren und Erinnern. Rezeption von Urkundenschriftbildern in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters, in: Albrecht HAUSMANN (Hg.), „Übertragungen“: Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2005, S. 121–128, besonders S. 115–119; SPÄTH erkennt sehr zu Recht, dass es sich um stereotype Bildformeln handelt, die zwar auf die ursprüngliche Handlung verweisen, diese aber nicht ‚abbilden‘.

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Ein frühes und als Bildformel zu Herzen gehendes Beispiel zeigt die Urkunde, in der König Philipp VI. von Frankreich (reg. 1328–1350) die Veränderung der Morgengabe für seine Ehefrau Jeanne festlegt.40 (Abb. 8) Obwohl das Siegel, die Plica und sogar die in winziger Schrift notierte Inhaltsangabe ‚Realität‘ vorgaukeln, ist hier von einem buchmalerischen Kabinettstückchen, nicht aber von einer realen ‚Performance‘41 auszugehen. Wie König Edward III. von England (reg. 1327–1377) wollte, dass man sich eine Behändigung einer seiner Urkunden vorzustellen habe, ließ er auf einer am 1. Juli 1338 mundierten Urkunde für Ipswich gleichsam archetypisch darstellen.42 (Abb. 9) Der König thront, natürlich nicht zufällig mit überschlagenen Beinen, einer richterlichen Pose. Vor ihm knien Vertreter der Bürger von Ipswich und strecken ihre erhobenen Hände der Urkunde entgegen.43 Diese ist, neben dem König und dessen weisendem Finger, Zentrum der Darstellung. Plica, der Schnitt in dieser für das anhangende Siegel und die Intitulatio sind deutlich erkennbar (lesbar).

|| 40 Paris, Archives nationales, J 357A, no 4bis: 1332 März, ohne Ort: http://monasterium.net/mom/Il luminierteUrkunden/1332-03-99_Paris/charter (Markus GNEISS, Gabriele BARTZ). 41 Ich verwende hier (und mitunter) ganz bewusst statt des wissenschaftlich konnotierten Begriffes ‚Performanz‘ den Begriff Performance, der im Englischen synonym mit ‚Performanz‘ gebraucht wird, im Deutschen aber stark mit gewissen Strömungen der ‚bildenden‘ Kunst des 20. Jahrhunderts verknüpft ist. 42 1338 Juli 1, Walton: König Edward III. bestätigt ihm von der Stadt Ipswich vorgelegte königliche Privilegien: Ipswich, Suffolk Record Office, Ipswich City Charters C/1/1/7; Calendar of the Charter Rolls preserved in the Public Record Office 4: 1–14 Edward III., A. D. 1327–1341, London 1912, S. 449; David ALLEN (Hg.), Ipswich Borough Archives 1255–1835. A Catalogue, with introduction essays by Geoffrey MARTIN and Frank GRACE (Suffolk Records Society Publications 43), Woodbridge 2000, S. 4; Elizabeth DANBURY, The Study of lluminated Charters, Past, Present and Future. Some Thoughts from England, in: Gabriele BARTZ u. Markus GNEISS (Hgg.), Illuminierte Urkunden. Beiträge aus Diplomatik, Kunstgeschichte und Digital Humanities / Illuminated Charters. Essays from Diplomatic, Art History and Digital Humanities (Beihefte des Archivs für Diplomatik 14), Köln [u. a.] 2018, S. 259–280, zu diesem Stück S. 264. 43 Dieselbe Bildformel wurde bereits verwendet, um den Beginn der (deutlich späteren?) Abschrift des 1288 April 5 vom maître der Templer in der Gascongne und Provence, Pons del Broet, der Stadt Monaunès verliehenen Stadtrechts (cotumes) mit einer historisierten Initiale zu illustrieren: Toulouse, Archives Départementales de la Haute-Garonne, Malte liasse 50 Monsumès (Rés. 15): http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1288-04-05_Toulouse/charter (Martin ROLAND); der Stadtherr thront und übergibt einem Vertreter der Stadt eine Urkunde. Die Urkunde mit anhängendem Siegel steht im Mittelpunkt, obwohl das Stadtrecht selbst (ein gebundenes Heft) keine Beglaubigungsmittel aufweist. Diese Bildformel tritt zeitnäher, aber dafür ikonographisch verändert auf: 1331 Februar 28, Edward III. übergibt Richard, Earl of Arundel, die Titel und Güter, die dem 1326 hingerichteten Vater, Edmond Fitz Alan, entzogen wurden: London, British Library, Harley Charter 83 C 13: New Paleographical Society, 1. Serie (1910), Taf. 198; Elizabeth DANBURY, Décoration et enluminure des chartes royales anglaises au moyen âge, in: Bibliothèque de l’école des chartes 169 (2011 [2013]), S. 79–107, zu diesem Stück S. 88.

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24 Jahre später kehrt dieselbe Bildformel, modisch aktualisiert, wieder. Zwar nicht in der Originalurkunde von König Edward III. vom 1362 Juli 19, die die Belehnung des Schwarzen Prinzen (Black Prince), seines ältesten (jedoch vor dem Vater verstorbenen) Sohnes Edward, mit Aquitanien und der Gascogne beurkundet, sondern in einer frühen Abschrift dieser Urkunde.44 Obwohl es sich, wie schon mehrfach, um eine Lehensübertragung handelt, wird nun nicht mehr ein Zeichen des Lehens, sondern die Urkunde selbst übergeben. Auch die Originalurkunde hat sich, freilich in beklagenswertem Zustand, erhalten.45 Zu der hier behandelten Fragestellung kann sie nichts beitragen, außer dem Beleg, dass es sich bei der übergebenen Urkunde um ein illuminiertes Stück gehandelt hat. Wie bei allen anderen bisher behandelten Übergaben illuminierter Urkunden, wird die Tatsache, dass das Stück illuminiert ist, bei der Darstellung nicht berücksichtigt. Würde man den Darstellungen Glauben schenken, dann wären wichtige Rechtsakte in privatem Rahmen abgehandelt worden. Das Publikum fehlt jeweils. Hier ist freilich ein kritischer Blick notwendig, denn das Medium ‚historisierte Initiale‘ verlangt, um in der Sache lesbar zu bleiben, eine Konzentration auf das Wesentliche. Man darf also, trotz der Darstellungen, eine öffentliche Performance vermuten. Als Beleg für diese Behauptung kann – zumindest ansatzweise – das in Anm. 43 zuletzt genannte Beispiel von 1331 dienen, denn hier ist Publikum zumindest angedeutet. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Übergabe der Urkunde zentrale Bedeutung beigemessen wird, sonst wäre das Motiv nicht so häufig. Es gibt gute Gründe zu vermuten, dass die Übergabe der Urkunde als ‚modernere‘ Form und die Übergabe eines Rechtssymbols als die traditionellere Handlung empfunden wurde. Die Beispiele zeigen jedoch, dass beide Formen bis ins 15. Jahrhundert verwendet wurden. Frankreich glänzte bereits mit dem Beispiel von 1332 für die Behändigung einer Urkunde. (Abb. 8) Nun ist auf Darstellungen hinzuweisen, die auf künstlerisch höchst raffinierte Weise die Szene in die Initiale projizieren. 1368, sechs Jahre nach König Edward, betritt Karl V. von Frankreich die Bühne der Urkundenübergaben. Er lässt einen Buchmaler, der aus der königlichen Urkundenproduktion bekannt ist, die Initiale einer Urkunde ausmalen, mit der Guillaume, Prior der Grande Chartreuse,

|| 44 London, British Library, Ms. Royal-20 D X, fol. 28r; eine seitenverkehrte Komposition in ebenda, Ms. Cotton Nero D VI, fol. 31r. 45 London, The National Archives, E 30, 1105: http://discovery.nationalarchives.gov.uk/de tails/r/C3624783: vgl. LYTE (Anm. 23), S. 86; Richard BARBER, Edward, Prince of Wales and Aquitaine. A biography of the Black Prince, London 1978, S. 177–178, Taf. 4; Elizabeth DANBURY, The Decoration and Illumination of Royal Charters in England, 1250–1509. An Introduction, in: Michael JONES u. Malcolm VALE (Hgg.), England and Her Neighbours. 1066–1453. Essays in Honour of Pierre Chaplais, London 1989, S. 157–179, hier S. 165.

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eine Gottesdienststiftung des Königs für die Kartause Vauvert bestätigt.46 (Abb. 10a) Der Delphin als Bildzeichen der Dauphiné, die Karl als erster Kronprinz erhalten hatte, und der ikonisch mit dem französischen Königtum verbunden bleiben sollte, und die Figur des Königs bilden die Initiale U(niversis). Die im mit heraldischen Lilien besäten Initialfeld knienden Mönche reichen Karl die Urkunde. Im November des Jahres 1379 wird die künstlerische Verfremdung eines vermeintlich performativen Aktes noch weiter gesteigert.47 (Abb. 10b) Im Schaft der Initiale lässt sich der König bescheiden gekleidet darstellen, aber, gleichsam unbemerkt, halten doch zwei Engel die Krone über sein Haupt und er steht Aug in Aug mit der Dreifaltigkeit, die er an Körpergröße um ein Vielfaches übertrifft. Einzig die Urkunde im Zentrum entspricht in der Größe dem König. Die Kleriker links unten haben Köpfe, deren Größe in etwa der des Siegels der Urkunde entspricht. So irreal das Setting im Ganzen ist, die Handschuhe, die aus feinstem Leder gefertigt scheinen, und jedes Detail der Kleidung des Königs stimmen bis in Kleinigkeiten mit der damaligen Mode überein. Auch das Subsigillum (sous seau), also ein zweites kleineres Siegel unterhalb des eigentlichen (Majestäts-)Siegels, ist dargestellt.48 Hier agiert man im Großen phantastisch, im Kleinen aber ganz nahe an der gelebten Realität. Jean, Duc de Berry, kunstsinniger Bruder Karls V., inszenierte sich selbst ganz anders, die höchst artifiziellen Mittel sind aber dieselben. Wieder wird der Realismus bei den Details verwendet, um den Betrachter zu beeindrucken. Dies reicht von den prächtigen Stoffen, mit denen er sich kleidet, bis zu den Bartstoppeln der Mönche, mit denen er die Urkunde hält. Und auch die beiden Siegel, die an der Urkunde hängen, entsprechen der Urkunde, auf die dieses Bild gemalt wurde.49 (Abb. 10c)

|| 46 1368, ohne Monat und Tag, während des Generalkapitels: Paris, Archives nationales, J 465, no 32bis, http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1368-99-99_Paris/charter (Markus GNEISS, Gabriele BARTZ). 47 1379 November: König Karl V. von Frankreich gründet die Sainte-Chapelle in Vincennes: Paris, Archives nationales, AE//II/401B: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1379-1199_Paris/charter (Gabriele BARTZ, Martin ROLAND); identische Doppelausfertigung: AE//II/401/A; ohne Monatsangabe): http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1379-99-99_Paris/char ter (Gabriele BARTZ, Martin ROLAND). 48 Die Besiegelung ist nicht mehr erhalten, man kann bloß erkennen, dass eine Siegelschnur verwendet wurde; zum Subsigillum vgl. Natalis DE WAILLY, Éléments de paléographie, Paris 1838, Bd. 1, S. 6–7; Martine DALAS-GARRIQUES, Le premier sceau de substitution de Charles V, in: Bibliothèque de l’école des chartes 144 (1986), S. 355–359. 49 1402 Dezember 2, wohl Brügge: Abt Lubertus (Hautscilt) und der Konvent von Saint-Barthélemy in Brügge nehmen Jean Duc de Berry als ihren Mitbruder (leur confrère) auf: Paris, Archives nationales, AE//II/422, http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1402-12-02_Paris/charter (Gabriele BARTZ, Martin ROLAND).

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3.2.3.1 ‚Fake News‘ in einer Originalurkunde Nicht überall, wo feierlich ‚Urkunde‘ draufgepinselt wird, ist auch ‚echt‘ drinnen: König Richard II. bestätigt den Mönchen von Crowland am 7. Juli 1393 mit einer durch und durch echten, prächtig illuminierten Urkunde50 Privilegien, die auf (gefälschten), in den Text inserierten Urkunden beruhen. Dass die Urkunde selbst ‚echt‘ ist, belegt die Tatsache, dass sie in die von der Kanzlei geführten Patent Rolls eingetragen wurde, die alle ausgehenden Letters patent registrierten.51 Dargestellt ist eine ‚zeitreisende‘ Urkundenübergabe (Abb. 11): In der Mitte thront der hl. Guthlac (gest. 11. April 714), flankiert von König Aethelbald von Mercia (gest. 757), jener dessen angebliches Privileg von 716 hier inseriert wurde52, und dem hier gleichsam ‚live‘ agierenden König Richard II., der den Mönchen auf den Leim ging.53 Gemeinsam übergeben sie dem Abt und den Mönchen eine übergroß dargestellte besiegelte Urkunde. Ziel der Fälschung war es weniger, den Besitz zu erweitern, als sich als alte, auf einen Heiligen zurückgehende Gemeinschaft abzusichern.54 Genau diesem Zweck dient die bildliche Darstellung, in der der hl. Guthlac und König Aethelbald ebenso real agieren, wie der lebende Herrscher und Abt und Konvent, die die Urkunde (jene selbst, auf der das beschriebene Bild die Initiale füllt) empfangen. Beides ist – so die glaubwürdige Bildbotschaft – gleich zuverlässig, zu beiden gibt es Urkunden. || 50 1393 Juli 7: Oxford, Bodleian Library, Ms. Ashmole 1831: https://digital.bodleian.ox.ac.uk/in quire/p/28983cf1-cc1f-4911-a04a-970c80b0ab84; DANBURY (Anm. 43), S. 94; DANBURY (Anm. 45), S. 168. 51 Calendar of the Patent Rolls preserved in the Public Record Office 5: Richard II. A. D. 1391–1396, London 1905, S. 300. 52 Vgl. The Electronic Sawyer, King’s College Cambridge, S 82: http://www.esawyer.org.uk/char ter/82.html; eine zweite Urkunde wurde ebenfalls bestätigt: 948, Edred, König von England, für Abt und Konvent von Crowland, vgl. ebd., S. 538: http://www.esawyer.org.uk/charter/538.html; Thomas F. TOUT, Mediaeval Forgers and Forgeries, in: Bulletin of the John Rylands Library 5 (1918–20), S. 208– 234, hier S. 223; dieser vermeintliche Stifter fehlt auf dem Medaillon der Guthlac-Roll (siehe Anm. 89 und Abb. 14a); er wurde offensichtlich erst nach dem früheren 13. Jahrhundert ‚erfundenʻ. 53 Zur Fälschung vgl. Alfred HIATT, The Making of Medieval Forgeries. False Documents in Fifteenthcentury England, Toronto 2004, S. 36–50; TOUT (Anm. 52) S. 221–223. 54 Wie in Abschnitt 3.2.4.3, Unterabschnitt zu Crowland Abbey, gezeigt werden wird, gibt es keine Belege für eine Kontinuität von dem realen Einsiedler des 8. Jahrhunderts zur monastischen Gemeinschaft, die erst ab normannischer Zeit fassbare Konturen gewinnt. Um diesem Mangel abzuhelfen, wurde schon ab dem 12. Jahrhundert an Quellen gearbeitet und dabei auch historiographische Texte gefälscht/verfälscht; siehe die Abt Ingulf (gest. 1109) untergeschobene Historia Croylandensis, deren Entstehung zu Beginn des 15. Jahrhunderts angenommen wird: vgl. John R. BLACK, Tradition and Transformation in the Cult of St. Guthlac in Early Medieval England, in: The Heroic Age. A Journal of Early Medieval Northwestern Europa 10 (May 2007), http://www.heroi cage.org/issues/10/black.html; §4–§8 behandeln die Vita sancti Guthlaci des Felix (um 740), §9–§17 weitere ‚vormonastische‘ Quellen, §18–§31 widmen sich der Umgestaltung des Heiligen und seines Kultes durch die Benediktinerabtei ab dem 12. Jahrhundert, wobei Texte und Bilder (unter anderem die in Anm. 89 erwähnte Bildrolle und ein Relief an der Fassade) Verwendung fanden. Die Urkunde von 1393 wird von BLACK nur ganz kurz in §32 erwähnt.

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3.2.3.2 Misstrauen über den Tod hinaus Als letztes Beispiel für Darstellungen von Urkundenübergaben ein ganz spezieller Fall: Im Jahr 1504 richtete König Heinrich VII. von England eine gigantische Seelgerätstiftung ein.55 Die Einhaltung der Bestimmungen übertrug der König sieben Kontrollorganen (Indenture septipartite): neben den beiden Hauptvertragspartnern, also ihm selbst und John (Islip), Abt von St. Peter’s in Westminster, die Stadt London, die die Administration der Prüfung umgehängt bekam, weiters St. Paul’s Cathedral, London, St. Stephan’s, Westminster, William (Warham), Erzbischof von Canterbury, und Richard (Fox), Bischof von Winchester. Wie diese die betreffende Urkunde erhielten, wurde im königlichen Exemplar dieses siebenfach ausgestellten Libells vom Buchmaler im Bild festgehalten56 (Abb. 25a): Alle Parteien knien gemeinsam vor dem König, sind in ihrer Kleidung differenziert aber dennoch nicht im Einzelnen genau zuordenbar. Bei dem Exemplar für St. Paul’s sind nur die Domkapitulare mit weißem Chorhemd und schwarzem Umhang dargestellt, also so wie im Exemplar für den König, wo alle Vertragspartner gemeinsam zu sehen sind, der Geistliche in der zweiten Reihe vorne.57 Was jedoch genau erkennbar ist – sowohl in dieser Initiale als auch in den Initialen anderer Libelle – ist die charakteristische Form der übergebenen Libelle: der rote Samteinband mit den Beschlägen und vor allem der durch den (insinuerten) Chirograph-Charakter hervorgerufene Wellenschnitt auch der oberen Einbandkante. Die Darstellungen der Übergabe von illuminierten Urkunden zeigte manches von den Intentionen der Auftraggeber und gibt so wertvolle Hinweise, welche Handlungen tatsächlich vollzogen wurden. Bei keinem der Beispiele wurde die bei der Übergabe verwendete Urkunde als illuminiert gekennzeichnet. Dies ist einerseits durchaus erstaunlich, andererseits ist die extreme Kleinheit im Kontext historisierter Initialen zu berücksichtigen, die den Maler zwingt, unnötig scheinende Details wegzulassen.

|| 55 Zu den Details siehe Abschnitt 3.3.3. 56 Das Exemplar für den König als London, The National Archives, E 33/2 erhalten: http://dis covery.nationalarchives.gov.uk/details/r/C4131480. Die Strafbestimmungen sind auch Teil des ‚Hauptvertragesʻ (Indentures bipartites); dazu Anm. 173. Weiters haben sich die Exemplare für das Kapitel von St. Paul’s Cathedral in London (Ebd.: Abbildungen unter https://www.stpauls.co.uk/his tory-collections/the-collections/collections-highlights/the-henry-vii-indentures) und ein weiteres Exemplar, London, British Library, Ms. Add. 21.112, erhalten. 57 Wegen fehlender Abbildungen war ein Vergleich mit dem zweiten erhaltenen Exemplar (Anm. 56) bisher noch nicht möglich gewesen.

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3.2.4 Die Darstellung von rechtssymbolischen Handlungen Die Urkundenübergabe ist jedoch keineswegs das einzige Mittel, um Rechtsgeschäfte abzuwickeln. Oft wurde mit Objekten hantiert und auf spezielle Gesten gesetzt, um dem Rechtsakt größere Bindekraft zu verleihen. Die Rundschau beginnt mit der Übertragung von Lehen, weil sich Anknüpfungspunkte zu Abschnitt 2 ergeben. Es ist offenkundig, dass es eine breite Palette an performativen Möglichkeiten gab, vom knienden Eid in die Hände des Lehensherrn bis zur quasi gleichberechtigten Übergabe eines Wimpels (siehe Abschnitt 3.2.1). Welche ‚Performance‘ stattfand (oder eben gar nicht mehr durchgeführt wurde), ist ein hier nicht lösbares Problem. Unstrittig bleibt aber, dass sich derjenige, der für die entsprechende bildliche Wiedergabe einen Maler bezahlte, sich von der jeweils dargestellten Form der Lehensübergabe einen Mehrwert für seine Position versprach. 3.2.4.1 Homagium Wenn man das Leisten des Eides in die Hände des Herrn darstellt, dann wird die Subordination optisch bewusst inszeniert. In den 1292/94 entstandenen illuminierten Capbreus (Caput breve)58 werden die Eidesleistungen an König Jakob II. von Mallorca (reg. 1276–1311) von einem öffentlichen Notar dokumentiert.59 Der 1293 datierte Abschnitt für die Herrschaft Tautavel60 zeigt als Illustration ein Homagium, wobei das || 58 Capbreu sind Bücher, in denen Notare die dem Grundherrn geleisteten Eide in den jeweiligen Herrschaften aufzeichnen. Diese Quellengattung entwickelt sich von der Dokumentation individueller Eide zu urbarartigen Aufzeichnungen. Ausgangspunkt ist Katalonien, verbreitet sind derartige Aufzeichnungen auch in Südfrankreich. Nur die hier besprochenen Bände sind illuminiert. 59 Rodrigue TRÉTON, Aymat CATAFAU u. Laure VERDON (Hgg.), Les capbreus du roi Jacques II de Majorque (1292–1294), 2 Bände, Paris 2011; darinnen ein (kunst-)historisches Vorwort von Monique BOURIN, S. I–XIV, und eine kodikologische (S. XIX–XXII), kunsthistorische (S. XXII–XXVIII; S. XXVIf. und XXVIII zum Homagium in Tautaval) und allgemeine Beschreibung vom Editor. Als Stilvergleich benennt TRÉTON, S. XXVII, treffend die Fueros d’Aragon (Vidal Major) in Los Angeles, Getty Fundation, Ms. Ludwig XIV 6, die um 1290/1300 entstanden sind; weitere Informationen bei Laure VERDON, Aveu et légitimation du pouvoir seigneurial. L’exemple des capbreus du roi de Majorque (1292–1294), in: Lucien FAGGION (Hg.), Quête de soi, quête de vérité du Moyen Âge à l’époque moderne, Aix-enProvence 2007, S. 161–172 und unter http://pyreneescatalanes.free.fr/Thematiques/Docu ments/Capbreus.php. Nur die 1292/94 entstandenen, einheitlich geschriebenen Bände für die Herrschaften Saint-Laurent-de-la-Salanque (1292 und 1293), Tautavel, Collioure, Angelès-sur-Mer (jeweils 1293) und für Millas (1294) sind illustriert: Archives départementales de Perpignan, 1B29–1B34; das erste (illuminierte) Blatt für Estagel ist in Verlust geraten, die Miniaturen für Claira und die für den Ortsteil Paziols im Abschnitt für Tautavel (fol. 29r), wurden nicht ausgeführt. 60 Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales, 1B31, Capbreu de Tautavel (Livre de reconnaissance), fol. 1r: Abb. unter https://la.wikipedia.org/wiki/Homagium#/media/File:Hom mage_au_Moyen_Age_-_miniature.jpg, war dort jedoch bis vor kurzer Zeit ohne jede weitere Information. Ich bedanke mich herzlich bei Frau Archivdirektorin Marie Landelle für die Identifizierung des Objekts und weitere Auskünfte.

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Performative der Eidesleistung und dessen schriftliche Fixierung gemeinsam dargestellt sind.61 (Abb. 12b) Alle weiteren Bände stellen die Eidesleistung als Übergabe einer Urkunde dar62, wobei auch hier das schriftliche Fixieren des Eides mit dargestellt wird.63 (Abb. 12a) Auf die Frage, warum gerade für Tautavel die Eidesleistung anders dargestellt wurde, gibt es keine einfache Antwort. Einerseits weist TRÉTON nach, dass die heute nach Herrschaften portionierten Abschnitte ursprünglich zwei Bände bildeten.64 Dabei stand, entgegen der Chronologie der Eidesleistung, Tautavel am Beginn. Diese Stellung mag die Ursache dafür sein, dass man hier besonders deutlich das ‚Herrschaftliche‘ im Bild betonen wollte. Dieser Argumentation steht freilich die Beobachtung TRÉTONS entgegen, dass die Bilder durchaus Elemente enthalten, die sich auf die jeweilige Gemeinde beziehen.65 Das ‚sich in die Hände des Herrn Begeben‘ ließ schon König Alfons II. von Aragon und Graf von Barcelona in seinem nicht vor 1192 angelegten Liber feudorum major66 ausgiebig darstellen. Dabei handelt es sich nicht um Originale wie im vorherigen Fall, sondern um zeitversetzte Dokumentation in einem durch den königlichen ‚Archivar‘ Ramon de Caldes angelegten Chartular. Der optische Meta-Text, den der Empfänger nicht beeinflussen konnte, da er die Registrierung seiner Urkunden gar nicht in die Hände bekam, stellt oft und sicherlich nicht zufällig die extremste Form der Subordination, das Homagium, dar.67 Dass das Homagium zumindest als Bildformel durchaus weiterexistierte, belegt ein spätes, besonders qualitätvolles Beispiel aus Frankreich. Der von Jean de SainteMaure am 15. Februar 1469 geleistete Lehenseid (Aveu) ist, weil der Lehensherr, René d’Anjou, ein bekannter Bibliophiler war, als ein aufwendig mit einer Darstellung illuminiertes Libell gestaltet.68 Zu sehen ist, wie Jean de Sainte-Maure seine Hände in

|| 61 Die Darstellung des Schreibers würde, der Gliederung folgend, zum Making der Urkunden gehören (siehe Abschnitt 3.1.1). 62 TRÉTON (Anm. 59), S. XXXIII, geht davon aus, dass die öffentliche Eidesleistung vor dem jeweiligen Kirchenportal stattfand. Nach der Feststellung des Besitzes und der dafür fälligen Abgaben leistete jeder Haushaltsvorstand dem Grundherrn (bzw. seinem Vertreter) einen Eid auf das Evangelium. – Die Darstellung der Urkundenübergabe würde nach der verwendeten Gliederung in Abschnitt 3.2.3 gehören. 63 Archetypisch ist die Miniatur im Abschnitt für Saint-Laurent-de-la-Salanque von 1292/93: Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales, 1B33, fol. 1r. 64 TRÉTON (Anm. 59), S. XXI. 65 TRÉTON (Anm. 59), S. XXVII–XXVIII. 66 Als Fragmente erhalten in: Barcelona, Arxiu de la Corona d'Aragó (ACA), Cancelleria reial, Registres no 1. 67 Vgl. beispielhaft die Illustration ebd., fol. 116r. 68 Paris, Archives nationales, AE//II/481/B (ehem. P 338B, no 914): http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1469-02-15_Paris/charter (Gabriele BARTZ); der älteste mir bekannte illuminierte Lehenseid (aveu) ist datiert von 1460 Mai 12 und wurde von Antoine de Beaumont

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jene seines Lehensherrn legt und ihm so seine Herrschaft La Haie-Joulain (Maine-etLoire) übertragen wird. (Abb. 13) Die notarielle Beurkundung verblieb, wie das auch sinnvoll ist, im Besitz des Lehensherrn. Deswegen kann René die Aveus zur Selbstdarstellung nutzen und stellt sich und seinen Hof in aller Pracht dar. Auch der Buchmaler, Maitre (du Psautier) de Jeanne de Laval69, entspricht diesem hohen Anspruchsniveau. 3.2.4.2 Handauflegen Hände können freilich auch anders Recht setzen: Im zweiten Jahr der Hijra (622) legte Mohamed seine Hand auf eine Urkunde und hinterließ einen Abdruck darauf.70 Welch ein Glück für die Mönche des Katharinenklosters und für jene christlichen Familien, die durch diese Urkunde sicheres Leben in den angestammten Gebieten am Sinai garantiert erhielten. Bestätigungen sind seit der Fatimidenzeit (901–1171) bezeugt.71 Das (angebliche?) Original des Schutzbriefes (Ashtiname) wurde 1516/17 Sultan Selim I. (reg. 1512–1520) vorgelegt, als dieser Ägypten erobert hatte. Das Original wurde nach Istanbul gebracht und ist verloren.72 Der Sultan fertigte jedoch 1517 eine bestätigende Kopie aus73, eine weitere Kopie von 1858 ist erhalten.74 Hier ist nicht die Glaubwürdigkeit an sich von Belang, sondern der Vorgang: Das Auflegen der Hand ist zweifelsfrei eine rechtssymbolische Handlung. Dass Mohamed im Jahre 622 diese

|| an Charles d’Orlèans für die Herrschaft Bury geleistet: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1460-05-12_Paris/charter; vgl. auch 1466 Juni 15, Paris: Paris, Archives nationales, AE//II/4818, fol. 1r: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1466-06-15_Paris/charter. 69 https://fr.wikipedia.org/wiki/Ma%C3%AEtre_de_Jeanne_de_Laval mit kompetenter Erstinformation und Nennung des hier behandelten Lehenseides. 70 Andrea STIELDORF, Die Magie der Urkunden, in: Archiv für Diplomatik 55 (2009), S. 1–32, hier S. 13, kennt kein Beispiel für so eine Symbolhandlung. Auf S. 29, Anm. 105, nennt sie aber eine Passage aus dem bayerischen Recht, die bestimmt, dass Urkunden zur Güterübertragung einer eigenhändigen Unterschrift des Ausstellers, einer Datierung und des Handauflegens durch die Zeugen bedürfen, um gültig zu sein; Bericht nach Harry BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1, Leipzig 1909, S. 642. 71 Bernhard MORITZ, Beiträge zur Geschichte des Sinaiklosters im Mittelalter nach arabischen Quellen, Berlin 1918, S. 4. 72 Dass kein Original erhalten ist, dessen Vertrauenswürdigkeit man mit den Mitteln der Diplomatik prüfen könnte, ist also der Bürokratie des Osmanischen Reichs und nicht den Mönchen des Katharinenklosters anzulasten. 73 Katharinenkloster, Türkische Rollen: Achtiname (Testament) of Muhammad: https://de.wikipe dia.org/wiki/Schutzbrief_des_Mohammed; https://en.wikipedia.org/wiki/Ashtiname_of_Muham mad (mit englischer Übersetzung des arabischen Texts); MORITZ (Anm. 71), S. 1–23 (mit deutscher Übersetzung auf S. 9–11). 74 Katharinenkloster, Türkische Rollen 4: Achtiname (Testament) of Muhammad: Helen C. EVANS mit Brandie R. LIFF, Byzantium and Islam. Age of Transition 7th–9th Century. Ausstellung New York Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2012, S. 63–64, Kat.-Nr. 37.

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auf die Urkunde bannte, verbindet die beiden Sphären auf das Glücklichste und bewirkte Rechtskraft bis heute. Der symbolische Rechtsakt und die diesen darstellenden illuminierten Urkunden bilden ein Wirkungsbündel von erstaunlicher Kraft. 3.2.4.3 Das Auf-den-Altar-Legen Ein großes Thema im Bereich rechtssymbolischer Handlungen ist das Auf-den-AltarLegen als Form der Inszenierung einer Schenkung an eine geistliche Institution. Dem Thema hat zuletzt Arnold ANGENENDT einen Aufsatz gewidmet.75 Sicher ist, dass derartige Handlungen einer Öffentlichkeit bedürfen.76 Dabei können Objekte oder die Urkunde selbst Teil der Handlung sein. 3.2.4.3.1 Ottonianum (962): Purpur auf dem Altar Im Jahre 962 legt Kaiser Otto I., so argumentierte zuerst Theodor von SICKEL,77 eine Urkunde auf den Altar des hl. Petrus, mit der er die Schenkung Pippins (756), Ausgangspunkt des späteren Kirchenstaates, erneuerte.78 Erhalten blieb eine Purpururkunde, geschrieben mit Goldtinte. Das Pergament wird von einem gemalten Rahmen umgeben. Siegel ist keines vorhanden. Ausgangspunkt für SICKELs Argumentation ist die Feststellung, dass das Stück weder gefaltet noch gerollt war, da jegliche Spuren dafür fehlen (beim Rollen vor allem der Abdruck eines Siegels).79 Dies sei nur so zu

|| 75 Arnold ANGENENDT, Cartam offere super altare. Zur Liturgisierung von Rechtsvorgängen, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 133–158; der Beitrag betont (zu?) stark das Liturgische und geht nur ganz am Schluss auf Bildquellen ein; vergleiche auch den Abschnitt ‚Altarlegung‘ bei Mark MERSIOWSKY, Die Urkunde in der Karolingerzeit, Wiesbaden 2015, S. 798–800. Ältester (?) Beleg könnte die Gründungsurkunde von Fontenay (OSB) sein, die berichtet, das Stiftungsgut sei super altare sancti Stephani ponente. Die Quellenlage zu diesem angeblich 568/570 vollzogenen Vorgang ist freilich prekär. 76 So z. B. auch STIELDORF (Anm. 70), S. 10–12, die sich in ihrem Text ausführlich der Performativität der Urkundenübergabe widmete. 77 Theodor VON SICKEL, Das Privilegium Ottos I. für die römische Kirche, Innsbruck 1883, S. 178–182 (eine Edition des Ottonianums); trotz fundamentaler Unterschiede in der Einschätzung des Ottonianums akzeptiert z. B. Walter ULMANN, The Origins of Ottonianum, in: The Cambridge Historical Journal 11 (1953/55), S. 114–128, hier S. 122, die performative Verwendung vorbehaltlos. 78 Rom, Città del Vaticano, Archivio Segreto Vaticano, Arm. 1, Caps., III, Nr. 1: 962 Februar 13, Rom: MGH, DO I 235; siehe auch Regesta Imperii II,5 Nr. 305; die ursprüngliche Schenkung von 756 wurde von Karl dem Großen (774) und Ludwig dem Frommen (817) erweitert; dazu in extenso SICKEL (Anm. 77). 79 SICKEL (Anm. 77), S. 6–7; die Corroboratio kündigt – so wie bei der in Abschnitt 3.2.7.1 zu besprechenden Urkunde für Theophanu – ein Siegel an. Dass das Ottonianum trotzdem nicht besiegelt wurde, begründet SICKEL, S. 34–36, damit, dass auch die vorbildhaften Urkunden Pippins und Karls des Großen offenkundig bewusst nicht besiegelt waren. Und dies trotz der Corroboratio: et bullę nostrę impressioni adsignari iussimus (S. 35–36). SICKEL bezieht die Corroboratio jedoch nicht auf die

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erklären, dass das prunkvoll ausgestattete Stück plan auf dem Altar lag, während ein angeblich vorhandenes, kanzleigemäß mundiertes und besiegeltes im päpstlichen Archiv im Lateran verwahrt gewesen wäre und dann verloren ging.80 Unberührt von der diffizilen Frage nach mehreren Ausfertigungen bleibt, dass bei der erhaltenen Purpururkunde heute eine Plica vorhanden ist. Diese, Einschnitte und Reibespuren von Schnüren sind jedoch sekundär.81 Zur angenommenen Altarlegung verweist SICKEL82 auf eine Stelle im Liber pontificalis, Vita Hadriani, § 43, die zu 774 berichtet: Nachdem Karl (der Große) die Schenkung gemacht hatte, bestätigte er diese eigenhändig und befahl allen Bischöfen, Äbten, Herzögen und auch den Grafen sich dort einzutragen. Die Urkunde wurde auf den Altar des hl. Petrus gelegt und dann in die Confessio hineingelegt. (…)83

Über die äußeren Merkmale der performativ verwendeten Urkunde wird nichts berichtet. SICKEL geht davon aus, dass 962 ein performatives Niederlegen der Urkunde auf dem Altar, bewusst der Vita Hadriani folgend, inszeniert wurde. Dafür wurde neben dem von ihm angenommenen ‚Original‘ das vorliegende Prunkstück angefertigt.84 Die von SICKEL vorgeschlagene mediale Parallelisierung der Vorgänge von 774 || erhaltene Prunkausfertigung, sondern auf eine angeblich vorhandene, kanzleigemäß mundierte und besiegelte Ausfertigung. 80 SICKEL (Anm. 77), S. 40–41; dieses vermeintliche Original hat, was Zweifel nährt, keine Spuren hinterlassen. Transsumierungen in den Jahren 1245 und 1339 erfolgten von der erhaltenen Prunkurkunde, wie selbst SICKEL, S. 4–5, 101 und 178 (und S. 52–53 zu den Kampagnen freilich auf die Vorurkunde Ludwigs des Frommen bezogen, zum Ottonianum S. 53, Anm. 1), berichtet. Auch bei der Theophanu-Urkunde wird mit einem angeblich vorhandenen, kanzleigemäß mundierten Exemplar, das jedoch in Verlust geraten sei, argumentiert. Argumente gegen diese Annahme bei ROLAND u. ZAJIC (Anm. 1), S. 247, bes. Anm. 13, wo mit der byzantinischen Praxis von Verschlusssiegeln argumentiert wird. Die ist zwar bei der Theophanu-Urkunde durchaus plausibel, ist jedoch nicht ohne Weiteres auf das Ottonianum übertragbar. 81 SICKEL (Anm. 77), S. 5–7. 82 SICKEL (Anm. 77), S. 26. 83 Factaque eadem donatione et propria sua manu eam ipse christianissimus Francorum rex eam corroborans, universos episcopos, abbates, duces etiam grafiones in ea adscribi fecit; quam prius super altare beati Petri et postmodum intus in sancta eius confessione ponentes. Tam ipse Francorum rex quamque eius iudices, beato Petro et eius vicario sanctissimo Adriano papae sub terribile sacramento sese omnia conservaturos qui in eadem donation continentur promittentes tradiderunt. Apparem vero ipsius donationis eundem Etherium adscribi faciens ipse christianissimus Francorum rex, intus super corpus beati Petri, subtus evangelia quae ibidem osculantur, pro firmissima cautela et aeterna nominis sui ac regni Francorum memoria propriis suis minibus posuit. Aliaque eiusdem donationis exempla per scrinium huius sanctae nostrae Romanae ecclesiae adscriptam eius excellentia secum depertavit; zit. nach Louis DUCHESNE, Le liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire, Bd. 1, Paris 1886, S. 498. Für die Paraphrasierung danke ich Markus Gneiß; vgl. dazu auch MERSIOWSKY (Anm. 75), S. 93–94, 662 und 921. Dass Urkunden in der Confessio geborgen wurden, sei laut SICKEL (Anm. 77), S. 40–41, seit Papst Gregor II. (715–731) belegt. 84 SICKEL (Anm. 77), S. 40–41.

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und 962 auf Grund der äußeren Form ist freilich problematisch, denn sie würde implizieren, dass auch das Diplom Karls des Großen eine Purpururkunde oder eine anders medial ‚aufmunitionierte‘ Urkundenausfertigung gewesen wäre. Dies erscheint kaum glaubhaft. Trotz dieser argumentativen Schwachstellen ist offensichtlich, dass in diesem besonderen Fall große performative Geste und prunkvolle Ausstattung zusammentreffen. SICKEL macht mit seiner minutiösen Textanalyse deutlich, dass mehr Anspruchspolitik und Gestus als Rechtsetzung im Detail Ziel der Urkunde waren. Weder sprachlich noch was die übertragenen Güter betrifft, ist der Text schlüssig.85 Wenn dies die Stoßrichtung war, dann waren sich beide Seiten vielleicht sogar einig, keine in jedem Detail juristisch bindende Urkunde auszufertigen, sondern sie ‚besiegelten‘ ihre Einigung ganz bewusst mit einer performativen Handlung und einem Urkundenschaustück. 3.2.4.3.2 Urkunden auf dem Altar: Bildbeispiele aus England (13. Jh.) Wie die Altarlegung ablief, ist in den formelhaften Urkundentexten kaum näher beschrieben. Bildbeispielen, die das Niederlegen zeigen, kommt daher große Bedeutung zu.86 Bevor auf das Beispiel einzugehen ist, das ANGENENDT nennt87 – bei dem aber keine Urkunde, sondern ein rechtssymbolischer Gegenstand auf den Altar gelegt wird – ist eine wahrscheinlich Vielen bekannte Illustration zu besprechen, die das Cover von Michael CLANCYs zu Recht berühmtem Buch „From Memory to Written Record“ ziert.88 Der/die BetrachterIn sieht eine dichte Masse von mitunter weisen und alten, mitunter geistlichen Männern, die alle mit Schriftbändern bewaffnet sind und auf einen Altar loszustürmen scheinen, hinter dem sich eine kauernde Gestalt ver-

|| 85 Beschreibung der inneren Merkmale bei SICKEL (Anm. 77), S. 103–170, wobei die beiden auffällig unterschiedlichen Teile des Diktats ausführlich behandelt werden (bis und ab S. 158). 86 STIELDORF (Anm. 70), S. 6, Anm. 16, verweist auf eine Illustration im Begräbnisbuch von Raitenhaslach (München, BSB, Cgm 1824, fol. 11v). Der dargestellte Gründungsvorgang (1148) und die Illustration (1512) liegen freilich zeitlich zu weit auseinander, um aussagekräftig zu sein; zur Handschrift vgl. Karin SCHNEIDER, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 888–4000, 2. Auflage Wiesbaden 1991, S. 310–311. Auch der Hinweis bei STIELDORF, S. 8, Anm. 21, auf die mit einer kolorierten Federzeichnung versehene Gründungsurkunde der Bruderschaft von Saint-Martin de Canigou (1195) ist nicht stichhaltig, weil in diesem Fall zwar eine liturgische Handlung dargestellt ist, von einer Schenkung oder gar einer Niederlegung einer Urkunde auf dem Altar jedoch nichts zu erkennen ist; vgl. Paris, L’École national supérieure Beaux-arts de Paris, Mn. Mas. 38: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkun den/1195-04-02_Paris/charter (mit allen weiterführenden Angaben). 87 ANGENENDT (Anm. 75), S. 157. 88 CLANCY (Anm. 21).

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birgt. (Abb. 14a) Der Dämon, der aus ihrem Mund entweicht, ist – wie so oft bei Teufelsdarstellungen – zerstört worden. Dargestellt sind (behauptete) Wohltäter der Crowland-(Croyland-)Abbey, die Schriftbänder, die mit ‚Regesten‘ (gefälschter) Urkunden beschriftet sind, auf dem Altar der Abtei niederlegen. Was hier um 1210/30 im letzten Medaillon der mit der Feder gezeichneten Guthlac-Roll,89 einem Kunstwerk von höchstem Rang, dargestellt wurde, ist den LeserInnen schon bekannt, denn Crowland-Abbey wurde bereits als glückliche Empfängerin einer echten illuminierten Urkunde vorgestellt, in die zwei gefälschte Privilegien inseriert sind (Abschnitt 3.2.3.). Im frühen 13. Jahrhundert fälschte man zwar keine Urkunde, dafür die eigene Geschichte. Die Rolle berichtet in einer hagiographischen Bilderzählung vom hl. Eremiten Guthlac (gest. 11. April 714), der tatsächlich dort gelebt hat, wo sich dann die Abtei erhob. Der Heilige hatte wohl auch tatsächlich Kontakt zu König Aethelbald von Mercia (gest. 757), bloß war Guthlac Einsiedler und kein Klostergründer. Wann das Benediktinerkloster entstand, ist vollkommen unklar, gesichert ist seine Existenz erst in normannischer Zeit. Diesem Manko an Anciennität wollte man mit der Guthlac-Bildrolle – übrigens eine höchst innovative Bildgelegenheit – begegnen. Hier ist wichtig, dass als Kollateralschaden der Bildpropaganda der Abtei ein tolles Bild, wie man sich Altarlegungen damals vorstellte, erhalten geblieben ist. Und hier werden tatsächlich die Schriftstücke und nicht symbolische Objekte, die die Rechtshandlung begleiten, auf den Altar gelegt. Gleichzeitig mit der Guthlac-Roll haben die Mönche von St. Albans ebenfalls versucht, ihr Kloster auf eine alte, nicht belegte Schenkung zurückzuführen. Matthew Paris, der berühmte schreibende und zeichnende Mönch, schließt sein auf Altfranzösisch abgefasstes Lebensbild des hl. Alban (Life of St. Albans) mit einer Illustration ab, die König Offa zeigt, wie er eine Urkunde auf den Altar legt (Abb. 14b).90 Das Bild

|| 89 London, British Library, Harley Roll Y.6: http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanu scripts/record.asp?MSID=18445; vgl. auch George F. WARNER, The Guthlac Roll. Scenes from the Life of St. Guthlac of Crowland by a Twelfth-Century Artist, London 1928; Nigel MORGAN, Early Gothic Manuscripts 1: 1190–1250 (A Survey of Manuscripts Illuminated in the British Isles), London [u. a.] 1982, S. 67–68 (Kat.-Nr. 22: mit glaubwürdigen Stilvergleichen). 90 Dublin, Trinity College, MS. 177 (alt: E.I.40), fol. 63r; die Handschrift enthält autographe Notizen des Autors und auch die Illustrationen werden Matthew Paris selbst zugeschrieben. Die Datierung ist zwischen ca. 1230 und ca. 1250 strittig, was im hier behandelten Zusammenhang irrelevant ist; zur Handschrift vgl. Marvin L. COLKER, Descriptive Catalogue of the Medieval and Renaissance Latin Manuscripts, Bd. 1, Aldershot 1991, S. 339–343.

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begleitet eine Abschrift der (vermeintlichen) Urkunde,91 der dann noch weitere folgen.92 Kompositionell gibt es Unterschiede, die Ideologie ist aber dieselbe. Der Text beider Quellen behauptet eine Originalurkunde, die die Gründung des Klosters belegt. Die Zuverlässigkeit der Textbotschaft wird durch ein Bild der Handlung gleichsam ‚besiegelt‘. Das Bild verleiht Autorität, so als hätte ein Fotoreporter die Szene dokumentiert. Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, obwohl nicht Augenzeugen, misstrauen sehr zu Recht eindeutig ideologischen – also die Position des Klosters untermauernden – Illustrationen. Aber auch Menschen des 21. Jahrhunderts lassen sich von Bildern beeinflussen und vertrauen Fotos und Bildreportagen, die manchmal Wahres oft aber auch ideologisch Verfälschtes ins Bild setzen.93 3.2.4.3.3 Rechtssymbole (auf dem Altar) Bei den Rechtssymbolen sind vor allem der Erdklumpen (Grasnabe: guasone, vuasone, cespes), der Handschuh (andelagio, wantus) 94, das Messer (cultellus), der Halm oder der Stab/das Stäbchen (festuca, fistuca, baculus, fustis, lignum)95 und der (belaubte) Ast (z. B. ramus arboris) zu nennen. Ein Spezialfall ist die festuca, denn die

|| 91 Dublin, Trinity College, MS. 177, foll. 63r–66r (diese und die folgenden Urkundenabschriften): 793: König Offa von Mercia bestätigt die Privilegien von St. Albans und schenkt dem Kloster benannte Güter: The electronic Sawyer, S. 136: http://www.esawyer.org.uk/charter/136.html; vgl. William R. L. LOWE, E. F. JACOB u. Montague R. JAMES, Illustrations to the Life of St Alban in Trin. Coll, Dublin MS. E. I. 40, Oxford 1924, S. 136, 138. 92 796: Ecgfrith, König von Mercia schenkt benannte Güter: The electronic Sawyer, S. 150–151: http://www.esawyer.org.uk/charter/150.html: LOWE, JACOB, JAMES (Anm. 91), S. 150–151. 93 Robert Capas Photo ‚Der fallende Soldat‘ ist das ikonische Beispiel von gestellter Bildpropaganda des 20. Jahrhunderts. Als journalistischen Einstieg in die umfangreiche Forschung vgl. https://www.welt.de/welt_print/article2593335/Ein-Bild-truegt-mehr-als-tausend-Worte.html. 94 Zu einem Beleg von Jänner 876 siehe MERSIOWSKY (Anm. 75), S. 803: per instrumenta kartarum vobis tradidi et per guadium et andelagum vel per istos breves commemoratum habeo; vgl. auch Berent SCHWINEKÖPER, Der Handschuh im Recht, Ämterwesen, Brauch und Volksglauben, Berlin 1938 (Nachdruck Sigmaringen 1981), und Arnoud-Jan A. BIJSTERVELD, Een handschoen op het altaar. De betekenis van het mideeleeuwse ritueel van grondschenking, in: Aafke KOMTER (Hg.), Het geschenk. Over de verschillende betekenissen van geven, Amsterdam 1997, S. 58–73. 95 Zur festuca vgl. auch Abschnitt 3.2.6. – Ein verzierter und beschrifteter Stab hat sich, laut DU CANGE, Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 3, Paris 1844) S. 883–893 (sub voce ‚investitura‘),hier S. 885, in Tours erhalten: Anno Incarnationis Dominice MCXLIIII Lucius II. papa investivit Rome judicio sancte Apostolice Sedis cum baculo isto ligneo Turonensem ecclesiam de subjectione Dolensis ecclesie et Tregorensis et Briocensis per manum domini Hugonis Turonensis archiepiscopi; der Sachinhalt, dass der Bischof von Dol dem Bischof von Tours unterstellt wird, ist, abgesehen von der sonderbaren Form, anderwärts abgesichert. Ob das Objekt heute noch existiert, konnte bisher nicht verifiziert werden.

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Definition reicht von einem Halm oder Stäbchen/Stab96 bis zu einem Überbegriff über alle Rechtssymbole zur Besitztransferierung.97 Dies ist freilich wenig wahrscheinlich, denn die verschiedenen Gegenstände werden in der Regel gemeinsam und offenkundig formelhaft aufgezählt.98 Dass solch formelhafte Textbausteine die tatsächlich performative Verwendung der genannten Objekte als der Urkunde vorausgehender Rechtsakt bedurft hätten, darf man wohl in der Regel in Zweifel ziehen.

3.2.5 Wechselwirkung von Rechtssymbolen und Urkunde ANGENENDT99 weist (als einziges in seinem Beitrag erwähntes Bildbeispiel) auf eine Illustration im Chartular von Mont-Saint-Michel hin100 (Abb. 15, a), das um 1154/58 entstand. In zwei Registern einer Miniatur wird die Geschichte von Gütern erzählt, die || 96 Philologisch ist die Gleichsetzung von festuca und Halm eindeutig: Peter P. SCHWEITZER, Altdeutscher Wortschatz. Ein sprachgeschichtliches Wörterbuch, Hadamar 1998/2002, S. 47, definiert wie folgt: „Festuca (lat.) – halma (althochdeutsch) – Halm (neuhochdeutsch).“, belegt im Vocabularius sancti Galli (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 913, p. 184, Deutschland, um 790); vgl. auch Jacob GRIMM, Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. 1 (1899), S. 168–180 (Stichwort „Halm“) und das Novum Glossarium mediae latinitatis ab anno DCCC usque ad annum MCC, Bd. Ne–Norma (1967), Sp. 1316– 1318 (sub voce: „nodatus“); trotzdem nennt bereits Andreas L. J. MICHELSON, Ueber die Festuca Notada und die germanische Traditionssymbolik, Jena 1856, S. 10, durchaus einleuchtende Argumente gegen die Deutung als Halm, der eben nicht geworfen werden kann, wie dies oft in den Quellen beschrieben wäre; Moritz WEDELL, Zählen. Semantische und praxeologische Studien zum numerischen Wissen im Mittelalter, Göttingen 2011, S. 245–249, sieht die festuca als Stäbchen und folgt weitgehend MICHELSON; Werner OGRIS, Festuca, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte 1 (1971), Sp. 1111– 1114, erkennt die Probleme der Identifikation und betont, dass der Akt und nicht die Form des Objekts Recht schafft. 97 Diesen Eindruck erweckt ANGENDENDT (Anm. 75), S. 138: „dieselbe [die festuca] ist entstanden als Aushändigung von Symbolen des veräußerten Gutes, so bei Landübertragungen als Übergabe eines Erdklumpens, eines Grasbüschels oder Halmes, dann aber auch eines (Winzer-/Pflug-)Messers, eines (gekerbten) Stabes oder eines Handschuhs.“ 98 Die Breite der Objekte wird vielleicht erstmals in einer 1792 im Archiv von San Ambrogio in Mailand befindlichen Urkunde von 867 aufgezählt: per cultellum, vuantonem, vasonem terre et fistucam nodatum seu ramum arboris iusta sua lege Salica wird Besitz übertragen: Angelo FUMAGALLI, Delle Antichità Longobardico-Milanesi Illustrate con Dissertazioni Dai Monaci Della Congregazione Cisterciense, Bd. 2, S. 349–350; ebenso in einem (offenbar nicht im Original erhaltenen) Beispiel aus Cluny von 967 Juli 19: per cultellum, festucam notatum, per vuantonem et vuasonem terrę, seu ramum arboris: Auguste BERNARD, Alexandre BRUEL, Recueil des chartes de l'abbaye de Cluny, 6 Bde., Paris 1876– 1896, hier Bd. 2, S. 319, Nr. 1230, und ebenda Bd. 4, S. 757–760, Nr. 3600 (1083 März 6). 99 ANGENENDT (Anm. 75), S. 157. 100 Avranches, Bibliothèque de la Ville, Ms. 210, fol. 25v; zur Handschrift siehe den Eintrag von M. BÉGIN in der Datenbank „Initiale“: http://initiale.irht.cnrs.fr/codex/792 mit umfangreicher Bibliographie und der Erwähnung von Ms. 159 (Chronique de Robert de Torigni) derselben Bibliothek, dessen Dekor von derselben Hand stammt; vgl. auch Amédée BOINET, L'illustration du cartulaire du MontSaint-Michel, in: Bibliothèque de l'école des chartes 70 (1909), S. 335–343, die betreffende Szene

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normannische Herzöge dem Kloster entzogen hätten und die Herzog Robert Courteheuse (reg. 1086–1106; dann in England gefangen; gest. 1134) 1127/33 rückerstattete. Jeweils rechts sind der Altar und darauf der Erzengel zu sehen. Gegen die bisher eher schwammigen Bildinterpretationen schlage ich vor: Oben könnte der Patron einem verzweifelt blickenden Mönch einen symbolischen Zweig zur performativen Güterübergabe reichen, den ein forsch herantretender Laie von ihm einfordert. In der unteren Szene träumt der liegende Herzog Robert vom Erzengel Michael. Reumütig (und gegen seine böse blickende Entourage) legt der Herzog daraufhin einen Handschuh, ein weiteres, oft als Symbol übergebenes Zeichen, auf dem Altar nieder. Die höchst narrativen Illustrationen des Chartulars von Mont-Saint-Michel belegen, dass der Darstellung von Rechtssymbolen und deren performativer Verwendung mediale Wirkung zugeschrieben wurde. Unklar ist die wechselseitige Stellung von – durch die Darstellung für den/die BetrachterIn aufgerufener – rechtssymbolischer Handlung und Urkunde, deren Text ab der folgenden Rectoseite in das Chartular eingetragen wurde. (Abb. 15, b) Hatte die in das Chartular kopierte Urkunde ebenfalls eine performative Rolle (traditio super altare)? Man muss sich entscheiden, ob man dem persuasiven Bild glauben will, oder der Urkunde, die von der eigenhändigen Unterschrift des Herzogs und den Zeugen als Beglaubigungsmittel spricht und Rechtssymbole und performatives Handeln mit keinem Wort erwähnt.101 Es gibt jedoch durchaus Belege, die Rechtssymbole und Urkunden zusammenbringen. Gar nicht so selten wird im Text von Urkunden erwähnt, dass ein benanntes rechtssymbolisches Objekt der Urkunde beigefügt wird. Einerseits wird die häufige, formelhafte Formulierung per festucam nodatum als auf der Urkunde befestigte festuca (die als Strohhalm gesehen wird) interpretiert.102 Andererseits nennt DU CANGE

|| Abb. 4 und S. 339–340; BOINET weist auf den Charakter des Buches hin, der eine Gründungserzählung mit einer Urkundensammlung verbindet. 101 Der Text der Urkunde foll. 26r–27v überliefert; vgl. Scripta. Base des actes normands médievaux: https://www.unicaen.fr/scripta/acte/1511. 102 Novum Glossarium (Anm. 96), Sp. 1317; schon 1856 hatte MICHELSON (Anm. 96), S. 12–13, freilich über (angeblich) gekerbte Stäbchen berichtet, die an Urkunden befestigt seien. Bloß können seine Angaben, die auch den performativen Vollzug beschreiben (S. 7–8), nicht verifiziert werden; ANGENENDT (Anm. 75), S. 149, übersetzt wie MICHELSON „gekerbter Holzstab“.

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Quellen, die Münze (nummus),103 Halm/Stab/Stäbchen (baculus, lignum)104 und weitere Objekte erwähnen105, die gemeinsam mit der jeweiligen Urkunde verwahrt werden sollen. Von allen durchaus glaubwürdigen Belegen konnte bisher erst eine erhaltene Urkundenausfertigung ermittelt werden, eine Urkunde, der gemäß dem Text von 1105 eine Münze beiliegen sollte, die heute freilich nicht mehr vorhanden ist.106

3.2.6 Festucae als Objekte Einen Spezialfall innerhalb der Rechtssymbole, die performativ tätig werden, wenn Besitz übertragen wird, bildet die festuca, denn Michael TANGL behauptete bereits 1906, eine festuca sei auf dem Testament Fulrads handgreiflich erhalten geblieben.107 Als ältestes und prominentestes Beispiel für eine an der Urkunde befestigte festuca wird die Erstausfertigung des Testaments von Abt Fulrad von Saint-Denis von 777/778, Herstal, genannt.108 Mittels vier Einschnitten ist auf Ausfertigung K 7, 1A ein Stäbchen befestigt. TANGL und MERSIOWSKY betrachten dieses Pergament mit den vier eigenhändigen Unterfertigungen und dem (wortlos) beigefügten Stäbchen sicher zu Recht als Erstausfertigung.109 (Abb. 16a) TANGL sieht in dem Stäbchen einen Ersatz für die fehlende Besiegelung. Das Stäbchen ist mit dem Subskriptionszeichen des Schreibers in der Datierungs- und Schreiberzeile ganz am unteren Ende verbunden. Die tironischen Noten, die Teil des bienenkorbartigen Zeichens sind, wurden von TANGL mit

|| 103 DU CANGE (Anm. 93), S. 884: 1105: Et in testimonium huius donationis nummus iste huic cartae appensus est, quum per ipsum donatio ista facta est: Charta Roberti Lingonensis Episcopi apud Perardum pag. 200 (vgl. zu diesem Stück Anm. 106). 104 DU CANGE (Anm. 95), S. 884: 1140: cum baculo praesenti paginae insuto: Charta Ludov. VII. pro Eccl. Deiparae Santonensi (Saintes) (M. MOREAU, Sur le cartulaire de Sainte-Marie de Saintes, 1841, S. 38); per quoddam lignum, quod huic pergameno conjunctum est: Tabularium Angeriacense, fol. 48. 105 DU CANGE (Anm. 95), S. 884: 1104: cum quodam fusili, huic Chartae inhaerente: Tabulario S. Hilarii Magni Pictav; 1000: per corrigiam in hoc pergameno pendentem: Tabulario S. Eparchii Inculismensis; cum junco qui in ora cartulae insuitur: Chartul. S. Joan. Angeriae, fol. 32r. 106 Chaumont, Archives departémentales Haute-Marne, 24 H 1: Von M. COURTOIS im Online-Katalogisat trotz anhangendem Siegel als „douteux“ und „Pseudo-Original“ eingestuft: http://www.cntelma.fr/originaux/charte191/. 107 Michael TANGL, Das Testament Fulrads von Saint-Denis, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 32 (1906), S. 170–217, hier S. 186; und rezent z. B. STIELDORF (Anm. 70), S. 12. 108 Das Testament ist in drei Ausfertigungen überliefert: Paris, Archives nationales, K 7, No 1, N° 1A und N° 1B. 109 MERSIOWSKY (Anm. 75), S. 458–459, fasst die aktuelle Forschung zusammen und klassifiziert K 7, No 1, als Kopie der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts – TANGL (Anm. 107), S. 187–193, hält die Unterschrift Fulrads auf diesem Stück noch für autograph – und K 7 No 1B, als Kopie eines weiter ins 9. Jahrhundert weisenden Schreibers.

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Ego A-da-ru-ul-fus scripsi et subscripsi transkribiert.110 Auch Fulrad, der bestätigende Maginarius und Haimardus verwenden Subskriptionszeichen. Als weitere graphische Zeichen der Ausfertigung sind das dem Text links vor dem Schriftblock vorangestellte, aus einem langen vertikalen Strich und Wellenlinien bestehende Chrismon und die Signa der Zeugen zu erwähnen. Neben diesen konventionellen, hundertfach belegten urkundenspezifischen graphischen Zeichen (in der Projektterminologie ‚Niveau 3‘ – siehe Anm. 7) wirkt das Stäbchen links unten unauffällig. War es tatsächlich Teil einer Performance? Die Datumszeile vermerkt aber immerhin, der Rechtsakt sei actum publice (pullice sic) vollzogen worden; das für Performanz notwendige Publikum war also anwesend. Dass das erhaltene Objekt jedoch damit zusammenhängt, muss eine Behauptung bleiben. An zwei weiteren Urkunden, nun des 11. Jahrhunderts, finden sich ebenfalls Holzstückchen. Zuerst eine undatierte Urkunde des Odalricus, seines Bruders Gauffredus und ihrer Familien, die eine Besitzschenkung in Sivignon und Ruffey an die Abtei Cluny beurkundet.111 Als Entstehungszeit haben bereits Ende des 19. Jahrhunderts Auguste BERNARD und Alexandre BRUEL die Zeitspanne von 993–1048 bestimmt. Rechts unten ist ein kleines Stäbchen, etwa zwei Schriftzeilen hoch, mittels einer Schnur am Pergament befestigt. (Abb. 16b) Noch unauffälliger ist das Objekt, das in eine 1058 datierte Urkunde gesteckt wurde, die die Schenkung eines Stück Landes (terre) an die Abtei Saint-Victor in Marseille beurkundet, das in der Gegend (territoire) von Muy in der Grafschaft Fréjus liegt und auf dem eine Mühle errichtet werden kann. Schenker sind Adalbert, sein Bruder Bertrand, Bischof von Fréjus, deren Mutter Adias, Adalberts Frau Ermengarde, sowie deren Söhne Pierre, Hughes und Guillaume.112 Leicht aus der Mitte der EschatokollZone gerückt, zwischen den Unterfertigungen von Bertram und Robert, ist ein Holzspan in eine winzige, durch zwei Einschnitte gebildete Schlaufe des Pergaments eingesteckt, der kaum größer als eine Textzeile ist. (Abb. 16c) Wie beim Testament Fulrads wird auch in diesen beiden Fällen, weder auf das beigefügte Objekt eingegangen, noch der Begriff festuca oder irgendein anderer, der || 110 TANGL (Anm. 107), S. 210. 111 Paris, Bibliothèque nationale de France, Bourgogne 77, No 82/1: http://archivesetmanu scrits.bnf.fr/ark:/12148/cc92402h/cd0e1460; BERNARD, BRUEL (Anm. 98), Bd. 3, S. 221, Nr. 2008; Hartmut ATSMA u. Jean VEZIN, Les plus anciens documents originaux de l'abbaye de Cluny (Monumenta paleographica medii aevi, series gallica), 3 Bde., Turnhout 1997–2002, hier Bd. 3, S. 89–91, Nr. 81; Cédric GIRAUD, Jean-Baptiste RENAULT u. Benoît-Michel TOCK (Hgg.), Chartes originales antérieures à 1121 conservées en France. Nancy: Centre de Médiévistique, Jean Schneider (éds électronique: Orléans: Institut de Recherche et d'Histoire des Textes), 2010: Telma, Acte n° 1675 (M.-J. GASSE): http://www.cn-telma.fr/originaux/charte1675/; die Urkunde besprochen und in einen umfassenden Kontext gestellt bei Arnoud-Jan BIJSTERVELD, Do Ut Des. Gift Giving, Memoria, and Conflict Management in the Medieval Low Countries, Hilversum 2007, S. 76–77. 112 Marseille, Archives départementales Bouches-du-Rhône, 1 H 36, no 168: http://www.cntelma.fr/originaux/charte4196/.

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auf ein Rechtssymbol hinweist, verwendet bzw. ein Bezug zu rechtssymbolischen Handlungen hergestellt. Als Zwischenergebnis verbleibt die nüchterne Feststellung, dass sich drei Originalausfertigungen von Urkunden des 8. bis 11. Jahrhunderts erhalten haben, denen unauffällige Stäbchen beigefügt wurden. Dies geschah sicher nicht zufällig, sondern intentional. Es gibt keinen Hinweis, dass diese Objekte erst nachträglich an den bereits ausgestellten Urkunden befestigt wurden. Welche Funktion diese Stäbchen hatten, bleibt im Dunkeln. Es gibt keinen erkennbaren Bezug zwischen Text und Objekt. Rechtsnotwendig für die Beurkundung kann das Objekt nicht gewesen sein. Ob die Stäbchen oder etwaige andere Objekte davor einen Beitrag zur performativen Besitzübertragung geleistet haben – und dabei sogar ‚rechtsetzend‘ wirkten, also eine rechtssymbolische Vorgeschichte hatten –, muss eine Spekulation bleiben. Auch wenn die intendierte Wirkung der beigefügten Stäbchen unbekannt bleibt, ist offensichtlich, dass sich jemand nicht unerhebliche Mühe machte. Er wollte zusätzlich zum Rechtsinhalt mit der Urkunde Wirkung erzielen. Die Stäbchen sind, medial betrachtet, ohne jeden Zweifel ‚Dekor‘, der auf den Betrachter der ‚archivierten‘ Urkunde wirken soll. Beigefügte Objekte bilden ein spannendes, viele Fragen aufwerfendes Randgebiet der Erforschung illuminierter, also mit medial wirksamem Dekor versehener Urkunden.

3.2.7 Urkunden als Blickfang In den zuletzt behandelten Beispielen standen performativer Rechtsakt und Urkunde in einer gewissen Konkurrenzsituation. Es gibt aber auch Urkunden, die selbst im Mittelpunkt stehen und primär als Schauobjekte oder sogar als Plakate funktionieren. In den folgenden Fällen verschiebt sich der Schwerpunkt vom Rechtsinhalt auf das Mediale. 3.2.7.1 Theophanu (972): Purpur, Fest und das Fremde Ältestes Beispiel ist die Dotalurkunde für Theophanu.113 Ihr Aussehen – Purpur, Goldschrift, gemalter Rahmen – entspricht dem Ottonianum von 962, das bereits wegen des (vermeintlichen) performativen Kontextes behandelt wurde (Abschnitt 3.2.4.3.). Der performative Gebrauch der Theophanu-Urkunde muss jedoch ein grundlegend

|| 113 Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Wolfenbüttel, 6 Urk. 11: http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/972-04-14_Wolfenbuettel/charter; grundlegend ROLAND u. ZAJIC (Anm. 1), S. 246–252. Zuletzt aber leider wenig befriedigend: Bruno REUDENBACH, The ’Marriage Charter‘ of Theophanu. A Product of Ottonian Manuscript Culture, in: manuscript cultures 10 (2017), S. 15–30.

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verschiedener gewesen sein, denn nun kommt der interkulturelle Aspekt hinzu. Auffällig ist, dass der einzige sofort auffallende formale Unterschied zwischen dem Ottonianum und der Dotalurkunde in den unter den Text geblendeten Tierkampfmedaillons besteht.114 Und gerade diese sind es – wohl als einziges Element –, die tatsächlich den oft behaupteten byzantinischen Einfluss belegen. Byzanz hat wohl vermittelt, um den Kulturtransfer zu ermöglichen: Die Tierkampfmedaillons der Urkunde von 972 (Abb. 17a) verarbeiten ziemlich direkt sassanidische Silberarbeiten (Abb. 17b), wie – von der folgenden Forschung unbeachtet – bereits 1972 erkannt wurde.115 Alle anderen häufig dem byzantinischen Einfluss zugeordneten Formalia (purpurfarbenes Pergament, Goldschrift, etc.) sind schon im Ottonianum, einer zutiefst ‚westlichen‘ Urkunde, ausgebildet. Ich erfinde frei: Mehrere Galeeren brachten die junge Prinzessin nach Benevent. In Rom empfing Kaiser Otto die Gesandtschaft; beide Parteien schienen sich mit dem Prunk der Gewänder und Geschenke übertrumpfen zu wollen. Am Tag des Festes versammelte man sich vor der Kirche. Der Bräutigam übergab in Anwesenheit seines Vaters eine prunkvolle purpurne Rolle, zusammengehalten durch ein schweres goldenes Siegel. Der Vertreter des Basileus öffnete das Dokument, hielt es hoch, verneigte sich vor dem Kaiser und gab es an einen Lateinkundigen in seinem Gefolge weiter. Die zukünftigen Eheleute stellten sich nun nebeneinander und hörten den feierlichen Worten ergriffen zu. Erst dann traten ein Erzbischof aus Byzanz und der Papst hinzu und segneten das Paar. Johannes XIII. salbte Theophanu, um seinen Vorrang darstellen zu können, zur Kaiserin. Die Urkunde, auf deren Text man sich schon lange verständigt hatte, wurde Theophanu übergeben, die sie sorgfältig bewahrte. Das prunkvolle Dokument konnte so die unerträglichen Spannungen, die die Vertreter der uneinigen Kirchen aufgebaut hatten, überdecken. Recht und Kunst besiegten Zwist und Hader.116 Wenn dieses Narrativ nur annähernd die Situation einfängt, dann wäre die Urkunde, die von der UNESCO beinahe in das Weltkulturerbe aufgenommen wurde, einer der ganz seltenen Beispiele für das ursächliche Zusammenwirken von Performance und Dekor.

|| 114 Weniger auffallend aber dennoch beachtenswert ist, dass die kleinen Medaillons in der oberen Leiste des schmalen Zierrahmens, der beide Urkunden umgibt, nur bei der Dotalurkunde figürlich (mit Büsten) gefüllt wurden und dass nur dort auch zoomorphe Motive in den verbindenden Leistenstücken auftreten. 115 Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. Ausstellungskatalog Wolfenbüttel 1972, S. 49, Kat.Nr. 41: Sassanidischer Silberteller, Löwe schlägt Hirschkuh (5. Jh.): St. Petersburg, Eremitage, und Abb. S. 88 (Foto nach; Josef ORBELI, Sāsānian and Early Islamic Metalwork, in: Arthur U. POPE u. Phyllis ACKERMANN, A Survey of Persian Art. From Prehistoric Times to the Present, London [u. a.] 1938, Bd. 1, Text, S. 716–770, bes. S. 741–742, und Tafel 220). 116 Manche Behauptungen durch chronikale Quellenbelege hinterfüttert, die die Regesta Imperii bereitstellen: RI II,2 n. 597e: http://www.regesta-imperii.de/id/0972-04-14_1_0_2_2_0_78_597e.

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3.2.7.2 Sammelablässe und Schlaufen War die Dotalurkunde für Theophanu offensichtlich ein für ein ganz bestimmtes Ereignis geschaffenes, also anlassbezogenes Einzelstück, so wird die Plakatfunktion bei Sammelablässen zum Massenphänomen.117 Schon 1923 hat Pierre-François FOURNIER diese Urkunden als Affiches (Plakate) bezeichnet.118 Dass dies eine naheliegende Vermutung ist, zeigen die zahlreich festgestellten, bisher jedoch unbeachtet gebliebenen Schlaufen, die der Befestigung der großformatigen Pergamente dienten. (Abb. 18) Deutlich wird, dass Ablassurkunden – anders als die Dotalurkunde – ihre performative Wirkung nicht während des rechtsetzenden Aktes entfalteten, sondern über lange Zeit verwendet wurden. Ein frühes, 1287 in Rom ausgestelltes Beispiel – noch ohne figürlichen Dekor und Farben –, ist eine Sammelindulgenz für das Spital in Regensburg119, bei der drei Pergamentschlaufen an der oberen Kante der Urkunde befestigt wurden.120 (Abb. 18g) Ein schon reich illuminiertes Exemplar, 1333 in Avignon für Schildesche ausgestellt, hat sich in Münster erhalten.121 Hier wurden Pergamentstreifen hinten auf die Urkunde gelegt und vernäht.122 (Abb. 18e) Bei einem Ablass für das Nikolausstift zu Aken123 wurde, wie Gabiele BARTZ beschreibt, eine ganz spezielle Technik mit schmalen Pergamentstreifen und Vernähungen angewendet, die Schlaufen bilden, die eindeutig zum Aufhängen dienten.124 (Abb. 18a) Bei einem

|| 117 Die Bestandsgruppe ‚Bischofsammelablässe‘ wurde in der Datenbank ‚Illuminierte Urkunden‘ (Anm. 5) als eigene Untergruppe vor allem von Gabriele BARTZ und Markus GNEISS bearbeitet: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkundenBischofsammelablaesse/collection; vgl. auch den entsprechenden Beitrag von Gabriele BARTZ in diesem Band. 118 Pierre-François FOURNIER, Affiches d'indulgence manuscrites et imprimées des XIVe, XVe et XVIe siècles, in: Bibliothèque de l'école des chartes 84 (1923), S. 116–160. 119 Regensburg, Archiv des Katharinenspitals, Urk. 26: http://monasterium.net/mom/Illuminier teUrkunden/1287-03-21_Regensburg/charter. (Martin ROLAND, Gabriele BARTZ). 120 Ebenfalls für das Katharinenspital in Regensburg wurde ein weiterer Sammelablass ausgestellt, der eine ganz ähnliche Aufhängung hat (Abb. 18h): http://monasterium.net/mom/IlluminierteUr kunden/1300-99-99_Regensburg/charter. 121 Münster, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv, Abteilung Westfalen (ehem. Staatsarchiv Münster), 1.4.3.2., Stift Schildesche, Nr. 64 (seit neuestem: Urkundenselekt, Ablassbriefe, Nr. 1): http://mo nasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1333-05-31_Muenster/charter (Markus GNEISS, Martin ROLAND, Gabriele BARTZ). 122 Durchaus vergleichbar ging man bei einem Ablass von 1346 für Schmidtstedt bei Erfurt vor (Abb. 18f): Mühlhausen, Stadtarchiv, Urkunde Nr. 0/431: http://monasterium.net/mom/Illuminier teUrkunden/1346-07-17_Muehlhausen/charter (Markus GNEISS, Martin ROLAND, Gabriele BARTZ). 123 Magdeburg, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt – Abteilung Magdeburg, U 4a, Aken Stift St. Nikolai, Nr. 21: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1335-04-06_Magdeburg/charter (Markus GNEISS, Gabriele BARTZ). 124 Im Detail BARTZ (Anm. 117), S. 247 Anm. 41; durchaus vergleichbar ging man bei einem späten Ablass von 1355 für eine Kapelle außerhalb der Stadtmauern von Hannover vor (Abb. 18b): Hannover, Stadtarchiv, Bestand 1.AA.1.01 Nr. 208: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/135506-14_Hannover/charter (Markus GNEISS, Gabriele BARTZ).

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Ablass von 1347 für St. Ludgeri in Helmstedt125 wurden an drei Stellen Schnüre befestigt. (Abb. 18c, d) Die Technik und die für die Schlaufen verwendeten Materialien sind verschieden, der Zweck, das Aufhängen der Urkunden-Plakate, ist aber jeweils eindeutig. Die vorgestellten Bischofsammelablässe wurden von den 1280er Jahren bis 1364 ausgestellt. Nach einer Pause griffen Gruppen von Kardinälen die Praxis wieder auf und stellten für Lokalkirchen Ablässe aus.126 Erste Beispiele sind aus der Zeit des Konzils von Konstanz bekannt, einer davon wurde auch farbig illuminiert.127 Die Verbreitung blieb jedoch vorerst gering.128 Eine kontinuierliche Produktion setzt erst ab den mittleren 1470er Jahren ein.129 Höhepunkt ist das Heilige Jahr 1500. Anders als bei den Avignoner Stücken dominieren die illuminierten Ausfertigungen nicht so stark, viele Plakate wurden bloß mit konturiertem Ausstellernamen ausgeliefert.130 In Avignon konnte eine ‚Werkstatt‘ namhaft gemacht werden, die die Produktion der Sammelablässe organisierte und auch für den Dekor verantwortlich war131, bei den Kardinalsammelindulgenzen hingegen wurde die Illuminierung offenbar in verschiedene römische Werkstätten ausgelagert. Nach 1525 werden nur noch vereinzelt Kardinalsammelablässe ausgestellt.132

|| 125 Wolfenbüttel, Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Wolfenbüttel, 12 Urk., Nr. 85: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1347-08-28_Wolfenbuettel/charter (Markus GNEISS, Martin ROLAND, Gabriele BARTZ). 126 Vgl. Kardinalsammelindulgenzen unter: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden Kardinalsammelindulgenzen/collection; diese Gruppe ist noch nicht umfassend bearbeitet; die Materialsammlung ist daher bloß als vorläufig zu betrachten. 127 1418 Jänner 15 für St. Ignatius in Mainz: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkun den/1418-01-15_Darmstadt/charter. 128 Ein weiterer illuminierter Kardinalsammelablass wurde 1459 Oktober 12 während des ‚Konzilsʻ von Mantua für die St. Leonhardskirche in Abtei (Südtirol) ausgestellt und von einem jedenfalls französisch inspirierten Illuminator ausgestattet: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkun den/1459-10-12_Abtei/charter. 129 Als beliebiges Beispiel wurde während des Vortrages ein 1480 Februar 25 in Rom ausgestellter illuminierter Kardinalsammelablass für St. Georgenberg im Tiroler Inntal gezeigt. Der Ablass war Teil der Homepage des Stiftes St. Georgenberg–Fiecht, ist aber nicht mehr zugänglich. Dank des Fortschritts des Projekts kann jetzt schon auf die in Anm. 126 genannte Sammlung verwiesen werden. Als beliebiges Beispiel sei ein 1475 Dezember 16 in Rom ausgestellter Sammelablass für die Niklaskapelle in Steyr genannt: Linz, Oberösterreichisches Landesarchiv, Deposita, Enns, St. Laurenz, E/11: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkundenKardinalsammelindulgenzen/1475-1216_Linz/charter. 130 Als Beispiel sei ein Ablass von 1500 April 7, Rom, für die Thomaskapelle am Pass Thurn genannt: Kärntner Landesarchiv, Allgemeine Urkundenreihe, sub dato: http://monasterium.net/mom/ATKLA/AUR/AT-KLA_418-B-A_1604_St/charter. 131 Siehe BARTZ (Anm. 117). 132 Alexander SEIBOLD, Sammelindulgenzen. Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, Köln [u. a.] 2001, S. 115–136.

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Man muss freilich zugeben, dass über die performative Verwendung selbst kaum etwas bekannt ist. Dass die Urkunden an jedem der mitunter sehr zahlreichen Ablasstage vorgezeigt wurden, darf als ausgeschlossen gelten, denn das hätte die Urkunden über die Jahre unweigerlich zerstört. Wahrscheinlicher ist, dass die Urkunden entweder permanent aushingen oder aber an zentralen Festtagen, etwa dem Kirchweihfest, vorgewiesen wurden. Gabriele BARTZ nennt französische Quellen, die das Annageln von Ablässen unter anderem an Kirchentüren wahrscheinlich machen.133 Ein Wiener Beispiel aus dem frühen 16. Jahrhundert belegt zudem einen konkreten Einzelfall: Ein am 15. Jänner 1512 von einer Gruppe von Kardinälen ausgestellter Sammelablass wurde zumindest einmal im Jahr öffentlich aufgehängt, auch um, unter anderem, diejenigen zu überzeugen, die zweyfel an ihm haben.134 Eine gewisse optische Vorstellung vom performativen Gebrauch vermittelt die protestantische Bildpropaganda. Martin Luther wendete sich zwar gegen eine deutlich andere Form des Ablasses135 und nicht gegen jene lokal gebundenen Sammelablässe, die beim Besuch einer so begabten Kirche durch Vollzug bestimmter Werke gewonnen werden konnten. Trotzdem sind Ablassurkunden mit vielen Siegeln, also die Sammelablässe (Papsturkunden, die Urkunden, mit denen diese durch Ablasskommissare verkündet wurden, und die darauf beruhenden Beichtzettel hatten ja jeweils nur ein Siegel), zur zentralen Bildformel für das Ablassunwesen geworden. Abb. 19 kombiniert einen vor 1536 entstandenen satirischen Einblattdruck wohl von

|| 133 Siehe BARTZ (Anm. 117) S. 236. 134 Vermerk im Bruderschaftsbuch der Gottsleichnamsbruderschaft zu St. Stephan in Wien, der bei einer Paraphrasierung des Inhalts eines (nicht erhaltenen) Kardinalsammelablasses vom 15. Jänner 1512 hinzugefügt wurde: Der zweyfel am solhem antlas trueg, mag solch unser bullen, so alle jar auff das mynst ainstten aufgeschlagen, darumbe schawen und lesen. Wien, Dom- und Diözesanarchiv, Bruderschaftsbuch der Gottsleichnamsbruderschaft, fol. 8r; ich danke Markus Gneiß für diesen wichtigen Hinweis. Diese ‚Identifikationshandschrift‘ der Bruderschaft enthält auch eine detaillierte Schilderung, wie die ‚Bestätigungsurkunde‘ der Bruderschaft von Papst Julius II. (1507 Oktober 1, Rom) und ein Kardinalsammelablass (1507 Februar 20, Rom – beide Urkunden scheinen, so wie auch der Ablass von 1512, nicht erhalten zu sein) in Wien eintrafen und wie der Papstbrief (und der Sammelablass?) am 28. Dezember 1508 in feierlicher Prozession in die Stadt gebracht wurde (foll. 2v–4v); vgl. einen durchaus ähnlichen Bericht von Johann Heynlin, der 1478 in Bern als Ablassprediger auftrat: HONEMANN (Anm. 12), S. 7. 135 Die aus heutiger Sicht berechtigte Kritik Luthers richtete sich gegen Plenarablässe, die auf päpstlichen Urkunden beruhen, die in regionalen Kampagnen aufwendig publiziert wurden und bei denen man Beichtbriefe, die den Erlass der im Fegefeuer zu verbüßenden zeitlichen Sündenstrafen aus dem Gnadenschatz der Kirche versprachen, käuflich erwerben konnte; vgl. dazu Martin ROLAND u. Markus GNEISS, Wie wir sündige Menschen in den Himmel kommen – Gedankensplitter zu Ablass und Fegefeuer, in: Bilderpracht und Seelenheil. Illuminierte Urkunden aus Nürnberger Archiven und Sammlungen, Nürnberg 2019, S. 39–44, bes. S. 40.

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Matthias Gerung136, der einen Teufel über einer Urkunde hockend zeigt, die durch viele anhangende Siegel ausgezeichnet ist, mit einem elektronisch hineinmontierten Kardinalsammelablass.137 Die übliche Ikonographie ist jedoch, dass auf einer Stange eine Urkunde mit vielen Siegeln hochgehalten wird, während darunter der Ablasshandel mit vielen Beichtbriefen und hohen Haufen von Münzen stattfindet.138 Nimmt man die Performativität, das Herzeigen, das sich durch Hängevorrichtungen belegen lässt (Abb. 18), und den Dekor der betreffenden Urkunden in den Blick, dann muss man konstatieren, dass es durchaus auch nicht ausgemalte Ablässe gibt, die über Schlaufen verfügen (Abb. 18 e–g). Performanz und Dekor laufen beide auf das Publikum zu, sie bedingen einander aber offenbar nicht. 3.2.7.3 Plakate mit Urkunden im Bild Sammelablässe sind das Synonym für Urkunden, die auch als Plakate funktionieren. Sie sind aber keineswegs die einzige Form, bei der Urkunden plakativ ausgeschlachtet werden, wie die italienischen Beispiele dieses und des folgenden Abschnitts belegen. Plakate wie jenes, das die Bruderschaft der Misericordia in Pisa wohl um 1380 herstellen ließ139, integrieren den grundlegenden Stiftungstext als gleichsam darauf liegendes Schriftstück in ihre Bild-Textbotschaft. (Abb. 20a) Das mediale Objekt präsentiert eine angeblich 1053 ausgestellte Urkunde. Die Bruderschaft bediente sich des besten zur Verfügung stehenden Künstlers, immer wieder wird auf Francesco Traini verwiesen. Das Plakat ist wie das Wandfeld eines Freskos organisiert: oben mittig die zentrale religiöse Botschaft (hier der Gnadenstuhl), darunter kleinteilige Szenen, die aber ebenfalls thematisch fokussiert sind. Das Plakat stellt die Abbildung der vermeintlichen Gründungsurkunde ins Zentrum, bei dem als Vergleich herangezogenen Fresko von Andrea Bonaiuto (siehe unten), nimmt diese Position die Kirche Santa Maria Novella in Florenz ein.

|| 136 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graphische Sammlung, HB 24.458: http://objektka talog.gnm.de/objekt/HB24458; Bilderpracht und Seelenheil (Anm. 135), S. 214–215 (Kat.-Nr. G7: Martin ROLAND). 137 Vorlage für den hineinmontierten Sammelablass ist der in Anm. 128 erwähnte Ablass für St. Georgenberg. 138 Vgl. ein um 1530 entstandenes Spottbild auf den Ablasshandel von Jörg Breu: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graphische Sammlung, HB 15.080: http://objektkatalog.gnm.de/ob jekt/HB15080; Bilderpracht und Seelenheil (Anm. 135), S. 213 (Kat.-Nr. G6: Martin ROLAND); dort wird auch ein weiterer themengleicher Holzschnitt Gerungs erwähnt: online unter http://germanhistory docs.ghi-dc.org/sub_image.cfm?image_id=3300&language=german. 139 Pisa, Museo Nazionale di San Matteo (ehem. Ente Comunale di Assistenza): http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1380_Pisa/charter (Martin ROLAND).

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In Spoleto passierte dasselbe: Ein zentraler Urkundentext, hier eine Papsturkunde Nikolaus’ III. von 1278, wird medial präsentiert.140 (Abb. 20b) Vieles an diesem (bald?) nach dem 19. September 1343 entstandenen, sonderbaren Stück ist unklar141; nicht zuletzt können die Auftraggeberinnen (monasterium monalium sancte Marie de Civitella vel del Monte) heute nicht mehr zweifelsfrei identifizieren werden. Wieder wird eine Tierhaut ganz ausgenützt, was zu einem unregelmäßigen Umriss führt.142 Wieder wird ein Gesamtkunstwerk aus Bild und Text hergestellt. Die Bildbotschaft bezieht sich in diesem Beispiel nicht auf den Inhalt oder die Empfänger. Den Auftraggeberinnen war es offenbar wichtig, zu zeigen, dass sie mit Papst und Kurie in enger Verbindung stehen. Dazu wählten sie eine ganz neue Ikonographie der Kurie. Wie im Fresko des ehemaligen Kapitelsaals143 von Santa Maria Novella in Florenz, 1365/67 von Andrea Bonaiuto (gest. 1377) ausgemalt, sieht man den damals sich gerade durchsetzenden Galero, den flachen Hut der Kardinäle. In dem hier behandelten Zusammenhang ist wichtig, dass die Plakatpropaganda äußere Merkmale der Papsturkunde (Rota und Benevalete) und die topmoderne Kleidung der Kurie (Galero und dreireifige Tiara) in einem notwendig öffentlich zu sehenden Schaubild kombinierte, um die Zwecke der Nonnen zu erreichen. 3.2.7.4 Urfehde und Wappenplakat-Urkunde Das dritte italienische Plakat des 14. Jahrhunderts verbindet Dekor und dessen performative Verwendung sogar ursächlich und ist zudem als einziges der drei Beispiele eine zweifelsfrei rechtsgültige Urkunde. Über das Werben im öffentlichen Raum hinaus erlangte das Urkundenplakat eine praktisch performative Funktion. Am 12. November 1361 schworen 106 ‚deutsche‘ Ritter dem Hugolino Gonzaga, Stadtherren von Mantua, Urfehde und verpflichteten sich zudem, ein Jahr lang nicht als Reiter Kriegsdienst gegen Barnabo und Galeazzo Visconti zu leisten.144 (Abb. 21) Das wäre alles || 140 Paris, L’École national supérieure des Beaux-arts, Mn. Mas. 233: http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1343-09-19_Paris/charter (Martin ROLAND). 141 Das Datum “1343 September 19, bald nach” ergibt sich aus einer mit dem Papstbrief von 1278 November 26 überlieferten Bischofsammelindulgenz von 1341 Mai 31, Avignon, und deren Bestätigung durch den Bischof von Spoleto, die am 19. September 1343 erfolgte und somit den Terminus post quem festlegt. 142 Diese Gestaltungsweise erscheint ungewöhnlich und ist auch nördlich der Alpen nicht verbreitet. Als weiteres italienisches Beispiel kann eine Urkunde Herzog Amadeusʼ VI. von Savoyen von 1382 Jänner 29 benannt werden: Turin, Archivio di Stato, Corte, Materie ecclesiastiche, Archivescovadi stranieri, Vescovado di Losanna, mazzo 1, fasc. 5: http://monasterium.net/mom/Illumi nierteUrkunden/1382-01-29_Turin/charter. 143 Heute wird der Raum als Spanische Kapelle (Cappellone degli Spagnoli) bezeichnet. 144 Mantua (Mantova), Archivio di Stato, Archivio Gonzaga, busta 48, c. 10 (inkl. gleichzeitiger Pergamentkopie): Notariatsakt des Mantuaner Notars Matteo de Leonibus über die von 106 deutschen Rittern unter dem Henrichus de Eglingen, miles et capit(aneus) dem Hugolino Gonzaga geschworene Urfede. http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1361-11-12_Mantua-Mantova/charter

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nichts Besonderes, schaute die Urkunde nicht aus, wie sie aussieht: nämlich eine Urkunden-Schautafel, die es auf Grund der aufgemalten Wappen ermöglichte, zu ermitteln, wer nicht in der Schlacht auftauchen darf. Die Urkunde wirkt also wie ein Verbotsschild der Straßenverkehrsordnung.145 Dass die auf die Urkunde gemalten Wappen tatsächlich der Identifikation im Kampf dienten, wird ausdrücklich im Text erwähnt: insignia nostra, que in actibus militaribus nos fecimus, fecimus hic dipingi, ac sigillorum nostrorum in salimbachis pendentibus impressorum munimine roborari.146 Für diesen speziellen Kontext eine illuminierte Urkunde mit allen Wappen zu konzipieren, wird wohl auf die Kämpfer Eindruck gemacht haben. Das Wappen war – ins Heute übertragen einem Fußballdress vergleichbar – nicht nur Erkennungszeichen, sondern auch Ausdruck einer Wertegemeinschaft. 3.2.7.5 Plakat und Schande Die Plakatfunktion, performativ gesprochen also das öffentlich ‚Angaffen‘, wird auch in zwei negativ konnotierten Bereichen genutzt, um jemanden oder etwas als ‚schlecht‘ bloßzustellen. 3.2.7.5.1 Schmähbriefe Schmähbriefe und Schandbilder sind ab etwa 1400 Teil eines genau geregelten prozessualen Ablaufs, also keineswegs Willkür. Nachdem eine Schuld nicht beglichen wurde, wird diese eingefordert und erst nach mehreren Fristen steht es dem Gläubiger offen, den Schuldner öffentlich zu verunglimpfen.147 Was auf den ersten Blick wie eine Vorform willkürlichen ‚Cyber-Mobbings‘ wirkt, ist ein grenzgeniales, weil sehr effizientes Rechtsinstrument. Das Bild als Medium verstärkte die verbalen Verunglimpfungen bis tief ins 16. Jahrhundert. Es werden verschiedene Bildformeln ver-

|| (Martin ROLAND); zu den historischen Umständen siehe Karl Heinrich SCHÄFER, Eine Wappenurkunde deutscher Ritter in Italien (106 Schilde des 14. Jahrhunderts in frühgotischer Heraldik gemalt), Paderborn 1911. SCHÄFER weist auch auf zwei weitere identisch konzipierte Urkunden hin http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1361-12-29_Manua-Mantova/charter und http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1361_Manua-Mantova/charter, die 25 weitere ‚deutsche‘ bzw. 12 ungarische Ritter betreffen. 145 Die Straßenverkehrsordnung der Republik Österreich (Bundesgesetzblatt Nr. 159 aus 1960, S. 1897–1945) enthält Bestimmungen zu ‚Verkehrszeichen‘. Die entsprechenden Paragraphen (§ 50– §53 – S. 1913–1928) enthalten bildliche Darstellungen, die nicht Gesetzestext illustrieren, sondern vielmehr selbst Gesetz sind. Der Gesetzestext (heute gültige Fassung: https://www.ris.bka.gv.at) verzichtet auf die verbale Festlegung, das Bild hat also legistische Kraft aus sich selbst. Der Begleittext definiert, wofür das dargestellte Zeichen steht. 146 Zit. nach SCHÄFER (Anm. 144), S. 4. 147 Matthias LENTZ, Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ca. 1350 bis 1600), Hannover 2004, passim.

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wendet, aber – in dieser Beziehung schließen sich die folgenden Beispiele an den zuvor behandelten Urfehdebrief zwanglos an – das Wappen als mit Ehre behaftetes Bildzeichen steht oft im Fokus. Von 1419 bis 1421 lief ein Prozess, den Graf Johann III. von Nassau-Dillenburg gegen Herzog Johann von Bayern, Graf zu Holland, betrieb.148 Johann von Bayern hatte sich in einer Urkunde vom 21. März 1418 bei seiner fürstlichen Ehre verpflichtet, dem Junggrafen von Nassau wegen geleisteter Kriegsdienste bis zum 25. Juli 1418 eine Summe von 5000 Rheinischen Gulden auszuzahlen, kam aber seinen Verpflichtungen nicht nach. Würde der Bayer die gerichtlichen Zurechtweisungen und das angedrohte ‚Gemälde‘ ignorieren, wolle der Nassauer alljährlich vor allen Scharfrichtern, Henkern und Dirnen Klage führen, damit die Schlechtigkeit seines Gegners unvergessen bliebe. Dazu wolle er ihn „in derselben Figur“ an seiner „Lanze führen“ (an miner geleven voyren). Dargestellt ist eine Sau, auf deren After der wortbrüchige Herzog sein Typar – farbig wie ein Wappen – abdrückt. (Abb. 22) Eine Bildfindung, die sich als Stereotyp für Unehrenhaftigkeit von Standespersonen tief im allgemeinen Bildgedächtnis verankert hat. Schmähbriefe sind wegen der angestrebten öffentlichen Verbreitung systemisch anfällig für gedruckte Vervielfältigung.149 1461 ließ Benigna von Tanndorf an jeder Hausecke eine Druckgraphik anschlagen, deren handschriftlicher Text behauptet, der hier mit seinem gestürzten Wappen am Galgen hängende Nikolaus von Abensberg habe ihren Schmuck gestohlen.150 Urkunden werden hier – in den beiden Fällen je verschieden – öffentlich zur Schau gestellt. Ein Schicksal, dass man hinläufig nicht mit Urkunden in Verbindung bringt und das ursächlich mit der medialen Wirkung zu tun hat, die die angebrachten Bilder zu entfalten in der Lage sind. Wie bei dem ‚Urfehde-Wappenplakat‘ stehen ‚Angaffen‘, also das Performative, und das Bild in einem ursächlichen Zusammenhang.

|| 148 Wiesbaden, Hessisches Hauptstaatsarchiv, Abt. 170, Nr. 1026: http://monasterium.net/mom/Il luminierteUrkunden/1419_Wiesbaden/charter (Martin ROLAND) nach LENTZ (Anm. 147), S. 177–178. 149 Ein weiteres Beispiel besprochen von Martin ROLAND, Masse und Individualität. Illuminierte Urkunden zwischen individuellem Repräsentationsobjekt und breiter Wirkung, in: Jeffrey F. HAMBURGER u. Maria THEISEN (Hgg.), Unter Druck. Mitteleuropäische Buchmalerei im 15. Jahrhundert. Tagungsband zum internationalen Kolloquium in Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften, 13.1.– 17.1.2016, Petersberg 2018, S. 297–312, hier S. 304; vgl. auch LENTZ (Anm. 147), S. 211–212, ROLAND u. ZAJIC (Anm. 1), S. 413 und http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1487-02-22_Nuern berg/charter. 150 Unbekannter Verwahrungsort: http://www.monasterium.net/mom/IlluminierteUrkun den/1461-99-99_unbekannt/charter (mit älterer Bibliographie) (Martin ROLAND) nach LENTZ (Anm. 147), S. 198–200; der Beschuldigte, übrigens der Letzte seines Geschlechts, hat es sogar zu einem Wikipedia-Artikel gebracht (https://de.wikipedia.org/wiki/Niclas_von_Abensberg), in den am 4. März 2017 ein Verweis auf das Schandbild (und die Datenbank) eingefügt wurde.

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3.2.7.5.2 Münzverrufe Nicht nur Prozessgegner können ‚schlecht‘ sein, auch das Geld, das man bekommt, kann nicht ausreichend werthaltig sein. Nach den Vorläufern der Inkunabelzeit, die primär vor schlechten Münzen warnten (z. B. der „Münchener“ Münzverruf von 1482)151, kombiniert Herzog Albrecht IV. von Bayern in seiner Münzordnung von 1506 die Bekanntmachung von fünf neuen, von ihm geprägten werthaltigen Münzen und das Verbot der Ausfuhr des bayerischen Geldes mit der Warnung vor anderem minderwertigem Geld. Auf dieser Münzordnung beruht ein am Lichtmesstag (2. Februar) des Jahres 1507 datiertes Mandat152, das sich an seine Amtleute und alle wendet und das als ein in München bei Hans Schobser gedrucktes Einblatt vervielfältigt wurde.153 Hier öffnen sich Widersprüche, die zeigen, dass das Verhältnis zwischen besiegelter Originalausfertigung und notwendiger Veröffentlichung der Rechtsinhalte noch nicht gefunden ist, denn der Druck ist nicht (und war nie [?]), wie angekündigt (geben unnder unnserem secret), besiegelt. Dieselbe Unsicherheit gilt auch für die Rolle der Illustrationen. Der Text beschreibt die Münzen genau, weist aber nicht auf deren Abbildungen am unteren Rand des Blattes hin. Die Performanz wird hingegen genau festgelegt: Der Text soll von den Amtsleuten öffentlich verlesen werden und abschriftlich an Rathäusern und Kirchentüren affichiert werden. 3.2.7.6 Festschießen und andere Einladungen Die Einladung zu einer Festveranstaltung würde heute durch Plakatieren oder eine Postwurfsendung erfolgen. Um 1500 war die Praxis offenbar anders, wie ein urkundengemäß formuliertes ‚Amtsschreiben‘ vom 16. Oktober 1501 belegt. Bürgermeister und Rat der Stadt Köln bitten ihre Amtskollegen anderer Städte, deren Namen handschriftlich in den Einblattdruck einzusetzen sind, Schützen ihrer Städte zu einem Festschießen zu schicken.154 Oberhalb des umfänglichen, stark formelhaften Textes finden sich drei kolorierte Holzschnitte (das Vollwappen der Stadt Köln flankiert von einer Armbrust und einer Büchse), unterhalb ist eine Figur mit dem ‚Glückshafen‘ zu sehen. Während diese Elemente reiner Dekor sind und damit die Funktion als Plakat

|| 151 Münzverrufe mit Holzschnitten der inkriminierten Münzen sind ab dem Jahr 1482 bekannt; vgl. Falk EISERMANN, Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Wiesbaden 2004, Bd. 3, S. 640–647 (Z–6 bis Z–17). 152 Mandate wenden sich an eine mehr oder weniger breite Öffentlichkeit. Schon früh wurden Mandate daher durch typographische Einblattdrucke (seltener und später durch Libelle) vervielfältigt. Gedruckte Mandate mit Dekor aus der Inkunabelzeit (unter Ausnahme der erwähnten Münzverrufe) sind nur ganz vereinzelt bekannt geworden. 153 München, Bayerische Staatsbibliothek, Einblatt V 52: http://monasterium.net/mom/Illuminier teUrkunden/1507-02-02_Muenchen/charter. 154 Washington, National Gallery of Art, Rosenwald Collection, 1951.16.4: http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1501-10-16_Washington/charter; ROLAND (Anm. 149), S. 304– 305 (mit ganzseitiger Abbildung).

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bedienen, sind das aufgedrückte Wachssiegel unter Papierdeckel und die maßstäblich wiedergegebenen Längen und der Umfang der Schießscheibe durchaus – freilich auf ganz unterschiedlicher Weise – rechtsrelevant. Ab wann rechtsrelevante Maßangaben auf Urkunden dargestellt wurden, wurde meines Wissens noch nicht untersucht. Als frühes Beispiel ist ein, ebenfalls als typographischer Einblattdruck vervielfältigter ‚Schützenbrief‘ aus Schwäbisch Gmünd vom 3. November 1479 zu benennen, der zu einem Büchsenschießen am 9. Juli 1480 einlädt. Unterhalb des Textes aber oberhalb des Siegels wird ein auch ornamental ausgestalteter ‚Werkschuh‘ als Maßangabe eingemalt.155 Bemerkenswert ist, dass die benannten Beispiele und der erste mir derzeit bekannte Münzverruf mit Holzschnitten der inkriminierten Münzen von 1482 zeitlich nahe beieinander liegen.

|| 155 Ernst FREYS, Gedruckte Schützenbriefe des 15. Jahrhunderts in getreuer Nachbildung, München 1912, S. 11 und Tafel 5 in: EISENMANN (Anm. 151), Bd. 3, S. 441–442 (SZ?-22–23); http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/M40928.htm (mit Literatur); M 40927 ist eine inhaltlich identische typographische Variante. Der Text behauptet, das Maß sei gedruckt, der Augenschein der für Nördlingen ausgestellten Einladung (Stadtarchiv) zeigt freilich einen gemalten, an den Enden ornamental bereicherten Balken. Eine Abbildung (nach dem digital verfügbaren FREYS) unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schuetzenbrief_gmuend_freys1912_0044.jpg. – Schon der älteste bei FREYS benannte Schützenbrief einhält optische Größenreferenzen. Auf der am 1. September 1477 (auff sant Egiden tag) von Günther Zainer in Augsburg gedruckten Einladung nach Nördlingen ist unterhalb des Texts und des aufgedrückten Siegels eine aufgewickelte Schnur, die die Länge des ‚Werkschuhs‘ angibt, befestigt und rückseitig (am gefalteten Brief also außen) ist die Größe der Zielscheibe durch einen mit dem Zirkel gezogenen Kreis angegeben. Auf beide optischen Referenzen wird im Text erklärend eingegangen; FREYS, S. 9–10 und Taf. 1; EISENMANN (Anm. 151), Bd. 3, S. 239–240 (N–13); http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/M27196.htm. Erstmals signifikante, auch bereits figürliche Ausgestaltung weist ein von Johannes Schobser in Augsburg gedruckter Schützenbrief der St. Gallner auf, der am 1. März 1485 datiert ist. Das als Holzschnitt gedruckte Längenmaß ist als ornamentaler, von einem Schriftband umwundener Stab ausgestaltet, im Kreis, der die Scheibe bemisst, findet sich dichtes Rankenwerk mit Rankenkletterern, die die verschiedenen Wettkämpfe ausführen; FREYS, S. 12–13 und Taf. 13; EISENMANN (Anm. 151), Bd. 3, S. 428 (S-1); http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/M40203.htm; stilistisch verwandte Holzschnitte finden sich in Augsburger Drucken sowohl bei Schobser als auch bei Günther Zainer. Einen Überblick über die weitere Entwicklung geben, neben FREYS, vor allem Marcus OSTERMANN, „Vmb kurczweil vnd schiessens willen“. Zu den gedruckten Schützenbriefen des 15. Jahrhunderts, in: Volker HONEMANN u. a. (Hgg.) (Anm. 12), S. 397– 443, und http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/SCHUTZE.htm (jeweils auch mit den hier benannten Beispielen); Jean-Dominique DELLE LUCHE, »vmb vnsern willen euwer schieß gesellen her zu vns senden«. La communication entre les villes du Saint-Empire à l’occasion des concours de tir (XVe siècle): http://www.perspectivia.net/publikationen/discussions/11-2015/delle-luche_communication, mit allgemeinen Gedanken zu den Kommunikationsstrategien der Schützenbriefe; umfassend berichtet die Fallstudie von Kurt HANNEMANN, Das Stuttgarter Freischießen von 1501 im Spiegel der „Rhetorica“ des Pforzheimer Stadtschreibers Alexander Hugen von 1528, in: Neue Beiträge zur südwestdeutschen Landesgeschichte, Festschrift für Max Miller, Stuttgart 1962, S. 112–143.

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3.2.7.7 Plakat als optischer Referenzpunkt Die Maßangaben, die in den gerade besprochenen Schützenbriefen genannt werden, auch optisch wiederzugeben, hat viel Streit, der auf Grund der unterschiedlichen Normen vorprogrammiert war, hintangehalten. Dinge, die man wiedererkennen oder bemessen soll, darzustellen, wird zu einer probaten Lösungsstrategie, die bis heute angewendet wird.156 Als Beispiel sei die als Einblattdruck verbreitete bayerische Fischereiordnung für die Donau von 1528 genannt, die – maßstäblich dargestellt – die Mindestgrößen von Fischen, die gefangen werden dürfen, definiert.157 Dasselbe Prinzip wurde auch bei Kaiser Ferdinands I. Fischereiordnung von 1537 angewendet. Trotz des Urkundencharakters – Reste des aufgedrückten Siegels sind noch zu erkennen – steht die praktische Anwendung im Vordergrund. Die Bestimmungen sind – wie unlängst von fachkundiger Seite analysiert wurde – ‚praxistauglich‘.158 Und das gilt auch, wenn das am Markt operativ tätige Organ sich nach der Urkunde entsprechend lange Stäbchen angefertigt hat, die er mitnahm und die Urkunde zu Hause ließ. Die hier beschriebene Funktion setzt Maßstäblichkeit voraus. Genau deren Fehlen entlarvt die berühmte Fischereiordnung für die Donau von Kaiser Maximilian I. für den obersten Fischmeister Hannsen Wagner aus dem Jahr 1506.159 Als Urkunde ein handschriftliches Mandat ist sie primär ein Kunstwerk und als solches für einen Liebhaber geschaffen. Fischereiordnungen für die Donau gab es schon unter Kaiser Friedrich III., freilich als ganz unscheinbare Urkunden. Hier werden hingegen naturalistisch wiedergegebene Fische unter den Text gemalt; Kunstwerke, die Fritz KORENY, ein anerkannter Dürer-Experte und ehemaliger Kustos der Albertina, ganz zu Recht mit den Naturaquarellen Albrecht Dürers verglichen hat. Das Brittelmaß rechts unten und die sehr unterschiedlich großen Fische sind auf ein Maß gebracht. Aus Lust an der Freude wurde auch noch ein weiterer Fisch seitlich angefügt, als Zingel für Kundige sofort erkennbar, in der Fischereiordnung jedoch überhaupt nicht erwähnt; ein Kunstkammerstück von höchstem Wert, als Urkunde mit praktischem Nutzen jedoch unbrauchbar.

|| 156 Siehe die Bildkomponente in der Straßenverkehrsordnung der Republik Österreich (Anm. 145) und die Überlegungen zum Lichtbildausweis (Anm. 161). 157 München, Bayerische Staatsbibliothek, Res, Slg. Faust 10: Bayerische Fischereiordnung für die Donau von 1528: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00097322/image_1; die Ordnung von 1528 wird in der Bayerischen Landesordnung von 1553 von Herzog Albrecht V. wiederholt, die der in Anm. 158 zitierte Katalog auf S. 206 erwähnt. 158 Wien, Stadt- und Landesarchiv, Patente, Serie 3.6.A1/1.44: Ferdinand I., Fischereiordnung für die Donau in Oberösterreich, 1537 Februar 1: http://wais.wien.gv.at//archive.xhtml?id=Stu eck++00027804ma8Invent#Stueck__00027804ma8Invent (mit ausführlichem Regest von Michaela LAICHMANN); vgl. auch Matthias JUNGWIRTH u. a. (Hgg.), Österreichs Donau. Landschaft – Fisch – Geschichte, Wien 2014, S. 206–208; hier auch die im Folgenden besprochene Fischereiordnung von 1506 behandelt. 159 Wien, Stadt- und Landesarchiv, Hauptarchiv, Urk. 5825: http://monasterium.net/mom/Illumi nierteUrkunden/1506-02-24_Wien/charter (Martin ROLAND).

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Die besprochene Maßstäblichkeit erfuhr auch sehr unschöne Anwendungen. Am 1. August 1551 erlässt Kaiser Ferdinand I. ein als besiegelter Einblattdruck verbreitetes Patent, mit dem er die jüdische Bevölkerung der unter-, ober- und vorderösterreichischen Länder verpflichtet, einen gelben Ring sichtbar auf ihrer Kleidung zu tragen.160 (Abb. 23) Unter dem Text wird die gelbe Scheibe mit einem Loch in der Mitte dargestellt, um die Größe exakt zu bestimmen. Die praxistaugliche Anwendung von gegenständlichen Motiven, die auf der Urkunde abgebildet wurden, liegt auf einer deutlich anderen Ebene als die doch primär dekorativen oder repräsentativen Anwendungen von Dekor, die bisher behandelt wurden. Diese praxisorientierten illuminierten Urkunden finden bis heute Anwendung. Ein Portraitfoto im Pass oder im Führerschein ist die logische Weiterentwicklung der hier beschriebenen Sonderform illuminierter Urkunden.161 Die in diesem Abschnitt thematisierte Plakatfunktion illuminierter Urkunden ist sicherlich der Angelpunkt, der Performativität und Bild – sowohl Schönes aber auch Notwendiges – verbindet.

3.3 Zwischen Using und Keeping: die wiederkehrende Beschwörung Sich wiederholendes Using und dafür notwendiges Keeping vermischen sich bei den Beispielen des folgenden Abschnitts.

3.3.1 Schwörbriefe in Straßburg In Straßburg versammelten sich jedes Jahr im Jänner die Amtsträger und Bürger der Stadt vor der Kathedrale, um den Schwur auf das Verfassungsdokument zu erneuern (Schwörtag). Die Rolle der Urkunde bei dieser Aktion wird schon in der um 1360 verfassten Chronik des Fritsche Closener beschrieben: Und mahtent einen brief, noch deme man sollte sweren alle jor, daz vormals nüt gewonheit was, und sattent derin

|| 160 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Patente der Staatskanzlei (2), 211: http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1551-08-01_Druck/charter. 161 Zur Definition eines „amtlichen Lichtbildausweises“ siehe (für Österreich): https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/99/Seite.990001.html. Aus heutigem Kenntnisstand wurde 1876 erstmals auf der Centennial Exposition in Philadelpha ein „Photographic Ticket“ für Aussteller verwendet. Der eigentliche Lichtbildausweis kam 1914/15 gleichzeitig auf beiden Seiten des Weltkrieges auf; vgl. Natasha FROST, The History of Passport Photos. From ‚Anything Goes‘ to Today’s Mugshots, online seit 8. September 2017: https://www.atlasobscura.com/arti cles/passport-photos-history-development-regulation-mugshots.

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artikele, die sü nutzlich duhtent, und sunderlich mahtent sü, daz die herren ire kuren verswůrent.162 Bevor die performative Verwendung der Verfassungsdokumente Straßburgs thematisiert wird, die diese Funktion schon im Namen ‚Schwörbrief‘ tragen, sind einige Angaben zur Objektgruppe notwendig. Im Stadtarchiv sind 14 Schwörbriefe im Original erhalten, der älteste stammt aus dem Jahr 1334 Oktober 17, der jüngste von 1482, dessen Inhalt dann bis 1789 verbindlich blieb.163 Die Briefe von 1399164 und vom 14. Jänner 1413165 sind mit bemerkenswertem Dekor ausgestattet. 1399 fällt das aus dem Buchstabenkörper ausgesparte Wappen mit Helmzier und Löwen auf und die graphischen Fortsätze (Filigran), in denen zwei Gerüstete mit Wimpeln der Stadt als ‚Rankenkletterer‘ agieren. Das Rot der Wappen sticht aus der Einfarbigkeit der Urkunden deutlich hervor. Der Brief von 1413 steigert den Luxus der Ausstattung (Abb. 24a), behält aber das Grundkonzept bei. Im Buchstabenkörper ist ein Reiter mit aufwendiger Helmzier und Wimpel der Stadt dargestellt, der gekonnt diagonal über einen Holzsteg reitet; wieder – gleichsam als Stütze – der Löwe, der schon 1399 vorkam. Aus dem Filigran ist eine plastisch modellierte, freilich en grisaille gemalte Ranke geworden, bewohnt von zwei Engeln, die jeweils einen Helm mit Helmzier tragen, und einem Engel mit einer Lanze mit Wimpel. Weitere zoomorphe Motive bereichern den Dekor. Über die folgenden Schwörbriefe, die – abgesehen vom Stadtwappen – auf figürlichen Dekor verzichten, aber von der Größe und der Farbigkeit durchaus beeindrucken, kann hier nicht gehandelt werden.166

|| 162 Fritsche CLOSENER, Strassburgische Chronik (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 1), Stuttgart 1843, S. 1–127, hier S. 103; vgl. auch die im Schwörbrief selbst enthaltene Formulierung: Und sol man ouch disen brieff alle jor vor dem munster sweren stete zu halten wann ein rat abeget darnoch in den aht tagen so der nuwe rat uff der pfaltzen gesworen hat, zit. nach Jan LEBAU u. Jean-Marie VALENTIN, L’Alsace au siècle de la Réforme. Textes et Documents, Nancy 1985, S. 20. 163 Aufgelistet in Olivier RICHARD u. Benoît-Michel TOCK, Des chartes ornées urbaines. Les Schwörbriefe de Strasbourg (XIVe–XVe siècles), in: Bibliothèque de l’école des chartes 169 (2011 [2013]), S. 109–128, hier S. 113–114 (zwei weitere nur kopial überliefert); Vorträge der Tagung „Les chartes de serment: textes et rituels / Schwörbriefe“: Philippe LORENTZ, La représentation de la ville de Strasbourg dans les décors des Schwörbriefe strasbourgeois, und Benoît TOCK, Les Schwörbriefe de Strasbourg. Aspects diplomatiques; vgl. auch Le « Schwörbrief » de 1482: L’origine et les conséquences de l’exclusion du Grand conseil pour les baigneurs de Strasbourg, in: Revue d’Alsace 140 (2014), S. 59– 78; unter http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/Doc.22-GER-Strasbourg1482_ge.pdf ist der Text der Fassung von 1482 online verfügbar. Vergleiche auch den spannenden Versuch einer virtuellen Ausstellung: Des bourgeois aux citoyens, les lettres de serment de la Ville de Strasbourg: https://archives.strasbourg.eu/expositions/salle-du-bourgeois-78/n:335. 164 Straßburg, Archives de Strasbourg, charte 2747 [alt: AA 61/7]: http://monasterium.net/mom/Il luminierteUrkunden/1399_Strassburg/charter. 165 Straßburg, Archives de Strasbourg, charte 3263 [alt: AA 61/8]: http://monasterium.net/mom/Il luminierteUrkunden/1413-01-14_Strassburg/charter. 166 RICHARD u. TOCK (Anm. 163), S. 116–117, und die virtuelle Ausstellung (Anm. 163).

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Wie schon einleitend zitiert, weiß man im Fall von Straßburg auf einzigartige Weise aus erzählenden Quellen wie diese (illuminierten) Urkunden performativ eingesetzt wurden. Diese Berichte können zudem anhand eines barocken Bildes, das um 1785 datiert wird, überprüft werden.167 (Abb. 24b) Man ist nicht – wie etwa bei der Dotalurkunde für Theophanu – auf Spekulationen angewiesen. Am Schwörtag, am Dienstag nach dem Churmorgen, wurde vor dem Hauptportal des Münsters ein mit reichen roten Tapisserien geschmücktes hölzernes Podest mit Baldachin errichtet. In der Mitte befindet sich ein Podest, von dem eine Stoffbahn in den Stadtfarben (rot/weiß) hing. Die Bruderschaften und Zünfte versammelten sich um 7 Uhr in ihren Zunftstuben und zogen, ihren Fahnen folgend, zum Platz, jeweils von Fanfarenklängen begrüßt, wobei man sich ganz akribisch an das Protokoll hielt. Die Vertreter der Stadt folgten der Stadtwache und betraten den Platz durch die Krämergasse (die direkt auf das Portal zuführt). Feierlich trugen sie eine kostbare Schatulle, die den Schwörbrief enthielt. Der Rat und der Stadtschreiber traten auf das Podest. Als die Ratsglocke am Münster um 9 Uhr schlug, geboten die Büttel Ruhe und der Stadtschreiber entrollte das große Pergament des Schwörbriefes, das mit dem großen Stadtsiegel behängt war, und las diesen vor. Der Ammeister leiste den Eid in die Hände des Stettmeisters. Es folgten die anderen Vertreter des Stadtregiments und zuletzt schworen auch die versammelten Bürger, die verlesenen Bestimmungen einzuhalten. Als Zeichen dafür hob jeder zwei Finger. In einem gesonderten Akt beschworen auch die neu aufgenommen Bürger die Stadtverfassung. Während der ganzen Zeremonie blieben die Tore der Stadt verschlossen. Die Frauen der Stadt versammelten sich an einem gesonderten Ort. Nach der offiziellen Zeremonie folgten zahlreiche Festivitäten.168 So beeindruckend die Quellenlage ist, so ernüchternd ist das Beispiel Straßburg gleichzeitig: Die performative Funktion ist keineswegs von der Ausstattung der Urkunden abhängig. Dass einige der Schwörbriefe aufwendigen Dekor tragen, hatte keine erkennbare Auswirkung. Wie bereits bei den Sammelindulgenzen zu beobachten war, haben nicht überall, wo performatives Handeln mit Urkunden und illuminierte Urkunden aufeinandertreffen, die beiden Phänomene eine ursächliche und notwendige Verbindung. Was aber bleibt: Beide Phänomene wirken in die Öffentlichkeit hinaus.

|| 167 Musée historique de Strasbourg, Cérémonie du Schwörtag, https://commons.wikime dia.org/wiki/File:Musée_historique_de_Strasbourg-Schwoertag.jpg. 168 Dietrich POECK, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa, Köln 2003, Abschnitt 2.9: Straßburg – Churmorgen und Schwörtag, S. 19–30; vgl. auch Thierry AMARGER u. Monique KLIPE, Strassbourg 1400: http://www.crdp-strasbourg.fr/data/histoire/stras bourg_1400/textes/strasbourg_1400.pdf, S. 5: zitiert nach Henri WELSCHINGER, Histoire de l’Alsace de Pierre Haas, Istra 1946; die ausführlichste Beschreibung liefert Jean-François KOVAR, Le Schwörtag, 15.04.2015, http://cathoalsace.tumblr.com/post/116452479112/le-schwoertag.

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3.3.2 Was die Bruderschaft mit ihrer Urkunde macht Das wiederkehrende Beschwören war auch die Funktion der im Folgenden vorzustellenden Urkunde, die freilich nicht in die städtische Öffentlichkeit tritt, sondern Teil des internen Vollzugs einer Bruderschaft war. 1402 stellt sich die Katharinenbruderschaft der Herren vom Grünen Fischmarkt in Köln selbst eine Urkunde aus.169 Weil die Mitglieder selbst das Zielpublikum sind, braucht es kein Siegel. Auch dass die Namen der Mitglieder vom Schreiber geschrieben sind und nicht eigenhändig, tut nichts zur Sache, denn die Handelnden sind unter sich. Die Verwendung der Urkunde belegt, dass sie gilt. Verstorbene werden gestrichen, neue Mitglieder und neue Bestimmungen hinzugefügt. Weil der Gebrauch belegt ist, kann man auch den normativen Bestimmungen Glauben schenken und vermuten, dass die beschriebenen Handlungen mit der Urkunde tatsächlich in der Praxis vollzogen wurden: Bevor ein neues Mitglied in die Bruderschaft aufgenommen wird, soll der Anwärter den Eid schwören, diese vorliegende Urkunde mit den Bruderschaftsbestimmungen zu befolgen und allen mit der Mehrheit der Bruderschaftsversammlung getroffenen Entscheidungen der Vorsteher (meister) zu gehorchen. Die prächtig mit Szenen aus dem Leben der Patronin, der hl. Katharina, illuminierte Urkunde wurde offenkundig jedes Mal verwendet, wenn es galt, ein neues Mitglied in die Bruderschaft aufzunehmen. Der bildliche Bezug auf die Patronin wird den Stolz der Gruppe und deren inneren Zusammenhalt gestärkt haben. Illuminierte Urkunden von Bruderschaften, die deren innere Abläufe regeln, gibt es schon lange; beispielhaft sei die Urkunde der Kölner Lupusbruderschaft von 1246 genannt.170 In diesen Fällen fehlt – und das ist für den hier behandelten Kontext entscheidend – die Referenz auf Abläufe, in die die illuminierte Urkunde einbezogen wurde. Einzig Nachträge belegen, dass die Urkunde nicht nur deponiert war, sondern auch hervorgeholt und ‚verwendet‘ wurde. Vergleichbar ist ein weiteres Kuriosum: Die Kölner Dreikönigsbruderschaft besorgte sich eine überaus qualitätvolle Miniatur im reinsten mittelrheinischen Zackenstil mit einer Epiphaniedarstellung.171 Um die Miniatur herum wurden zwar keine Statuten oder Mitgliederlisten geschrieben, aber Notitiae zu relevanten

|| 169 Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 95 (Zunft), Zunftakten 271 (seit ca. 1970 verschollen): http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1402-07-04_Koeln/charter; Martin ROLAND, Die Funktion des Bildes in mittelalterlichen Bruderschafts- und Zunfturkunden, in: Andreas TACKE, Birgit Ulrike MÜNCH u. Wolfgang AUGUSTYN (Hgg.), Material Culture. Präsenz und Sichtbarkeit von Künstlern, Zünften und Bruderschaften in der Vormoderne. Presence and Visibility of Artists, Guilds and Brotherhoods in the Pre-modern Era, Petersberg 2018, S. 407–433, hier S. 411–417. 170 Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln, Domstift-Urkunden 184: http://monaste rium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1246-11-99_Koeln/charter (Markus GNEISS, Martin ROLAND; mit umfangreichen Literaturangaben). 171 Hamburg, Kestner-Museum, Hs. 3986: ROLAND u. ZAJIC (wie Anm. 1), S. 256.

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Grundstücksgeschäften der Bruderschaft. Das Einzelblatt war also gleichsam als ‚Miniaturkopialbuch‘ in Verwendung.

3.3.3 Using und Keeping en gros Wie schon in Abschnitt 3.2.3.2 im Kontext der Darstellung von Urkundenübergaben erwähnt, verwendete König Heinrich VII. von England im Jahr 1504 viel Geld dafür, um Heerscharen frommer Leute ‚auf ewig‘ zu verpflichten, für ihn und seine Familie zu beten. Er vermutete wohl zurecht, dass es nicht genügen würde, das Geld ‚hinüberzuschieben‘ und zu vertrauen, dass dann auch gebetet würde. Er ernannte daher John Islip, Abt von St. Peter’s in Westminster, zu seinem Generalunternehmer und verpflichtete ihn und alle Subunternehmer zu ganz genauen Festlegungen.172 Der Vertrag mit Islip wurde in den beiden Fassungen der aus vier unabhängigen Teilurkunden bestehenden Indentures bipartites festgehalten.173 Die Bände wollen durch den gewellten oberen Schnitt den Eindruck erwecken, es handle sich um die beiden Hälften eines Chirographen. Um die ordnungsgemäße Durchführung zu garantieren, wurde der Vertrag jedes Jahr vor dem Jahrtag im Kapitelsaal verlesen. Genau wurde bestimmt, wer dabei anwesend zu sein habe. Das wurde auch vom Buchmaler bei jenem Teil der beiden Hauptexemplare festgehalten, der die Sanktionen auflistet. (Abb. 25b) Zentral sind Abt Islip, das aufgeschlagene Exemplar der Stiftungsurkunde mit Samteinband, Quasten und Schließen sowie der vorlesende Mönch dargestellt. Die bei dieser Aktion zur Anwesenheit verpflichteten Würdenträger des Königreiches sind links zu sehen. Der Chirograph-Charakter, der bei der ersten Seite noch funktioniert hatte, passt hier nicht mehr. Die optisch sichtbaren Zeichen der Rechtssicherheit erweisen sich als ‚Brimborium‘, das der König für sein multimediales ‚Kunstwerk‘ auffahren lässt. Trotz dieser medialen Verunklärung darf das Using des illuminierten Urkundenlibells als gesichert gelten. Das bedeutet freilich keineswegs, dass sich die Szene genau so || 172 ROLAND (Anm. 149), S. 306–308, Abschnitt 4-1: König Henry VII. und seine Seelgerätstiftung von 1504; grundlegend Margaret CONDON, God Save the King! Piety, Propaganda, and the Perpetual Memorial, in: Tim TATTON-BROWN u. Richard MORTIMER (Hgg.), Westminster Abbey. The Lady Chapel of Henry VII, Woodbridge 2003, S. 59–97, hier ab S. 68. 173 Die beiden Exemplare – für den König und Westminster Abbey – sind erhalten: London, The National Archives, (Anm. 56); London, British Library, Ms. Harley 1498, vorgestellt im Blog vom 06.09.2011: The Royal Project Team, A Stunning Tudor Binding: Henry VII's Quadripartite Indenture: http://britishlibrary.typepad.co.uk/digitisedmanuscripts/2011/09/quadripartite-indenture.html; jeder der Bände besteht aus vier Teilen: der Gründungsurkunde, die die Bestimmungen für die Mönche von Westminster Abbey enthält, den Statuten des Armenhauses (almshouse) bei Westminster Abbey, einem zusammenfassenden Abschnitt (indenture of abstract) und einem Teil über die Strafen, wenn die Bestimmungen nicht eingehalten werden. Der ‚Strafenkatalog‘ wird als Indenture septipatite auch als unabhängige Urkunde von sieben Parteien beurkundet (dazu Abschnitt 3.2.3.2).

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abgespielt habe: Miniaturen sind keine Pressefotos (vgl. Anm. 93), daher sind allzu weitgehende Interpretationen problematisch. Die illuminierten Urkunden bilden – trotz des gigantischen Umfangs (89 illuminierte Libelle, 3148 beschriebene Seiten, davon 95 Zierseiten)174 – nur einen ergänzenden Klang im multimedialen Erinnerungsspektakel des Königs. Das öffentlich gesungene Gebet, mit dem bezeichneter Weise schon zu Lebzeiten Heinrichs VII. begonnenen wurde, steht zweifelsfrei im Zentrum. Es ist in Westminster Abbey in der Lady’s Chapel verortet, einer bis ins letzte skulpturale Detail hervorragenden Architektur. Auch die ‚Performance‘ zum Jahrtag wie das Verlesen, aber auch die Begräbnisfeierlichkeiten (und deren jährliche Wiederholung)175, gehören zu diesem ‚GedenkGesamtkunstwerk‘.

3.4 Keeping von (illuminierten) Urkunden Abschließend zum gleichsam ‚reinen‘ Keeping. Urkunden aufzuheben ist naturgemäß sinnvoll, denn sie belegen, welches Recht gesetzt wurde. Wer wusste, welches Recht gesetzt wurde, hat die Deutungshoheit über die Vergangenheit.

3.4.1 Der Liber feudorum Diese Deutungshoheit strebte König Alfons II. von Aragon an, als er ab 1192 ein Chartular seines Königreiches anlegen ließ (Liber feudorum maior).176 Die Titelminiatur des ersten Bandes zeigt den König und sein Gefolge links, rechts einen Schreiber und in der Mitte einen Berg von Urkunden sowie den Organisator der ganzen Aktion, den Juristen Ramon de Caldes. Dass alle je geleisteten Lehenseide, derer man habhaft werden konnte, aufgezeichnet wurden, sollte den stabilen Basisbestand bilden, um zukünftig lokale (Ver-)Fälschung alter Dokumente bzw. falsche/verfälschende Einträge in lokalen Chartularen erkennen zu können. Raffiniert wird der Hof in Barcelona in eine Position der Oberhoheit gerückt, sowohl durch die Titelminiatur als auch durch die Darstellung der Lehensannahme in die Hände des Königs (Homagium), das bewusst als Bildformel gewählt wird. Ohne dass viele Worte gemacht werden müssten, wird Oberhoheit signalisiert, die es so weder zum Zeitpunkt der Anlage des Liber maior und noch viel weniger zum Zeitpunkt, an dem die Urkunden ausgestellt wurden, gegeben hat. Wieder gewinnt der, der die Aufzeichnung besitzt, durch

|| 174 Zahlen nach ROLAND (Anm. 149), S. 307. 175 Zu den realienkundlichen Hinterlassenschaften der Begräbnisfeierlichkeiten und der Memorialhandlungen, die schon vor Henrys Tod gleichsam eingeübt werden mussten, siehe ROLAND (Anm. 149), S. 308. 176 Siehe Anm. 66.

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das Bild die Deutungshoheit. Im hier behandelten Kontext ist freilich zu bedenken, dass es sich beim Liber feudorum nicht um eine Sammlung illuminierter Urkunden, sondern um ein illuminiertes Chartular handelt, das medial unauffällige Urkunden sehr bewusst medial inszeniert.

3.4.2 Karl V. von Frankreich und sein Prunkurkundenarchiv Mit viel feinerer Klinge nutzt König Karl V. von Frankreich das Archiv als Memoriastiftende Möglichkeit. Er wird ‚der Weise‘ (le Sage) genannt, weil er eine Bibliothek aufbaute und weil er sich selbst eine erstaunliche Anzahl von Urkunden ausstellte, die er mit der höchsten Raffinesse, zu der die französische Malerei der Zeit fähig war, ausstatten ließ.177 Verglichen mit Alfons II. von Aragon oder Heinrich VII. von England hat Karl V. am effektivsten an seiner Memoria gebaut, indem er tatsächlich Kunst und Urkunden kombinierte und die Produkte bei sich im Kronarchiv sicher, bis heute, verwahren ließ.

3.4.3 Schöne Hüllen für bzw. anstatt schöner Urkunden Wenn man kein weiser König ist, dann spielt sich das Aufheben in viel bescheidenerem Umfang ab. Auf diesem Niveau ist kein Unterschied beim ‚schönen‘ Aufheben zwischen illuminierten Urkunden und solchen festzustellen, die Recht ohne zusätzlichen Aufwand setzen. Das Aufheben von Bischofsammelablässen stellt ein besonderes Problem dar. Andreas ZAJIC verweist sicher mit gewissem Recht darauf, dass die Schlaufen an den Urkunden (Abschnitt 3.2.7.2), nicht bloß zum Herzeigen, sondern auch zum Aufbewahren gedient haben werden. Einmal gefaltet, wird das Aushängen schwierig, da das Pergament nicht mehr plan bleibt. In einem Fall kann man jedoch zeigen, dass ein Sammelablass vielleicht schon ursprünglich, jedenfalls bereits im 14. Jahrhundert, gefaltet aufbewahrt wurde. Der Ablass für das heutige Dorfprozelten178 wird in

|| 177 Ghislain BRUNEL, Images du pouvoir royal. Les chartes décorées des Archives nationales XIIIe– XVe siècle, Paris 2005; siehe auch den Abschnitt von 1364 bis 1380 in der Untersammlung „Frankreich“ der Projektdatenbank: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkundenFrankreich/coll ection. 178 Dorfprozelten, Pfarrarchiv (Dauerleihgabe in: Würzburg, Diözesanarchiv, Urkundenselekt Überformate, Nr. 1): http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1337-03-28_Dorfprozel ten/charter (Martin ROLAND, Gabriele BARTZ).

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einer aus italienischem, monochrom gemustertem Seidengewebe (Lampas) gefertigten, 23 x 23 cm großen Tasche verwahrt.179 In der Domschatzkammer von Xanten werden drei Urkundenladen von 1441, 1460 und 1535 aufbewahrt, die jeweils Gebetsverbrüderungen mit den Stiftsherren von Xanten enthalten.180 Der Terminus ‚Urkundenlade‘ ist irreführend, denn es handelt sich um flache Holzschachteln, die man aufhängen kann und deren Deckel eine stehende Madonna (1441) bzw. einen stehenden hl. Bernhard zeigen, zu deren Seiten, jeweils deutlich kleiner, die Kleriker bzw. Mönche knien. Wenn man die prunkvoll gemalten Deckel öffnet, werden die – formal nicht außergewöhnlichen – Urkunden sichtbar. Dies zeigt, das schönes Keeping keineswegs voraussetzt, dass die bewahrte Urkunde selbst ‚schön‘ sein muss. Sie muss jedoch für denjenigen, der die Aufbewahrung organisierte, so wichtig gewesen sein, dass er in das Bewahren kunstvoll investierte. Einen problematischen Fall stellt ein Kästchen dar, auf dem eine Sitzung des Wiener Neustädter Rates dargestellt ist181 (Abb. 26a) und von dem man sagt, es habe zur Aufbewahrung des Wappenbriefes von 1452 gedient.182 (Abb. 26b) Hier kommen, wenn die Zuordnung valide ist, prächtiges Behältnis und eine illuminierte Urkunde zusammen. Sie bilden gemeinsam so etwas wie das Abbild des Selbstverständnisses der städtischen Führungsschicht, im Verhältnis zum Kaiser als Freund und Stadtherrn und im Verhältnis untereinander. Eindeutig ist die Zuordnung beim dritten Beispiel. Mit einem prächtig illuminierten Libell bestätigte Bianca Maria Visconti-Sforza 1464 die Privilegien von San

|| 179 Norbert KANDLER, Eine Ablaßurkunde mit zugehöriger Tasche vom Jahre 1337 für die Pfarrkirche Dorfprozelten, in: Würzburger Diözesangeschichteblätter 62/63 (2001), S. 423–444, zur Tasche S. 435–444; 50 vergleichbare Täschchen, diesmal aus Leder, verfertigte Wilhelm Techtermann (1551– 1618), Stadtschreiber in Freiburg im Üchtland, um die wichtigsten (teilweise auch illuminierten) Urkunden der Stadt zu verwahren; die Abegg-Stiftung in Riggisberg stellte erhaltene Behältnisse zusammen mit den Urkunden von September bis November 2017 aus; Stefanie PENTHIN verfasste 2016 ihre Masterarbeit ‚Siebzehn bemalte lederne Archivsäcklein des 16. Jahrhunderts aus dem ehemaligen Kanzleiarchiv Freiburg. Katalog, Konzept zur Konservierung und Restaurierung sowie exemplarische Bearbeitung einiger Schäden‘ in Conservation-Restoration dazu: ein Poster unter https://abegg-stiftung.ch/app/uploads/2017/04/Poster-MA-Thesis-2016_Stefanie-Penthin.pdf. 180 Xanten, Stiftsmuseum, Inv.-Nr. C 4,1441: Verbrüderung der Stiftsherren von Xanten mit den Kartäusern von Wesel: http://www.stiftsmuseum-xanten.de/fileadmin/Multimedia/Katalog-XantenS148-149.pdf; 1461 mit den Zisterziensern von Camp; vgl. Udo GROTE, Der Schatz von St. Viktor. Mittelalterliche Kostbarkeiten aus dem Xantener Dom, Regensburg 1998, S. 162; und 1535 mit den Kreuzherren von Marienfrede. 181 Wiener Neustadt, Stadtmuseum, Inv.-Nr. B 12. 182 Wiener Neustadt, Stadtarchiv, Scrin. VI, Nr. 5; Ausstellung Friedrich III. Kaiserresidenz Wiener Neustadt. Katalog der Ausstellung in St. Peter an der Sperr, Wiener Neustadt, vom 28. Mai bis 30. Oktober 1966. Schriftleitung Peter WENINGER, Wien 1966, S. 300, Kat.-Nr. 7; Regesta Imperii XIII (Friedrich III.), Heft 13, Nr. 243.

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Sigismondo bei Cremona.183 (Abb. 26c) Als Hülle dient ein mindestens ebenso schönes Lederschnittetui, das ganz offensichtlich eine Maßanfertigung ist. (Abb. 26d) Über die Gründe, die zu dieser prächtigen Kombination führten, ist nichts bekannt. Auffällig ist aber immerhin, dass die Ordensbrüder aus Lodi sich zwei Jahre davor, 1462, ein prächtiges Libell mit einer Bestätigung der Privilegien besorgten und dafür offenkundig denselben Buchmaler beauftragt hatten.184 Wollten die Eremiten vom hl. Hieronymus aus Cremona bei gleichwertigem urkundlichem Inhalt ihre Ordensbrüder aus Lodi mit der schönen Hülle übertrumpfen?

3.4.4 Die illuminierte Urkunde museal präsentiert Urkunden werden aber keineswegs nur zeitnah verwendet. Sie dienen bis heute der Selbstvergewisserung von Gruppen: Die Leatherseller’s Company of London wurde 1444 von König Heinrich VI. gegründet.185 Das Letters patent ist ein schönes Stück mit einer dreiseitigen Bordüre, Blattgold im Filigrandekor, einem thronenden König in der Initiale, der die Urkunde den in der Bordüre unter der Initiale dargestellten Mitgliedern der Bruderschaft hinhält, und hat bestimmt immer eine Rolle im inneren Leben der Zunft gespielt. Heute hängt die Originalurkunde repräsentativ in deren Räumen. (Abb. 27) Dass sie im Hintergrund einer für die jüngere Geschichte der Gruppe wichtigen Unterzeichnung eines Vorvertrages im Dezember 2006 zu sehen ist186, ist sicher kein Zufall. Natürlich präsentieren auch Privatbesitzer ihre Schätze, aber – wenn dies ohne historischen Bezug, also rein museal erfolgt – dann ist dies eine Sache, die hier nicht relevant ist.187

|| 183 Cremona, Museo civico: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1464-0901_Cremona-Cremona/charter (Laura ALIDORI). 184 Mailand, Archivio di Stato, Cimeli, Cart. 5, Doc. 5: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUr kunden/1462-10-15_Mailand/charter (Laura ALIDORI, Ergänzungen Martin ROLAND); später wurden weitere Bestätigungen beigefügt. Ob diese Blätter schon von Anfang an beigebunden waren, wurde bisher meines Wissens noch nicht untersucht. 185 1444 August 19: London, The Worshipful Company of Leathersellers, Ms. 1; Calendar of the Patent Rolls Preserved in the Public Record Office: Henry VI. Bd. 4: A. D. 1441–1446, London 1908, S. 278–279; DANBURY (Anm. 42), S. 264; Richard MARKS u. Paul WILLIAMSON (Hgg.), Gothic. Art for England, 1400–1547, London 2003, S. 270, Kat.-Nr. 131 (Alixe BOVEY). 186 Jerome FARELL, The Leathersellersʼ Company. A Short History of the Company, London 2008, S. 34: http://www.leathersellers.co.uk/wp-content/uploads/2016/11/Leathersellers-Book.pdf 187 Beispielhaft sei der Adels- und Wappenbrief genannt, den Kaiser Karl V. für die Familie Minervini 1530 Februar 25 ausgestellt hat. Er hängt, wie ein Bild gerahmt, an der Wand. Leider lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wie dieses Bild in Sammlung des Projekts gelangte. Es muss daher unklar bleiben, ob der hier dokumentierte Zustand den Stolz der mit dem Wappen begabten Familie bis heute dokumentiert oder (was wahrscheinlicher ist) den Stolz eines Sammlers.

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4 Illuminierte Urkunden als Machtmittel heute Ist die eben erwähnte illuminierte Urkunde der Leathersellersʼ Company noch ein vergleichsweise privates Repräsentationsstück, werden in Österreich illuminierte Urkunden bis heute als politisches Machtmittel eingesetzt. Bild und Macht sind untrennbar verbunden, daher ist natürlich auch jede Symbolhandlung, die mit Bildern operiert, eine Machtdemonstration. Erwin Pröll, von 1992 bis 2017 Landeshauptmann von Niederösterreich, verlieh häufig an niederösterreichische Gemeinden Wappen und überreichte, pompös inszeniert, die Wappenbriefe188, deren äußere Merkmale sich von jenen des Mittelalters auf den ersten Blick kaum unterscheiden. Pressefotos zeigen die große Öffentlichkeitswirksamkeit der Veranstaltungen. Betrachtet man mehrere solcher Fotos, wird der/dem kritischen BetrachterIn bewusst, dass immer Dr. Pröll im Zentrum steht; Wappen, Orte und andere Beteiligte sind bloß Staffage. (Abb. 28) Wie schon im Mittelalter ist eine Wappenverleihung für Aussteller wie Empfänger eine Möglichkeit, sich selbst zu vermarkten und politischen Gewinn zu generieren. An der Wende zum 21. Jahrhundert wird – dank unserer Mediengesellschaft – die im Mittelalter entwickelte Strategie, Bildzeichen und performatives Handeln zu verbinden, zur ultimativen Perfektion geführt.

5 Außerhalb aller Regeln Weil ein Beitrag zu Performativität und Urkunden, der dem Mittelalter gewidmet ist, nicht mit Beispielen der Jahrzehnte um das Jahr 2000 enden soll, wird den Rundgang durch die Schnittmenge von Dekor, Urkunde und Performanz mit einem Stück hors système abgeschlossen.189 Der ‚Erfurter Judeneid‘190 (Abb. 29) sieht auf den ersten

|| 188 Beispielhaft einige Links, die die Wappen-Verleihung für die Nachwelt speichern: http://horn.vpnoe.at/startseite/news-detail/article/landeshauptmann-dr-erwin-proell-uebergabneues-gemeindewappen-an-meiseldorf.html; https://www.meinbezirk.at/mistelbach/lokales/wap penverleihung-in-wildenduernbach-aus-der-hand-von-lh-erwin-proell-gleichzeitig-wurde-das-ge meindehaus-und-der-neu-gestaltete-platz-der-vereine-eroeffnetfoto-obermayerm774202,101616.html; http://melk.vpnoe.at/startseite/news-detail/article/segnung-des-amtshausund-wappenverleihung-in-muenichreith-laimbach.html. 189 Der Begriff hors système ist den Paläographen und Handschriftenforschern aus der Klassifikationssystematik von Gerard I. LIEFTINCK (und Johan P. GUMBERT) geläufig. Vgl. Johan P. GUMBERT, Die Utrechter Kartäuser und ihre Bücher im frühen fünfzehnten Jahrhundert, Leiden 1974, ab S. 197, zum Lieftinck’schen System S. 203–214 und zu den Schriften, die sich nicht ins System pressen lassen S. 209–210. Hier soll das Beispiel hingegen anzeigen, dass bei illuminierten ‚Urkunden‘ die Wirkung durch das Besondere entsteht und nicht durch Regelhaftigkeit. 190 Erfurt, Stadtarchiv, 0-0/A XLVII Nr. 1 (ehem. Magdeburg, Staatsarchiv, Erfurt A XLVII Nr. 1): http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1160_Erfurt/charter (Martin ROLAND); Gabriele

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Blick durchaus wie eine Urkunde aus, denn das prominente Siegel scheint zu belegen, dass der Siegelführer etwas, was im Text steht, bekräftigt. Freilich täuscht der Anschein, denn hier wird lediglich die äußere Form einer Urkunde genutzt. Der Text nennt Erzbischof Konrad (1161–1165 und 1183–1200 Erzbischof von Mainz), der einer Stadt (nach dem Stadtsiegel: Erfurt) diesen Judeneid gegeben habe. Vor dieser Erläuterung steht die Eidesformel. Das Siegel freilich ist nicht jenes des Bischofs, sondern jenes der Stadt. Die äußere Form, Schrift, rot konturierte Goldinitialen und der ebenso gestaltete Rahmen, kommen aus dem Buchwesen, weisen ins 13. Jahrhundert und sind nicht mit der Amtszeit Konrads in Übereinstimmung zu bringen. Der Erzbischof wollte mit der Eidesformel eine Grundlage schaffen, um einen Eid von jemandem, der jüdischen Glaubens ist, zu ermöglichen. Die intendierte Funktion des vorliegenden Objekts, das diese Formel verwendet, lag in der Rechtspraxis; freilich wohl nicht andauernd, sondern in einem ganz spezifischen, bisher noch nicht identifizierten Einzelfall, für den das Objekt wahrscheinlich auch hergestellt wurde. Für eine einmalige Verwendung spielt auch die fragile Konstruktion – das große Siegel hängt ohne Plica einfach unten am Pergament – keine Rolle. Dass es kopfstehend montiert wurde, dürfte der Inszenierung geschuldet sein; ein irrtümlich kopfstehendes Anbringen kann wohl ausgeschlossen werden. Die Glaubwürdigkeit des performativen Rechtsakts der Eidesleistung durch einen Vertreter einer als sozial randständig empfundenen Gruppe wird durch die Urkundenform des verwendeten Objekts gesteigert. Das im Kopf der Zeugen/des Publikums entstehende Bild von Rechtssicherheit, das von der Siegelurkunde ausstrahlt, wird durch die Verbindung von Performativität und Abbild erzeugt und hat – so dürfen wir hoffen – seinen Zweck damals erreicht; dafür spricht zumindest, dass das verwendete urkundenartige Objekt aufbewahrt wurde.

6 Schlussbemerkungen Am Ende des Überblicks stand ein illuminiertes Objekt, das keine Urkunde ist, das aber deren rechtsichernde äußere Form für ein performatives Rechtssymbol nutzt. Das ist ein guter Schlusspunkt, weil hier die gesellschaftliche Wertschätzung von Urkunden besonders augenfällig ist. Das Inszenieren von Macht mit performativen Aktionen, die Recht setzen – archetypisch die Urkundenübergabe –, und die Urkunde, die durch äußere Merkmale die Betrachter anspricht – im behandelten Kontext zumeist aufwendige Malerei –, sind Phänomene, die mehr oder weniger große Öffentlichkeit zwingend benötigen.

|| BARTZ, Der Erfurter Judeneid – ein chimärenhaftes Dokument, in: Sára BALÁZS (Hg.), Quelle und Deutung 5 (Beiträge der Tagung Quelle und Deutung 5 am 19. April 2018), Budapest (in Vorbereitung).

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Bei jenen (wenigen) Beispielen, bei denen man über die performative Verwendung von illuminierten Urkunden konkrete Informationen besitzt – wie die Schwörbriefe in Straßburg (Abschnitt 3.3.1) oder die Sammelindulgenzen (Abschnitt 3.2.7.2), wurde freilich deutlich, dass die vollzogenen Handlungen in gleicher Weise auch mit nicht illuminierten Urkunden stattfinden konnten: Die beiden hier verhandelten Elemente, Performanz und Dekor, bedingen einander, selbst wenn beide gemeinsam auftreten, nicht ursächlich. Nur ganz selten sind Dekor der Urkunde und Performanz quellenmäßig als zusammenspielend bezeugt. Dieser Mangel an Quellenbelegen beruht darauf, dass weder narrative Quellen den möglicherweise vorhandenen Dekor erwähnen, noch bildliche Quellen diesen darstellen. Hauptbeispiele für das vermutete Zusammenwirken von Bild/Dekor und Performanz sind die Dotalurkunde für Theophanu (Abschnitt 3.2.7.1), die Schmähbriefe mit Schandbild (Abschnitt 3.2.7.5) und jene Urkunden, bei denen das Bild die Beschaffenheit oder tatsächliche Größe von rechtsrelevanten Objekten angibt (Abschnitt 3.2.7.5–7). Performanz und Dekor bedürfen eines Publikums, doch auf ziemlich unterschiedliche Weise. Die illuminierte Urkunde hat, was die vergängliche Performanz nicht bieten kann, eine Longue durée und zieht nicht nur beim Rechtsakt selbst, sondern über Jahrhunderte und bis heute Betrachterinnen und Betrachter in ihren Bann. So ist es nicht erstaunlich, dass es gerade die Darstellungen auf illuminierten Urkunden sind, die die Vorstellung, wie Rechtsakte abgelaufen wären, entscheidend prägen. Das an Performativem Dargestellte entspricht jedoch – und das kann nicht oft genug betont werden – weniger dem historischen Ablauf, als dem Willen desjenigen, der das Bild in Auftrag gab. Vielfach darf sogar in Zweifel gezogen werden, dass hinter der Darstellung einer performativen Aktion überhaupt eine reale Begebenheit stand. Zu nennen sind die Wappenübergabe, das Handauflegen (Abschnitt 3.2.2), viele Urkundenübergaben (z. B. Abschnitte 3.2.3.2 und 3) und, als besonders ikonische Beispiele, der Handschlag zwischen Kaiser Ludwig dem Bayern und Erzbischof Balduin von Trier (Abschnitt 3.2.1 – Abb. 6) und die ‚generationenübergreifende‘ Urkundenübergabe, die in Abschnitt 3.2.3.3 behandelt wird. (Abb. 11) Dekor auf Urkunden und die performative Verwendung von Urkunden liefern sich keinen publikumswirksamen Wettlauf, sondern sie stellen zwei zentrale mediale Komponenten dar, die die rechtsichernde Urkunde in der Realität des Lebens verankern, vom Beginn der Herstellung bis heute.

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Abb. 1: Nicht Illuminierter (a) bzw. illuminierter (b) Wappenbrief ungarischer Könige für die Stadt Kaschau: a) König Ludwig der Große von 1369 (Anm. 1) – b) König Sigismund von 1423 (Anm. 2).

Abb. 2: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3044, Ulrich von Richental, Chronik des Konstanzer Konzils, foll. 70v–71r: Vorlesen von Urkunden (Anm. 15).

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Abb. 3: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3044, Ulrich von Richental, Chronik des Konstanzer Konzils, fol. 103v: Vorlesen einer Urkunde und rechtssymbolische Handlungen (Anm. 18–20).

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Abb. 4: König Edward IV. von England verleiht Louis de Bruges als Earl of Winchester ein Wappen (1472): a) Warrant – b) Letters patent – c) Eintrag in die Patent Roll (Anm. 23).

Abb. 5: Feierliches Privileg Kaiser Ludwigs (des Bayern) von 1338 mit historisierter Initiale: Der Kaiser übergibt einen Wappenwimpel (Anm. 26).

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Abb. 6: Initiale einer Urkunde Kaiser Ludwigs (des Bayern) von 1339 mit (vermeintlichem) Handschlag zwischen dem Kaiser und Balduin von Luxemburg, Erzbischof von Mainz (Anm. 29).

Abb. 7: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13.975, Eberhard Windeck, Sigismundbuch (Hagenau um 1445/50): a) fol. 228v: König Sigismund verleiht dem Autor ein Lehen (Anm. 31) – b) fol. 265v: Am Grab seines Vaters belehnt König Sigismund Friedrich II. mit dem Herzogtum Sachsen (Anm. 32).

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Abb. 8: Initiale einer Urkunde König Philipps VI. von Frankreich von 1332 mit Übergabe der Urkunde an seine Frau Jeanne (Anm. 40).

Abb. 9: Initiale einer Urkunde König Edward III. von England von 1338 mit Urkundenübergabe an Vertreter der Stadt Ipswich (Anm. 42).

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Abb. 10: Initialen mit Urkundenübergaben: a) und b) König Karl V. von Frankreich von 1368 bzw. 1379 (Anm. 46 bzw. 47) – c) Herzog Jean de Berry von 1402 (Anm. 49).

Abb. 11: Initiale einer Urkunde König Richards II. von England für Crowland Abbey von 1393 mit einer ‚zeitreisendenʿ Urkundenübergabe (Anm. 50).

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Abb. 12: Capbreu (Eidesleistung) an König Jakob II. von Mallorca: a) Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales, 1B33, fol. 1r: Saint-Laurent-de-la-Salanque von 1292/93 mit Urkundenübergabe und Aufzeichnung der Eidesleistung (Anm. 62 und 63) – b) Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales, 1B31, fol. 1r: Tautavel von 1293 mit Homagium (Anm. 60).

Abb. 13: Aveu (Lehenseid) an René d’Anjou von 1469 mit Homagium (Anm. 68).

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Abb. 14: Bildmedaillon mit Altarlegung von Urkunden: Guthlac-Roll, für Crowland-Abbey um 1210/30 (Anm. 89) –b) Altarlegung in Matthew Paris, Life of St. Albans, St. Albans um 1230/50 (Anm. 90).

Abb. 15: Chartular von Mont-Saint-Michel (um 1154/58), foll. 25v–26r: Bildseite mit Güterübertragungen durch Altarlegung von Rechtssymbolen und Beginn der entsprechenden Urkunde von 1027/33 (Anm. 100 und 101).

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Abb. 16: Originalausfertigungen mit an der Urkunde befestigtem Holzstück: a) Testament von Abt Fulrad von Saint-Denis von 777/778 (Anm. 108) – b) und c) Schenkungsurkunde an Cluny (993– 1048) bzw. an Saint-Victor in Marseille (1058) (Anm. 111 und 112).

Abb. 17: a) Tierkampfmedaillon, Detail der Dotalurkunde für Theophanu von 972 (Anm. 113) – b) Sassanidische Silberschale mit Tierkampfmotiv (Anm. 115).

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Abb. 18: Aufhängungen von Bischofsammelindulgenzen aus verschiedenen Materialien: a) 1335 für Aken (Anm. 123) – b) 1355 für Hannover (Anm. 122) – c) und d) 1347 für Helmstedt (Anm. 125) – e) 1333 für Schildesche (Anm. 120) – f) 1346 für Schmidtstedt (Anm. 122) – g) und h) 1287 bzw. 1300 für Regensburg (Anm. 119 und 120).

Abb. 19: Digitale Bildmontage aus: Matthias Gerung (?), Einblattholzschnitt gegen den Ablasshandel (vor 1536) und Kardinalsammelablass für St. Georgenberg von 1480 (Anm. 136 bzw. 129).

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Abb. 20: Plakate mit Urkunden: a) Gründung der Bruderschaft der Misericordia in Pisa, Plakat von Francesco Traiani, um 1380, unter Verwendung der angeblichen Gründungsurkunde von 1053 (Anm. 139) – b) Plakat (bald nach 1343 September 19) für ein nicht identifiziertes Nonnenkloster unter Verwendung einer Papsturkunde von 1278 (Anm. 140 und 141).

Abb. 21: 1361 November 12: 106 Ritter schwören Hugolino Gonzaga Urfelde (Anm. 144).

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Abb. 22: Schmähbrief mit Schandbild (um 1419/21): Der Gläubiger stellt den Schuldner, Herzog Johann von Bayern, dar, während dieser sein Typar auf dem After einer Sau abdrückt (Anm. 148).

Abb. 23: 1551 August 1, Wien: Kaiser Ferdinand I. verpflichtet die jüdische Bevölkerung, eine auf dem gedruckten Mandat maßstäblich abgebildete gelbe Scheibe zu tragen (Anm. 160).

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Abb. 24: a) 1413 Jänner 14, Straßburg: Schwörbrief mit historisierter Initiale (Anm. 165) – b) Tafelbild (um 1785) mit der Zeremonie am Schwörtag (Anm. 167).

Abb. 25: Chirograph-artige Libelle zur Seelgerätstiftung König Heinrichs VII. von England von 1503 Juli 16: a) Indenture septipartite, Initiale des Exemplars für den König: Heinrich VII. übergibt sieben Kontrollorganen die Strafbestimmungen, wenn die Gebetsverpflichtungen nicht eingehalten werden (Anm. 56) – b) Indentures bipartites, Exemplar für St. Peter’s Abbey, London, Bodley, Ms. Harley, 1498, fol. 76r: Initiale mit Darstellung der jährlichen Verlesung des Vertrages (Anm. 173).

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Abb. 26: a) Kästchen mit Sitzung des Rats der Stadt Wiener Neustadt. Angebliche Hülle von b) 1452 Juli 11, Kaiser Friedrich III. verleiht der Stadt Wiener Neustadt ein neues Wappen (Anm. 181 und 182) – c), d) 1464 September 1: Bianca Maria Visconti-Sforza bestätigt die Privilegien von San Sigismondo bei Cremona. Libell und zugehöriges Lederschnittbehältnis (Anm. 183).

Abb. 27: Museale Präsentation von: 1444 August 19, König Heinrich VI. von England gründet die Londoner Worshipful Company of Lethersellersʾ (Anm. 185).

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Abb. 28: Dr. Erwin Pröll nutzt Wappenverleihungen als Landeshauptmann von Niederösterreich zu Selbstdarstellung (Anm. 188).

Abb. 29: Eidesformel eines Judeneides, den Erzbischof Konrad von Mainz formuliert hatte und der auf einem mit dem Erfurter Stadtsiegel versehenen Objekt niedergeschrieben wurde. Erfurt, 2. Viertel 13. Jh. (Anm. 190).

| Teil 3: Der Medienwechsel. Urkunden in Kopiaren und auf Stein

Franz-Albrecht Bornschlegel

Urkundeninschriften und Urkunden imitierende Inschriften. Gestaltungsformen und Gestaltungsmöglichkeiten Zusammenfassung: In der Mehrzahl epigraphischer ebenso wie diplomatischer Studien, die sich mit den Beziehungen zwischen den Schrifttypen in Handschriften, Urkunden und Inschriften befassen, spielen Auszeichnungsschriften und Buchschriften eine zentrale Rolle. Die graphischen Beziehungen zwischen Inschriften und dokumentarischer Überlieferung wurden hingegen bislang kaum bearbeitet. Lassen sich für den Einfluss der Inschriften auf Urkunden noch einige Studien mit reichlichen Beispielen benennen, so wird im weit selteneren, umgekehrten Fall meist nur die steinerne Urkunde für Papst Gregor XI. in San Giovanni in Laterano von 1371 angeführt. Der folgende Beitrag versucht, graphischen und paläographischen Merkmalen von Urkunden im epigrapischen Medium, vorrangig aus dem deutschsprachigen Raum, nachzugehen und auch vereinzelte Stellungnahmen zu den betreffenden Objekten zur Diskussion zu stellen. Das infrage kommende inschriftliche Material, welches vom 7. bis ins 17. Jahrhundert reicht, ist gleichwohl überschaubar. Schlagwörter: Inschriften, Urkundenabschriften, Urkundenlayout, graphische Symbole, Deutschland, Italien

Im Fokus des Beitrags stehen Urkundeninschriften und von Urkunden beeinflusste Inschriften, die noch original erhalten und nicht nur in mehr oder weniger originalgetreuen Nachzeichnungen oder in geistvollen Rekonstruktionen überliefert sind. Somit müssten eigentlich zwei der bedeutendsten hochmittelalterlichen Urkundeninschriften des deutschen Sprachraums übergangen werden. Es handelt sich um die einzigen in unseren Breiten, die für besonders hochrangige Aussteller – die deutschen Kaiser Heinrich V. und Friedrich Barbarossa – überliefert sind, aber eben nur kopial. Diese Urkundeninschriften waren einst an den Haupteingängen der Dome zu

|| Franz-Albrecht Bornschlegel, Historisches Seminar, Abt. Historische Grundwissenschaften, Epigraphisches Forschungs- und Dokumentationszentrum, LMU München, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-012

332 | Franz-Albrecht Bornschlegel

Speyer1 und Worms2 angebracht, doch ist die ursprüngliche Gestaltung ihrer Schrift trotz bildlicher Überlieferung nicht bekannt. Ein Stich aus dem Jahre 1756 – die älteste noch vorhandene bildliche Überlieferung der inschriftlich fixierten Privilegien Kaiser Heinrichs V. für die Speyerer Bürger – zeigt einen fragmentarisch überlieferten Text, jedoch nicht in der für die Entstehungszeit typischen Romanischen Majuskel, sondern in der zeitgenössischen Kapitalis des 18. Jahrhunderts.3 (Abb. 1) Aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts stammt eine Fassung selbiger Inschrift durch den Kunstmaler und Heraldiker Otto HUPP, der Textpassagen ergänzen konnte und sich bei der Gestaltung der Schrift von epigraphischen Zeugnissen des 12. Jahrhunderts inspirieren ließ.4 (Abb. 2) Auch wenn die originäre Schrift am Speyerer Domportal ähnlich ausgesehen haben könnte, mag die graphisch anspruchsvolle Wandgestaltung, die HUPP für das Historische Museum der Pfalz in Speyer schuf, kaum Rückschlüsse auf die ursprüngliche Konzeption der Urkundeninschrift zulassen.5 Das gleiche gilt für die moderne Interpretation des von Kaiser Friedrich Barbarossa den Wormser Bürgern verliehenen Privilegs, die sich oberhalb des Nordportals des Wormser Doms befindet.6 (Abb. 3)

|| 1 Dem aktuellen Forschungsstand zufolge beruhte die Urkundeninschrift vom 14. August 1111 nicht wie üblich auf einer urkundlichen Vorlage, sondern auf einem Konzept. Ihre Zusammensetzung aus Teilen zweier Privilegien für die Bürger der Stadt Speyer vom 7. und 14. August 1111 erkannte und begründete jüngst Sebastian SCHOLZ, Die Urkundeninschriften Kaiser Heinrichs V. für Speyer aus dem Jahr 1111, in: Laura HEEG (Hg.), Die Salier. Macht im Wandel, München 2011, S. 166–173 (mit Textüberlieferung, Rekonstruktionsvorschlag und ausführlicher Quellen- und Literaturdokumentation) und DERS., Die Urkunden Kaiser Heinrichs V. für die Bürger der Stadt Speyer, 7. und 14. August 1111. Edition und Übersetzung, in: HEEG (Hg.), Salier (Anm. 1), S. 174–175. 2 Die Urkundeninschrift mit der Bestätigung von Privilegien der Wormser Bürger durch Kaiser Friedrich I. vom 3. Januar 1184 wurde spätestens 1689 zerstört. – Wiedergabe des ursprünglichen Textes der Urkundeninschrift Kaiser Friedrichs I. nach kopialer Überlieferung bei Rüdiger FUCHS, Die Inschriften der Stadt Worms (Die Deutschen Inschriften 29, Mainzer Reihe 2), Wiesbaden 1991, Nr. 26†. 3 Stich der Speyerer Domvorhalle; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Hs. Abt. Battsche Mappe, aus: SCHOLZ, Urkundeninschriften (Anm. 1), S. 166 Abb. 1. 4 Ebd., S. 171 Abb. 3. – Das Schriftbild ist vor allem geprägt von den zahlreichen, für diese Zeit typischen Enklaven und Nexus litterarum. 5 Siehe hingegen den neuen Erkenntnissen zugrunde liegenden Rekonstruktionsvorschlag für die Anordnung des Inschriftentextes von SCHOLZ, Urkundeninschriften (Anm. 1), S. 168 Abb. 2. 6 Das monumentale Thronbild des Herrschers und die deutschsprachige Inschrift, die nur einen Teil der vormaligen lateinischen Inschrift in Übersetzung bietet, stammen aus dem Jahr 1981; FUCHS (wie Anm. 2) S. 33. Abbildung bei Sebastian SCHOLZ, Die Urkundeninschriften in Speyer (1111), Mainz (1135) und Worms (1184) – Funktion und Bedeutung, in: HEEG (Hg.), Salier (Anm. 1), S. 162–165, hier S. 164 Abb. 2.

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1 Die Urkundeninschriften in der Forschung Bei der Ermittlung original überlieferter Urkundeninschriften kann man einzig für den deutschen Sprachraum auf eine flächendeckende Untersuchung zurückgreifen. Es ist dies die bei Peter ACHT angefertigte Münchener Dissertation von Wolfgang MÜLLER zu den Urkundeninschriften des deutschen Mittelalters.7 Die 1975 publizierte Arbeit ist über 40 Jahre nach ihrem Erscheinen zwar in einzelnen Fällen zu korrigieren, doch wissenschaftlich keineswegs überholt. Selbst den von MÜLLER ermittelten Bestand kann man heute nur um einige wenige Urkundeninschriften ergänzen, obgleich MÜLLER seinerzeit nur bedingt auf die großen nationalen epigraphischen Corpuswerke zurückgreifen konnte. Das Schweizer Inschriftenwerk hatte damals noch keinen Band hervorgebracht und aus der Reihe „Die Deutschen Inschriften“ lagen gerade mal 14 Bände vor. Heute ist die Edition der Inschriften der Schweiz bis zum Jahr 1300 mit fünf Bänden abgeschlossen, das deutsche Inschriftenwerk, das die Inschriften bis 1650 erfasst, hat in diesem Jahr mit seinen Bandnummern bereits die Marke 100 überschritten und mittlerweile etwa 45.000 Inschriften erfasst.8 Unter den 77 von MÜLLER zusammengetragenen kopial und original überlieferten Urkundeninschriften befinden sich Privilegien, Schenkungen, Stiftungen, Weihen, Übereinkünfte und eine Ablassgewährung sowie die Dokumentation einer Graböffnung – alles Rechtsinschriften, die aber nicht immer der strengen Definition einer Urkundeninschrift standhalten. Bezeichnet der Begriff ‚Urkundeninschriften‘ gemäß SCHOLZ nicht alle Inschriften, die einen Rechtsakt festhalten und dem Inhalt und zum Teil auch dem Formular der Pergamenturkunde nahestehen?9 MÜLLER meint, dass an die Beachtung einer bestimmten Form, insbesondere bei den Privaturkunden, keine allzu hohen Anforderungen zu stellen seien.10 Sein Inschriftenkatalog umfasst somit auch Inschriften in der Art eines Regests, die „den wesentlichen Inhalt eines Rechtsgeschäftes zusammenfassend wiedergeben, insbesondere wenn Anklänge an das übliche Urkundenformular zu erkennen sind“.11 Viele Bandbearbeiter des deutschen Inschriftenunternehmens schränken den Begriff ‚Urkundeninschrift‘ jedoch stärker ein, sodass in den seit den 1990er Jahren || 7 Wolfgang MÜLLER, Urkundeninschriften des deutschen Mittelalters (Münchener Historische Studien, Abteilung Geschichtl. Hilfswissenschaften 13), Kallmünz 1975. 8 Carl PFAFF (Hg.), Corpus Inscriptionum Medii Aevi Helvetiae. Die frühchristlichen und mittelalterlichen Inschriften der Schweiz (Scrinium Friburgense, Sonderbände 1–5), Freiburg i. d. Schweiz 1977–1997; Akademien der Wissenschaften in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz, München u. Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien (Hgg.), Die Deutschen Inschriften, 1942 ff. (derzeit erschienen: Bände 1–52, 54–93, 95, 96, 99–102 – Stand: 26.6.2019). 9 SCHOLZ (Anm. 6), S. 163. 10 MÜLLER (Anm. 7), S. 1. 11 Ebd.

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erweiterten und stärker vereinheitlichen Registern der Editionsbände unter dem Lemma ‚Urkundeninschrift‘ nicht alle gemäß der Definition von MÜLLER erfasst sind.12 Zahlenangaben zum Bestand der Urkundeninschriften in Deutschland sind somit sehr subjektiv und mit großer Vorsicht zu genießen. Der größte Reichtum an mittelalterlichen Urkundeninschriften findet sich zweifellos in Italien, wo nach dem Untergang des Römischen Reiches die Tradition, Rechtsinschriften im öffentlichen Raum zu proklamieren, nicht unterbrochen wurde.13 Der Großteil der in Urkundeninschriften festgehaltenen Rechtsakte, insbesondere Schenkungen und Vergünstigungen, erfolgte fortan von ‚privater‘ Seite. In großer Anzahl liegen auch monumentale Papsturkunden vor, die diejenigen der Könige und Kaiser zahlenmäßig bei weitem übertrafen. Einen Einblick in die Überlieferungsdichte der Urkundeninschriften in der Stadt Rom bietet die Monographie „Le carte lapidarie“ aus dem Jahre 1912 von Enrico PETRELLA.14 Er konnte in Rom 111 Urkundeninschriften vom Frühmittelalter bis zum Jahr 1857 nachweisen, 41 davon stammen aus der Zeit vor 1500, 24 nennen päpstliche Aussteller.

2 Graphische Wechselbeziehungen zwischen Urkunden und Inschriften Ein Aspekt der graphischen Wechselbeziehungen zwischen Urkunden und Inschriften – die Aufnahme epigraphischer Schriften oder Einzelformen in die Urkunden – soll hier nur mit zwei aussagekräftigen Beispielen vorgestellt werden. Thematisch haben sich damit bereits einige Forscher der byzantinischen und der deutschen Herr-

|| 12 Z. B Helga GIERSIEPEN, Die Inschriften der Stadt Bonn (Die Deutschen Inschriften 50, Düsseldorfer Reihe 4), Wiesbaden 2000, Nr. 21: „Weiheinschrift“; MÜLLER (Anm. 7), Nr. 7, Nr. 57; Sebastian SCHOLZ, Die Inschriften der Stadt Darmstadt und der Landkreise Darmstadt-Dieburg und Groß-Gerau (Die Deutschen Inschriften 49, Mainzer Reihe 6), Nr. 75: „Stiftungsinschrift“; zur Definition einer Urkundeninschrift siehe auch Deutsche Inschriften online, Der epigraphische Tipp, Folge 16: Was sind Urkundeninschriften und Rechtsinschriften? (Helga GIERSIEPEN), in: http://www.inschriften.net/the men/der-epigraphische-tipp/folge-16-was-ist-eine-urkundeninschrift-und-eine-rechtsinschrift.html. 13 MÜLLER (Anm. 7), S. 6. – Walter KOCH, Eine epigraphische Überlieferung einer Urkunde Kaiser Friedrichs II.?, in: Estudis Castellonencs 6 (1994/95), S. 695–708, hier S. 700; Jochen JOHRENDT, Ad perpetuam rei memoriam – Urkunden in Stein, in: Archiv für Diplomatik 60 (2014), S. 357–380, hier S. 359. 14 Enrico D. PETRELLA, Le carte lapidarie di Roma, Città di Castello 1912.

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scherurkunde befasst, ich nenne hier nur einige der großen Namen – Herbert HUNOtto KRESTEN16 und Walter KOCH. Der folgende Abriss zur Rezeption epigraphischer Elemente beruft sich auf den Beitrag „Epigraphik und Auszeichnungsschrift in Urkunden“ von Walter KOCH.17 Die für die Reichenau bestimmte Urkunde Kaiser Ottos III. vom 22. April 998 bricht in den äußeren Merkmalen mit der Tradition der deutschen Herrscherurkunde und führt anstelle der scriptura elongata als Schrift für Protokoll und Eschatokoll eine Auszeichnungsschrift mit fetten, monumentalen Buchstabenformen ein.18 (Abb. 4) Die fette Auszeichnungsmajuskel, die hier auf italienische Kanzleikräfte zurückzuführen ist, findet bis in staufische Zeit keinen größeren Widerhall in der Gestaltung der deutschen Königsurkunde, in der man beharrlich an der traditionellen Elongata festhält. (Abb. 5) Im Falle der Urkunde Ottos III. für die Reichenau bekundet ihr Walter KOCH ein „Auszeichnungspotential, das mancherlei Elemente des Epigraphischen deutlich aufweist“ und benennt epigraphische Gestaltungskriterien wie Nexus litterarum, Verschränkungen und Einfügungen kleiner Buchstaben, die die Auszeichnungsmajuskel der Signum- und Rekognitionszeile „mit voller Absicht aufgenommen“ hat.19 Das ungewöhnliche, ja fremdartige Urkundenbild mag bei dem Reichenauer Empfänger wohl Aufsehen erregt haben. Auch Papsturkunden und Privaturkunden zeigen Einflüsse epigraphischer Formen, die wiederum vornehmlich in Teilen des Protokolls oder des Eschatokolls auftreten. Mit interessanten Fallbeispielen dokumentiert KOCH im oben genannten Beitrag graphische Schreibweisen, unter anderem in normannischen, spanischen und französischen Königs- und Privaturkunden. Nicht immer lässt sich der Weg der Einflussnahme aber eindeutig bestimmen, wie bei dieser Gegenüberstellung der Urkundenschriften der Könige Ludwig VI. und Ludwig VII. von Frankreich von 1118 (Abb. 6) bzw. 1161 (Abb. 7) mit einer ausschließlich paläographisch datierten Grabinschrift aus Plaimpied im Departement Chers.20 (Abb. 8) Die Inschrift entstammt einer Serie GER15,

|| 15 Herbert HUNGER, Epigraphische Auszeichnungsmajuskel. Ein Beitrag zu einem bisher kaum beachteten Kapitel der griechischen Paläographie, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 26 (1977), S. 193–210. 16 Otto KRESTEN, Diplomatische Auszeichnungsschriften in Spätantike und Frühmittelalter, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 74 (1966), S. 1–50. 17 Walter KOCH, Epigraphik und Auszeichnungsschrift in Urkunden, in: Giuseppe DE GREGORIO u. Otto KRESTEN (Hgg.), Documenti medievali greci e latini. Studi comparativi. Atti del seminario di Erice (23–29 ottobre 1995), Spoleto 1998, S. 309–326. 18 KOCH (Anm. 17), Abb. 1 (Gesamtabbildung der Urkunde), Abb. 2 (Detailabbildung der Auszeichnungsmajuskel des Eschatokolls); Edition der Urkunde: D O III Nr. 279. 19 KOCH (Anm. 17), S. 310 u. S. 315–318. 20 Ebd., S. 321–322 Abb. 10–12.

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gleichartig gestalteter Grabinschriften, bei denen ausgefallene Formen und Zierelemente das schlichte Grabformular aufwerten.21 Die individuelle Ausgestaltung der Buchstaben und die markanten Zierpunkte finden mehr Entsprechung in der Urkunde Ludwigs VI. denn in der Urkunde Ludwigs VII. Kann man bei der Gegenüberstellung dieser Gestaltungselemente zeitgenössische epigraphische Schriften noch als Vorbilder reklamieren, oder finden – unabhängig davon – genuin epigraphische Elemente unmittelbar Eingang in die Urkunde, die nun ihrerseits epigraphische Schriften inspiriert? Eine oftmals schwer zu beantwortende Frage, umso mehr, als wir es vielfach mit undatierten Inschriften zu tun haben, die ich im Folgenden durch ausgewählte datierte Urkundeninschriften und Urkunden imitierende Inschriften ersetzen möchte. Dabei soll nun nicht der Einfluss der Inschrift auf die Urkunde weiterverfolgt werden, vielmehr gilt es, optisch wahrnehmbare Reflexe der Urkunde auf die Inschrift ins Blickfeld zu rücken. Für diesen Fall kann die Forschungsliteratur nur wenige Einzelbeispiele benennen.22

3 Urkundliche Zeichen und Symbole in den Urkundeninschriften Die wohl bekannteste Urkundeninschrift, die eine Übernahme urkundlicher Elemente in das epigraphische Medium dokumentiert, stammt aus Rom. Es handelt sich um die Steinurkunde Papst Gregors XI. vom 23. Januar 1372 aus dem Kreuzgang von San Giovanni in Laterano. (Abb. 9 a) Erst jüngst hat sich Jochen JOHRENDT im Rahmen der römischen Fachtagung „Der päpstliche Hof und sein Umfeld in epigraphischen Zeugnissen“ mit dieser Urkundeninschrift beschäftigt und hervorgehoben, dass es sich aufgrund der Eingangsformel ad futuram rei memoriam um den päpstlichen Urkundentyp einer Bulle handle.23 Für San Giovanni in Laterano kann er die interessante Aussage treffen, dass ausschließlich Bullen im kompletten Wortlaut in Stein übertragen wurden. Die Inschrift ist in der für die Zeit typischen epigraphischen Schrift, der Gotischen Majuskel, gestaltet und damit völlig losgelöst von der üblichen päpstlichen Urkundenminuskel. Es zeichnet sie ein deutlicher horror vacui aus, sie füllt die Fläche der steinernen Tafel bis in die äußersten Ecken und Winkel. Die dicht || 21 Estelle INGRAND-VARENNE unter Mitarbeit von Vincent DEBIAIS, Robert FAVREAU, Jean MICHAUD (†), Cécile TREFFORT, Cher (Corpus des inscriptions de la France médiévale 26), Paris 2016, Nr. 158, Nr. 160–167, datieren sie nach inschriftenpaläographischem Befund in die Mitte des 12. Jahrhunderts. 22 MÜLLER (Anm. 7), S. 18–19, der Nachahmungen von Zeichen und Beiwerk von Urkunden nur in wenigen Inschriften anführen kann, ist in Deutschland kein Fall bekannt, in dem das Schriftbild einer Urkunde bewusst nachgeahmt wurde. 23 JOHRENDT (Anm. 13), S. 368–376.

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gedrängten Buchstaben mit ihren weit ausfahrenden, diagonal ausgerichteten Schäften und Balken, die oftmals von der Linierung abweichen, bewirken ein unruhiges Schriftbild. JOHRENDT beschreibt die Formen eingehend und er verweist auch auf die Besonderheit der Inschrift, die bildliche Übertragung des Beglaubigungsmittels der Papsturkunde in das Medium Stein.24 Am unteren Rand der Inschrift wurde nämlich nahezu detailgetreu die Abbildung der Vorder- und der Rückseite des Bleisiegels Papst Gregors XI. in den Stein gemeißelt. (Abb. 9 b) Name, Titel und Ordnungszahl sind mit Kürzung und Kürzungszeichen zeilengerecht wiedergegeben, auf die Übernahme der rosettenartigen Worttrenner und die Punktlinierung wurde verzichtet. Bei der Übertragung des Bildstempels der Apostelfürsten Paulus und Petrus achtete man exakt auf die Position von Schrift, Kreuz und der beiden Kopfportraits. (Abb. 10) Die drei jeweils einem Apostel zugeordneten Buchstaben wurden aus Platzgründen auf zwei Buchstaben reduziert, auch hier fehlen die Punkteinfassungen. Hinsichtlich der Siegelabbildung handelt es sich jedenfalls um die einzig mir bekannte päpstliche Steinurkunde der Vormoderne. Wie sieht es aber allgemein mit der Übernahme urkundlicher Zeichen und Symbole in die Urkundeninschriften aus? Wolfgang MÜLLER nennt eine Urkundeninschrift Papst Innozenz‘ II. vom 4. November 1138 in Santa Maria di Garda, die das Subskriptionszeichen des Papstes – zwei doppelt durchgestrichene Schaft-S und ein Semikolon – nachbildete.25 Nicht nur für die Papsturkunde, sondern für sämtliche Urkundenaussteller scheint dies die Ausnahme zu bleiben.26 Im spanischen Perazancas de Ojeda in der Provinz Palencia ist für die Klosterkirche San Pelayo eine Gründungsinschrift aus dem Jahre 1076 überliefert, die diplomatische Formeln verwendet und von Kollegen der Universität León als Roboratio (Bekräftigungsurkunde) bezeichnet wird.27 (Abb. 11 a) Gemäß der Epigraphikerin Maria Encarnación MARTÍN LÓPEZ setzen die Disposition des Textes in Form eines offenen Buches und die Schrift gute Kenntnisse des Steinmetzen im Schreib- und Kanzleibetrieb voraus.28 Die ornamentalisierten Buchstaben O und T im Wort OBTINENTE der Datierungsformel, die sich von den übrigen Buchstaben der Inschrift deutlich abheben, finden in den äußerst variantenreichen, zeitgenössischen Inschriften der iberi-

|| 24 Ebd., S. 369–371 und vormals MÜLLER (Anm. 7), S. 18. 25 MÜLLER (Anm. 7), S. 18. 26 Ebd. 27 María E. MARTÍN LÓPEZ, Impaginatio, in: María E. MARTÍN LÓPEZ u. Vicente GARCÍA LOBO (Hgg.), Impaginatio en las inscripciones medievales (Corpus Inscriptionum Hispaniae Medievalium), León 2011, S. 231–246, hier S. 235, Santiago DOMÍNGUEZ SÁNCHEZ, Las fórmulas diplomáticas latinas en epigrafía. The diplomatic latin formulae in epigraphy, in: Documenta & Instrumenta 6 (2008), S. 179– 200, hier S. 190. 28 Ebd., S. 236.

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schen Halbinsel keine Absicherung und lassen an schreibschriftliche Vorlagen denken. Ob das beschädigte Zeichen am rechten Rand der Inschrift ein weiteres urkundliches Merkmal in Form einer Beglaubigung darstellt, ist umstritten. Es handelt sich um eine Figur mit Stab, die sich als in den Proportionen missglückter Abdruck des Siegels des Auftrag gebenden Abtes oder als Symbol des Abtes im Redegestus interpretieren ließe. (Abb. 11 b) Leider liegen bis heute nur sechs Editionsbände des modernen „Corpus Inscriptionum Hispaniae Medieaevalium“ vor, das Bildmaterial zu den Urkundeninschriften Spaniens ist somit nur schwer zugänglich.29 Zur Beziehung des Formulars von Inschriften und Urkunden kann auf die jüngeren Beiträge von MARTÍN LOPEZ, DOMÍNGUEZ SÁNCHEZ und FERNÁNDEZ FLÓREZ/HERRERO DE LA FUENTE verwiesen werden.30 Dem Phänomen der urkundlichen Inschriften als „graphisches Zeichen im städtischen Raum“ widmet sich Vincent DEBIAIS, dessen Vortrag „Epigraphic Functions, Epigraphic Effects in the so-called Medieval Stone Charters“ auf der römischen Fachtagung „Inschriftenkulturen im kommunalen Italien“ von 2016 erst jüngst in deutscher Übersetzung erschienen ist, für vorliegenden Beitrag aber nicht mehr ausgewertet werden

|| 29 Maximino GUTIÉRREZ ALVAREZ, Zamora. Colección Epigráfica (Monumenta Palaeographica Medii Aevi, Series Hispanica. Corpus Inscriptionum Hispaniae Medievalium 1/1), Turnhout-León 1997; Maria Encarnación MARTÍN LÓPEZ, Las inscripciones de la catedral de León (ss. IX–XX) (Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium 3), León 2014 – Die Edition weist keine Abbildungen auf; Unter der gleichnamigen Reihe mit neuer Zählung erschienen vier weitere, an der Universität von León angefertigte Inschrifteneditionen: Alejandro GARCÍA MURILLA, Burgos (siglos VIII–XIII): Las inscripciones medievales de la provincia de Burgos (Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium 1), León 2015; Natalia RODRÍGUEZ SUÁREZ, Salamanca (siglos VIII–XV) (Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium 2), León 2017; Nattalia RODRIGUEZ SUAREZ, Salamanca (siglos VIII–XV) (Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium 2), León 2017; Francisco J. MOLINA DE LA TORRE, Valladolid (siglos X–XV) (Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium 3), León 2017; Javier de SANTIAGO FERNÁNDEZ, Guadalajara (1112–1499) (Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium 4), León 2018. – Bei meiner Recherche nach Urkundeninschriften im spanischen Nordwestens konnte ich zudem auf Fotos des Epigraphischen Forschungs- und Dokumentationszentrums an der LMU München, die während mehrerer wissenschaftlicher Exkursion in die Provinz Kastilien und Leòn entstanden sind, zurückgreifen. 30 DOMÍNGUEZ SÁNCHEZ (Anm. 27), S. 179–200, Jose Antonio FERNÁNDEZ FLÓREZ u. Marta HERRERO DE LA FUENTE, La diplomática y las inscripciones, in: Maria Encarnación MARTÍN LÓPEZ u. Vicente GARCÍA LOBO (Hgg.), Las inscripciones góticas. Il Coloquio internacional de epigrafía medieval, León del 11 al 15 de septiembre 2006 (Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium), León 2010, S. 65–95. 30 Vincent DEBIAIS, Urkunden in Stein. Funktionen und Wirkungen urkundlicher Inschriften, in: Katharina BOLLE, Marc VON DER HÖH u. Nikolaus JASPERT (Hgg.), Inschriftenkulturen im kommunalen Italien: Traditionen, Brüche, Neuanfänge (Materiale Textkulturen 21), Berlin/Boston 2019, S. 65–90. – Siehe Tagungsbericht: Inschriftenkulturen im kommunalen Italien: Traditionen, Brüche, Neuanfänge / Culture epigrafiche nell’Italia comunale: Tradizioni, rotture, riprese, 19.05.2016– 20.05.2016 Rom, in: H-Soz-Kult, 09.02.2017 (www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6988; aufgerufen am 26.06.2019).

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konnte. Seine ausgewählten Beispiele entstammen dem italienischen, spanischen und französischen Raum des 10. bis 12. Jahrhunderts.31

4 Layout und Beiwerk der Urkundeninschriften Im Folgenden möchte ich mich dem Aspekt des Layouts zuwenden und der Frage: Geht die Urkundeninschrift in irgendeiner Weise auf das Format, auf die Einteilung der Schrift oder auf Hervorhebungen der Urkunde ein? Zumindest den Beschreibstoff einer Urkunde nachzuahmen, versucht eine in das frühe 13. Jahrhundert datierte steinerne Schenkungsinschrift aus Kaimt an der Mosel, indem sie an ihren Rändern eine leicht eingerollte Urkunde imitiert.32 Auf Wandmalereien konnte Jochen JOHRENDT weitere Beispiele für Papsturkunden in Italien erbringen.33 Die Zurschaustellung des Urkundeninhalts wurde dort, wie auch in Kaimt, mit Darstellungen der das entsprechende Dokument präsentierenden Aussteller verbunden. Bei der Urkundeninschrift Papst Gregors des Großen von San Paolo fuori le mura aus dem Jahre 604 (Abb. 12) handelt es sich um die älteste bekannte Überlieferung einer Papsturkunde in Form einer Inschrift.34 Auch gehört die in Marmor eingegrabene Inschrift zur absoluten Spitzenleistung der Epigraphik des 7. Jahrhunderts.35 In der Zeit niedrigen Schriftniveaus greift die Gregorurkunde auf die antike scriptura monumentalis zurück, die zwar Modifikationen gegenüber dem klassischen Vorbild zulässt, doch in der Disziplin der Zeilenführung und der Buchstabengestaltung eine für die päpstliche Epigraphik zukunftsweisende Richtung einschlägt. In offensichtlich deutlichem Nachempfinden der äußeren Merkmale päpstlicher Urkunden, für

|| 31 Vincent DEBIAIS, Urkunden in Stein. Funktionen und Wirkungen urkundlicher Inschriften, in: Katharina BOLLE, Marc VON DER HÖH u. Nikolaus JASPERT (Hgg.), Inschriftenkulturen im kommunalen Italien: Traditionen, Brüche, Neuanfänge (Materiale Textkulturen 21), Berlin/Boston 2019, S. 65–90. – Siehe Tagungsbericht: Inschriftenkulturen im kommunalen Italien: Traditionen, Brüche, Neuanfänge / Culture epigrafiche nell’Italia comunale: Tradizioni, rotture, riprese, 19.05.2016– 20.05.2016 Rom, in: H-Soz-Kult, 09.02.2017 (www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6988, aufgerufen am 26.06.2019). 32 Josef SCHOLL, Romanische Inschriftentafel in Zell-Kaimt, in: Paulinus-Kalender, Trierer Bistumskalender 1962, S. 43–45 mit Abb.; siehe auch MÜLLER (Anm. 7), Nr. 21 S. 77–78. 33 JOHRENDT (Anm. 13), führt die Urkunde Innozenz‘ III. (1198–1216) für das Benediktinerpriorat Sacro Speco in Subiaco, S. 361–363, sowie die Urkunden Bonifaz‘ IX. (1389–1404) und Martins V. (1417–1431) in S. Maria di Propezzano, S. 363–365, Abb. 1–3, an. 34 JOHRENDT (Anm. 13), S. 358. 35 Vgl. Walter KOCH, Inschriftenpaläographie des abendländischen Mittelalters und der früheren Neuzeit. Früh- und Hochmittelalter (Oldenbourg Historische Grundwissenschaften), Wien, München 2007, S. 82–83 sowie kürzlich DERS., Die epigraphische Schriftentwicklung in Rom, in: Archiv für Diplomatik 60 (2014), S. 219–252, hier S. 222.

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die in der ersten Zeile eine Auszeichnungsschrift anzunehmen ist, wurden die Buchstaben des Protokolls sichtbar vergrößert. Die am Ende des Kontextes freigestellte Grußformel BENE VALETE und die abgesetzte Datumszeile lassen sich ebenfalls als Charakteristika der päpstlichen Urkunden identifizieren, wie sie die erst später einsetzende Überlieferung der päpstlichen Originalurkunden aufweist.36 In nachfolgenden päpstlichen Urkundeninschriften der Stadt Rom zeigen sich derartige Hervorhebungen nicht mehr in dieser Deutlichkeit, sie beschränken sich allenfalls auf die Protokollzeile in kaum wahrnehmbaren Sperrungen oder in der Vergrößerung des ersten Buchstabens des Papstnamens. Bis zum Ende des hohen Mittelalters erscheint die päpstliche Urkundeninschrift Roms, wie auch die dortige Weiheund Stiftungsinschrift, meist als geschlossener, der Steintafel oftmals millimetergenau eingepasster Schriftblock mit Buchstabenformen in einheitlicher Größe. (Abb. 13) Die Konzeption der Inschrift nach dem Vorbild der Urkunden der Papstkanzlei bleibt bei den inschriftlich ausgeführten Papsturkunden die Ausnahme. Auch die Königs- und Privaturkunden können hinsichtlich des Layouts keine Impulse vermitteln.

5 Rezeption von Schrift und Buchstabenformen der Urkunde Ein letzter, aber gewichtiger Punkt meiner Ausführungen gilt der Rezeption der Schrift und Buchstabenformen der Urkunde im inschriftlichen Metier. Beispiele, bei denen eine Urkundenkursive oder Urkundenminuskel vollständig oder auch nur teilweise in das Medium Stein oder Metall übertragen wurden, lassen sich für Publizität suchende Urkundeninschriften nicht erbringen. Als zu unterschiedlich erweisen sich die Herstellungstechniken, zu kompliziert die Umsetzung kursiver Schriften, sodass ein Steinmetz, Gießer oder Metallgraveur des Mittelalters sich der zeitüblichen epigraphischen Schrift bedient und eben nicht die Urkundenschrift imitiert. Einzelne Formen oder Zierelemente mögen aber durchaus auf Anregungen aus dem urkundlichen Bereich zurückgehen, ob nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Für den deutschen Sprachraum konnte ich trotz Ausweitung meiner Recherche weit über das Mittelalter und den begrenzten Bereich der Urkundeninschriften hinaus nur wenige Inschriftenbeispiele ausfindig machen, die urkundliche Elemente in ihrer Schrift aufweisen oder für die urkundliche Vorbilder reklamiert wurden. Drei dieser seltenen Beispiele sollen hier vorgestellt werden.

|| 36 KOCH, Schriftentwicklung (Anm. 35), S. 222 Anm. 8; Harry BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre, Bd. 1, 4. Aufl. Berlin 1969, S. 72, nennt als älteste, in originaler Gestalt erhaltene Papsturkunde ein Privileg Paschalis I. von 819.

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Eine Sonderstellung, nicht nur innerhalb der Urkundeninschriften des deutschen Sprachraums, nimmt das Privileg des Mainzer Erzbischofs Adalbert I. am Marktportal des Mainzer Doms ein. (Abb. 14) Die Inschrift verläuft in durchgehenden 41 Zeilen mit insgesamt über 62 Metern Länge über die zwei Flügel der Bronzetüren und gilt damit unter den erhaltenen Urkundeninschriften als die längste des Heiligen Römischen Reiches. Diese Tatsache, aber auch ihre ungewöhnliche Entstehungsgeschichte, sowie ihre besondere Schriftform mit in Gold gefassten Buchstaben machen die Inschrift zu einem einzigartigen Denkmal, das allein in der epigraphischen Forschungsliteratur bereits vielfach behandelt wurde.37 Erzbischof Adalbert I. gewährte seinen Mainzer Bürgern zum Dank dafür, dass sie ihn aus der Haft Kaiser Heinrichs V. lösten, das Privileg, keinen Gerichtsaufgeboten und keiner Steueraufforderung von Vögten außerhalb der Stadtmauern Folge leisten zu müssen. Auch sicherte er ihnen zu, sie vor willkürlichen Steuerforderungen und gewalttätigen Eintreibungen zu schützen.38 Die urkundliche Erstausstellung dieses Privilegs ging verloren, historisch ist der Akt der Beurkundung zwischen 1118 und Herbst 1119 zu datieren.39 Im Jahre 1135 wurde das Privileg erneuert und in zwei nicht ganz textgleichen Ausfertigungen schriftlich festgehalten – in einer Pergamenturkunde sowie in der Urkundeninschrift am Mainzer Marktportal.40 Die ältere Forschung ging mitunter davon aus, dass – wie bei den meisten Urkundeninschriften üblich – die Pergamenturkunde als Vorbild für die Inschrift diente, wofür auch Schriftkriterien ins Feld geführt wurden.41 Weit besser als jedes Foto fängt der Abklatsch der Inschrift des Marktportals die gesamte Urkundeninschrift mit ihrem beträchtlichen Formenreichtum ein, der sei-

|| 37 Genannt seien an dieser Stelle nur die grundlegenden epigraphischen Editionen: Die christlichen Inschriften der Rheinlande von der Mitte des achten bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, hrsg. v. Franz Xaver KRAUS, Freiburg i. B., Leipzig 1894, Nr. 239 II S. 106, 108–112; Fritz Viktor ARENS aufgrund der Vorarbeiten von Konrad F. BAUER, Die Inschriften der Stadt Mainz von frühmittelalterlicher Zeit bis 1650 (Die Deutschen Inschriften 2, Heidelberger Reihe 2), Stuttgart 1958, Nr. 10 S. 10– 16; Susanne KERN auf der Grundlage der Vorarbeiten von Rüdiger FUCHS u. Britta HEDTKE, Die Inschriften des Mainzer Doms und des Dom- und Diözesanmuseums von 800 bis 1350 (Mainzer Inschriften 1), Wiesbaden 2010, S. 15–24 Nr. 2 sowie DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 12 (Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern), in: http://www.inschriften.net/mainz/inschrift/nr/dio001-sn10012.html#content (2011, aufgerufen am 26.6.2019), mit ausführlichen Literaturnachweisen. 38 KERN (Anm. 37), S. 20. 39 DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 12 (Anm. 37), S. 10, in Berufung auf MÜLLER (Anm. 7), S. 54. 40 Ebd., S. 31 bzw. S. 54; die Datierungsansätze der Urkundeninschrift reichten vor der tiefschürfenden Untersuchung von Wolfgang MÜLLER von 1135 bis 1165; siehe die Gegenüberstellung ebd., S. 60. 41 KRAUS (Anm. 37), S. 111–112; Konrad F. BAUER, Mainzer Epigraphik. Beiträge zur Geschichte der mittelalterlichen Monumentalschrift, in: Zeitschrift des Vereins für Buchwesen und Schrifttum 2/3 (1926), S. 31, führt „mancherlei Eigenarten“ des Kürzungssystems allgemein auf die Schreibschrift zurück, so auch ARENS/BAUER (Anm. 37), S. 11.

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nesgleichen sucht. (Abb. 15) Nahezu alle Formen, die in der zeitgenössischen Romanischen Majuskel möglich sind, kommen hier zur Anwendung – kapitale wie unziale Formen, Relikte wie eckige C und G sowie Q mit eingestellter Cauda, moderne Formen wie das pseudounziale A und die eingestreuten Minuskelformen b und q. Allein die A-Form ist in der Inschrift in 16 Spielarten überliefert.42 Eine derartige Formenexplosion, verbunden mit den überreichen Nexus litterarum, kann keine Inschrift des deutschen Sprachraums vorweisen. Die isolierte Stellung des Adalbertprivilegs in der Mainzer Inschriftenlandschaft mag ein flüchtiger Vergleich mit der zeitgleichen, wenn auch in Stein gemeißelten, Schenkungsurkunde von St. Ignaz aus dem 3. Viertel des 12. Jahrhunderts verdeutlichen.43 (Abb. 16) Die qualitativ anspruchslosere Inschrift der Mainzer Ignazkirche, wie auch andere inschriftlich realisierte private Schenkungsurkunden des 12. Jahrhunderts im Westen Mitteldeutschlands, bedienten sich eines erheblich reduzierten Formenvokabulars, das das Gros der zeitgenössischen Steininschriften auszeichnete.44 Aber auch im Material Blei ist eine derartige Vielfalt an Formen, Kürzungen, Nexus litterarum und Enklaven nicht zu belegen, wie die Grabinschrift für den 1137 verstorbenen Mainzer Erzbischof Adalbert I. exemplarisch verdeutlichen soll.45 (Abb. 17) Schöpft die Inschrift des Adalbertprivilegs vielleicht doch aus dem Repertoire urkundlicher Schriften, wie einige Forscher meinen?46 Vielfach genannt wird die häufige Anwendung des kursiven, offenen Minuskel-a, das dem Buchstaben übergestellt (z. B. Abb. 15, Zeile 13 rechts: Q(U)aM) oder ihm als Enklave eingestellt wird (z. B. Abb. 15, Zeile 5 links: Q(U)aNTA) und gleichfalls als eigenwilliger Ersatz für E-Caudata (z. B. Abb. 15, Zeile 17 links: QUaE) dient. Aber auch con-Zeichen, ur- und us-Häkchen sowie einige der Buchstabenformen, insbesondere || 42 Siehe u. a. Rudolf M. KLOOS, Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 2., ergänzte Aufl., Darmstadt 1992, S. 126, der die Urkundeninschrift noch um 1160 einordnete; zu den Buchstabenformen der Inschrift siehe insbesondere KOCH, Inschriftenpaläographie (Anm. 35), S. 201– 203, mit einer Zeichnung von zehn der unterschiedlichen Ausprägungen der A-Fomen. 43 ARENS/BAUER (Anm. 37), Nr. 17 mit Abb. Abklatsch (Datierung: M. 12. Jh.); KERN (Anm. 37), Nr. 15 mit Abb. (Datierung: 3. Viertel 12. Jahrhundert); DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 16 (Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern), in: http://www.inschriften.net/mainz/inschrift/nr/dio001-sn10016.html#content, mit Abb. (2011, aufgerufen am 26.6.2019) (Datierung: M. 12. Jh.). 44 Bezüge zum Adalbert-Privileg sind dennoch gegeben: DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 16 (Anm. 43), S. 2–3, verweisen auf bereits bei ARENS/BAUER (Anm. 37), Nr. 17, angeführte paläographische Ähnlichkeiten zur Inschrift des Adalbert-Privilegs sowie den in der Schenkungsurkunde als Aussteller und in der Beurkundung des Adalbert-Privilegs genannten Helferich; vgl. auch Rüdiger FUCHS, Eine Urkundenschrift aus Heßloch (Landkreis Alzey Worms), in: Mainzer Zeitschrift 87/88 (1992/1993) S. 381–384, hier S. 383–384, mit inschriftenpaläographischer Beurteilung des Neufundes und mit einer Auflistung inschriftlich umgesetzter privater Schenkungsurkunden. 45 ARENS/BAUER (Anm. 37), Nr. 12 mit Abb. Abklatsch; KERN (Anm. 37), S. 20; DIO 1, Mainz, SN1, Nr. 13 (Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke, Susanne Kern) in: http://www.inschriften.net/mainz/in schrift/nr/dio001-sn1-0013.html#content, mit Abb. (2011, aufgerufen am 28.02.2018). 46 Siehe MÜLLER (Anm. 7), S. 55c.

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das W (z. B. Abb. 15, Zeile 29 links: WINZEBURC), mögen auf Urkundenschriften zurückzuführen sein. Mit plausiblen Argumenten weist Wolfgang MÜLLER allerdings Meinungen zurück, die in der Urkundeninschrift Adalberts eine Abschrift der zeitgleichen Pergamenturkunde erkennen wollen.47 Diese 1993 vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv München in das Staatsarchiv Würzburg transferierte Urkunde, die durch ihre große kalligraphische Sorgfalt besticht, weist eine in Goldtinte geschriebene Elongata auf, was auf unserer Schwarz-Weiß-Abbildung leider schlecht nachzuvollziehen ist.48 (Abb. 18 a) Der Bezug zur Urkundeninschrift, die einst im Goldglanz erstrahlte, ist offensichtlich.49 Die Anknüpfungspunkte in der vom Notar Magnus geschriebenen Urkunde, insbesondere in dem vielzitierten offenen a, liegen jedoch nicht vor. MÜLLER vermerkt, dass in den Urkunden des bischöflichen Kanzleischreibers Magnus die offenen a-Formen stets in anderer Weise als in der Inschrift des Marktportals verwendet wurden, nämlich ausschließlich auf der Zeile und inmitten des Wortes.50 Ich meine zwar, die offenen a-Formen auch in den Hochstellungen bei gekürzten Worten erkennen zu können, dennoch folge ich der Argumentation von Wolfgang MÜLLER, dass das auf Pergament geschriebene Privileg nicht als Vorlage für die Inschrift gedient haben kann. Plausiblere Gründe gibt es nämlich für den umgekehrten Fall, dass die Inschrift für die Urkunde als Vorlage genutzt wurde. Ich werde mich hier auf die wichtigsten Punkte von MÜLLERS Beweisführung beschränken und aus dessen akribischem Textvergleich einige seiner Argumente optisch nachvollziehbar machen: So weist der Inschriftentext zwei gekürzte Worte auf, die in der Pergamenturkunde fehlen – in Zeile 9 das durch E mit Suspensionsstrich gekürzte E(TIAM) und in Zeile 10 das auf dem Türrand eingravierte V für V(IDELICET), das sowohl beim Abschreiben der Inschrift als auch bei der Erstellung des Abklatsches übersehen wurde. (Abb. 19: runde Markierung) Einige fehlerhafte Verdoppelungen in der Inschrift, die für den geübten Urkundenschreiber leichter erkennbar waren, wurden nicht in die Pergamenturkunde übertragen, wie das Wort FIDELES in Zeile 13 und die längere Textpassage unmittelbar darunter. (Abb. 19: rechteckige Markierung) Bei der Auflistung der Zeugen tilgte man in der bischöflichen Kanzlei durch Rasur nachträglich die Namen zweier Mainzer Bürger, Vorfahren der Personen, die maßgeblich an der Ermordung Erzbischof Arnolds im Jahre 1160 beteiligt waren.51 (Abb. 18 b, drittletzte Zeile des Kontextes)

|| 47 Ebd., S. 54–57, insbes. S. 57d. 48 StAWü, Mainzer Urkunde 5942/43; Edition des Urkundentextes in Mainzer Urkundenbuch 1: Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), hrsg. v. Manfred STIMMING (Arbeiten der Historischen Kommission für den Volksstaat Hessen), Darmstadt 1932, Nr. 600. 49 KERN (Anm. 37), S. 21 und DIO 1 (Anm. 37), S. 7. 50 Ebd., S. 57. 51 MÜLLER (Anm. 7), S. 55b; es handelt sich um die in der Inschrift verbliebenen Namen MEINGOZ CAMER(ARIVS) CIUITATIS DVODO F(RATE)R IPSI(VS) CAMERAR(II) (Abb. 19, Zeile 38 links).

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Entscheidende Erkenntnisse zum Entstehungsprozess kann man aus Schreibfehlern und Schreibvarianten der beiden 1135 erfolgten Ausfertigungen des Privilegs gewinnen. Für ausgeschlossen hält MÜLLER, dass manche Schreibfehler der Pergamenturkunde vom Graveur der Inschrift erkannt und verbessert wurden, diese scheinen bei der nicht gerade einfachen Lesung und Abschrift der Inschrift entstanden zu sein.52 Differenzen in der Schreibweise von Personen- und Ortsnamen führt MÜLLER auf die Routine des Urkundenschreibers Magnus zurück, der sie in der auch sonst von ihm in Urkunden verwendeten Weise geschrieben hat. Eine eigenmächtige Korrektur seitens des Graveurs hält MÜLLER für undenkbar. Das gilt auch für das die Datierungszeile einleitende FACTA, welches der Urkundenschreiber in das urkundenübliche acta abwandelte.53 Nachdem in der Regel die Empfänger der Urkunden Interesse an der inschriftlichen Ausführung der Urkunden hatten, erweist sich im Falle der Inschrift des Marktportals offensichtlich der Aussteller als Auftraggeber. Erzbischof Adalbert I. folgte bei seiner Inschrift der im Jahre 1111 von Heinrich V. ausgestellten Privileg-Inschrift am Speyerer Dom und hob in vergleichbarer Weise die Ehre der Bischofsstadt hervor und betonte damit zugleich seine eigene Ehre.54 Wenn auch die urkundliche Ausfertigung des Privilegs nicht Vorlage für die Inschrift bildete, so scheinen mit den vorgenannten schreibschriftlichen Elementen und der mittels Sperrung hervorgehobenen Intitulatio zumindest Bestandteile der Urkunde Eingang in dieses außerordentliche Denkmal gefunden zu haben. Weit eindeutigere Merkmale der Urkundenschrift lassen sich in der Inschrift der Pfarrkirche Maria Trost in Kremsbrücke/Kärnten belegen.55 Die Stiftungs- und Grundsteinlegungsinschrift der Pfarrkirche aus dem Jahre 1641, die mit dem Namen des Stifters, Kaiser Ferdinand III., beginnt, greift nicht nur auf urkundliches Formular zurück, sondern auch auf die Auszeichnungsschrift der Urkunden dieses Herrschers. (Abb. 20) Trotz objektiver Formulierung der Urkundeninschrift, die auf das einleitende Wir der Urkunden verzichtet, gestaltet der Steinmetz die Zierformen und Zierschleifen des F von Ferdinandus wie den ersten Buchstaben der urkundlichen Intitulatio. Die Auflösung des Schaftes von F in mehrere s-förmige Schwellzüge steht den Versalien der Auszeichnungsschriften in den prunkvollen Urkunden Ferdinands III. sehr nahe. Etwas freier umgesetzt, aber dennoch eindeutig an den Urkunden Ferdi-

|| 52 Ebd., S. 55–56. 53 Ebd., S. 56. 54 So auch die Deutung von KERN (Anm. 37), S. 23. 55 Vgl. Friedrich W. LEITNER, Die Inschriften des Bundeslandes Kärnten. 1. Teil: Die Inschriften der politischen Bezirke Spittal a. d. Drau und Hermagor (Die Deutschen Inschriften 21, Wiener Reihe 2), Wien, München 1982, S. 167 Nr. 377, Abb. 154.

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nands orientiert, sind die Zier- und Kontraschleifen der ersten Zeile, die Initiale übernimmt in Dimension und Form im Wesentlichen die weit in die Unterlänge führende spiralenförmige Schleife. (Abb. 21) Auch die Fraktur der Stiftungsinschrift weist in den Minuskelformen auf Anregungen aus der urkundlichen Auszeichnungsschrift hin. (Abb. 22) Die Vorlage für die links offene a-Form meine ich eher in der urkundlichen Vorlage als in dem doppelstöckigen a der Gotischen Minuskel zu erkennen. Aus den linksseitig geschwungenen Bögen der urkundlichen Fraktur ist wie beim a auch das d und o im Schwung unterbrochen und geöffnet. Das Bogen-r, das in den zeitgenössischen Inschriften durchaus Verwendung findet, scheint mir aber auch in diesem Fall auf eine urkundliche Vorlage zurückzugehen. Zuletzt möchte ich noch auf eine außergewöhnliche Schrift mit vielerlei urkundlichen Gestaltungselementen hinweisen, die erstaunlicherweise in einer Grabinschrift auftritt. Das 1536 angefertigte Epitaph des Sigismund von Preysing (†1561) in Moosen an der Vils zeigt auf seiner Schrifttafel eine reich verzierte Fraktur, die mit langgestreckten Versalien und ausgreifenden Zierschlaufen versehen ist. (Abb. 23) Der Kunsthistoriker Volker LIEDKE schrieb dieses Werk dem Landshuter Bildhauer Sigismund Taubenbeck zu und zog einen allgemeinen Vergleich zwischen der Inschrift und der Schreibweise der herzoglichen Kanzlei in Landshut.56 Zum Zeitpunkt der Entstehung des Epitaphs residierte in Landshut Herzog Ludwig X. (1514–1545), der sich gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm IV. die Regierung in Bayern teilte. Die Auszeichnungsformen in der Inschrift des Epitaphs und in den Urkunden Herzog Ludwigs X. weisen jedoch nur wenige Gemeinsamkeiten auf, die auf eine Schriftvorlage aus der herzoglichen Kanzlei hindeuten könnten. Der besonders auffällige, verschlaufte Anstrich, der in den Buchstaben P des Epitaphs (Abb. 24) und vornehmlich B in einigen der Herzogsurkunden mit einem weit ausholenden, nahezu waagrechten Schwung ansetzt, reicht für dezidierte Zuweisungen nicht aus.57 (Abb. 25) Die markanten Versalien des Epitaphs Preysing mit ihren langgezogenen, gebogenen Schäften, den oftmals mehrfach gezackten Vertikalstrichen und den feinen kunstvollen Zierschlaufen wie auch die lang gezogenen, verschnörkelten Oberlängen in der ersten Zeile orientierten sich aber offensichtlich an Gestaltungselementen feierlicher Urkundenschriften. Der innovative Bildhauer Taubenbeck könnte seine Vorlagen gleichwohl über Schreibmeister bezogen haben, von denen erste

|| 56 Volker LIEDKE, Die Baumeister- und Bildhauerfamilie Rottaler (1480–1533) (Ars Bavarica 5/6), München 1977, S. 206–207, Abb. 127, 129, 130, S. 363 Nr. B3, hier S. 206. 57 Abbildung 25 bietet in Nachzeichnungen die Zierformen und Auszeichnungselemente der Urkunden der Landshuter Kanzlei Herzog Ludwigs X. der 1530/40er Jahre anhand ausgewählter Urkundenbestände des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München.

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Schriftmusterbücher und Schriftanleitungen bereits im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts in gedruckter Form verfügbar waren.58

6 Fazit Die mühevolle Suche nach Inschriften, die Symbole, graphische Zeichen oder Gestaltungselemente aus Pergamenturkunden imitierten, förderte über die einschlägigen Untersuchungen zu Urkundeninschriften und großen Inschriften-Corpora hinaus nur wenige Ergebnisse zutage. In den Urkundeninschriften beschränken sich gesicherte bildliche Darstellungen des urkundlichen Beglaubigungsmittels in Form des Siegels oder des Subskriptionszeichens auf wenige Einzelbeispiele, die ausschließlich Päpste als Aussteller nennen. Päpstliche Urkundeninschriften sind es auch, die gelegentlich das Layout feierlicher päpstlicher Urkunden wiedergeben, indem sie das Protokoll durch Schriftvergrößerung hervorheben. Besonders deutlich zeichnet sich dies allerdings nur in der Urkundeninschrift Papst Gregors I. aus dem Jahre 604 ab, die zudem die Datierungszeile nach urkundlicher Gepflogenheit vom Kontext absetzt. Nicht nur in päpstlichen Urkundeninschriften findet man die sporadisch auftretenden Anspielungen auf Form und Beschreibstoff einer Urkunde. Die in Stein oder im Gemälde abgebildete Urkunde wird gerne um die sie darbietenden Stifter und Vertragspartner ergänzt. Nachahmungen der Urkundenschrift im epigaphischen Medium erfolgten äußerst selten und nie zur Gänze. Dabei galt das Interesse des Kopisten insbesondere den Zierbuchstaben und den hochgestellten kursiven Buchstaben und weniger der gesamten Auszeichnungszeile. Die Übernahme urkundlicher Schriftformen bleibt jedoch nicht allein auf Urkundeninschriften beschränkt, sie mag in der frühen Neuzeit auch auf andere Inschriftenarten überspringen.

|| 58 Siehe Werner DOEDE, Bibliographie deutscher Schreibmeisterbücher von Neudörffer bis 1800, Hamburg 1958, S. 37–45.

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Abb. 1: Stich der Speyerer Domvorhalle, 1756; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Hs. Abt. Battsche Mappe.

Abb. 2: Entwurf der Urkundeninschrift Kaiser Heinrichs V. für die Wandgestaltung des Historischen Museums der Pfalz, Speyer von Otto Hupp, Anf. 20. Jh.

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Abb. 3: Moderne Interpretation der Urkundeninschrift Kaiser Friedrichs I.; Worms, Nordportal.

Abb. 4: Auszeichnungsmajuskel der Urkunde Kaiser Ottos III., 998 Apr. 22 (D O III Nr. 279).

Abb. 5: Scriptura Elongata der Urkunde Kaiser Ottos III., 998 Apr. 29 (D O III Nr. 286).

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Abb. 6: Auszeichnungsmajuskel der Urkunde König Ludwigs VI. von Frankreich, 1118 vor Aug. 3.

Abb. 7: Auszeichnungsmajuskel der Urkunde König Ludwigs VII. von Frankreich, 1160 Aug. 1– 1161 Apr. 15.

Abb. 8: Grabinschrift des Kanonikers Radulfus, Mitte 12. Jh.; Plaimpied-Givaudins, Saint-Martin.

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Abb. 9 a,b: Urkundeninschrift Papst Gregors XI. mit Siegelabbild, dat. 1372 Jan. 23; Rom, San Giovanni in Laterano.

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Abb. 10 a, b: Siegel Papst Gregors XI. (1370–1378).

Abb. 11 a, b: Gründungsinschrift der Klosterkirche San Pelayo mit Roboratio; Perazancas de Ojeda/Palencia, 1076.

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Abb. 12: Urkundeninschrift Papst Gregors I., 604; Rom, San Paolo fuori le mura, Lapidarium.

Abb. 13: Urkundeninschrift Papst Gregors (VII.?) (1073–1085); Rom, Santi Giovanni e Paolo al Celio.

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Abb. 14: Urkundeninschrift des Mainzer Erzbischofs Adalbert I., 1135; Mainz, Dom, Marktportal.

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Abb. 15: Urkundeninschrift des Mainzer Erzbischofs Adalbert I., 1135 (Abklatsch); Mainz, Dom, Marktportal.

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Abb. 16: Schenkungsurkunde aus St. Ignaz, 3. V. 12. Jh. (Abklatsch); Mainz, Domkreuzgang.

Abb. 17: Bleitafel des Mainzer Erzbischofs Adalbert I., 1137; Mainz, Dom- und Diözesanmuseum.

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Abb. 18: Urkunde des Mainzer Erzbischofs Adalbert I., 1135 [vor Juni 4] (StA Wü., Mainzer Urkunde 5942/43).

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Abb. 19: Urkundeninschrift des Mainzer Erzbischofs Adalbert I., 1135 (Abklatsch mit Markierungen F.-A. Bornschlegel).

Abb. 20: Stiftungs- und Grundsteinlegungsinschrift, 1641; Kremsbrücke/Kärnten, Pfarrkirche.

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Abb. 21: Urkunde Kaiser Ferdinands III., 1640 Nov. 20 (Ausschnitt).

Abb. 22: Urkunde Kaiser Ferdinands III., 1641 Mai 11 (Ausschnitt).

Abb. 23: Epitaph des Sigismund von Preysing (†1561), 1536/1561 (Ausschnitt); Moosen a. d. Vils/Obb., Pfarrkirche.

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Abb. 24: Epitaph des Sigismund von Preysing, Alphabet der Versalien.

Abb. 25: Versalien in diversen Urkunden Herzogs Ludwigs X. von Bayern aus dem Zeitraum 1530 bis 1545 aus dem Urkundenbestand des Bayer. HStA München.

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Abbildungsnachweise Abb. 1, 2: Reproduktionen nach SCHOLZ, Urkundeninschriften (Anm. 1), S. 166 Abb. 1 und S. 171 Abb. 3. Abb. 3, 14: Reproduktionen nach SCHOLZ (Anm. 6), S. 164 Abb. 2 und S. 162 Abb. 1. Abb. 4: Reproduktion nach MGH Diplomata Nachträge: http://www.mgh-bibliothek.de/cgibin/acwww25/regsrch.pl?db=dd&wert=&recnums=1686:&barcode=&nachname= (zuletzt aufgerufen 26.6.2019). Abb. 5:

Reproduktion

nach

Lichtbildarchiv

älterer

Originalurkunden

Marburg

Zugangs-

nr. 2863: http://lba.hist.uni-marburg.de/lba-cgi/kleioc (zuletzt aufgerufen 26.6.2019). Abb. 6, 7: Reproduktionen nach Françoise GASPARRI, L’écriture des actes de Louis VI, Louis VII et Philippe Auguste (Centre de Recherches d’Histoire et de Philologie de la IVe section de l’École Pratique des Hautes Études 5, Hautes Études Médiévales et Modernes 20), Genève, Paris 1973, Taf. VII und Taf. XXIX. Abb. 8: Reproduktion nach INGRAND-VARENNE (Anm. 21), Nr. 160 Abb. S. 181. Abb. 9 a, b, 11 a, b, 20: Fotos F.-A. Bornschlegel. Abb. 10 a, b: Reproduktionen nach Siegelsammlung der MGH (4°Ah 56466 Rara), Papst Gregor XI. (13.11.1377). Abb. 12, 13: Reproduktionen nach Angelo SILVAGNI, Monumenta epigraphica christiana saeculo XIII antiquiora quae in Italiae finibus adhuc exstant, 1: Roma, hrsg. v. Angelo SILVAGNI, In Civitate Vaticana 1943, Tab. XII, 1 und Tab. XX, 6. Abb. 15, 16, 19: Reproduktionen nach ARENS/BAUER (Anm. 37), Abb. S. 12–13, Abb. S. 24 und Abb. S. 12–13 (mit Markierungen F.-A. Bornschlegel). Abb. 17: Reproduktion nach KERN (Anm. 37), Abb. S. 101. Abb. 18 a, b: Reproduktionen nach: Historische Grundwissenschaften, LMU München, Lehrsammlung (Urkundenreproduktionen) Peter Acht, Inv. 313. Abb. 21: Foto Stiftsarchiv Schlierbach - Urkunden 1640 XI 20. Abb. 22: Foto Archiv der Diözese Gurk - DKA Urkundenreihe 41-1-3-E Abb. 23: Reproduktion nach LIEDKE (Anm. 56), Abb. 129.

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Abb. 24, 25: Zeichnungen F.-A. Bornschlegel.

Wolfgang Huschner

Originale, imitierende Kopien, Fälschungen. Die Nutzung und Sicherung mittelalterlicher Herrscherurkunden durch geistliche Empfänger Italiens (10.‒12. Jahrhundert) Zusammenfassung: Im Mittelpunkt des Beitrages steht die Beantwortung der Frage, zu welchem Zweck Bischöfe, Domkapitel und Klöster in Italien imitierende Kopien von Herrscherurkunden anfertigten bzw. anfertigen ließen. Die Dokumente weisen unterschiedliche Grade an Nachzeichnung auf. Bei vollständigen Imitationen von Originalen ist danach zu fragen, ob die Schreiber Kopien oder Fälschungen herstellen wollten. Abschließend soll darauf eingegangen werden, wie die moderne Diplomatik imitierende Kopien beurteilt. Schlagwörter: Herrscherurkunden, Urkundenabschriften, Urkundenfälschungen, Urkundenlayout, Italien, Deutschland

Ausgehend von den Büroverhältnissen ihrer Zeit entwickelten die Diplomatiker um Theodor SICKEL, die im 19. Jahrhundert ottonische Diplome für die Monumenta Germaniae Historica (MGH) kritisch edierten, das Modell einer arbeitsteilig und hierarchisch (drei- oder vierstufig) organisierten Kanzlei am Königs- bzw. Kaiserhof. Auf Anweisung der Kanzler hätten darin ‚Kanzleibeamte‘, Diktatoren und Schreiber niederer sozialer Herkunft permanent Herrscherurkunden verfasst und geschrieben. Diplome, die vollständig oder partiell von Personen hergestellt worden waren, welche die MGH-Editoren mittels eines problematischen Hauptkriteriums (Schreiber für mindestens zwei verschiedene Empfänger = ‚Kanzleinotar‘) als Kanzleimitglieder einstuften, galten als ‚vollgültige‘ Originale. Demgegenüber wiesen sie Urkunden, die von Empfänger- oder Gelegenheitsschreibern stammten, eine reduzierte Autorität und Gültigkeit zu.1 Die MGH-Editionen der karolingischen, ottonischen und salischen Diplome erfolgten traditionell nach dem Ausstellerprinzip. Die diplomatische Beurteilung der einzelnen Originale beruhte vor allem auf der Beantwortung der Frage, ob sie in der ‚Kanzlei‘ am Herrscherhof entstanden bzw. ‚kanzleigemäß‘ waren oder

|| 1 Theodor SICKEL, Beiträge zur Diplomatik, VIII Teile in einem Band, Wien 1861‒1882 (ND Hildesheim, New York 1975). || Wolfgang Huschner, Universität Leipzig, Historisches Seminar, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-013

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nicht.2 Die ausstellerorientierte Beurteilung und Edition der Diplome prägte auch deren historische Auswertung. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts interpretierte sowohl die diplomatische als auch die historische Forschung die früh- und hochmittelalterlichen Urkunden des karolingischen Frankenreiches und des hochmittelalterlichen westlichen Imperiums vorrangig aus der Ausstellerperspektive. Im Zuge der Arbeiten an den MGH-Editionen der Diplome ostfränkischer Karolinger distanzierte sich Paul Fridolin KEHR in den 1930er Jahren in bestimmter Hinsicht von dem Modell eines modernen Kanzlei-Büros mit arbeitsteiliger und hierarchischer Organisation, die Theodor SICKEL auf die früh- und hochmittelalterlichen Herrscherhöfe projiziert hatte.3 Außerdem relativierte KEHR nach der Untersuchung des italienischen Materials die ausstellerfixierte Sicht SICKELS auf die Diplome, indem er Urkunden, die partiell oder vollständig von der Empfängerseite angefertigt worden waren, den gleichen Stellenwert zuerkannte wie jenen, die von Hofschreibern stammten.4 Die Kooperation von Hof- und Empfängerschreibern bei der inhaltlichen und graphischen Herstellung von Diplomen sowie die alleinige Anfertigung der Dokumente durch die Empfängerseite beurteilte KEHR als ein akzeptiertes und damit übliches Verfahren.5 Allerdings vermochte er sich nur partiell von dem bürokratischen

|| 2 Zur Entstehung des gedanklichen Modells einer arbeitsteilig und hierarchisch organisierten Kanzlei an den früh- und hochmittelalterlichen Herrscherhöfen Wolfgang HUSCHNER, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9. ‒ 11. Jahrhundert), 3 Bde. (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 52), Hannover 2003, hier Bd. I, S. 63‒94. 3 Paul KEHR, Die Kanzleien Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse 1933/1), Berlin 1933, S. 8: „Überhaupt waren die normalen Kanzleigeschäfte damals keineswegs derart, daß zu ihrer Erledigung ein eigenes großes Büro erforderlich gewesen wäre; selbst wenn wir doppelt soviel Urkunden, als erhalten sind, annähmen, so würde zu deren Bewältigung für eine wirkliche Kanzlei gar nicht Beschäftigung genug gewesen sein. Ich hege deshalb Bedenken, von einer ‚Kanzlei‘ als einer eigenen Behörde zu reden; man wird vielmehr sich diese Dinge gar nicht primitiv genug vorstellen dürfen. In der Regel wird die Anwesenheit von ein paar in den Kanzleigeschäften erfahrenen Geistlichen im Gefolge des Königs zur Erledigung der laufenden Geschäfte ausgereicht haben“. 4 Paul KEHR, Die Kanzlei Karls III. (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse 1936/8), Berlin 1936, S. 36: „sie überließen zumeist den italienischen Petenten die Herstellung der Urkunden, entweder indem sie die von diesen vorgelegten Konzepte annahmen und sie dann bloß ins reine schrieben, oder indem sie die Originalausfertigungen von den Petenten ganz oder zum Teil mundieren ließen und das Eschatokoll oder Teile desselben selbst hinzufügten […], oder sie begnügten sich, die Urkunden, so wie sie ihnen vorgelegt wurden, anzunehmen, zur Vollziehung vorzulegen und zur Besiegelung zu bringen.“ 5 KEHR (Anm. 4), S. 36: „die großen Bischöfe des Kaisers in Italien […] verfügten wohl auch selbst über Konzipienten und Schreiber, um das Urkundengeschäft selber besorgen zu können. Und in dem Maße, wie dies geschah, tritt zur Kaiserdiplomatik in gewissem Sinne ergänzend eine Diplomatik der oberitalienischen Bischofskanzleien“; S. 49: „Für die diplomatische Kritik sind diese Beobachtungen umso wichtiger, als sie uns nötigen, die von unseren bewährten Vorgängern überkommenden Lehrsätze über Originalität und Echtheit zu revidieren. Von der berühmten These von der ,bekannten

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Kanzleimodell SICKELS zu lösen. Für KEHR blieb in seiner Vorstellung und der daraus resultierenden Diktion eine hierarchisch eingerichtete (vormoderne) ‚Kanzlei‘ an den früh- und hochmittelalterlichen Herrscherhöfen existent. So begründete er den hohen Anteil der italienischen Empfänger an der Herstellung von Diplomen Karls III. durch fachliche Überforderung der aus Schwaben stammenden ‚Kanzleischreiber‘ sowie mit dem in der älteren diplomatischen Forschung häufig verwendeten Argument der ‚Überlastung‘ des ‚Kanzleipersonals‘, wenn es galt, die festgestellte Mitwirkung von Empfänger- oder Gelegenheitsschreibern an der Diplomanfertigung zu erklären.6 Bezüglich der ‚Überlastung‘ widersprach KEHR damit seiner eigenen, andernorts formulierten Meinung, wonach nur wenige Hofgeistliche für die anfallenden Beurkundungen erforderlich gewesen seien, selbst wenn man die doppelte Menge der tradierten Diplome annehmen würde.7 Mark MERSIOWSKY erklärt die Entstehung karolingischer Diplome im Ergebnis seiner umfangreichen Untersuchungen sehr differenziert und distanziert sich eindeutig von dem behördenartigen Modell der älteren Diplomatiker.8 Durch Peter RÜCK und seinen Kreis wurde seit den 1990er Jahren die Erforschung der äußeren Merkmale der Diplome sowie ihrer medialen Funktionen bei der Kommunikation des Herrschers mit den Großen in den Vordergrund gerückt.9 Ein Hauptergebnis bestand darin, dass Herrscherurkunden aufgrund ihrer besonderen äußeren und inneren Gestaltung nicht ‒ wie traditionell üblich ‒ als ‚Verwaltungsschriftgut‘,

|| Hand‘, die einst zur Anerkennung der Originalität gefordert wurde, kann schon lange keine Rede mehr sein […]. Und ebenso läßt uns das Postulat der ,Kanzleimäßigkeit‘ jetzt immer öfter im Stich.“ 6 KEHR (Anm. 4), S. 36: „für Liutwards schwäbische Kanzleiräte Hernust und Inquirinus und deren Schreiber war das gewiß eine neue Welt. Nicht nur in Bezug auf die von dem deutschen Urkundentypus abweichende Fassung der italienischen Diplome mit ihren sehr viel komplizierteren und entwickelteren Rechtsverhältnissen […], sondern auch wegen der unvermeidlichen Zunahme der Kanzleigeschäfte“. 7 KEHR (Anm. 3), S. 8. 8 Mark MERSIOWSKY, Die karolingische Kanzlei als Problem der Forschung, in: Le corti nell’alto Medioevo, 2 Bde. (Settimane di Studio della Fondazione Centro Italiano di Studi sull’alto Medioevo 62), Spoleto 2015, Bd. 1, S. 503‒541; DERS., Die Urkunde in der Karolingerzeit. Original, Urkundenpraxis und politische Kommunikation, 2 Bde. (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 60), Wiesbaden 2015. 9 Peter RÜCK, Die Urkunde als Kunstwerk, in: Anton von EUW u. Peter SCHREINER (Hgg.), Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und des Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 2, S. 311‒333; DERS., Bildberichte vom König. Kanzlerzeichen, königliche Monogramme und das Signet der salischen Dynastie (elementa diplomatica 4), Marburg a. d. Lahn 1996; Irmgard FEES, Zum Format der Kaiser- und Königsurkunden von der Karolingerzeit bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, in: Erika EISENLOHR u. Peter WORM (Hgg.), Arbeiten aus dem Marburger hilfswissenschaftlichen Institut (elementa diplomatica 8), Marburg a. d. Lahn 2000, S. 123‒132; Peter WORM, Ein neues Bild von der Urkunde: Peter Rück und seine Schüler, in: Archiv für Diplomatik 52 (2006), S. 335‒352.

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sondern als außergewöhnliche und spezifische Dokumente zu beurteilen seien, deren Empfänger in der Regel nur Repräsentanten der sozialen Führungsgruppen waren.10 Parallel dazu setzte sich in der historischen Forschung eine veränderte Sicht auf die Binnenstrukturen des früh- und hochmittelalterlichen westlichen Imperiums durch. Danach organisierten und trugen die Herrscher das Reich gemeinsam und konsensual mit geistlichen und weltlichen Fürsten.11 Die Entstehung, Ausstellung und Veröffentlichung der außergewöhnlichen Herrscherurkunden gehörte in den Rahmen der periodischen Kommunikation zwischen Fürsten und Herrschern. Sie entstanden im Ergebnis eines mündlichen Verhandlungsprozesses zwischen der Empfänger- und der Ausstellerseite, an dem auch Vermittler (Intervenienten) teilnehmen konnten. Diplome erhielten dadurch einen vertragsähnlichen Charakter. Diplomschreiber, welche die kaiserlichen und königlichen Aussteller durch entsprechende Titulaturen in den Protokollen der außergewöhnlichen Dokumente verbal und durch Monogramme graphisch darstellten, die an den Verhandlungen beteiligten hochrangigen Vermittler und Empfänger angemessen verbal und manchmal auch graphisch präsentierten sowie die mündlich und häufig volkssprachlich getroffenen Vereinbarungen in eine lateinische Version überführten, können kaum Personen ‚niederer‘ sozialer Herkunft gewesen sein, wie die diplomatische Forschung lange annahm. Hinsichtlich der ottonisch-frühsalischen Zeit wurde aufgrund diplomatischer und historischer Argumente die These formuliert, wonach amtierende und künftige Bischöfe sowie Domherren als Diplomschreiber fungierten, die ‒ ebenso wie die Empfänger und Vermittler ‒ aus adligen Familien stammten und zur intellektuellen Elite des ottonisch-salischen Reiches gehörten. Sie wirkten damit an der Kommunikation zwischen den Großen und den Herrschern an einer sehr wichtigen Stelle mit: an jener der Verschriftlichung der mündlich getroffenen Vereinbarungen. Über vorgeschlagene Identifizierungen bestimmter Personen mit Diplomschreibern kann man unterschiedlicher Meinung sein. Nicht zu bestreiten ist aber, dass viele amtierende und künftige Bischöfe, darunter Kanzler und Erzkanzler an den Herrscherhöfen, die diplomatische Minuskel fließend beherrschten, wie original tradierte Subskriptionen

|| 10 Hagen KELLER, Zu den Siegeln der Karolinger und Ottonen. Urkunden als ‚Hoheitszeichen‘ in der Kommunikation des Königs mit seinen Getreuen, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 400‒ 441. 11 Bernd SCHNEIDMÜLLER, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim HEINIG u. a. (Hgg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, S. 53‒87.

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beweisen.12 Anders als die älteren Diplomatiker glaubten,13 waren Kanzler und Erzkanzler sowie andere ranghohe Geistliche durchaus in der Lage und gewillt, solche exklusiven Dokumente, welche die Beziehungen zwischen den Herrschern und Angehörigen der sozialen Führungsgruppen betrafen, für die Aussteller- oder die Empfängerseite persönlich zu verfassen und zu schreiben. Bischof Hubert von Parma, Erzkanzler für Italien unter Otto I.14, und Bischof Kadeloh von Naumburg, Kanzler für Italien unter Konrad II. und Heinrich III.15, fertigten persönlich auch Herrscherurkunden für ihre eigenen Kirchen an. Auf dieser sozialen und intellektuellen Ebene ist weiter zu suchen, wenn es darum geht, die bisher meist namenlosen Schreiber ottonischer und salischer Diplome zu identifizieren. Die geistlichen Diplomschreiber wirkten sowohl für die Aussteller- als auch für die Empfängerseite und manchmal auch für jene der Intervenienten (Vermittler) an der inhaltlichen und graphischen Herstellung der Königs- und Kaiserurkunden mit. Mit Hilfe von Analysen der geographischen Relationen zwischen den Ausstellungsorten und den Empfängersitzen der Diplome, an deren Anfertigung die einzelnen Geistlichen beteiligt waren, lassen sich für die ottonisch-frühsalische Zeit überregionale und regionale Hofschreiber sowie regionale und lokale Empfängerschreiber unterscheiden. Dazu kommen ‚Gelegenheitsschreiber‘, die nur sporadisch und in großen zeitlichen Abständen in der Überlieferung auftauchen und sich den genannten vier Gruppen deshalb nicht zuordnen lassen.16

|| 12 Vgl. z. B. HUSCHNER (Anm. 2), Bd. III, Abb. 4a, 20a, 20b; 21; 22; 23, 24d, 27, 90, 100; Simone ALLEGRIA u. Francesca CENNI (Hgg.), Secoli XI e XII: L’invenzione della memoria. Atti del Seminario internazionale, Montepulciano, 27‒29 Aprile 2006 (Medieval Writing 1), Montepulciano 2006, S. 190, Abb. 13; S. 191, Abb. 14; S. 202, Abb. 26; S. 210, Abb. 37; S. 213, Abb. 45; S. 215, Abb. 47; S. 217, Abb. 49; S. 221‒225, Abb. 53‒57. 13 SICKEL (Anm. 1), Bd. VII, S. 716: „dass gerade dem Chef der Kanzlei nicht allein die Fertigkeit zu schreiben abgegangen, sondern auch die Vertrautheit mit den herkömmlichen Formeln.“; S. 721: „Um dem Amte (des Kanzlers, W.H.) in der Weise vorzustehen, wie es Salomon und Poppo gethan hatten, bedurfte es keiner besonderen Vorkenntnisse und Fertigkeiten.“; Paul KEHR, Die Urkunden Otto III., Innsbruck 1890, S. 21: „wurden im 9. und in späteren Jahrhunderten Männer an die Spitze der Kanzlei gestellt, welche ihr vorher nicht angehört hatten und schwerlich die Formalien des Kanzleidienstes beherrschten.“; S. 22: „Aber dass ein Mann wie dieser (Heribert, W.H.), seit 999 Erzbischof von Köln, der vertrauteste Rathgeber des Kaisers, […], sich um den niederen Kanzleidienst gekümmert hätte, ist kaum anzunehmen.“ 14 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. I, S. 101‒112; Antonella GHIGNOLI, Uberto di Parma, e la sua scrittura, in: Archiv für Diplomatik 61 (2015), S. 55‒89. 15 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. II, S. 864‒906; DERS., Die Originaldiplome Heinrichs III. für San Pietro in Ciel d’oro di Pavia, St. Peter in Naumburg und ihre Nachwirkungen, in: Paolo CHERUBINI u. Giovanna NICOLAJ (Hgg.), Sit liber gratus, quem servulus est operatus. Studi in onore di Alessandro Pratesi per il suo 90º compleanno, 2 Bde. (Littera antiqua 19), Città del Vaticano 2012, Bd. 1, S. 259‒271, hier S. 265‒268. 16 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. I, S. 48‒62.

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1 Aussteller- und empfängerorientierte Perspektiven in der diplomatischen und historischen Forschung Über die gegenwartsbezogene Bedeutung von Herrscherurkunden ‒ zu Lebzeiten von Aussteller, Empfänger und Vermittler ‒ ist seit dem 19. Jahrhundert viel geforscht worden. Diplome bieten in vielerlei Hinsicht eine gute Quellenbasis für historische Untersuchungen. Das betrifft beispielsweise Forschungen über die königliche Reiseherrschaft17 und die räumliche Reichweite königlichen Handelns sowie über die königlich-fürstliche Kooperations- und Versammlungspraxis.18 Da die Relevanz des Lehnswesens für die politische Organisation der früh- und hochmittelalterlichen Gesellschaft im lateinischen Europa gegenwärtig erst neu bestimmt werden muss,19 helfen inhaltliche und personenbezogene Analysen der Diplome, den Aufbau und die Funktionsweise des westlichen Imperiums und seiner regna zu verstehen. Mit Hilfe der in den Narrationes, Rekognitionen und später in den Zeugenlisten aufgeführten Personen kann man u. a. ermitteln, welche Großen sich dem jeweiligen Herrscher oder einem ‚Gegenkönig‘ zuordneten und welche nicht. Eine diplomatische Quellenbasis bietet sich ferner für die Erforschung der Verbindungen zwischen den Großen eines Imperiums, eines regnum,20 einer bestimmten Region21 sowie einzelner Fürsten || 17 Die Übereinstimmung von urkundlichem Ausstellungsdatum und -ort sowie der Herrscherpräsenz dürfte im westlichen Imperium während des Früh- und Hochmittelalters die Regel gewesen sein. Dazu Theo KÖLZER, Ein „System reisender Schreiber und Notare“ in der Kanzlei Karls des Großen?, in: Archiv für Diplomatik 62 (2016), S. 41‒58. 18 Eckhard MÜLLER-MERTENS, Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 25), Berlin 1980; DERS. u. Wolfgang HUSCHNER, Reichsintegration im Spiegel der Herrschaftspraxis Kaiser Konrads II. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 35), Weimar 1992; Elfie-Marita EIBL, Zur Stellung Bayerns und Rheinfrankens im Reiche Arnulfs von Kärnten, in: Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus 8 (1984), S. 73‒113; Wolfgang HUSCHNER, Königliche Herrschaftspraxis im ottonisch-frühsalischen Reich (919‒1056). Fernuniversität ‒ Gesamthochschule ‒ in Hagen. Lehrbrief, Hagen 1993; Dirk ALVERMANN, Königsherrschaft und Reichsintegration. Eine Untersuchung zur politischen Struktur von regna und imperium zur Zeit Kaiser Ottos II. (967) 973‒983 (Berliner Historische Studien 28), Berlin 1998; Oliver HERMANN, Lothar III. und sein Wirkungsbereich. Räumliche Bezüge königlichen Handelns im hochmittelalterlichen Reich (1125‒1137), Bochum 2000. 19 Jürgen DENDORFER u. Roman DEUTINGER (Hgg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte ‒ Quellenbefunde ‒ Deutungsrelevanz (Mittelalter-Forschungen 34), Ostfildern 2010. 20 Ursula BRUNHOFER, Arduin von Ivrea und seine Anhänger. Untersuchungen zum letzten italienischen Königtum des Mittelalters, Augsburg 1999; Nicolangelo D’ACUNTO: Nostrum Italicum regnum. Aspetti della politica italiana di Ottone III, Milano 2002. 21 Karina VIEHMANN, Die Herrscherurkunden für die Toskana im nachkarolingischen Regnum Italiae (888‒926), in: Antonella GHIGNOLI, Wolfgang HUSCHNER u. Marie Ulrike JAROS (Hgg.), Europäische Herrscher und die Toskana im Spiegel der urkundlichen Überlieferung (800‒1100) / I sovrani europei

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oder Institutionen22 zu den jeweiligen Herrschern sowie für die Untersuchung der Beziehungen der Großen untereinander23 an. Diese Urkunden können in Kombination mit anderen dokumentarischen Quellen auch dazu dienen, die Aktivitäten einzelner geistlicher oder weltlicher Großer bei der Reichsorganisation zu beurteilen.24 Wenn man nach Michael CLANCHY25 die drei Stadien in der Existenz von Herrscherurkunden ‒ ihre Genese, ihre gegenwartsbezogene Bedeutung sowie ihre Relevanz für spätere Generationen ‒ in den Blick nimmt, dann betreffen die beiden Stadien der Entstehung und der Nachwirkung vor allem die Verbindungen zwischen Diplomen und Empfängern. Deshalb müssen die bisherige ausstellerdominierte diplomatische Beurteilung und historische Interpretation durch eine empfängerorientierte Sichtweise ergänzt werden, bei der auch die Rolle der Vermittler angemessen zu berücksichtigen ist. Für die diplomatischen und historischen Forschungen sind beide Perspektiven gleichermaßen relevant. Bei der vorrangig empfänger- und vermittlerorientierten Forschung existiert aber großer Nachholbedarf. Besonders dieser Aufgabe widmet sich seit 2001 die internationale Forschergruppe „Italia Regia“; sie untersucht Herrscherurkunden für italienische Empfänger im Kontext der lokalen und regionalen Überlieferungen.26 Der Untersuchungsraum bietet sich nicht nur auf-

|| e la Toscana nel riflesso della tradizione documentaria (800‒1100) (Italia Regia. Fonti e ricerche per la storia medievale 1), Leipzig 2016, im Folgenden Italia Regia 1; hier S. 23‒36. 22 Nicolangelo D’ACUNTO, I rapporti tra i marchesi di Toscana e i sovrani salici nel riflesso di diplomi e placiti (1027‒1100), in: Italia Regia 1 (Anm. 21), S. 113‒118; Antonella GHIGNOLI, Italia Regia ‒ Etruria ‒ Lucca. Un nuovo diploma per l’abbazia di S. Salvatore a Sesto: D O. I. 270, in: Italia Regia 1 (Anm. 21), S. 59‒76; Sebastian ROEBERT: Herrscherurkunden des 9. und 10. Jahrhunderts für das Kloster San Salvatore al Monte Amiata: Eine Bestandsaufnahme, in: Italia Regia 1 (Anm. 21), S. 37‒53; Wolfgang HUSCHNER, Opportunist oder Pazifist? Die Amtsführung Bischof Bennos von Meißen (1066‒ 1105/1107) in den Sachsenkriegen und im Investiturstreit, in: Claudia KUNDE u. André THIEME (Hgg.), Ein Schatz nicht von Gold. Benno von Meißen. Sachsens erster Heiliger, Petersberg 2017, S. 62‒71. 23 Philippe DEPREUX, Le souverain, maître de l’échange?, in: Irmgard FEES u. Philippe DEPREUX (Hgg.), Tauschgeschäft und Tauschurkunde vom 8. bis zum 12. Jahrhundert. L'acte d'échange, du VIIIe au XIIe siècle (Archiv für Diplomatik, Beiheft 13), Köln, Weimar, Wien 2013, S. 45‒64. 24 Wolfgang HUSCHNER, Über die politische Bedeutung der Kanzler für Italien in spätottonischerfrühsalischer Zeit (1009‒1057), in: Archiv für Diplomatik 41 (1995), S. 31‒47; DERS., Piacenza ‒ Como ‒ Mainz ‒ Bamberg. Die Erzkanzler für Italien in den Regierungszeiten Ottos III. und Heinrichs II. (983‒1024), in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 26 (2000), S. 15‒52; Paolo TOMEI, Coordinamento e dispersione. L’arcicancelliere Uberto di Parma e la riorganizzazione ottoniana della marca di Tuscia, in: Italia Regia 1 (Anm. 21), S. 77‒85. 25 Michael T. CLANCHY, From Memory to Written Record. England 1066‒1307, 3. Aufl., Chichester 2013. 26 Wolfgang HUSCHNER, Einleitung, in: Italia Regia 1 (Anm. 21), S. 11.

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grund der vergleichsweise reichen Überlieferung, sondern auch durch die lange Tradition der (empfängerorientierten) Fonds-Editionen27 dafür besonders an. Neue Herrscherurkunden entstanden in der Regel auf Initiative der Empfänger, die für deren Textgestaltung bzw. für Entwürfe auf Urkunden in ihren Archiven zurückgriffen. Als Vorurkunden dienten den Destinatären aber nicht nur frühere Diplome, sondern auch bischöfliche, gräfliche und ‚private‘ Urkunden sowie Gerichtsurkunden.28 In der Papsturkundenforschung beschäftigt man sich seit einiger Zeit ebenfalls häufiger mit dem Einfluss der Empfängerseite auf die inhaltliche29 und graphische30 Gestaltung von früh- und hochmittelalterlichen Dokumenten.

|| 27 Aus jüngerer Zeit z. B. Carte della Badia di Settimo e della Badia di Buonsollazzo nell’Archivio di Stato di Firenze (998‒1200), hrsg. v. Antonella GHIGNOLI u. Anna Rosa FERRUCCI (Memoria scriptuarum, Testi 2), Florenz 2004; Carte dell’Archivio arcivescovile di Pisa. Fondo arcivescovile 1 (720‒ 1100), hrsg. v. Antonella GHIGNOLI (Biblioteca del “Bollettino storico Pisano”. Fonti 11/1), Pisa 2006; Carte dell’Archivio arcivescovile di Pisa. Fondo arcivescovile, Bd. 2 (1101‒1150), Bd. 3 (1151‒1200), hrsg. v. Silio P.P. SCALFATI (Biblioteca del “Bollettino storico Pisano”. Fonti 11/2, 3), Pisa 2006; Carte del monastero di S. Abbondio di Como. Dalla fondazione all’anno 1200, hrsg. v. Liliana Martinelli PERELLI (Documenti di storia lombarda, secoli X‒XV 1), Mailand 2009; Le carte dell’Archivio di Santa Maria di Pomposa (932‒1050), hrsg. v. Corinna MEZZETTI (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Regesta Chartarum 62), Rom 2016. 28 Wolfgang HUSCHNER, Empfänger ‒ Vermittler ‒ Schreiber. Die inhaltliche und graphische Entstehung der Diplome Konrads II. (1024‒1039) für Destinatäre in der Toskana, in: Italia Regia 1 (Anm. 21), S. 119‒134. 29 Hans-Hennig KORTÜM, Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896‒1046 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 17), Sigmaringen 1995; Jochen JOHRENDT, Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden (896‒ 1046) (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 33), Hannover 2004; DERS., Italien als Empfängerlandschaft (1046‒1198): ein Vergleich aus der Perspektive des Urkundenalltags in Ligurien, Umbrien und Kalabrien, in: Klaus HERBERS u. Jochen JOHRENDT (Hgg.), Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 5), Berlin, New York 2009, S. 183‒213. 30 Judith WERNER, Papsturkunden vom 9. bis ins 11. Jahrhundert. Zum Empfängereinfluss auf die äußere Urkundengestalt (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 43), Berlin, Boston 2017, S. 471: „Die Analyse der hier behandelten Originalurkunden legt nahe, dass vor dem 12. Jahrhundert auch die äußere Urkundengestalt in nicht unerheblichem Maße durch die Empfänger beeinflusst wurde. Auch hier brachten die verschiedenen Personen und Institutionen der christlichen Welt ihre eigenen Vorstellungen vom Papsttum und dessen Autorität ein.“

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2 Spätere Nutzung früh- und hochmittelalterlicher Diplome durch die Empfängerseite Eine wichtige diplomatische und historische Frage lautet, welche Relevanz karolingische, ottonische und salische Herrscherurkunden für spätere Generationen besaßen. Um sie zu beantworten, muss man die archivalische Überlieferung der Empfänger prüfen, weil Diplome der römisch-deutschen Könige nicht am Herrscherhof kopiert bzw. registriert, sondern nur in den Empfängerarchiven deponiert wurden. Solche Untersuchungen leisten u. a. einen Beitrag zur Diskussion über die Relationen zwischen den graphischen Charakteristika und den inhaltlichen Bestimmungen der Diplome.31 Auf diese Weise kann u. a. die Frage beantwortet werden, welche äußeren Merkmale der Originale bei späteren Abschriften noch als relevant erachtet wurden und welche nicht. Ein erster Schritt zur zielgerichteten Erforschung der späteren mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Nutzungs- und Überlieferungsgeschichte karolingischer, ottonischer und salischer Diplome wurde 2015 auf einer deutsch-italienischen Fachtagung unternommen.32 Dort konstatierte man u. a., dass nicht nur Fälschungen,33 sondern auch hoch- und spätmittelalterliche einfache und beglaubigte Abschriften sowie Kopialbücher häufig aus bestimmten Anlässen entstanden waren, oft in Verbindung mit der Austragung von Konflikten.34 In den meisten der untersuchten Fälle beschränkten sich die Kopisten bezüglich der äußeren Merkmale der Originalurkunden auf die Nachzeichnung der Herrschermonogramme. Gleichwohl bemühten sich Kopisten noch im 15. und 16. Jahrhundert darum, die verlängerte Schrift in den Zeilen des Eingangs- und des Schlussprotokolls graphisch besonders hervorzuheben.35 Im Rahmen von früh- und hochmittelalterlichen Gerichtsversammlungen in Italien verwendeten streitende Parteien originale und gefälschte Herrscherurkunden sowie Kopien, um ihre Rechtsansprüche zu untermauern. Die Diplome wurden in der

|| 31 Andrea STIELDORF, Die Magie der Urkunde, in: Archiv für Diplomatik 55 (2009), S. 1‒32. 32 Nicolangelo D’ACUNTO, Wolfgang HUSCHNER u. Sebastian ROEBERT (Hgg.), Originale ‒ Fälschungen ‒ Kopien. Kaiser- und Königsurkunden für Empfänger in „Deutschland“ und „Italien“ (9.‒11. Jahrhundert) und ihre Nachwirkungen im Hoch- und Spätmittelalter (bis ca. 1500) / Originali ‒ falsi ‒ copie. Documenti imperiali e regi per destinatari tedeschi e italiani (secc. IX‒XI) e i loro effetti nel Medioevo e nella prima età moderna (fino al 1500 circa) (Italia Regia. Fonti e ricerche per la storia medievale 3), Leipzig, Karlsruhe 2017, im Folgenden Italia Regia 3. 33 Simone COLLAVINI u. Paolo TOMEI, Beni fiscali e “scritturazione”. Nuove proposte sui contesti di rilascio e falsificazione di D O. III. 269 per il monastero di S. Ponziano a Lucca, in: Italia Regia 3 (Anm. 32), S. 205‒216. 34 Giacomo VIGNODELLI, Prima di Leone. Originali e copie di diplomi regi e imperiali nell’Archivio Capitolare di Vercelli, in: Italia Regia 3 (Anm. 32), S. 53‒80, hier S. 56‒62. 35 Corinna MEZZETTI, La tradizione dei diplomi dell’abbazia di Pomposa del sec. XI, in: Italia Regia 3 (Anm. 32), S. 39‒52, hier S. 44, Fig. 4.

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Regel wörtlich in die Gerichtsurkunden inseriert, die den Ablauf und das Ergebnis der Sitzungen dokumentierten. Die besonderen graphischen Merkmale der Herrscherurkunden wurden bei der Überführung ihres Wortlautes in Gerichtsurkunden in der Regel nicht übernommen; den Diplominhalt trug man in Form der üblichen Schrift der beteiligten Notare und Richter in die Gerichtsurkunden ein.36 Gelegentlich werden in den Archiven der siegreichen Parteien heute noch die originalen Herrscherurkunden zusammen mit den Gerichtsurkunden aufbewahrt, in die man sie inseriert hatte; manchmal sind die Pergamente sogar zusammengenäht. Bevorstehende gerichtliche Auseinandersetzungen waren häufig der Anlass für die Anfertigung von Kopien originaler Diplome oder von Fälschungen.37 In Gerichtsversammlungen wurden Herrscherurkunden häufig gezeigt und verlesen, um als Beweis für beanspruchte Besitzungen und Rechte zu dienen. Bischof Ermenald von Reggio Emilia (962‒979) stand nach der Herrschaftsübernahme Ottos I. in Italien (962) auf dessen Seite und wurde dafür belohnt. 964 ließ der Bischof das Eingangsprotokoll und den Kontext einer Urkunde Ottos I. an seiner Kirche schreiben. Das Eschatokoll fügte dann ein Hofgeistlicher hinzu, anschließend wurde sie besiegelt. In dieser Urkunde Ottos I. bestätigte man der bischöflichen Kirche von Reggio ein sehr umfangreiches Waldgebiet, das sie einst von Karl dem Großen bekommen hätte.38 Über die Bestimmung bezüglich des Waldes gab es Streit mit Anrainern, die auch das Diplom Ottos I. nicht anerkennen wollten. Der Kaiser stellte sich in diesem Fall hinter seinen Gefolgsmann, den Bischof von Reggio. Im Rahmen einer Gerichtsversammlung, an welcher der Kaiser persönlich teilnahm, wurde bestätigt, dass das Diplom Ottos I. für die Kirche von Reggio auf Weisung des Herrschers geschrieben und besiegelt und schließlich manu propria vollzogen worden sei. Darauf sprach man dem Bischof von Reggio die darin aufgelisteten Besitzungen zu.39 Das ottonische Diplom inserierte man anschließend in die Gerichtsurkunde. Geistliche und

|| 36 François BOUGARD, Diplômes et notices de plaid: dialogue et convergence, in: Italia Regia 1 (Anm. 21), S. 15‒22; DERS.: Les actes souverains dans les notices de plaids italiennes: originaux, copies, faux, in: Italia Regia 3 (Anm. 32), S. 33‒37. 37 Wolfgang HUSCHNER, Original, Abschrift oder Fälschung? Imitative Kopien von ottonischen und salischen Diplomen in italienischen Archiven, in: Olaf B. RADER (Hg.) unter Mitarbeit von Mathias LAWO, Turbata per aequora mundi. Dankesgabe an Eckhard Müller-Mertens (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 29), Hannover 2001, S. 49‒66, hier S. 59‒66. 38 Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., hrsg. v. Theodor SICKEL (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1), Hannover 1879‒1884, im Folgenden MGH DD O. I.; hier Nr. 268, S. 381‒383. 39 Zu diesem Fall Hagen KELLER u. Stefan AST, Ostensio cartae. Italienische Gerichtsurkunden des 10. Jahrhunderts zwischen Schriftlichkeit und Performanz, in: Archiv für Diplomatik 53 (2007), S. 99‒ 121.

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weltliche Große, die an der Versammlung teilgenommen hatten, subskribierten in der Gerichtsurkunde und verliehen ihr dadurch rechtliche Geltung.40 In italienischen Archiven lagern u. a. nicht beglaubigte Einzelabschriften und notariell beglaubigte Einzelabschriften karolingischer, ottonischer und salischer Diplome sowie Transsumpte und andere Formen beglaubigter Dokumente. Zudem finden sich dort Kopien von zwei, drei oder vier Urkunden verschiedener Herrscher gleichen oder ähnlichen Rechtsinhalts auf großen einzelnen Pergamentblättern. Auf solch großen Pergamenten vereinigte man abschriftlich auch Urkunden verschiedener Aussteller ‒ u. a. bischöfliche, kaiserliche, königliche, markgräfliche, gräfliche, päpstliche Dokumente ‒ über einen bestimmten Rechtsinhalt. Derartige kleinere Sammlungen zu einem bestimmten Thema wurden auch in Form von Pergamentrollen aufbewahrt, die oft Kopien von Urkunden verschiedener Aussteller enthalten.41 Natürlich existieren in den Archiven geistlicher Empfänger Italiens in der Regel auch Kopialbücher, die meist zwischen dem 12. und dem 15./16. Jahrhundert angelegt wurden. Zudem sind spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Listen von Urkunden tradiert, die sich zum Zeitpunkt ihrer Herstellung in den Empfängerarchiven befanden. Aus dem breiten Spektrum der abschriftlichen Überlieferung von Kaiser- und Königsurkunden in Archiven geistlicher Empfänger Italiens sollen im Folgenden einige Beispiele für imitierende Kopien und Fälschungen etwas näher betrachtet werden. Bei beiden Urkundenformen ging es nicht nur um die inhaltliche Textgestaltung, sondern auch um die Nachahmung äußerer Merkmale von originalen Diplomen. Hinsichtlich der imitierenden Kopien lassen sich vollständige Nachahmungen der Schriften in den Protokollen und Kontexten der originalen Diplome einschließlich der Nachzeichnung graphischer Symbole sowie partielle Nachahmungen der Originale unterscheiden. Letztere können die Wiedergabe der verlängerten Schriften im Eingangs- und im Schlussprotokoll oder nur von einem der beiden Protokollteile enthalten. Häufig imitierte man auch nur die Signumzeile mit dem Monogramm. Die Überlieferung sowohl von Originalen als auch von imitierenden Kopien in italienischen Archiven ermöglicht den Vergleich zwischen ihnen. In einem Diplom Ottos III. vom 6. Juli 998 (D O. III. 296), ausgestellt in Pistoia, bestätigte man den Kanonikern von Florenz die Besitzungen und die Immunität. Ein Hofgeistlicher Ottos III. (MGH-Sigle Heribert E) schrieb dieses Diplom unmittelbar nach einer Vorurkunde Ottos II.42, die er für den Kontext bis auf jeweils eine Passage

|| 40 I Placiti del «Regnum Italiae». Bd. 2, hrsg. v. Cesare MANARESI (Fonti per la storia d’Italia 96), Rom 1957, S. 37‒43, Nr. 152. 41 VIGNODELLI (Anm. 34), S. 56‒62. 42 Die Urkunden Otto des II., hrsg. v. Theodor SICKEL (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2/1), Hannover 1888, im Folgenden MGH DD O. II.; hier Nr. 268, S. 311f.

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in der Arenga und in der Corroboratio wörtlich wiederholte.43 Seine Schrift44 findet sich in mehreren anderen Diplomen Ottos III.45 Vom D O. III. 296 sind sowohl das Original als auch eine vollständig imitierende Kopie aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts überliefert; darin wurde das Schlussprotokoll besonders gut nachgeahmt. Die imitierende Kopie stammt wohl von einem Empfängerschreiber, der dafür ein Format wählte, das dem des Originals ähnelte. Das Original des D O. III. 296 weist am Ende der Datierung die Löcher für die Befestigung des Bleisiegels Ottos III. auf, das heute noch existiert, aber separat aufbewahrt wird. Am Pergament der imitierenden Kopie sind dagegen keinerlei Besiegelungsspuren zu erkennen. In diesem Fall ist die Unterscheidung von Original und imitierender Kopie relativ einfach; läge das Original nicht vor, wäre die diplomatische Beurteilung der vollständig imitierenden Kopie schwieriger. Durch ein Diplom Kaiser Konrads II. vom 10. Juli 1037 (D Ko. II. 246), ausgestellt in Verona, bestätigte man dem Florentiner Domkapitel abermals die Besitzungen sowie den kaiserlichen Schutz. Das D O. III. 296 diente als eine der drei Vorurkunden für die Anfertigung der Urkunde Konrads II.46 Angefertigt wurde es durch Bischof Kadeloh von Naumburg, den kaiserlichen Kanzler für Italien. Er beschrieb das Pergament im Hochformat. Etwa die obere Hälfte des Pergaments verwendete Kadeloh für das Eingangsprotokoll und den Kontext, die untere Hälfte für eine großzügige Anordnung des Schlussprotokolls. Für die diplomatische Minuskel des Bischofs, die er für die graphische Gestaltung des Kontextes nutzte, sind zierliche Buchstaben und senkrecht hoch aufragende Schäfte bei den entsprechenden Buchstaben charakteristisch.47 Im Schlussprotokoll führte er die Signumzeile und die Rekognitionszeile in verlängerter Schrift, etwa in gleicher Höhe, aus. Kadeloh zeichnete ein relativ großes Namens- und Titelmonogramm für Konrad II., das einen ‚Vollziehungsstrich‘ enthält. Das Siegel des D Ko. II. 246 ist heute verloren; auf dem Pergament existiert aber ein Siegelschatten. Der Schreiber der imitierenden Kopie,48 die noch im 11. oder im frühen 12. Jahrhundert angefertigt wurde, wählte im Vergleich zum Original ein deutlich

|| 43 Die Urkunden Otto des III., hrsg. v. Theodor SICKEL (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 2/2), Hannover 1893, im Folgenden MGH DD O. III; hier Nr. 296, S. 721f. 44 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. III, Abb. 40a‒b, Ausschnitte aus dem Kontext und der Datierung des DD O. III. 296. 45 MGH DD O. III. (Anm. 43), Nr. 301, S. 726f.; Nr. 350, S. 779f.; Nr. 351, S. 780f. 46 Die Urkunden Konrads II. Mit Nachträgen zu den Urkunden Heinrichs II, hrsg. v. Harry BRESSLAU unter Mitwirkung von Hans WIBEL u. Alfred HESSEL (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 4), Hannover, Leipzig 1909, im Folgenden MGH DD Ko. II.; hier Nr. 246, S. 338‒340. 47 Zu den Schriftmerkmalen des Bischofs und Kanzlers HUSCHNER (Anm. 2), Bd. II, S. 864f, Anm. 402; S. 868‒871; Bd. III, Abb. 84a‒b, 88a‒c, 89a‒b. 48 Das Original und die imitierende Kopie des DD Ko. II. 246 lagern im Archivio Capitolare Florenz.

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schmaleres Hochformat. Die verlängerte Schrift des Eingangs- und des Schlussprotokolls aus dem Original ahmte der Kopist besonders gut nach. Die Kontextschrift Kadelohs von Naumburg imitierte er bezüglich der geringen Buchstabenhöhe und der Hauptcharakteristika der diplomatischen Minuskel; allerdings verschleifte der Kopist die Oberlängen des s viel häufiger mehrfach als der Schreiber des Originals. lm Eschatokoll ließ der Kopist das Herrschermonogramm weg. Spuren einer Besiegelung existieren nicht. Original und (partiell) imitierende Kopie lassen sich besonders durch die unterschiedlichen Formate, das nicht nachgezeichnete Herrschermonogramm und die fehlenden Besiegelungsspuren in der Abschrift deutlich voneinander unterscheiden. In der ersten Hälfte des Jahres 1000 unternahm Kaiser Otto III. seine berühmte Reise von Rom über Verona und Regensburg nach Gnesen, von dort über Magdeburg und Quedlinburg nach Aachen und von Aachen über Tribur, den Hohentwiel und Chur zurück nach Italien.49 Ende Juni/Anfang Juli hielt sich der Herrscher in Pavia auf. Auf Bitte des Abtes erhielt dort das Kloster San Salvatore eine Kaiserurkunde. Darin bestätigte Otto III. für das Seelenheil seiner Eltern und seiner 999 verstorbenen Großmutter Adelheid sowie für sein eigenes dem Kloster die Besitzungen, darunter auch jene, die es von der Kaiserin Adelheid erhalten hatte; zudem bestätigte man in dem Diplom die Immunität sowie das Recht der Abtswahl (D O. III. 375).50 Das Original wurde von einem ottonischen Hofgeistlichen auf der Grundlage von Vorurkunden, welche die Empfängerseite präsentierte, verfasst und geschrieben. Die MGH-Editoren bezeichneten diesen Diplomschreiber mit der Sigle „Heribert C“; es spricht vieles dafür, dass er mit dem kaiserlichen Kanzler Heribert identisch war, der 999 Erzbischof von Köln wurde.51 Der Hofgeistliche eröffnete das D O. III. 375, das er im Hochformat anfertigte, mit einem großen verzierten Chrismon (symbolische Invocatio) und einer Initiale bei der verbalen Invocatio. Das D O. III. 375 ist das letzte tradierte Dokument, in dem die spezifische erweiterte Titulatur für Otto III. im Eingangsprotokoll enthalten ist,52 die Heribert (C) während der berühmten Reise im Jahre 1000 in Diplomen für ausgewählte Empfänger verwendete. Im Schlussprotokoll enthält das Original ein vergrößertes Namen- und Titelmonogramm Ottos III.

|| 49 Wolfgang HUSCHNER, Rom ‒ Gnesen ‒ Quedlinburg ‒ Aachen ‒ Rom. Die Reise Kaiser Ottos III. nach Aachen im Jahre 1000, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 113/114 (2011/2012), S. 31‒ 59. 50 MGH DD O III. (Anm. 43), Nr. 375, S. 802f. 51 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. I, S. 183‒196. 52 MGH DD O. III. (Anm. 43), Nr. 375, S. 802: Otto tercius servus Iesu Christi et Romanorum imperator augustus secundum voluntatem dei salvatoris nostrique liberatoris. Zur Interpretation dieser Titulatur Johannes FRIED, Der hl. Adalbert und Gnesen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998), S. 41‒70, hier S. 56‒63.

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Seit April 998 verwendete man am Hof Ottos III. anstelle der bisherigen Wachssiegel Bleibullen für die Beglaubigung der kaiserlichen Diplome. Nach der kontinuierlichen Angleichung der urkundlichen Titulatur (Romanorum imperator augustus statt imperator augustus) für Otto III. seit Ostern 99753 wurde mit den Metallsiegeln auch die oströmisch-byzantinische Beglaubigungsform übernommen.54 Durch die Herrschertitulatur und die Beglaubigungsform unterstrich man die Gleichrangigkeit zwischen dem östlichen (byzantinischen) und dem westlichen (ottonischen) Kaiser der Römer. Die östlichen Imperatoren hatten das Römische Kaisertum seit der Zeit Karls des Großen exklusiv für sich beansprucht. In den Regierungszeiten Ottos I. (936‒973) und Ottos II. (973‒983) akzeptierte oder tolerierte man an deren Höfen diese kaiserliche titulare Hierarchie,55 nach der Kaiserkrönung Ottos III. (996) aber nicht mehr. Seit der Einführung der Bleibullen anstelle der Wachssiegel als Beglaubigungsmittel 998 zeichnete Heribert (C) die Monogramme Ottos III. deutlich größer; sie wurden damit zum alleinigen optischen Zentrum der Kaiserurkunden. Am Beginn der Rekognitionszeile des D O. III. 375 hob Heribert (C) den Namen des Kanzlers durch Verschränkung (Nexus litterarum) der beiden Anfangsbuchstaben und deren verstärkte graphische Ausführung visuell hervor. Die Löcher für die Befestigung des heute nicht mehr vorhandenen kaiserlichen Bleisiegels befinden sich am unteren Rand des Pergaments in der Mitte.56 Im Staatsarchiv Mailand lagern außer dem Original auch mehrere Abschriften des D O. III. 375, darunter eine imitierende Kopie aus dem 11. oder frühen 12. Jahrhundert. Der Kopist verwendete ein ähnlich großes Pergamentstück wie für das Original; ebenso wie beim Original befinden sich auf dem Pergament der Kopie waagerechte blinde Linien für die Einhaltung regelmäßiger Zeilenabstände. Der Kopist ahmte alle graphischen Hervorhebungen im Eingangs- und Schlussprotokoll sowie im Kontext des Originals möglichst genau nach. Das betrifft besonders die Initiale bei der verbalen Invocatio, das Herrschermonogramm und den Kanzlernamen. Die verlängerte Schrift in der Kopie wurde sehr ähnlich wie im Original ausgeführt. Häufige Abweichungen vom Original finden sich in der Kontextschrift der Kopie. Der unbekannte Schreiber der imitierenden Kopie verwendete ein Perga-

|| 53 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. I., S. 340– 352. 54 Hagen KELLER, Die Siegel und Bullen Ottos III., in: Alfried WIECZOREK u. Hans-Martin HINZ (Hgg.), Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, 2 Bde., Stuttgart 2000, hier Bd. 2, S. 767‒773. 55 Wolfgang HUSCHNER, Kaiser der Franken oder Kaiser der Römer? Die neue imperiale Würde Ottos I. im euromediterranen Raum, in: Matthias Puhle und Gabriele Köster (Hgg.), Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, Regensburg 2012, S. 518‒527; HUSCHNER (Anm. 2), Bd. I, S. 326‒332. 56 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. III, Abb. 37a‒d.

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mentstück, das einst ein Wachssiegel trug. Aufgrund des Durchmessers des vorhandenen Abdrucks könnte es ein Siegel Heinrichs II. (1002‒1024) oder Konrads II. (1024‒1039) gewesen sein. Die hauptsächliche Vorurkunde für das D O. III. 375 soll ein entsprechendes Diplom Ottos II. für denselben Empfänger, das Kloster San Salvatore bei Pavia, gewesen sein (D O. II. 281), dessen Original nicht erhalten ist. Die MGH-Editoren beurteilten die überlieferte Urkunde Ottos II. für das Kloster als interpolierte Nachzeichnung des verlorenen Originals.57 Gegen diese diplomatische Beurteilung sprechen aber die äußeren Merkmale und die im Kontext aufgeführte Liste der Besitzungen. Das D O. II. 281 von angeblich 982 enthält mehr Besitzungen als im originalen D O. III. 375 aus dem Jahre 1000 aufgeführt wurden. Die graphische Gestaltung des Schlussprotokolls im D O. II. 281 schließt aus, dass es sich um die Nachzeichnung eines originalen Diploms Ottos II. handelt. Der Schreiber zeichnete kein Monogramm Kaiser Ottos II., sondern ein Monogramm Kaiser Ottos III. auf das Pergament.58 Wahrscheinlich benutzte er dafür das originale D O. III. 375 des Jahres 1000 aus dem Empfängerarchiv als Vorlage. Den Monogrammen Ottos II. fehlt das A im Zentrum des Monogramms Ottos III.; die Buchstabenbelegung auf den Querbalken der beiden T ist ebenfalls anders.59 Der Schreiber des D O. II. 281 bildete am unteren Rand des Pergaments eine Plika mit zwei Löchern, die für die Anbringung eines kaiserlichen Metallsiegels erforderlich gewesen wären; hier dürfte ebenfalls nach dem Vorbild des originalen D O. III. 375 verfahren worden sein. Für die Beglaubigung der Diplome Ottos II. verwendete man aber Wachssiegel und keine Bleibullen.60 Inhaltliche und äußere Merkmale sprechen demnach gegen die Echtheit des Diploms Ottos II.; es ist vielmehr als spätere Fälschung durch die Empfängerseite einzustufen, die im 11. Jahrhundert u. a. zur Erweiterung der Besitzansprüche des Klosters dienen sollte. In der Urkunde Kaiser Heinrichs II. von 1014 für San Salvatore bei Pavia – die bis auf die Signumzeile vollständig von einem Schreiber der Empfängerseite aufgesetzt wurde –, tauchen mehrere Besitzungen auf, die im D O. II. 281 enthalten sind, nicht aber im D O. III. 375. Deshalb wäre es möglich, dass die Empfängerseite nicht nur das D O. III. 375, sondern auch das D O. II. 281 am Kaiserhof als Vorurkunden präsentierte.61 1026 erwirkten die Mönche von San Salvatore eine Bestätigung des D H. II. 284 durch König Konrad II.

|| 57 MGH DD O. II. (Anm. 42), Nr. 281, S. 327f.; MGH DD O. III. (Anm. 43), Vorbemerkung zu Nr. 375, S. 802. 58 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. I, S. 125, Anm. 460; Bd. III, Abb. 12. 59 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. III, Abb. 9, 10, 44b. 60 Das D O. II. 282, ein Mandat (MGH DD O. II. [Anm. 42], S. 329), gehört nicht in die Regierungszeit Kaiser Ottos II., sondern in jene Kaiser Ottos III. 61 Die Urkunden Heinrichs II., hrsg. v. Harry BRESSLAU u. Hermann BLOCH unter Mitwirkung von M. MEYER u. Robert HOLTZMANN (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 3), Hannover 1900–1903, im Folgenden MGH DD H. II; hier Nr. 284, S. 335‒337.

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(1024‒1039). Die Rekognition und Datierung sowie das Monogramm im Diplom Konrads II. stammen von einem Hofgeistlichen, alles andere übernahm wieder ein Empfängerschreiber. Er fügte in die Liste der Klosterbesitzungen gegenüber dem D H. II. 284 einen weiteren Ort (Offanengo) ein, der ebenfalls im D O. II. 281 enthalten ist.62. Als König Heinrich IV. Anfang April 1077 in Pavia weilte, ließen sich die Mönche von San Salvatore ihre Besitzungen sowie die Immunität und das Wahlrecht abermals bestätigen. Dieses Mal wurde das Diplom vollständig von einem Hofgeistlichen angefertigt, der das D Ko. II. 62 dafür als Vorurkunde nutzte; er ließ den im D Ko. II. 62 hinzugefügten Ort, der ebenfalls im D O. II. 281 enthalten ist, aber wieder weg.63 Michele ANSANI kam im Ergebnis seiner Forschungen über den Urkundenbestand von San Salvatore bei Pavia zu dem Ergebnis, dass das D O. II. 281 zu einem Dossier von echten und gefälschten Urkunden gehörte, die im 10., 11. und 12. Jahrhundert entstanden. Es sollte aber nicht nur die Klosterbesitzungen mehren bzw. sichern und die fehlende Fundationsurkunden kompensieren. Man habe mit dem D O. II. 281 und weiteren Urkunden des Dossiers, darunter eine gefälschte Urkunde von Papst Johannes XIII. (965‒972), ebenfalls intendiert, die Geschichte des cluniazensisch geprägten Klosters über Otto II. bis in die Regierungszeit Kaiser Ottos I. und der Kaiserin Adelheid zurück zu verlängern. Zudem sollte mit diesem Dossier die kaiserliche Gründerin Adelheid in den Vordergrund gerückt werden, die enge Verbindungen zu den Cluniazensern besaß und 1097 durch einen cluniazensischen Papst (Urban II.) heiliggesprochen wurde. Michele ANSANI führt zudem überzeugende Argumente dafür an, dass an die Mönche von San Salvatore kein Diplom Ottos II. adressiert war. Vielmehr habe ein Diplom Ottos II. für seine Mutter Adelheid existiert, das die Kaiserin zusammen mit anderen wichtigen Dokumenten, die das Kloster betrafen, in dessen Archiv deponieren ließ. Ein echtes Diplom Ottos II. für San Salvatore bei Pavia habe es dagegen nicht gegeben.64 Schwerer zu beurteilen als das D O. II. 281 ist das ottonische Diplom für das Kloster Sant’Apollinare in Classe bei Ravenna, das man auf den 25. Mai 972 datierte (D O. I. 410).65 Das Pergament war ursprünglich rot gefärbt,66 woran man ermessen

|| 62 MGH DD Ko. II. (Anm. 46), Nr. 62, S. 75f. 63 Die Urkunden Heinrichs IV., hrsg. v. Dietrich von GLADISS (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 6), Berlin, Weimar 1941‒1959, Nr. 291, S. 381f. 64 Michele ANSANI, Caritas negocia e fabbriche di falsi. Strategie, imposture, dispute documentarie a Pavia fra XI e XII secolo (Istituto Storico Italinao per il Medio Evo. Nuovi studi storici 90), Roma 2011, S. 220‒267; DERS., Diplomi per S. Salvatore di Pavia, in: Wolfgang HUSCHNER, Theo KÖLZER u. Marie Ulrike JAROS (Hgg.), Herrscherurkunden für Empfänger in Lotharingien, Oberitalien und Sachsen (9.– 12. Jahrhundert) (Italia Regia. Fonti e ricerche per la storia medievale 2), Leipzig, Karlsruhe 2019 (im Druck). 65 MGH DD O. I. (Anm. 38), Nr. 410, S. 558f. 66 Matthias PUHLE (Hg.), Otto der Große, Magdeburg und Europa, 2 Bde., Mainz 2001, hier Bd. 1, S. 477, Abb. des ottonischen Diploms.

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kann, wie wichtig dieses Diplom für die Mönche von Sant’Apollinare in Classe gewesen sein muss. Man bestätigte dem Kloster darin alle Besitzungen und die Immunität. Als Gegenleistung sollten die Mönche regelmäßig für das Wohl des ottonischen Imperiums beten. Die Urkunde soll auf Bitten des amtierenden Erzbischofs von Ravenna (Honestus) sowie mit Zustimmung des amtierenden Papstes (Johannes XIII.), und nach dem Wortlaut des Eingangs- und des Schlussprotokolls von Otto I. und Otto II. gemeinsam ausgestellt worden sein. Im Eingangsprotokoll ist eine doppelte Intitulatio enthalten, in der Signumzeile des Schlussprotokolls finden sich zwei gleiche kaiserliche Bezeichnungen und zwei Namenmonogramme: Signa domnorum imperatorum Ottonis et item Ottonis serenissimorum augustorum. Die Monogramme weisen keine Nachtragungen auf, sie wurden vollständig vom Schreiber gezeichnet. Die MGH-Editoren stuften das Stück als Original ein. Das Hauptargument dafür lautete, dass die Urkunde von dem Hofgeistlichen mit der Sigle „Italiener B“ geschrieben worden sei. Gegen die Originalität dieser Urkunde sprechen aber die äußeren Merkmale. Sie wurde nicht mit den üblichen Wachssiegeln besiegelt, die man zwischen 968 und 973 für Diplome Ottos I. und Ottos II. benutzte. In der Corroboratio des D O. I. 410 hatte man ein solches Siegel angekündigt.67 Vielmehr brachte man später an falscher Stelle eine Bleibulle Kaiser Ottos III. an. Das D O. I. 410 wurde auch nicht von dem Hofgeistlichen mit der MGH-Sigle „Italiener B“ geschrieben, der mit Bischof Hubert von Parma, dem ottonischen Erzkanzler für Italien, identisch ist.68 Der Schreiber der rot gefärbten Pergamenturkunde ahmte aber erkennbar dessen Schrift nach. Das betrifft besonders die diplomatische Minuskel in der letzten Kontextzeile mit den weit nach unten gezogenen Unterlängen und einer abschließenden zierlichen Schleife sowie die Ausführung der verlängerten Schrift in der Signum- und in der Rekognitionszeile. Die inhaltlichen Spezifika bei der verbalen Gestaltung dieser beiden Zeilen sowie der Datierung bei der ottonischen Doppel-Kaiserurkunde für Sant’Apollinare in Classe entsprechen eindeutig den Gepflogenheiten Huberts von Parma („Italiener B“). Das D O. I. 410 mit der doppelten kaiserlichen Titulatur ist das einzige überlieferte Diplom dieser Art, das sich auf die Zeit zwischen 967 und 973 bezieht, als Otto I. als Hauptkaiser und Otto II. als Mitkaiser amtierten. Deshalb ist anzunehmen, dass die Mönche von Sant’Apollinare in Classe tatsächlich so eine gemeinsame Urkunde Ottos I. und Ottos II. erhalten hatten, die vom kaiserlichen Erzkanzler ganz oder teilweise geschrieben worden war. Welchen konkreten Inhalt die ursprüngliche Urkunde hatte, muss freilich offenbleiben.

|| 67 MGH DD O. I. (Anm. 38), Nr. 410, S. 559: …propriis manibus sigilli nostri inpressione iussimus insigniri. 68 HUSCHNER (Anm. 2), Bd. I, S. 101‒112; GHIGNOLI (Anm. 14).

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In welchem historischen Kontext das D O. I. 410 entstanden sein könnte, ist noch zu diskutieren. Für die Urkunde Ottos III. vom 26. April 1001, in der man der Gemeinschaft von Sant’Apollinare in Classe auf Bitten des Abtes die Besitzungen konfirmierte und dem Kloster dafür die Immunität verlieh (D O. III. 400),69 diente das D O. I. 410 nicht als Vorurkunde. Bei den Besitz- und Immunitätsbestätigungen Heinrichs II., Konrads II. und Heinrichs III. wurde das D O. III. 400, nicht aber das D O. I. 410 als Vorurkunde verwendet.70 Eine Erklärung für die Entstehung des D O. I. 410 wäre, dass es als eine potentielle Reaktion auf die im Spätherbst 1001 durch Otto III. vollzogene Übertragung der kaiserlichen bzw. öffentlichen Rechte bezüglich der Besitzungen des Klosters an den Erzbischof von Ravenna71 im Laufe des 11. Jahrhunderts angefertigt worden sein könnte. In der tradierten Urkunde Ottos I. und Ottos II. von angeblich 972 wird u. a. die Bestätigung der Immunität sowie die enge Bindung an den Kaiser betont, die im Herbst 1001 verlorengingen. Im Falle einer Auseinandersetzung mit einem Erzbischof von Ravenna hätten die Mönche von Sant’Apollinare nicht nur eine ältere Urkunde als jene Ottos III. für den Erzbischof vorweisen können, sondern auch ein Dokument mit doppelter kaiserlicher Autorität, das zudem noch die Zustimmung des Papstes enthielt. Zumindest für das Eingangsund das Schlussprotokoll des D O. I. 410 diente wohl eine echte Urkunde Ottos I. und Ottos II. als graphische und inhaltliche Vorlage, dessen Besiegelung vielleicht nicht erfolgt war. Das D O. I. 410 könnte also eine interpolierte imitierende Kopie eines echten ottonischen Diploms von 972 sein. Irgendwann später hätte man dann im Kloster versucht, sie mit Hilfe einer Bleibulle Ottos III. zu autorisieren und damit in den Status eines Originals zu erheben.

3 Fazit Dass bei der Herstellung von Fälschungen versucht wurde, äußere Urkundenmerkmale, die zu jener Zeit üblich waren, möglichst genau zu imitieren, die man in der Datierung angab, leuchtet ohne weiteres ein. Weshalb aber fertigte man in Italien imitierende Kopien von Herrscherurkunden ohne Fälschungs- und Interpolationsabsichten an? Wahrscheinlich war es in der Regel eine Sicherheitsmaßnahme. Wenn der Abt aus Italien an den Hof des Königs oder Kaisers im nordalpinen Reich reiste, dann musste er für eine erneute Beurkundung der Besitzungen und Rechte seines

|| 69 MGH DD O. III. (Anm. 43), Nr. 400, S. 833f. 70 MGH DD H. II. (Anm. 61), Nr. 191, S. 225f.; MGH DD KO. II. (Anm. 46), Nr. 239, S. 327‒330; Die Urkunden Heinrichs III., hrsg. v. Harry BRESSLAU u. Paul KEHR (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 5), Berlin 1926‒1931, im Folgenden MGH DD H. III.; hier Nr. 144, S. 181f. 71 MGH DD O. III. (Anm. 43), Nr. 419, S. 853f.

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Klosters die Originalurkunden früherer Herrscher vorlegen. Zur Sicherheit fertigte man imitierende Kopien der Originale an, die während der Reise im Archiv verblieben. In Italien wurden Streitigkeiten über Besitzungen und Rechte häufig im Rahmen von Gerichtsversammlungen ausgetragen. Herrscherurkunden dienten dabei als hauptsächliche Argumente. Die unterlegene Partei konnte ihre Urkunden dabei durch Vernichten oder Zerschneiden verlieren. Imitierende Kopien sicherten immerhin den Wortlaut und das äußere Erscheinungsbild solcher zerstörten Urkunden; zudem waren sie potentiell dafür geeignet, in späteren Zeiten als Originale deklariert zu werden. In Verbindung mit rechtlichen Auseinandersetzungen wurden echte und gefälschte Herrscherurkunden häufig in die Gerichtsurkunden inseriert, die das Ergebnis des Verfahrens dokumentierten.72 Überdies konnten imitierende Kopien auch dem Schutz der Originale dienen, wenn sie am Empfängersitz plakativ ausgestellt oder gezeigt wurden. Im Falle einer (zeitweiligen) administrativen Vereinigung zweier Klöster, wie das im 11. Jahrhundert beispielsweise bei den Klöstern Breme und Novalesa der Fall war, lagerte das Original im Archiv des einen Klosters und die imitierende Kopie in jenem des anderen.73 Die Beantwortung der Frage nach dem Verwendungszweck imitierender Kopien ohne Fälschungs- oder Verfälschungsintentionen bedarf noch weiterer Untersuchungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich in italienischen Archiven nicht nur imitierende Kopien kaiserlicher und königlicher Originalurkunden, sondern auch von päpstlichen sowie von solchen anderer Aussteller befinden.

|| 72 BOUGARD, Diplômes et notices de plaid (Anm. 36); DERS., Les actes souverains (Anm. 36); zu den Gerichtsverfahren, ihren Beteiligten und der schriftlichen Dokumentationen im frühmittelalterlichen Italien grundlegend: François BOUGARD, La justice dans le royaume d’Italie. De la fin du VIIIe siècle au début du XIe siècle (Bibliotèque des Écoles françaises d’Athènes e de Rome 291), Rom 1995. 73 HUSCHNER (Anm. 37), S. 50‒57.

Susanne Wittekind

Visuelle Rechtsordnung und Herrschaftslegitimation in katalanischen Libri feudorum und Capbreus Zusammenfassung: Kartulare wurden im Früh- und Hochmittelalter in der Regel von geistlichen Institutionen angelegt. Sie dienten der abschriftlichen Sicherung, Ordnung und Verwaltung ihrer durch Dokumente begründeten Rechtstitel, Güter und Einnahmen. In Katalonien trifft man seit Mitte des 12. Jahrhunderts auf vergleichbare Initiativen der Grafen von Barcelona: Ramon Berenguer IV. lässt das Gewohnheitsrecht aufzeichnen (usatges) und topographisch geordnete, notariell beglaubigte Einnahmeverzeichnisse (capbreus) erstellen. Sein Sohn Alfons II. (†1196) stellt in einem umfangreichen Kartular lehnrechtlich relevante Dokumente zusammen. Diese Rechtssammlungen dienen der Stärkung der Position und Vorrangstellung der Grafen von Barcelona als principes Kataloniens. Der Bildschmuck des ‚Liber feudorum maior‘ unterstreicht diesen Anspruch. Er markiert durch die Wiederholung von Homagiumsszenen den thematischen Fokus der Urkundensammlung und legitimiert die Abschriften durch die Verbildlichung ihrer Genese als authentische Dokumente. Graf Sancho von Cerdanya und Roussillon (†1223) greift dieses lehnrechtliche Kartular-Modell auf. Die Analyse der motivisch verwandten Miniaturen des ‚Liber feudorum ceritaniae‘ zeigt, wie durch kleine Veränderungen deren Aussage zugunsten ihres Auftraggebers verändert wird. 1292 lässt König Jakob II. von Mallorca und Graf von Cerdanya-Rousillon (†1311) erstmals ein Verzeichnis von Einnahmen aus Krongut anlegen und illuminieren. Dies geschieht im Rückgriff auf Bildthemen des ‚Liber feudorum maior‘; doch lässt sich an den Miniaturen zugleich ein Wandel der Herrschaftsauffassung ablesen. Der Beitrag fordert somit auf, diese Codices nicht nur als praktische Verwaltungsinstrumente zu betrachten, sondern auch als künstlerische Medien herrscherlicher Legitimation, Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung zu interpretieren. Schlagwörter: Sammelabschriften, Lehnsurkunden, Illumination, Glaubwürdigkeit, Spanien

|| Susanne Wittekind, Kunsthistorisches Institut der Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110649970-014

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1 Usatges und capbreus des Grafen Ramon Berenguer IV. Durch die Heirat zwischen der aragonesischen Thronerbin Petronilla (1136–1173) und dem Grafen Ramon Berenguer IV. von Barcelona (r. 1131–1162) im Jahr 1150 wurden die beiden Herrschaftsgebiete, das Königreich Aragon und die Grafschaft Barcelona, verbunden, blieben aber rechtlich eigenständig.1 Graf Ramon Berenguer IV. richtete sein Augenmerk auf die rechtliche Absicherung seiner Herrschaft. Um 1150 ließ er das Gewohnheitsrecht Kataloniens (Usatges/‚Usatici Barchinonae‘) zusammentragen und in einem Codex zusammenfassen.2 Diese Usatges enthalten im Wesentlichen die seit Mitte des 11. Jahrhunderts auf Landes- und Hofversammlungen (cortes) beschlossenen Regelungen und Landfriedensbeschlüsse (pax et treuga). Unter Einbeziehung des westgotischen ‚Fuero Juzgo‘ (‚Liber Judiciorum‘ König Rekkesvinths, 649–652) und des römischen Rechts (‚Corpus iuris civilis‘ Kaiser Justinians, 529–534), im Ausgriff auf zeitgenössische kanonistische Sammlungen und die Bologneser Libri Feudorum (ca. 1130) wurden diese Texte jedoch überarbeitet und gelehrt fundiert, indem grundlegende Rechtsprinzipien herausgearbeitet und zweifelhafte Stellen im katalanischen Gewohnheitsrecht geklärt wurden. Die Position des Grafen von Barcelona als Gesetzgeber und Souverän gegenüber dem Adel als princeps wurde auf diese Weise gestärkt.3 1151 ließ Ramon Berenguer IV. zudem von Bertran de Castellet die ihm als Grafen von Barcelona in seinen Herrschaftsgebieten zustehenden Einnahmen und Naturalienabgaben aufzeichnen.4 Derartige Einnahmeverzeichnisse waren bis dahin || 1 Thomas N. BISSON, The medieval Crown of Aragon. A Short History, Cambridge 1986, S. 31–57, zu den Usatges und zur Reform der Administration unter Graf Ramon Berenguer IV. S. 34–35. 2 Vgl. die mit Initialschmuck versehene Usatici-Handschrift der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 4792 – François AVRIL, Manuscrits enluminés de la péninsule ibérique, Paris 1983, S. 60 (Nr. 62), fig. 60, Pl. XXXI; http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10035140b/f3.image.r=4792 [22.02.2018]. 3 Vgl. Donald J. KAGAY, The Usatges of Barcelona. The Fundamental Law of Catalonia, Philadelphia 1994, hier S. 19–24, 33, 40; vgl. seine englische Übersetzung unter: http://www.documentacatholicaomnia.eu/03d/sine-data,_Absens,_The_Usatges_Of_Barcellona_%5BFundamental_Law_Of_Catalogna%5D,_EN.pdf [22.02.2018]; Joan BASTARDAS (Hg.), Usatges de Barcelona. El codi a mitjan segle XII, Barcelona 1984. 4 Eine Pergamentrolle aus 5 Blättern (29,6 x 22,5 cm, Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Canc. Perg. Ramon Berenguer IV, 233) verzeichnet die an 17 Orten aufgenommenen Angaben über dem Grafen zustehende Abgaben, bei denen es sich vor allem um Naturalien wie Hühner, Schweine, Fisch, Käse, Öl oder Kisten mit Obst handelt; vgl. Textedition der capbreus von Thomas N. BISSON, Fiscal Accounts of Catalonia Under the Early Count-Kings (1151–1213), 2 Bde., Berkeley, London 1984, hier Bd. 2 Accounts, Related Records, and Indices, S. 3–29; Thomas N. BISSON, Feudalism in TwelfthCentury Catalonia, in: Konrad EUBEL (Hg.), Structures féodales et féodalisme dans l'occident méditerranéen (Xe–XIIIe siècles). Bilan et perspectives de recherches (Collection de l’École Française

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vornehmlich in der klösterlichen Verwaltung üblich.5 Ramon Berenguer IV. hingegen wählte die rechtliche Form der notariell beglaubigten Urkunde. Dies ist einerseits mit der langen, bis ins Frühmittelalter zurückreichenden Tradition schriftgestützter Rechtspraxis und des öffentlichen Notariats (notarius publicus) in Katalonien zu erklären.6 Andererseits ist daran eine neue Wertschätzung der am römischen Recht geschulten, juristischen Dokumentation, Legitimation und Sicherung herrscherlicher Rechte unter Ramon Berenguer IV. abzulesen.7 Im capbreu selbst wird die Aufnahme der gräflichen Rechte als commemoratio bezeichnet.8 Nach der Liste der Einkünfte nennt das notariell beglaubigte capbreu (caput breve) jeweils die anwesenden Zeugen, unter denen meist der Vogt (baiulus) als herrscherlicher Vertreter ist, und vermerkt, dass diese die Aufzeichnung mit einem Schwur auf die vier Evangelien in die Hand des Prokurators beeiden.9 Vollzogen wurde die Rekognition meist vor einer Kirche oder deren Portal, selten im Haus eines Zeugen. Die capbreus sind fiskalische Manuale, die auf eine Systematisierung der territorialen Verwaltung hindeuten. Doch diese Einnahmeverzeichnisse waren nicht nur zur Vereinfachung der Administration angelegt, sondern die Sammlung von recognitiones dokumentierte zugleich Abhängigkeiten und Verpflichtungen zahlreicher Personen und Familien gegenüber dem Grafen. Sie untermauerte so die sozialen Prärogativen des Grafen von Barcelona, die in der Regel lehnrechtlich begründet sind.10 Zeitlich parallel wird in Artikel 47 der ‚Usatici Barchinonae‘ festgehalten, dass der Graf schriftliche Treueversprechen nicht

|| de Rome 44), Paris 1980, S. 173–192, hier S. 187, vermutet, dass es weitere Einnahme-Rollen der gräflichen Besitzungen gab, die verlorengegangen sind, und sieht sie im Zusammenhang des Interesses des Grafen an der Lehensordnung. 5 Das Prümer Urbar von 892/3 zum Beispiel, das in einer Abschrift von 1222 erhalten ist, verzeichnet nach Orten die klösterlichen Güter, Rechte und Einkünfte; vgl. Hubertus SEIBERT, Prümer Urbar, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 7 (1995), Sp. 291–292; Abt Wibald von Stablo (†1158) legte bei Antritt seines Abbatiats 1131 hingegen ein kalendarisch geordnetes Einkunftsverzeichnis an; vgl. Susanne WITTEKIND, Altar – Reliquiar – Retabel. Kunst und Liturgie bei Wibald von Stablo, Köln 2004, S. 5. 6 Mark MERSIOWSKY, Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation (MGH Schriften 60), 2 Bde., Wiesbaden 2015, hier Bd. 1 S. 386–387. Zum Notariat in Katalonien vgl. Rodrigue TRÉTON, Prelude a l’histoire du notariat public à Perpignan et dans le comté de Rousillon (1184–1340), in: Le Gnomon. Revue internationale du notariat 167 (2011), S. 6–28. 7 KAGAY (Anm. 3), S. 21–22. 8 Die Eröffnungsformel der capbreus von 1151 lautet: Hec est commemoratio totius ipsius honoris et de censibus et usaticis quem Barchinonensis comes habet in XXX et in omnibus suis terminis. – vgl. BISSON 1984 (Anm. 4), Bd. 2, S. 1–12. 9 Zum Begriff capbreu siehe Rodrigue TRÉTON, Un prototype? Remarques à propos d’un capbreu des revenus et usages du comte d‘Empúries dans le castrum de Laroque-des-Albères fait en 1264, in: Martine CAMIADE (Hg.), L’Albera, Terre de passage, de mémoires et d’identités, Perpignan 2006, S. 49–76, hier S. 49–50, zu Rekognitionsbüchern S. 56; so heißt es im capbreu von Ripoll 20.4.1151: super quattour evangelia juraverunt in manu Bertrandi de Castelleto – BISSON 1984 (Anm. 4), S. 27–28. 10 TRÉTON (Anm. 9), S. 51.

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nur von seinen Vizegrafen, sondern auch von deren Vasallen bis hin zu einfachen Rittern verlangen dürfe.11 Wie im capbreu von 1151 wurden somit auch Personen, die dem Grafen zwar zu Abgaben verpflichtet, aber nur mittelbar unterworfen waren, ihm durch Treueschwur, commendatio und homagium verbunden.12 Diese lehnrechtliche Ordnung seines Herrschaftsgebiets war für Ramon Berenguer IV. ein Mittel zur Stärkung nicht nur seiner Macht als Graf von Barcelona gegenüber den kleineren katalanischen Grafschaften Roussillon, Pallars Jussa und Urgell, sondern auch zur Etablierung seiner Sonderstellung als princeps Kataloniens.13

2 Der ‚Liber feudorum maior‘ Alfons II. 2.1 Genese, Aufbau und Inhalt Auch der Sohn und Nachfolger Ramon Berenguers IV., Alfons II. (*1157, r. 1163–1196), nutzte die systematische Sammlung von Rechtsdokumenten zur Durchsetzung seiner Rechte, zur Stärkung seiner Position und Legitimation seiner Führungsrolle in Katalonien.14 Er ließ ein großformatiges, zweibändiges Kartular anlegen, den sogenannten ‚Liber feudorum maior‘.15 Er ist nicht nur eines der ältesten Kartulare eines weltlichen Auftraggebers, sondern zudem reich illuminiert. Der ‚Liber‘ enthielt

|| 11 KAGAY (Anm. 3), S. 83. 12 Adam KOSTO, Making Agreements in Medieval Catalonia. Power, Order and the Written Word 1000–1200, Cambridge 2001, S. 53–59; Kenneth PENNINGTON, Feudal Oath of Fidelity and Homage, in: DERS. u. Melodie Harris EICHBAUER (Hgg.), Law as Profession and Practice in Medieval Europe. Essays in Honor of James A. Brundage, London 2011, S. 93–115. 13 BISSON 1980 (Anm. 4), S. 185. 14 In diesem rechtlichen Zusammenhang sind auch Alfons Landfriedensverträge von Fondarella (1173) und Huesca (1188) zu verorten, vgl. BISSON (Anm. 1), S. 49–50, 54. 15 Kurzkatalogisat und Digitalisat der Handschrift findet man im digitalen Archiv Pares unter dem Suchbegriff „liber feudorum“: http://pares.mcu.es/ParesBusquedas/servlets/Control_servlet?ac cion=0.[30.03.2019]; wie der mit Federzeichnungen illuminierte ‚Codex Falkensteinensis‘ (München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, KL Weyarn 1, siehe https://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/codexfalkensteinensis [26.2.2018]) von 1166 und der ‚Liber instrumentorum‘ des Vizegrafen Roger II. von Trencavel von 1186–88 (Montpellier, Société archéologuiqe de Montpellier, Ms. 10) ist der ‚Liber Feudorum maior‘ eines der ersten Kartulare mit weltlichem Auftraggeber. Der zweispaltige Schriftspiegel mit 42–43 Zeilen misst 35,5 x 19,5 cm, die stark beschnittenen Seiten ca. 51 x 35 cm; vgl. die Einleitung zur Rekonstruktion und Edition des um 1800 stark fragmentierten Werks, dessen Blätter teils als Aktendeckel zweitverwendet wurden: Liber Feudorum Maior. Cartulario real que se conserva en el Archivo de la Corona de Aragón, hrsg. v. Francisco MIQUEL ROSELL, 2 Bde., Barcelona 1945, Bd. 1, S. VII–XXXIX, hier S. VII, zur Überlieferung des Werks S. VIII–XII, zu Aufbau und Inhalt S. XVII–XXVIII; zur Bedeutung siehe Adam J. KOSTO, The Liber feudorum maior of the Counts of Barcelona. The Cartulary as an Expression of Power, in: Journal of Medieval History 27 (2001), S. 1–

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ursprünglich auf 888 Pergamentblättern insgesamt 902 Urkunden (instrumenta), die lehnrechtliche Verpflichtungen gegenüber den Grafen von Barcelona betreffen, d. h. Verträge (convenientiae), Eide (sacramentale), Gerichtsurteile (iudicia) und Heiratsverträge (sanctimoniale). Um diese zusammenzustellen, ließ Alfons seine Notare Guillem de Bassa (†1195) und Ramon de Caldes (†1199), Dekan der Kathedrale von Barcelona, das gräfliche Archiv im Palau Reial in Barcelona sichten und ordnen.16 Doch bemühte er sich darüber hinaus um den Ankauf weiterer Dokumente. So erwarb Alfons 1178 von dem jüdischen Geldverleiher Ramon de Gironella in Girona 44 Dokumente aus gräflichem Besitz17 und er ließ Abschriften von wichtigen Dokumenten in anderen, klösterlichen oder gräflichen Privatarchiven anfertigen und aufnehmen.18 Damit gelang Alfons eine Art lehnrechtliche Bestandsaufnahme seines katalanischen Herrschaftsgebiets, gestützt auf Urkunden vor allem des 11./12. Jahrhunderts. Der ‚Liber Feudorum maior‘ wird eingeleitet durch 35 Verträge mit auswärtigen Herrschern wie den Königen Kastiliens und Aragóns oder dem Patriarchen von Jerusalem sowie Papsturkunden. Darauf folgen Urkunden die verschiedenen Grafschaften betreffend: zuerst Pallars mit 109 Dokumenten, dann Urgell und Barcelona. Im zweiten Band folgen Dokumente zu den 1111 bzw. 1112 vom Grafen von Barcelona erworbenen Grafschaften Besalù und Empúries, gefolgt von Cerdanya (1117) und Roussillon (1172 inkorporiert), ergänzt um 94 Urkunden zu Carcassonne und der Provence, die seit 1112 von den Grafen von Barcelona beansprucht wurde. Zwischen diese Grafschafts-Abschnitte waren jeweils mehrere Blanko-Blätter, einzelne auch nach topo-

|| 22; zum Bildschmuck des ‚Liber Feudorum maior‘ vgl. Eugenia M. IBARBURU, Los cartularios reales del Archivo de la Corona de Aragón, in: Lambard. Estudis d’art medieval 6 (1991/93), S. 197–210, sowie Shannon L. WEARING, Power and Style. The Liber Feudorum Maior and the Court of Alfonso II, King of Aragon and Count of Barcelona (r. 1162–1196), Diss. New York University 2015; IBARBURU (S. 197), KOSTO (S. 19–20) und WEARING (S. 71–83) thematisieren auch die Stellung des ‚Liber feudorum maior‘ innerhalb der Gruppe der illuminierten Kartulare Spaniens im 12. Jahrhundert; vgl. Susanne WITTEKIND, Ego Petrus Sangiz rex donationem confirmo et hoc signum manu mea facio. Formen der Autorisierung in illuminierten Urkundenabschriften des Hochmittelalters in Nordspanien, in: Klaus-Gereon BEUCKERS, Christoph JOBST u. Stefanie WESTFAHL (Hgg.), Buchschätze des Mittelalters. Forschungsrückblicke – Forschungsperspektiven, Regensburg 2011, S. 211–231. 16 Ferrán DE SAGARRA I DE SISCAR, Sigillografía catalana I, Barcelona 1915, S. 42 zum 1173–95 tätigen Guillem de Bassa; Thomas N. BISSON, Ramon de Caldes (ca. 1135–1199). Dean of Barcelona and Royal Servant, in: Kenneth PENNINGTON u. Robert SOMERVILLE (Hgg.), Law, Church and Society. Essays in Honor of Stephan Kuttner, Philadelphia 1977, S. 281–92. 17 BISSON 1980 (Anm. 4), S. 189; KOSTO (Anm. 15), S. 4–5; Josep María SALRACH, La recreación judicial de diplomas perdidos. Sobre la escritura y el poder en los condados catalanes, in: Julio ESCALONA u. Hélène SIRANTOINE (Hgg.), Chartres et cartulaires comme instruments de pouvoir. Espagne et Occident chrétien (VIIIe–XIIe siècles), Toulouse 2013, S. 219–232. 18 KOSTO (Anm. 15), S. 6, 8.

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graphischen Unterabschnitten für mögliche bzw. erwartete Nachträge, eingeschoben.19 Dieses Kartular ist also innerhalb seiner topographischen Organisation als historische Darstellung angelegt, in der die einen Ort betreffenden Dokumente weitgehend chronologisch geordnet sind; die jüngsten am Ende eines Abschnitts stehen. Es leitet das aktuell geltende Recht also als historisch gewordenes her. Der Konzeptor schrieb den aktuellen Zustand jedoch nicht fest, sondern rechnete mit seiner Veränderung, indem er am Ende von Abschnitten Leerseiten für Nachträge bereithielt, die das Kartular zu einer in die Zukunft gerichteten Rechtssammlung machten; zu einem offenen Werk. In dieser Anlage des ‚Liber feudorum maior‘ wird eine historisch-pragmatische Rechtsauffassung fassbar, die der Veränderung und Veränderbarkeit von Herrschaftsverhältnissen Rechnung trägt und die von einer systematischen Rechtsbegründung und -ordnung absieht. Auf eine solche zielte erst Alfons Enkel, Jakob I. von Aragón (1213–1276), der um 1250 den Bischof von Huesca, Vidal de Canellas, mit der Abfassung einer am ‚Codex iuris civilis‘ Justinians orientierten systematischen Rechtskodifizierung beauftragte, deren katalanische, um 1300 entstandene und reich illuminierte Fassung als ‚Vidal mayor‘ bekannt ist.20 Zeitlich parallel enden die Urkundennachträge im ‚Liber feudorum maior‘. Der Hauptteil der Urkundenabschriften stammt aus der Hand des königlichen Schreibers und Diakons Ramon de Sitges, die jüngste von seiner Hand eingetragene Urkunde von 119221, die letzte nachgetragene Urkunde von 1241. Der Plan einer historischen, gleichwohl für Ergänzungen offenen Rechtssammlung ging folglich auf. Das Konzept wurde für andere katalanische Rechtssammlungen wie den ‚Llibre Verd von Barcelona‘ noch 1346 übernommen.22 Seinen heutigen Namen verdankt der ‚Liber feudorum maior‘ dem königlichen Archivar Pere Carbonell (tätig 1476–1517).23 Der Prolog hingegen bezeichnet das Werk || 19 KOSTO (Anm. 15), S. 7 mit Tabelle 1. 20 Los Angeles, Getty Collection, Ms. Ludwig XIV 6; Ed.: Vidal Mayor, hrsg. v. Antonio UBIETO ARTETA, 2 Bde.: Faksimile und Estudios, Huesca 1989; vgl. hierzu auch Gwendollyn G. GRAUTOFF, Vidal Mayor. A Visualisation of the Juridical Miniature, in: The Medieval History Journal 3 (2000) S. 67–89; 2017 wurde von Kristina KOGLER (Universität Wien) eine kunsthistorische Disseration zum Vidal Mayor begonnen. Abbildungen siehe http://www.getty.edu/art/collection/objects/1431/unknown-vi dal-de-canellas-and-probably-michael-lupi-de-candiu-et-al-vidal-mayor-spanish-about-1290-1310/ [26.2.2018]. 21 Anscari M. MUNDÓ, El pacte de Cazola del 1179 i el Liber Feudorum Maior. Notes paleogràfiques i diplomàtiques, in: Jaime I y su época. X Congreso de Historia de la Corona de Aragón, Bd. 2, Zaragoza 1979, S. 119–129. 22 Barcelona, Arxiu Històric de la Ciutat de Barcelona, 1G.L-10; Susanne WITTEKIND, Lex und iuramentum. Gott als Wahrheitszeuge und Rechtsgarant in spanischen Gesetzescodices, in: Guy GULDENTOP u. Andreas SPEER (Hgg.), Das Gesetz – The Law – La Loi (Miscellanea Mediaevalia 38), Berlin 2014, S. 691–710, hier S. 694. Die 2013 begonnene Kölner Dissertation von Clara Decelis zum ‚Llibre Verd von Barcelona‘ und den ‚Llibres de Privilegis von Mallorca‘ steht vor dem Abschluss. 23 Der Zusatz maior dient der Unterscheidung vom jüngeren, unter Jakob II. (r. 1285–1295) angelegten ‚Liber feudorum minor‘; vgl. WEARING (Anm. 15), S. 88.

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(fol. 1v) als Buch des Königs (libro domini regis), das alle Urkunden (instrumenta), eigene und solche, die von seinen Vorfahren und ihren Vasallen ausgefertigt wurden, enthält (omnia instrumenta propria et inter vos vestroque antecessores ac homines vestros confecta). (Abb. 1) Die Rubrik am Beginn des zweiten Bandes nennt ihn kurz liber instrumentorum (fol. 2r).24 Der an seinen Herrscher gerichtete Prolog des Ramon de Caldes erläutert den Zweck des Unternehmens folgendermaßen: Das Werk solle dem Nutzen von Alfons Herrschaftsgebiet dienen und der Ehre Gottes (ad honorem Dei et utilitatem regni vestri), der Alfons zu seinem Vertreter im Land gemacht habe (vestre terrarum vobis a Deo comissarum profectus). Die ungeordneten Urkunden (in ordinatione confussa) sollen in einem Band zusammengebracht werden zum Nutzen der Untertanen (propter subiectorum utilitatem), damit sie in Erinnerung gerufen werden (ad memoriam revocatis) und damit nicht zwischen Alfons und seinen Vasallen (homines vestros) durch Vergessen (oblivio) Streit und Zwietracht entstehen (aliqua questio vel discordia posset oriri). Wegen der großen Menge der hier geordneten Urkunden habe Ramon de Caldes diese in zwei Bände geteilt und durch deutliche Titel gekennzeichnet (per claros titulos distinxi). Hier sind verschiedene Topoi aufgerufen, die sich auch in (herrscherlichen) Urkunden-Arengen und Prologen von anderen Rechtssammlungen finden – so der Hinweis auf die göttliche Einsetzung weltlicher Herrschaft, auf Unordnung und Vergessen als Ursache von Streit und Zwietracht, denen der Herrscher durch die Sammlung und Ordnung des Rechts zum Nutzen des Volkes begegnet.25

2.2 Die Frontispize des ‚Liber feudorum maior‘ Die Miniaturseite zu Beginn des Codex (fol. 1r) stellt in idealisierter Form die Genese des ‚Liber feudorum maior‘ vor Augen.26 (Abb. 2) Unter fünf zur Mitte hin ansteigenden Arkaden thront links der Auftraggeber König Alfons, erkennbar an seinem reich

|| 24 ROSELL (Anm. 15), Prolog Bd. 1, S. 1–2, die Rubrik zum zweiten Teil Bd. 2, S. 5. 25 Atsuko IWANAMI, Memoria et oblivio, in: Kurt GÄRTNER u. Günter HOLTUS (Hgg.), Urkundensprachen im germanisch-romanischen Grenzgebiet (Trierer Historische Forschungen 35), Mainz 1997, S. 151–159; vgl. Heinrich FICHTENAU, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 18), Graz, Köln 1957, S. 132 mit einem Beispiel von Alfons VII. von Kastilien 1128: … ne posteris eorum obliviscantur, opportet ut litterarum testimonio confirmentur; Wolfgang STÜRNER, Rerum necessitas und divina provisio. Zur Interpretation des Prooemiums der Konstitutionen von Melfi (1231), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 39 (1983), S. 467–554, hier mit Rekurs auf Isidor von Sevilla S. 500– 503. 26 Zur Miniatur vgl. WEARING (Anm. 15), S. 210–218; sie vermutet S. 217–218 mit Verweis auf die Beschreibung des ‚Liber feudorum maior‘ im Inventar von 1588 (Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Memoriales 70/2 fol. 318–320), das vor dem auf einem Verso stehenden Prolog zu Bd. 2 eine

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ornamentierten, mit Goldborten gezierten (Seiden-)Gewand und goldfarbigen Mantel, Zepter und Krone. Er weist mit offener Hand empfehlend zu dem ihm gegenübersitzenden Mann hin, der ein langes weißes Chorgewand, Mantel und Birett trägt, somit als Geistlicher und Rechtsgelehrter gekennzeichnet ist und Ramon de Caldes darstellt. Er hält eine Urkunde in seiner Rechten und liest diese, wie sein Redegestus anzeigt, offenbar dem König und der Gruppe männlicher Laien bzw. Adliger, die im Rücken des Königs stehen, vor. Zwischen ihm und dem König ist im Zentrum des Bildes, durch Goldgrund hervorgehoben, ein Haufen Urkunden zu sehen, durcheinander, verschachtelt und ungeordnet. Sie sind das eigentliche Thema der Szene. Auch wenn der anschließende Prologtext das Unternehmen als Initiative des Königs darstellt, das Bild nimmt eine andere Gewichtung vor:27 Denn der König ist nach links an den Rand gerückt; er wendet sich aus der frontalen Position nach rechts, neigt dabei leicht den Kopf, sodass der Angesprochene – Ramon de Caldes – ihn sogar überragt. Denn seine Haltung ist aufrecht, seine Füße treten vorn über die Rahmenleiste. Seine Figur überschreitet so als einzige den Bildraum. Zudem wird sie zur Hälfte von dem goldenen Bildgrund der Mittelarkade hinterfangen, während die seitlichen Arkaden, unter denen Adlige und König links sowie der kleiner dargestellte Schreiber rechts vorn dargestellt sind, nur blauen bzw. rötlich-silbernen Grund zeigen. Die Urkunde, die Ramon de Caldes in seiner Hand hält, nimmt die Richtung der darunter aufrecht präsentierten Urkunde auf; das weiße Gewand des Notars verbindet ihn auch farblich mit den Urkunden. Deren winzige Inschriften geben standardisierte Urkundeneröffnungsformeln wieder, wie MUNDÓ bemerkte:28 so die gebräuchliche Invocation In nomine sancte et individue trinitatis oder die Verkündigungsformel Notum sit cunctis – allen sei kundgetan. Sie zeigen zugleich die Art der im Codex enthaltenen Texte an: Übereinkünfte/Verträge (hec est conveniencia que est facta), Lehnseide (Iuro ego) und Urteile (hoc est iudicium) – so lautet auch die Inschrift der Urkunde in der Hand des Notars. Auch das Pergamentblatt, das der elegant in die Farben seines Herrschers gekleidete Laie am Schreibpult rechts gerade beschreibt, ist lesbar (In dei nomine notum sit cunctis).29 Der Notar Ramon de Caldes richtet sein Wort, genauer den Wortlaut der verlesenen Urkunde, an den König und die Männer, die hinter jenem im Hintergrund stehen, dabei aufmerksam zuschauen und zuhören.

|| Miniatur mit Figuren und Gebäude erwähnt (una miniature de figuras y cert edifici), dass diese Miniatur ursprünglich als Frontispiz für Bd. 2 diente, die zweite ganzseitige Miniatur (fol. 93r) hingegen ursprünglich Bd. 1 einleitete. 27 Vgl. WEARING (Anm. 15), S. 215. 28 MUNDÓ (Anm. 21), S. 128–129. 29 Da die Hauptschreiberhand des ‚Liber Feudorum maior‘ von MUNDÓ (Anm. 21) mit jener des königlichen Notars und Subdiakons Raimund de Sitges identifiziert werden konnte, erstaunt dieser Umstand.

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Die Miniatur demonstriert einen idealtypischen Prozess der Übertragung von Urkunden. Dies ist nötig, da eigentlich nur Originalurkunden rechtkräftige Schriftstücke sind; Rechtsinstrumente, die Partikularrecht schriftlich fixieren.30 Unbeglaubigte Abschriften hingegen waren rechtlich eigentlich wertlos. Die Beweiskraft von Urkunden in Prozessen oder Streitfällen hing an ihrer Glaubwürdigkeit, die über authentifizierende Elemente hergestellt wurde. Neben inhaltlichen und formalen Kriterien gehören zu diesen das signum des Ausstellers, der Zeugen und das Notarssignet. Mit diesen Zeichen wurde die ‚eigenhändige‘ Bestätigung der Wahrhaftigkeit der in der Urkunde dargelegten Sachverhalte perpetuiert und konserviert. Denn die Unterschriften (signa) der genannten Personen sind Zeugnis ihrer Teilhabe an dem urkundlich festgehaltenen Vertragsschluss und somit ihrer Zustimmung zu dem urkundlich festgehaltenen Sachverhalt oder Vertrag. Indem die Miniatur die öffentliche Verlesung der ‚Originalurkunden‘ am Hofe im Beisein des Königs, zudem deren direkte, ebenfalls öffentliche Übertragung in den (vorliegenden) Codex zeigt, demonstriert sie die Rechtmäßigkeit des Übertragungsvorgangs. Die hier imaginierte öffentliche Verlesung und Abschrift der zahlreichen Urkunden vor Zeugen scheint auf ein bestimmtes Ereignis anzuspielen. Doch stellt sie zugleich auch für die konzeptionell vorgesehenen, späteren Nachträge von Urkunden in den Codex eine Norm vor Augen. Durch ihre Stellung am Beginn des Codex hat die Miniatur insofern eine auf das Ganze bezogene, kompensatorische Funktion, als sie den Übertragungsvorgang, den Ersatz der Originale durch Kopien, als rechtmäßigen, – da von mindestens sieben ehrbaren Personen bezeugten – kommunikativen Vorgang ausweist. Der Eingangsminiatur des ‚Liber feudorum maior‘ eignet damit ein authentifizierender Charakter, der die mit der Übertragung der Originale in den Codex verbundenen Authentizitätsverluste der Einzeldokumente kompensiert. Zugleich ist die Miniatur medial selbstreferentiell, da sie das, was der Codex enthält (nämlich Urkundenabschriften), im Prozess seiner Herstellung thematisiert. Das durch Arkadenbögen segmentierte Bogenfeld über der Szene deutet mit seinen zahlreichen Türmen, ummauerten Bezirken und dem äußeren Zinnenkranz eine Stadtkulisse an. Als Handlungsort wird somit der königliche Palast in Barcelona aufgerufen, in dem sich bis 1794 das gräfliche und seit 1306 auch das königliche Archiv befand.31

|| 30 Alfred GAWLIK, Beweiskraft (der Urkunden), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1983), Sp. 31–32.; DERS. u. Thomas FRENZ, Echtheit, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1986), Sp. 1544–1545; zu den folgenden Überlegungen vgl. Susanne WITTEKIND, Visuelle Strategien der Authentifizierung in hochmittelalterlichen Urkunden(-abschriften) Nordspaniens: Illuminierte Urkunden als Instrumente der Rechtssicherung und der Erinnerung, in: Gabriele BARTZ u. Markus GNEIß (Hgg.), Illuminierte Urkunden. Beiträge aus Diplomatik, Kunstgeschichte und Digital Humanities (Beihefte zum Archiv für Diplomatik 16), Köln 2019, S. 381–404. 31 Laut Inventar von 1588 (Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Memoriales 70/2 fol. 318– 320) befand sich das königliche Archiv zwischen dem Festsaal (Tinell) und der Hofkapelle S. Agata,

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Auch dem anderen Band des ‚Liber feudorum maior‘ waren laut seiner Beschreibung im Inventar von 1588 eine Miniaturseite und ein Prolog vorangestellt. Die Seite ist mit fol. 93r zu identifizieren, die eine kreisförmige Miniatur mit 29 cm Durchmesser zeigt. (Abb. 3) Vierzehn paarweise im Gespräch einander zugewandt sitzende Personen umgeben kreisförmig die beiden Herrscherfiguren, die das Zentrum der Miniatur bilden. Die gekrönten Herrscher thronen über mehrere Stufen erhöht unter einer überkuppelten Doppelarkade bzw. einem Baldachin vor Goldgrund, während die übrigen Figuren von einem roten Grund mit Streublütenmuster hinterfangen werden. In kostbare, reich ornamentierte Gewänder und Mäntel gekleidet wenden sie sich im Gespräch einander zu. In der Forschung werden sie bisher meist als Herrscherpaar gesehen und entweder mit Graf Ramon Berenguer I. und seiner Gattin Almodis identifiziert, oder mit Alfons II. (†1196) und seiner Gattin Sancha (†1208).32 Allein ROSELL spricht zu Recht von zwei Grafen,33 denn der jüngere rechts trägt kurzes Haar und rote Strümpfe, während verheiratete Frauen im ‚Liber feudorum maior‘ mit bodenlangem, eng anliegendem Kleid und Haube mit Gebände dargestellt werden, junge Frauen mit langem Haar. (Abb. 4) Der Griff in die Tasselschnur ist eine höfisch-elegante Geste, mit der auch der jugendliche Graf Gaufrid (fol. 78v) charakterisiert wird.34 Die Vorrangstellung des älteren, graubärtigen Grafen/Königs wird durch verschiedene Details verdeutlicht. So ist er auf der heraldisch höherwertigen Seite und unter einer weiteren Arkade platziert, frontal ausgerichtet und von breiterer Silhouette; er hält in der Linken das Zepter als Herrschaftsinsignie und führt mit der erhobenen Rechten eine Rede- oder Befehlsgeste aus. Der jüngere Graf hingegen dreht seinen Körper mit überkreuzten Füßen zu ihm hin und öffnet seine Rechte mit annehmender Geste. Einerseits werden also beide Herrscherfiguren durch die Komposition harmonisch zusammengefasst, andererseits wird das hierarchische Gefälle zwischen ihnen angedeutet. Dargestellt ist vermutlich der Graf/König mit seinem

|| vgl. WEARING (Anm. 15), S. 105; zum Archiv der Grafen von Barcelona in deren Palast siehe auch Robert I. BURNS, Society and Documantation in Crusader Valencia (Diplomatarium of the Crusader Kingdom of Valencia. The registered Charters of its Conquereror Jaume I, 1257–1276, Bd. I Introduction), Princeton 1985, S. 15–25. 32 KOSTO (Anm. 15), S. 20; Eileen Patricia MCKIERNAN GONZÁLES, Monastery and Monarchy: The Foundation and Patronage of Santa María la real de Las Huelgas and Santa María la Real de Sigena, Diss. University of Texas 2005, S. 43 identifiziert die rechte Figur als Königin Sancha; sie leitet die Kreisform der Miniatur aus Szenen der Verehrung des Lammes in Apokalypsenkommentar-Handschriften des Beatus de Lièbana her; WEARING (Anm. 15), S. 220 sieht in der Präsentation des Paares die Aufnahme der ikonographischen Bildformel der Marienkrönung und wertet die Kreisform der Miniatur als Himmelssymbol und interpretiert die Miniatur daher als Ausdruck der sakralen Überhöhung des Herrscherpaares, S. 225, 232. 33 ROSELL (Anm. 15), Bd. 1, S. XIV. 34 ROSELL (Anm. 15), Bd. 2, S. 269–270, Nr. 786: Schenkung des Brautvaters Vizegraf Bernardus Ato an Graf Gaufred von Roussillon anläßlich der Verheiratung seiner Tochter 1110.

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noch jugendlichen Sohn und Nachfolger als Mitregent, den er belehrt. Wie bei den übrigen Miniaturen des ‚Liber feudorum maior‘ wird auch hier auf eine Identifizierung der Personen durch Namenbeischriften verzichtet. Damit wird jenseits einer konkreten Deutung der Figuren z. B. als Darstellung des Initiators des Werks, Alfons, und seines Sohnes Peter bzw. von Peter und seinem Sohn Jakob, die generelle Geltung der Aussage der Miniatur betont. Der Graf/König tritt als Vorbild und Lehrer seines Thronfolgers auf. Diese Dialogsituation wird in modifizierter Form von den sieben kleineren Figurenpaaren aufgenommen, die kreisförmig den Herrscherthron umgeben. Der elegante Schnitt ihrer Gewänder kennzeichnet sie als Adlige, doch sind ihre Kleider im Gegensatz zu jenen der gekrönten Herrscher nicht ornamentiert und im Farbklang auf Grün-, Ocker- und Gelb-Töne reduziert. Anders als im Fall der Herrscherfiguren vollziehen hier jeweils beide Personen Gesten des Sprechens und des Annehmens. Dadurch erscheinen sie trotz variierter Sitzpositionen als Gleichrangige. Indem ihre Beine von dem äußeren Rahmen der Miniatur überschnitten werden, rücken sie jedoch gegenüber der zentralen, erhöhten Herrschergruppe, die durch ihre Größe wie herangezoomt erscheint, in den Hintergrund. Mit diesen kompositionellen Mitteln wird der Anspruch des Grafen von Barcelona als princeps gegenüber dem Adel Kataloniens eindrücklich manifestiert und visualisiert. Die Adeligen werden hier als untereinander annähernd gleichrangig präsentiert. Sie sind in eigene Verhandlungen verwickelt und blicken nicht auf den Grafen von Barcelona. Aber dennoch sind sie allein durch die Kreiskomposition schon auf den Herrscher hin orientiert und umgeben ihn wie ein schmückender Kranz. Die erbrechtliche Thronfolge des Grafen von Barcelona schließlich wird durch die Einbeziehung des Sohnes als Mitregent proklamiert, zugleich wird diese aber als Erziehung zur Herrschaftsverantwortung interpretiert.35

|| 35 Erst König Sancho IV. von Kastilien-León verfasste 1292 eigens einen Fürstenspiegel für seinen (noch unmündigen) Sohn Ferdinand, vgl. Hugo Óscar BIZZARRI, Los ‚Castigos del rey don Sancho IV‘. Una reinterpretación (Papers of the Medieval Hispanic Research Seminar 37), London 2004.

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2.3 Die Miniaturen zu Abschnitten des ‚Liber feudorum maior‘ Die Urkunden im ‚Liber Feudorum‘ werden jeweils durch ausführliche rote Rubriken eingeleitet.36 Diese verzeichnete der Archivar Jakobs II., Mateu Botella, 1306 anlässlich der Neuordnung des königlichen Archivs in einem Inventar.37 Anhand dieses Inventars konnte ROSELL den Text des um 1800 aufgelösten ‚Liber feudorum maior‘ unter Einbeziehung der texttragenden Blätter und im Ausgriff auf erhaltene Originalurkunden sowie weitere Kopialüberlieferung weitgehend rekonstruieren und edieren. Von den ursprünglich 868 Blatt, von denen der erste Band 489 enthielt, der zweite 379 Blatt, sind nur 120 erhalten bzw. in Aktendeckeln wieder aufgefunden worden und heute in einem Codex zusammengebunden. Da von 120 erhaltenen Blättern 76 Miniaturen aufweisen, ist zu schließen, dass der ‚Liber feudorum maior‘ sehr reich illuminiert war. Während die beiden Frontispize jeweils sehr ungewöhnliche Bilderfindungen bieten, sind die kleineren Miniaturen thematisch und motivisch ähnlich: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei denen es sich um Eheverträge, Urkunden des Papstes oder von Königen handelt, ist die Lehnshuldigung (homagium) das bildliche Leitthema – ein Bildmotiv, für das es kaum frühere Belege gibt.38 Schwierig ist die Zuordnung von 25 Homagiumsdarstellungen ohne Text, deren originale Foliierung aufgrund der starken Beschneidung der Blätter heute fehlt (fol. 94–118). Zu vermuten ist, dass sie auf die am Ende eines topographischen Abschnitts angefügten Leerseiten folgten und jeweils einen neuen Abschnitt einleiteten. So steht eine Miniatur mit Homagiumsszene unten auf fol. 41r vor dem auf fol. 41v beginnenden Abschnitt zu Rechten über die Kirche S. Genesi.39 Die auf einer ansonsten leeren Seite befindliche Miniatur des Homagiums zwischen Gleichgestellten auf fol. 42v leitet den auf fol. 43r beginnenden Abschnitt über die Burgen Tenriu und Ales ein.40 Nach fast drei Leerspalten folgt unten auf fol. 44v eine Miniatur mit Homagiumsszene, bevor auf fol. 45r der Abschnitt zu Besitz im Valle Sengiz beginnt.41 Diese glücklicherweise erhaltene Blattfolge zeigt, dass die Aufzeichnungen zu fast jedem kleinen Herrschaftszentrum mit einer eigenen Miniatur versehen wurden. Die Miniatur unterscheidet dabei nicht, ob es um den Besitz einer Kirche, einer Burg oder eines Dorfes geht. Stattdessen zeigt sie immer wieder ein spezifisches Moment des zeremoniellen Rechtsakts, nämlich den Kniefall des Vasallen vor dem Herrn.

|| 36 Auf deren ordnende, den Zugriff erleichternde Funktion weist Ramon de Caldes im Prolog hin, vgl. ROSELL (Anm. 15), Bd. 1, S. 2. 37 Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Memoriales 1–2; WEARING (Anm. 15), S. 103–105; von den erhaltenen Blättern stammen 59 aus Bd. 1, 30 aus Bd. 2. 38 Vgl. WEARING (Anm. 15), S. 67, 198 mit Hinweis auf den Codex Falkensteinensis. 39 Vgl. ROSELL (Anm. 15) Nr. 100–101. 40 Vgl. ROSELL (Anm. 15) Nr. 103–106. 41 Vgl. ROSELL (Anm. 15) Nr. 107–109.

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Der Buchschmuck des ‚Liber feudorum maior‘ wurde nicht fertiggestellt: Auf fol. 2v–12v fehlen die Initialen oder sind als schwarze Majuskeln nachgetragen (fol. 6v).42 In einigen Miniaturen ist nur die Vergoldung über der Vorzeichnung angelegt (fol. 10r, 10v), teils nur eine partielle (fol. 8r), teils eine vollständige erste Kolorierung vorgenommen (fol. 2r), mal ist darüber schon die Binnenzeichnung begonnen, aber nicht abgeschlossen (fol. 3r). Dies betrifft jedoch nur Miniaturen des Künstlers, der die beiden Frontispize schuf. Da er zwei Miniaturen anderer Hand durch Ergänzung umgestaltete (fol. 23r, 109r), war er nach jenem ersten Künstler tätig. Dieser (ältere) Künstler führt die Miniaturen in mehrfarbiger Federzeichnung aus. (Abb. 5) Er hebt Insignien, Gewandzier und Thronkissen des Herrschers durch Gold hervor und rahmt sie rot. Den Herrscher präsentiert er frontal thronend vor einem blau kolorierten Hintergrund, der bisweilen mit Streublumen-Muster verziert ist. Das Bildfeld rahmt er durch eine Arkade oder einen gestuften rechteckigen Rahmen.43 Geht es um Verträge zwischen Königen (fol. 15v, 19r), so stellt er die Herrscher nebeneinander frontal thronend dar; allein die Köpfe sich leicht zugewandt fassen sie einander an der Hand. In abgewandelter Form verwendet er diesen Bildtypus auch für die Darstellungen der Lehnshuldigung. Der Herrscher trägt meist in der Linken ein goldenes (Evangelien-)Buch, in der erhobenen Rechten eine Blüte oder einen goldenen Zweig (virga). Manchmal hält er jedoch das goldene Buch mit der Rechten über die Hände des Lehnsmannes.44 (Abb. 6) Dessen kniende, gebeugte Gestalt schwebt gleichsam von der Seite heran, den Kopf gesenkt und die Hände bittend vorgestreckt. Indem er nur graue Tinte und eine helle Lavierung für die Faltenzüge des Vasallen verwendet, erscheint dessen Gestalt im Vergleich zu der kräftig konturierten des Herrschers blass. Das Leitmotiv dieses ersten Malers, der frontal thronende Herrscher im Typus des Majestätssiegels, gemahnt an die Siegel Alfons. Während dessen Vater Ramon Berenguer IV. noch das gräfliche Reitersiegel geführt hatte, verwendete Alfons erstmals auf

|| 42 Erst auf fol. 13r setzen die für den Codex typischen frühen Fleuronnée-Initialen in rot und blau ein, von denen einige aufgrund der strahlenförmig ausgezogenen Ausläufer mit abschließenden Kugeln oder Blüten (fol. 25r, 51v, 52v) auf eine norditalienische Schulung des Schreibers hindeuten; vgl. Decretum Gratiani (Cambridge, Sidney Sussex College, Ms 101), Italien Ende 12. Jahrhundert; vgl. Robert GIBBS u. Susan L’ENGLE, Illuminating the Law. Medieval legal manuscripts in Cambridge Collections, London 2001, S. 105–110 (Nr. 1). 43 Vgl. fol. 15v, 19r, 23r, 24v, 50r, 54v, 56v, 67v, 73v, 74v, 83v, 84r, 85r, 88v, fol. 109–118; zu dieser Hand A siehe WEARING (Anm. 15), S. 128–130. 44 Vgl. Liber feudorum maior, fol. 56v, 74v, 85r, 109r, 111r, 115r, 117r, 118r.

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dem Avers das Thronbild mit der Umschrift SIGILLVM ILDEFONSI REGIS ARAGONENSIS, auf dem Revers weiterhin das Reiterbild mit Fahnenlanze.45 (Abb. 7) Auch auf dem Siegelbild thront der Herrscher auf einer Thronbank mit Kissen und hält in der Linken eine Blüte, in der Rechten schwingt er jedoch ein blankes Schwert. Der Maler überträgt diesen im Siegel Alfons dem König von Aragon vorbehaltenen Majestätstypus auf Darstellungen der Grafen von Barcelona im ‚Liber feudorum maior‘ und wertet diese somit königsgleich auf. Alfons Sohn und Nachfolger Peter (*1178, r. 1196–1213) übernahm anfangs die Siegelgestaltung seines Vaters. Doch nach seiner Krönung in Rom 1204 durch Papst Innozenz III. (1198–1216), bei der er sein Reich vom Papst zum Lehen nahm,46 modifizierte Peter nicht nur die Umschrift seines Siegels durch den Zusatz dei gratia, sondern veränderte auch das Majestätsbild: Der Herrscher thront nun auf einem Greifenfaldistorium. (Abb. 8) Er präsentiert in der Linken einen kreuzbekrönten Reichsapfel, in der Rechten ein Zepter, das Schwert liegt quer über den Beinen im Schoß. Auch im ‚Liber feudorum maior‘ findet man diesen jüngeren Typus des Herrschers auf einem Faldistorium.47 (Abb. 6) Bildkonzept und Tätigkeit dieses ersten Künstlers weisen daher in die Regentschaft Alfons und seines Sohnes Peter. Mit dem goldenen Evangeliar in der Hand des Herrschers wird hier explizit auf den zu leistenden Treueeid und die in den Urkunden wiederkehrende Schwurformel hingewiesen, die sich auch schon in den capbreus von Alfons Vater Ramon Berenguer IV. finden.48 Gott wird somit auch bildlich als Garant des Rechts aufgerufen. Der Herrscher wird, als Gottes irdischer Vertreter, vor blauem Grund gleichsam himmlisch überhöht. Ihm gegenüber wird der Vasall kompositionell und zeichnerisch deutlich abgestuft und somit die lehnrechtliche Unterordnung des mächtigen und selbstbewussten Adels Kataloniens unter den königsgleichen princeps von Barcelona proklamiert.49 Der zweite, nachfolgende Künstler akzentuierte hingegen innerhalb der Belehnungszeremonie die commendatio, bei welcher der Lehnsmann seine Hände in die

|| 45 Zu den Siegeln Ramon Berenguers und Alfons vgl. SAGARRA (Anm. 16), S. 97–101, Inventar S. 199– 200 und zugehörige Taf. VI–VIII, hier die Thronsiegel Alfons Nr. 4–7, anhängend 1186–1195; zu den Siegeln Peters S. 102–106, Inventar S. 201–204 sowie Taf. IX–XII, zu jenen Jakobs I. S. 107–114, Inventar S. 204–207, Taf. XIII–XVIII; vgl. Araceli GUGLIERI NAVARRO, Catálogo de sellos de la Sección de Sigilografía del Archivo Histórico Nacional, Madrid 1974, Bd.1: Sellos reales, Nr. 347–348 Siegel Ramon Berenguers IV., Nr. 349–351 Siegel Alfons, Nr. 352–355 Siegel Peters. 46 Klaus HERBERS, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 193; BISSON (Anm. 1), S. 39. 47 Vgl. WEARING (Anm. 15), S. 173; so fol. 50r zu Beginn der Guillelmo de S. Martino betreffenden Urkunden; ROSELL (Anm. 15), Bd. 1 S. 321–322, Nr. 295 von 1059; siehe auch fol. 56v: Um die bereits fertige Miniatur wurden Lehnseide der Herren von Capraria gegenüber Peter von 1196 und 1199 ergänzt, ebd., S. 436–437, Nr. 415–416. 48 Vgl. WITTEKIND (Anm. 22), S. 702–705. 49 Vgl. KOSTO (Anm. 15), S. 15–16.

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des Lehnsherrn legt (immixtio manuum). (Abb. 9) Diese Rechtsgeste ist der erste Teil der Belehnungszeremonie, auf die der Treueeid (iuramentum) folgt und mit einem Friedenskuss (osculum pacis) besiegelt wird, bevor die Investitur mittels der zeichenhaften Übergabe eines Zweiges die Zeremonie beschließt.50 Während der erste Künstler die Distanz zwischen Herr und Vasall herausstellt und auf Eid und Investitur zeichenhaft durch Buch und virga verweist, akzentuiert der zweite den direkten, körperlichen Kontakt zwischen den Akteuren. Gleich, ob es sich um einen Lehnseid (homagium), einen Ehevertrag oder ein Gerichtsurteil (iudicium) handelt: Der direkte Kontakt – das Ineinanderlegen der Hände von Lehnsherr und Lehnsmann (immixtio manuum) bzw. der Vertragspartner – bildet das kompositionelle Zentrum. Die Akteure sind dabei stets einander zugewandt, Herr und Vasall oft von der Seite dargestellt.51 Der Graf wird seinen Lehnsleuten größenmäßig angeglichen. Sind adlige Zeugen oder Hofleute einbezogen, befindet er sich auf Augenhöhe mit diesen.52 Der Künstler verortet die Vasallen zusammen mit dem Lehnsherrn und den Zeugen in einem farbig hinterlegten, durch Arkaden gegliederten Bildraum, über dessen Binnengrenzen hinweg die Personen agieren. Inhaltlich setzen diese Miniaturen damit einen eigenen Akzent: Der direkte, persönliche und körperliche Kontakt bindet Lehnsherr und Vasall wechselseitig aneinander; auf jede sakrale Überhöhung wird verzichtet. Wie in der Eingangsminiatur sind nun oft Zeugen gegenwärtig, sei es auf Seiten des Herrschers oder des Vasallen. Damit wird gleichsam eine typische Einleitungsformel der Urkunden (notum sit cunctis) mit ins Bild gesetzt. Zeugen garantieren die Rechtmäßigkeit und Gültigkeit des Rechtsakts. Im Rahmen seines Hofes erscheint der Graf/König lediglich als primus inter pares, während gegenüber einzelnen Vasallen das Standesgefälle deutlicher hervortritt.53 Diese Neukonzeption der Miniaturen unter dem zweiten Künstler deuten eher in eine Zeit nach dem Tod Peters 1213, d. h. in die Zeit der Vormundschaftsregierung des Grafen Sancho von Provence und Cerdanya-Roussillon (r. 1161–1223), des Bruders König Alfons II., für Peters noch unmündigen Sohn Jakob (*1208, r. 1218–1276), oder in die Anfänge von Jakobs Regierungszeit. Jakob verzichtete auf eine Krönung, denn er

|| 50 Bernhard DIESTELKAMP, Lehen, -swesen; Lehnrecht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 1807–1810; WEARING (Anm. 15), S. 196, 198; Jacques LE GOFF, The Symbolic Ritual of Vassalage, in: DERS., Time, Work, & Culture in the Middle Ages, Chicago 1980, S. 237–287, hier S. 239–248 (Original: DERS., Le rituel symbolique de la vassalité, in: DERS., Pour un autre Moyen Âge: temps, travail et culture en Occident, Paris 1978, S. 307–331). 51 Beide Akteure sind bildparallel dargestellt auf fol. 12r, 36r, 41r, 44v, 45v, 98r, 99r, 101r, 103r, 104r, 105r, 106r, 107r, 108r. 52 Vgl. fol. 12r, 23r, 45v, 61r, 63v, 82v, 109r. 53 WEARING (Anm. 15), S. 173–175 betrachtet die Unterschiede hingegen nur als verschiedene koexistierende Stilmodi und sieht den zweiten Künstler als vom internationalen Stil um 1200 beeinflusst.

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war nicht bereit, das Lehensversprechen gegenüber dem Papst zu erneuern.54 Seine Position im Reich gegenüber dem Adel stärkte Jakob durch Verträge, Zugeständnisse und Zusammenarbeit mit den Städten. Gemeinsam ist jedoch den Miniaturen des ersten wie des zweiten Künstlers, dass die Szenen durch Rechtsgesten geprägt sind, dass sie einander hinsichtlich der Konstellation, Gestik und Kleidung der beteiligten Personen wiederholen,55 und dass sie nicht versuchen, die verschiedenen Akteure nach Alter oder Stand zu spezifizieren oder gar zu individualisieren. In der Kunstgeschichte wurde dies lange als Mangel an künstlerischem Einfallsreichtum gewertet, der künstlerische Schmuck der Handschrift entsprechend als redundant geringgeschätzt.56 Doch hat diese (gezielte) Typisierung der Vasallen wie die des Grafen einen repetitiven wie affirmierenden Effekt auf den Betrachter. Denn obwohl die einzelnen Dokumente ganz unterschiedliche Personen, Orte und Zeitpunkte betreffen, wird durch die Wiederholung der immer gleichen Rechtshandlungen verdeutlicht, dass es in diesen Dokumenten unabhängig von den einzelnen Akteuren immer um die gleichen Rechtsangelegenheiten geht. Durch die stete Wiederkehr der Homagiums- und Vertragsmotive wird veranschaulicht, dass die feudale Lehnsstruktur ein langes Herkommen hatte, dass sie kontinuierlich über die Zeiten in dem ganzen behandelten Herrschaftsbereich geübt wurde und dass sie bis in die Gegenwart gültig war. Die Wiederholung der Homagiumsbildformel hat mithin eminent politischen Charakter. Die Miniaturen schreiben der historisch und regional gegliederten Urkundensammlung somit einen Subtext ein. Im Zusammenspiel mit dem Text, der Besitz, Rechte und Stellung des Grafen von Barcelona in den verschiedenen Grafschaften Kataloniens historisch herleitet und rechtlich absichert, deuten die Miniaturen diese Dokumente zu lehnrechtlichen Zeugnissen um. Sie propagieren eindrücklich im Medium des Bildes die erstrebte lehnrechtliche Vorrangstellung der Grafen von Barcelona als principes Kataloniens. Der ‚Liber feudorum maior‘ blieb über Jahrhunderte im königlichen Archiv. Aus erhaltenen Randnotizen der Frühen Neuzeit, die auf andere Dokumente innerhalb der Handschrift und auf den Aufbewahrungsort der entsprechenden Originaldokumente im Archiv verweisen (so z. B. fol. 4r), ist zu schließen, dass der ‚Liber feudorum maior‘ bis in diese Zeit in Benutzung war. (Abb. 10) Sein reicher Buchschmuck macht ihn zu einem repräsentativen Werk, das den Rang und Anspruch des Auftraggebers, des mächtigen Grafen von Barcelona, unterstreicht. Die Urkundensammlung des ‚Li-

|| 54 Zu den schwierigen Vormundschafts- und Anfangsjahren Jakobs I., die von Adelskämpfen geprägt waren, vgl. HERBERS (Anm. 42), S. 193–194; BISSON (Anm. 1), S. 58–60, zu rechtlichen Regelungen S. 75–76; zur Kanzlei Jakobs vgl. BURNS (Anm. 31), S.29–32. 55 Vgl. WEARING (Anm. 15), S. 195. 56 Zur überwiegend negativen Bewertung der Miniaturen der Handschrift in der kunsthistorischen Forschungsliteratur siehe WEARING (Anm. 15), S. 177–182.

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ber feudorum maior‘ ist damit mehr als ein administratives Hilfsmittel für den königlichen Archivar, denn die beiden großformatigen Codices und die zahlreichen und großen Miniaturen des ‚Liber feudorum maior‘ scheinen geradezu für eine Betrachtung aus gewissem Abstand, mithin auf ein Publikum hin konzipiert.57 Sie dokumentieren die fürstliche Selbstauffassung des Grafen von Barcelona nicht nur, sondern kommunizieren diese demonstrativ auch nach außen an ein adeliges Publikum.

3 Der ‚Liber feudorum ceritaniae‘ Der unter Alfons II. angelegte ‚Liber feudorum maior‘ ist offensichtlich das Modell für eine ähnliche lehnrechtliche Urkundensammlung, den ‚Liber feudorum ceritaniae‘.58 Er enthält Abschriften von 290 Dokumenten, die Verträge zwischen dem Grafen von Cerdanya-Roussillon und Mitgliedern des Adels betreffen. Damit entspricht sein Inhalt wesentlich dem Abschnitt zum Condado de Cerdanya im ‚Liber feudorum maior‘.59 Auch diese Handschrift ist mit 32 Miniaturen auf 68 Blättern reich illuminiert. Wie im ‚Liber feudorum maior‘ sind die Miniaturen jeweils am Beginn eines Abschnitts mit Dokumenten zu einem Gebiet oder Ort platziert. Hier sind sie jedoch stets gerahmt, stehen in der Textkolumne und stellen unter einer Arkade vor Goldgrund die betreffende Rechthandlung dar, in der Regel homagium, Vertrags- oder Eheschließung. Der ‚Liber feudorum ceritaniae‘ ist mithin als prachtvolle Teilkopie des ‚Liber feudorum maior‘ zu sehen. Doch wie im Fall des ‚Liber feudorum maior‘ blieb auch sein Bildschmuck unvollendet.60 Der Kernbestand der Urkunden im ‚Liber feudorum ceritaniae‘ umfasst die Zeit bis 1209. Vermutlich wurde das Werk vom jüngeren Bruder König Alfons II., Sancho (1161–1223), angelegt. Dieser hatte von seinem Vater Graf Ramón Berenguer IV. die

|| 57 Diesen Schaucharakter haben sie mit den großformatigen, illuminierten Avignoneser Ablassurkunden gemein; vgl. den Beitrag von Gabriele BARTZ in diesem Band. 58 Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Real Cancillería, Registros, núm. 4; die Handschrift umfasst heute 68 Folii von 36,5 x 26 cm Größe, von denen die ersten und letzten (Schutz-) Blätter leer und ungezählt; da eine alte Blattzählung bis fol. 76 reicht, fehlen heute vermutlich 14 Blatt; vgl. http://pares.mcu.es/ParesBusquedas/servlets/Control_servlet?ac cion=3&txt_id_desc_ud=1931494&fromagenda=N; die Miniaturen sind bis zu 11,5 x 9,5 cm groß. Zum künstlerischen Schmuck der Handschrift siehe IBARBURU (Anm. 15), S. 208–213. 59 Vgl. ROSELL (Anm. 15), Bd. 1, Nr. 218–221 sowie Bd. 2, Nr. 531–807 mit Hinweis auf die entsprechenden Folii, Dokumentnummern und Miniaturen im ‚Liber feudorum ceritaniae‘. 60 Ab fol. 7 fehlen meist die Majuskel- oder Fleuronnée-Initialen zu Beginn der Urkundenabschriften; in einigen Lagen ist nur der Goldgrund der Miniaturen angelegt, nur Rahmen und einzelne Gewänder blau koloriert, sodass die Vorzeichnung noch zu erkennen ist (fol. 34v, 35v, 36v, 39r, 51v, 55r, 55v, 57v, 57v).

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Grafschaft Cerdanya testamentarisch zugesprochen bekommen. 1208 erhielt er von Alfons II. Sohn und Nachfolger Peter II. (r. 1196–1213) die Grafschaft Roussillon hinzu. Der Codex dürfte daher in Hinblick auf die Übertragung der Grafschaft Roussillon an Sancho von diesem angelegt worden sein.61 Nicht nur im Inhalt, sondern auch hinsichtlich des künstlerischen Schmucks orientiert sich der ‚Liber feudorum ceritaniae‘ eng am ‚Liber feudorum maior‘. Da Graf Sancho von Cerdanya-Roussillon nach dem frühen Tod seines Neffen Peter II. (†1213) als Regent dessen noch unmündigen Thronerben Jakob I. (1208–1276) vertrat, ist eine Kenntnis des ‚Liber feudorum maior‘ und seiner (noch unvollendeten) Miniaturen vorauszusetzen. Nach Sanchos Tod 1223 ging die Grafschaft Cerdanya-Roussillon an seinen Sohn Nuño Sanchez (†1241/42) über. Nuño Sanchez unterstützte Jakobs I. Feldzüge zur Eroberung Mallorcas 1229 und Valencias 1232–38. Wie im ‚Liber feudorum maior‘ wurden auch im ‚Liber feudorum ceritaniae‘ Urkunden bis 1241, also bis zum Todesjahr von Nuño Sanchez ergänzt. Anders als der ‚Liber feudorum maior‘ enthält der ‚Liber feudorum ceritaniae‘ weder einen Prolog noch ein Frontispiz. Die erste Miniatur (fol. 2r) ist von anderer Hand als die folgenden; allein sie weist einen blauen Hintergrund mit Streublumenmuster anstatt des nachfolgend verwendeten Goldgrunds auf. Der Graf sitzt nur hier auf einem gemauerten Thron, sonst auf einem hölzernen mit gedrechselter Zier an Rückenlehne und Pfosten.62 Gemeinsam ist den Miniaturen jedoch die farbige Rahmung des Bildfeldes und das wiederkehrende Bildmotiv der Ableistung des Homagiums durch die immixtio manuum, das unter einer Arkade mit Architekturmotiven in den Zwickeln präsentiert wird. Den stets links im Bild thronenden Grafen zeichnet ein mit Hermelinpelz gefütterter Mantel aus. Seine Figur ist größer als die der Vasallen, die mit leicht gebeugten Knien vor ihm stehen. Oft sind sie als Gruppe präsentiert, die Figuren dicht hintereinander gereiht, in kurzem Rock und Mantel sowie mit Sporen und Schwert als Insignien ihrer Ritterwürde. Ihre Köpfe befinden sich auf einer Höhe, leicht unterhalb jenes des Grafen, in dessen Hände der erste Vasall die seinen legt, während die übrigen ihre Hände diese Geste wiederholend vorstrecken.63 (Abb. 11) Geht es in dem Dokument um den Lehnseid gegenüber dem König von Aragón, nimmt dieser in der Szene die Position des Grafen ein, wird aber durch seine Krone von jenem abgehoben.64 Handelt es sich um Lehnseide zwischen Grafen und damit zwischen standesmäßig Gleichgestellten, werden die Protagonisten stehend und auf

|| 61 IBARBURU (Anm. 15), S. 208 sieht hingegen in Peter den Auftraggeber. 62 Dieser Holzthron erinnert an den – allerdings reicher gezierten – Thron in Siegeln Jakobs I. 1220– 41, vgl. SAGARRA (Anm. 16), Taf. 15–16; IBARBURU (Anm. 15), S. 208–209 sieht in dieser ersten Miniatur byzantinische Züge, vergleicht ihren Stil mit Antependien aus Sant Sadurni de Rotges und aus Avila (Barcelona, Museu Nacional d‘Art de Catalunya). 63 Vgl. die Miniaturen fol. 12v, 22v, 26r, 30v, 31v, 59r. 64 Vgl. die Miniaturen fol. 62r, 64v.

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Augenhöhe miteinander dargestellt. Die Miniatur, die Lehnseide der Grafen von Urgell gegenüber den Grafen von Cerdanya einleitet, geht dem Eid (sacramentale) des Grafen Ermengaudus von Urgell gegenüber Graf Raimund von Cerdanya voran (fol. 10r).65 Beide Protagonisten stehen einander zugewandt gegenüber; beide tragen hermelingefütterte Mäntel mit Tasseln und unter ihren eleganten, schmal geschnittenen, vorn geschlitzten und gegürteten Kleidern lange farbige Beinlinge. Ganz ähnlich wird der Lehnseid des ebenso elegant gekleideten Grafen Ponç von Empúrias gegenüber Graf Guilabert von Roussillon präsentiert (fol. 46r).66 (Abb. 12) Auch im Fall des Lehnseides, den Graf Guillelm von Cerdanya dem Herrn von Cardona, Bischof Fulco von Urgell (r. 1092–95), bezüglich der Burg Cardona leistet (fol. 7v), stehen beide Protagonisten einander gegenüber.67 Der Bischof trägt liturgischen Ornat: eine ornamentierte Kasel, darunter eine ebenfalls durch Kreuze geschmückte Stola, eine blaue Dalmatik und die Albe sowie einen roten Manipel über dem linken Handgelenk.68 Mitra und Bischofsstab kennzeichnen ihn als Bischof. Das mit Kreuzen gezierte rote Pallium über der Kasel, das als vom Papst verliehenes Würdezeichen eigentlich Erzbischöfen vorbehalten ist, in Ausnahmefällen aber auch Bischöfen verliehen wurde, spricht ihm eine besondere Ehre und Amtswürde zu. Doch obwohl es der Graf von Cerdanya ist, der als Lehnsmann seine Hände in die des Bischofs legt, wird der Graf hier größer dargestellt als sein Lehnsherr; zudem steht er auf der heraldisch rechten und damit höherwertigen Seite. Eine weitere Miniatur (fol. 10v) zeigt nochmals den Bischof von Urgell und den Grafen von Cerdanya, nun jedoch im umgekehrter Rollenverteilung, denn hier tritt Bischof Ermengol von Urgell (r. 1010–1035) als Lehnsmann des Grafen Wilfred (Guifred) von Cerdanya auf.69 (Abb. 13) Wenngleich die vorgestreckten Hände des Bischofs die Homagiumsgeste eines Vasallen aufrufen, so legt er sie hier nicht in die seines Lehnsherrn, die immixtio manuum wird mithin ausgespart. Stattdessen werden die Hände des Bischofs in der Bildmitte vor einem offenen (Evangelien-)Buch platziert, das ein Priester aufgeschlagen präsentiert. So wird verdeutlicht, dass der Bischof, wie es sein geistlicher Stand fordert, seinen Treueschwur

|| 65 ROSELL (Anm. 15), Bd. 2, S. 87–88, Nr. 581. 66 ROSELL (Anm. 15), Bd. 2, S. 210–211, Nr. 697. 67 ROSELL (Anm. 15), Bd. 1, S. 277–278, Nr. 218. Zu Bischöfen als Lehnsherren und Geistlichen als Vasallen vgl. PENNINGTON 2011 (Anm. 12), S. 109–113; mit Bezug auf Urgell vgl. Odilo ENGELS, Schutzgedanke und Landesherrschaft im östlichen Pyrenäenraum (9.–13. Jahrhundert), Münster 1970, S. 254– 257. 68 Vgl. http://www.uni-muenster.de/Kultbild/missa/glossar/index.html#M [4.3.2018]. 69 ROSELL (Anm. 15), Bd. 2, S. 89, Nr. 583.

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auf die Evangelien ablegt.70 Im übertragenen Sinn wird dadurch zugleich verdeutlicht, dass der Bischof vor allem dem Evangelium verpflichtet ist und dass sich aus seiner Glaubenstreue (fidelitas) seine Treue auch gegenüber dem Lehnsherren ergibt. In dieser Szene ist die Bischofsgestalt durch ihre Größe und Stellung besonders hervorgehoben, vielleicht da es sich hier um den lokal als Heiligen verehrten Bischof Ermengol (1010–35) handelt. Der Graf mit seinen sich überkreuzenden (widersprüchlichen) Redegesten steht hier hingegen am Rand. Wie im ‚Liber feudorum maior‘ bestimmen auch hier die vielfach wiederholten und einander ähnlichen Homagiumsszenen den Gesamteindruck. Wie dort liegt der Akzent der Bilder ganz auf dem Rechtsakt, der memoriert wird. Der Prozess der Verschriftlichung, den die Titelminiatur des ‚Liber feudorum maior‘ thematisiert und damit die Sammlung, Ordnung und Übertragung der Urkunden ins Kartular legitimiert, wird hingegen ausgespart. Auch auf die Markierung einer Sonderstellung des Grafen als Zentrum des Hofes bzw. der Adelsgesellschaft wird verzichtet. Stattdessen machen die näher besprochenen Beispiele deutlich, dass der Illuminator sorgfältig die Standesunterschiede der Akteure beachtet und durch Details der Kleidung und Komposition markiert, dass er so die prinzipielle Gleichrangigkeit der Grafen Kataloniens unterstreicht – dies im Gegensatz zum ‚Liber feudorum maior‘, der im Bild die Rolle des Grafen von Barcelona als princeps propagiert. Besondere Beachtung findet im ‚Liber feudorum ceritaniae‘ zudem die Doppelrolle der Bischöfe von Urgell als Lehnsherr und Vasall. Der Graf von Cerdanya nimmt also einerseits sichtlich das von seinem Bruder und Grafen von Barcelona Alfons initiierte Konzept auf. Er nutzt es jedoch zur Legitimation seiner eigenen Territorialherrschaft, die er durch ihren glänzenden, in der Regel sonst eher biblischen und Heiligenbildern vorbehaltenen Goldgrund überhöht.

4 Die capbreus Jakobs II. von Mallorca Unter Jakob I. (1208–1276) von Aragón und seinem Sohn Jakob II. (*1243, r. 1276–1311) wurde die Sammlung lehnrechtlich einschlägiger das katalanische Herrschaftsgebiet

|| 70 Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts galten Bistümer und Abteien in Katalonien noch als gräfliches Eigentum, aufgrund dessen die Grafen in ihnen Investiturrechte ausübten; vgl. ENGELS (Anm. 67), S. 271.

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betreffender Dokumente fortgesetzt, nun jedoch nicht mehr in Form eines illuminierten Codex.71 Testamentarisch hatte Jakob I. 1272 und 1276 verfügt, dass sein Herrschaftsgebiet, das neben den Königreichen Aragón und Valencia, der Grafschaft Barcelona und den Balearen auch Cerdanya-Roussillon, Montpellier und weitere Gebiete im heutigen Südfrankreich umfasste, unter seinen Söhnen testamentarisch aufgeteilt werden solle.72 Der ältere Sohn, Peter III. (r. 1276–1285), erhielt demgemäß die Königreiche Aragón und Valencia sowie die Grafschaften Barcelona, Pallars und Ribagorza, der jüngere, Jakob II. (r. 1276–1311), das Königreich Mallorca mit den Grafschaften Cerdanya-Roussillon und der Herrschaft Montpellier. Peter III. bestand jedoch auf seiner Oberhoheit über die Herrschaft Jakobs II. und zwang diesen 1279 unter Androhung militärischer Gewalt zum Lehnseid (feudum honoratum).73 Die Exkommunikation Peters III. nach der sizilianischen Vesper 1282 nutzte Jakob II. in Allianz mit Philipp III. von Frankreich (r. 1270–1285) zu einem Kreuzzug gegen seinen Bruder, der jedoch scheiterte. In der Folge verlor Jakob II. die Balearen an Peters III. ältesten Sohn, Infant Alfons (III., *1265, r. 1285–1291). Erst 1295 kam es im Vertrag von Anagni zu einem Ausgleich zwischen dem Papst, Frankreich (mit Herrschaftsanspruch der Anjou in Neapel-Sizilien), der Krone Aragón und Jakob II., dem 1298 das Königreich Mallorca restituiert wurde.74 Zur Festigung seiner Herrschaft im Grenzgebiet zu Katalonien hatte schon der Infant Jakob (II.) 1271 die Burg Tautavel und den Ort Millas von Rechtsansprüchen des Grafen Hug V. von Empúries (r. 1269–1277) freigekauft. Seines balearischen Herrschaftsgebiets beraubt ließ er 1292–1294 für die der Krone gehörenden Orte seiner Grafschaft Roussillon capbreus anfertigen.75 Im Unterschied zu den eingangs vorgestellten, schmucklosen capbreus Graf Ramon Berenguers IV. (1151) sowie zu verschiedenen capbreus adliger Herren dieser Zeit wurden diese notariell beglaubigten Verwaltungsdokumente nun in zwei großformatigen Codices (mit 42 x 31,5 cm

|| 71 Rodrígue TRÉTON (Hg.), Liber feudorum A. les investigacions sobre els feus dels reis Jaume I i Jaume II de Mallorca, 1263–1294 (Cerdanya, Capcir, Conflent, Vall de Ribes, Ripollès, Vallespir i vegueria de Camprodon), Barcelona 2013. 72 BISSON (Anm. 1), S. 86–92, HERBERS (Anm. 42), S. 197–201; Ludwig VONES, Das Königreich Mallorca und die Krone Aragón, in: Gisela DROSSBACH u. Gottfried KERSCHER (Hgg.), Utilidad y decoro. Zeremoniell und symbolische Kommunikation in den Leges Palatinae König Jakobs III. von Mallorca (1337) (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 6), Wiesbaden 2013, S. 9–27. 73 VONES (Anm. 72), S. 15–17. 74 VONES (Anm. 72), S. 18–19. 75 Er stand hier im Konflikt mit dem Bischof von Elne, der in den Orten seiner Diözese, zu der auch die königlichen villae gehörten, seine Autorität ausübte – vgl. Rodrigue TRÉTON, Prelude a l’histoire du notariat public Perpignan 1184–1340, in: Le Gnomon. Revue internationale du notariat 167 (2011), S. 6–28, hier S. 22–24.

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Blattgröße) zusammengestellt und reich illuminiert; also als repräsentative Schauobjekte gestaltet.76 Marginal nachgetragene Pächternamen zeigen, dass sie bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts praktisch genutzt wurden.77 Gegliedert nach den sieben zur Krone gehörenden Orten werden hier die in 856 Rechtsakten bestätigten Abgabenverpflichtungen gegenüber dem König aufgeführt.78 Jedes Dokument wird durch ein Fleuronnée-Initial eingeleitet, zu Beginn der Hauptabschnitte der blaue Initialkörper durch Schaftaussparungen verziert und durch ein rechteckiges Feld aus Flächenfleuronnée hinterfangen und gerahmt. Zu jedem dieser Hauptteile war zudem eine gerahmte Miniatur vorgesehen, d. h. im ursprünglichen ersten Band zu Tautavel, Estagel, Millas und Claira, im zweiten Band zu Collioure, Argelès und St. Laurent. Allein der Platz vor dem kurzen, nur 30 Akte umfassenden Abschnitt zu Claira blieb frei, das Blatt mit der Miniatur zu Estagel ging vor 1868 verloren. Während andere zeitgenössisch illuminierte Einkunftsverzeichnisse wie der Rentier der Familie d’Audenarde oder der Terrier des Bischofs Enguerran II. von Cambrai (1273–85) jeweils am

|| 76 Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales 1B29-34; für den Hinweis auf diese königlichen capbreus und erste Abbildungen derselben danke ich Martin Roland und Gabriele Bartz sehr herzlich! Zur Beschreibung, Einordnung und Edition siehe Rodrigue TRÉTON, Aymat CATAFAU u. Laure VERDON (Hgg.), Les capbreus du roi Jaques II de Majorque (1292–1294). Introduction, bibliographie, eluminures et index Capbreus de Tautavel, Estagel, Millas et Claira (Collection de Documents inédits sur l’histoire de France section d’histoire et philologie des civilisations médiévales), Paris 2011, S. XIX–XXII; heute sind die beiden Bände in sechs Codices aufgeteilt, doch läßt sich anhand der ursprünglichen Seitenzählung und des Registers die ursprüngliche Anlage der zwei Bände mit je 14 Quaternen, d. h. je 112 Blatt, rekonstruieren. Der Text ist einspaltig geschrieben, teils heben sich die subscriptio und das Signet des Notars durch dunklere Tinte ab. Jakob II. folgte Nuño Sanchez, der den ‚Liber feudorum ceritaniae‘ seines Vaters um weitere Dokumente ergänzte, als Herrscher über die Grafschaft Roussillon und wählte Perpignan als Residenz- und Hauptstadt. Zu den Miniaturen vgl. Joseph GUDIOL, La pintura Mig-eval catalana, Bd. 2, Els Trescentistes, segona part, Barcelona 1924, S. 274–292; Marcel DURLIAT, Arts anciens du Roussillon. Peinture, Perpignan 1954, S. 44 (Schwarzweiß-Abbildungen S. 44, 46, 50, 54–55). DURLIAT merkt die Nähe zur französischen Buchmalerei unter Ludwig IX. an; zu anderen, nicht illuminierten capbreus dieser Region siehe Pilar SENDRA BELTRAN, El capbreu d'Elisenda de Riudeperes (1278), in: Acta historica et archaeologica mediaevalia 23/24 (2002), S. 167–193; TRÉTON (Anm. 9), S. 52 zum capbreu von Laroque 1264, Original: Perpignan, Archives Départementale des Pyrénées-Oriental, fonds du clergé régulier, H212; zum capbreu des von Ava de Fenouillet dem Hospital der Armen d’Ille-sur-Tét/Camélas gegebenen Besitzes, Original: Perpignan, Archives Départementales des Pyrénées-Orientales, Fonds de L‘Hospice d’Ille-sur-Tet, 2B15, von 1277; für historische Informationen zu den Orten der capbreus Jakobs II. vgl. http://pyreneesca talanes.free.fr/Thematiques/Documents/Capbreus.php [4.3.2018]. 77 TRÉTON, CATAFAU u. VERDON (Anm. 76), S. LIV; vgl. die Nachträge zu Argelès fol. 6v, 26v, 29r, 31r. 78 TRÉTON, CATAFAU U. VERDON (Anm. 76), S. XXIX.

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Textrand die betreffenden Naturalienabgaben oder Dienstleistungen in Federzeichnungen vermerken79, thematisieren die Miniaturen dieser capbreus stets das den Abgaben zugrundliegende Treueverhältnis gegenüber der Krone. Die streifenförmigen, 7–8,5 x 25,8–26,8 cm messenden Miniaturen dominiert der Farbklang von leuchtendem blau, rot, orange und dunkelgrün, der durch die gebrochenen Farben altrosa, ocker und grau ergänzt wird. Die Miniaturen werden durch den Farbwechsel des Ornamentgrundes und der Rahmenleiste jeweils in drei Abschnitte gegliedert: Links thront der gekrönte König im hermelingefütterten Mantel frontal unter einer Arkade; er hält die Sphaira in der erhobenen Linken, das Zepter in der Rechten. (Abb. 14) Dieses Bildnis im Siegelbildtypus erinnert kompositorisch an die Präsentation des Herrschers im ‚Liber feudorum maior‘ (durch den ersten Maler). Dem König gegenüber am rechten Bildrand thront auf einer etwas niedrigeren Bank im Profil der Prokurator des Königs. Er ist von ähnlicher Größe wie der König und wird vom selben Ornamentgrund hinterfangen, wodurch der Regent und sein königlicher Beamter visuell verknüpft werden. Im Fall der capbreus von Argelès-sur-Mèr, Collioure und St. Laurent de la Salanque ist er durch einen schwarzen Mantel mit rotem Kreuzzeichen als Tempelordensritter gekennzeichnet.80 TRÉTON identifiziert ihn mit Jaume d‘Ollers, dem Kommandeur des Ordenshauses in Perpignan, der für die Registratur der recognitiones zuständig war.81 In den anderen Miniaturen ist der Prokurator durch ein rotes Gewand und rotes Birett als Jurist charakterisiert, vermutlich der im Text der capbreus als Prokurator genannte Guillem de la Capella.82 (Abb. 15)

|| 79 Rentier der Familie d’Audenarde, Brüssel, Bibliothèque Royale, Ms. 1175; Terrier des Bischofs Enguerran II. von Cambrai, Lille, Archives Départementales du Nord, 3 G 1208; Alison STONES, The Terrier de l’Èvêque and Some Reflections of Daily Life in the Second Half of the 13th Century, in: Susan L’ENGLE u. Gerald B. GUEST (Hgg.), Tributes to Jonathan J. G. Alexander: The Making and Meaning of Illuminated Medieval and Renaissance Manuscripts, London 2006, S. 371–384; DIES., Gothic Manuscripts 1260–1320, Part 1 (A Survey of Manuscripts Illuminated in France), London, Turnhout 2013, Nr. III–54; zur Verortung der oft nachträglich von Benutzern von Handschriften der Wirtschafts- und Finanzverwaltung eingefügten Randzeichnungen vgl. Susanne WITTEKIND, Überlegungen zur Verwendung graphischer Marginalien in Rechtshandschriften ausgehend von Dom-Hs. 127, in: Harald HORST (Hg.), Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Siebtes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten (Libelli Rhenani 70), Köln 2018. 80 Die Templer traten auch in Katalonien früh als Verwaltungs- und Finanzspezialisten hervor, vgl. Philip D. RASICO, Un capbreu dels Templers a la Cerdanya (c. 1184). edició filològica i comentari lingüístic, in: Llengua i literatura 8 (1997), S. 57–75; in der Miniatur zu Millas ist der Mantel mit dem roten Kreuzzeichen der Templer braun. 81 TRÉTON, CATAFAU U. VERDON (Anm. 76), S. XXV. 82 Zur Juristenkleidung vgl. Andrea VON HÜLSEN-ESCH, Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 201), Göttingen 2006, hier S. 100–103 zum Privileg roter Kleidung für König, Hochadel und als Amtsfarbe für Juristen, S. 124, 130–131 zum (roten) Birett der Gelehrten (Juristen).

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Vor ihm sitzt auf einem Hocker jeweils ein kleiner Schreiber, wohl, wie im capbreu angegeben, Pere de Girona bzw. Pere de Ferrals.83 Einmal wendet er sich zum Prokurator zurück, die eine Hand am Ohr, um dessen Worte besser zu verstehen, während seine Linke auf die geschriebenen Worte auf dem Blatt vor ihm weist (St. Laurent). (Abb. 16) Dann wieder schreibt er konzentriert (Tautavel, Millas) oder spitzt die Feder (Argelès). Auf seinem Blatt sind, ähnlich wie auf den Urkunden im Frontispiz des ‚Liber feudorum maior‘, die Anfangsworte bzw. Verkündigungsformel des betreffenden Dokuments (Noverint universi) zu lesen oder aber der Name des im folgenden Dokument genannten Abgabepflichtigen.84 Dieser beugt ein Knie vor dem Prokurator, der ihm ein offenes Buch hinhält, in dem die Namen der vier Evangelisten stehen.85 Diese Komposition ruft die älteren Homagiumsszenen des ‚Liber feudorum maior‘ in Erinnerung, in denen die ausgestreckten Hände des Vasallen unterhalb des Evangelienbuchs platziert wurden. (Abb. 6) Hier hingegen leistet der – oder im Fall von Millas die – Abgabenpflichtige durch das Berühren des Evangeliums mit der rechten Hand und der Sprechgeste der linken den Eid. Zugleich wird der unter dem Evangeliar sitzende Schreiber von diesem gleichsam beschirmt und auf die Wahrhaftigkeit seiner Mitschrift verpflichtet. Allein die Miniatur zu Tautavel betont mit der immixtio manuum die Lehnshuldigung anstelle des Treueeides und greift damit ein Bildmotiv auf, das für den ‚Liber feudorum maior‘ wie für den ‚Liber feudorum ceritaniae‘ prägend ist. Hinter dem Lehnsmann stehen im mittleren Feld in der Regel zwei Personen (im Fall von Millas nur einer), die die Handlung beobachten und durch Zeige- und Redegesten bezeugen. Die Einbeziehung von Zeugen war bereits im ‚Liber feudorum maior‘ zu beobachten, dies im Frontispiz wie in vielen Einzelszenen des zweiten Künstlers. Waren die Zeugen dort adlige Hofleute, so treten hier prominent Juristen hinzu, die an Birett (Collioure, Millas) und Kapuze (St. Laurent) zu erkennen sind. Im Fall von St. Laurent wird der Handschuh in der Hand des Juristen in Kombination mit seiner Rückwendung zum König zum Ausdruck seiner Beauftragung und Stellung im Dienst des Königs.86 Die langen leeren Ärmel, die von den Schultern des Gewandes herabhängen, demonstrieren das modische Selbst- und Standesbewusstsein dieser Zeugen.87

|| 83 TRÉTON, CATAFAU U. VERDON (Anm. 76), S. XXIX. 84 TRÉTON, CATAFAU u. VERDON (Anm. 76), S. XXVII. 85 TRÉTON, CATAFAU u. VERDON (Anm. 76), S. XXV. 86 Vgl. VON HÜLSEN-ESCH (Anm. 82), S. 124–135 zur Juristenkleidung und zum Handschuh als Zeichen einer Stellung im Dienst des Königs. 87 Vermutlich handelt es sich bei dem Juristen um den in den zugehörigen capbreus immer wieder genannten Nicolau Camot, den öffentlichen Notar von Perpignan (tätig 1281–1312), bei den anderen um die ebenfalls mehrfach als Zeugen genannten Guillem de Cossolent und Ramon Nicolau; vgl. TRÉTON, CATAFAU u. VERDON 2011 (Anm. 76), S. XXIX.

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König Jakob II. von Mallorca gab die capbreus 1292–1294 und damit in einer Zeit der drastischen Reduktion seines Herrschaftsgebiets auf den festländischen Besitz in Auftrag. Dazu gehörten im wesentlichen Cerdanya-Roussillon und Montpellier, doch waren dies lediglich Grafschaften bzw. Herrschaften. Allein die in den capbreus aufgeführten Orte waren königlicher Kronbesitz. Jakob II. nutzt die notariell beglaubigte und von seinen Untertanen beeidete Bestätigung seiner königlichen Rechte in diesen Orten, um in Gestalt der beiden capbreus-Codices gegen die Anfechtungen seiner auf ein Lehensverhältnis zur Krone Aragón reduzierten Königsherrschaft und Königswürde ein Dokument und Zeichen königlicher Souveränität zu setzen. Dies geschieht wesentlich durch die Miniaturen. Ähnlich wie das Frontispiz des ‚Liber feudorum maior‘ garantieren sie durch die bildliche Wiedergabe des rechtlichen Aktes, seiner Bezeugung und seiner schriftlichen Aufzeichnung gleichsam dokumentarisch die Wahrhaftigkeit der nachfolgenden capbreus. Zugleich stellen sie, indem jeweils der Moment des Kniefalls mit der Eidleistung oder dem Homagium gekoppelt festgehalten wird, ähnlich wie die Abschnittsminiaturen des ‚Liber feudorum maior‘ und des ‚Liber feudorum ceritaniae‘, mittels dieses (Unt-)Ergebenheitsmotivs die Macht des Herrschers heraus. Anders jedoch als in den beiden illuminierten Libri feudorum der Grafen von Barcelona bzw. der Grafen von Cerdanya-Roussillon wird jede Form personaler Herrschaft, d. h. die Berührung der Hände von Herrn und Vasall beim Homagium oder Vertragsschluss, ja selbst auf die Präsenz des Herrschers gegenüber seinem Vasallen oder Untertan verzichtet. Der Treueeid gilt nicht mehr dem Herrscher, sondern der Krone als abstrakter Institution.88 Dies wird dadurch angedeutet, dass der Herrscher hier in einem eigenen, durch Arkaden ausgezeichneten Raum separiert und der unmittelbaren Handlungsteilnahme entzogen wird. Als Handlungsträger treten königliche Beamte und Schriftstücke an die Stelle des Königs; sie sind die neuen Medien der Herrschaft. Wie die Miniatur zu St. Laurent anhand des auf den König zurückblickenden Zeugen und die Miniatur zu Tautavel durch die auf ihn gerichtete Zeigegeste des Zeugen demonstrieren, hat der König dennoch Einfluss auf und Bedeutung für die vollzogene Rechtshandlung. Doch geschieht dies gleichsam ohne sein aktives Zutun. Seine Wirkmacht scheint allein in seinem königlichen Amtskörper begründet, den das frontale Thronbild mit den seitlich ausgestellten Insignien präsentiert.89 Hier wird ein Wandel der Herrschaftsauffassung erkennbar, der auch in der reich illuminierten Hofordnung, den Leges Palatinae König Jakobs III. von Mallorca || 88 Ernst H. KANTOROWICZ, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990 (orig. The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1957), S. 342–343 zur Krone als Symbol des Königreichs, S. 344–345 zur Krone im fiskalischen Sinn und in Bezug auf königliche Domänen, S. 354–355 zum Amtseid und Eidleistungen gegenüber König und Krone, die den ganzen politischen Körper repräsentiert siehe S. 363. 89 KANTOROWICZ (Anm. 88), S. 381–385 zur (unsterblichen) Dignität der Krone.

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(r. 1324–1343/49) von 1337 wieder aufscheint.90 Der König fungiert hier wie dort als autorisierende Instanz für das geübte Recht. Er ist zwar ideelles Zentrum der im Text behandelten Ordnung und Empfänger der Eidleistungen seiner Untertanen bzw. Hofbeamten, tritt visuell jedoch hinter den (vielfältigen) Amtsträgern und deren Tätigkeiten in den Hintergrund. Diese Tendenz zeichnet sich bereits bei Jakob II. von Mallorca in der Anlage der königlichen Residenz in Perpignan ab, die 1274 begonnen und von ihm 1285 bezogen wurde. Denn hier sind die königlichen Appartements separiert, auch räumlich wird eine Distanz zwischen dem König und seinem Hof bzw. seinen Untertanen geschaffen.91 Sie findet in den Bestimmungen der Leges Palatinae hinsichtlich des angemessenen räumlichen Abstands zum König und des restringierten Zugangs zu ihm ein zeremonielles Echo.

5 Schluss Bei den hier vorgestellten Handschriften handelt es sich um Archivalien und administrative Dokumente. Für derartige Zeugnisse pragmatischer Schriftlichkeit erwartet man keinen Schmuck. Entsprechend geringe Aufmerksamkeit fanden diese katalanischen Codices bisher in der Kunstgeschichte. Doch bereits der Umstand, dass diese Libri feudorum und capbreus der Grafen von Barcelona bzw. von Cerdanya-Roussillon so reich illuminiert wurden, macht darauf aufmerksam, dass dieses administrative Schriftgut für die Herrschaftsausübung, für das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung dieser Herrscher von besonderer Bedeutung war. Nachträge zeigen die Benutzung und Relevanz dieser im königlichen Archiv in Barcelona bzw. Perpignan aufbewahrten illuminierten Handschriften über einen längeren Zeitraum nach ihrer Entstehung. Die bildlichen Referenzen der beiden jüngeren Handschriften auf den Bildschmuck des ‚Liber feudorum maior‘ deuten darauf hin, dass dieser zumindest zu bestimmten Anlässen Angehörigen der königlichen Familie oder einem adeligen Publikum vorgezeigt wurde. Diese Schaufunktion übernehmen der ‚Liber feudorum ceritaniae‘ wie die capbreus Jakobs II. von Mallorca, worauf deren großes Format und ihre entsprechend großen, stark farbigen und klar strukturierten Miniaturen hinweisen. Die Miniaturen dieser Codices stellen die Rechtsgesten heraus. Hinsichtlich der Darstellung des Homagiums, der immixtio manuum oder des Lehnseides sind sie die

|| 90 Brüssel, Bibliothèque Royale, Ms. 9169; Susanne WITTEKIND, Die ‚Leges Palatinae‘ als illuminierte Rechtshandschrift, in: DROSSBACH u. KERSCHER (Anm. 72) S. 153–155. 91 Marcel DURLIAT, L‘art dans le Royaume de Majorque, Paris 1962, S. 194–215; Gottfried KERSCHER, Architektur als Repräsentation. Spätmittelalterliche Palastbaukunst zwischen Pracht und zeremoniellen Voraussetzungen. Avignon – Mallorca – Kirchenstaat, Tübingen 2000.

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ältesten Belege dieses Bildmotivs, lange vor den illustrierten Handschriften des Sachsenspiegels. Sie präsentieren die Rechtshandlung wie auf einer schmalen Bühne im Vordergrund, verzichten auf Raumtiefe und Details, die vom rechtlichen Hauptgeschehen ablenken würden. Bewusst verwenden sie dieselben Motive immer wieder.92 Durch diese gezielte Redundanz stellen sie die Gleichartigkeit des Rechtsakts jenseits der beteiligten Personen und konkret betroffenen Orte oder Rechte heraus; diese sind im Einzelfall jeweils dem Inhalt des nachfolgenden Dokuments zu entnehmen. Dadurch heben sie auf die historisch fundierte und bis in die Gegenwart geltende Bindungskraft dieser lehnrechtlichen Handlungen und Strukturen ab, mit Hilfe derer die katalanisch-aragonesischen Grafen-Könige ihre Herrschaft legitimierten. Die Miniaturen der hier behandelten Rechtscodices stellen die in ihnen enthaltenen Dokumente somit visuell unter ein Leitthema, ohne dass dieses selbst Gegenstand der Texte (oder auch des Prologs im ‚Liber feudorum maior‘) wäre. Sie transportieren und propagieren den Subtext, den die Auftraggeber ihrer Textsammlung visuell einschreiben. So werden diese illuminierten Kartulare und Register durch eine Analyse, die die Ordnung der Texte und die Stellung der Bilder zu diesen ebenso berücksichtigt wie historische Entstehungsumstände der Codices, textuelle wie visuelle Gattungstraditionen, Bezüge und Referenzen, zu aufschlussreichen Quellen für Selbstverständnis und Selbstdarstellung der katalanisch-aragonesischen Grafen-Könige im 12.– 13. Jahrhundert.

|| 92 Darin sind sie den stark konventionalisierten Siegelbildern verwandt, die das Bildzeichen des Herrschers einerseits in bestimmten Traditionen einstellen, andererseits durch kleine Unterschiede Differenzen und Besonderheiten markieren.

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Abb. 1: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 1v. © Archivo de la Corona de Aragón.

Abb. 2: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 1r: Frontispiz-Miniatur; öffentliche Verlesung und Übertragung der Urkunden ins Kartular (Hand B). © Archivo de la Corona de Aragón.

Visuelle Rechtsordnung und Herrschaftslegitimation | 411

Abb. 3: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 93r: Frontispiz-Miniatur; der Graf von Barcelona und sein Thronfolger im Kreis von Adeligen (Hand B). © Archivo de la Corona de Aragón.

Abb. 4: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 78v: Miniatur zum Ehevertrag der Tochter des Vizegrafen Bernard Ato mit Graf Gaufrid von Roussillon (Hand B). © Archivo de la Corona de Aragón.

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Abb. 5: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 83v: Lehnshuldigung (Hand A) und Nachtrag der Schenkung der villa Ortolanes durch Pontius de Verneto an Peter I. im Jahr 1200. © Archivo de la Corona de Aragón.

Abb. 6: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 56v: Lehnshuldigung (homagium) (Hand A) in einem nachgetragenen Lehnsvertrag von 1199 zwischen Peter und Gerallus de Capraria über das castrum Girona. © Archivo de la Corona de Aragón.

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Abb. 7: Wachssiegel König Alfons II. von Aragón, Graf von Barcelona, 1186: Barcelona, Arxiu Municipal. Avers mit Thronbild des Herrschers und der Umschrift: SIGILLVM ILDEFONSI REGIS ARAGONENSIS. Aus: DE SAGARRA u. DE SISCAR (wie Anm. 16), Nr. 3, Tf. VI.

Abb. 8: Bleisiegel König Peters I. von Aragón, Graf von Barcelona, 1207. (Girona, Arxiu del Capitol de la Sèu, privilegis reials) Avers mit Thronbild des Herrschers und der Umschrift: P(etri). D(e)I. GRA(tia) REG(is) ARAG(onensis). COMIT(is). BARCH(inonensis) et D(omi)NI. MO(n)TPESSVL(an)I. Aus: DE SAGARRA u. DE SISCAR (wie Anm. 16), Nr. 13, Tf. XI.

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Abb. 9: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 12r: Lehnshuldigung (immixtio manuum) der Vizegräfin Maria von Bearn gegenüber Alfons im Jahr 1170 (Hand B). © Archivo de la Corona de Aragón.

Abb. 10: Liber feudorum maior (Barcelona, ca. 1190–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cancellería reial, Registros, núm. 1, f. 4r: Nachtrag mit Verweis auf den Aufbewahrungsort der Originalurkunde Papst Urbans II. von 1095. © Archivo de la Corona de Aragón.

Visuelle Rechtsordnung und Herrschaftslegitimation | 415

Abb. 11: Liber feudorum ceritaniae. Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Real Cancillería, Registros, núm. 4, f. 31v: Lehnshuldigung Bertrands de Salione gegenüber Graf Raimund im Jahr 1064. © Archivo de la Corona de Aragón.

Abb. 12: Liber feudorum ceritaniae (1209–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Real Cancillería, Registros, núm. 4, f. 46r: Lehnseid des Grafen Ponç von Empúries gegenüber Graf Guilabert von Roussillon, ca. 1074. © Archivo de la Corona de Aragón.

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Abb. 13: Liber feudorum ceritaniae (1209–1241). Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Real Cancillería, Registros, núm. 4, f. 10v: Lehnseid des Bischofs Ermengol von Urgell gegenüber Graf Guifred von Cerdanya. © Archivo de la Corona de Aragón.

Abb. 14: Capbreus von Collioure König Jakobs II. von Mallorca (Perpignon 1292). Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales 1B29, f. 1r: Eidesleistung Amat Roqueras gegenüber dem Templer Jaume d‘Oller als Prokurator des Königs. Aus: TRÉTON 2011 (wie Anm. 76), S. 135, Abb. 12.

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Abb. 15: Capbreus von Tautavel König Jakobs II. von Mallorca (Perpignon 1293). Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales 1B31, f. 1r: Lehnshuldigung Joan Grellas gegenüber dem Prokurator des Königs, Guillem de la Capella. Aus: TRÉTON 2011 (wie Anm. 76), S. 129, Abb. 1.

Abb. 16: Capbreus von St. Laurent de la Salanque König Jakobs II. von Mallorca (Perpignon 1293). Perpignan, Archives départementales des Pyrénées-Orientales 1B33, f. 1r: Eidesleistung des Ramon Porrassa gegenüber dem Templer Jaume d‘ Oller als Prokurator des Königs. Aus: TRÉTON 2011 (wie Anm. 76), S. 141, Abb. 24.s.

Register Das Register umfasst die im Haupttext der Beiträge genannten Personen- und Ortsnamen sowie Fachbegriffe. Fußnoten sowie Bildunterschriften wurden nicht berücksichtigt. Die Sortierung erfolgte alphabetisch. Vor dem Jahr 1500 verstorbene Personen sind nach ihrem Vornamen sortiert, diejenigen aus der Folgezeit nach ihren Nachnamen. Zu ihrer eindeutigen Identifizierung wurde in den meisten Fällen eine kurze Erläuterung hinzugefügt (bspw. Kg./Kgin. (=König/Königin), Ks./Ksin. (=Kaiser/Kaiserin), Ebf. (=Erzbischof), Bf. (=Bischof), Hzg./Hzgin. (=Herzog/Herzogin), lit./bibl. Figur (=literarische/biblische Figur)). Die Identifizierung der Ortsnamen erfolgt auf Basis der modernen Verwaltungsgliederung (Reg. (=Region), Dép. (=Département), Prov. (=Provinz) etc.). Das Sachregister vereint Fachbegriffe aus dem Bereich der Diplomatik sowie teilweise der Sphragistik. Sofern ein Ort, eine Person oder ein Fachbegriff innerhalb eines Beitrags oder Abschnitts besonders häufig erscheint, wurde lediglich seine Erstnennung mit fett gesetzter Seitenzahl gekennzeichnet. Aachen 375 Abschrift 13, 181, 269, 273, 284, 331, 333 – imitierende Kopie 363 – Nachzeichnung 228 Abū Isḥāq Kāzarūnī, Scheich 156 Acerenza, Reg. Basilikata 211f. Adalbero, Bf. von Würzburg 214ff., 231 Adalbero, Ebf. von Trier 219 Adalbert I., Ebf. von Mainz 221f., 228, 341, 344 Adalbert III., Ebf. von Salzburg 226 Adalbert, Bruder des Bertrand I., Bf. von Fréjus 288 Adelheid, Hzgin. (lit. Figur) 107 Adelheid, röm.-dt. Ksin. 375, 378 Adelog, Bf. von Hildesheim 218 Adias, Mutter des Bertrand I., Bf. von Fréjus und des Adalbert 288 Ado, Ebf. von Vienne 133 Adolf I., Hzg. von Cleve 265 Adressat 169 Aethelbald, Kg. von Mercia 275, 283 Ägypten 279 Aken (Elbe), St. Nikolaus 247, 291 Alban von England, Heiliger 283 Albert I., Bf. von Freising 220 Albrecht II., Hzg. von Österreich 25, 32 Albrecht III., Hzg. von Österreich 25 Albrecht IV., Hzg. von Bayern 298 Alexander der Große, Kg. von Makedonien 113f. Alexander III., Papst 226 Alexius von Edessa, Heiliger 112 Alfons II., Kg. von Aragon 278, 306f., 383, 386, 399f., 402 Alfons III., Kg. von Aragon 403

https://doi.org/10.1515/9783110649970-015

ʿAlīšāh Ẓill as-Sulṭān, qajarischer Prinz 158 Almodis de la Marche, Gfin von Barcelona 392 Altarlegung 280 Anagni, Reg. Latium 135, 403 Anastasius Bibliothecarius 133 Anfangsnotiz 168f. Angers 50, 247 Anhausen an der Brenz (Konvent), BadenWürttemberg 228 Anjou 48, 51f. Anno II., Ebf. von Köln 224f. Anselm, Ebf. von Mailand 209 Apulien 211 Aquileia 208, 211, 232 Aquitanien 7, 47f., 50ff., 273 Aragon 278, 306, 384 Argelès-sur-Mer, Dép. Pyrénées-Orientales 404ff. Arnald, Ebf. von Acerenza 211 Arnold von Seehofen, Ebf. von Mainz 343 Assyrien 150 Asti 211 Auftraggeber 249, 259, 269, 276, 295, 312, 344, 389, 398, 409 Augsburg 199, 213f., 226ff. Augustinus, Ebf. von Canterbury 132 Ausfertigung 125f., 136, 281, 341, 344 Ausfertigung (Akt) 126, 134, 159 äußere Merkmale 3, 8, 181, 183, 210, 227, 310f., 335, 339, 365, 371, 373, 377, 379 Aussteller 3, 7ff., 12, 25, 27, 143, 157, 159, 166, 172, 181, 213, 226f., 229f., 232, 262, 266, 310, 331, 334, 337, 339, 344, 346, 366ff., 373, 381, 391

420 | Register Ausstellung Siehe Ausfertigung (Akt) Autorisierungsformel 166f., 171f., 174 Avignon 11, 233, 291f. Balduin I., Gf. von Flandern 135 Balduin von Luxemburg, Ebf. von Trier 269, 312 Balearen 403 Bamberg 214, 217, 230f. Banz (Konvent), Bayern 217 Barcelona 278, 306, 383 Barnabò Visconti 295 Barnim III., Hzg. von Pommern-Stettin 268 Bayern 298, 300, 345 Beauvais 137f. Beglaubigung 19, 33, 39, 99, 143f., 148, 168, 338, 376f., 385, 407 Beglaubigungsform 6, 376 Beglaubigungsmittel 172, 286, 337, 346, 376 Beglaubigungsstrategie 99 Beglaubigungsvermerk 144 Bekräftigung 102, 222 Belluno, Reg. Venetien 208 Bendern, Liechtenstein 242 Benevalete (Grußformel) 219, 340 Benevalete (Zeichen) 199, 201, 203, 208, 210ff., 216f., 219, 225ff., 261, 295 Benevent 210f., 232, 290 Benigna von Tanndorf 297 Benninghausen (Konvent), Lippstadt 246 Bernhard von Clairvaux, Heiliger 308 Bertran I. de Castellet 384 Bertrand I., Bf. von Fréjus 288 Besalù, Katalonien 387 Beschreibstoff 10, 163, 170, 181, 339, 346 – Blei 342 – Marmor 339 – Metall 13, 340 – Papier 10, 164, 170f., 178, 180, 187 – Papyrus 10 – Pergament 10, 12, 187, 220, 280, 288, 290, 307, 311, 333, 341, 343, 373f., 376, 378, 390 – Seide 10, 170, 177f. – Stein 12ff., 121, 164, 181, 336f., 340, 342, 346 Besiegelung 34, 215, 234, 281, 287, 298, 301, 372, 380 Besiegelungsspuren 374f. Bianca Maria Visconti-Sforza, Hzgin. von Mailand 308

Bischofsurkunde 8f., 199, 370 Bleibulle/-siegel 216 Blindlinierung 376 Bologna 209, 212, 384 Bonaiuto, Andrea, Maler 294f. Bonifatius, Heiliger 136f. Bonn 116 Bote 6, 99, 125, 134f., 139 Botella, Mateu, Archivar 394 Bourges 206, 211 Braga (Stadt), Portugal 207, 211 Braunschweig 118, 121 Breme (Konvent), Reg. Lombardei 381 Bretagne 43, 46, 52f. Brief 6, 99, 183 – epistola 128 – Papstbrief 6, 125 Brun I., Ebf. von Köln 224 Bruno, Bf. von Hildesheim 218 Bulgarien 133, 136 Byzantinisches Reich 2, 9, 134ff., 183, 290, 334, 376 Cambrai, Dép. Nord 206, 211, 404 Canterbury 132, 276 Carbonell, Pere, Archivar 388 Carcassonne, Dép. Aude 387 Cáseda, Navarra, Ermita de San Zoila 252 Cerdanya, Katalonien 387, 400f., 407 Charta 165, 201 charter rolls 43 Chartres 206, 211 Chers 335 China 2, 164, 168, 181 Chirograph 204, 224, 276, 305 Chögyal Pakpa, Geistlicher und Lehrer 165 Chur, Schweiz 375 Cicero, Marcus Tullius 128 Cividale del Friuli/Östrich, Reg. Friaul-Julisch Venetien 257 Claira, Dép. Pyrénées-Orientales 404 Closener, Fritsche, Chronist 301 Cluny (Konvent) 288 Coimbra, Portugal 208, 211 Collioure, Dép. Pyrénées-Orientales 404, 406 Concordia, Gem. in Venedig 208 Corbie 138 Cremona, San Sigismondo (Konvent) 309 Crowland (Konvent), Lincolnshire 275, 283

Register | 421

Cuijk, Niederlande 247 Daimbert, Ebf. von Sens 206 Damaskus 160 Darius, Kg. der Perser 113f. Datierung 11, 30 David Steuss, Geschäftsmann 25, 29, 30, 37f. Destinatär Siehe Empfänger Deutschland 1, 203, 333f., 340 Devise 207ff. Diego Gelmirez, Ebf. von Santiago de Compostela 207 Diktator 133, 363 Dinant, Reg. Wallonien 247f. Diplomatik 1, 141, 163, 171, 184, 187, 203, 262 Disibodenberg (Konvent), Rheinland-Pfalz 221 dispositive Urkunde 149 Dorfprozelten, Bayern 307 Drogo, Bf. von Thérouanne 206 dt. Reich Siehe röm.-dt. Reich Dubrovnik 205 Dürer, Albrecht, Maler 300 Düsseldorf, Gerresheim (Konvent) 224f. Eberhard I., Ebf. von Salzburg 226 Eberhard II., Bf. von Bamberg 217 Eberhard II., Ebf. von Salzburg 226 Eberhard IV., Gf. von Nellenburg (†1422) 265 Eberhard, Ebf. von Trier 219 Eberhard Windeck, Chronist 269 Edward III., Kg. von England 272f. Edward IV., Kg. von England 267 Edward Plantagenet (Der Schwarze Prinz) 273 Egas Fafes de Lanhoso, Bf. von Coimbra 208 Eigenhändigkeit 31, 105, 119, 123, 208, 217, 219, 222, 226, 229, 266, 287, 304, 391 Eingangspromulgation/Pertinenzzeile (Byz.) 189, 197 Einzelabschrift 13, 373 Einzelkopie Siehe Einzelabschrift Eleonore von Aquitanien, Kgin. von England 7, 51f. Elsa von Brabant (lit. Figur) 115f. Elten (Konvent), Emmerich 243 Embricho, Bf. von Augsburg 227, 229 Empfänger 3, 7, 10f., 13, 41, 106, 117, 119, 123, 138f., 165ff., 177f., 181, 218, 225, 232, 256, 262, 266, 278, 295, 310, 335, 363 Empfängerausfertigung 29, 221, 232

Empfängereinfluss 226, 232 Empfängerschreiber 363f., 367, 374, 377f. Empúries, Katalonien 387, 403 England 1, 6, 9, 41, 204, 206, 211f., 276, 286 Enguerran II., Bf. von Cambrai 404 Enite (lit. Figur) 113 Epigraphik 13 Erec (lit. Figur) 113 Erfurt 310 Ermenald, Bf. von Reggio Emilia 372 Ermengaudus III., Gf. von Urgell 401 Ermengol, Bf. von Urgell 401f. Erzkanzler 366f., 379 Erzkapellan 223 Estagel, Dép. Pyrénées-Orientales 404 Eugen III., Papst 216 Fälschung 25, 114, 192, 211, 215, 217, 226, 232, 266, 275, 283, 306, 363 Feltre, Reg. Venetien 208 Ferdinand I., röm.-dt. Ks. 300f. Ferdinand III., röm.-dt. Ks. 344 festuca 287 Filippo Maria Visconti 264 Flandern 206 Florenz 373f. Florenz, Santa Maria Novella (Konvent) 294f. Folcmar, Ebf. von Köln 224 Format 10, 177, 235, 339, 374f. – Hochformat 171, 374f. – Querformat 171 Formularbestandteile Siehe Urkundenformular Fox, Richard, Bf. von Winchester 276 Frankenreich 129 Frankfurt am Main 268f. Frankreich 1, 9, 199, 206, 211f., 231, 251, 272f., 278, 307, 335, 403 Freising 214, 219f., 230 Fréjus, Dép. Var 288 Friedrich I. Barbarossa, röm.-dt. Kg., Ks. 42, 225, 331f. Friedrich II., röm.-dt. Kg., Ks. 262 Friedrich III., röm.-dt. Kg., Ks. 300 Friedrich IV., Hzg. von Österreich 264 Friedrich von Telramunt (lit. Figur) 115 Friedrich, Bf. von Genf 216 Fröndenberg/Ruhr 253 Frothar, Bf. von Toul 129 Fulco II., Bf. von Urgell 401

422 | Register

Fulda, Kloster Frauenberg (Konvent) 254 Fulrad, Abt von Saint-Denis 287f. Galeazzo II. Visconti 295 Galizien 211 Gallus, Heiliger 251 Garel (lit. Figur) 106f. Gascogne 273 Gauffredus, Bruder des Odalricus, Begünstiger der Abtei Cluny 288 Gaufred II., Hzg. von Bretagne 52 Gaufrid III., Gf. von Roussillon 392 Gawein (lit. Figur) 107, 112 Gelegenheitsschreiber 363, 365, 367 Genf 214, 216 Gent, Flandern 248 Genua 185f., 209f., 212 Geoffroy II., Bf. von Chartres 206 Gerhard I., Bf. von Cambrai 206 Gerhard II., Bf. von Cambrai 206 Gerhoch, Propst von Reichersberg 227 Gerichtsurkunde 149, 370, 372, 381 Germanien 137 Gero, Ebf. von Köln 224 Gerung, Matthias, Maler und Holzschneider 294 Geschäftsurkunde 152 Gilbert, Bf. von Lissabon 208 Ginover (lit. Figur) 107 Gnesen 375 Gorze (Konvent), Dép. Moselle 219 Gottfried V. der Schöne, Gf. von Anjou 48f. Gottfried von Straßburg, Dichter 108 Grafenurkunde 370 Grande Chartreuse (Konvent), Dép. Isère 273 graphische Symbole 8f., 13, 183f., 199, 288, 346 Gregor I., Papst 129f., 132, 339, 346 Gregor II., Papst 137 Gregor III., Papst 137 Gregor IX., Papst 262 Gregor XI., Papst 14, 331, 336f. Guido, Bf. von Lugo 207 Guilabert II., Gf. von Roussillon 401 Guillaume, Prior der Grande Chartreuse 273 Guillelm I., Gf. von Cerdanya 401 Guillem de la Capella, Prokurator 405 Gurk, Kärnten 214, 216, 230 Guthlac, Heiliger 275, 283

Hallein, Bundesland Salzburg 40 Hamburg-Bremen, Erzbistum 133 Hamm, Westfalen 248 Hamm, Westfalen, St. Severin 257 Handauflegen 279, 312 Hartmann von Aue, Dichter 113 Hartwig I., Bf. von Augsburg 229 Hecilo 218 Heiliges Land 118, 121f. Heiliges Römisches Reich Siehe röm.-dt. Reich Heinrich der Löwe, Hzg. von Sachsen und Bayern 100, 121f. Heinrich I., Bf. von Regensburg 216 Heinrich I., Ebf. von Mainz 221f. Heinrich I., Kg. von England 48 Heinrich I., ostfränk. Kg. 115f., 223 Heinrich II., Kg. von England 6f., 41 Heinrich II., röm.-dt. Kg., Ks. 116, 377, 380 Heinrich III., röm.-dt. Kg., Ks. 367, 380 Heinrich IV., röm.dt. Kg., Ks. 378 Heinrich V., röm.-dt. Kg., Ks. 331f., 341, 344 Heinrich VI., Kg. von England 309 Heinrich VII., Kg. von England 276, 305ff. Heinrich von dem Türlin, Dichter 112 Henricus I., Bf. von Bologna 209 Heribert, Ebf. von Köln 375 Hermann I., Bf. von Konstanz 216f. Hermann, Bf. von Augsburg 227 Herrscherurkunde 7, 141, 143, 145, 147, 155, 163, 200ff., 213, 217, 223, 225, 231f., 334f., 340, 363 Herstal, Prov. Lüttich 287 Herzogenburg, Niederösterreich 30 Herzogsurkunde 25, 345 Hetschel, Geschäftsmann u. Bruder des Zecherl 30 Hildesheim 214, 218 Hofschreiber 364, 367 Hohenberg (Rosenberg), Baden-Württemberg, St. Jakob 250 Honestus, Ebf. von Ravenna 379 Hostěradice/Hosterlitz, Tschechien 37 Hubert, Bf. von Parma 367 Hubert, Bf. von Thérouanne 206 Hug V., Gf. von Empúries 403 Hugo de Cressy 50 Hugolino Gonzaga, Stadtherr von Mantua 295 iberische Halbinsel 212, 231, 338

Register | 423

Illumination 11, 163, 170, 178, 233, 259, 386 Indien 143 Initiale 11, 233, 262, 266, 268f., 273ff., 309 innere Merkmale 126, 197, 210, 377 Innozenz II., Papst 337 Innozenz III., Papst 396 In-perpetuum-Formel 213 Inschrift 12f., 16, 164, 181, 208, 215, 331 Intervenient 366f. Intervention 132 Invokationszeichen 201, 207, 211 – Chrismon 8f., 199f., 213, 221, 225, 229, 232, 261, 288, 375 – Kreuz 199, 213, 227, 229 Ipswich 272 Iran 141 Irenäus von Lyon 128 Islip, John, Abt von St. Peter, Westminster 276, 305 Isolde (lit. Figur) 108 Istanbul 279 Italien 1, 9, 13, 199, 208, 211f., 231, 334, 339, 363 Jacopo di Santa Croce aus Padua 270 Jakob I., Kg. von Aragon 388, 393, 400, 402 Jakob II., Kg. von Aragon 394, 397, 402f. Jakob II., Kg. von Mallorca 277, 383, 403, 408 Jakob III., Kg. von Mallorca 407 Jakob, Apostel 250 Japan 8 Jean de Sainte-Maure 278 Jean de Valois, Hzg. von Berry und Auvergne 274 Jeanne de Bourgogne, Kgin. von Frankreich 272 Jerusalem 109, 149, 205, 387 Jiajing, chinesischer Ks. 178 Jodocus, Heiliger 252 Johann III., Gf. von Nassau-Dillenburg 297 Johann Ohneland, Kg. von England 43 Johann von Bayern, Gf. von Holland 297 Johannes der Evangelist 252 Johannes der Täufer (bibl. Figur) 249, 252 Johannes III., Bf. von Poitiers 50 Johannes Tzimiskes, byz. Ks. 290 Johannes VIII., Papst 125f. Johannes XIII., Papst 290, 379 Juan, Bf. von Lugo 207 Judenbuch 25f.

Justin, Geschichtsschreiber 128 Justinian I., byz. Ks. 384, 388 Kadeloh, Bf. von Naumburg 367, 374f. Kairo 160 Kamāl ad-Dīn Muḥammad Muršidī, Vorsteher des Sufi-Schreins in Kāzarūn 157 Kanzlei 6, 99, 157, 159, 267, 337, 363f. – bischöfliche Kanzlei (Mainz) 343 – herrscherliche Kanzlei (Persien) 152 – herrscherliche Kanzlei (röm.-dt. Reich) 225, 232 – herzogliche Kanzlei (Landshut) 345 – kaiserliche Kanzlei (Byz.) 9, 190ff. – königliche Kanzlei (Angelsachsen) 146f. – königliche Kanzlei (Engl.) 275 – päpstliche Kanzlei 340 Kanzleiregister (Frankr.) 267 Kanzleiurkunde 153 Kanzleivorstand (Byz.) 191, 195 Kanzleiwesen 144, 172 Kanzler 265, 363, 366f., 374f. Kapitälchen 225 Karl I. der Große, fränk. Kg., Ks. 282, 372, 376 Karl II. der Kahle, westfränk. Kg., röm. Ks. 135 Karl III. der Dicke, ostfränk. Kg., röm. Ks. 126 Karl IV., röm.-dt. Kg., Ks. 270 Karl V., Kg. von Frankreich 273, 307 Karlmann, Kg. von Italien 126 Kärnten 344 Kastilien 387 Katalonien 383 Katharina von Alexandrien, Heilige 249f., 253, 304 Kaufungen (Konvent), Hessen 221, 228 Kelsang Gyatsho, 7. Dalai Lama 180 Keye (lit. Figur) 113 Khubilai Khan, mongolischer Herrscher 165f. Kirchberg bei Linz, Oberösterreich 252 Koblenz 248 Köln 199, 214, 223ff., 230ff., 298, 304, 375 Köln, Deutz (Konvent) 225 Köln, St. Cäcilien (Konvent) 225 Köln, St. Ursula (Konvent) 225 Konfirmationsvermerk 170 Konrad I. von Wittelsbach, Ebf. von Mainz 311 Konrad I., Bf. von Augsburg 227, 229 Konrad I., Bf. von Passau Siehe Konrad II., Ebf. von Salzburg

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Konrad I., Ebf. von Salzburg 226 Konrad II., röm.-dt. Kg., Ks. 367, 374, 377f., 380 Konrad von Würzburg, Dichter 112 Konrad Witz, Maler 264 Konstanz 133, 214, 216, 264, 292 Konstanze, Hzgin. von Bretagne 52 Konventsurkunde 157 Kopie Siehe Abschrift Korsika 211 Košice/Kaschau/Kassa, Slowakei 259 kratos (κράτος)-Formel 9, 192 Kreis 209, 214f., 220, 225, 227, 229, 231 Kremsbrücke, Kärnten, Maria Trost (Pfarrkriche) 344 Kreuz 204, 209f., 212f., 215, 218, 220, 225 Krumbach (Tettnang), Baden-Württemberg 252 Kühbach (Konvent), Bayern 229 Künga Lodrö Gyeltsen Pel Zangpo 174 La Haie-Joulain, Dép. Maine-et-Loire 279 Lahneck (Burg), Rheinland-Pfalz 249 Lahnstein, Rheinland-Pfalz 249 Landshut, Bayern 345 Laon 138 Laudamie (lit. Figur) 106f. Layout 13, 234, 248, 253f., 270, 339f., 346 Le Muy, Dép. Var 288 Legimus-Vermerk 9, 183, 192, 194, 197 Leo IX., Papst 203, 209, 215, 219 Leonhard von München, Urkundenillustrator 268 Letters patent 267, 275, 309 Lhasa 165, 168f., 172, 175f. Libellus 132, 276, 278, 305, 308f. Liber Diurnus 131f. Lietbert, Bf. von Cambrai 206 Lissabon 208, 211 Litauen 270 Litterae elongatae 221, 225, 232, 335, 343, 371, 373f., 376, 379 Liutpold, Ebf. von Mainz 221 Lodi, Reg. Lombardei 309 Lohengrin (lit. Figur) 115ff. Loire (Fluss) 43, 47f. London 276, 309 London, St Paul's Cathedral 276 Lothar II., fränk. Kg. 133, 135 Louis de Bruges/Lodewijk van Grunthuse 267 Ludwig I. der Große, Kg. von Ungarn 260

Ludwig II. der Deutsche, ostfränk. Kg. 126, 133 Ludwig II., Kg. von Italien, röm. Ks. 135 Ludwig IV. der Bayer, röm.-dt. Kg., Ks. 11, 268, 270, 312 Ludwig VI., Kg. von Frankreich 335f. Ludwig VII., Hzg. von Bayern-Ingolstadt 264 Ludwig VII., Kg. von Frankreich 335f. Ludwig X., Hzg. von Bayern 345 Lugo, Galizien 207, 211 Luther, Martin 293 Magdeburg 375 Mähren 37, 133 Mailand 209, 212, 232 Maine, Reg. Pays de la Loire 48, 51f. Mainz 115, 214, 221, 228, 230ff., 341 Mainz, St. Ignaz 342 Maitre de Jeanne de Laval, Buchmaler 279 Maler 233f., 250f., 253f., 276 Mallorca 277, 403, 407f. Mantua 295 manu propria 221, 372 Margarete von Antiochia, Heilige 253 Maria Magdalena (bibl. Figur) 249, 252 Marseille, St-Victor (Konvent) 288 Martin, Bf. von Tours, Heiliger 242 Martinho (I.) Gonçalves, Bf. von Coimbra 208 Mathilde von England, röm.-dt. Ksin. 49 Matthew Paris, Chronist 283 Maximilian I., röm.-dt. Kg., Ks. 267, 300 Mercia 275 Metz 214, 216 Metz, Sainte-Glossinde (Konvent) 266 Metz, St. Arnulf (Konvent) 216 Michael III., byz. Ks. 134ff. Michael, Erzengel (bibl. Figur) 286 Michael, Protospathar 134 Millas, Dép. Pyrénées-Orientales 404, 406 Minderoffingen (Konvent), Bayern 228 Mohamed 279 Mondoñedo, Galizien 207, 211 Monogramm 8, 14, 206, 211, 216, 219f., 225f., 229, 231, 261, 366, 373, 376ff. – Herrschermonogramm 200, 216, 219f., 222, 225, 230f., 371, 375f. – Namens- und Titelmonogramm 220, 225, 229, 232, 374f. – Namensmonogramm 213, 216f., 220ff., 227ff. Montebourg (Konvent), Normandie 46f.

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Montpellier 403, 407 Mont-St-Michel (Konvent) 46f., 285f. Moosburg (Konvent), Moosburg a. d. Isar 220 Moosen an der Vils 345 Moses, Ebf. von Ravenna 208 Mühlhausen/Thüringen 252 München 298 Munio Adefonsiade, Bf. von Mondoñedo 207 Münster 291 Namensformel 194 Namensmonogramm 199, 217 Nantes 50 Naumburg 367, 374 Neapel 403 Neidhart, Dichter 110 Ngawang Lobsang Gyatsho, 5. Dalai Lama 178f. Nikolaus I., Papst 134ff. Nikolaus III., Papst 295 Nikolaus von Abensberg, Ritter 297 Nikolaus, Bf. von Myra, Heiliger 247 Normandie 4, 43, 45 Northamptonshire 50 Notar 232, 277, 372, 390 Notariat 146, 385 Notariatsurkunde 146, 155 Notarssignet 11, 201, 232, 261, 391 Notitia/Notiz 149, 165, 304 Novalesa (Konvent), Reg. Piemont 381 Nuño Sanchez, Gf. von Cerdanya-Roussillon 400 Nürnberg 257 Odalricus, Bruder des Gauffredus, Begünstiger der Abtei Cluny 288 Offa, Kg. der Angeln (Sagengestalt) 283 Original 1, 9, 15, 166, 175, 181, 185, 187, 208, 210, 213, 223, 230, 259, 261, 273, 279, 281, 298, 309, 333, 340, 363, 391, 394 Ornamentik 178 Osmanisches Reich 2 Osnabrück 133 Österreich 1, 4, 19, 310 Othmar, Heiliger 251 Otto der Fröhliche, Hzg. von Österreich 32 Otto I., Bf. von Bamberg 217 Otto I., Bf. von Freising 219 Otto I., Hzg. von Pommern-Stettin 268

Otto I., röm.-dt. Kg., Ks. 223f., 280, 290, 367, 372, 376, 378ff. Otto II., Bf. von Freising 220 Otto II., Ebf. von Genua 209 Otto II., röm.-dt. Kg., Ks. 224, 290, 373, 376ff. Otto III., röm.-dt. Kg., Ks. 335, 373 Padua 208 Palencia 337 Pallars Jussa, Katalonien 386 Pallars, Katalonien 387, 403 Papsturkunde 8, 16, 103, 125, 143, 146f., 200ff., 208ff., 215, 219, 226f., 230, 232, 293, 334f., 337, 339f., 387 – Breve 126 – Bulle 336 – litterae 126 – motu proprio 126 – Privileg 126, 132, 134, 136, 139, 213, 216 – Responsum 132 Paring, St. Michael (Konvent) 216 Parma 125, 367, 379 Parzival (lit. Figur) 115 Paschalis II., Papst 207 Passau 214, 230 patent rolls 43, 275 Patmos, Griechenland, Ioannes-TheologosKloster (Konvent) 185 Paulus von Tarsus, Apostel (bibl. Figur) 249 Pavia 375, 378 Pavia, San Salvatore (Konvent) 375 Pelagius, Ebf. von Braga 207 Peranzacas de Ojeda, Prov. Palencia, San Pelayo (Konvent) 337 Performanz 259 Perpignan 408 Persien 2, 141 Petent 243, 248, 251, 255f., 267 Peter II., Kg. von Aragon 393, 396f., 400 Peter III., Kg. von Aragon 403 Petition 132 Petronilla, Kgin. von Aragon 384 Philipp I. von Heinsberg, Ebf. von Köln 225 Philipp III., Kg. von Frankreich 403 Philipp VI., Kg. von Frankreich 272 Picquigny, Collégiale Saint-Martin (Konvent) 240 Picquigny, Dép. Somme 241 Pilgrim I., Patriarch von Aquileia 208

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Pisa 294 Pistoia, Reg. Toskana 373 Plaimpied, Dép. Chers 335 Plica/Umbug 36, 272, 281, 311, 377 Plinius der Jüngere 128 Polen 205 Polhané Sönam Topgyé, tibetischer Herrscher 178 Ponç I., Gf. von Empúrias 401 Poreč/Parenzo, Kroatien 208 Porto-Santa Rufina (Bistum), Kirchenprovinz Rom 135 Portugal 199, 207, 211, 231 Pressel 37 Privaturkunde 6, 20, 141, 165, 168, 201, 333, 335, 340, 370 Privilegienurkunde (chrysoboullos logos) (Byz.) 183 Prokop, Mgf. von Mähren 37 Pröll, Erwin, Landeshauptmann von Niederösterreich 310 propria manu Siehe manu propria Provence 387 Ptuj/Pettau, Slowenien 40 Purpururkunde 280, 282, 289 Quadrat 209, 212, 221, 231 Quedlinburg 375 Radkreuz 208, 213, 216, 218, 231 Radoald, Bf. von Porto-Santa Rufina 135 Raimund I., Gf. von Cerdanya 401 Ramon Berenguer I., Gf. von Barcelona 392 Ramon Berenguer IV., Gf. von Barcelona 383, 386, 395f., 399, 403 Ramon de Gironella, Geldverleiher 387 Ravenna 208f., 211, 232 Ravenna, Sant’Apollinare in Classe (Konvent) 378 Rechtsurkunde 141, 149f., 153, 155, 159 Rechtsvertrag 147 Rees (Konvent), Nordrhein-Westfalen 225 Regensburg 30, 33, 214, 291, 375 Reggio Emilia, Reg. Emilia-Romagna 372 Reichenau (Konvent) 335 Reichersberg (Konvent), Oberösterreich 216, 218, 226 Reims 138 Rein (Konvent), Steiermark 26

Reinfried von Braunschweig (lit. Figur) 109, 115, 118ff., 123 Reinhardsbrunn (Konvent), Thüringen 221, 228 Reitersiegel 114 Rekkared I., westgot. Kg. 129f. Rekkesvinth, westgot. Kg. 384 Rekognition 368, 378, 385 Rekognitionsformel 223 Rekognitionsvermerk 194f. Rekognitionszeichen 14, 200, 223f., 231, 261 René I. d’Anjou, Kg. von Neapel 278 Responsum 132f., 137f. Retz, Niederösterreich 37 Rezipient Siehe Empfänger Ribagorza, Katalonien 403 Richard II., Ebf. von Bourges 206 Richard II., Kg. von England 275 Ring 106f. Robert II. Curthose/Courteheuse, Hzg. von Normandie 286 Robert von Torigni, Abt von Notre Dame du Bec 46 Rom 109, 116, 126, 128, 133ff., 138, 233, 290, 334, 336, 340, 375, 396 Rom, Lateran 281 Rom, San Giovanni in Laterano 331, 336 Rom, San Paolo fuori le mura 339 Rom, St. Peter 280 röm.-dt. Reich 231, 371 Roman I., Bf. von Gurk 216 Rota 201, 203, 205ff., 215, 226, 230f., 261, 295 Rotworte 9, 183, 191, 194, 197 Roussillon, Katalonien 386f., 400, 403, 407 Rudolf von Ems, Dichter 123 Rudolf von Wallsee, steirischer Hauptmann 25 Rumänien 205 Ruprecht, röm.-dt. Kg. 265 S. Genesi (Insel) 394 Sachsen 118, 121, 270 Saif al-Mulūk Mīrzā 158 Šaiḫ Saʿd ad-Dīn, stellvertretender Vorsteher des Sufi-Schreins in Kāzarūn 157 Salomon I., Bf. von Konstanz 132 Salzburg 33, 40, 199, 213f., 216, 226f., 230ff. Sammelablass 259, 291ff., 307 Sammelabschrift – Chartular/Kopialbuch/Kopiar 12ff., 16, 285f., 305ff., 371, 373, 383, 386, 388, 402, 409

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– Register 27, 103, 126f., 132f., 409 Sammelindulgenz 11, 233, 291, 312 Sancha von Kastilien, Kgin. von Aragon 392 Sancho I., Kg. von Portugal 208 Sancho, Gf. von Cerdanya-Roussillon 383, 397, 399 Santa Cruz 208 Santa Maria di Garda (Kirche) 337 Santiago de Compostela 207, 211, 232 schariarechtliches Dokument 153, 157, 159 Schlaufe 236, 288, 291, 294, 307 Schmähbrief 296f., 312 Schobser, Hans, Buchdrucker 298 Schottland 211 Schreiber 26, 29, 147, 170, 191ff., 216, 218, 227, 233f., 240f., 287, 304, 306, 363 – Ascher, Schreiber des David Steuss 29, 38 – Guillem de Bassa (Aragon) 387 – Heribert C Siehe Heribert, Ebf. von Köln – Heribert E 373 – Italiener B Siehe Hubert, Bf. von Parma – Magnus, bischöflicher Notar (Mainz) 343f. – Othinus 266 – Pere de Girona/Ferrals 406 – Ramon de Caldes (Aragon) 278, 306, 387, 389f. – Ramon de Sitges (Aragon) 388 – Ruotbertus, Schreiber im Umfeld von Gerresheim 224 – Steck, Seifried, Stadtschreiber von Klosterneuburg 38 Schreiberhand 26 Schreibinstrument – Bambusstäbchen 170 – Feder 266, 283, 406 – Schabmesser 266 Schreibstoff 170 – Goldtinte 280, 289, 343 – Purpurtinte 194 – Tinte 170, 191, 240 Schrift – Auszeichnungsschrift 8, 14, 188, 236, 244, 331 – Buchschrift 8, 164, 171, 331 – Buchstabenschrift 163 – diplomatische Minuskel 225, 232, 366, 374f., 379 – Gebrauchsschrift 170 – Geheimschrift 164

– Geschäftsschrift 164, 170, 177 – päpstliche Urkundenminuskel 336 – Protokoll-/Perpendikelschrift 9, 188 – Urkundenminuskel 14 – Urkundenschrift 8, 13, 163, 170, 335, 340, 342, 344f. Schriftbild (Siegel) 10 Schriftrolle 103, 112 Schriftzeichen 164, 177 Schwaben 365 Schwäbisch Gmünd, Baden-Württemberg 256, 299 Schwörbrief 259, 301ff., 312 Seidenschnur 195, 197 Seiher de Quincy (†1190) 50 Selim I., Sultan des Osmanischen Reiches 279 Sender 108, 117f., 123 Seneca der Jüngere 128 Sens, Dép. Yonne 206, 211 Siboto, Bf. von Augsburg 229 Siegburg, St. Michael (Konvent) 224f. Siegel 5, 10, 25, 99, 163, 167, 170, 175f., 179, 221, 224, 236, 251, 272, 274, 311, 346, 374 – Bleibulle/-siegel 215, 337, 374, 376, 380 – Bulle 103, 116 – Goldbulle/-siegel 183, 195, 197, 290 – Herrschersiegel 171 – Majestätssiegel 274, 395 – Papstbulle 14, 103 – Reitersiegel 395 – Stadtsiegel 303, 311 – Wachssiegel 299, 376f. Siegelabdruck 167, 174, 177, 179, 181, 338 Siegelaufschrift 171, 175 Siegelbild 10, 396 Siegelführer 311 Siegelkapsel 103 Siegelmaterial – Blei 197, 379 – Gold 196f. – Metall 376f. – Wachs 114, 197, 376f., 379 Siegelpraxis 10, 33 Siegelschatten 374 Siegelschrift 175 Siegelstempel 102, 172, 175 – Stempelabdruck 170f. Siena 211

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Sigismund von Luxemburg, röm.-dt. Kg., Ks. 260, 264f., 269 Sigismund von Preysing 345 Signum 218ff., 223, 229, 379, 391 Simon Petrus, Apostel (bibl. Figur) 249 Sinai, Katharinenkloster (Konvent) 279 Sivignon, Dép. Saône-et-Loire 288 Sizilien 403 Skandinavien 204, 211 Skriniar – Leo 135 – Petrus 135 – Zacharias 135 Spanien 1, 9, 15, 199, 207, 211, 231, 337f. Speyer 332, 344 Sphragistik 6 Spoleto 295 St. Albans (Konvent) 283 St. Gallen (Konvent) 251 St. Laurent-de-la-Salanque, Dép. PyrénéesOrientales 404ff. St. Trudpert (Konvent), Schwarzwald 217 Steiermark 21, 32, 39 Steingaden (Konvent), Bayern 229 Stephan V., Papst 133 Stephan von Bar, Bf. von Metz 216 Straßburg 122, 301, 303, 312 Stricker, der, Dichter 123 Subskription 366, 373 Subskriptionszeichen 287, 337, 346 Tafel – Goldtafel 178 – Jadetafel 178 Taubenbeck, Sigismund, Bildhauer 345 Tautavel, Dép. Pyrénées-Orientales 277f., 404, 406f. Teheran 158 Terramer (lit. Figur) 111 Thedel von Wallmoden (lit. Figur) 115, 122f. Theophanu, röm.-dt. Ksin. 289f., 303, 312 Thérouanne, Dép. Pas-de-Calais 206, 211 Thomas Becket, Ebf. von Canterbury 44, 50 Thym, Georg, Lehrer und Dichter 121 Tibet 2, 9, 163 tironische Noten 287 Titulatur 375f., 379 Titus, röm. Ks. 109 Toghon Temür, mongolischer Herrscher 166

Toul 129 Traini, Francesco, Maler 294 Trani 211f. Transsumpt 373 Treviso 208 Tribur 375 Trient 208 Trier 214, 219, 230ff., 241, 269, 312 Triest 208 Tristan (lit. Figur) 108 Tschechien 205 Tshangyang Gyatsho, 6. Dalai Lama 178 Turin 211 Ulrich I., Bf. von Augsburg 227, 229 Ulrich von Etzenbach, Dichter 113 Ulrich von Richental, Chronist 263f. Ulrichen, Schweiz 247 Umschrift 208 Ungarn 205, 260 Unterfertigung 204, 219, 226, 229, 287 Unterfertigungs-/Unterschriftskreuz 9, 201, 204f., 207, 211, 219 Unterfertigungs-/Unterschriftszeichen 207 Unterschrift 30, 123, 183, 191f., 194f., 197, 208, 210, 212, 217, 266, 286 Unterschriftsformel 219, 226 Urban II., Papst 378 Urgell, Katalonien 386f., 401 Urkundenformular 19, 24, 27, 171, 174, 227, 333, 338, 344 – Arenga 172, 248, 374, 389 – Corroboratio 33, 102, 217, 219, 221f., 227, 229, 231, 374, 379 – Datierung 131, 191, 216, 218, 221, 287, 337, 340, 344, 346, 374, 378ff. – Eschatokoll/Schlussprotokoll 131, 174, 191, 199, 209f., 213, 217, 288, 335, 371ff., 379f. – Inscriptio 188, 197 – Intitulatio 131, 159, 171f., 174f., 177, 179, 188, 197, 272, 344, 379 – Invocatio 159, 188, 197, 375f., 390 – Kontext 217f., 221, 340, 346, 372ff., 376f. – Narratio 46, 132, 166, 172, 368 – Promulgatio/Publicatio 171, 174, 264, 390, 397 – Protokoll 131, 167, 209, 227, 335, 340, 346, 366, 371ff., 379 – Rekognitionszeile 335, 374, 376, 379

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– Schreiberzeile 287 – Signumzeile 217, 221f., 225, 229, 335, 373f., 377, 379 Urkundeninschrift Siehe Inschrift, Siehe Inschrift Urkundenwesen 11, 15, 19, 99, 142, 144, 151, 159, 170, 203 Valencia 403 Vauvert (Konvent), Paris 274 Venedig 185f. Ver-/Vorlesen 107, 264, 268, 305f., 391 Vermittler 366ff. Verona 374f. Vertragsdokument 152 Verwaltungsurkunde (Byz.) 185 Vicenza 208 Vidal de Canellas, Bf. von Huesca 388 Vienne 133 Vollziehungsstrich 266 Vorurkunde 370, 373ff., 377f., 380 Wagner, Hannsen, Fischmeister 300 Wales 211 Walkenried (Konvent), Niedersachsen 218 Walter, Ebf. von Ravenna 208 Walther I., Bf. von Augsburg 227 Wappenbrief 11, 260f., 267, 270, 308, 310 Warham, William, Ebf. von Canterbury 276 Weihekreuz Siehe Kreuz Weißenstein (Konvent), Hessen 222 Wels, Oberösterreich 251 Werkstatt 11, 233, 292 Westfalen 118, 121 Westminster, St Stephen's Chapel 276

Westminster, St. Peter (Westminster Abbey) 276, 305f. Wibod, Bf. von Parma 125 Wichfried, Ebf. von Köln 223f. Wien 26, 293 Wilfred (Guifred) II., Gf. von Cerdanya 401 Wilhelm I. der Eroberer, Kg. von England 47 Wilhelm IV., Hzg. von Bayern 345 Winchester 276 Wolfram von Eschenbach, Dichter 107, 110f. Worms 137, 332 Würzburg 214, 231 Würzburg, St. Stephan (Konvent) 215 Xanten 308 Yongle, chinesischer Ks. 175, 178 Yrkane (lit. Figur) 118ff., 123 Zacharias I., Bf. von Anagni 135 Zacharias, Papst 132, 137 Zecherl, Bruder des Hetschel 30 Zeichner Siehe Maler Zeuge 6f., 45, 102, 108, 110, 118f., 172, 266, 286, 311, 385, 391, 397, 406 – Siegelzeuge 34 – Unterschriftzeuge 31 Zeugenliste 44, 50, 343, 368 Zeugensignum 261, 288, 391 Zeugenurkunde 149 Znojmo/Znaim, Tschechien 37 Zoutleeuw/Léau, Flandern 244, 247f. Zoutleeuw/Léau, St.-Leonardus-Kirche 242 Zürich 249