Vom Objekt zum Bild: Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000 9783050062501, 9783050056623

Bilder in Kunst und Wissenschaft sind Orte des Denkens und Forschens. Sie tragen dazu bei, wie wir Objekte und Phänomene

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Vom Objekt zum Bild: Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000
 9783050062501, 9783050056623

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Vom Objekt zum Bild

Vom Objekt zum Bild Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600–2000

Herausgegeben von Bettina Gockel unter Mitarbeit von Julia Häcki und Miriam Volmert

Akademie Verlag, Berlin 2011

Inhalt

7

Editorische Notiz

11

Einleitung

21

Zum Zusammenhang von Stilllebenmalerei und Erkenntnistheorie in der Frühen Neuzeit Norbert Schneider

43

The Thought of Painting: Still Life as a Philosophical Genre Hanneke Grootenboer

65

Blumenstillleben zwischen Naturabbild, Metamalerei und antialbertianischem Bildkonzept: Von der Madonna in der Blumengirlande Brueghels d. Ä. zu den Kartuschenstillleben von Daniel Seghers und Umkreis Elisabeth Oy-Marra

93

Rembrandts Muschel – Nachahmung der Natur? Ein methodisches Lehrstück Werner Busch

123

Die Muschel als symbolische Form, oder: Wie Rembrandts Conus marmoreus nach Oxford kam Karin Leonhard

157

Picturing the Inaccessible: Gazing Under the Earth’s Surface Between Empiricism and Speculation Susanne B. Keller

189

Stillgestelltes Leben. Die Übersetzung von Natur ins Bild Friedrich Weltzien

215

Paradiesische Alternativen. Das »lebende Tierinventar« der Rosa Bonheur Petra Lange-Berndt

245

Vom Nachleben des Stilllebens im bewegten Bild Monika Wagner

265

Im Zeichen der Kunst. Zeitgenössische Stillleben von Anne Katrine Dolven, Wolfgang Tillmans, Karin Kneffel Bettina Gockel

313

Englische Abstracts und Hinweise zu den Autoren

Editorische Notiz

der vorliegende Band geht auf die tagung From Real Life to Still Life. Pictorial, Verbal and Instrumental Processes of Transformation, 1600–1900 zurück, die am 1./2. dezember 2006 im clubhaus der Freien Universität Berlin stattfand. das Konzept der Konferenz habe ich zusammen mit Erna Fiorentini entwickelt und umgesetzt. Friedrich Weltzien hat die Organisation und Koordinationen übernommen. Beiden sei herzlich für die wissenschaftliche und freundschaftliche zusammenarbeit gedankt. das Max-Planckinstitut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, war der Ort, wo wir in den von Lorraine daston und Hans-Jörg rheinberger geleiteten Abteilungen von der Erforschung der historischen Epistemologie der dinge und ihrer Beobachtung inspiriert worden sind. – die Finanzierung der Konferenz erfolgte im rahmen des von Erna Fiorentini geleiteten teilprojekts Vision and Representation between Aesthetic Experience and Scientific Objectivity des Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste der Freien Universität Berlin. diesen institutionen sei für ihre Gastfreundschaft und Unterstützung herzlich gedankt. zu danken habe ich überdies der interdisziplinären Forschungsgruppe über Dinge, Wissen, Praxis an der Eberhard-Karls-Universität tübingen, aus der unter anderem das erste Heft der Zeitschrift für Kulturwissenschaften mit dem thema Fremde Dinge (2007) hervorgegangen ist. das institute for Advanced Study, Princeton, hat mir im rahmen meines Projekts Pictorial practices. Things in artistic and scientific pictures from 1600 to 1900 – an historico-epistemological EditOriScHE NOtiz

and anthropological perspective 2006/2007 als Fellow den Frei- und diskussionsraum zur Vorbereitung der Konferenz gewährt. Nicht zuletzt sind in das Projekt inspirationen aus diversen Lehrveranstaltungen eingeflossen. zu danken habe ich den Studierenden meiner Veranstaltungen und Exkursionen zum thema Bild und Objekt an der Burg Giebichenstein, Halle/ Saale im Jahr 2005 und zum Stillleben zwischen 1600 und 1900 am Kunsthistorischen institut der Universität zürich. Erna Fiorentini forscht derzeit zum Begriff der ästhetisch-epistemischen Aktion zwischen Beobachtung und Verbildlichung im rahmen eines HeisenbergStipendiums am institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Herausgeberin des Bandes Observing Nature – Representing Experience. The Osmotic Dynamics of Romanticism 1800–1850 (Berlin: reimer, 2007). Friedrich Weltzien hat inzwischen sein Habilitationsprojekt Fleck – Das Bild der Selbsttätigkeit um 1800. Justinus Kerner und die Klecksografie als experimentelle Bildpraxis zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft abgeschlossen und trotz vielfältiger Verpflichtungen in Lehre und Forschung einen Beitrag zum vorliegenden Band verfasst. Viele unserer damaligen ehrgeizigen ideen, zum Beispiel die Geschichte der Beobachtungsinstrumente systematisch zu untersuchen, böten noch heute Stoff für weitere Forschungsprojekte und tagungen, die hoffentlich dereinst realisiert werden. Auch die Begriffsgeschichte, die mit der Verbildlichung von Objekten in Kunst und Wissenschaft einhergeht, harrt noch einer Untersuchung. das Buchprojekt ist einige 7

Jahre nach der Berliner tagung am Kunsthistorischen institut der Universität zürich realisiert worden. Nicht alle Beiträge der tagung standen dafür zur Verfügung, und zusätzliche Aufsätze wurden deshalb eingeholt. Nun liegt eine eigenständige Anthologie vor. Julia Häcki und Miriam Volmert, wissenschaftliche Assistentinnen am Lehrstuhl für Geschichte der bildenden Kunst am Kunsthistorischen institut der Universität zürich, haben in entscheidender Weise dazu beigetragen, dass das Publikationsprojekt umgesetzt werden konnte. Sie übernahmen die redaktionelle Bearbeitung der texte sowie die Bildredaktion. Beide lieferten zudem in zahlreichen Gesprächen kreative und konstruktive Anregungen für die endgültige Konzeption des Bandes. ihnen beiden gilt mein dank ebenso wie dem Gestalter des Buches, Stephen England. Er hat sich für eine ausgewogene, sinnstiftende relation von Layout und inhalt sowie für eine gute Bildqualität eingesetzt. Katja richter, Lektorin des Akademie Verlags, Berlin, hat dazu beigetragen, dass das Buch in der jetzigen Qualität vorliegt. Für ihre Geduld und Flexibilität möchte ich ihr herzlich danken. den Autorinnen und Autoren des Bandes gilt mein besonderer dank für ihre Geduld und für den bis zur Vollendung der Publikation anhaltenden Enthusiasmus. in den Anmerkungen weisen die Autorinnen und Autoren darauf hin, wenn zwischenzeitlich inhalte oder teile der Aufsätze in anderen Publikationen erschienen sind. Nicht zuletzt sei dem Herausgeber des Georges-Bloch-Jahrbuchs, Wolfgang Kersten, gedankt, dass er das Buch als Sonderband in die reihe Zurich Studies in the History of Art aufgenommen hat. 8

Ein druckkostenzuschuss wurde durch die Schweizerische Eidgenossenschaft (Bundesamt für Kultur) im rahmen der Förderung der Gleichstellung gewährt. dafür möchte ich mich besonders bedanken. darüber hinaus stand ein wesentlicher druckkostenzuschuss aus finanziellen ressourcen des Lehrstuhls für Geschichte der bildenden Kunst zur Verfügung. zürich, September 2011 Bettina Gockel

Einleitung

»Vom Objekt zum Bild« – diese Wendung legt nicht mehr und nicht weniger als den Fokus der in diesem Buch versammelten Beiträge fest. Nicht in jedem Fall lässt sich nachweisen, dass ein Maler oder zeichner tatsächlich den Bildgegenstand als materielles Objekt vor Augen hatte. doch selbst wenn es sich um transformationen von einem Bild in ein anderes handelt, lässt sich die Frage, welche historischen Auffassungen von der Wirklichkeit des Gegenstandes im Verhältnis zu seiner darstellung im zweidimensionalen Medium vorhanden waren, mit Gewinn stellen. »Vom Objekt zum Bild« beinhaltet als Aussage über einen Prozess auch die Erkenntnis, dass das Bild in relation zum Objekt sich selbst als solches konstituiert. das Objekt Bild wird in diesem Prozess zu einem bildtheoretisch und materialhistorisch relevanten Gegenstand, dem in der Kunstgeschichtsforschung im zuge einer Selbstvergewisserung über den disziplinären Untersuchungsgegenstand verstärkt interesse entgegengebracht wird. [1] das Bild als Objekt und die Objekte der Natur und des Alltags in ihrer dinglichen Verfasstheit gehören zudem zu den Gegenständen einer avancierten geistes-, kulturwissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Forschung, die von den dingen ausgehend Handlungsund denkprozesse im Hinblick auf Weisen der Wissensgenerierung neu verstehen will.[2] das vorliegende Buch ist, wie diese Parameter schon andeuten, keine Studie zur Geschichte des Stilllebens. Vielmehr wird die Annahme, dass das Bild eine epistemische Kategorie sei, an Werken überprüft, die in künstlerischen und wissenschaftlichen zusammenhängen Objekte des Alltags und der Natur vor EiNLEitUNG

Augen führen. das heisst Objekte, die als dinge einen lebensweltlichen Bezug haben und mit Emotionen und Werten, Handhabungen und Anschauungen verknüpft wiederum im Bild isoliert, ästhetisch aufgeladen, erneuert, verändert werden. Um diese Prozesse zu verstehen, sind die historische Bildgattung, ihre Grenzen und Entgrenzungen ebenso von interesse wie die dazugehörige kunst- und wissenschaftshistorische Forschung. die Forschung zum Stillleben hat in den letzten Jahrzehnten tatsächlich enorm angezogen und ausdifferenzierte Ergebnisse wie auch theoretische reflexionen hervorgebracht. darauf wird in den Anmerkungsapparaten der einzelnen Beiträge ausführlich eingegangen. Hervorgehoben seien an dieser Stelle allein die neueren grossen, für die Forschung wegweisenden Ausstellungsprojekte in Nordamerika und Europa – Deceptions and Illusions. Five Centuries of Trompe l’Oeil Painting, National Gallery of Art, Washington, im Jahr 2002, Die Magie der Dinge. Stilllebenmalerei 1500–1800, Städel Museum, Frankfurt, Kunstmuseum Basel und Hessisches Landesmuseum darmstadt, im Jahr 2008, sowie Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst, Bucerius Kunst Forum, Hamburg, im Jahr 2010[3] –, die durch Ausstellungen zur Geschichte des Stilllebens in der modernen Kunst – Objects of Desire. The Modern Still Life, Museum of Modern Art, New York, im Jahr 1997[4] – und in der Fotografie – Das Leben der Dinge / The Life of Things. Die Idee vom Stillleben in der Fotografie 1840–1985, Galerie der Stadt Prag, im Jahr 2005/2006[5] – ergänzt werden. Falls sich hier überhaupt ein gemeinsamer 11

Nenner oder ein Movens für die neuerliche Faszination Stillleben herauskristallisiert, dann wäre das die Erforschung des jeweiligen Bild- und Wahrnehmungsverständnisses und des Verhältnisses des Bildes zur ausserbildlichen realität von Ordnungs-, Sammlungsund Objektkategorien. Für beide Generalthemen bietet sich das Stillleben jenseits seines niedrigen akademischen Status’ aufgrund seiner formalistischen und kunsttheoretischen disposition an. Und beide Fragen verdanken sich einer Gegenwartskultur, die sich über ihr Verhältnis zum Bild klar werden will. dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb die methodologischen Lagerkämpfe der 1980er-Jahre um das holländische Stillleben passé sind.[6] die 1990er-Jahre waren von einer synthetisierenden Forschung mit Ausblicken auf Forschungsdesiderate[7] und schliesslich einer ausdifferenzierten Spezialforschung geprägt, die Fallstudien zum Stillleben hervorbrachte, ohne dass ein gemeinsamer methodischer Fokus gesucht worden wäre.[8] Es galt eher in die Breite zu gehen, um dem dichotomischen Methodendilemma zu entkommen, das Svetlana Alpers ausgelöst hatte. Norman Bryson und Viktor Stoichita eröffneten demgegenüber kunsttheoretische und bildhistorische Perspektiven, die den heutigen trend, weniger das Gattungsproblem und mehr die Bildtheorie zu thematisieren, wesentlich mitbestimmt haben.[9] Ob der Fokus auf das Bild, auf dessen Leistungen und defizite,[10] eine zukunftsträchtige und methodisch wie theoretisch ausgereifte Forschung hervorbringen wird, muss sich gleichwohl noch zeigen. Auf diesem Prüfstand stehen die hier versammelten Beiträge. 12

das nachhaltige interesse am Stillleben, um noch für einen Augenblick bei der Bildgattung zu bleiben, bringt es offenbar unvermeidlich mit sich, eine »Magie der dinge« heraufzubeschwören, die faszinierende (vermeintliche) Verwechslung der gemalten Gegenstände mit den realen dingen.[11] Und gerade die stilllebenhaft anmutenden Werke der Gegenwartskunst provozieren Kommentare, die »Magie« und »Schönheit« zu ihrem Grundvokabular zählen. Schon diderot, die Brüder Goncourt und Marcel Proust liessen ihre Lobeshymnen auf den Maler Jean Baptiste Siméon chardin um die angebliche, geradezu magisch erscheinende Lebendigkeit des dargestellten kreisen. topoi, die die Bildgattung hervorgebracht und im Sinne einer durchsetzungsstrategie begleitet haben, bleiben so über die Jahrhunderte hinweg in der Kunstkritik und Kunstwissenschaft erhalten, mal mit mehr, mal mit weniger reflexionsniveau. Es scheint fast so, als müssten unwillkürlich Momente der Faszination, der unaussprechlichen ästhetischen Wirkung, der Bannung des Blicks durch das verbildlichte Objekt, des Staunens beschrieben werden, ohne dass dies unbedingt historisch differenziert würde. Hier ist noch einiges an begriffsgeschichtlicher und praxeologischer Forschung zu leisten, die wegweisende wissenschaftshistorische Untersuchungen über die Geschichte der Neugierde, des Wunders, der Beobachtung und der Aufmerksamkeit ins Stammbuch der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft geschrieben haben.[12] Umfassend erforscht ist hingegen das seit der Antike vorhandene Anekdotenrepertoire über die täuschung selbst der kundigsten, geschultesten Augen durch die

raffinesse der Malerei, ein topos der Künstlerkonkurrenz, der aus Studien zur Kunst des Stilllebens nicht wegzudenken ist und von zeitgenössischen Künstlern in bildkritischen Wendungen aufgegriffen wird.[13] Auf der Grundlage dieser Quellenforschung und substanziellen Sekundärliteratur lässt sich nun genauer untersuchen, was der Verbildlichungsprozess für den Status des Objekts als Erkenntnismedium bedeutete und bedeutet. Eine ganze reihe wohlbekannter Beispiele der tradierten Gattung des Stilllebens wird in den folgenden Beiträgen auf diesen Aspekt hin gewissermassen abgeklopft. Was dabei auf neue Weise erwogen wird, ist ein wissenschaftlicher, erkenntnishafter Überschuss, den die Stillleben ermöglichen. ihre »Magie« dürfte auch darin liegen, dass sie Betrachter häufig Wohlbekanntes auf neuartige Weise sehen liessen oder Unbekanntes und Unsichtbares auf überraschende Weise emotional und handlungsorientiert nahebringen konnten. dass die Sinne als instrumentarien des Erkennens selbst thematisiert wurden und werden, gehört zu den immer wiederkehrenden Sujets des Stilllebens. dies ist ebenso mal mehr, mal weniger in jeder darstellung der Objekte und dinge der Natur und Alltagswelt präsent. Wie über die Sinne im Bild anschaulich nachgedacht wird, so werden auch das dargestellte Objekt und die darstellungsweise ihrerseits zum Gegenstand eines denkens, das dem Bild selbst eignet oder von ihm ausgeht. dieser denkprozess über das Wissen, das über Objekte wie auch über das Objekt Bild erlangt werden kann, lässt sich im Kunstwerk verorten. dies zu historisieren dürfte eine der Herausforderungen EiNLEitUNG

sein, die zumindest ansatzweise in den Beiträgen angenommen und eingelöst werden. die Geschichte des Wissens und damit auch die Geschichte über die Herstellungs- und denkweisen darüber, wie Wissen überhaupt hervorgebracht wird, hat in vielen disziplinen der Geistes- und Kulturwissenschaften türen geöffnet, durch die vermeintlich längst verstandene Forschungsgegenstände nicht nur in neuem Licht erscheinen konnten. Vielmehr lassen sich Kunstwerke aus der Perspektive der Geschichte des Wissens mit Bildwerken und Gegenständen vergleichend zusammenbringen, die gemäss ihrer Gattungs- und Genregeschichte nicht zusammengehören und doch historisch wie auch transhistorisch über gemeinsame Ausgangspunkte und Aspekte miteinander verbunden sind. diese sind: Erkenntnisstreben, Praktiken des Sehens und der Wahrnehmung, instrumente der Beobachtung, theorien der Objekterfassung und Bildherstellung. Wie im Bereich der Stilllebenforschung gibt es auch auf diesem weitläufigen Gebiet inzwischen wegweisende Studien wie auch Sammelbände, die sich beispielsweise der Geschichte der naturwissenschaftlichen illustration oder dem zusammenhang von Bild, Optikund Wahrnehmung widmen.[14] der vorliegende Band knüpft daran an und rückt stärker die Prozesse, die auf dem Weg vom real life zum still life erfolgen, und den Status, weniger die Symbolik und Bedeutung der Objekte, in ihrer Funktion für Erkenntnisse über Natur und Lebenswelt in den Mittelpunkt der Untersuchung. der realitätsbezug der Bilder, ob sie nun eher künstlerischen oder wissenschaftlichen Milieus entstammen, ergibt sich nicht 13

zuletzt dadurch, dass das Objekt Bild mitgedacht, überdacht und infrage gestellt wird. in der zusammenschau aller Beiträge, die von etablierten methodischen Positionen ausgehen und dann versuchen, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und Neuland zu betreten, kristallisiert sich ein aufschlussreiches Forschungsthema heraus, das sich als historische Epistemologie von Verbildlichungsprozessen in Kunst und Wissenschaft beschreiben lässt. in dem Masse, wie dabei Praktiken und Materialien einer Bild- und Wissensgeschichte in den Blick geraten, ohne dass dafür eine methodische zauberformel schon ersonnen wäre, ergibt sich eine Forschungssituation, die selbst von Prozessen und Bewegungen geprägt ist, die die Untersuchungsgegenstände der einzelnen Fächer verändern und erweitern. Vor über hundert Jahren hat William James bei dem Versuch zu erklären, was Pragmatismus sei, eine Metapher verwendet, die besser als der Begriff ›Forschungsfeld‹, auf dem mehr oder minder frei gespielt wird, die Gemeinsamkeiten der Arbeit an einer Geschichte der Herstellungs-, Handhabungsund Erkenntnisweisen des Bildes in Kunst und Wissenschaft veranschaulicht – die eines Hotelkorridors, den alle Forscherinnen und Forscher betreten müssen, um in ihre jeweiligen räume, sprich ihre disziplinären und methodischen Behausungen zu gelangen. Ein leiser ton des zwangs stellt sich hier ein, der vielleicht nottut, wenn es darum geht, sich über gedankliche und methodische Schärfe, Grenzen und Entgrenzungen von disziplinen rechenschaft abzulegen. im Gebäude der Wissenschaft und damit der Wissensgenerierung gilt jedenfalls: »You can 14

check out any time, but you can never leave.«[15] Unabhängig davon, welche wissenssoziologischen und wissenschaftspolitischen Parameter gerade als gesetzt gelten, oder eher noch, gerade wenn trend zum zwang wird, wenn Faszination über Erkenntnisinteresse triumphiert, wenn Ansagen, was alles noch zu forschen wäre, mehr Gewicht erlangen als das, was geforscht wurde und wird, ist es anregend, sich vorzustellen, dass kennerschaftliche und ideengeschichtliche, sozialhistorische wie historisch-epistemologische ebenso wie feministische und strukturalistische Ansätze entlang des Hotelkorridors Platz haben. Und was für James galt, dass mit seinem Ansatz keine Lösung angeboten, sondern nur ein Programm für noch mehr Arbeit aufgestellt wurde, darf ohne Einschränkung für die vorliegende kleine Unternehmung gelten: »[...] it [pragmatism] stands for no particular results. it has no dogmas, and no doctrines save its method. As the young italian pragmatist Papini has well said, it lies in the midst of our theories, like a corridor in a hotel. innumerable chambers open out of it. in one you may find a man writing an atheistic volume; in the next some one on his knees praying for faith and strength; in a third a chemist investigating a body’s properties. in a fourth a system of idealistic metaphysics is being excogitated; in a fifth the impossibility of metaphysics is being shown. But they all own the corridor, and all must pass through it if they want a practicable way of getting into or out of their respective rooms.«[16]

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EiNLEitUNG

15

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[1]

[2]

Starl, timm (2004) Nach den dingen. die Erfindung des StiLLLEBENS durch die Fotografie. Fotogeschichte, 24, 91, S. 3–14. Stoichita, Victor i. (1998) Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Wilhelm Fink Verlag.

[3]

[4] [5]

Swan, claudia (1998) The Clutius Botanical Watercolors. Plants and Flowers of the Renaissance. New York: Abrams. Swan, claudia (2002) From Blowfish to Flower Still Life Paintings. classification and its images, circa 1600. in Smith, Pamela H. & Findlen, Paula (Hrsg.), Merchants & Marvels. Commerce, Science and Art in Early Modern Europe (S. 109–139). New York: routledge. [6]

Swan, claudia (2005) Art, Science, and Witchcraft in Early Modern Holland. Jacques de Gheyn III (1565–1629). cambridge: cambridge University Press.

[7] [8]

[9]

Warner, Marina (2004) camera Lucida. in Mannoni, Laurent, Nekes, Werner & Warner, Marina (Hrsg.), Eyes, Lies and Illusions. The Art of Deception (S. 13–23). Aldershot: Lund Humphries. (Ausstellungskatalog, Hayward Gallery, London) Westheider, Ortrud (Hrsg.) (2010) Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst. München: Hirmer. (Ausstellungskatalog, Bucerius Kunst Forum, Hamburg)

EiNLEitUNG

[10] [11]

Vgl. das Konzept und Programm des 33. internationalen Kunsthistoriker-Kongresses, der unter dem titel Herausforderung des Objekts vom 15. bis 20. Juli 2012 in Nürnberg stattfinden wird. Siehe unter anderem Breger et al. (2002); Frank et al. (2007) sowie die interdisziplinäre und historiografisch reflektierte Einführung in das thema von Bill Brown, siehe Brown (2003), S. 3–12. Vgl. jüngst Kimmich (2011). Siehe darüber hinausgehend zur wissenschaftshistorischen Perspektive daston (2004); danuser (2010). Ebert-Schifferer (2002), Sander (2008), Westheider (2010). rowell (1997). Siehe ritter et al. (2006). Grundlegend hierzu Frizot (2004) und Starl (2004). Alle Autoren betonen aufgrund der invariabilitäten des dispositivs Fotografie die grundsätzlich von der Malerei zu unterscheidende Bedeutung der »dingfotografie« (Michel Frizot), wobei sich neuerdings in der Fotografieforschung auch der Begriff »Stilllebenfotografie« (dorothea ritter) durchsetzt. Unzweifelhaft ist die Bedeutung des stilllebenhaften Arrangements als selbstbezügliches Experiment der frühen Fotografie. Siehe Alpers (1985), Bialostocki (1984). Siehe Ebert-Schifferer (1998). Siehe Lowenthal (1996). Um 2000 florierte zudem die Forschung zum Stillleben in italien: Gregori et al. (2002), Hirschauer et al. (2002). Bryson (1990); Stoichita (1998). Vgl. unter anderem Boehm et al. (1986); Boehm (1995). Siehe Sander (2008 b), S. 14: »Wie schon bei der problematischen diskussion des ›disguised symbolism‹, der ›verkleideten Symbolik‹, wie Erwin Panofsky die symbolische Bildsprache der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts bezeichnet hat, gilt auch für die Stillleben des 16. bis 18. Jahrhunderts, dass es entscheidend auf den jeweiligen Bildkontext ankommt, wenn man den Versuch einer konkreten inhaltsdeutung der auf dem Bild dargestellten Gegenstände unternehmen will. Ein teil der nachgerade >magischen< Wirkung vieler Stillleben 17

[12]

[13] [14]

[15] [16]

18

beruht just auf diesem Punkt: Sie sind alles andere als eindimensional, sondern bieten dem Betrachter eine faszinierende Fülle von Annäherungsmöglichkeiten.« Vgl. zum Versuch einer historischen und systematischen Ausdifferenzierung des Begriffs »Magie« Warner (2004), S. 13–15. Siehe unter anderem dear (2006); daston (1995); daston et al. (1998). Siehe König et al. (1996) sowie Ebert-Schifferer (2002). Siehe Swan (1998), Swan (2002), Swan (2005); daston (2004) sowie jüngst daston et al. (2011); Freedberg et al. (1997); Freedberg (2002); Busch (2008); dürbeck et al. (2001). »Hotel california«, Eagles, 1976. James (1991), S. 26f.

Abb. 1: Frans Francken ii, Kunstkammer, 1636, Öl auf Leinwand, 74 × 78 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum.

Zum Zusammenhang von Stilllebenmalerei und Erkenntnistheorie in der Frühen Neuzeit Norbert Schneider

Unterstellt man, dass Umbrüche von künstlerischen Wahrnehmungsinteressen sich nie rein autonom vollziehen, sondern immer eines impulses von aussen, aus der sozialen realität, bedürfen, der zur desautomatisierung ästhetischer Perzeptionsmodelle führt, dann muss man auch hinsichtlich der Genesis der Stilllebenmalerei nach den Anstössen fragen, die ihre ausgeprägte Präferenz für Dinge – anstelle von menschlichen Handlungen [1] – einmal ausgelöst und dann gattungsbegründend in Gang gehalten haben. Auffällig ist seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die zunahme von Bildern, auf denen den Gegenständen bzw. dingensembles eine signifikante Position zuerkannt wird: Kaum ein Porträt beispielsweise, bei dem nicht die als Attribut der Person dienende dingliche Umgebung markant in Erscheinung träte [2] (denken wir nur an Hans Holbeins d. J. Porträt des Kaufmanns Georg Gisze, 1532); und selbst biblischen oder hagiografischen Sujets kann es widerfahren, dass sie durch triviale Objekte (wie ein riesiges Stück Schinken), die sich zum Greifen nah in den Vordergrund drängen, geradezu entmächtigt werden (Pieter Aertsen, Christus bei Maria und Martha, 1552). die dinge, die dafür wert gehalten werden, dass man sich für sie interessieren soll, sind vor allem Viktualien und Naturprodukte, es können aber auch handwerklich hergestellte Luxusgegenstände oder rare Sammelstücke sein (Abb. 1), darüber hinaus Kunstwerke [3] und nicht zuletzt wissenschaftliche instrumente, namentlich solche, die der Navigation und Fernerkundung dienen. [4]

die visuelle Präsentation, ja Ostension in der regel hypertroph akkumulierter, gelegentlich aber auch, sofern eine kostbare rarität vorzuzeigen war, vereinzelter dinge muss in enger Verkettung mit einem epochalen Vorgang gesehen werden, den die Wirtschaftsgeschichte, den Aspekt seiner Auswirkung akzentuierend, als ›zeitalter der Preisrevolution‹ zu klassifizieren pflegt. Gemeint ist damit eine säkulare Wachstumsphase, die seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts die lang anhaltende Krise des späten Mittelalters ablöste. Peter Kriedte hat diesen Prozess wie folgt knapp zusammengefasst: »die Bevölkerung nahm zu, Landwirtschaft und gewerbliche Wirtschaft expandierten, die Märkte weiteten sich bis tief in die überseeische Welt hinein aus, Handelsvolumen und Geldumlauf vergrößerten sich. Gleichzeitig stiegen die Preise, und zwar für Nahrungsmittel des einfachen Gebrauchs.« [5] die Ursachen dieser wirtschaftlichen Entwicklung sind zu komplex, als dass sie hier in der gebotenen Kürze auch nur andeutungsweise skizziert werden könnten. Es sei nur so viel dazu bemerkt: Was der ökonomischen dynamik den entscheidenden Auftrieb gegeben haben dürfte, war der im 16. Jahrhundert stark beschleunigte Prozess der Befreiung der Bauern von ihren Lasten, also der Abgabe von Naturalien an den Feudalherrn und der für ihn zu erbringenden Leistung von Frondiensten, zugunsten der Entrichtung von Geldrenten. diese commutation [6], wie der historische englische terminus dafür lautete, bewirkte einerseits eine beträchtliche zunahme der für den städtischen Markt bestimmten

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landwirtschaftlichen Produktion, denn die Bauern gelangten in den Besitz von Geld, das sie über ein zugestandenes Mass der Selbstversorgung hinaus abzuführen hatten, ja nur über den Absatz der von ihnen erzeugten Agrarprodukte. Andererseits hatte sie eine intensivierung der Produktion von Luxusgegenständen zur Folge, an deren Herstellung und Akquisition die Feudalherren und in ihrem Gefolge auch die patrizischen Oberschichten in wachsendem Masse interessiert waren. das Stimulans zur Aktivierung dieser ökonomischen dynamik ging also nicht zuletzt vom Adel aus; sie wälzte à la longue das Feudalsystem um, in einem Masse gar, dass, wie immanuel Wallerstein dargelegt hat,[7] sich das moderne kapitalistische Weltsystem genetisch aus der radikalen Kapitalisierung der Agrarproduktion Mittelund Westeuropas im 16. Jahrhundert herleiten lässt. Besonders intensiv ausgebildet waren die frühkapitalistischen Marktverhältnisse in Antwerpen,[8] dem damals wichtigsten Handels- und industriezentrum Europas, und so ist es kein zufall, dass dort die bewusstseinsprägenden Neuerungen des ökonomischen Alltags – eine zuvor nie gekannte Verbesserung der Versorgungsverhältnisse – einen reflex in repräsentationssystemen wie Literatur und Kunst fanden. Euphorisch wird der Antwerpener Markt im fiktionalen Medium der rederijker-Spiele gepriesen, in denen – so in einem Stück aus dem Jahre 1561 – der »öffentliche Ausrufer« Kaufleute und Bauern mit einem Panegyrikus auf den Markt herbeilockt, wo »alle Freiheit garantiert« sei, wo alle in »Harmonie« zusammenkämen und wo »eine Fülle köstlicher 22

dinge« anzutreffen sei: »Kommt, kauft alle Sorten von dingen […]!« [9] im gleichen Jahr malt Joachim Beuckelaer eine Szene, die ein Motiv des Antwerpener Marktes wiedergibt. [10] Bemerkenswert ist, welche Aufmerksamkeit er den ausgelegten Waren widmet. Auf der heute im Wallraf-richartz-Museum Köln befindlichen Marktszene, einem hochformatigen Gemälde (Abb. 2), führt er (bzw. Pieter Aertsen, dem das Bild neuerdings zugeschrieben wird) den reichtum besonders der landwirtschaftlichen Erträge, aber auch des Fischfangs vor Augen: Am rechten rand stufen sich, symmetrisch zu einer parabelförmigen Anordnung verschiedener Meeresfische, in Überschneidungen Körbe und Schüsseln mit Hülsenfrüchten, Obst, Kohlsorten und Eiern empor, scheinbar die raumtiefe ignorierend, denn obwohl die Naturalien ›real‹ in den Mittelgrund hineingestaffelt sind, scheinen sie nach vorn zu quellen und auf den Betrachter zuzustürzen. So nehmen selbst die im Mittelplan des Bildes aufgeschichteten Agrarprodukte monumentalen charakter an. die Personen – Bauern bzw. Händler – sind zwischen den Produkten eingezwängt. Sie sind lediglich auf eine deiktische Funktion reduziert, dazu bestimmt, anpreisend und werbend auf die Waren hinzuweisen. zur raumtiefe hin erscheinen sie stärker verkürzt als die Früchte und Fische. Sie treten daher bedeutungsmässig zurück zugunsten der Ostension der Waren, auf die allein es anzukommen scheint. die Beziehungen der Menschen untereinander, die nicht miteinander kommunizieren, eher eigenartig stumm, reglos und steif in eingeschränkter Emotionalität zwischen die Produkte gepfercht sind, NOrBErt ScHNEidEr

scheinen nur noch unter die Beziehung der Waren subsumiert zu sein. So lässt sich bei diesem Bild (und einer reihe anderer Gemälde wie Pieter Aertsens sogenannter Fleischerbude in Uppsala, Abb. 3) schon davon sprechen, was Georg Lukács in Anlehnung an den Marx’schen Begriff des Warenfetischismus »Verdinglichung« genannt hat. [11] (Lukács dürfte schon über seinen Lehrer Georg Simmel auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht worden sein. [12]) Bekanntlich hat Marx als das entscheidende Novum und Spezifikum der kapitalistischen Ökonomie gegenüber der feudalen Produktionsweise die Prävalenz des tauschwert- vor dem Gebrauchswertgesichtspunkt hervorgehoben, somit die Universalität der Warenform als konstitutivem Faktor: »im tauschwert ist die gesellschaftliche Beziehung der Personen in ein gesellschaftliches Verhältnis der Sachen verwandelt; das persönliche Vermögen in ein sachliches.« [13] Und an anderer Stelle – im Kapital – findet sich der berühmte Passus: »das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser dinge zurückspiegelt […]. durch dieses Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche dinge […]. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von dingen annimmt.« [14]

Es dürfte kaum allzu gewagt sein, die these zu vertreten, dass von Anfang an die Gattung des Stilllebens mit diesem Moment des Warenfetischismus (und damit der Verdinglichung) behaftet war, auch da, wo es der bürgerlichen Sphäre entrückt war, also im rahmen aristokratischer Selbstdarstellung und Herrschaftsinszenierung. [15] denn auch die feudale Verschwendungsökonomie der Frühen Neuzeit partizipierte an der zirkulation des Warenverkehrs und aller Produktionsformen, der landwirtschaftlichen wie der gewerblichen, die auf ihn hin angelegt waren. die reputationssteigernde Qualität der visualisierten Gegenstände (und damit ihr Wert, ihre Kostbarkeit) verdankte sich agrarökonomischer, handwerklicher, technischer oder wissenschaftlicher [16] intelligenz und Geschicklichkeit, die das Anspruchsniveau des Marktes konkurrenzanfachend potenziert hatte. der mehr oder weniger latente Warencharakter der auf den Stilllebenbildern zur Schau getragenen Gegenstände [17] hat psychologisch sein Äquivalent in dem (zweifellos auch intendierten) Sachverhalt der Konkupiszenz, der Begehrlichkeit, die fortwährend durch eine Ästhetik stimuliert wird, welche – jedenfalls zunächst, bevor sie dann im Laufe des 17. Jahrhunderts kritisch, etwa durch eine asketisierende Gegenoffensive, dekonstruiert wird [18] – das Auge durch den Schein der Greifbarkeit und das Versprechen der Besitzergreifung umbuhlt, welche jedoch a priori am illusionären, fiktiven charakter des Mediums scheitern muss. Nicht von ungefähr tendiert gerade die frühe Stilllebenmalerei zur Forcierung der Sinnestäuschung, zur Auslösung eines Selbstbetrugs

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Abb. 2: Joachim Beuckelaer bzw. Pieter Aertsen, Marktszene, 1561, Öl auf Holz, 127 × 85 cm, Köln, Wallraf-richartz-Museum. 24

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Abb. 3: Pieter Aertsen, Fleischerbude, 1551, Öl auf Holz, 124 × 169 cm, Uppsala universitets konstsamlingar. zUM zUSAMMENHANG VON StiLLLEBENMALErEi UNd ErKENNtNiStHEOriE iN dEr FrÜHEN NEUzEit

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Abb. 4: Jan Baptist Saive d. Ä., Früchtemarkt. Monatsbild September/Oktober, 1590, Öl auf Leinwand, 108 × 220 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum. 26

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beim rezipienten, somit zur Erzeugung einer retentiven Gehirnsinnlichkeit. [19] das primär – nämlich real – die Ästhetik der Waren bestimmende »Phantasmagorische« des Gebrauchswertversprechens verwandelte sich im sekundären piktorialen repräsentationssystem der frühen Stillleben zu einer Konstituente, der geradezu ein gattungsmodellierender charakter zukam. Wie kaum eine andere Malereigattung konzentrierte sich das Stillleben auf eine tendenziell mikroskopierende Beobachtung der Aussenhaut der dinge, auf deren mimetische Nacherschaffung. das angestrebte Mass war zunächst, in der Frühzeit der Gattung, die integrität, die Unversehrtheit und Makellosigkeit der dinge, wie Marktszenen etwa von Jan Baptist Saive d. Ä. (Abb. 4) oder Arnout de Muyser (Abb. 5) [20] überaus deutlich zeigen, bei denen die teilweise kugelartigen Früchte überdies eine grosse dichte und Festigkeit erkennen lassen. da aber gerade bei den Viktualien bzw. Naturalien der Haltbarkeitszustand nur von kurzer dauer ist, das Gebrauchswertversprechen schnell an Kraft verliert, musste paradoxerweise das Stillleben, das die dauerhaftigkeit und Persistenz der dinge festhalten wollte, deren zeitlichkeit konstatieren und damit das Hinscheiden ihres schönen Scheins. dieses Umschlagen der Qualität wird auf Joachim Wtewaels 1618 gemalter Marktszene (Abb. 6) [21] offenkundig, wo das mit seiner Mutter an einem Gemüsestand stehende Kind fast im Gestus der Hostienelevation einen Apfel hochhält, ihn also besonders zu würdigen scheint. Jedoch büsst dessen auf den ersten Blick 28

geheiligter charakter vexierhaft seinen Wert ein, da sich die Frucht bei näherem Hinschauen als angefault erweist. dass in der Frühphase des Stilllebens die dargestellten dinge noch eine ontische Stabilität und Festigkeit aufwiesen (vgl. beispielsweise auch die Stillleben von Osias Beert, clara Peeters, Nicolas Gillis, Floris van dijk), lässt auf ein anfänglich irritationsfreies Vertrauen in die Verlässlichkeit des Gebrauchswertversprechens schliessen. Sie erweckten noch den Eindruck greifbarer Plastizität im Sinne verbürgter Konsistenz. diese Substanz der dinge löste sich jedoch in der weiteren Entwicklung der Stilllebenästhetik immer mehr auf. Bei Willem Kalf (Abb. 7) etwa immaterialisieren sich die Gegenstände zu einer blossen Erscheinung luminaristischer oder farblicher Modi, die sich gleichsam von der Substanz, von ihrem Substrat, lösen. [22] der warenästhetische reiz gewinnt nun an Eigenleben, und diese Autonomie der apparitiven Modi – etwa Lichtspuren auf den rändern der im Nachtdunkel befindlichen Gegenstände – verwandelt sich in eine neue künstlerische Qualität, die zugleich eine latent epistemologische dimension hat, da sie zu einer symbolischen Form für einen Wahrnehmungsakt und das Bewusstwerden von Empfindungsqualitäten wird. ich möchte nun die these aufstellen, dass die sich in der Frühen Neuzeit herausbildende Gattung des Stilllebens gleichsam experimentell, durch sich fortgesetzt verfeinernde Seherfahrungen Erkenntnisse (und reflexionen über diese Erkenntnisse) hervorgebracht hat, die sich analog auch in den zeitgenössischen NOrBErt ScHNEidEr

philosophischen debatten finden. die Analogie manifestiert sich grundsätzlich schon darin, dass die ganze Geschichte der frühneuzeitlichen Erkenntnistheorie, die durch den Gegensatz von rationalistischen und empiristischen doktrinen geprägt ist, bekanntlich um den Status der Dinge kreist und, referenziell dazu, um den subjektiver Erfahrung. Schon dass es stets um die res geht – so bei descartes, Spinoza und Leibniz, aber auch bei ihren englischen Kontrahenten Locke, Berkeley und Hume –, ist signifikant: die scholastische theorie kennt für alles, was sich in bestimmter, konstanter Grundform von anderem abgrenzt und als wirklich (im Sinne von wirkungsfähig) gilt, fast ausschliesslich den terminus ens (Seiendes), der nicht notwendig eine materielle Substantialität impliziert. indessen indiziert der an die Stelle von ens rückende Begriff der res [23] auch die mentale Partizipation der Philosophie am Vorgang der – ökonomisch induzierten – Verdinglichung, der, wie ich zu zeigen suchte, für das Motivinteresse der Stilllebenmalerei konstitutiv war. Während die mittelalterliche Philosophie noch das Prinzip der aseitas kennt, des a se esse im Sinne einer absoluten Unabhängigkeit und indifferenz der realität gegenüber ihrem Wahrgenommenwerden (percipi), ist es gerade dieses Moment der intentionalen Objektion durch ein erkennendes bzw. erkennen wollendes Subjekt, welches die neuzeitliche Philosophie kennzeichnet. Bei den Versuchen einer Lösung des transzendenzproblems, also der Frage, wie ein Überstieg vom Erkennenden zum Erkannten, das heisst der Objektwelt, (bzw. umgekehrt von der Objektwelt zum subjektiven

Bewusstsein) möglich sei, spielte stets der Begriff der Affektion eine zentrale rolle, selbst wenn er systematisch nicht immer im Kontext der Erkenntnistheorie, sondern, aus naheliegenden Gründen, mehr in dem der Ethik bzw. Psychologie auftaucht. Noch (und sogar erst recht) bei Kant begegnet die Formel, dass die Sinne von den Gegenständen »afficirt« würden. [24] Erkenntnis wird also durch das Affizieren ausgelöst, was so viel heisst wie: einen zustand bewirken. in seinem Lexicon philosophicum von 1613 setzte bereits rudolph Goclenius (1547–1628) »affici« mit »informari, disponi, […], impressionem recipere« gleich, und descartes sagte in seinen Passiones animae [25]: »a re […] quae sensus nostros afficit.« der Erkenntnisvorgang wird diesen theorien zufolge also sensuell ausgelöst durch ein von den dingen ausgehendes movere. im ikonografischen Kontext der Stilllebenmalerei ist dies immer wieder thematisiert worden, so besonders in den darstellungen der Fünf Sinne, etwa in dem von Jan Brueghel d. Ä. gemalten zyklus (Abb. 8), wo die dinge (exotische Blumen, Früchte etc.) durch ihre Materialeigenschaften bestimmte Empfindungsqualitäten und damit letztlich auch Gefühlszustände evozieren, welche den Affekthaushalt modellieren. [26] zugleich – das ist die Botschaft dieser Bilder – soll verdeutlicht werden, dass die menschliche Psyche durch ein fortgesetztes Begehren determiniert ist, welches durch den reiz der Luxusdinge ständig stimuliert wird. Was bei Jan Brueghel d. Ä., aber auch bei Jan Saenredam und anderen über das in die Sphäre feudaler Verschwendungsökonomie eingedrungene Modell der aus den Strukturen des frühkapitalistischen

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Abb. 5: Arnout de Muyser, Gemüse-, Früchte- und Geflügelmarkt, ca. 1590–1593, Öl auf Leinwand, 110 × 133 cm, Neapel, Museo di capodimonte. Abb. 6: Joachim Wtewael, Marktszene, 1618, Öl auf Leinwand, 118,8 × 161,3 cm, Utrecht, centraal Museum. 30

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Abb. 7: Willem Kalf, Stillleben mit Nautiluspokal, 1662, Öl auf Leinwand, 79,4 × 67,3 cm, Madrid, Museo thyssen-Bornemisza. zUM zUSAMMENHANG VON StiLLLEBENMALErEi UNd ErKENNtNiStHEOriE iN dEr FrÜHEN NEUzEit

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Abb. 8: Jan Brueghel d. Ä., der Gesichtssinn, 1617, Öl auf Holz, 65 × 109 cm, Madrid, Prado. Abb. 9: clara Peeters, Stillleben, 1611, Öl auf Holz, 52 × 73 cm, Madrid, Prado. 32

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abb. 10: osias beert, stillleben mit kirschen und erdbeeren in chinesischen Porzellanschüsseln, 1608, Öl auf kupfer, 49,4 × 65,5 cm, berlin, gemäldegalerie der staatlichen museen, Preussischer kulturbesitz. Zum Zusammenhang von stilllebenmalerei und erkenntnistheorie in der Frühen neuZeit

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marktes hervorgegangenen Warenästhetik visualisiert erscheint, liest sich dann in den abstraktionen des philosophischen diskurses festgeschrieben als anthropologische konstante, so bei spinoza: »cupiditas est ipsa hominis essentia […]« [27], der übrigens auch die theologische doktrin, dass wir etwas begehren, weil es gut ist, dahingehend umdreht, dass es gut sei, weil wir es begehren [28] (ähnlich auch thomas hobbes in seiner conatus-theorie [29]). der erkenntnistheorie vorgearbeitet hat die stilllebenmalerei auch bei den schon genannten trompe-l’Œil-bildern, den betriegertjes, die es bewusst auf eine Fehldeutung von sinneseindrücken anlegten. Was hier als narrendes verwirrspiel, als verunsichernde irritation bezweckt war, wurde in den philosophischen reflexionen radikal weitergeführt, und zwar in einer nachgerade existenzielle tiefenschichten berührenden Weise. in fast allen epistemologischen diskursen der Frühen neuzeit (und letztlich noch heute) geht es bekanntlich um die validität des erkennens, um die verbürgtheit eines durch sinneseindrücke erworbenen Wissens. descartes führt die virtuelle Figur eines Deus malignus ein, der uns so täuschen kann, dass wir alle existenzgewissheit verlieren. John locke stellt sich die Frage,[30] ob den »ideen« (ideas), womit vorstellungen, aber auch Wahrnehmungen gemeint sein können, also schlechthin das, was dem bewusstsein bzw. dem denken phänomenologisch »gegeben« ist, auch ein objekt entspreche. nicht allen ideen korrespondiere ein externer gegenstand; es könnten auch innere Wahrnehmungen ohne beziehung auf 34

ein äusseres objekt sein. als vertreter des empirismus hat sich locke bekanntlich gegen einen solipsistischen agnostizismus entschieden und die aussenwelt in ihrer substantialität als denknotwendig anerkannt. er unterscheidet zwischen primären Qualitäten (primary qualities), das heisst solchen, die den dingen selbst zukommen (wie ausdehnung, gestalt, beweglichkeit, ruhe, undurchdringlichkeit usw.), und sekundären Qualitäten (secondary qualities), womit eigenschaften gemeint sind, die durch die einrichtung und Funktion unserer sinnesorgane bedingt und daher subjektiv sind (also Farbe, töne, gerüche, Wärme usw.). [31] mit dieser differenzierung bringt locke in ein binäres system, was sich in der Perzeptionsgeschichte der frühen stilllebenmalerei als konsekutiver vorgang ablesen lässt. anfangs, darauf hatte ich oben hingewiesen, ist die ontische stabilität und dichte der dinge noch unbefragt vorausgesetzt, und die Farben sind – als lokalfarben – noch ein ihnen unlösbar zugehöriges Accidens (so bei clara Peeters und osias beert, vgl. Abb. 9 und 10); dann aber, etwa bei kalf, löst sich die ontische substanz gleichsam auf, und die akzidentien – hier also die Farbe – werden tendenziell zu selbstständigen eigenschaften, im sinne lockes mithin zu sekundären Qualitäten. (es ist evident, dass es sich hier nur um einen symbolischen akt handelt, da die subjektiven Wahrnehmungsqualitäten über das medium der malerei implizit thematisiert bzw. demonstriert werden.) george berkeley geht noch über locke hinaus, indem er die primären Qualitäten (und damit die realexistenz der dinge) streicht und nur noch norbert schneider

abb. 11: bartolomeo del bimbo, gen. il bimbi, stillleben mit kirschen, um 1700, Öl auf leinwand, 116 × 155 cm, Florenz, galleria Palatina, Palazzo Pitti. Zum Zusammenhang von stilllebenmalerei und erkenntnistheorie in der Frühen neuZeit

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die sekundären bestehen lässt, sodass dabei ein radikalempirismus herauskommt, der unversehens in einen subjektiven idealismus umschlägt, da nur noch die phänomenologische gegenwärtigkeit der sinnesempfindungen zählt. deren Zusammensetzung zu einem komplex gestatte es überhaupt, von einem ding zu sprechen: »da man z. b. beobachtet hat, dass eine gewisse Farbe, geschmacksempfindung, geruchsempfindung, gestalt und Festigkeit vereint auftreten, hält man sie für ein bestimmtes ding, das man mit dem namen Apfel bezeichnet.« [32] und noch berühmter ist folgende stelle bei berkeley: »ich sehe diese kirsche da, ich fühle und schmecke sie. ich bin überzeugt, dass sich ein nichts weder sehen noch schmecken noch fühlen lässt, sie ist also wirklich. nach abzug der empfindungen der Weichheit, Feuchtigkeit, röte, süßsäure gibt es keine kirsche mehr, denn sie ist kein von diesen empfindungen verschiedenes Wesen.« [33] es ist vielleicht nicht ganz zufällig, dass die gegenstände, an denen die reduktion der (vormals objektkategorialen) primären Qualitäten auf die rein subjektiven sekundären theoretisch demonstriert wird – wie apfel und kirsche –, gegenstände sind, die auf stilllebenbildern bzw. marktszenen und darstellungen der fünf sinne thematisiert wurden (vgl. Joachim Wtewael, osias beert oder bartolomeo del bimbo, gen. il bimbi, Abb. 11). gewiss wäre es überzogen, wollte man eine monokausale einwirkung dieser bildlichen repräsentationen auf den Prozess einer philosophischen begründung der erkenntnistheorie supponieren. dennoch ist die analogie zwischen 36

beiden objektivationssystemen, malerei und Philosophie, offenkundig. dabei scheint es, dass die konkreten beobachtungen, die sich in den bildern manifestierten, den theoretischen reflexionen zeitlich vorangingen. aber dieses prius muss nicht zwangsläufig ein propter bedeuten. in beiden systemen werden erfahrungen reflexiv verarbeitet, die ursprünglich einmal, im 16. Jahrhundert, durch den gravierenden ökonomischen transformationsvorgang stimuliert waren, sich dann jedoch – innerästhetisch und innerphilosophisch – in künstlerische bzw. epistemologische Problemstellungen von relativ autonomer Qualität verwandelten. diese Parallelen und verbindungen zwischen den gegenstandsbeobachtungen der stilllebenmalerei und den gegenstandstheorien der Philosophie eingehender zu untersuchen, dabei aber beider historische genese, die ich andeutete, nicht aus dem blick zu verlieren, scheint mir für die Zukunft ein verlohnendes Forschungsprojekt zu sein.

abbildungsnachweis kunsthistorisches museum, Wien: abb. 1, 4; © Wallrafrichartz-museum – Fondation corboud/rheinisches bildarchiv, köln: abb. 2; uppsala universitets konstsamlingar: abb. 3; museo di capodimonte, neapel: abb. 5; centraal museum, utrecht/ernst moritz: abb. 6; © museo thyssen-bornemisza, madrid: abb. 7; museo nacional del Prado, madrid/Photo scala, Florenz: abb. 8, 9; © bpk – bildagentur für kunst, kultur und geschichte/gemäldegalerie, smb: abb. 10; © bpk – bildagentur für kunst, kultur und geschichte/Photo scala, Florenz: abb. 11. norbert schneider

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so noch das primäre interesse bei alberti (istoria-lehre). vgl. alberti (2002 [1435]), s. 116ff. siehe dazu schneider (2010), s. 12ff., schneider (2011), s. 144ff. diese dinge ausschliesslich im konnotativen sinn, den sie etwa über eine emblematische Prädikation bzw. deutung erhalten konnten, begreifen zu wollen übersähe, dass es zunächst – denotativ – die materielle dinglichkeit war, die wertmässig besetzt war; die emblematische codierung war erst ein sekundäres Phänomen. vgl. Filipczak (1987). Wichtig sind in diesem Zusammenhang nicht nur die galeriebilder (wie solche von Willem van haecht), sondern auch explizite darstellungen des kunsthandels, etwa von gillis mostaert, Laden eines Kunsthändlers, den haag, mauritshuis (siehe Filipczak (1987), abb. 14). auf diesem bild eines ladeninterieurs sieht man mit gemälden eng behängte Wände sowie mit aufgereihten statuetten dicht gefüllte regale. am boden stehen truhenähnliche kisten zur auffüllung bereit. trödelhändler tragen auf dem rücken bilder, teilweise mehrere übereinander, ja auch mit kunstgegenständen bereits gefüllte kisten davon. Zu ergänzen wäre diese liste, zumal für das 17. Jahrhundert, durch die sogenannten kolonialwaren, zu denen tabak, Zucker (vgl. georg Flegels stillleben, zum beispiel jenes mit Brot und Konfekt im städelschen kunstinstitut zu Frankfurt, Öl auf holz, 21,7 × 17 cm), gewürze (wie nelken) usw. gehörten, aber auch sklaven, die denn auch nicht selten auf stillleben erscheinen (zum sklavenhandel vgl. kulischer (1971), bd. 2, s. 262ff.). da die jeglichen Persönlichkeitsrechts baren sklaven letztlich als ›dinge‹ aufgefasst wurden, wäre es falsch, bilder, auf denen sie zusammen mit akkumulierten gegenständen dargestellt sind, nicht als stillleben zu bezeichnen. kriedte (1980), s. 28. Womit also, dem dafür gebräuchlichen englischen ausdruck entsprechend, die ersetzung der Frondienste und naturalienrente durch geldabgaben gemeint ist. vgl. kulischer (1971), bd. 1, s. 114ff.

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Wallerstein (1974–1988). vgl. Wee (1963). übersetzt vom autor nach der englischen übersetzung durch elizabeth alice honig in honig (1998), s. 53 (nach: rederijker (anonym), spelen van sinne vol scoone moralisacien. abgedruckt in: autenboer (1962), s. 248–53). vgl. honig (1998), s. 54, dazu abb. 13, s. 59. lukács (1967), s. 94ff. genau genommen findet sich diese Formel expressis verbis sogar schon bei marx selbst, im 3. band des Kapital, vgl. marx (1968 [1867]), bd. 3, s. 887. simmel (1989 [1900]), s. 55: »so sehr der einzelne kauft, weil er den gegenstand schätzt und zu konsumieren wünscht, so drückt er dieses begehren wirksam doch nur mit und an einem Gegenstande aus, den er für jenen in den tausch gibt; damit wächst der subjektive vorgang, in dessen differenzierung und aufwachsender spannung zwischen Funktion und inhalt dieser zu einem ›Wert‹ wird, zu einem sachlichen, überpersönlichen verhältnis zwischen gegenständen aus. [...] aber eben dadurch, daß für den gegenstand ein anderer hingegeben wird, gewinnt sein Wert all die sichtbarkeit und greifbarkeit, der er überhaupt zugängig ist.« s. 57: »die kräfte, beziehungen, Qualitäten der dinge – zu denen auch unser eigenes Wesen gehört – bilden objektiv ein einheitliches ineinander [...].« marx (1953 [1859]), s. 75. marx (1968 [1867]), bd. 1, s. 86. vgl. The Yarmouth Collection oder Der Schatz der Pastons, 1665, Öl auf leinwand, 165 × 246 cm, norwich castle museum (langemeyer et al. (1979), s. 439).

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nahezu alle wissenschaftlichen bemühungen der Frühen neuzeit dienten einer meliorisierung der Ökonomie. Für die landwirtschaft war besonders das pomologische schrifttum, ein Zweig der botanik, von grösster bedeutung. auch die stilllebenbilder thematisierten alle arten von obst, manchmal schon gemäss den damaligen naturkundlichen klassifikationen (siehe dazu etwa vincenzo campi, Obstverkäuferin, mailand, Pinacoteca di brera, abb. in langemeyer et al. (1979), s. 277). man beachte, dass nicht selten auch das motiv der Zahlung (geld gegen Ware) selbst, also die realisierung des tauschwerts, dargestellt wurde, so bei Jacob gerritsz. cuyp (Fischmarkt, 1627, dordrecht, dordrechts museum, abb. in honig (1998), taf. 19). konfessionell vermittelt über die rigiden verhaltensnormen des calvinismus bzw., so in spanien, des Jesuitenordens. vgl. Pieter van boucle, Karpfen und Flasche, 1651, Privatbesitz (langemeyer et al. (1979), s. 377, abb. 203). vgl. zu spanischen stillleben (wie denen von Juan sánchez-cotán und Juan van der hamen) held (1979) (unter anderem zu luis de granadas und ignacio de loyolas anweisungen zu einem verzichtbereiten, den versuchungen widerstehenden verhalten); vgl. auch lammers (1979). schopenhauer hat später den illusionismus bezeichnenderweise eine »Phantasmagorie«, ein »gehirnphänomen« genannt und vom »schleier der maja« gesprochen. vgl. schopenhauer (1977), bd. 1, s. 318, bd. 2, s. 438 u. ö. siehe honig (1998), Farbtafel 12 und 13. diese hat gewiss moralisierend-proverbialen charakter (»een rotte appel in de mand maakt al het gave fruit te schande«, »ein verfaulter apfel lässt den ganzen korb verderben«). vgl. brown (1984), s. 85 und 86. Zweifellos korrespondierte das Wahrnehmungsinteresse kalfs an den lichtspuren beobachtungen zur modalität und Funktion des lichts, die zeitgleich in abhandlungen zur physikalischen optik (etwa bei robert hooke oder isaac newton) festgehalten wurden.

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griechisch übrigens mit chrema oder pragma wiedergegeben, was beides ›gebrauchsgegenstand‹ heisst. bei hobbes wird statt von ›dingen‹ vorwiegend von ›körpern‹ gesprochen. vgl. hobbes (1915–1918 [1642–1658]). kant (1878 [1781]), s. 49. Freilich ist kant kein reiner empirist: es müsse, sagt er in den Prolegomena, die »Form der sinnlichkeit« a priori vorausgehen, damit so etwas wie eine affektion durch die gegenstände überhaupt stattfinden könne (kant (1995 [1783]), s. 39f.). descartes (1649), ii, 1, 24. vgl. schneider (1989), s. 64ff. de spinoza (1677), bd. iii, aff. def. i. siehe dazu auch Falckenberg (1908), s. 123. Conatus = trieb, drang. auch spinoza verwendet diesen terminus, um damit in letzter instanz den grundtrieb der selbsterhaltung zu bezeichnen, der sich in drei Formen manifestieren könne: Wille (voluntas), begierde (cupiditas) und auf den körper allein bezogenes streben (appetitus). vgl. de spinoza (1677), bd. iii, prop. 9 schol. locke (1690) (dt.: locke (1981)), bd. ii, kap. 8, § 8ff. siehe auch die kritische englische textedition, locke (1975), s. 134ff. »Such Qualities, which in truth are nothing in the objects themselves, but Powers to produce various sensations in us by their primary Qualities, i.e. by the bulk, Figure, texture, and motion of their insensible parts, as colours, sounds, tasts, etc. these i call secondary Qualities.« (s. 135). vgl. auch chappell (1994), s. 60–67. letztlich geht die lehre von den Qualitäten (griech. poiótes) auf aristoteles zurück (Metaphysik v, 14, 1020 b squ.: »Weiter heißen Qualitäten die bestimmungen der der bewegung unterworfenen gegenstände, wie Wärme und kälte, weiße und schwarze Farbe, schwere und leichtigkeit und anderes dergleichen, in bezug worauf man, wenn es anders wird, von den körpern aussagt, daß sie sich verändern. und so auch ferner in bezug auf gute und schlechte beschaffenheit und überhaupt auf das schlechte und auf das gute.« (aristoteles (1907), s. 306). interessant ist, dass Wilhelm von occam die Qualitäten

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der empfindung noch als Zeichen der wirklichen beschaffenheit der entia auffasst, als nominalist also nicht wie spätere anhänger dieser richtung dahin tendiert, die externe realität infrage zu stellen. nahezu alle Philosophen der vormoderne betrachten die Qualitäten als den dingen angehörig, so etwa schon die stoiker. vgl. stein (1888), bd. 2, s. 152. dass die sinnlichen Qualitäten nicht objektkategorial zu bestimmen, sondern in der subjektivität fundiert seien, befand bereits galileo galilei in Il Saggiatore, kap. Xlviii: »Per lo che vo io pensando, que questi sapori, odori, colori ec. per la parte del suggetto nel quale ci par che riseggano, non sieno altri che pur nomi, ma tengono solamente lor residenza nel corpo sensitivo [...].« vgl. galilei (1623). siehe auch die ausgabe Le Opere di Galileo Galilei von alberi (1842– 1856), bd. 4, s. 333ff. dazu cassirer (1994), bd. 1, s. 390ff. (galilei-Zitat auf s. 391f., anm. 1). berkeley (1710), § 1 (dt.: berkeley (1979)). Zit. n. gawlick (1980), s. 121. das Zitat entstammt dem 3. dialog aus berkeley (1713), s. 116. eine leicht abgewandelte übersetzung bringt die deutsche ausgabe Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, vgl. berkeley (2005), s. 111. im original lautet die stelle: »i see this cherry. i feel it, i taste it, and i am sure nothing cannot be seen or felt, or tasted: it is therefore real. take away the sensation of softness, moisture, redness, tartness, and you take away the cherry, since it is not a being distinct from sensations. a cherry, i say, is nothing but a congeries of sensible impressions, or ideas perceived by various senses: which ideas are united into one thing (or have one name given them) […].« Zu dieser stelle auch bauch (1913), s. 146.

Zum Zusammenhang von stilllebenmalerei und erkenntnistheorie in der Frühen neuZeit

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Fig. 1: cornelius n. gijsbrechts, reverse of a Framed Painting, trompe l’oeil, c. 1670, oil on canvas, 66,4 × 87 cm, kopenhagen, statens museum for kunst.

The Thought of Painting: Still Life as a Philosophical Genre [1] hanneke grootenboer

still life is arguably one of the most philosophical pictorial genres. in particular, vanitas images have proved to be thought-provoking as they have engaged in ontological problems of the paradoxical conditions of painting. For instance, the allegory of nothingness that vanitas pictures convey has been fundamentally contradicted by the creation of the image as such. other types of still lifes as well have shown their philosophical impact: it is not a coincidence, i feel, that in his salon writings denis diderot’s incessant flow of words is arrested only when he found himself speechless in front of Jean-baptiste chardin’s still lifes, or that the apples of Paul cézanne are pivotal in maurice merleauPonty’s thought, or that vincent van gogh’s Peasant Shoes have become a recurrent point of reference for twentieth-century philosophies of art, from martin heidegger’s essay on The Origin of the Work of Art via meyer schapiro’s response to the philosopher, to Jacques derrida’s lengthy reaction to both scholars in The Truth in Painting (1987). in recent years, Jean-luc nancy, following kant, has raised the question as to what knowledge we can obtain through an image. he ponders at length over the issue whether this kind of knowledge is determinant, as cognition, or rather reflective in the sense that it is thought. in his essay entitled Masked Imagination, nancy demonstrates how image and thought have become intricately intertwined when he describes that between the renaissance and the nineteenth century european thought shifted from painting to the projection screen, which is, he explains, a the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

development from ontology to phenomenology, from sight to vision and, finally, from the image as lie to truth as image. [2] in this essay, i will start from the idea that there is a ‘thought’ in still life painting, as it differs from a meaning or an interpretation. With nancy, we may say that this ‘thought’ in still life painting has shifted over the centuries from vanitas ontology to the phenomenology of cézanne’s apples, and from the image as lie to truth as image. i will work out the idea of a thought in still life by looking at seventeenth-century trompe l’oeil images. evidently, trompe l’oeil painting can be considered an example par excellence of an image as lie. the illusion such image produces is meant to fool the eye, an effect that is sorted by the image’s pretending to be something else than the mere picture it actually is. [3] drawing the consequences of the introduction of the term illusion in eighteenth-century French art and theory, marian hobson describes in The Object of Art: The Theory of Illusion in Eighteenth-Century France (1982) a change in the concept of likeness, not unlike nancy, in terms of two attitudes towards truth: aletheia and adequatio. hobson argues how the historical definition of illusion slowly shifts from aletheia to adequatio in French art theory, from appearing to seeming, from appearance to replica, from a truth in painting as revealed to one that can be distinguished from falsehood. [4] in this essay, i shall demonstrate that trompe l’oeil painting is neither lying about its appearance nor does it render the truth in painting, but rather it represents the shift between the two modalities. as a result, the trompe l’oeil paintings that i will discuss 43

here, reveal neither truth, nor falsehood, but rather the conditions of our visual perception that ultimately is unable to differentiate between these two modes. in the early 1670s, the Flemish artist cornelius gijsbrechts managed to create a painting without an image (fig. 1). this trompe l’oeil, entitled The Reverse of a Framed Painting, presents everything that constitutes a painting: we see a wooden stretcher, held together by several nails that cast small shadows on the construction. the stretcher frames the back of a painted canvas, its frayed edges visible between the wooden slats. but where is the image? if we would follow our inclination to turn this canvas around in order to see what is represented on its ‘front’ side, we would realize that we’d fallen into a trap, and that the reverse side of this painting contains nothing but its own verso, this time for real. this practical joke was acquired from gijsbrechts by the danish king Frederik iii for the royal kunstkammer in copenhagen castle. little is known of the life of one of the most prominent trompe l’oeil painters of the seventeenth century. born in antwerp around 1610, gijsbrechts left Flandres in the early 1660s for germany. he was active in hamburg before 1668, when he was appointed court painter, first to Frederik iii and after his death in 1670 to his successor christian v. detailed information on gijsbrechts’s life and work before or after his stay in copenhagen is scarce. he probably travelled even further north to stockholm in 1672, however the reason for his departure or the circumstances of his death remain veiled in mystery. [5] 44

Frederik iii and his son christian v must have been fascinated by the deceptive images of the Flemish artist. during his four-year stay at the danish court, gijsbrechts produced over 30 trompe l’oeil paintings. at least 19 pictures were intended to be displayed in Frederik’s kunstkammer, among which his famous chantourné or cut-out easel (fig. 2). less intellectually inclined than his father, christian’s interests were directed toward hunting, given the many trompe l’oeils of hunting equipment gijsbrechts created during the two years he worked for him. at least nine pictures of hunting implements combined with dead fowl were specifically executed for christian’s residence rosenborg palace. the peculiar viewpoints at extreme angles that gijsbrechts’s paintings sometimes solicit indicate that they were meant to be hung at specific locations in rosenborg palace. in a dim-lit hallway or staircase, for instance, trompe l’oeil images of hunting equipment may have been easily confused with real objects to an unsuspicious viewer who would approach the image from below when climbing up the stairs. likewise, The Reverse of a Framed Painting was not intended to be hung, but instead placed against the wall of Frederik’s kunstkammer where, no doubt, it would have surprised visitors inclined to turn it around to see its front side. in The Self-Aware Image. An Insight in Early Modern Meta-Painting (1997), stoichita declares that gijsbrechts’s work marks the end of the baroque era, during which art started to be considered as a problem. in an attempt to define its aesthetic boundaries, hanneke grootenboer

Fig. 2: cornelius n. gijsbrechts, cut-out trompe l’oeil easel with Fruit Piece, 1670–1672, oil on panel, 226 × 123 cm, kopenhagen, statens museum for kunst. the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

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the art of painting deliberately began to show its own nothingness by raising issues of framing, cataloguing, creating and authorship as its actual subjects. “With gijsbrechts,” stoichita writes, “painting has become fully aware of itself, of its being, and of its nothingness.” [6] We may say with stoichita that gijsbrechts’s picture is not quite a representation but rather a non-representation, to employ Jean baudrillard’s term. [7] literally turning its back on painting, as well as on its viewer, this canvas intends to be its negative: it is, as stoichita and baudrillard point out, an anti-painting. The Reverse of a Framed Painting lacks narrative; not a single object is represented; the picture depicts the opposite of a frozen moment in time; and, lastly, this trompe l’oeil lacks any suggestion of pictorial depth, realism’s most profound condition. Whereas in realistic painting meaning may hide in the depth of the pictorial space created by perspective, for gijsbrechts’s trompe l’oeil there is rear or behind: the real verso and the painted one cancel out any suggestion of pictorial depth potentially residing behind the pictorial plane, leaving us with an accurate painting of essentially nothing. at first insulting our perception, which detects the verso’s artificiality only belatedly, this canvas has a second, typically art historical frustration in store: since there is no image, what meaning can be found in a painting that lacks every quality that has defined realistic painting as such? depicting neither narrative nor object, gijsbrechts’s anti-painting resists interpretation, but does offer something in its place. it makes a statement about the status of its 46

own representation that can challenge established modes of looking through its rhetoric of deception. i believe that this baroque practical joke is surprisingly able to articulate the complexities of vision, and has gained new relevance in the context of twentiethcentury philosophies of vision, in particular maurice merleau-Ponty’s phenomenology of perception. i propose, therefore, to read gijsbrechts’s anti-painting as a treatise on visuality and perception, issues raised by the painting itself. gijsbrechts’s crafty deployment of deception makes us see that our perception misses something, something that is made visible in his painting by its absence, namely that blending of the visible and the invisible which merleau-Ponty calls the “undividedness” of the process and the object of seeing. [8] For merleau-Ponty, the field of vision has two sides. While we see from one side, we are seen from the other. in exercising our vision we are simultaneously subjected to the vision of surrounding things; that is to say, we ourselves share the quality of visibility with the things around us. according to merleau-Ponty, painting visualizes this chiasm of seeing and being seen by revealing how objects return our gaze. since we cannot see ourselves seeing (we cannot even see our own gaze in the mirror), we miss a crucial part of vision, which is not some thing that we see, but something according to which we see, and which can be described as a void. the effect of optical illusion in gijsbrechts’s painting offers just such a void, revealing our ignorance of what it is precisely that deceives us. is it the hanneke grootenboer

painting, which despite its hyperrealism presents its flat back instead of the illusion of depth? or, is it the optical deception caused by our own eye, which, assuming depth, is confronted with its own annihilation? in fact, within the framework of a phenomenology of perception, gijsbrechts’s painting shows us the reverse side not merely of a painting but of our visual field. Presenting us with a spectacle of nothingness, this picture does not depict reality, but provides a ground against which it pictures us looking. if we look at samuel van hoogstraten’s Feigned Letter Rack of 1670 (fig. 3), we can further unpack merleau-Ponty’s idea that objects return our gaze. Feigned Letter Rack displays a velvet-covered board, attached to a wooden wall, and with strips of red ribbon fastened to it. various objects, such as a leatherbound book, scraps of paper, a letter, a penknife, a quill, scissors, combs, a golden chain with a dangling medallion, a pince-nez, and a brush are placed behind the ribbon. as flat as its real-life model, or as the canvas on which it is painted, van hoogstraten’s letter rack purports to coincide with the objects it represents by concealing their being made of paint. in this picture, and others like it, van hoogstraten devoted all his attention meticulously to transforming the painting’s surface into any material, other than canvas. in the upper right corner, he even painted the handwritten text of a poem by the austrian aristocrat, Johann Wilhelm von stubenberg, challenging anyone who doubts the legend of Zeuxis’ masterful flache farben-trauben (flat, painted grapes) to consider van hoogstraten’s art, which has deceived the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

the ruler of the whole world. [9] van hoogstraten’s success has stood the test of time: his renderings of wood, velvet, leather, ivory, feather, bone, metal and wax to this day are hardly distinguishable from real materials. van hoogstraten’s composition seems to be deprived of a human gaze, yet this absence betrays its existence within the painting in the form of an abandoned pair of spectacles that has been placed behind the red ribbon in the upper right corner. the transparent lenses stare at us but do not see, like empty sockets in a skull, in the process disavowing the viewer’s look at the moment of deception. as a visual aid normally employed to focus blurred vision, these idle spectacles deceive rather than clarify, having lost their function but not quite their visual effect. on the contrary, the painting’s glance is even underscored by another pair of ‘eyes’ that mime the eyeglasses’ effect. appearing as the spectacles’ twin, the scissors blink from the other corner of the picture. as we look through those two pairs of staring hoops, our own eyes for a brief second appear to register that the eyeglasses, the scissors, and the whole letter rack are real. the inclusion of a poem celebrating van hoogstraten as a modern-day Zeuxis demonstrates that modesty was not one of the artist’s strengths. in Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten (1995), celeste brusati brilliantly demonstrates how the letter rack motif is deployed by van hoogstraten as an instrument of self-promotion: one book, bound in red leather, is one of his own plays, 47

Fig. 3: samuel van hoogstraten, Feigned letter rack, c. 1670, oil on panel, 79 × 63 cm, karlsruhe, staatliche kunsthalle. 48

hanneke grootenboer

while the other book behind the large comb is an essay from his hand. the wax seal reveals his initials, and the golden chain was given to him by emperor Ferdinand iii of austria during van hoogstraten’s stay at the court of vienna. the chain is a token of the honour, fame and wealth that a painter can enjoy through his art, displayed by van hoogstraten as a symbol of his position as celebrated artist. [10] according to brusati, van hoogstraten’s letter racks make a pictorial case for the ennobling power of art. she labels Feigned Letter Rack “the artist’s pictorial tribute to himself and his achievements” and concludes that van hoogstraten’s letter rack trompe l’oeils therefore should be considered self-portraits. [11] Following brusati’s argument by taking it one step further, i propose that Feigned Letter Rack, particularly insofar as we understand it as a self-portrait, presents a self-contradiction. in his Inleyding tot de hooge schoole der schilderconst (1678), van hoogstraten repeatedly emphasizes that the artist’s main task is to deceive the eye. consequently, he has a high regard for the application of perspective in trompe l’oeils and in the so-called doorzichten (‘seeing-throughs,’ life-size illusionist views of indoor spaces as if viewed from thresholds) because of the pleasurable deceit they allow. [12] Paradoxically, he also declares still life to be the lowest of pictorial genres, claiming that the painting of flat objects on a flat surface is among the simplest exercises for a pupil. [13] to this extent, Feigned Letter Rack is truly van hoogstraten’s self-portrait, for it incorporates the double position that he occupies as painter celebrated for his the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

optical tricks, and as an art theorist who rejects such oddities in favour of higher forms of art. as a contradictory self-portrait, the picture may indicate that theory and practice did not, by definition, go hand in hand in the seventeenth century. moreover, as brusati mentions, Feigned Letter Rack makes a pictorial statement that cuts across the traditional hierarchy positing history painting as the noblest and still life as the lowest forms of painting, while nonetheless confirming the artist’s own theory. at the same time, Feigned Letter Rack deceives us at an additional level besides the strictly optical one by also breaking with the art theory that the artist himself has formulated. attempting to ennoble still life and raise it to a higher level, van hoogstraten’s trompe l’oeil points to the more general contradictory valuation of this imagery. both admired in the seventeenth century for its display of the artist’s virtuosity and insights into optical effects and simultaneously disavowed (especially in later ages) as a mere trick, trompe l’oeil has occupied a dubious position in the hierarchy of genres ever since. [14] reading van hoogstraten’s letter rack as a portrayal of the self thus confronts us with a problem inherent in seventeenth-century trompe l’oeils. because of their effect of deception, these images challenge the conditions of painting formulated by art theorists throughout the ages and hence also the criteria art history has developed for early modern art. We may even argue that these images are characterized precisely by the absence of the conditions that traditionally have defined the art of painting. 49

the trompe l’oeil shares with still life a lack of narrative as well as the display of daily life objects, and as i have already indicated this combination frustrates attempts at interpretation. Whereas other seventeenthcentury dutch still life paintings generally exhibit a remarkably shallow depth of perspective, a vertical letter rack does not allow for any space deeper than the curled edges of the letters which seem to project out of the frame. [15] this lack of spatial illusion raises the question of whether perspective has been applied at all in this picture. absence of pictorial depth is a serious shortcoming in van hoogstraten’s painted letter rack, particularly in light of painting’s renaissance comparison to a window view, a prospect or doorzicht. the ways in which these metaphors have been used in art theory both assume realistic painting to be, by definition, perspectival and perspective to be the sine qua non of realism. Feigned Letter Rack, however, undermines this traditional idea of perspectival space as the sine qua non of realistic painting. contradicting several pictorial presumptions, van hoogstraten’s rack therefore cannot be considered a painting in the traditional sense without the addition of significant qualifications. For instance, a trompe l’oeil insists on the bodily presence of the beholder for its deception to be enacted, and for that reason its effect cannot be caught in a photographic reproduction. arguably, no artwork can be accurately reproduced, but a reproduction of a trompe l’oeil destroys precisely the primary effect of deception. Presenting a reproduction of van hoogstraten’s painting thus problematizes my 50

argument to the extent that the reproduction foregrounds its similarity with representational painting, rather than the major difference i am striving to establish. baudrillard remarks in his excellent essay on the topic that the trompe l’oeil is opposed to painting as the anagram is opposed to literature since the trompe l’oeil takes appearances by surprise, attacking the foundations on which painting has been built. [16] the trompe l’oeil transcends painting; it is a form of anti-painting that does not derive from painting but from metaphysics. [17] as such, it presents itself as a radical departure from other realist genres, trompe l’oeil thus lacks the basic qualities that have shaped realistic painting: it lacks narrative, it lacks the presence of human beings, it presents the opposite of a pregnant moment without any suggestion of movement or the passage of time, and finally, it lacks any indication of pictorial depth – realism’s most profound condition. and if, despite all these absences, we still feel the urge to look at Feigned Letter Rack, then we too fall into the trap of deception. until recently, scholars have not felt the urge to consider trompe l’oeil paintings seriously, and the artful game that trompe l’oeil plays with visual language has never met with the same attention that other pictorial genres have been given – despite the fact that trompe l’oeil painters such as van hoogstraten and gijsbrechts enjoyed great renown at the european courts. [18] Prior to the twentieth century, the relatively few discussions of trompe l’oeil that did exist were more often than not dominated hanneke grootenboer

by negative responses such that art critics who did mention illusionist pictures generally disapproved of them. [19] in recent years, however, initiated by the work of brusati, stoichita and louis marin among others, the trompe l’oeil has regained the interest of scholars in such a way that we may speak of a modest revival. [20] literature on the topic that has seen the light of day in the last couple of decades can be loosely divided into two groups. on the one hand, anglo-saxon, german and dutch writings discuss the trompe l’oeil in the context of its history, but generally refrain from speculating on its meaning or its larger significance within the history of art. on the other hand, French scholarly writings have widely discussed the trompe l’oeil within art history, philosophy and psychoanalysis as the ideal genre for examining the theoretical problems of illusion, mimesis and deception. representative of the first group, arthur Wheelock, for instance, argues that neo-Platonism, by increasing the appreciation of nature from the early sixteenth century onward, resulted in a revaluation of illusionist painting. recording exact observations of god’s creation, trompe l’oeil images could convey moralizing messages as well as constituting proofs of artistry. the primary function of the trompe l’oeil can thus be compared to that of history painting, Wheelock states, despite the important differences in the official rankings given the two kinds of images. Wheelock’s argument is significantly weakened by its failure to address the specificity of trompe l’oeil paintings and by choosing instead to analyze it in the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

the context of related kinds of pictorial curiosities such as anamorphic art, flower still lifes with deceptively realistic insects, and images created with the assistance of the camera obscura. [21] in a later essay on Illusionism in Dutch and Flemish Art, Wheelock discusses the uses of the notion of deception in dutch seventeenth-century literature. as the word trompe l’oeil had not been invented yet in the seventeenth century, and its dutch equivalent, oogenbedrieger, was not coined until the beginning of the eighteenth century, the distinction between lifelike and illusionist paintings remains blurred in accounts of viewers who take images for actual objects. Wheelock points out that writers and theorists probably exaggerated this deceit for literary effect, as topoi of the powerful deceptive impact of images have been used since antiquity as a mark of artistic excellence. although these anecdotes clearly demonstrate that visual deceptions were highly admired in the seventeenth century, Wheelock concludes that the reliability of enthusiastic accounts as to how eyes of emperors, princes, and writers were deceived remains questionable. regrettably, Wheelock refrains from elaborating on the double problem of deception he presents. if contemporary viewers’ accounts may be as deceitful as the images they describe, and were employed for rhetorical effect, the issue of rhetoric of the trompe l’oeil image is too obvious to be avoided entirely. [22] instead of confronting the nature of the difference between lifelike and illusionistic representation, or, for that matter, between documentary and fictional viewers’ accounts, 51

Fig. 4a, b, c: schematic diagram of the structure of Perspective & schematic diagram of Perspective configurations with distance Points, after grootenboer, hanneke (2005), the rhetoric of Perspective. realism and illusionism in seventeenth-century dutch still-life Painting. london/chicago: the university of chicago Press, p. 55, figs. i a & i b, p. 131, fig. ii.

Wheelock shies from the level of complexity that an analysis of these images and accounts demand. a more subtle reading is offered by louis marin, an exemplary figure of the second group. in his essay on Mimesis and Description, he directly faces the distinction between realism and illusionism when he asserts that deceiving the eyes is not the same thing as trompe l’oeil. marin locates the trompe l’oeil at the margins of the immense domain of mimesis. [23] Partly indebted to mimesis, and partly differing from it by simulating rather than imitating reality, the trompe l’oeil’s organization constitutes a pictorial experiment in representation conducted by a painting as such. For marin, the trompe l’oeil interrogates representation by means of representation itself, pushing the codes and rules for imitation to the extreme. in his response to Pierre charpentrat’s article, Le Trompe l’Oeil, marin goes one step further when he follows charpentrat in defining trompe l’oeil as a supplement to imitation. the existence of trompe l’oeil does not at all assist in establishing an order of representation as it relentlessly suppresses the distance between model and copy, a distance essential to representation. at once the excess of representation, trompe l’oeil also appears as its remainder or as its lack. in fact, what representation does, marin writes, is conveying an absent object into a “presence” as absence, all the while mastering the initial loss. the dominating power of representation manifests itself in the transformation of the displeasure of this absence into the pleasure of a presence. 52

the instrument of this power and pleasure inherent in representation, as charpentrat points out, is perspective. by perverting the rules of perspective, marin writes, trompe l’oeil opens up an alternative line of questioning about perspective as an instrument of pleasure and power. [24] victor stoichita proceeds with marin’s line of questioning in proposing trompe l’oeils by cornelius gijsbrechts as examples par excellence of the self-awareness of the baroque image that interrogates the nature of its own representation. [25] despite the fact that brusati remains within a historical paradigm in reading van hoogstraten’s trompe l’oeils strictly in the context of their production, her approach bridges the gap between the two groups, given her strong emphasis on the self-reflexivity of the image. like gijsbrechts’s The Reverse of a Framed Painting, it takes effort to say where van hoogstraten’s letter rack that we look at actually is. it is more accurate to say, in line with merleau-Ponty, that we see according to this image, rather than that we see it. caught up in what we see by means of the rhetoric of deception, the things we view are not just on display, submitted to our look but rather, we are subjected to the look of the objects staring back at us. the perspective of this picture does not merely anticipate a point of view, but we, as viewing subjects, are an effect of its configuration, an effect that is further emphasised by the extreme proximity of the things depicted. all objects in van hoogstraten’s Feigned Letter Rack are life-size and appear as if they were at a mere arm’s-length from us. the apparent proximity hanneke grootenboer

of the objects is reinforced by the flatness of van hoogstraten’s vertical composition, which does not allow for a horizon, with the result that our eyes cannot plunge into the depth of pictorial space. instead of suggesting a space beyond the picture plane, the imaginary space that the perspectival configuration constructs moves forward, in the direction of the viewer, as demonstrated by the dog-eared pages of the booklet projecting out of the frame. according to merleau-Ponty, “to see is to have at a distance,” by which he means that our gaze must travel across an invisible distance that both separates us from and connects us with the things we see around us. renaissance perspectival painting exemplifies this definition of seeing, in which things gain visibility at a distance, in the depth of the pictorial space as it is organised by perspective. by contrast, the objects in van hoogstraten’s shallow picture are difficult “to have at a distance,” because they seem to protrude out of the frame. Pushed forward by their shallow space, the objects actively confront our gaze, virtually crossing the boundaries separating the realm of the visible from the world of tactile phenomena. looking at the painting, we experience the intertwining of vision and touch as we “see” how the various textures may feel; indeed, we are almost compelled to stretch out our hand and ruffle the booklet’s dog-eared pages. Yet the proximity of these things creates another sense of distance when the optical illusion confuses our eyes to the extent that the picture we see is not the picture we get: framed by the spectacle’s gaze, the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

we experience a feeling of alienation at the moment of deception, as if our point of view is suddenly split from our point of perception, an experience which, in merleau-Ponty’s words, may be called one of seeing ourselves seeing. trompe l’oeil’s disturbing quality, dependent on initially putting our eyes off guard, is caused by a specific application of perspective whereby the vanishing point does not lie in the picture but is thrown forward, converging with the point of view. a schematic diagram illustrating the basic idea of perspective may illuminate the complexity of the perspectival organisation of the trompe l’oeil (fig. 4). in the classic construction of perspective, the sense of space is rendered through the use of two symmetrically determined points: the vanishing point located on the horizon of the picture and the point of view outside of image where the beholder is presumed to stand. ideally, these two points are connected by means of orthogonals which fan out from the vanishing point into the picture plane, and from there converge in the point of view. in the diagram, the picture plane forms the axis linking the bases of two so-called visual cones or pyramids that mirror each other. Whereas the triangle lying ‘in’ the picture depicts a truly mathematical space, the second triangle that actually should exist outside the picture has to be imagined within it. in trompe l’oeil painting, these two triangles or pyramids are subjected to reversibility. the mathematical space that is supposed to be depicted in the picture, has been hollowed out in a forward direction and has to be 53

imagined outside, in the space of the actual viewer. in terms of the diagram, we can understand this operation by imagining the two visual triangles being folded onto one another until the vanishing point and the viewpoint merge with each other. the gaze of the viewer is no longer able to look ‘into’ the painting, but instead ricochets off the surface of the picture, bouncing back to the viewing eye, the place from which it originated. the blind spot of linear perspective, that is, the vanishing point to which the viewer’s eye is directed, can never be reached – or, for that matter, seen – and collapses with the point view from which seeing is made possible. the dialectics of possible and impossible moments of seeing that coincide outside of the frame, in the beholder’s eye, partly produce the optical effect of deception. in his influential early essay on Perspective as Symbolic Form (1927), erwin Panofsky has argued that perspective is a symbolic form that stands for something else, a worldview. [26] i want to suggest, however, that the trompe l’oeil perspective constitutes a signifying system that gives meaning, rather than comprising a sign or symbol that means something specific. van hoogstraten’s letter rack and gijsbrechts’s verso show that there is no escape from deception as soon as the viewer occupies the position assigned by a perspectival configuration. in contrast to Panofsky, hubert damisch proposes in The Origin of Perspective (1987) that the perspectival configuration has provided the artist with a formal apparatus, like that of a sentence, through which “something like a statement in painting” can 54

be made. [27] i would argue with damisch that the trompe l’oeil perspectival configurations in the work of gijsbrechts and van hoogstraten make just such a statement. The Reverse of a Framed Painting as much as Feigned Letter Rack do not merely stress the practical joke that the picture we see is not the picture we get, but in this case, we may ask ourselves whether the pictures we see will ever coincide as one coherent picture that we will get eventually. they ultimately confront us with the impossibility of getting their images straight. since there is no clear vanishing point fixed by one single perspective configuration, what distance should we keep between our eyes and this picture so that we can distinguish the illusion from the self-delusion? traditionally understood as an ideal model of vision according to which truth and falsehood could be distinguished, perspective is supposed to designate a fixed viewpoint from which we expect to see a proper, truthful image. Yet it is precisely in trompe l’oeil painting, despite the fixed point of view, that the notion of truth is questioned, and where the seduction of mimesis provokes our thoughts concerning the reliability of our optical capacities. gijsbrechts’s and van hoogstraten’s trompe l’oeils emphasise the ability of painting to comment on the effects of perspective by provoking our eyes to the level of insult, and of doubt: for this painting’s deceit undermines the reliance on our perception. the moment that we are trapped in the trompe l’oeil’s lure, we enter the realm of illusion that forces itself upon us as a truth, the artificiality of which we detect only belatedly. hanneke grootenboer

in The Art of Describing (1983), svetlana alpers considers the dutch still life to be an example of a mode of recording multiple surfaces that is modelled after microscopic vision. alpers states that still life painting is characterized by a dissection of edibles similar to the scientific practice of dissecting insects, plants, and so on, by revealing the different sides and layers of things: cheeses and herrings are always sliced in pieces, pies are cut open to expose their filling, lemons are peeled, vessels and glasses are turned upside down. such pictorial anatomy of daily life objects, no doubt, is visible, for instance, in Willem heda’s Still Life with Gilt Goblet (fig. 5). contrary to opening up the inside of things in order to be more fully present to the eye, gijsbrechts’s work emphasizes its flatness by offering nothing but surfaces laid out before us. heda’s Still Life never gives us any doubt about either the fixed point of view or the truth of the represented. We can trust this painting’s invitation to look, because it is straight forward about its being. Whereas realistic painting such as heda’s still life wants to make us believe it is something which it is not by attempting to transform the flatness of the picture plane into a window onto the world of a breakfast table, The Reverse of a Framed Painting and Feigned Letter Rack demonstrate that painting never appears so real as when it presents itself as the two-dimensional picture plane that it actually is. thus, departing from the dominant story of Western painting where realism has developed in the line with perspective, i believe that trompe l’oeil has the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

pursued a different direction, arriving at a level of realism precisely by eliminating any suggestion of pictorial depth. gijsbrechts’s painting argues, i would suggest, that illusionism is not a radicalisation of realism’s conditions – it is not a form of hyperrealism – but a reversal of realism’s premises. it does not comprise the subsequent step in the process of creating the ultimate copy of reality, but manages to reach a level of vraisemblance by falling back upon its own surface. in Art and Illusion. A Study in Psychology of Pictorial Representation (1960), ernst gombrich argues that illusionism is created by the expectation of the beholder. i would like to suggest that illusionism may indeed be created by the expectation that something may be revealed, as Zeuxis in Pliny’s famous story wanted to reveal a painting behind Parrhasius’s trompe l’oeil curtain, or as art historians expect to reveal hidden meaning behind the depicted scene. however, like Parrhasius’s curtain, for gijsbrechts’s trompe l’oeil there is no ‘behind’ other than the wall against which it stands. therefore, what the paintings of van hoogstraten and gijsbrechts ultimately tell us, by showing us, is precisely what realistic painting wants us to forget: the well-kept secret that perspective never adds a dimension to painting, as we are inclined to think, but that the flat image of the real produced by perspective actually attests to the removal of depth. Whereas realistic painting wants to make us believe it is something which it is not by attempting to transform the flatness of the picture plane into a 55

Fig. 5: Willem heda, still life with gilt goblet, 1635, oil on panel, 88 × 113 cm, amsterdam, rijksmuseum. 56

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window onto the world, van hoogstraten’s letter rack as well as gijsbrechts’s Reverse of a Framed Painting manages to intertwine figurative and literal pictorial language, allegory and realism, and entangles them to such extent that they cannot be unraveled, at least not by the eye of the viewer. their marvellous play with reality and representation, copy and original, genuine and fake materials shows a range of variations of pictorial truth which are the result of different perspectival strategies. these works demonstrate that painting never appears so real as when it presents itself as the two-dimensional picture plane that it actually is. Following damisch in this regard, i claim that the trompe l’oeil images by van hoogstraten and gijsbrechts make a statement in painting about the fundamentally paradoxical structure of pictorial perspective. a statement on the operation of this paradox is nowhere better articulated, i believe, than in gijsbrechts’s A Closed Wall Cupboard with an Ivory Tankard and Other Objects (fig. 6). this painting represents a cabinet door with leaded-glass windows through which we see the contents inside the cabinet: an ivory tankard, the small figure of a horseman and some shells. Framed by panels of painted wood, the door has real hinges and can be opened just like any other door. a painted iron bar running across the window, with a quill pen and some letters placed behind it, competes with the real metal lock and hinges for realistic effect: the tactile quality of the iron bar is similar to the genuine lock and hinges, if not greater. the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

this window both shows and hides simultaneously: what we see behind the glass – items from a kunstkammer collection whose sole function is showing, and showing off – is partly covered by letters that themselves reveal only a few readable sentences. our desire to see more of the art objects in the window results in the inclination to look around the letters, moving our head this way and that in trying out viewpoints that might give us a different angle of vision. gijsbrechts’s breathtaking virtuosity demonstrates its ultimate greatness in a deception that misleads even the most scrutinising observer: the glass in the window is partly broken. a sharp fracture line cuts the lower right window in half, the upper part being slightly lighter than the lower part, indicating that a piece of glass has been removed. real and painted transparencies are indistinguishable at the level of the fracture. it is precisely the clear-cut caesura of the non-existed glass that leaves no traces of its being made of paint, and leaves our eyes dazzled: are we looking at glass, or are we looking through it? are we looking through a hole, or are we looking at it? i believe that gijsbrechts examines painting as the intersection of artificial and natural perspective. Whereas in natural perspective the invisible space through which our eyes travel is a condition for seeing, the art of painting requires the application of artificial perspective to generate a similar illusion of invisible space between objects in a picture. From the moment the first procedures for perspective were written down by alberti in his 57

treatise On Painting (1435), it has been understood as a method for transforming painting into a window. gijsbrechts’s ingenious broken window interrogates the far-reaching effects of alberti’s famous metaphor, not through demonstrating what painting is supposed to be according to renaissance standards, but rather by representing that to which it has been compared in the centuries since. instead of using the window metaphor to widen the boundaries of painting, gijsbrechts brings painting back to its limitations by inviting us to look at a window through which we cannot see. the shallow pictorial space of the cupboard is filled with collector’s items which are clearly visible behind the glass. What becomes more apparent, however, in its suddenly visible invisibility, is the window glass itself. gijsbrechts’s door may further assist us in understanding the paradox of perspective because it hides an ingenious surprise. unlike most trompe l’oeils, this one has a behind: its verso, the inside of the cabinet door, also contains a painting that remains concealed as long as the door is closed (fig. 7). the verso represents the exact reverse side of the image: we see the back of the letters pressed to the glass, the quill pen protruding a bit. this unique two-sided painting actually contains a double reference to alberti’s treatise. in addition to the window metaphor, the Cupboard also contains allusions to the veil, a device alberti recommends that artists use for painting in perspective: “nothing can be found, so i think, which is more useful than that veil which among my friends i call 58

an intersection. it is a thin veil, finely woven, dyed whatever color pleases you and with larger threads [marking out] as many parallels as you prefer. this veil i place between the eye and the thing seen, so the visual pyramid penetrates through the thinness of the veil. this veil can be of great use to you. Firstly, it always presents to you the same unchanged plane. Where you have placed certain limits, you quickly find the true cuspid of the pyramid.” [28] the red ribbon in many trompe l’oeil letter racks and the division of the window in the cabinet door fulfill a similar role to alberti’s veil, keeping the letters in place just as alberti’s intersection keeps the objects seen through the veil in place. the cabinet door doubles the reference to alberti by being both a grid and a window, the glass of which is slightly coloured, obscuring the view in the same way a veil would. While the ‘glass’ in gijsbrechts’s cabinet door already enables our gaze to pierce what looks like the first layer of the picture, this layer itself displays a puncture, facilitating our desire to peep in. but then, the double disillusion reveals itself dramatically. there is no difference between the glass and the hole; that which shows itself behind it is of the same order as the window; that is, the window is not a window at all, notwithstanding the fact that it shares all its major features, even incorporating a view from the reverse side. For when we open the door, we are astonished to find out that we are unable to look through the window from the other side. We are able to see both sides, but still cannot look ‘through’ this image. What we do see is that which is always invisible both hanneke grootenboer

Fig. 6: cornelius n. gijsbrechts, a closed Wall cupboard with an ivory tankard and other objects, trompe l’oeil, recto, 1670, oil on panel, 99,5 × 89,5 cm, kopenhagen, statens museum for kunst. Fig. 7: cornelius n. gijsbrechts, a closed Wall cupboard with an ivory tankard and other objects, trompe l’oeil, verso, 1670, oil on panel, 99,5 × 89,5 cm, kopenhagen, statens museum for kunst. the thought oF Painting: still liFe as a PhilosoPhical genre

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in regular paintings and in our perception, namely how things would look when seen from the other side, from the point towards which we direct our gaze, but from which we cannot see. gijsbrechts’s work indicates that the impact of perspective goes further than providing a method of representation. if indeed his Cupboard makes something like a statement in painting, then it must be that perspective should be understood as laying out the conditions for vision and for the visible, rather than for representation. the conditions for vision and for the visible can be found on the other side of a cabinet door, as well as on the reverse side of a painting. there, mapped out by perspective, vision and the visible emerge as a thought in painting rather than its meaning. Perception-based interpretative methods that search for meaning may prove inadequate to revealing this side of painting, which calls for a different mode of looking. i believe that trompe l’oeil anticipates such a mode of looking by means of its deception which may lead us, as viewers, not to interpretation, but to a state that is most-thought provoking, namely thinking.

Photographic acknowledgements © smk Photo: Fig. 1, 2, 6, 7; staatliche kunsthalle karlsruhe: Fig. 3; rijksmuseum, amsterdam: Fig. 5.

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Parts of this article have been published in my book on The Rhetoric of Perspective: Realism and Illusionism in Seventeenth-Century Dutch Still Life Painting (chicago: university of chicago Press 2005). reprinted with permission of the university of chicago Press. all rights reserved. © 2005 by the university of chicago Press. nancy (2005). this problematic has been worked out in detail by Jacques derrida in his Truth in Painting. cf. derrida (1987). hobson (1982), pp. 62ff. For the life and work of cornelius gijsbrechts, see koester (1999). stoichita (1997), p. 279. baudrillard (1988), pp. 52–63. merleau-Ponty (1968), pp. 130–55. see for the complete german text and an english translation: brusati (1995), p. 163. ibid., pp. 160ff. ibid., p. 167.

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[16] [17]

“de Perspectiven en doorzichten zijn, om haere aengenaeme bedrieglijkheyt, altijts en overal in hooge agting geweest.” (“the perspectives and seeing-throughs have been highly respected, always and everywhere, because of their pleasurable deceit.”) van hoogstraten (1678), p. 275. all translations by the author unless otherwise stated. “hier komt de speelende schilderjeugt haest met gemeene dingen na ’t leven gekoleurt, en uitgesneden, of met brieven en kammen te voorschijn: en vind gemak in iets vlaks op een vlakte te verbeelden.” (“here appears the playful youth of painters with general [banal, h.g.] things, colored from life, and cut out, or with letters and combs: and they find it easy to represent something flat onto a flat surface.”) ibid., p. 218. michel Foucault mentions that the renaissance, as an age of resemblance, left nothing behind but games once it was over. he calls the seventeenth century “the privileged age of trompe l’oeil painting, of the comic illusion, of the play that duplicates itself by representing another play […] it is the age of the deceiving senses; it is the age in which the poetic dimension of language is defined by metaphor, simile, and allegory.” Foucault (1973), p. 51. gerald Fremlin elaborates on the significance of the distinction between “seeing something in a painting” and “seeing something on a map”. he points to the connection between map-making and trompe l’oeil painting, an idea that again indicates that the trompe l’oeil is a kind of representation fundamentally different from painting. cf. Fremlin (1998 a), Fremlin (1998 b). baudrillard (1988), pp. 53–62. Pierre charpentrat claims that trompe l’oeil substitutes transparency for a “presence,” with the result that it violates the rules of painting as well as a game. cf. charpentrat (1971).

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[21] [22] [23] [24] [25]

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the literature on trompe l’oeil is still marginal. i mention here the major overview works: battersby (1974), ebertschifferer (2002), chevé et al. (1996), d’otrange mastai (1975), koester (1999), milman (1982), krieger (1996). regarding the problem of representation in relation to illusion, see: allen (1993), pp. 21–48. For instance, eileen reeves points out that galileo galilei disapproved of trompe l’oeil as well as of anamorphosis because such images appear as something else than they are. see reeves (1997), p. 7 and 18. much later, ruskin argues against the trompe l’oeil for the same reason. see for instance: levine (1998), pp. 367–75. often cited as a counter-example of the typical negative view of the trompe l’oeil is roger de Piles, who mentions a portrait of a servant leaning out of a window painted by rembrandt, which, placed in an actual window, deceived the eyes of passers-by. cf. Piles (1715), p. 423. among obvious instances of this revival are the 1999 exhibition Master of Illusion, on the work of cornelius norbertus gijsbrechts and Franciscus gijsbrechts at the statens museum for kunst in copenhagen, denmark, and the overview exhibition in the national gallery in Washington, usa on Deception and Illusion: Five Centuries of Trompe l’Oeil Painting in 2003. Wheelock (1991), p 179–91. Wheelock (2002), pp. 77–90. marin (1985). marin (2005 b), pp. 252–68. stoichita (1997), pp. 276–79. see also bryson (1991), pp. 140–45. Panofsky (1991 [1927]). damisch (1995), p. 446. alberti (1966 [1435]), pp. 68–69.

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abb. 1: Jan brueghel d. Ä., grosse blumenvase, 1606, Öl auf kupfer, 65 × 45 cm, mailand, Pinacoteca ambrosiana.

Blumenstillleben zwischen Naturabbild, Metamalerei und antialbertianischem Bildkonzept: Von der Madonna in der Blumengirlande Brueghels d. Ä. zu den Kartuschenstillleben von Daniel Seghers und Umkreis elisabeth oy-marra

unter den zahlreichen ausformungen der Gattung des stilllebens scheint das Blumenstillleben nicht mehr als eine besonders dekorative, wenn auch symbolisch aufgeladene untergattung zu sein. neben tischstücken, Früchte- und prunkstillleben, markt-, küchen- und Jagdstillleben werden Blumen zumeist als blosse Variation dieser Bildgattung wahrgenommen. diese einschätzung beruht auf einem Fehlschluss, der allzu sehr von unserem heutigen umgang mit Blumen als mittel der dekoration bestimmt wird. die in immer neuen arrangements im Bild zusammengestellten sträusse lassen sich jedoch nicht auf eine alltägliche praxis des Blumendekors zurückführen, denn es werden weder wiesenblumen dargestellt, noch wäre es zur zeit der entstehung der Bilder tatsächlich möglich gewesen, die auf den Bildern arrangierten Blumensträusse in der freien natur gleichzeitig in Blüte sehen zu können. thema dieser ausprägung des stilllebens sind also nicht zufällig zusammengestellte Blumen aus der natürlichen umgebung, sondern besonders kostbare arten, die das produkt einer hoch entwickelten hortikultur in europa waren. [1] diese war auf die Besonderheit der art und deren ausdifferenzierung ausgerichtet und bestrebt, möglichst seltene und aus fernen ländern stammende Blumen in europa heimisch zu machen. die maler der Blumenstillleben waren daher darauf angewiesen, die Blumen in hoch spezialisierten Gärten aufzusuchen oder aber die zahlreichen Florilegien als Vorlage zu nutzen, die seit dem ende des 16. Jahrhunderts

in rascher Folge erschienen. [2] mit den gemalten Blumenstillleben ging tatsächlich die entwicklung einer bildlichen dokumentation seltener pflanzen und Blumen einher, ohne die ihre taxonomische erforschung schlechterdings kaum möglich gewesen wäre, denn neben dem trocknen und aufbewahren der pflanzen in den herbarien konnte nur ihre getreue abbildung die flüchtige existenz der pflanze auf dauer stellen. Verschiedene auf zeichnungen und aquarelle spezialisierte maler, wie etwa Jacopo ligozzi oder Giovanna Garzoni, entwickelten dabei ein zum studium der seltenen pflanzen absolut notwendiges bildliches Verfahren, das sich mit der fortschreitenden wissenschaftlichen erkenntnis ausdifferenzierte und mit ihr eine enge wechselbeziehung einging. [3] anders als in Blumenstillleben, auf denen die Blumen gewöhnlich in Vasen arrangiert dargestellt werden, zeigte die wissenschaftliche illustration der pflanze zumeist verschiedene ansichten, zu denen in der regel auch die wurzeln gehörten sowie reifegrade und andere besondere eigenschaften. Von diesen Bildern profitierte nicht nur das bedächtige, auf Vergleich angelegte taxonomische studium derselben, sie gaben gleichzeitig dem patron des Gartens ein mittel zur repräsentation seiner schätze an die hand, das auch dann zur Verfügung stand, wenn die Jahreszeit der Blüte noch auf sich warten liess. mit der wissenschaftlichen illustration haben die Blumenstillleben einige aspekte gemein: wie sie werden auch die Blumen im stillleben einzeln porträtiert, wenn auch nicht in allen reifegraden und ansichten. die entstehung und ausbreitung

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der botanischen illustration markiert dabei nicht nur den aufstieg der Botanik zu einer leitwissenschaft seit dem ende des 16. Jahrhunderts, sondern geht ebenso mit der ausdifferenzierung der malerischen Gattungen und damit mit der entstehung des autonomen Blumenstilllebens einher. damit nicht genug. wie die botanische illustration stand auch das Blumenstillleben in enger Verbindung mit dem sammlerinteresse der zeit. Vor allem in Florenz und rom wurden sammlungen aquarellierter Blumenbilder angelegt, die zum teil für die naturalienkabinette bestimmt waren, die vielen botanischen Gärten angegliedert waren. [4] hier ermöglichten die botanischen illustrationen das Festhalten des artenreichtums eines Gartens und damit nichts weniger als eine sammlung seltener und aus der ganzen welt eingeführter pflanzen an einem ort. [5] Für die Blumenstillleben gilt ganz ähnlich wie für die botanische illustration, dass eine wesentliche Funktion dieser Bilder darin bestand, wissen zu erzeugen und auf dauer zu stellen. [6] insofern spiegelt sich in diesen Bildern auch das grosse interesse der zeit an einer neuen art der naturbeobachtung wider, die bekanntlich mehr und mehr für die empirische Grundlegung (natur)wissenschaftlicher Beweisführung herangezogen wurde. so könnte man annehmen, dass sowohl die botanische illustration als auch die Blumenstillleben eine grosse ästhetische wertschätzung erfahren hätten. Fragt man jedoch nach ihrem platz innerhalb des sich zu jener zeit ausdifferenzierenden systems der künste, so scheint das ansehen dieser Bilder der 66

gängigen meinung der einschlägigen literatur nach zu urteilen kaum über eine erbauliche Bedeutung hinauszugehen. als nicht narrative, dem dekorativen arrangement scheinbar zufällig zusammengestellter Blumensorten gewidmete Gattung der malerei konnten sich stillleben gegenüber der Gattung der historienmalerei nach den gängigen kriterien kaum behaupten. wohl ist seit langem bekannt, dass diese Beurteilungskriterien der akademischen klassifizierung der Gattungen entnommen sind. ihre Gültigkeit wird auch in der historischen analyse nur selten infrage gestellt, so als ob nur dasjenige eine wertigkeit besässe, was sich im laufe der Geschichte behaupten konnte. [7] Festzuhalten bleibt daher ein eklatanter widerspruch: während wir auf der einen seite viele noch zu zeigende hinweise auf die hohe wertschätzung der Blumenstillleben seit den anfängen der Gattung um 1600 besitzen und diese hand in hand mit dem neuen interesse an der natur, ihrer Vielfalt und ihrer Gesetzmässigkeit geht, so gibt es im system der kunst angeblich keinen hinweis, der die wertigkeit dieser Bilder in irgendeiner weise bestätigen und die mühen der maler gebührend feiern würde. es stellt sich daher die Frage, mit welcher art von Bildkonzepten wir es bei den Blumenstillleben eigentlich zu tun haben. ist ihre zuordnung zu den stillleben als kategorie einer nicht narrativen malerei über eine katalogisierung hinaus wirklich aussagekräftig? welche Validität hat der hinweis auf den wertekanon der akademien in einer zeit, in der die Gattungshierarchie in den damals existierenden akademien in Florenz und rom [8] noch gar nicht nachweisbar ist? elisaBeth oy-marra

anstatt der Frage nachzugehen, welchen rang diese Bilder im Verhältnis zur historienmalerei einnahmen, werde ich im Folgenden eine andere perspektive wählen, aus der heraus der anspruch dieser Bilder besser verständlich wird. ich werde die these vertreten, dass Blumenstillleben nicht gegen andere Gattungen und schon gar nicht gegen die Gattung der historienmalerei antraten. Vielmehr versuchten sich die Bilder vor dem hintergrund eines diskurses zu behaupten, dem zufolge die reine naturnachahmung geringgeschätzt wurde und der malerei nur dann eine übergeordnete reflexionsfähigkeit zugesprochen wurde, wenn sich ein Bild nicht durch das blosse abbilden, sondern durch die kenntnisreiche nachahmung (imitatio) der natur verdankte. anders als bei historiengemälden stellt die abbildung der natur für Blumenstillleben jedoch eine conditio sine qua non dar, ohne die die Bilder gar nicht denkbar sind. diese art abbildender nachahmung ist sozusagen das programm dieser Gattung. Gleichwohl wäre es zu kurz gegriffen zu glauben, die maler hätten ihren ehrgeiz allein in eine möglichst gute abbildung der natur im Bild gesetzt. wie zu zeigen sein wird, forderte gerade diese Gattung dazu heraus, den modus der getreuen darstellung der pflanzen mit dem prinzip der reflektierten nachahmung zu verbinden. im Folgenden möchte ich daher den theoretischen anspruch dieser Bildgattung skizzieren und schliesslich ihre spezifische konzeptionelle aussagekraft dort überprüfen, wo das Blumenstillleben in seiner sonderform des Blumenkranz- und kartuschenstilllebens mit anderen Bildkonzepten in konkurrenz tritt.

Das Blumenstillleben zwischen Naturnachahmung und Metamalerei eine der wichtigsten stellungnahmen zu den verschiedenen Qualitäten der mimesis, die helfen, das problem besser zu rahmen, stammt von dem michelangelo-schüler Vincenzo danti, der in seinem Trattato delle perfette proporzioni aus dem Jahr 1567 eine unterscheidung zwischen imitare und ritrarre einführte: ersterem räumte er einen höheren stellenwert ein, da das konzept des imitare dem künstler die möglichkeit eröffne, die darstellung seiner grundsätzlichen intentione folgend zu verbessern, während das ritratto, das porträt, die natur in ihrer schieren Gegebenheit festhalte und somit keiner besonderen anstrengung bedürfe. [9] rudolf preimesberger hat gezeigt, dass der kategoriale unterschied zwischen diesen beiden arten der mimesis auf die zeitgebundene interpretation der poetik des aristoteles zurückzuführen ist und auf nichts Geringeres als auf die unterscheidung von historia und poesia anspielt. [10] mit dieser insbesondere von den theoretikern des 17. Jahrhunderts wie Giovan Battista agucchi und Giovan pietro Bellori aufgenommenen problematisierung der blossen wiedergabe der natur wurde nicht zuletzt auch die hierarchie der Gattungen begründet. [11] während der auf imitare zurückgeführten freien mimesis der höchste rang zugesprochen wurde, galt das einfache abbilden, das ritrarre, als rangniedrigere tätigkeit, weil sie sich keiner höheren wirklichkeit verpflichtet sah. auf diese weise war eine der naturbeobachtung

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verpflichtete kunst einem erheblichen zwiespalt gegenüber ausgesetzt. Gerade zu einer zeit, als Galileo Galilei und andere erstmals die naturbeobachtung als empirische Grundlage der sich formierenden mathematischen wissenschaften einforderten,[12] musste die genaue wiedergabe von pflanzen im Bild als eine tätigkeit erscheinen, die keinen anspruch auf künstlerische würden erheben konnte. in der tat unterscheidet sich die illusionistische wiedergabe von Blumen in den hier zur diskussion stehenden stillleben nicht wesentlich von einem porträt. Ganz so, wie ein porträt zum ziel hat, den porträtierten so lebendig und ähnlich wie irgend möglich wiederzugeben, so ist auch den stillleben die absicht eigen, die ausgewählten Blumen so genau und naturgetreu wie nur irgend möglich darzustellen oder besser zu beschreiben. [13] Vor diesem hintergrund erscheint die zuordnung der Blumenstillleben zunächst unproblematisch, doch trügt diese zuordnung in dem moment, in dem dem botanischen porträt der einzelnen pflanze dieselbe repräsentationslogik unterstellt wird wie einem reichen arrangement eines Blumenstilllebens. die spannbreite des natur- und Bildverständnisses der zeit um 1600 lässt sich bekanntlich aus dem Briefwechsel zwischen einem der bedeutendsten sammler der zeit um 1600, dem erzbischof von mailand, Federico Borromeo (1564–1631), mit demjenigen maler, der das Blumenstillleben massgeblich mit entwickelt hat, Jan Brueghel d. Ä., erschliessen. Borromeo, der sowohl den obstkorb caravaggios als auch den grossen Blumenstrauss Jan Brueghels d. Ä. 68

sein eigen nannte,[14] war einer der grössten sammler flämischer stillleben. auch hat er die ausbildung des Blumenstilllebens in der auseinandersetzung mit Jan Brueghel d. Ä., den er in rom in den Jahren 1593 bis 1595 kennengelernt hatte und mit dem er zeitlebens in kontakt stand, massgeblich mitangeregt. [15] dies gilt bereits für den grossen Blumenstrauss Jan Brueghels d. Ä. und die madonna in der Blumengirlande, die in zusammenarbeit Jan Brueghels d. Ä. mit hendrick van Balen entstanden war. [16] anhand schriftlicher Äusserungen Federico Borromeos lässt sich zudem nachweisen, dass das interesse des kardinals an der natur, wie das vieler Geistlicher seiner zeit, von starkem Glauben bestimmt war. die Betrachtung der natur im Bild sollte dem Gläubigen tiefe einsichten in ihre Vielfältigkeit und in das werk der göttlichen Vorsehung vermitteln. Gleichwohl handelte es sich nicht um ein naives interesse an der natur. im Gegenteil bewunderte der erzbischof nachweislich die errungenschaften des teleskops wie auch des mikroskops. [17] und ebenso schätzte er die Fähigkeit Jan Brueghels d. Ä., in seinen stillleben die pflanzen und vor allem ihre Farben so genau wie nur möglich darzustellen. er verstand sie als einen würdigen ersatz für die natur, eine möglichkeit, ihre erscheinungen, wie vor allem die nur zu bestimmten Jahreszeiten zu bewundernden Blüten, auf dauer zu stellen und damit das ganze Jahr über betrachten zu können. [18] in seinen Briefen schlägt sich eine naturauffassung nieder, die sich nicht mit abstrakten einsichten zufriedengibt, sondern im Gegenteil das einzelne und in ihm die Vielfalt der natur in ihren elisaBeth oy-marra

erscheinungen sucht und zu dokumentieren trachtet. [19] diese scheinbar so wenig auf die erkenntnis der natura naturans ausgerichtete Freude am Betrachten der natur, die allein der Bewunderung der schöpfung Gottes verpflichtet zu sein scheint, verrät ein kaum ausgeprägtes Bewusstsein für weiterreichende Fragen der naturnachahmung im Bild, wie sie Vincenzo danti zur diskussion gestellt hatte. Für den erzbischof erschöpfte sich die aufgabe der malerei offenbar in der Gewährleistung eines dauerhaften Bewahrens dieser flüchtigen erscheinungen der natur, und er verfiel im anblick dieser Bilder sehr schnell in eine allegorische ausdeutung der pflanzen. [20] aus den Briefen des malers Jan Brueghel an den mailänder erzbischof geht dagegen eine differenziertere sicht der dinge hervor. in einem Brief an den erzbischof hat der maler bekanntlich seine auffassung über seinen grossen, 1606 im auftrag Federico Borromeos gemalten Blumenstrauss (Abb. 1) in worte gefasst. in seiner Beschreibung kommt der maler sogleich auf die schwierigkeiten dieser art der naturnachahmung zu sprechen. diese erschöpfe sich keineswegs darin, so betont er, einen unmittelbaren natureindruck wiederzugeben. er hebt sowohl die natürlichkeit als auch die schönheit des Blumenstrausses hervor und weist darauf hin, dass einige der Blumen noch unbekannt seien und dass er eigens nach Brüssel gereist sei, um ein paar Blumen zu malen, die man in antwerpen nicht finden könne. [21] diesen ausführungen zufolge versteht der maler sein Bild der grossen Blumenvase also keineswegs als produkt eines dekorativ zusammengestellten

Blumenstrausses, sondern als ein komponiertes Bild, das mehr zeigt, als einem gewöhnlichen Betrachter vor augen stehen kann. Barbara welzel hat diese art der naturnachahmung zu recht als »kunstvolle inszenierung von natürlichkeit« beschrieben,[22] doch lässt sich das Briefdokument auch im hinblick auf das Verständnis von naturnachahmung des malers und ihre bildtheoretische konsequenz im stillleben noch weiter fassen. Beim genauen lesen der zeilen aus Brueghels Brief wird deutlich, dass der maler sein Bild keineswegs als blosse abbildung auffasste, sondern vielmehr als einen reflektierten selektionsprozess der schönsten und seltensten exemplare, die er in seinem Bild mit Bedacht und auf einzigartige weise zusammengeführt hat. dies zeigt allein der Verweis auf die im Bild gezeigten 100 verschiedenen Blumensorten, deren wiederholung Brueghel tunlichst vermied. er hebt dabei auf die besonders seltenen ab, für die er eigens nach Brüssel reisen musste, um sie zu malen. [23] damit beschreibt er trotz seiner Betonung der lebensgrösse der abgebildeten Blumen seine arbeit am Bild jedoch nicht als unreflektierte naturnachahmung, als ritrarre im sinne dantis, sondern als einen prozess der wahl und bewussten zusammenstellung, die mit der komplexität der natur insofern wetteifert, als es sich bei den meisten Blumensorten um das produkt einer bereits hoch kultivierten natur handelt. [24] insofern kommt dieser von Brueghel beschriebene selektionsprozess dem berühmten, von plinius beschriebenen Verfahren des zeuxis verblüffend nahe, dem zufolge der maler für das Bild der schönen helena

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die schönsten Jungfrauen aus kroton studiert hatte, um aus der auswahl der schönsten Gliedmassen in seinem Bild schliesslich die schönste Frau darstellen zu können. [25] die Grosse Blumenvase Jan Brueghels ist in der summe ihrer Blütenporträts schliesslich mehr als ein porträt nach der natur, nämlich ein Bild, das mit ebenjener mimesis wetteifert, die danti im rekurs auf aristoteles’ poetik als imitatio bezeichnet hatte und mit der er eine poetische mimesis in absetzung von einer bloss faktischen des ritratto meinte. norman Bryson hat sogar von einer grundsätzlichen naturferne der holländischen Blumenstillleben gesprochen und auf den grundlegenden unterschied zu den pflanzenbildern der herbaristen, die dem wirkungskreis der klöster entstammten, hingewiesen. im Gegensatz zu jenen verdankten sich die pflanzen der holländischen Botaniker und damit auch jene auf den stillleben dargestellten bereits einem riesigen kolonialnetz. insofern werden sie in den Bildern gleichsam ortlos und damit in einer virtuellen zusammenstellung in ihren Vasen präsentiert. [26] diese Beobachtungen sagen viel über den handel und die wertschätzung der seltenen arten in jener zeit aus, doch mir scheint dabei zugleich auch vonseiten der maler eine Bildauffassung entwickelt worden zu sein, die sich von der einfachen porträtähnlichen darstellungsweise löste. in der kontextualisierung flämischer stillleben auf den kabinettbildern wird deutlich, welch hohen stellenwert sie beanspruchen konnten. Victor stoichita hat nicht zuletzt die these vertreten, dass die stillleben mit Blumensträussen offenbar eine art flandrischer metamalerei darstellen. sie 70

kommen auf nahezu allen kabinettstücken vor, sei es als Bild im Bild oder aber als Blumenstrauss inmitten der sammlung. [27] Besonders deutlich wird dies in einem Jan Brueghel d. J. zugeschriebenen kabinettbild (Abb. 2), in dessen mitte eine Blumen malende Frau zu sehen ist, die unschwer als pictura-allegorie interpretiert werden kann. [28] pictura ist beim malen eines Blumenstrausses zu sehen, dessen ›original‹ vor ihr auf einem tisch steht. dieser prangt inmitten einer reichen sammlung von Gemälden und statuetten im zentrum des hauptraumes, an den sich ein galerieähnlicher langgestreckter raum anschliesst, in dem andere maler vor ihren staffeleien am Fenster sitzen. ihnen gegenüber ist die stillleben malende pictura-allegorie im Vordergrund deutlich hervorgehoben. sie hat nur augen für den Blumenstrauss auf dem tisch vor ihr, der ihr als modell dient und den sie scheinbar ohne Vorstudien alla prima malt, während um sie herum fast nur porträts und historien zu sehen sind. doch handelt es sich bei ihrem Bild nicht um eine kopie des Blumenstrausses vor ihr, vielmehr ist bereits ein sehr viel reicheres stillleben auf ihrem Bild zu bewundern, das in deutlichem kontrast zur Vorlage steht. offenbar hat pictura den natürlichen strauss ausgeschmückt und verschönert, ihn also nicht bloss abgebildet. darüber hinaus wird durch die besondere hervorhebung des von pictura geschaffenen stilllebens der eindruck erweckt, diese Gattung gehöre zu der würdigsten und höchsten tätigkeit des malens. zugleich wird der Blumenstrauss auch zur metapher der im Bild gezeigten sammlung, die wie der Blumenstrauss in der Vase elisaBeth oy-marra

abb. 2: Jan Brueghel d. J., allegorie auf die malkunst, 1624, Öl auf kupfer, 47 × 75 cm, privatsammlung, ehem. Johnny Van haeften ltd. london. BlumenstillleBen zwischen naturaBBild, metamalerei und antialBertianischem Bildkonzept

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abb. 3: Jan Brueghel d. Ä. und hendrick van Balen, madonna mit kind in der Blumengirlande, um 1620, Öl auf holz und kupfer, 27 × 22 cm, mailand, pinacoteca ambrosiana. 72

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unterschiedliche herausragende, kostbare Gemälde in einem raum vereint. Blüten und Gemälde werden so in eine Beziehung gesetzt. dies impliziert darüber hinaus einen Vergleich der Farbenpracht der Blumen mit jener der malerei. eine ähnliche analogie von Blüten und Farben der malerei findet sich auch auf dem porträt des erzherzogs leopold wilhelm auf dem titelblatt von david teniers Theatrum Pictorium. der erzherzog wird hier von einem kranz aus lorbeer und palmzweigen ausgezeichnet, in den sowohl eine palette mit pinseln als auch einzelne Blumen eingeflochten sind. [29] Bildkonzepte im Dialog: Blumenkranzmadonnen und Kartuschenstillleben die Gleichsetzung des Blumenstilllebens mit der malerei weist ganz deutlich auf die hohe wertschätzung dieser Gattung hin und zeugt nicht zuletzt von einem überaus differenzierten Bewusstsein von der natur und der komplexen aufgabe ihrer nachahmung durch die malerei. Bislang haben wir uns auf die Frage nach der art der naturnachahmung, die in einem Blumenstillleben vorgeführt wird, konzentriert. nun bleibt jedoch zu fragen, ob man so weit gehen kann zu behaupten, Blumenstillleben liege ein eigenes Bildkonzept zugrunde. dies legte bereits norman Bryson nahe, der hervorhob, dass das stillleben eine »anti-albertianische Gattung« schlechthin sei, da es die berühmte, auf leon Battista albertis malereitraktat zurückgehende Bestimmung des Bildes als Fenster geradezu negiere, indem es einen

proximalen raum für sich beanspruche, dessen Gegenstände nicht in das Bild hinein-, sondern im Gegenteil aus dem Bild hervorträten. [30] dies gilt in besonderem masse für die Blumenstillleben, denn während tischstücke oder die spanischen Bodegones zumindest einen häuslichen raum andeuten, entsteht der Bildraum eines Blumenstilllebens zumeist allein durch die anordnung der Blumen hinter- und übereinander. Bei der grossen Blumenvase Jan Brueghels ist dies gut zu beobachten (Abb. 1), denn der Bildraum ist hier tatsächlich auf ein minimum reduziert. der Betrachter erkennt zwar die laibung der kupfernen Vase, die auf einer vom Bild komplett überschnittenen tischplatte aufsitzt. ihr hinterer abschluss ist aufgrund der Verschattung ganz im Vagen gelassen, während die Blüten selbst alle in den Vordergrund gedreht sind. schon hier spielt Brueghel mit dem effekt heller Blüten vor einem dunklen monochromen hintergrund, der die einzelnen Blüten besonders hervorhebt. Gleichwohl scheinen sie in der Fläche zu verhaften. im Gegensatz dazu setzt er diesen effekt in dem Gemälde Madonna mit Kind in der Blumengirlande (Abb. 3) so ein, dass der eindruck erweckt wird, die Blüten des kranzes würden von der Bildfläche nach aussen ragen, so, als sei tatsächlich ein kranz auf der leinwand befestigt. hierdurch erreicht der maler nicht nur eine illusionistischere wirkung des Blumenkranzes, die sich vor allem auch dem dunklen hintergrund verdankt, sondern ebenso eine klare unterscheidung zwischen der ebene des Blumenkranzes und derjenigen des madonnenbildes, das von hendrick van Balen 1607 bis

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1608 gemalt und in die leinwand eingesetzt wurde. die madonna mit dem Blumenkranz, deren erfindung auf Jan Brueghel d. Ä. zurückgeführt wird, geht mit grosser wahrscheinlichkeit auf die anregung Federico Borromeos zurück, der nicht zuletzt darauf bestanden hatte, dass die madonna einen landschaftshintergrund haben sollte. [31] aus dem inventar Borromeos wissen wir, dass das madonnenbild von einem goldenen deckel verschlossen werden konnte, der heute nicht mehr erhalten ist. [32] pamela m. Jones hat nachgewiesen, dass das madonnenbild nicht nur auf rubens’ altarbild der Vallicella Bezug nimmt, sondern auch auf das byzantinische kultbild in santa maria maggiore, das die madonna als acheiropoietoni darstellt, weshalb von einem strikt devotionalen charakter dieses Bildtypus ausgegangen werden muss. [33] Bekanntlich lässt sich die entwicklung dieses typus auf eine spezifisch flandrische tradition zurückverfolgen, wonach insbesondere im umkreis des Beguinenordens bestimmte madonnenbilder reich mit Blumen geschmückt wurden. [34] Für den Blumenkranz als sujet der malerei lassen sich darüber hinaus aber auch antike Vorbilder anführen. einer anekdote des plinius zufolge hatte pausias von sykion die erfinderin der Blumenkränze, seine mitbürgerin Glycera, so sehr geliebt, dass er mit ihr in der kunst der nachahmung wetteiferte und »jene kunst durch deren nachahmung zu einem äusserst mannigfachen wechsel in der darstellung der Blumen brachte«. [35] der antike maler soll die anmutige kranzbinderin schliesslich als sitzende mit einem Blumenkranz im haar gemalt haben, ein berühmtes 74

Bild, das den namen der kranzflechterin oder der kranzhändlerin getragen habe. [36] diese anekdote, die überaus berühmt war und eingang fand in die geistliche literatur der zeit,[37] thematisiert den triumph der kunst über die natur, wobei der maler pausias nicht allein die schönheit der Blumen in seinem Bild übertrifft, sondern die bereits kunstvoll verarbeiteten seiner Geliebten Glycera. in einem um 1615 entstandenen Gemälde, das auf die anekdote Bezug nimmt, zeigt peter paul rubens zusammen mit dem spezialmaler osias Beert d. Ä. die entstehung des allerdings verschattet dargestellten, hochgerühmten Bildes der Glycera mit ihrem Blumenkranz (Abb. 4) als eine steigerung der zunächst durch Glycera kunstvoll arrangierten Blumen, die schliesslich im Bild festgehalten werden. dabei fällt auf, dass der maler gegenüber seiner auf dem Boden kauernden Geliebten erhöht dargestellt ist und seinen schweren arm vertraut und zugleich verfügend auf ihre schulter gelegt hat, während sie ihren Blick ganz verzückt auf die von pausias gehaltene leinwand richtet, deren Gestaltung dem Betrachter jedoch verborgen bleibt. Glycera repräsentiert in rubens’ Gemälde die Farbe, die der maler pausias seinem Bild verleihen will, so jedenfalls legt es eine anekdote karel van manders nahe, der zufolge der maler die Blumen der Glycera wegen ihrer Farbe hervorgehoben hat. [38] auch die Blumengirlande Jan Brueghels d. Ä. spielt auf plinius’ anekdote der Blumenkränze der Glycera an und verweist auf den impliziten wettbewerb des malers mit den Farben der natur, die er hier so lebenswirklich wiederzugeben versteht. elisaBeth oy-marra

abb. 4: peter paul rubens und osias Beert d. Ä., pausias und Glycera, um 1612–1615, Öl auf leinwand, 203,2 × 194,3 cm, sarasota, Fl, Bequest of John ringling, collection of the John and mable ringling museum of art, a division of Florida state university. BlumenstillleBen zwischen naturaBBild, metamalerei und antialBertianischem Bildkonzept

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abb. 5: daniel seghers und domenichino, Blumengirlande mit dem triumph amors, 1. hälfte 17. Jh., Öl auf leinwand, 134 × 110 cm, paris, musée du louvre. 76

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neben der zweifellos symbolischen Bedeutung unterstreicht der kranz damit auch die in den Blumen vergegenwärtigte Veredelung und Überhöhung der natur. insofern handelt es sich hierbei um mehr als um einen blossen, auf volkstümliche traditionen zurückführbaren schmuck oder um die ebene blumiger metaphern für die reinheit der muttergottes,[39] auch wenn dies sicherlich eine der wichtigsten lesarten dieser und ähnlicher Bilder war. [40] obgleich sich auf der symbolischen ebene Blumen und die madonnenfigur in einklang bringen lassen, so markiert das stillleben des Blumenkranzes das hier und Jetzt eines einzigartigen augenblicks der nah an das auge des Betrachters herangeholten Blüte, während die madonnenfigur als universalie des Glaubens erst durch den kranz eine besondere nähe erhält. Bekanntlich war diesem Bildtypus eine grosse Beliebtheit beschieden. er wurde nicht allein von Brueghel wiederholt gemalt, auch sein sohn, Jan Brueghel d. J., entwickelte ihn weiter. derjenige, der sich geradezu auf Blumengirlanden spezialisiert hatte und immer neue Varianten erfand, war jedoch sein schüler daniel seghers, der nach einer lehrzeit bei Jan Brueghel d. Ä. 1614 in mechelen in den Jesuitenorden eintrat und 1625 zum priester geweiht wurde. [41] wie zuvor sein lehrer, so malte auch seghers in zusammenarbeit mit anderen künstlern, die für die figürlichen teile der Gemälde zuständig waren, während er die Blumenkränze und Girlanden schuf. sein umfangreiches schaffen legt es jedoch nahe, dass er die kränze und Girlanden schon auf Vorrat malte und die zusammenarbeit oft nicht mehr

so eng war wie zwischen Brueghel d. Ä. und peter paul rubens oder hendrick van Balen. so ist es wohl auch zu erklären, dass, obgleich der Jesuit seghers den devotionalen aspekt seiner Blumenstücke nicht aus dem auge verloren haben dürfte, sich nun auch profane themen in die Bildzentren einschlichen. seghers, der um 1625 für zwei Jahre nach rom aufbrach, hatte keine mühe, dort liebhaber seiner werke zu finden. seine Blumengirlanden waren vor allem beim römischen adel hochgeschätzt. tatsächlich verzeichnet sein inventar käufer und Beschenkte, unter denen sich sowohl der ordensgeneral des Jesuitenordens, muzio Vitelleschi, als auch der Gartenvorsteher der Barberini und herausgeber mehrerer botanischer traktate, Giovan Battista Ferrari,[42] sowie Vertreter der wichtigsten Familien roms von den mattei über die Borghese, ludovisi bis hin zu den Barberini finden. [43] da sich die Girlandengemälde kaum datieren lassen, können nur die wenigsten ganz bestimmten adressaten zugeordnet werden. Für ein Gemälde kann allerdings nur rom als entstehungsort angenommen werden, denn es ist in zusammenarbeit von seghers mit domenichino entstanden. wahrscheinlich hat der in rom hochgeschätzte maler aus Bologna aber erst nachträglich die mitte der Blumengirlande seghers’ bemalt (Abb. 5). es handelt sich hierbei um ein leinwandgemälde, das insofern von den meisten von seghers’ Blumenstücken abweicht, als sein figürliches sujet kein religiöses, sondern erstaunlicherweise ein mythologisches, der triumph amors, ist. [44] das Gemälde zeichnet sich durch eine dichte Girlande

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vor einem gleichmässig dunklen hintergrund aus, die aus rosen, tulpen, nelken, mohn und lilien besteht, die in den kranz gebunden sind, aus dem vereinzelt lange rispen wie levkojen und narzissen hervorspringen. in der mitte des Bildes befindet sich darüber hinaus eine kleinere und weniger üppige Girlande, die drei amoretten rahmt. einer davon sitzt frontal auf einem von zwei weissen tauben gezogenen wagen, während die anderen beiden über ihm in den lüften schweben und den Blüten des sie umgebenden kranzes zugewandt sind. das motiv mit Blumen spielender putten musste domenichino geläufig sein, kommt es doch in den in rom seit der mitte des 16. Jahrhunderts beliebten gemalten pergolen vor. insbesondere Guido reni hatte im rückgriff auf die berühmten streitenden putten der Galleria Farnese dieses motiv in dem von ihm und paul Bril in den Jahren 1611 bis 1612 mit einer pergola ausgemalten, sogenannten Casino di Fabio Biondo des Gartenpalastes scipione Borgheses auf dem Quirinal aufgegriffen. Guido reni stellte in den zwickeln spielende putten vor sträussen ausgefallener Blumen dar. [45] ein spielerisches motiv, das domenichino in der üppigen Blumengirlande daniel seghers’ jedoch mythologisch auffasst, indem er in ihrer mitte den triumph amors zeigt, der siegessicher auf seinem von tauben gezogenen streitwagen geradewegs aus dem Bild zu fahren scheint. domenichino kehrt hier den unschuldscharakter amors hervor, indem er ihn als kleinkind malte. wie auch der Blumenkranz ist amor vor einem dunklen hintergrund dekorativ aufgefasst. 78

das gefällige motiv fügt sich im unterschied zu den bis dahin bekannten ›madonna in der Girlande‹Bildern scheinbar bruchlos in die Blumengirlande seghers’. wolken und tauben überschneiden die innere Girlande, und auch die putten scheinen in die Blumen zu fassen. anders als die madonna in der Girlande von Brueghel d. Ä. und hendrick van Balen (Abb. 3) wirkt die Blumengirlande hier nicht als rahmender schmuck, sondern als integraler Bestandteil eines allegorischen Bildes, das die gezeigten Blumen aufgrund des zentralen motivs nun im licht der liebe ausdeutet. aber auch hier trägt die üppige Vielfalt der Blüten dazu bei, dem figürlichen motiv eine nähe zu verleihen, die den Blick des Betrachters auf das detail lenkt und ihn durch die Variation der Bildmotive erfreut. daniel seghers brachte die Blumenkranzbilder zu einem grossen Variantenreichtum, der nicht so sehr, wie ich meine, neuen aspekten der blumigen auszeichnung verschiedener Bildinhalte geschuldet ist als vielmehr die ästhetischen möglichkeiten einer Gegenüberstellung von opaken Bildzentren oder auch ausblicken mit dem gleichsam aus dem Bild herausspringenden, auf nähe angelegten Blumenschmuck auslotet. an vielen Gemälden seghers’ fällt in der tat auf, dass er die vitale Farbigkeit und schönheit der Blüten von rosen, tulpen, nelken und narzissen und vielen anderen sorten wie im porträt üblich vor dunkle hintergründe setzt und damit ihre präsenz besonders betont. seit den 1640er-Jahren variiert er die Girlanden, indem er die Blumen als schmuck von steinernen kartuschen auffasst, in elisaBeth oy-marra

deren mitte sich dann reliefs religiöser thematik oder allegorischer natur befinden (Abb. 6). in dem hier gezeigten Beispiel von seghers und abraham van diepenbeck, das 1648 erzherzog leopold wilhelm anlässlich eines Besuchs in antwerpen als Geschenk überreicht wurde, zeigt das fingierte relief der mit Blumen geschmückten kartusche zwar noch eine madonna, doch bietet sich die madonna nicht direkt dem Betrachter dar, sondern wird von dem 1485 heiliggesprochenen kaiser leopold von Österreich angebetet. [46] diese anbetung ist durch den von einem rundtempel und weiteren tabernakeln und tempeln markierten ort in einen narrativen kontext eingebunden. aus der haltung des kaisers lässt sich schliessen, dass es sich um einen schwur handelt, der hier im Bild festgehalten wird. in der tat ist der kulminationspunkt einer legende dargestellt, der zufolge kaiser leopold (1073–1136) auf einem ausritt mit seiner Frau von einem unwetter überrascht wurde, bei dem seine Gattin den schleier verlor. daraufhin schwor der kaiser, an der stelle ein kloster zu errichten, an der er den schleier wiederfinden würde. als er den schleier schliesslich unter einem Busch entdeckte, erschien ihm die muttergottes. auch wenn die zarten Farben der Blüten von nelken, rosen, anemonen, tulpen und narzissen sich nicht grundsätzlich von den Blumengirlanden des madonnentypus unterscheiden, lässt sich der Blumenschmuck auch nicht mehr allein mit der reinheit der Jungfrau madonna oder der passion des kindes deuten. Vielmehr scheint es hier um wesentlich mehr

zu gehen als um den rahmenden schmuck einer legende. auch bilden die Blumen nicht mehr den einzigen rahmen, denn die kartusche selbst rahmt bereits ein Bild und lenkt auf diese weise den Blick auf das zentrale motiv. doch ist das historienbild wie ein relief monochrom dargestellt, ohne dass der Versuch gemacht wird, uns das Geschehen als präsentisches farbig zu vergegenwärtigen. indem die darstellung scheinbar in stein gemeisselt ist, wird ihr memorialer charakter betont, da ein relief in stein eine grössere dauer verspricht als ein farbiges Gemälde. im kontrast dazu stehen nun die vergänglichen Blumen mit ihren zarten und lebhaft farbigen Blüten, die dem Bild Farbe verleihen. die so lebensnah gemalten Blumen, die aus dem Bild herauszuspringen scheinen, stellen dabei ganz offensichtlich die Fähigkeit der malerei unter Beweis, leben zu simulieren und hier in Gestalt der Blüten auf wundersame art und weise zu vergegenwärtigen. insofern geht es hier nicht nur um den kontrast zwischen der opaken kartusche, dem relief aus stein und den Farben der Blüten, sondern auch um die reizvolle Gegenüberstellung von dauerhaften materialien und der Vergänglichkeit der Blüten und ihrer Farben. während das historienrelief ein lang zurückliegendes ereignis ins Gedächtnis ruft, dessen Farben schon verblichen sind, verleihen die Blüten dem Bild neue Farben. als kunst der Vergegenwärtigung und täuschung scheint die malerei hier deutlich über das von ihr eingerahmte relief zu triumphieren, doch bei genauerem hinsehen besitzt dieses wiederum eigenschaften, die die vergegenwärtigende Fähigkeit der malerei buchstäblich in

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abb. 6: daniel seghers und abraham van diepenbeck, kaiser leopold betet die madonna an, 1647, Öl auf kupfer, 155 × 127 cm, montpellier, musée Fabre.

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abb. 7: Gaspar pieter Verbruggen d. Ä. (zugeschrieben), Blumengeschmückte kartusche mit einer ansicht des kapitolsplatzes in rom, 2. hälfte 17. Jh., Öl auf leinwand, 97 × 75,7 cm, darmstadt, hessisches landesmuseum. BlumenstillleBen zwischen naturaBBild, metamalerei und antialBertianischem Bildkonzept

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den schatten stellen: die zwischen den Blüten eingefügten schmetterlinge deuten an, wie vergänglich die herrliche Blütenpracht ist, während das steinerne relief zwar nicht mit seinen Farben prunken kann, jedoch ein historisches ereignis auf dauer zu stellen weiss. diesen im Bild ausgeloteten Gegensatz zwischen der lebendigen, aber vergänglichen schönheit auf der einen und der dauer des Bildes in seiner mitte auf der anderen seite allein als reflexion über die Vanitas zu deuten wäre sicher zu kurz gegriffen. Vielmehr spielt das Bild mit den leistungen von malerei und skulptur, bringt die präsentische Vergegenwärtigung auf der einen und die dauer des Bildes auf der anderen seite in einen scharfen Gegensatz. dieser lässt sich nur insofern auflösen, als das im relief festgehaltene ereignis erst durch die Blumen sich wieder in die lebendige erinnerung einschreibt und in ihrer momenthaftigkeit Farbe und monochromie als sich gleichermassen bedingende Bestandteile ein und desselben Bildes erscheinen. nähe und Ferne gehen hier eine besondere Verbindung ein. das monochrome, nicht leicht entzifferbare relief im hintergrund wird durch das arrangement eines vergänglichen Blumenschmucks eindrucksvoll belebt, erhält hierdurch eine eigentümliche präsenz, ohne dass der historischen moment selbst als gegenwärtig fingiert worden wäre. Bekanntlich bildeten sich gerade die kartuschenstillleben zu einer besonderen Form des stilllebens in der nachfolge seghers’ heraus. [47] hierbei fällt auf, dass die zentralen motive einen immer grösseren Variantenreichtum erreichen. ein dem antwerpener 82

maler Gaspar pieter Verbruggen d. Ä. (1635–1681) zugeschriebenes kartuschenstillleben in der manier daniel seghers’ aus dem hessischen landesmuseum darmstadt (Abb. 7) spielt mit der Gegenüberstellung von blumengeschmückter kartusche und der monochromen Vedute des kapitolsplatzes. [48] auf den ersten Blick hat der maler im Vergleich zu seghers nur das historienrelief mit einer Vedute vertauscht, denn die art und weise, wie er die lebendige Blütenpracht dem dunklen stein der kartusche entgegensetzt, ist der segher’schen manier äusserst ähnlich. obgleich auch die Vedute des kapitolsplatzes nicht als farbiger Blick aus dem Fenster aufgefasst ist, sondern in der bräunlichen monochromie eher an ein chiaroscuro-Gemälde erinnert, entsteht doch ein perspektivischer sog, der die kartuschenmitte zu einem durchblick macht und damit den kontrast der Ferne der Vedute zur nähe der Blumen noch erhöht. dieser durchblick hat die Form eines oktogons, das von einem dunklen streifen nochmals gerahmt wird, sodass die kartusche als ein zweiter darübergesetzter rahmen erscheint. der gerahmte ausblick tritt nun notgedrungen in konkurrenz zur kartusche, deren Blumenschmuck aus dem Bild herauszuragen scheint, während der durchblick ein Bild hinter dem Bild vermuten lässt. damit treten hier zwei Bildkonzepte deutlich in konkurrenz: einerseits die auf Vergegenwärtigung zielenden Blumenarrangements, die auf täuschende weise eine präsenz suggerieren, die die Grenzen von Bild und Betrachter zu überschreiten scheint, und andererseits das in der tradition albertis stehende Bild als Fenster, das seine elisaBeth oy-marra

abb. 8: Jacob marrel, ansicht der stadt Frankfurt in einer blumengeschmückten kartusche, 1651, Öl auf kirschbaumholz, 104 × 82 cm, Frankfurt am main, historisches museum. BlumenstillleBen zwischen naturaBBild, metamalerei und antialBertianischem Bildkonzept

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wirklichkeit jenseits der Bildoberfläche entfaltet und das auge des Betrachters in eine andere, deutlich von seiner wirklichkeit unterschiedene welt entführt. anders als seghers’ kartusche in montpellier (Abb. 6) erscheint jene des darmstädter Bildes jedoch durch den ausblick im zentrum unwillkürlich als opulenter rahmen. Gerade weil Verbruggen d. Ä. mit einem Bild im Bild spielt, fällt die umkehrung der Verhältnisse zwischen dem fingierten rahmen und der Vedute besonders ins auge. die Vedute eines der bedeutendsten römischen plätze ist im massstab derart reduziert, dass sie sich gegenüber dem rahmen kaum zu behaupten weiss. demgegenüber haben die Blüten des Vordergrundes ihre reale Grösse behalten und erscheinen im Verhältnis zum massstab der Vedute nur umso grösser. auch Verbruggen spielt mit der Vedute als schemenhaftem Bild der erinnerung im Gegensatz zur präsentischen Blumenpracht des Vordergrundes, setzt jedoch nicht so sehr die lebendigkeit der Blumen dem harten, unvergänglichen stein gegenüber. Vielmehr markiert er die greifbare nähe der Bildoberfläche und stellt ihr eine nicht näher definierbare Ferne gegenüber, in der eine andere wirklichkeit schemenhaft sichtbar wird. dem maler geht es offenbar nicht mehr um die Gegenüberstellung von malerei und skulptur, Farbe und opazität, sondern um die Gegenüberstellung von zwei Bildkonzepten. in der hervorhebung der Blumenbouquets und des kartuschenrahmens betont er die nähe der Bildoberfläche gegenüber der unbestimmten Ferne eines tatsächlich weit entfernt liegenden römischen platzes. indem er mit dem rahmen die Grenze betont, 84

überschreitet er sie in die Ferne durch den ausblick, während gleichzeitig der opulente Blumenschmuck die Bildfläche betont und in den raum des Betrachters vorzudringen scheint. diese dialektische Bewegung von nähe und Ferne trieb Jacob marrel (1613–1681) in einem Gemälde aus dem Jahr 1651 (Abb. 8) förmlich auf die spitze, indem er die Vedute der stadt Frankfurt am main seines kartuschenstilllebens nicht monochrom, sondern farbig malte. [49] das Gemälde, das wahrscheinlich als werbebild für marrels Frankfurter werkstatt konzipiert worden war, steht zwar noch in der tradition des flämischen kartuschenstilllebens, doch behandelt der maler nun selbstbewusst beide Bildkonzepte des auf nähe angelegten stilllebens und der auf den durchblick angelegten Vedute gleichberechtigt. anders als bei seghers nimmt die kartusche nicht mehr den ganzen Bildraum ein. sie scheint vielmehr an einer nicht weiter bestimmbaren wand befestigt zu sein. Ferner fügt sich der Blumenschmuck in Form eines kranzes in den umriss der kartusche und überragt ihn nur ganz selten. obgleich auch hier der rahmen und sein Blumenschmuck einen grösseren massstab besitzen als die eigentliche, in einen von rollwerk gerahmten ausblick einbeschriebene Vedute, so behauptet diese sich doch deutlich und gewinnt eine Gleichrangigkeit zu ihrem rahmen aufgrund ihrer Farbigkeit und aufgrund des erhöhten Betrachterstandpunktes, der eine perspektivische sicht bis weit aus der stadt heraus glaubhaft macht. rahmen und Vedute stehen hier in einem vom Betrachter durchaus nachvollziehbaren Grössenverhältnis, elisaBeth oy-marra

denn der maler fasst die Vedute als eine art schlüssellochbild auf, wodurch sich die betonte nähe des rahmens wiederum rechtfertigt und nicht in widerstreit mit der gleichzeitigen Ferne der ansicht der stadt Frankfurt tritt. dieser maler hatte wohl tatsächlich im sinn, sich seinen kunden als stillleben- und landschaftsmaler zu präsentieren. ein reflektierter Versuch, der die beiden Bildkonzepte gegeneinandersetzen würde, ist hier jedoch nicht zu erkennen. die ausführungen haben also gezeigt, dass mit den Blumenstillleben von anfang an mehr als nur dekorative oder symbolische zwecke verbunden waren. Vielmehr entwickelte schon Jan Brueghel d. Ä. einen theoretischen anspruch, der die Blumenstillleben nicht nur gegenüber der historienmalerei behaupten sollte, sondern in auseinandersetzung mit der natur aufzuzeigen verstand, dass das Bild selbst mehr als eine summe von Blumenporträts darstellt. nicht das einfache ritrarre steht damit im mittelpunkt des interesses, sondern eine mimesis, die im sinne des imitare die wahre intention der natur zu erkennen versucht. tatsächlich entstand nicht nur in abgrenzung zur erzählenden, an literarische texte gebundenen malerei eine Gattung, die sich zudem von dem auf leon Battista alberti zurückzuführenden konzept vom Bild als einem Fenster distanzierte. ihr Fokus liegt stattdessen in der auf nähe angelegten darstellung, die die Flächigkeit des Bildes nicht im sinne eines Fensters zu transzendieren versucht, sondern sie im Gegenteil als einen Grund versteht, von dem aus ein raum in dem masse zum Betrachter hin eröffnet wird, in dem ihm die gemalten Blumen

geradezu entgegenzukommen scheinen. in den Blumenstillleben und kartuschenbildern in der tradition der madonna mit der Girlande wird dieses Bildkonzept dem des historienbildes und des Fensters kontrastreich entgegengesetzt. dabei geht es um eine dialektik von nähe und Ferne, bei der die gemalte Blütenpracht erst die in der Ferne dargestellten motive zu vergegenwärtigen versteht.

abbildungsnachweis Biblioteca ambrosiana, mailand: abb. 1, 3; Bequest of John ringling, collection of the John and mable ringling museum of art, a division of Florida state university, sarasota: abb. 4; © bpk – Bildagentur für kunst, kultur und Geschichte/rmn/ daniel arnaudet: abb. 5; musée Fabre, montpellier: abb. 6; hessisches landesmuseum darmstadt: abb. 7; historisches museum, Frankfurt, Foto: horst ziegenfusz: abb. 8.

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sprachfähigkeit und blossem zeigen mit dem in der kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zugespitzten Gegensatz von erzählen und Beschreiben interpretiert. Vgl. pichler (2006), s. 128–31. Vgl. alpers (1983), s. 81–83, ebert-schifferer (2002). zu Jan Brueghel d. Ä. vgl. ertz (1979). Vgl. Jones (1993), s. 64–95, Bedoni (1983). Federico Borromeo, Pro suis studiis, fols. 256r–8v, zit. n. Jones (1993), s. 83: »[t]he telescope [cannocchiale] […] deserves esteem, because it has allowed us to see much better half the world which we did not see [before]; indeed it has discovered for us new worlds […]. there are also those microscopes [occhiali piccoli] which help one to see minute things, but in such great size that it is a marvellous thing.« Vgl. auch Jones (1988), ebert-schifferer (1998), s. 21. Vgl. coppa (1970), Jones (1993), s. 76–84, besonders nr. 103, s. 80, nr. 71; rovetta (2006). zu den Briefen vgl. crivelli (1868). Vgl. hierzu Freedberg (1981), s. 130–31; vgl. auch heinz (1973) und prohaska (2002), s. 322. »i have begun and destined for your illustrous lordship a bunch of flowers that is found to be very beautiful, as much for their naturalness as also for the beauty of the various flowers, [of which] a few are unknown and little seen in this area; for that [reason] i have been to Brussels in order to depict from nature some flowers that are not found in antwerp […].« Brief von Jan Brueghel d. Ä. an Federico Borromeo vom 14. april 1606, zit. in crivelli (1868), s. 63, zit. n. Jones (1993), s. 82. welzel (2000), s. 549–51. Vgl. den Brief von Jan Brueghel d. Ä. vom 25. august 1606, zit. in crivelli (1868), s. 74–75, vgl. Jones (1993), s. 82. Vgl. Bryson (2003), s. 115.

elisaBeth oy-marra

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plinius (1997), 64; vgl. stoichita (1989), vor allem auch kliemann, der entgegen der ›idealistischen‹ interpretation die unterschiedliche rezeption der anekdote in der kunst der Frühen neuzeit betont: kliemann (2006), s. 207–29; vgl. auch mansfield (2007). Bryson (2003), s. 114–15. stoichita (1994), stoichita (1998), s. 97–109. Vgl. ertz et al. (2002), welzel (2000), s. 551; ein ähnliches, früher zu datierendes Gemälde ehemals in der sammlung harrach in wien von Frans Francken ii., Liebhaberkabinett mit Allegorie der Malerei, zeigt eine pictura-allegorie mit einer Fama beim malen eines Blumenstilllebens. Vgl. hierzu stoichita (1998), s. 105–106, abb. 51. david teniers, Theatrum Pictorium, Brüssel, 1660, hierzu vgl. Vegelin van claerbergen (2006–2007), abb. 24. Bryson (2003), s. 77. zur madonna mit der Blumengirlande vgl. heinz (1973), s. 1–30, Freedberg (1981), s. 115–50, Gregori (2001), Jones (1993), s. 84–87, stoichita (1998), s. 97–109, prohaska (2002), s. 320–55. Vgl. Jones (1993), s. 85, appendix iii. ebd., s. 124. Vgl. Brückner (1992), s. 149–86, Jones (1993), s. 85, abb. 47, ziegler (1996), s. 502–505. plinius (1997), 96/97, 125. ebd. Freedberg (1981), s. 139, und Gregori (2001), s. 225–26, haben darauf hingewiesen, dass Franz von sales sich in seinem Vorwort zu seinem traktat Introduction à la vie devote auf diese anekdote bezieht und sie auch mit den fruchtbaren werken des heiligen Geistes vergleicht; vgl. auch prohaska (2002), s. 323, anm. 18. Vgl. hierzu welzel (2000), s. 551–52, die die erhöhte stellung des pausias als den triumph der historienmalerei verstehen will. Vgl. etwa die Beschreibung des Gartens des Jesuitennoviziats am Quirinal von richeôme (1611), s. 492–99, indem er die Blumen mit den novizen vergleicht; zu richeôme vgl. Behrmann (2011).

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Vgl. tapié (2000); darüber hinaus stand der Blumenschmuck in der zeit in hohem kurs. den Berichten Giovan Battista Ferraris zufolge wurde in rom zudem jede Gelegenheit genutzt, päpstliche insignien zu bestimmten Festen mit Blumen zu schmücken, und es wurden ganze apparate mit überreichem Blumenschmuck versehen, sodass man glauben musste, sie seien gänzlich aus Blumen gemacht. Ferrari (2001), s. 407ff: »habbiamo ultimamente veduto con bello, e nuovo spettacolo una nave fatta in tal guisa di fiori, che non cedeva alla famosa nave argo: ne andava a rapier il vello d’oro, ma a portar ossequio più dell’oro pretioso, all’emmentissimo cardinale carlo pio« und s. 426: »un’altro bello, e gratioso spettaclo ha fatto più allegra ultimamente la medesima solennità degli apostoli, nella quale i fiori si sono mutati in api, a formar l’arme della famiglia Barberina.« Vgl. couvreur (1967), haberland (1996). zu Ferrari vgl. Freedberg (2002), s. 38–46, zusammenfassend: tongiorgi tomasi (2001). Vgl. couvreur (1967), s. 93–96. daniel seghers in zusammenarbeit mit domenichino, Öl auf leinwand, 134 × 110 cm, paris, louvre, inv. nr. 797. zu domenichino vgl. spear (1982). Vgl. negro (1997); allgemein hierzu vgl. oy-marra (2005), s. 73–81. das Gemälde wurde 1648 erzherzog leopold wilhelm anlässlich seines Besuchs im professhaus der Jesuiten in antwerpen als Geschenk überreicht, vgl. hierzu tapié (2000), s. 66. Vgl. kraemer-noble (2008). Vgl. Bott (1966), s. 84f., 90, 92 und 106, kat.-nr. 16, kraemer-noble (2008), s. 250. Vgl. kraemer-noble (2008), s. 248. anzumerken ist jedoch, dass das Bild Verbruggens sehr wahrscheinlich später als dasjenige marrels entstand und es sich hierbei also nicht um eine entwicklung handeln kann, sondern um eine ganz individuell bestimmte auseinandersetzung mit den beiden Bildkonzepten.

BlumenstillleBen zwischen naturaBBild, metamalerei und antialBertianischem Bildkonzept

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abb. 1: rembrandt harmensz. van rijn, die muschel, 1. zustand, 1650, radierung und kaltnadel, 9,7 × 12,9 cm, amsterdam, rijksmuseum, rijksprentenkabinet. abb. 2: rembrandt harmensz. van rijn, die muschel, 2. zustand, 1650, radierung und kaltnadel, 9,7 × 13,1 cm, amsterdam, rijksmuseum, rijksprentenkabinet.

Rembrandts Muschel – Nachahmung der Natur? Ein methodisches Lehrstück werner Busch

Der Gegenstand die traditionellerweise Muschel genannte Grafik ist signiert und datiert: »rembrandt f. 1650«. es existieren drei zustände. die technik besteht in radierung, kaltnadel und Grabstichel, die masse sind 97 × 131 mm. Vom ersten zustand finden sich fünf exemplare, vom zweiten elf in öffentlichen sammlungen (Abb. 1 und 2), der dritte existiert nur in einem abzug in amsterdam mit minimalen Änderungen, er ist im Folgenden zu vernachlässigen. [1] das Gehäuse der dargestellten schnecke wirft einen starken schatten nach links, das niedrige Gewinde verläuft falsch herum, nicht wie bei allen schnecken nach dem uhrzeigersinn. die siphonalrinne zur Basis verläuft also spiegelverkehrt. es handelt sich um conus marmoreus aus dem indopazifik, zur Familie der conidae gehörig. ihre Beschreibung lautet: zwischen fünf und zehn zentimeter Gehäusehöhe, schulterkante schwachknotig, flache oder leicht konkave rampe (sogenanntes analband), hell-dunkle Gitterzeichnung, dunkles Braun mit weissen, zumeist dreieckigen Flecken. [2] schatten und falsche richtung des Gewindes lassen den schluss zu, dass rembrandt, wie gelegentlich, die umkehrung durch den druckvorgang für die darstellung des Gegenständlichen nicht bedacht oder nicht für wichtig erachtet hat – im Gegensatz zu signatur und datierung, die im druck richtig erscheinen. [3] der erste zustand zeigt allein den schneckenkörper und den schatten. er fällt besonders im Gewindebereich sehr dunkel aus. die obere abschlusslinie remBrandts MUSCHEL – nachahmunG der natur?

des schneckenkörpers wirkt unvollendet, sie lässt lücken im umriss. die Forschung hat dies mehrfach bemerkt und hält die radierung von daher in diesem zustand für unvollendet. wozu allerdings zu sagen ist – newton hat es später bewiesen –, dass bei einer starken hell-dunkel-abfolge optisch das weiss wie aus dem Gegenstand herausspringend erscheint. rembrandt dürfte also eher eine optische erfahrung wiedergegeben haben. der zweite zustand bringt aufhellungen im Gewindebereich und an den aussenlippen des mündungsrandes. es findet eine stärkere räumliche einbindung statt, die allerdings letztlich unklar bleibt. die schnecke scheint fachartig gerahmt, die gesamte Fläche innerhalb des plattenrandes mit ausnahme eines anderthalb zentimeter breiten streifens am unteren rand, in dem sich auch signatur und datierung befinden, ist durch schraffuren bis zu tiefster Verschattung rechts hinter dem schneckenkörper strukturiert. wie wiederum oft bei rembrandt dient die nachbearbeitung der austarierung: die im ersten zustand empfundene Verlagerung nach links wird durch den dunklen schatten rechts aufgehoben. die schnecke leuchtet jetzt eher aus dem dunkel heraus. die sonderbaren längsstriche am linken rand, die man als holzrahmen lesen könnte, bewirken eine lektüre von links nach rechts in den raum hinein. sie verorten den zuvor ortlosen Gegenstand. der Fächercharakter entsteht durch die leichte Betonung einer Grundlinie, die in etwa auf höhe der siphonalrinne verläuft, was der darstellung weitere Festigkeit verleiht. der dritte zustand, offenbar nach 93

schneller abnutzung der platte entstanden, bringt geringfügige aufhellungen und Formpräzisierungen und besonders am Gewinde eine leichte zuspitzung. Funktion und Kontext der Grafik es ist nicht einfach zu sagen, welchem nutz und Frommen die Grafik gedient hat. die Forschung schlägt Verschiedenes vor: es soll hier in extenso vorgeführt werden, um das methodische problem deutlich werden zu lassen. denn die Fülle der Bedeutungsfacetten konnte offensichtlich nur deswegen an den Gegenstand herangetragen werden, weil er, semiotisch gesprochen, unterdeterminiert ist. so liefern die ausdeutungen Verständnismöglichkeiten, ohne eine definitive Bedeutung markieren zu können. es dürfte allein möglich sein, aus dem kulturgeschichtlichen kontext im abgleich mit dem erscheinungsbild der Grafik wahrscheinlichere oder weniger wahrscheinliche aspekte der sache namhaft zu machen. Wenzel Hollar als Anregung als Vorbild wird grundsätzlich eine 38 Blatt umfassende muschel- bzw. schneckenserie von wenzel hollar, ohne titel und signatur, dingfest gemacht, die aus den 1640er-Jahren stammen dürfte. die wiedergabe der Gehäuse bei hollar ist sehr präzise, allerdings werfen sie keinen schatten (Abb. 3). dagegen finden sich licht und schatten am Gehäusekörper selbst. [4] Ferner sollte man darauf hinweisen, dass 94

sich auf hollars zwölf Blatt umfassender serie Muscarum Scarabeorum zu Faltern, käfern und raupen (Abb. 4) von 1646 dem rembrandt’schen erstzustand entsprechende schatten finden,[5] die im Übrigen in der aquarellierten tradition zoologischer darstellungen von Georg hoefnagel (1542–1600) an durchaus üblich sind und von da auch für gedruckte naturwissenschaftliche illustrationen übernommen werden, so bei hoefnagel selbst, etwa in seinem werk Archetypa studiaque patris, Frankfurt 1592 (Abb. 5). [6] das argument, wegen des ausgeprägten schattens könne es sich bei rembrandt nicht um eine naturwissenschaftliche illustration handeln, greift also nicht wirklich. allerdings ist die tendenziell atmosphärische einbindung bei rembrandt schon im ersten zustand stärker als in der naturwissenschaftlichen illustrationstradition üblich. zudem ist die auch bei hollar zu konstatierende isolierung einer schnecke auf einem Blatt in dieser tradition zumindest ungewöhnlich. allerdings findet sich unter hollars Blättern conus marmoreus nicht, wenn auch andere schnecken der Familie der conacea, der kegelschnecken, wie conus imperialis (Abb. 6). [7] sie waren früh begehrt, wurden »ruhm des meeres«, aber auch wegen der hochgiftigen schnecken, die sie bewohnten, »Giftschlangen des meeres« genannt. [8] zu den besonders giftigen gehört auch conus marmoreus, ein stich kann für den menschen lebensgefährlich sein. in holland im 17. Jahrhundert wurde der conus marmoreus, wie ein aquarell von Bartholomeus assteyn durch die Beischrift deutlich macht, »herts horen«, hirschhorn, werner Busch

abb. 3: wenzel hollar, kreiselschnecke, 1644/1650, radierung, 9,4 × 14,3 cm, Berlin, kupferstichkabinett der staatlichen museen, preussischer kulturbesitz. abb. 4: wenzel hollar, schnecke und raupen, 1646, radierung, 8,0 × 11,7 cm, in: hollar, wenzel (1646), muscarum, scarabeorum vermiumque variae figurae et formae. antwerpen: schenk, abb. 4, Berlin, kupferstichkabinett der staatlichen museen, preussischer kulturbesitz. remBrandts MUSCHEL – nachahmunG der natur?

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abb. 5: Jacob hoefnagel, sub omni lapide dormitat scorpius, 1592, kupferstich, 15,3 × 21,2 cm, in: hoefnagel, Jacob (1592), archetypa studiaque patris G. hoefnagelii. Frankfurt: hoefnagel, teil ii, 7. abb. 6: wenzel hollar, conus imperialis, 1644/1650, radierung, 9,8 × 13,6 cm, amsterdam, rijksmuseum, rijksprentenkabinet. 96

werner Busch

genannt (Abb. 7). [9] Im Übrigen führt dieses aquarell einen dem Rembrandt’schen erstzustand nahe verwandten schatten konsequenterweise nach rechts. das blatt gehört zu einer serie von Illustrationen aus der sammlung Lugt, zwei schnecken mit schreibmeisterlich vorgetragener benennung finden sich übereinander, gelegentlich aber auch einzeldarstellungen, wie die wundervolle Wiedergabe einer am Faden hängenden »gefleckten platten Krabbe«, wie sie genannt wird und bei der es sich wohl um eine der Vasenschneckenspecies handeln dürfte. [10] trotz ihres hängens wirft sie einen schwachen schatten auf das Papier, das so zur Wand wird (Abb. 8). so ist die grenze zwischen rein naturwissenschaftlicher Illustration und bildhafter Präsentation nicht leicht zu ziehen. In den augen des sammlers vermischen sich ohnedies das bedürfnis nach Klassifizierung und dasjenige nach ästhetischem genuss. Grafik und Schnecke als Sammelgegenstand Rembrandts zweiter Zustand löst die darstellung endgültig aus der naturwissenschaftlichen tradition und macht sie zu einem eigenständigen Kunstwerk. doch was rechtfertigt nun den gegenstand? und: Welche Konnotationen verbinden sich ihm? die Forschung bietet vieles in nuancen an: die grafik wird als grafik zum sammlerstück. Rembrandt führt oft bewusst rar gemachte verschiedene Zustände einzelner grafiken auf unterschiedlichen Papieren gedruckt im angebot, so gut wie jeder abzug fällt minimal anders aus, da er auch mit Wischungen auf dem RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

Plattengrund arbeitet. conus marmoreus selbst war gesuchter sammelgegenstand, nicht wirklich selten, dafür tauchte er auf zu vielen gemälden auf, aber doch wertvoll. schliesslich kam er aus dem Indopazifik und fand seinen Platz von daher in Kunstkammern und Kunstkammerbildern (Abb. 9). Gottes Schöpferreichtum der gegenstand galt als exotisch, weckte curiositas, war bestandteil so gut wie aller Kunstkammerdarstellungen. er vertrat hier die naturalia im gegensatz zu den artificialia und war exempel des mikrokosmos, so wie die Kunstkammer selbst einen mikrokosmos im Rahmen des makrokosmos verkörpert. da schnecken zudem schon früh als Verkörperungen absoluter göttlicher Proportionalität erkannt wurden – nautilusschnecken etwa galten als nach den Verhältnissen des goldenen schnitts, der divina proporzione, gegliedert –, konnten sie in analogie zum göttlichen Weltenbau gesehen werden. [11] Ihre schier unendliche Form- und Farbvarianz, andererseits die möglichkeit, sie zu Familien zu ordnen, wobei Verwandtschaftsbeziehungen über tausende von Kilometern hinweg unabweisbar schienen, ferner die verblüffende Präzision hochkomplexer muster – all dies liess sie geradezu zum gottesbeweis werden. Holländischer Reichtum der besitz von conus marmoreus war auch ausdruck von individuellem Reichtum, aber vor allem ausdruck 97

abb. 7: bartholomeus assteyn, herts horen, mitte 17. Jh., schwarze Kreide und aquarell, 31,4 × 20,3 cm, Paris, Fondation custodia, collection Frits Lugt. 98

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abb. 8: bartholomeus assteyn, Platte Krabbe, mitte 17. Jh., gouache, 31,2 × 20,2 cm, Paris, Fondation custodia, collection Frits Lugt. RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

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abb. 9: Frans Francken II, Kunstkammer, nach 1636, Öl auf holz, 74 × 78 cm, Wien, Kunsthistorisches museum. 100

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des stolzes auf die holländische beherrschung des meeres, den holländischen handelsreichtum, beispielhaft verkörpert in der Ostindischen Kompanie. In amsterdam wurde ein schwunghafter handel mit exotischen muscheln und schnecken getrieben. die »nutzlosigkeit« der schalen und gehäuse prädestinierte sie nicht nur als ästhetische Objekte. sie waren schöner schein und Zeichen von Überfluss zugleich. nicht nur darum erscheinen sie auf Kunstkammerbildern häufig in begleitung von antiken münzen, die nicht mehr Währung bildeten, sondern ebenfalls sammelgegenstand geworden waren. die demonstration von Überfluss ist in einer calvinistischen gesellschaft nicht unproblematisch. Insofern lässt sich auch hier sagen, die muscheln und schnecken können sich nicht in ihrer Funktion, besitz vorzuführen, erschöpfen. es gilt, den Reichtum sub specie aeternitatis zu sehen, den sammelobjekten ein dialektisches Verständnis einzuschreiben, ihren besitz als irdisches und vergängliches geschenk zu begreifen. Naturwissenschaftliche Dimension selbst wenn das erscheinungsbild des zweiten Zustandes von Rembrandts grafik ausschliesst, dass es sich bei seinem blatt um eine naturwissenschaftliche Illustration handelt, so ist die darstellung doch naturwissenschaftlich ziemlich genau und konnte im naturwissenschaftlichen diskurs verschiedenen argumenten dienen, etwa der theologisch äusserst brisanten Frage nach dem alter der erde. schliesslich fand man muscheln und schnecken auf den RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

gipfeln der berge in versteinerter Form. War dies das ergebnis der sintflut und in ihrem gefolge bewirkter auffaltungen, konnte es, folgte man den Funden und geologischen strukturen, nur eine sintflut, nur eine auffaltung gegeben haben, oder mussten nicht mehrere angenommen werden, und vor allem in weit vergangenen, im grunde genommen vorbiblischen Zeiten? [12] selbst wenn die muscheln und schnecken erst im 18. Jahrhundert, vor allem durch carl von Linné, in eine verbindliche Ordnung gebracht wurden, typenverwandtschaften über weite strecken hinweg wurden selbstverständlich, wie fehlerbehaftet auch immer, schon vorher erkannt. In michele mercatis Metallotheca Vaticana ist die gesamte naturkundliche sammlung des Vatikan dokumentiert, die von anton eisenhoit in der zweiten hälfte des 16. Jahrhunderts gestochen, jedoch erst anfang des 18. Jahrhunderts publiziert wurde (Abb. 10). dort findet sich etwa die gattung der Purpurschnecken, von Plinius bis Linné »murex« genannt. sie gehören zu den stachelschnecken, selbst wenn sie hier auch mit den Walzenschnecken vermischt werden, und produzieren Purpur zum Färben der gewänder, was ihre berühmtheit erklärt. auch eisenhoit reproduziert sie seitenverkehrt – womit noch einmal ein argument für Rembrandts naturwissenschaftliche ungenauigkeit entfällt. [13] Vanitas Wie selbstverständlich wurde immerhin noch in den 1980er-Jahren Rembrandts muscheldarstellung 101

abb. 10: anton eisenhoit, Porphyroides, ende 16. Jh., Kupferstich, in: mercati, michele (1717–1719), metallotheca Vaticana. Rom: salvioni, s. 299. 102

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eine definitive Vanitas-dimension beigemessen. [14] danach wurde sie ziemlich regelmässig als eine denkbare oder wahrscheinliche bedeutungsebene begriffen, etwa im berliner Rembrandt-Katalog von 1991,[15] schon Pennington hatte im Wenzel-hollarWerkverzeichnis 1982 auf die Leblosigkeit und Zerbrechlichkeit der muscheln hingewiesen und damit auf ihre Vergänglichkeit. [16] und in der tat, in Vanitas-stillleben tauchen nicht selten muscheln bzw. schnecken auf. allerdings sollte man genau hinsehen, es findet sich eine art standardkombination von einem totenkopf mit einer grossen schnecke, die zu den turbinidae, den Kreisel- oder turbanschnecken, gehört (Abb. 11 und 12). [17] diese schnecken können bis zu 20 Zentimeter gross werden. sie sind dadurch ausgezeichnet, dass sie ein perlmutternes Inneres haben und durch abschleifen auch äusserlich glänzend perlmuttern erscheinen können, wie auch die nautilusschnecke, die ja an sich von aussen grossstreifig rötlich-braun verziert ist, doch für die nautiluspokale fast immer abgeschliffen genutzt wurde, um mehr glanz zu verbreiten und zur edelmetallfassung, zumeist silber, zu passen. Zentral wird sie etwa auf goltzius’ Pictura-allegorie zur anschauung gebracht (Abb. 13).[18] doch die turbanschnecke ist noch durch eine andere besonderheit geprägt. sie hat eine sehr grosse, schlundartige mündung (Abb. 14), die zu bestimmten Jahreszeiten mit einem Kalkdeckel verschlossen wird, die schönste art bildet ihn als buntes, stark blaugrün leuchtendes sogenanntes Katzenauge aus. dieser typus, der sich besonders auf den Philippinen findet, RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

wird bis zu acht Zentimeter gross. In den Vanitasstillleben tauchen die turbanschnecken grundsätzlich ohne deckel auf, und grundsätzlich schauen wir tief in den schlund, manchmal bis ins dunkle. In der Kombination mit dem totenkopf, seinen augenhöhlen, dem nicht selten fehlenden unterkiefer, sodass man häufig schräg von unten in die leere mundhöhle schaut – etwa auf bildern von Jan davidsz. de heem, adriaen van nieulandt oder harmen van steenwyck –, erscheint auch die turbanschnecke als vom Leben verlassenes gehäuse, in dem die Leere und der tod gähnen. [19] Zum anderen bestehen muscheln und schnecken primär aus Kalk. nicht selten finden sich exemplare mit deutlichem abrieb, das muster droht zu verschwinden. bei conus marmoreus ist das häufig an der schulterkante und der siphonalrinne der Fall – so kommt unter dem glanz das blosse material zum Vorschein und damit die Vergänglichkeit. Die emblematische Dimension der Muscheln und Schnecken auf Kunstkammerbildern und auf Pictura-Allegorien Wir wissen seit Langem, dass die dinge in der emblematik in bono und in malo gedacht werden können. In den beschreibungen einer zeitgenössischen Kunstkammer wird das betrachten der conchylien als vergnüglich und ergötzlich verstanden, sie galten als Zeichen von gottes wunderbarer naturschöpfung. [20] In Roemer Visschers sinnepoppen dagegen, in amsterdam 1614 zuerst erschienen, wird das modische muschelsammeln als geradezu 103

abb. 11: harmen van steenwijck, Vanitas, 1640, Öl auf holz, 39,2 × 50,7 cm, London, the national gallery. abb. 12: adriaen van nieulandt, Vanitas, 1636, Öl auf Leinwand, 39,5 × 36 cm, haarlem, Frans hals museum.

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abb. 13: hendrik goltzius, Pictura-allegorie, 1610, Öl auf holz, 67 × 79 cm, Privatsammlung. abb. 14: Jan davidsz. de heem, Vanitas, mitte 17. Jh., Öl auf Leinwand, 46 × 56,5 cm, Privatsammlung.

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abb. 15: Jacques Linard, stillleben mit muscheln und Korallen, um 1640, Öl auf Kupfer, 47 × 64 cm, Paris, Fondation custodia, collection Frits Lugt. 106

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widerwärtig empfunden, nur ein narr könne dafür sein geld hergeben. [21] aber die schnecken und muscheln können auch erkenntnismedium sein, sie können aus dem Kunst- und Wunderkammernzusammenhang, in dem sie Zeugnis von gottes grösse, aber auch von des sammlers göttlicher ebenbildlichkeit ablegen, herausgelöst und zu reinen muschelstillleben werden, und dort demonstrieren sie primär die artenvielfalt, so vor allem bei balthasar van der ast und Jacques Linard (Abb. 15). auch Rembrandt hat muscheln gesammelt, wie sein Insolvenzinventar von 1656 bezeugt: er besass »a groote quantiteit hoorens [en] seegewassen«,[22] das hat man übersetzt mit »muscheln und meerbewohnern«. man sollte es besser wörtlich übersetzen: muscheln bzw. schnecken und seegewächse. Für Rembrandt waren sie wohl nicht nur »studio-props«, sondern teil eines eher enzyklopädischen, letztlich patrizischen anspruchs. aber auch dieser konnte in den patrizischen Kunst- und Wunderkammern, wie sie Rubens und Jan brueghel d. Ä. in ihren gemeinsamen bildern, wie sie Frans Francken II. oder Willem van haecht in ihren idealen galeriebildern festgehalten haben, doppelt konnotiert sein, worauf besonders Justus müller-hofstede und ihn ergänzend ekkehard mai aufmerksam gemacht haben. müller-hofstede liest vor allem aufgrund des nicht zu leugnenden gegenreformatorischen Zusammenhangs die bilder von Frans Francken II. und von Rubens und brueghel in bezug auf die conchylien letztlich in malo. der erkenntnisgewinn, den ihre betrachtung verspricht, ist relativ, kein selbstwert, 108

erst die betrachtung sub specie aeternitatis, erst ein erkenntnisstreben, das auf das heil gerichtet ist, vermag auch der naturerkenntnis ihren Ort zu geben. und so liest er die bildergalerien – nicht immer ganz schlüssig – von unten nach oben, von niederer zu höherer erkenntnis, gespiegelt in den themen der bilder. der niederen sphäre sind dann auch eher die conchylien zugeordnet. [23] das mag eine tendenz der bilder sein, doch die eher gegenteilige Konnotation lässt sich auch nicht leugnen. Insbesondere die galerie- bzw. Kunstkammerbilder, die ausdrücklich eine Pictura-allegorie darstellen, würdigen auch die conchylien in doppelter hinsicht; denn nicht immer ist es so, dass die zentralen bilder im bilde dem christlichen Überbau dienen. In Frans Franckens Pictura-allegorie (Abb. 16) von 1636 ist das hauptbild über dem zentralen buffet den gelehrten auf dem Parnass gewidmet, ihr Ruhm wird verkündet, die götter residieren über ihnen. die Wissenschaften als Freie Künste vertreiben die lasterhafte Ignoranz, sie wird ins Reich der Finsternis zurückgetrieben. unmittelbar vor dem gemälde, auf der anrichte, genau in der breite des gemäldes sind conchylien »angerichtet«, als wären sie besonders geeignetes erkenntnismedium der gelehrten im bilde. [24] und zum anderen dürfte das alte Winner’sche argument greifen, der in allen galeriebildern mehr oder weniger verkappte Picturaallegorien sieht. [25] gegenreformation hin, gegenreformation her, hier werden offenbar auch die malerei und ihre Fähigkeit, alles überzeugend darstellen zu können, gefeiert. der malerei als ars gebührt WeRneR busch

schöpferrang, da sie in der Lage ist, auch die naturalia im bilde zu verewigen – was ihr, die rhetorische dichotomie oder dialektik wird man schlicht hinnehmen müssen, in diesem oder jenem Kunstkammerlob gerade bestritten wurde. selbst die grössten Künstler könnten es, so heisst es dort, nicht mit der Farbenpracht der göttlichen naturgebilde aufnehmen. [26] und so ist es wohl auch mit der grossen Fliege auf dem buch im Vordergrund von Franckens galeriebild, auf dem sich sein bildnis, seine signatur und sein motto befinden. Weniger die in der Literatur bemühte emblematische Fliege der gänzlichen Ignoranz, wie sie in sambucus’ emblemata 1566 beschrieben ist, dürfte gemeint sein,[27] sondern schlicht ein trompe-l’Œil in Plinius’scher tradition. man möchte sie wegscheuchen, so »echt« soll sie erscheinen, eben darum ist sie allerdings auch grösser wiedergegeben als der Realität des bildes angemessen. sie soll vermeintlich unserer sphäre angehören und von der besonderen Kunstfertigkeit des Künstlers Zeugnis ablegen. sie, die Fliege, hat das bild nicht als bild erkannt, eine erkenntnis, zu der wir im Zuge der betrachtung dagegen gelangen sollen. das motiv von täuschung und enttäuschung zugleich ist aufgerufen. [28] Die Muschel im Meer und im Paradies auch Rembrandts sogenannte Muschel ist als nachweis besonderer Kunstkompetenz zu lesen, schon dadurch, dass der Künstler in offensichtliche Kunstkonkurrenz zu Wenzel hollar tritt: das bloss RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

naturrichtige wird bildhaft nobilitiert. nun hat Rembrandt noch einmal eine muschel dargestellt, und zwar an überraschender stelle: im Vordergrund seines hundertguldenblattes, von dem gemeinhin angenommen wird, dass es 1649, also im Jahr vor der Fertigung von conus marmoreus, vollendet war (Abb. 17). die muschel liegt hier scheinbar ohne jeden sinnvollen Zusammenhang im Vordergrund, begleitet allein links von einem abgebrochenen Zweig. auf den ersten blick macht das im Zusammenhang von matthäus 19, dem die szene verpflichtet ist, keinen sinn. Rembrandt rekurriert bekanntlich auf das gesamte biblische Kapitel: das dort sukzessiv geschilderte wird hier simultan zur anschauung gebracht. [29] doch vielleicht ist ein etwas weit hergeholter gedanke erlaubt. muschel und Zweig liegen am Rand eines schwer auszumachenden, aber doch beinahe die ganze bildbreite durchmessenden erdspaltes, den man vielleicht als ein ausgetrocknetes bachbett lesen kann oder auch als vertrocknete Quelle. so wie sich der strom der hilfesuchenden zu christus ergiesst, so könnte die vertrocknete Quelle auf die zweifelnden Pharisäer und schriftgelehrten verweisen. Zu diesem gedanken kann eine ganz andere darstellung führen: hugo van der goes’ sündenfall (Abb. 18) aus dem Wiener diptychon. [30] dort nämlich, rechts im Vordergrund neben der schlange der Versuchung, ist ein schmaler bach zu sehen, offenbar die Quelle des Paradiesesstromes, und in ihm liegen nahe dem vorderen bildrand muschel und Zweig im Wasser, der Zweig ist hier eindeutig eine Koralle. die muschel bei hugo van der goes im 109

abb. 16: Frans Francken II, allegorie der Pictura, 1636, Öl auf holz, 92 × 123 cm, Privatsammlung, ehem. Johnny Van haeften Ltd. London. 110

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abb. 17: Rembrandt harmensz. van Rijn, hundertguldenblatt, 1. Zustand, um 1648, Radierung und Kaltnadel, 27,8 × 38,8 cm, amsterdam, Rijksmuseum, Rijksprentenkabinet. RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

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abb. 18: hugo van der goes, sündenfall (vom Wiener diptychon), 1477, Öl auf holz, 32,3 × 21,9 cm, Wien, Kunsthistorisches museum. 112

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Übrigen ist ein meerohr, in dieser grösse als sogenanntes grünes meerohr mit einer Kette auch hier sichtbarer atemlöcher eigentlich nur an der kalifornischen Küste zu finden, in etwas kleinerer Form jedoch auch im Indischen Ozean oder im Pazifik. [31] so wird man sagen müssen, schon im 15. Jahrhundert sind Künstler in der Lage, exotische Funde naturkundlich richtig darzustellen. Ihre ungewöhnliche erscheinung jedoch soll offensichtlich darauf verweisen, dass sich in ihrem Zitat tieferer sinn verbirgt. muschel und Koralle in ihrer Kombination machen in der nachfolgenden ikonografischen tradition den Inbegriff der meeresschätze aus. auf Jacopo Zucchis dem Reichtum des meeres gewidmetem bild in der galleria borghese hebt im Zentrum die Königin des meeres, amphitrite, mit der Rechten eine perlenbesetzte muschel hoch, mit der Linken ein sechsstrahliges Korallenbäumchen (Abb. 19). [32] In den Kunst- und Wunderkammerbildern, auch in erdteildarstellungen oder in »neptun und amphitrite«-bildern tauchen muscheln und Korallen regelmässig zusammen auf. und um die bedeutung des motivs zu betonen, wird anstelle einzelner Perlen häufig eine ganze Perlenkette dazugelegt, die etwa bei Frans Francken II. von nereiden zusammen mit muscheln und Korallen dargeboten wird. In Jan van Kessels amerika- und afrikadarstellungen (Abb. 20) finden sie sich entsprechend auf dem boden ausgebreitet. [33] muschelperlen und Korallen sind emblematisch vielfach, vor allem mariologisch und moralisch, aufgeladen. die Koralle, so will es die emblematik in verschiedenen Varianten, ist, direkt aus dem Wasser geholt, zuerst weich, RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

wässrig und unscheinbar, doch an der Luft wird sie hart, gewinnt Farbe und wird schön. In saavedras emblembuch steht sie folgerichtig unter dem motto »Robur et decus«, »Kraft und schönheit«. [34] sehr viel weiter hilft diese ausdeutung in unserem Zusammenhang allerdings nicht. Offenbar ist unter anderem die alte Reflexion über Innen und aussen gemeint, wobei mal das eine, mal das andere positiv respektive negativ gesehen werden kann. da der Reichtum der meere nicht selten auch mit mineralogischem gekoppelt wird – das eine entstammt den meerestiefen, das andere der tiefe der erde, in barocken grotten gewinnt ihre synthese ihre anschaulichste gestalt –, handelt es sich wohl um die betonung von gottes schöpfung in ihrer elementaren Form. [35] Schaulust es wären noch weitere dimensionen zu benennen. so ist etwa von der bedeutung der Form vor allem der schnecken noch nicht die Rede gewesen. Ihre spiralform kann als Wachstumssymbol, auch als Weltenordnungsanalogie verstanden werden, die muschel kann mit Venus, aber auch der taufe zusammengebracht werden. Piero Valeriano lässt die schnecke dem Weltlichen verfallen sein, Filippo buonanni nennt eine erste reine conchyliologie 1689 Ricreatione dell’occhio e della Mente nell’Osservatione delle chiocciole und lässt auf dem titelblatt eine melancholische Frau am ufer über einer muschel mit Perle reflektieren, auf dem meere herrscht neptun (Abb. 21). [36] Obwohl der herausgeber Jesuit ist, geht 113

abb. 19: Jacopo Zucchi, Korallenfischer, 1585, Öl auf Kupfer, 55 × 45 cm, Rom, galleria borghese. 114

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abb. 20: Jan van Kessel, afrika (ausschnitt aus: die vier erdteile), 1664–1666, Öl auf Kupfer, 48,6 × 67,8 cm (mitteltafel), münchen, bayerische staatsgemäldesammlungen, alte Pinakothek. RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

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abb. 21: Kupferstich, titelblatt von buonanni, Filippo (1681), Ricreatione dell’Occhio e della mente nell’ Osserveration’ delle chiocciole. Rom: Varese, teil 4. 116

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es ihm primär um Vergnügen und beobachtung, wie auch die zunehmend entstehenden reinen muschelstillleben deutlich machen, auf die sich etwa balthasar van der ast (1590–1657) spezialisiert hat. Offenbar bricht sich hier die Vorstellung von der Legitimität der neuzeit bahn, in der die neugierde ein Wert an sich ist und nicht mehr als Versuchung und herausforderung des göttlichen verstanden wird.

Gleichberechtigung der Diskurse? Was lässt sich aus all dem angeführten schliessen? eine bestätigung der diskurstheorie, dass die verschiedensten Lektüren sinn machen, keine die deutungshoheit beanspruchen kann, eine hierarchie der sinnschichten nicht möglich, der gegenstand per se polyvalent ist, er zudem in seiner Isolierung semiotisch unterdeterminiert ist, ohnedies keine klare benennung zulässt? Jede nachahmung ist Repräsentation, insofern ist sie durch einen vielfach bedingten Filter gegangen. blosse naturnachahmung als selbstzweck gibt dem dargestellten gegenstand noch keinen Kunstwert. erst die aufladung mit verweisendem sinn, zumeist verbunden mit der Idealisierung der Form, stiftet dem gegenstand Kunstcharakter. so wird man nur festhalten können: die grafik war sammlerstück, legte Zeugnis von der Kunstfertigkeit ihres entwerfers ab, der gegenstand konnte aus den verschiedensten blickwinkeln mit einem zeitgenössischen Interesse rechnen; er war exotisch genug, um kennerschaftliches distinktionsstreben RembRandts Muschel – nachahmung deR natuR?

und -vergnügen auszulösen, die Konzentration auf ihn allein, allerdings in seiner atmosphärischen erscheinung, erlöste ihn aus definitiven Verfügungszusammenhängen, seien sie religiös, naturwissenschaftlich, kulturgeschichtlich oder ökonomisch. Was blieb, war das bedürfnis, ihn zu betrachten, ja, wohl auch, ihn zu berühren, in die hand zu nehmen, ihn hin- und herzuwenden, vielleicht auch ihn zu besitzen. doch da es sich nur um eine grafik handelt, bleibt es beim betrachten, das nun allerdings unsere bedürfnisse als bedürfnisse bewusst macht, aber damit auch unser sehen. gerade das dunkel, in das die schnecke getaucht ist, suchen wir zu durchdringen, ohne zu wissen, was dahinter ist, doch darüber grübeln sollen wir schon – in diese oder jene der angeführten Richtungen. Kunstgeschichte tendiert dazu, dem dargestellten entweder definitiven sinn beizumessen oder in das gegenteil zu verfallen und es für gänzlich sinnoffen zu erklären. damit würde es eine tendenz zu reiner sinnfreiheit aufweisen. die Lösung pflegt dann zu sein, in ihm allein eine demonstration seines Kunstcharakters zu sehen, als selbstthematisierung der Kunst. Rembrandts Muschel könnte uns lehren, dass das eine wie das andere monokausal argumentiert. Kunstwerke haben ihren Kunstcharakter, aber auch ihren historischen Ort, sie bedingen einander.

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abbildungsnachweis Rijksmuseum, amsterdam, Rijksprentenkabinet: abb. 1, 2, 6, 17; © bpk – bildagentur für Kunst, Kultur und geschichte/ Kupferstichkabinett, staatliche museen zu berlin/Volker h. schneider: abb. 3, 4; © bpk – bildagentur für Kunst, Kultur und geschichte/scala: abb. 19; © bpk – bildagentur für Kunst, Kultur und geschichte/bayerische staatsgemäldesammlungen: abb. 20; herzog august bibliothek Wolfenbüttel: abb. 5; Fondation custodia, collection Frits Lugt, Paris: abb. 7, 8, 15; Kunsthistorisches museum, Wien: abb. 9, 18; eth Zürich, sammlung alte drucke: abb. 10; © the national gallery, London: abb. 11; Frans hals museum, haarlem: abb. 12; Rijksbureau voor Kunsthistorische documentatie RKd: abb. 13, 14; Zentralbibliothek Zürich: abb. 21.

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Vgl. barten (1985), s. 110–13, abb. 70, s. 112. ebd., s. 202. Vgl. bevers (1991), Kat. nr. 29 der Radierungen, s. 248–50. Vgl. Pennington (1982), s. 337, vgl. auch bergström (1956), s. 154–56. Vgl. Lindner (1975), s. 41f. und 124, taf. 7. Zu holländischen muschelsammlungen vgl. coomans (1992), s. 192–203; zur Perlmuttvorliebe der holländer vgl. van seters (1958), s. 173–238, coomans et al. (1989); zu goltzius’ allegorie vgl. barten (1985), s. 121. Vgl. barten (1985), s. 202–206, Kat. nr. 116, abb. s. 204, van nieulandt (1970), Kat. nr. 19; zu harmen van steenwyck vgl. mauriès (1994), abb. s. 31, van nieulandt (1970), Kat. nr. 29. Philibert van borsselen, strande oft ghedichte van de schelpen, kinckhornen, ende andere wonderlicke Zee-schepselen. amsterdam 1614, zit. nach scheller (1969), s. 120. Visscher (1614), teil 1, s. 5, emblem 4; vgl. dazu auch hollstein et al. (1991), nr. 431, chong et al. (1999), s. 18, fig. 10; für das emblem mit dem motto »tis misselijck waer een geck zijn gelt aen leijt« (»es ist sonderbar, wie ein narr sein geld spendet«) fertigte claes Jansz. Visscher die Illustration an; vgl. dazu auch bergström (1956), s. 156f. strauss et al. (1979), doc. 1656/12, nr. 179. Vgl. müller hofstede (1984), s. 250f.; vgl. auch s. 255–59, 266–68 und 279, anm. 55 und 56. sowohl in Rubens’ und Jan brueghels d. Ä. Allegorie des Gesichts wie im zugehörigen bild Gesicht und Geruch werden die muscheln mit bezug auf Roemer Visscher in malo gedeutet. Vgl. mai (1992), s. 48–50. Vgl. mai et al. (1992), s. 371f., Kat. nr. 52.1. Vgl. Winner (1957). Vgl. van borsselen (wie anm. 20); dazu scheller (1969), s. 120.

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so ekkehard mai, vgl. mai et al. (1992), s. 372. Zu den begriffen vgl. etwa Flemming (1998), s. 74–101. Vgl. bevers (1991), s. 242–45, Kat. nr. 27 der Radierungen, hinterding et al. (2000), s. 253–58, Kat. nr. 61. Vgl. zum Wiener diptychon sander (1992), s. 44–90. die folgende beobachtung scheint der Forschung nicht aufgefallen zu sein. Vgl. Lindner (1975), s. 30f., 35 und taf. 1, s. 112, nr. 1, 1 a. abb. in mauriès (1994), s. 27. mai et al. (1992), Kat. 35.2, abb. s. 325, schneider (1989), Kap. 12, s. 157–70, detailabb. von »amerika« s. 166, von »afrika« s. 167. henkel et al. (1996), sp. 361–63. Vgl. miller (1974), mauriès (1994), s. 50–73. mauriès (1994), abb. s. 29.

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abb. 1: niccolo gualtieri, die logarithmische spirale der nautilusschnecke, Kupferstich, in: gualtieri, niccolo (1742), testarum conchyliorum, quae adservantur in museo nicolai gualtieri. Florenz: caietani albizzini, taf. XVIII, abb. 4.

Die Muschel als symbolische Form, oder: Wie Rembrandts Conus marmoreus nach Oxford kam Karin Leonhard »Demgemäß hat alles, was Form besitzt, eine Muschel-Ontogenese. Die erste leistung des lebens besteht darin, Muscheln zu bilden.« (Gaston Bachelard)

I. »der muschel entspricht ein so sauberer, so sicherer, so harter begriff«, beginnt ein berühmtes Kapitel in bachelards Poetik des Raumes (1957), »dass der dichter, der von ihr sprechen muss, anstatt sie einfach nur zu zeichnen, sich zunächst in bildernot befindet. In seinem Fluge zu den traumwerten wird er durch die geometrische Realität der Formen aufgehalten. und die Formen sind so zahlreich, oft so neu, dass die einbildungskraft bei nüchterner Prüfung der Welt der Konchylien durch die Wirklichkeit mattgesetzt wird. es genügt, ein album mit ammoniten durchzusehen, um zu erkennen, dass die Weichtiere ihre muscheln seit der zweiten erdgeschichtlichen Periode nach der Lehre der transzendentalen geometrie gebaut haben. die ammoniten formten ihr haus gemäß der achse einer logarithmischen spirale« [1] (Abb. 1). entsprechend gerät die logarithmische spiralform im 17. Jahrhundert zu einer symbolischen Form, man denke nur an sir christopher Wrens entdeckung der logarithmischen spirale in der architektur eines schneckenhauses, wie sie uns in John Wallis’ Tractatus duo, de cycloide, Oxford 1659, überliefert wurde. »Wallis berichtet nämlich, nachdem er diese Kurve sehr sorgfältig und klar definiert und beschrieben hatte, dass Wren das spiralige gehäuse nicht nur als eine art Kegel oder um eine senkrechte achse gedrehte Pyramide betrachtete, sondern auch die abhängigkeit der schalenform von der größe des Winkels der spirale erkannte.« [2] neben descartes, Wallis, Wren und bernoulli, der sich als

auferstehungssymbol eine logarithmische spirale auf seinen grabstein meisseln liess, gab es weitere mathematische beschäftigungen mit der spira mirabilis bei John collins (1675), Pascal, torricelli und nicolas (1693), halley (1696), huygens und newton (1687) sowie guido grandi (1701). [3] die Faszination des muschelgehäuses lag für barocke betrachter also sicherlich zum einen in der gleichmässigen ungleichmässigkeit der ausbreitung seiner logarithmischen Form. darüber hinaus aber war es die gerichtetheit (chiralität) der spiraldrehung selbst, die als Rätsel biologischen Lebens das ganze 17. Jahrhundert über diskutiert wurde. In dieser Zeit entwickelte sich die definition solcher bewegungsrichtungen zum Problem. mit ihm verwandt ist ein anderes Problem und eine andere barocke diskussion um das Verhältnis von Räumlichkeit und temporalität: die noch junge Kategorie Raum wird dynamisiert, ihr wird ein Zeitpfeil eingepflanzt. das mechanische Weltenuhrwerk wird aufgezogen, nimmt seinen Lauf und entfaltet Weltgeschichte. Warum in diesem Zusammenhang ausgerechnet die muschelschnecke symbolträchtig wurde, soll im Zentrum meines beitrags stehen. [4] Zwischen der geometrisch stringenten morphologie und der eigensinnigen drehung der muschelschnecke jedenfalls herrscht eine grundsätzliche logische spannung – als geometrische Figur ist die spirale jederzeit umkehrbar, biologisch dagegen irreversibel. noch einmal mit bachelard gesprochen: »das fertige ding hat einen hohen grad von Verständlichkeit. Was geheimnisvoll bleibt, ist der

dIe muscheL aLs sYmbOLIsche FORm, OdeR: WIe RembRandts cONus MARMOReus nach OXFORd Kam

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gestaltungsvorgang, nicht die gestalt. Welche Lebensentscheidung, welche schöpferische Wahl mag auf der stufe des entwurfs darüber bestimmen, ob die muschelspirale linksherum oder rechtsherum gerollt sein wird? tatsächlich beginnt das Leben weniger mit einem aufschwung als mit einer drehung. Was ist nicht alles über diesen Initialwirbel geschrieben worden! ein élan vital, der sich dreht, welches abgefeimte Wunder, welches feinsinnige bild des Lebens! und was für träume ließen sich über die linksgedrehte muschel träumen! Über eine schnecke, die vom drehungssinn ihrer gattung abwiche!« [5] Im Weiteren wird es um einen speziellen abzug jener berühmten schnecke der Kunstgeschichte gehen, der von Rembrandt 1650 angefertigten muschelschnecke. dabei handelt es sich um einen abdruck, der in der bodleian Library in Oxford aufbewahrt wird, und zwar in einem naturwissenschaftlichen studienbuch von martin Lister, das von ihm seit ca. 1665 zusammengetragen worden war und hunderte conchologischer skizzen und darstellungen enthält – darunter Rembrandts conus marmoreus (Abb. 2). anhand dieses blattes möchte ich über eine mögliche beziehung und über die unterschiede der kunst- und naturwissenschaftlichen muschelfaszination des 17. Jahrhunderts nachdenken. Ich beginne dabei mit einer kurzen skizzierung der akzelerierten muschelbegeisterung seit dem mittleren und späten 16. Jahrhundert, der barocken muschelsammlungen in Wunderkabinetten und der ersten muschelbücher gegen ende des 17. Jahrhunderts. diese entwicklung der barocken conchologie 124

war nicht zuletzt mit einem schöpfungstheoretischen Paradigmenwechsel verbunden. Antike Urzeugungs- und Vier-Elementen-Lehre Im barock erlebte die muschel eine wahre hochkonjunktur; sie vereinigte alle gegensätze zwischen Kunst und natur, die für das barocke Zeitalter wichtig geworden waren. Ihre maritime herkunft erinnerte an den ursprung allen Lebens im urgeschichtlichen meer; nicht umsonst hatte aristoteles gerade an ihr seine urzeugungstheorie entwickelt. Ihm zufolge konnten muscheln bereits durch sonnenerwärmung des dicken schlamms auf dem meeresboden entstehen – eine creatio ex nihilo, durch die tote materie zum Leben erweckt wurde. bereits in den ersten Zeilen von De generatione animalium setzte aristoteles zwei möglichkeiten der Fortpflanzung voneinander ab – eine geschlechtliche im sinne der artenerhaltung und eine ungeschlechtliche, die Lebewesen spontan aus »faulem stoff« oder erwärmtem »schlamm« entstehen lässt. da Letztere aufgrund ihrer parentalen herkunftslosigkeit kein genetisches Programm mit sich trugen, kamen sie als elternpaare für weitere Zeugungen nicht infrage, denn »wären sie […] doch auch wieder zur Paarung befähigt, dann müssten aus ihnen wieder artverschiedene nachkommen hervorgehen, und aus diesen wieder andere, und so ins unendliche. aber die natur meidet das unendliche, da das unendliche unvollendet ist und die natur immer Vollkommenheit anstrebt.« [6] muscheln galten für aristoteles als urzeugungsprodukte schlechthin, sie KaRIn LeOnhaRd

abb. 2: Rembrandt harmensz. van Rijn, conus marmoreus, 1650, Radierung und Kaltnadel, 9,9 × 13,2 cm, Oxford, ashmolean museum, university of Oxford. dIe muscheL aLs sYmbOLIsche FORm, OdeR: WIe RembRandts cONus MARMOReus nach OXFORd Kam

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entstanden spontan im sich erwärmenden schlick des meeresbodens. Im 17. Jahrhundert wurde diese schöpfungstheorie vor allem im jesuitischen Kreis um athanasius Kircher in Rom diskutiert, während in den protestantischen niederlanden, vor allem in delft durch den mikroskopisten antoni van Leeuwenhoek, der biologische gegenbeweis gestartet wurde. Im frühen barocken muschelbuch des Jesuitenpaters Filippo buonanni, mit dem Kircher befreundet war, erhält die genetische entwicklung der muschel bereits ein eigenes Kapitel. buonanni beginnt sein »capo sesto« (»Welches das geeignete material zur Produktion der muschel ist«) in deutlicher Reminiszenz an die aristotelische Fortpflanzungslehre: die muschel entsteht, so lesen wir, nicht durch biologische Zeugung, sondern als spontaner akt im schlamm des meeresbodens, in sand und in feuchten höhlen oder grotten. die subterranen Orte korrespondieren ebenso zur mythologischen wie erdgeschichtlichen Vorstellung einer unterwelt, die morphologisch in bewegung geraten ist und manchmal wie eine töpferwerkstatt, manchmal wie eine schmiede beschrieben wird, dazu später. Jedenfalls gleichen die schaltiere (Testacea), wie aristoteles sie nennt, gefässen oder skulpturen, die von einem töpfer aus feuchtem ton modelliert werden, an der Luft trocknen bzw. in der sonne härten. [7] als materielle Voraussetzungen bedarf es einer nährstoffreichen erde, Feuchtigkeit und Wärme; muscheln und schnecken werden über Jahrhunderte hinweg als Zusammenspiel der vier elemente verstanden: Wasser und erde bieten den nährboden, während Wärme 126

und Luft die morphose initialisieren und über zunehmende härtung zum stillstand bringen. gleichermassen klassisch ist die aristotelische Parallelisierung der muschel- mit der Pflanzenwelt, die ebenfalls auf eine Verbindung von erde und Wasser, wenngleich in einem anderen Verhältnis, zurückzuführen ist und ähnlich primitive Lebensformen hervorbringt. aristoteles erklärt die grössere artenvielfalt im meer jedoch damit, dass das Feuchte insgesamt »bildsamer« und als Lebensspender dem trockenen überlegen sei. der schule machende Passus aus De generatione animalium liest sich wie folgt: »nun ist über die schaltiere zu reden. […] Weil ihr Wesen zu Pflanzen im gegensatz steht, leben auf der erde nur wenige arten, […] dagegen im meere und ähnlichen gewässern viele arten in mannigfacher gestalt. die gattung der Pflanzen ist im meere und dergleichen stellen wenig oder sozusagen gar nicht vertreten, sondern sie leben nun wieder alle auf dem Lande, dem ihr Wesen und ihre Zusammensetzung entsprechen. und je mehr das Feuchte als Lebensspender dem trockenen überlegen ist und das Wasser dem Lande, umso lebendiger ist auch das Wesen der schaltiere als das der Pflanzen. es sieht so aus, als suchten die schaltiere dasselbe Verhältnis zum Wasser, wie die Pflanzen zum Lande, gleich als wären die Pflanzen schaltiere des Landes, die schaltiere Pflanzen des Wassers. aus diesem grund ist das Leben im Wasser auch vielgestaltiger als auf dem Lande, da das Wasser in seinem Wesen bildsamer ist und zur Verkörperung geeigneter, fast ebenso, ja besonders, was im meere sich sammelt.« [8] KaRIn LeOnhaRd

auf die der antiken elementenlehre geschuldete aufteilung »erdhaft«, »wässrig«, »luftig« kommen wir noch. Vor allem für die barocke stilllebenmalerei ist diese textstelle massgebend. die summarische bezugnahme auf die vier elemente in balthasar van der asts stillleben Muscheln und Früchte von ca. 1630 (Abb. 3) beispielsweise funktioniert aufgrund von zeitgenössisch klar verständlichen codes, die die muschel als meereswesen hauptsächlich dem element Wasser, die blumen und Früchte sowie die eidechse der erde und die fliegenden Insekten dem element Luft zuschreiben. den naturphilosophischen schriften zufolge besteht eine besondere affinität zwischen den urgezeugten maritimen Lebensformen und der Pflanzenwelt, hier gibt es also bereits eine klassifikatorische grauzone, in der die differenz zwischen vegetativen Lebensformen und urgezeugten verschwindend klein erscheint. »bei manchen gebilden im meere«, so führt aristoteles es aus, »kann man nämlich streiten, ob es ein tier oder eine Pflanze ist. es ist angewachsen und geht vielfach zugrunde, wenn es abgelöst wird. die steckmuscheln z. b. sind angewachsen und die messermuscheln können nicht mehr leben, wenn man sie abreißt. Überhaupt gleicht die ganze gattung der schaltiere den Pflanzen, wenn man sie neben die beweglichen tiere stellt.« [9] grundsätzlich standen mollusken in der hierarchie der Lebewesen auf unterster stufe, sie galten als kaum entwickelte ursprungswesen, während ihre gemusterten schalen und gewundenen gehäuse als kostbare ›blumen des meeres‹ von sammlern im

Verlauf des 17. Jahrhunderts immer höher gehandelt wurden. Überhaupt reizte der gegensatz zwischen dem weichen, lebenden tier und dem harten gehäuse; zwischen den verschiedenen rauen, verwitterten und doch auch wieder wie glatt poliert wirkenden Oberflächen; zwischen den klaren, geometrischen Formen – Kegeln, spiralen, exzentrisch geschwungenen Kurven – und ihrer amorphen herkunft aus dem meer, kurz, zwischen ihrer hohen Künstlichkeit und gleichzeitigen Primitivität (Abb. 4). Muschelstillleben – Blumen des Meeres seit den dreissigerjahren des 17. Jahrhunderts hatte sich in holland dann auch eine eigene gattung innerhalb der stilllebenmalerei herausgebildet: [10] dort war das muschelstillleben als sonderform des Früchtestücks entstanden. die ersten eigenständigen, holländischen muschelstillleben stammen von balthasar van der ast. bis zum ende des Jahrhunderts lässt sich dieses thema weiterverfolgen, von abraham susenir über Willem Kalf bis zu den prägnanten darstellungen von adriaen coorte. ambrosius bosschaert, abraham van beyeren und dirck van delen, clara Peters und maria van Oosterwijck kombinierten die farbig gemusterten Oberflächen von Früchten, blumen und conchylien in ihren stillleben und verliehen ihnen nicht zuletzt den status einer selbstreflexiven trompe-l’Œil-malerei, während Jan davidsz. de heem muscheln in prächtige Prunkstillleben integrierte und ihre nationale, politische Ikonografie stärker in den mittelpunkt rückte.

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abb. 3: balthasar van der ast, muscheln und Früchte, um 1620, Öl auf holz, 29 × 37 cm, dresden, staatliche Kunstsammlungen, gemäldegalerie alte meister. 128

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abb. 4: balthasar van der ast, blumenstrauss und Muscheln, um 1640–1650, Öl auf holz, 52 × 42 cm, Paris, Musée du louvre. Die Muschel als syMbolische ForM, oDer: Wie reMbranDts Conus marmoreus nach oxForD kaM

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abb. 5: balthasar van der ast, Muschelstillleben, 1630, Öl auf kupfer, 10,3 × 17,2 cm, utrecht, collectie centraal Museum, leihgabe des instituut collectie nederland. 130

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bei Willem kalf streift das licht kaum die glatten oberflächen der Muscheln, die als koloristische bravourstücke aus dem dunklen bildraum auftauchen und erstrahlen. Die Muschelstillleben von adriaen coorte konzentrieren sich auf die plastische Gestalt einzelner conchylien, die starke schatten werfen; bei ihm erscheinen sie mehr als bei anderen Malern haptisch greifbar – als objekte, die sich in die hand nehmen, drehen und wenden lassen. Gleichzeitig finden sich auch in den blumenstücken regelmässig conchylien, so zum beispiel bereits bei roelant savery und den bosschaerts, die zusammen mit van der ast (mit dem sie verwandt waren) utrecht zu einem frühen Zentrum der stilllebenmalerei werden liessen. im 17. Jahrhundert wurde, wie gesagt, die Verbindung zwischen schaltieren und Pflanzen schnell gezogen (Abb. 5). buonanni beispielsweise hatte die Muschel als die schönste, weil unvergängliche »blume des Meeres« bezeichnet – »il piu bel fiore del Mare, ma non corruttibile« – und an dieser stelle lukrez zu Wort kommen lassen, der die gemusterten Muschelschalen für pittoresk hielt und uns mit seinen sätzen eine anleitung zu einer ersten lesart der stillleben lieferte: »Ähnlich den blumen sehen wir die Familie der Muscheln den schoß der erde bemalen, in ähnlicher Weise wie die weichen Wellen den körnigen sand der bucht umspülen.« [11] Zuvor war buonanni schon auf eine Äusserung von Plinius eingegangen, der angesichts der blumenvielfalt gesagt hatte, dass niemandem das reden so leicht falle wie Frau natura das Malen. [12] Diese sentenz wiederum wandte

er auf die Meereswelt mit ihren Muscheln an, deren oberflächen er für eine art bild- oder Zeichenträger der natur hielt, nur dass sie zugleich gedrehten töpfereien und skulpturen glichen. Die farbigen Flecken, linien und strukturen der Muschelschalen, die der Fellzeichnung von tigern oder leoparden ähneln konnten, oder die irisierende oberfläche der Perlmutter, die in ihrem Farbwechsel einer Pfauenfeder oder einem schmetterlingsflügel glich, hatte schon Plinius als malerisch empfunden und künstlern als anregung vor augen gestellt. [13] Daraus hatte sich der topos der ludi naturae oder ›von der natur gemalten oberflächen‹ ergeben, der bis weit in das 18. Jahrhundert hinein fortwirkte. [14] Van der ast zitiert also indirekt Plinius, wenn er auf seinen stillleben neben einem Conus marmoreus, zwei exemplaren aus der Gattung Harpidae, einigen gezackten Murexmuscheln und einem prachtvollen polierten turban (Turbinidae) eine Porzellanschnecke (Cypraeidae) zeigt, deren Zeichnung tatsächlich an ein leopardenfell erinnert (Abb. 3). Doch auch in der barocken nordischen kunsttheorie gibt es eine rezeption der Plinius-stelle. Der mit rubens befreundete antiquar Franciscus Junius hatte die freie imagination des künstlers unter die obhut der sentenz gestellt; Joachim van sandrart hatte in seiner Teutschen academie in ebendiesem sinn den Vorbildcharakter der naturschöpfung für die koloristische bearbeitung in der stilllebenmalerei herausgekehrt und eine niederländische Vorliebe für Farbe und oberflächengestaltung festgestellt: »Die natur lehret uns / die rechte Vertheilung der Farben / auch in Vögeln / Papegoyen

Die Muschel als syMbolische ForM, oDer: Wie reMbranDts Conus marmoreus nach oxForD kaM

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abb. 6a: Dextrale Windung der conusschnecke, Fotografie, archiv der autorin. abb. 6b: Filippo buonanni, topologisches Diagramm zur bestimmung der Drehrichtung bei Muschelschnecken, kupferstich, in: buonanni, Filippo (1681), ricreatione dell’occhio e della mente nell’ osservation’ delle chiocciole. rom: Varese, s. 287.

und Meermuscheln: welches bei den amsterdamer liebhabern / in verwunderlichem unterschied zu ersehen.« [15] Wo morphologische Fragen so sehr ins Zentrum des interesses rückten, war der Wunsch nach einem austausch zwischen Wissenschaft und kunst naheliegend. im 17. Jahrhundert folgte man noch lange der traditionellen Meinung, dass natura sich bei der Gestaltung von Muscheln und blumen als Malerin betätigte und die Muster auf die oberfläche farbig auftrug. Gleichzeitig wurde man sich der unzulänglichkeit einer solchen erklärung bewusst, und es keimte die Vorstellung auf, dass sich die Form und Gestaltung erst langsam während des Wachstums der tiere ausbildeten – die Zeichnung der Muschel als deren Biografie, wie barbara stafford einmal feststellte: »Design is not a separable imprint or impresa stamped on the surface: Design is a real symbol of the development of that medium, radical immanence not transcendence.« [16] tatsächlich ist das Muschelgehäuse nicht oberflächlich bemalt, sondern wird während seiner entwicklung mit Farbpigmenten materiell durchwirkt. spiralige oder radiale linien und bänder entstanden durch kontinuierliche Pigmentabsonderung, Punkte oder Fleckenmuster bei periodischer sekretion. Damit ging ihre Zeichnung eine unmittelbare Verbindung mit dem trägermedium ein, sie erschien als in den körper eingeschriebenes Diagramm der Morphogenese des tieres. so geriet die Muschel zum Paradigma zeitlicher bewegungsverläufe und historischen Wachstums: sie war sichtbar gewordene raumzeit. auch die unterschiedliche skulptierung der Gastropoden faszinierte 132

aufgrund der periodischen abläufe der oberflächenbildung, die in manchem den Vorgängen der bildhauer-, Goldschmiede- oder töpferkunst ähnelten. heute wissen wir, dass die Weichtierschale nicht ununterbrochen wächst, sondern ihre Form in wiederkehrenden Zeitabschnitten verändert. Gleichzeitig ergeben sich zwei Wachstumsrichtungen des Gehäuses – parallel zum rand und senkrecht zur oberfläche (Abb. 6a, b). in gewissen abständen beobachtet man, dass die bautätigkeit ruht oder sich auf ein neues Formelement umstellt. Glatte Zwischenräume deuten darauf hin, dass der Mantelrand während der Formung faltenfrei an der schale anlag. Meistens wirft er jedoch Falten, wodurch sich beim Wuchs des Gehäuses bei den Muscheln rippen, bei den schnecken spiralstreifen und während der Verstärkungsperioden knoten, höcker, stacheln bilden. Überlagern sich axiale und spirale skulpturelemente, so entstehen netzmuster, die man auch Gitterungen nennt. Die Gesetze solcher Formbildungsprozesse waren im 17. Jahrhundert nicht bekannt, doch faszinierte der geheime biologische bauplan, der die Genese rhythmisch vorantrieb und dabei regelmässige Muster und Modellierungen erzeugte. Mindestens drei Vorlieben des barocken Zeitalters wurden dabei besonders angesprochen. 1. Zum einen erinnerten die Muster und Formen der Gehäuse in ihrer vielfältigen, gleichwohl gesetzmässigen struktur nicht zuletzt an maschinell hergestellte Produkte – an in Webstühlen gefertigte, durchmusterte stoffe, an karin leonharD

gedrechselte elfenbeinarbeiten, sich drehende spieluhren, Mühlen, uhren und räderwerke. [17] 2. Daraus ergab sich ein neu motiviertes interesse an mechanisch erzeugten spiralen, kurven, ellipsen, Gitter- und netzstrukturen – alles Formen, die endlos wiederholt, fortgesetzt und ebenso endlos miteinander kombiniert werden konnten. 3. Zudem arbeitete man in der barocken Physik an der Weiterentwicklung der cartesischen kosmologischen Wirbeltheorie. ihr zufolge konnte Materie durch sich rhythmisch wiederholende bewegungen derart verdickt werden, dass zuerst Massezentren, dann körper, schliesslich vielleicht sogar ganze Planeten entstanden. Voraussetzung dafür aber war eine ständige bewegung um die eigene achse – die gewundenen Gehäuse von Muschelschnecken basierten barocken Vorstellungen zufolge auf einem solchen kosmischen Prinzip: sie waren Gleichnisse für das rotierende universum, versammelt in der schublade des häuslichen kabinetts. Muschelsammlungen Während des 16. und frühen 17. Jahrhunderts dienten die kostbaren exotika in den europäischen heimatländern vor allem der unterhaltung in aristokratischen kreisen, wo man sie ihrer aussergewöhnlichen Formen und Farben wegen schätzte und begann, sie in kunst- und Wunderkammern zu versammeln. Dabei konkurrierte ein enzyklopädisches interesse, das die sammlung im sinne einer naturgeschichtlichen

Morphologie zu ordnen versuchte, schon früh mit dem kuriosen schauaspekt und der effektvollen Präsentation von raritäten oder sogenannten mirabilia – Wundern der schöpfung, die die natur als grösste künstlerin feierten und ihre gestalterischen Fähigkeiten, ihre unerschöpfliche vis plastica, den koloristischen anstrich ihrer Produktion hervorhoben (Abb. 7 und 8). Die Muschelsammlungen der barocken Wunderkammern stellten natürlich den nukleus aller weiteren beschäftigung mit Mollusken dar. holland führte den Markt an – einem englischen Zeitgenossen zufolge, der von einer reise zurückkehrte, war dort schlichtweg jeder »curieux«. [18] Die Wunderkammern des 17. Jahrhunderts von brayne und reynst, ruysch, swammerdam, seba und uyttenbogaert in amsterdam, das berühmte Museum des Delfter bürgermeisters henry D’acquet und die kabinette von De la Faille in Den haag, von brandt oder simon schijnvoet in amsterdam beherbergten grosse Muschelsammlungen. [19] in england öffnete William charlton interessierten seine riesige Muschelsammlung – Martin lister benutzte sie als hauptanregungsquelle für seine Historia Conchyliorum, in der auch rembrandts Conus wieder auftaucht. Erste Muschelbücher Die tätigkeit des naturwissenschaftlichen taxonomischen befunds hatte sich aus ebenjenem sammelwesen der barocken kunst- und Wunderkammern entwickelt. in illustrierten sammlungsinventaren und

Die Muschel als syMbolische ForM, oDer: Wie reMbranDts Conus marmoreus nach oxForD kaM

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abb. 7: simon schijnvoet, Muschelsammlung, um 1710, 54 × 43 × 10 cm, amsterdam, Zoölogisch Museum. 134

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abb. 8: abraham susenier, Muschelstillleben, 1659, Öl auf leinwand, 58,2 × 85,3 cm, Dordrecht, Dordrechts Museum. Die Muschel als syMbolische ForM, oDer: Wie reMbranDts Conus marmoreus nach oxForD kaM

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naturgeschichten des 16. Jahrhunderts finden sich frühe abbildungen von Meerestieren und conchylien, so bei adam lonicer, conrad Gesner, Pierre belon und Guillaume rondelet. [20] Zu beginn des 17. Jahrhunderts erschien dann ulisse aldrovandis De reliquis animalibus (1606), dessen enzyklopädische behandlung der Mollusken richtungsweisend für die nachfolgende Generation wurde, wenngleich sie von kruden abbildungen begleitet war. standard setzend waren dann vor allem die beiden sorgsam zusammengetragenen, illustrierten bücher von Fabio colonna (1616), auf die ich weiter unten noch einmal eingehen werde. auch die sammlungsbücher der beiden besler, Vater und sohn, wurden im 17. Jahrhundert häufig zitiert. in england hatte John tradescant, königlicher Gärtner von charles i. und ein begeisterter Muschelsammler, ein naturkundliches Museum zusammengetragen, dessen katalog 1656 von seinem sohn herausgegeben und elias ashmole gewidmet wurde – und damit befinden wir uns, hier können wir kurz aufmerken, in oxford. ab der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte die Zahl der Veröffentlichungen zu Muschelsammlungen und Wunderkabinetten deutlich zugenommen; doch erst die beiden letzten Jahrzehnte standen ganz im Zeichen der conchologie. es entstanden die ersten illustrierten Muschelbücher für sammler und frühe conchologen: Filippo buonannis ricreatione dell’ occhio (1681), im engsten umkreis von athanasius kircher entstanden; die Historia Conchyliorum (1685– 1692) von Martin lister, Mitglied der royal society, und Georg eberhard rumphius’ rariteitkamer (1705), auf der ostindischen insel amboin verfasst. [21] 136

II. Die Wende – Zur Dextralität der Windung unmerklich haben wir uns in den bereich barocker klassifikations- und kreationsfragen begeben. Die Muschel nahm im 17. Jahrhundert eine basale stellung in naturhistorischen schöpfungstheorien ein, doch veränderte sich die Diskussion im laufe des Jahrhunderts gravierend: Zunehmend wurde der aristotelischen urzeugungstheorie der kampf angesagt, die Vier-elementen-lehre aufgegeben, und statt der älteren Form-Materie-konzeption, die der kosmologie bis 1600 naturphilosophisch unterlag, entwickelte sich eine neuartige physikalische auffassung der Weltentstehung innerhalb der apriorischen kategorien von raum und Zeit. Das gesamte Jahrhundert über blieben die conchylien als kosmologische Modelle im Gespräch, aber die interpretation der Muschelontogenese wandelte sich grundlegend, und mit ihr die bewertung der Formbildung des Muschelgehäuses. ein repräsentant der neuen Wissenschaft auf dem Gebiet der conchologie war der engländer Martin lister, dessen hauptwerk, die Historia Conchyliorum, in mehreren teilen zwischen 1685 und 1692 publiziert, die Mollusken der einheimischen und fremden küstenregionen in systematischer Weise behandelt. Mit seinen über 1000 abbildungen gilt es als barockes Monumentalwerk der Muschelklassifikation, das früheste seiner art. [22] Über Jahrzehnte hatten listers Freunde ihm Funde [23] oder kleine skizzen geschickt, karin leonharD

abb. 9: Martin, anna und susanna lister, conchologisches skizzenbuch, um 1680, oxford, the bodleian library, university of oxford, Ms lister 9, fol. 47v. Die Muschel als syMbolische ForM, oDer: Wie reMbranDts Conus marmoreus nach oxForD kaM

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abb. 10a: rembrandt harmensz. van rijn, conus marmoreus, 1650, radierung und kaltnadel, 9,9 × 13,2 cm, oxford, ashmolean Museum, university of oxford. abb. 10b: Martin lister (nach rembrandt), conus marmoreus, kupferstich, in: lister, Martin (1685–1692), historia conchyliorum. london: sumptibus authoris, taf. 787. 138

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die später zusammen mit den aquarellen, die listers tochter anna als Vorbereitung der kupferstiche hergestellt hatte, in ein bunt zusammengefügtes »scrapbook« eingeklebt wurden. Dieses wurde von lister mitsamt seiner bibliothek und den schriften dem ashmolean Museum in oxford übergeben und befindet sich heute in der bodleian library. Die folgende abbildung zeigt eine charakteristische seite aus diesem album, die deshalb besonders aufschlussreich ist, weil sich neben Vorstudien für listers Historia Conchyliorum, die von der hand seiner tochter stammen, ein abzug von rembrandts bekannter radierung eines Conus marmoreus befindet – krude mit brauner tusche übermalt (Abb. 9). rembrandts radierung einer Muschelschnecke (Conus marmoreus), 1650 datiert, ist eine ungewöhnliche Darstellung, allein der Präsentation einer bislang kaum beachteten zoologischen spezies gewidmet. [24] Der conus bildet sich plastisch aus der Fläche heraus; dazu verhilft ihm das feine Gespinst der kreuzschraffur, das dem netzartigen Muster der schale ähnelt, geradezu elastisch dehn- und streckbar scheint und als ergebnis dieser Dehnung und streckung die Form eines spiralförmig gewundenen kegels annehmen kann. raum- wie dinglogisch überzeugt rembrandts conus ausserordentlich. Was jedoch vorerst interessiert, ist die schlichte tatsache, dass durch den drucktechnischen Vorgang nicht nur die Vorzeichnung spiegelverkehrt abgebildet wurde, sondern sich dabei auch die Drehung des Gehäuses umkehrte: War sie eigentlich dextral ausgerichtet, erscheint sie auf dem blatt sinistral, also linksgewunden. biologisch ist diese

ausrichtung äusserst unwahrscheinlich, wenngleich nicht unmöglich. rembrandt scheint die Verkehrung nicht aufgefallen zu sein oder zumindest nicht gestört zu haben. Ganz anders Martin lister, Mitglied der royal society, hofarzt von Queen anne, Geophysiker und bekennender Muschelsammler im sinne der neuen Wissenschaft, der in sein privates skizzenbuch die besagte rembrandt-radierung einklebte. allein dabei blieb es nicht. Die Muschel diente lister als Vorlage für einen eigenen stich in seinem Monumentalwerk der Historia Conchyliorum, mit dem unterschied, dass sie nun korrekterweise dextral abgebildet wurde: lister hatte die spiegelverkehrung aufgehoben und die orientierung der schnecke bewusst berichtigt (Abb. 10a, b). Wir können das behaupten, weil sich lister in seinen schriften schon früh und mehrmals zur Drehung der schnecken geäussert hat: in seinen some observations Concerning the odd Turn of some shell-snailes [25] von 1669 stellt lister fest, dass sich schnecken bis auf seltene ausnahmen von links nach rechts winden. bereits um 1600 wird klar, dass sich schneckenhäuser zu Wasser und zu land bevorzugt nach rechts ausrichten. Was das 17. Jahrhundert entdeckte, war die empirische – und keineswegs logische – tatsache, dass die biologische natur gern dextrale Gewinde hervorbrachte und sich damit zuweilen ›geneigt‹, also parteiisch zeigte. heute muss man diese entdeckung etwas relativieren, im 17. Jahrhundert dagegen sorgte sie für Diskussionen, und kant wird noch 1768 genau aufgrund dieser entdeckung seine

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abhandlung Vom ersten Grund des unterschiedes der Gegenden im raum verfassen. eigentlich müsste die natur, so das Diktum der Physik, nach reversiblen Gesetzen operieren und sich symmetrisch neutral verhalten. sie tut das ja auch insofern, als die gleiche rotierende bewegung um eine achse symmetrie impliziert; das physikalische Gesetz dafür ist simpel und dehnt das räumliche Gebilde nach dem Prinzip der selbstähnlichkeit aus, egal ob im uhrzeigersinn oder entgegen. Die empirische entdeckung der ›geneigten natur‹ in der biologie stellte eine solche neutralität jedoch infrage, weil sie die natürlichen erscheinungsformen dynamisierte, die nun ergebnis von Wachstumsphasen und genetischen Programmen wurden. sammelt man textpassagen, in denen die Gerichtetheit der helix thematisiert wird, stösst man unweigerlich auf Muschelbücher, die nicht zufälligerweise im 17. Jahrhundert in Mode kamen. Das barocke Zeitalter entdeckte die Gerichtetheit dynamischer bewegungen, und die Muschel avancierte zum epochalen symbol. Wir können diese entdeckung sogar mit einem Datum versehen. 1616 stellte Fabio colonna, der als Mitglied der accademia dei lincei die nachfolge von Federico cesi übernehmen sollte, in seinem viel gelesenen Werk über die Farbgewinnung des Purpurrots erstmals fest, dass sich nur in seltensten Fällen Muschelschnecken von links nach rechts eindrehen. [26] interessanterweise erklärte colonna die spiraldrehung zentripetal – er verfolgte die Windung von aussen nach innen; darüber wird noch ein Wort zu sagen sein. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass 140

er die Gerichtetheit natürlicher Formgebungen erkannte und wiederholt thematisierte; in seiner nachfolge werden sich nahezu alle barocken conchologen danach richten. Überhaupt stellte colonnas traktat hohe ansprüche; es bestach durch vorzügliche abbildungen und war das erste Werk, das Muschelschnecken nicht spiegelverkehrt darstellte. in Martin listers skizzenbuch taucht colonnas name vielfach auf; und lister wird sich in dessen tradition stellen. Pater Filippo buonanni wiederum, in rom tätig und Freund des ebenso geistreichen wie umtriebigen athanasius kircher, schuf 1681 das früheste eigenständige Muschelbuch: seine ricreatione dell’occhio [27] bezieht sich an mehreren stellen auf die Gerichtetheit der spiralform in Muschelschnecken und versucht sogar, sie topologisch zu erklären (Abb. 6b). Der kosmologische Zusammenhang ist zu dieser Zeit hochaktuell: Zwar vermutete man, dass sich die erde um ihre eigene achse drehte, aber es gab noch immer keinen wirklichen beweis. huygens und cassini lieferten argumente; newton entwickelte seine theorie der Materieanziehung durch Gravitation gerade erst zu diesem Zeitpunkt. 1687 erhielt er unter der Voraussetzung eines homogenen, flüssigen und rotierenden erdkörpers mit dem schwerpunkt als Mittelpunkt einen rotationsellipsoiden als Gestalt der erde. [28] buonanni ist also auf der höhe seiner Zeit, wenn er feststellt, dass es bei der erde – ebenso wie bei der schneckenmuschel, mit der er sie indirekt vergleicht – eine determinierte Drehrichtung zu beobachten gab: auch die erde nämlich bewegt sich in gleich bleibendem umlaufsinn von Westen nach karin leonharD

osten, sie entpuppt sich also als rotationskörper, und ihre Drehrichtung ist determiniert. [29] Ähnlich determiniert verhält es sich nach buonanni mit der spiraldrehung bei Gastropoden, mit dem relativierenden Vermerk, dass jene sich zwar bevorzugt »in eine richtung«, aber zuweilen »auch entgegengesetzt winden« [30] können. Das alles wird im 17. Jahrhundert entdeckt, ebenso wie man nun zunehmend die archimedische spirale und ihre schraubbewegungen diskutiert, neuartige spiralformen erkundet und mathematisiert und grundsätzlich keine Muschelschnecke mehr spiegelverkehrt abbilden wird. Wir haben es also mit dem seltsamen umstand zu tun, dass man vor 1600 keine Probleme mit spiegelverkehrten abbildungen hatte, und nach 1600 hat man sie zunehmend. Wenn sich nun also seit ca. 1600 eine grundsätzliche Dynamisierung feststellen lässt, in dem sinne, dass sich logarithmische und exponentialfunktionen durchsetzen, dass die Fibonacci-reihe, die von Zeitgenossen auf die extension der spiralform angewendet wurde, eben aufgrund ihrer Verwandtschaft zur exponentialkurve aktuell wurde, dass also Wachstums- und Formverläufe innerhalb der korpuskularen Welt thematisiert wurden, dann muss zugleich nach der historischen relevanz der im 17. Jahrhundert einsetzenden links-rechts-Diskussion gefragt werden. Zwei charakteristika der Zeit lassen sich feststellen: ·

dass man seit 1600 betonte, dass sich Muschelschnecken, Pflanzenranken, haarwirbel, allgemein spiralbewegungen in der natur in

·

den einzelnen Gattungen nicht gleichermassen ausrichten, sondern bestimmte neigungen haben – im 17. Jahrhundert wird vor allem die rechtsdrehung thematisiert, und dass man spiralbildungen hauptsächlich als extension, das heisst als Wachstumsform von einem Punkt oder keim zu einer umfassenderen räumlichen Grösse und nicht als konzentrisches Gebilde verstand.

spiralen und Muscheln sind also räume oder Grössen, die sich ausdehnen und nicht einziehen. colonnas Deskription der Muschelgehäuse von aussen nach innen war hier die ausnahme gewesen, und sie steht zu anfang des Jahrhunderts. Physikalische spiralen erscheinen jetzt für einige Zeit nahezu ausschliesslich als Quelle, nicht als sog, der Materie zu sich holt oder verschlingt. ebenso verändert sich das Verständnis des Zeitbegriffs im 17. Jahrhundert, der jetzt vor allem als extensive Grösse und nicht mehr als zirkuläres, sich immer wieder aufhebendes und damit symmetrisches Verfahren verstanden wird. Die Muschel als symbolische Form aus diesem Grund kann die Muschelschnecke zur symbolischen Form werden – weil sie die zyklische bewegung um eine achse nun räumlich ausweitet und ihr eine richtung gibt, sie aus der symmetrie entlässt. Damit verbunden ist die barocke Vorstellung, dass die immanente oberfläche der körperwelt in ständiger bewegung und damit in ständigem ungleichgewicht

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ist. Diese annahme kollidiert mit einem anderen, einem älteren Modell der achsensymmetrischen stringenz und kongruenz, das im barock ja ebenfalls exzessiv durchgespielt wird. Doch der Weg heraus aus der spiegelsymmetrie ist für das 17. Jahrhundert in vielerlei hinsicht das entscheidende erlebnis. im barock beginnt man zu ahnen, dass natura zwar ein pulsierendes herz – und damit einen kreislauf – hat, dass es aber auf einer seite sitzt und schlägt. Das war ja nebenbei auch eine von kants schlussfolgerungen in der Diskussion um chiralität gewesen – wir sind zwar bilaterale Wesen, aber unser herz sitzt eben nur auf einer seite, wir müssen uns auf ein apriorisches ungleichgewicht beziehen, um links und rechts voneinander unterscheiden zu können. [31] in der krümmung der Muschelschnecke wiederholt sich dasselbe Problem: »bei mechanischen strukturen ist krümmung im Wesentlichen ein mechanisches Phänomen. Man findet sie bei biegsamen strukturen als ergebnis von biegung. […] aber weder Gehäuse noch Zahn oder klaue sind biegsame Gebilde; sie sind nicht in ihre eigenartige krümmung gebogen worden, sondern in sie hineingewachsen.« [32] offensichtlich kann nicht nur die gekrümmte oberfläche einer Muschelschnecke, sondern auch die Zeit, in der sie sich gebildet hat, nicht mehr zurückgebogen werden. Die evolution des lebens erweist sich als irreversible Zeitentwicklung, deren Wurzel in einem nichtgleichgewicht liegt, das heisst deren Wurzel die symmetriebrechung ist. im barock wird man sich des unterschieds zwischen physikalischen und biologischen Prozessen mehr und mehr bewusst. 142

Rembrandt in Oxford im Conus marmoreus hat die radiernadel des künstlers die kupferplatte mit einer egalisierenden kreuzschraffur überzogen, vergleichbar einem koordinatensystem möglicher Positionen, Figuren oder bewegungen, die im bildraum eingenommen und realisiert werden können. Die schraffur erscheint wie ein über den körper gestreiftes feinmaschiges netz, das durch die Wölbung gedehnt und gestaucht wird und sich dem Muschelkörper derart nahtlos anschmiegt, dass es ihn mit einer zweiten, künstlich gestalteten oberfläche ebenso nachformt wie bedeckt. in der Gitterstruktur des Gehäuses selbst aber sind die Grenzen verwischt zwischen Muster und Masche, zwischen künstlichem und natürlichem Zeichen. und auch als Gesamtzeichenfeld ist die schraffur kontinuierlich und homogen geblieben, das heisst, es gibt keinen riss in diesem gleichmässig gewebten netz, und keine Masche ist fallen gelassen worden. Das objekt schraubt sich allenfalls in die struktur und verändert die abstände und lagen der kreuzungspunkte ähnlich seiner Form, nichts weiter. Würde man eine Muschelschnecke über rembrandts conus legen, so widerspräche sich deren inhärente bewegungslogik, wenngleich nicht deren interne relationalität. eine temporale Wachstumsform mit räumlicher orientierung kann mit den Mitteln der Physik nicht erklärt werden, und die beschreibung und Definition biologischer Gestaltungsvorgänge entwickelt sich zum Problem der nachfolgenden Generationen. [33] aber auch in der Druckgrafik, zum karin leonharD

abb. 11a: Wenzel hollar, conus imperialis, 1644/1650, radierung, 9,8 × 13,6 cm, amsterdam, rijksmuseum, rijksprentenkabinet. abb. 11b: Matthias Withoos (nach Wenzel hollar), Muschel (conus), raupe und andere insekten, ende 17. Jh., Gouache auf Velin, 12 × 17,5 cm, Privatsammlung. Die Muschel als syMbolische ForM, oDer: Wie reMbranDts Conus marmoreus nach oxForD kaM

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beispiel in barocken Muschelbüchern, wird die richtungsumkehrung zwischen Vor- und abbild, zunächst einmal rein technisch bedingt, seit dem 17. Jahrhundert zunehmend thematisiert und rückgängig gemacht. in rembrandts exzeptioneller radierung läuft die spirale noch spiegelbildlich verkehrt, sie erscheint als inkongruente Zwillingsschwester aller innerhalb der geschichtlichen evolution in rechtsdrehung versetzten Muschelhörner – als beispiel, wie es auch hätte gehen können, aber nicht gegangen ist. Dieselbe Verkehrung findet sich auch in den Muschelradierungen von Wenzeslaus hollar (Abb. 11a, b). entstanden sind diese Coni um 1650, in einer Zeit des Paradigmenwechsels zwischen älteren kreativitätsvorstellungen, in denen Muscheln als spielformen der natur – als ludi naturae – galten, und den vitalen, raumzeitlich ausgerichteten Formmodellen der modernen lebenswissenschaften. Martin lister jedenfalls hat rembrandts Muschel wenig später nach oxford gebracht, um sie im sinne der neuen Wissenschaftlichkeit kurzerhand umzudrehen. [34]

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abbildungsnachweis Zentralbibliothek Zürich: abb. 1, 6b; ashmolean Museum, university of oxford: abb. 2 (= abb. 10a); © bpk – bildagentur für kunst, kultur und Geschichte/staatliche kunstsammlungen Dresden/elke estel/hans-Peter klut: abb. 3; © bpk – bildagentur für kunst, kultur und Geschichte/rMn/Gérard blot: abb. 4; centraal Museum utrecht: abb. 5; Zoölogisch Museum, amsterdam: abb. 7; Dordrechts Museum, Dordrecht: abb. 8; the bodleian library, university of oxford: abb. 9; thüringer universitäts- und landesbibliothek Jena: abb. 10b; rijksmuseum, amsterdam, rijksprentenkabinet: abb. 11a; rijksbureau voor kunsthistorische Documentatie rkD: abb. 11b.

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bachelard (1997), s. 117. innerhalb der Wissenschaftsgeschichte wird in kapiteln zur Morphologie des schneckenhauses regelmässig eine Verbindung zur bildenden kunst hergestellt – vor allem zu spiralformen bei albrecht Dürer und leonardo da Vinci. Der klassische referenztext hierfür ist thompson (1917) (vor allem kap. iV über die gleichwinklige spirale), der sich zu teilen auf cook (1903) und (1914) bezieht, bes. s. 151–69 über »right and left spirals in shells«. Vgl. kemp (1995), s. 37–54, und kemp (2006), s. 165–238. Zu Dürers beschäftigung mit der schneckenform (muschellini) vgl. beech (1990), s. 38–40, sowie bach (1996). Zur Dynamik der Wirbel- und spiralform bei leonardo da Vinci vgl. Fehrenbach (1997). thompson (1917), s. 276, vgl. Wallis (1659), s. 107f., und Whitman (1943), s. 309–15. Zur unterscheidung der spiralformen: eine archimedische spirale beginnt im nullpunkt und beschreibt um ihre Mitte eine immer weiter werdende kurve mit drei umläufen. Der abstand der spiraläste bleibt gleich, genauer: Die entfernungen benachbarter kurvenpunkte auf einer nullpunktsgeraden sind konstant. im Gegensatz dazu nehmen die Windungen der logarithmischen spirale (zum beispiel der nautilus- oder schneckenschale) in einem gleichmässigen Verhältnis an breite zu. Die gleichmässige (archimedische) und die gleichwinklige (logarithmische) spirale sind die am häufigsten thematisierten organischen spiralformen. – Zur Differenzierung zwischen spirale und einfacher schrauben- oder schneckenlinie vgl. thompson (1917), s. 255. Zum mathematischen beweis der logarithmischen Wachstumsform des nautilus vgl. naumann (1848/49), s. 26–34. Weitere literatur: hartmann et al. (1985), Pickover (1988), s. 173–81, Fonseca (1993), s. 201–204, Mette (1995), holländer (1998), s. 461–64. Die logarithmische spirale wird von Descartes in seinen briefen an Marin Mersenne

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diskutiert (Descartes (1898), s. 360); die bezeichnung »logarithmische spirale« dann bei bernoulli (1691), s. 282. Zur konstruktion einer Zeichenmaschine logarithmischer spiralen vgl. den brief von John collins an tschirnhaus vom 30. september 1675, zit. in rigaud (1841), s. 211–220; weiterführend Frieß (1993). bei meinem beitrag handelt es sich um die Zusammenführung und ergänzung zweier artikel zur Muscheldiskussion seit dem mittleren und späten 16. Jahrhundert und den ersten conchologischen bestimmungsbüchern des 17. Jahrhunderts, vgl. leonhard (2007 a), (2007 b), (2009). bachelard (1997), s. 117f. aristoteles, De generatione animalium, 715 n 4–21. Vgl. auch die traditionelle Vorstellung, dass auch Perlen und korallen im Wasser weich sind und sich erst an der luft erhärten. so schon von Plinius (Historia naturalis, 2. 9, 54) behauptet und in den aquarien- und Muschelbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts vielfach wiederholt. Zum stellenwert der koralle in frühneuzeitlichen schöpfungstheorien und naturhistorien vgl. bredekamp (2005). aristoteles, 761 a 14–42. Weitere Passagen vgl. aristoteles, Historia animalium, 547 b 17–23 und 548 a 15, sowie De generatione animalium, 763 a 26–34. Vgl. auch Plinius, Historia naturalis, 2. 9, 2. aristoteles, Historia animalium, 588 b 12–21. Vgl. auch De partibus animalium, 681 a 10–15. Zur Muschel in der bildenden kunst vgl. luther (1979), barten (1985), Mauriès (1994), Mette (1995). Zum Muschelstillleben vgl. (auswahl): bergström (1956), segal (1988), atwater (1992), Gemar-koeltzsch (1995), bd. i, s. 29 und 71, Grohé (2004), s. 17, zu adriaen coorte: bol (1958) und (1977), buvelot (2008). lukrez, De rer. nat, 2, 374–76: »concharum genus parili ratione videmus / Pingere telluris gremium, qua mollibus undis / littoris incurvi bibulam lavat aequor arenam.« Plinius, nat. Hist. 4. 21, 1: »nulli facilius est loqui, quam rerum naturae pingere«.

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Plinius, nat. Hist. 2. 7, 1: »Die Macht und erhabenheit der Dinge in der natur wird stets unser Glauben übersteigen, wenn man sie auch nur theilweise, nicht einmal in ihrer Ganzheit, im Geiste erfasst. um nicht von den Pfauen, den Flecken der tiger oder Panther und dem zahlreichen Farbschmuck der thiere zu reden, so ist es leicht gesagt, aber bei gehörigem nachdenken etwas unendlich Großes, dass unter den Völkern so viele Dialecte und sprachen, so große Verschiedenheiten im ausdrucke stattfinden, dass ein Fremder einem andern kaum als Mensch erscheint. schon hinsichtlich des Äußern und des Gesichts, welches doch nur aus 10 oder einigen Gliedern mehr besteht, giebt es unter so vielen tausend Menschen nicht zwei vollkommen gleiche bildungen, was keine kunst bei einer noch weit geringern anzahl nachzuahmen im stande sein möchte«; vgl. ausserdem Junius (1638), s. 94–96. Zum topos der ludi naturae vgl. zum beispiel adamowsky et al. (2011), stafford (1984), s. 233–40, Findlen (1990), s. 292–331, Felfe (2009). Frühneuzeitliche stellen zu den ludi naturae bei della Porta (1588), s. 217, sorel (1640), s. 5–12, schott (1667), s. 1360ff., boyle (1672), s. 49, buonanni (1709), fol. 65, 66 und s. 198ff. sandrart (1675), teil 1, buch 3, s. 84. stafford (1984); vgl. zum beispiel auch bachelard, der sich in seinen ausführungen zum teil auf ein Muschelgedicht von Paul Valéry bezieht: »so bemerkt der Dichter, dass ein von einem Menschen ausgemeißeltes schneckengehäuse mittels einer reihe aufzählbarer akte von außen her erzielt sein würde und die Merkmale einer überfeilten schönheit trüge, während ›die Molluske ihr Gehäuse aus sich heraus absondert‹, den baustoff ›ausschwitzt‹, und ›ihr wunderbares kleid nach Maß destilliert‹. und gleich nach dem ersten absonderungsvorgang ist das haus vollständig. so rührt Valéry an das Mysterium des gestaltbildenden lebens, das Mysterium der langsamen, stetigen Gestaltwerdung.« bachelard (1997), s. 118. Das indirekte Zitat aus Valéry (1936), s. 5.

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Zur Mechanik der Drechselmaschinen und der unmittelbaren nachbarschaft von nautiluspokalen und elfenbeinarbeiten in kunst- und Wunderkammern vgl. Maurice (1993). Gersaint (1736), s. vi. Zu Muschelsammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. bentheim Jutting (1938), engel (1938), Dance (1966), coomans (1985), bergvelt et al. (1992), Way (1994), bergvelt et al. (2002), kistemaker (2004), Dietz (2006), roemer (2004), hogendorp Prosperetti (2006), leonhard (2009). Frühe illustrationen zu Meerestieren und Muscheln finden sich in lonicer (1553–1555), belon (1553), rondelet (1554–1555), aldrovandi (1606), colonna (1616), Jonston (1657). in england errichtete John tradescant, königlicher hofgärtner karls i. und passionierter Muschelsammler, ein frühes naturhistorisches Museum, dessen sammlungskatalog von seinem sohn 1656 publiziert und lord elias ashmole gewidmet wurde (tradescant (1656). Weitere wichtige Muschelillustrationen dann in den sammlungskatalogen barocker Wunderkammern, so bei olivi (1584), besler (1616), ceruti et al. (1622), besler (1642), Worm (1655), Moscardo (1656), olearius (1666). Zu rumphius’ tätigkeit als Muschelsammler und der Geschichte seiner rariteitkamer vgl. rumphius (1705), Martens (1902), strack et al. (1996). als neffe des leibarztes des englischen königs war Martin lister (ca. 1638–1712) von anfang an prädestiniert für eine karriere als naturwissenschaftler und Mediziner. sein glänzendes talent zeigte sich jedoch nicht nur in seinen anatomischen analysen, sondern vor allem in seinen conchologischen studien und seinem lebhaften interesse für eine damals noch in ihren anfängen steckende taxierung der geologischen Gesteinsschichten der britischen insel. nach einem studium in cambridge

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praktizierte er als arzt bis 1683 in york, ein Jahr darauf erreichte er den medizinischen abschluss in oxford und zog nach london, wo er leibarzt von Queen anne und später von charles i. wurde. er stand in engem kontakt mit der royal society, für deren organ, den Philosophical Transactions, er zahlreiche naturwissenschaftliche und medizinische artikel verfasste. Zum beispiel henry sloane, der lister Muscheln und schnecken von seinen reisen nach Jamaika mitbrachte, vgl. Dance (1986), s. 31. Dass rembrandt einen conus aus der Muschelserie von Wenzel hollar kopierte, ist mittlerweile widerlegt, vgl. hollars Muschelserie, bei Pennington (1982) als nr. 2187–2224 verzeichnet: »the history of this set is unknown, and its raison d’être obscure. representations of shells at this time are not common, nor were the shells themselves […]. there are also shells, undoubtedly from the tradescant collection, in the portrait by emmanuel de critz, c. 1604–65, of John tradescant and his friend Zythepsa now in the ashmolean Museum, which suggests that h. could have used the tradescant shells as his models, although there is some slight indication that the series was etched in the low countries. V. simply states that they were in the arundel collection. Five of h.’s shells were copied in Martin lister, historiae conchyliorum (etc.), 1685. V., at x, 24–61, has a note on this series: ‘a most curious book of shells, in thirty-eight Plates. some of the Plates have letters of reference, most of them have none. Many collectors of hollar’s Works have them not; nor are they to be met with in the most numerous collections, except two or three, where they are esteemed as great rarities.’ he adds a note that a set sold in london in 1750 for £10 5s. they are listed in townely (no. 468) as ‘a matchless and unique collection of the extremely rare set of shells, containing eleven plates above what are specified in Vertue’s catalogue with M.s. title in Dutch’. this was bought by simco for

the extraordinarily high price of £71 8s., and as he was buying at this time for the royal library and the set at W. has a Dutch title, this may well be the same set. in F. many of the prints have the Dutch name added in a brown ink in what seems a late-seventeenth or earlyeighteenth-century hand. they were formerly owned by a. apell. nearly all the prints show signs of work with the graver. […] it was until recently believed that rembrandt had copied one of h.’s shells – P2195, ‘conus imperialis’; but J. Q. van regteren altena in ‘rembrandt en Wenzel hollar’ in De kroniek van het rembrandthuis for 1959 (nov. 1959, 13th Jaar, no. 5, p. 81ff) has, it has been pointed out to me, disproved this, and considers that rembrandt’s shell, a conus marmoreus, was almost certainly from his own kunstcaemer, although there is a tradition that rembrandt was inspired to etch this, his only still-life etching, from seeing h.’s series of shells.« (Vgl. Abb. 11a) [25]

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lister beschäftigt sich bereits in einem frühen text mit der Gerichtetheit von Muschelschnecken und spiralen, vgl. Martin lister (1683), s. 1–6; erwähnungen der spiralorientierung finden sich auch in lister (1678), wo sie Filippo buonannis interesse erweckten. Weitere conchologische abhandlungen: lister (1685–1692), (1696). Zu den illustrationen von William lodge vgl. unwin (1995). eine bibliografie der Werke listers bei keynes (1981). colonna (1616), s. 26: »rarior hic, & praeter morem à naturâ elaboratus, atque à nemine abservatus: cujus orbes non in sinistram partem convolvuntur, ut in omnibus testaceis marinis ac terrestribus; sed contrario modo ex sinsitrâ in dexteream orbes in amplum os, juxta orbis proportionem, desinunt.«

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es war das erste traktat, das sich ausschliesslich Muscheln widmete. kurz darauf erschienen Martin listers monumentale Historia Conchyliorum (london 1685–1692) und Georg eberhard rumphius’ D’amboinsche rariteitkamer (amsterdam 1705). in buonannis Werk waren jedoch – anders als bei lister und rumphius – noch alle schneckengehäuse spiegelverkehrt abgebildet, eine inkorrektheit, die in keinem späteren conchologischen Werk auftaucht, da sie zu klassifikatorischen unsicherheiten führen kann. Vgl. in diesem Zusammenhang das barocke interesse an ellipsen- und spiralbewegungen bzw. dem Verhältnis zwischen Masseanziehung und Zentripetalkraft, vgl. thompson (1917), s. 262f.: »Wir mögen uns auch an newtons erstaunlichen beweis erinnern: Wenn die schwerkraft sich umgekehrt proportional zur kubikzahl statt zum Quadrat der entfernung geändert hätte, dann wären die Planeten, statt an ihre ellipsen gebunden zu sein, in spiraligen bahnen von der sonne abgeschossen worden und die gleichwinklige ›logarithmische‹ spirale wäre ein solcher Fall gewesen.« Vgl. newton (1687), i, 9; ii, 15. buonanni (1681), s. 287: »non è però questa legge invariabile nelle chiocciole, come nel sole, che muovendosi con il moto diurno attorno ambedue gli emisferi del Mondo, ogn’uno, che l’osserva nell’emisfero boreale, il vede sempre nascere dalla parte sinistra, e tramontar nela destra.« Vgl. auch lister (1683), s. 3f.: »you tell me, that it is generally concluded by Philosophers, that the reason of the usuall Turn of the snailes from the left to the right, is the like the motion of the sun, and that especially more north-ward, there have not been hitherto discovered any in our parts of the contrary turn to the sun’s motion.« Die sonnenbewegung von West nach ost wird als kontinuierliche linksdrehung begriffen und mit der chiralität der Muschelschnecken in Verbindung

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gebracht, vgl. dazu cook (1914), s. 165f. cook zieht die achsenneigung – »an alteration in the socket« – als erklärung heran und beschreibt eine entsprechende Versuchsanordnung im labor: »as soon as the spiral begins to come out ‘e.g. of the egg of ‘Pharaoh’s serpents’ it will exhibit a dextral helix if the tube is dented slightly on the left, and a sinistral helix when the orifice of the tube has a dent upon the right.« (s. 157). Zuvor hatte kant die vermeintliche Parallele zwischen Planetenrotation und Windungsrichtung der Muscheln aufgehoben und für letztere eine genetische ursache vorgeschlagen, vgl. kant (1768), s. 83: »Diese bestimmte eigenschaft wohnt eben derselben Gattung von Geschöpfen unveränderlich bei ohne einiges Verhältnis auf die halbkugel, woselbst sie sich befinden, und auf die richtung der täglichen sonnen- und Mondbewegung, die uns von der linken gegen die rechte unseren antipoden aber diesem entgegenläuft; weil bei den angeführten naturprodukten die ursache der Windung in den samen selbst liegt.« buonanni (1681): »[…] il vede sempre nascere dalla parte sinistra, e tramontar nella destra; poiche alcune ve ne sono, che in sito contrario si attorcigliano.« kant (1768), s. 83: »und so sind die beiden seiten des menschlichen körpers, ungeachtet ihrer großen äußeren Ähnlichkeit, durch eine klare empfindung genugsam unterschieden, wenn man gleich die verschiedene lage der inwendigen teile und das merkliche klopfen des herzens beiseite setzt, indem dieser Muskel bei seinem jedesmaligen Zusammenziehen mit seiner spitze in schiefer bewegung an die linke seite der brust anstößt.« thompson (1917), s. 263. hervorhebungen im original.

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Vgl. das aufgefrischte interesse an der chiralität von Muschelschnecken und spiralformen in den lebenswissenschaften um 1900, zum beispiel bei haeckel (1904), cook (1914), s. 168: »in fact, though recent investigations seem to indicate that Pasteur was incorrect in stating that compounds exhibiting optical activity (and therefore molecular asymmetry) were invariably organic, yet it remains true that the only way in which a difference of property can actually be distinguished, or defined, between such right- and left-hand spirals is when they are brought in contact with the vital principle.« siehe auch Wilhelm Worringers betonung der »lebenskraft« der dynamisierten spirale und ihres inhärenten symmetriebruchs (Worringer (1920), s. 38); als Prinzip der temporalisierten, »nomadischen linie« aufgegriffen von Deleuze et al. (2002), s. 688–93. Ähnliches geschieht beispielsweise mit Wenzeslaus hollars Conus imperialis, der in einem aquarell von Mathias Withoos spiegelbildlich umgekehrt wird (vgl. Abb. 11a und b). eine korrigierte Übernahme von hollars conus auch in rumphius (1705), fol. 108.

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Fig. 1: F. anderloni (nach Giuseppe lanfranchi), sommità del Monte etna, copper engraving, in: spallanzani, lazzaro (1792–1797), Viaggi alle due sicilie e in alcune parti dell’appennino. Pavia: comini, Vol. i, Pl. ii.

Picturing the Inaccessible: Gazing Under the Earth’s Surface Between Empiricism and Speculation [1] susanne b. keller »Wir kennen die oberfläche des erdbodens, wenn es auf die Weitläufigkeit ankommt, ziemlich vollständig. allein wir haben noch eine Welt unter unseren Füßen, mit der wir zur Zeit nur sehr wenig bekannt sind. Die Bergspalten, welche unserm senkblei unergründliche Klüfte eröffnen, die Höhlen, die wir in dem Innern der Berge antreffen, die tiefsten schachte der Bergwerke, die wir Jahrhunderte hindurch erweitern, sind bei weitem nicht zureichend, uns von dem inwendigen Bau des großen Klumpens, den wir bewohnen, deutliche Kenntnisse zu verschaffen.« [2]

Empirical Observation in the second half of the eighteenth century, empirical observation in the sense of fieldwork had become a dominant paradigm in many areas of study – especially in geographical, geological and meteorological research. [3] the implicit and often also explicitly expressed aspiration was to study the objects of nature ‘on the spot’ and with one’s own eyes (fig. 1). the observation of nature also became the subject of methodological and theoretical consideration amongst natural historians. in 1770, the Dutch society of sciences in haarlem announced a contest for treatises that were to answer the question What is required for the art of observation and to what extent does this art contribute to an improvement of judgement? the prize was won by the swiss scholar and clergyman benjamin carrard (1730–1789), who compiled a veritable catalogue of the criteria for adequate observation of nature in a treatise of 430 pages. [4] the librarian and naturalist Jean senebier (1742–1809) from Geneva, although he did not win the first prize, also received an award from the haarlem society. he saw addressing the question as an opportunity to publish his similarly extensive essai sur l’art d’observer et de faire les expériences in 1775, which was soon translated into German and even appeared in a revised, enlarged edition in 1802. [5] senebier illustrated his criteria for the observation of nature with repeated reference to examples related to geology and mineralogy (among only a few other fields). For instance, he pointed out that:

“Der Mineraloge ist beobachter, wann er gleich die Wölbungen der erde erschüttern lässt, um die abwechselung ihrer schichten zu verfolgen, um die Mutter der edelgesteine zu eröfnen [sic], und um die Metalladern seinen augen darzustellen.”[6] according to the swiss naturalist, it was essential to study geological phenomena – empirically – on the spot (not only in the cabinet) and to make a detailed description of the facts observed: “Wann von einem Mineral die rede ist, so ist es nicht genug, aus einzelnen bruchstücken seine Geschichte zu entwerfen; man muß es an seinem natürlichen standorte selbst sehen, die natur über dem Geschäfte seiner erzeugung zu überraschen trachten, suchen, wie, aus welchem stoff, durch welche Verbindungen und Mittel sie es hervorbringe, die Veränderungen, die es von der luft, vom Wasser und Feuer zu erleiden hat, sorgfältig aufzeichnen.” [7] senebier also frequently emphasized the importance of visual perception for scientific observation: “unter allen sinnen giebt das Gesicht die größte anzahl von begriffen in die seele; die Wissenschaften und künste haben ihm ihren ursprung und Fortgang zu danken; er macht die lust des Weisen, dessen kenntnisse er vermehrt [...]. Dieser sinn ist gleich geschickt, in die Gegenstände zu dringen, die ihre kleinheit, ihre entfernung

PicturinG the inaccessible: GaZinG unDer the earth’s surFace betWeen eMPiricisM anD sPeculation

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oder ihre Größe außer unserer sphäre zu setzen scheinen, er führt die seele bis an die Gränzen der schöpfung, und stellt sie an den rand des unendlichen.” [8] in the 18th century, references to the sense of sight, vision, seeing, and visual perception were omnipresent in descriptions of natural phenomena. Vision constituted the central human sense in the concept of adequate observation in natural history. this was reflected in the enormous increase in visual representations of nature’s objects in scientific publications. [9] not for the first time, but increasingly, images were seen as autonomous media of information and communication. this new claim for a visual representation of natural phenomena coincided historically with a new interest in landscape painting and, more specifically, with the emancipation of the genre of topographical and documentary representation of nature within the traditional hierarchy of the fine arts. in that hierarchy, primacy had hitherto been accorded to historical landscape painting – i. e. the presentation of moral narratives in ideal settings. [10] as a consequence of this change in aesthetic appraisal artists, draughtsmen and scientists increasingly cooperated in producing publications and sometimes artists even participated in science itself. [11] however, this article is concerned with a branch of natural history where intrinsically the human sense of sight is extremely limited. the geological underground as a subterranean space is not physically accessible in the same way as a geographical landscape, 158

which can be visually observed, surveyed, described and depicted according to the criteria of modern empirical science. in contrast to scientific illustrations portraying the morphology of the earth’s surface, images of the underground can scarcely refer to pictorial conventions or artistic traditions of naturalistic representation. empirical examination of the subterranean world – carried out ‘on the spot’ and with one’s own eyes (as required by the described research paradigm) – is feasible only to a very limited extent. our conception of the appearance, configuration, and consistency of the underground is based on an intellectual synopsis of extremely fragmentary insights. attempts to visualize the interior zones of the earth must therefore resort to as many of the available fragments of information as possible. in any case, they will always remain largely dependent on the results of scientific speculation and deductive conclusion. My argument is, however, that pictures did (and still do) play a fundamental role in the production and communication of knowledge about the earth’s interior and the underground. yet, translation of the fragmentary knowledge of the subterranean into images required the development of specific strategies of visualization. these differ over time, as will be seen. i understand images as a kind of condensation of the sense of sight or at least as a specific clue to what was and could be seen at a particular time. My aim is to analyze the role of images of the underground as instruments of scientific cognition and communication by closely looking at the images susanne b. keller

Fig. 2: caspar Wolf, eine Jura-höhle (Das innere der bärenhöhle bei Welschenrohr), 1778, oil on canvas, 42,3 × 34,5 cm, solothurn, kunstmuseum solothurn. PicturinG the inaccessible: GaZinG unDer the earth’s surFace betWeen eMPiricisM anD sPeculation

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themselves. this perspective is inspired by recent bildwissenschaftliche approaches to art history, which include the whole field of images beyond the visual arts – without losing sight of the specific historical achievements of artists in visualizing the world and its objects. [12] My analysis is guided by a pair of fundamental interrelationships of form and content in underground representations: on the one hand, the communication of the image with its accompanying text and, on the other, the (formal) interactions of surface and underground within the image. Light one fundamental problem besides the fragmentary nature of visual insights into the underground is that the indispensable prerequisite for seeing is the existence of light. ever since antiquity, truth has frequently been equated with light, and knowledge with illumination. this applies particularly to the late eighteenth century when the metaphoric imagery of ‘light’ culminated in the term ‘enlightenment’. this is reflected, for instance, in the political iconography of the French revolution. [13] however, to ‘shed more light’ on the unknown realms of the underground poses a specific problem: if one goes down into a cave or mine, the major factor missing is light (fig. 2). in his work abbildungen and Beschreibungen merkwürdiger Höhlen um muggendorf im Beyreuthischen oberlande […] (1797) the cave researcher Johann christian rosenmüller attributed the poor quality of his engravings to the following problem: 160

“alle zum Zeichnen erforderliche bequemlichkeiten kann man schlechterdings in den höhlen nicht haben. Der enge raum, die beschwerlichkeiten des steigens, das herabträufelnde, stalactitische Wasser und andre hindernisse erschweren das Zeichnen an solchen orten ungemein. Das unangenehmste hidnerniß aber ist dieses, daß abbildungen von tropfsteinhöhlen nicht leicht die beleuchtung und haltung, welche das Gefühl und die regeln des künstlers verlangen, erhalten können, wenn nicht die deutliche Darstellung der Gegenstände dabey verlieren soll, und diese ist doch der eigentliche Zweck bey dergleichen abbildungen. auf so engen und beschwerlichen Wegen ist das einbringen von Fackeln in die höhle unmöglich. ich konnte mich also nur mehrerer hier und da aufgestellten lichter zur beleuchtung bedienen […].” [14] hell even for studies in the scientific investigation of the underground, aspects belonging to a more general history of ideas cannot be completely ignored: the semantic concept of the underground as the ‘underworld’, handed down from classical and Far eastern mythologies, remains an underlying feature of the underground in metaphors to this day. there was consensus amongst poets of antiquity that hades was beneath the earth – with classical references to hell based largely on Virgil’s account of aeneas visiting the underworld. [15] there are also many references susanne b. keller

to a subterranean hell in the old testament. [16] this christian view was supported by symmetrical notions of medieval (platonic) cosmological theories, which saw the earth as the lowest sphere, above which increasingly sublime spheres continued upwards towards heaven, culminating in the ethereal sphere of the empyrean. hell was at the opposite end: at the lowest, most profane place beneath the earth’s surface or, as robert hughes puts it: “the medieval universe was, in fact, infernocentric.” [17] Paintings of the middle ages visualizing the contemporary christian understanding of hell – often as part of larger representations of the last Judgement – also portrayed hell as ‘down below’. the damned are shown trapped and imprisoned in the underground, which usually is depicted as a dark, cave-like place – narrow, infertile, rocky and volcanic. rocks and geological structures are a central iconographic element of hell and the entrance to it. [18] in fact, hell was frequently represented as a kind of geological cross section of the underground, thus revealing the various compartments of hell. [19] it took christianity some time to adjust its notion of hell to the impact of copernican theory. [20] however, the subterranean theory of hell prevailed in christian eschatology, and negative associations towards the underground can still be found in nineteenth century art as, for instance, in the ‘catastrophic paintings’ of John martin (1789–1854), who visualized biblical, literary and historical disasters on huge canvases. [21] martin staged the biblical narrative of the last Judgment as a geological revolution that turns mountains

upside down, opens fiery abysses in the earth’s crust and which makes men, women and children plunge into subterranean depths. [22] Cosmology images that represent the interior of the earth have appeared in books on cosmological theories of the earth since the seventeenth century, as for example in descartes’s (1596–1650) Principia Philosophiae (1644) (fig. 3). [23] descartes’s engravings were designed to show the materialization of the terrestrial globe from a primitive sun-like state and, particularly in the figures discussed here, to visualize his idea of the subsequent formation of the varied topographical morphology of the earth’s crust. in a similar context appeared the work of the danish anatomist and natural philosopher nicolaus steno (1638–1686), who published a latin treatise known as Prodromus in 1669. [24] in this treatise the author sought to explain the formation of rock strata by sedimentation, taking as an example the geological history of tuscany, where he was living at the time. in an annexed plate, steno presented a series of extremely diagrammatic pictures to illustrate his notion of the gradual evolution of irregular landscape formations over a long geological time span (fig. 4). [25] the comprehensibility of such schematic pictures is highly dependent on their interlocking with the text. this is achieved by the reference numbers and letters within the pictures. without such mediation, the two media could not actually be linked.

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fig. 3: wood cut, in: descartes, rené (1644), Principia philosophiae. amsterdam: ludovicus elzevirius, p. 215. fig. 4: copper engraving, in: steno, nicolaus (1669), de solido intra solidum naturaliter contento dissertationis Prodromus. florenz: ex typographia sub signo stellae, figs. 20–25.

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therefore, reference numbers have been part of the visual language of scientific and technical book illustration since its earliest times. descartes and steno regarded visual representations as indispensable elements in imparting their ideas to the scientific community – if not as part of their very working method itself. the image proved essential for conveying spatial relationships within the envisaged cosmological/geological configuration and, moreover, for presenting temporal aspects such as ‘before’ and ‘after’. the latter can thus be understood at a glance, a quality text alone could not provide. however, in both illustrations there is no ‘surface’ in the picture, which would allow the beholder – by imagining himself in the naturalist’s place – to reconstruct and comprehend the path from empirical landscape observation to inductive generalization. descartes and steno used their diagrams to visualize cosmological thought models. it is possible that a hand-made model preceded the diagrammatic representation which the philosophers would have used to develop and clarify explanations of the phenomena. model and illustration, however, were developed on the basis of mechanical principles and hypothetical speculation. the diagrams were “meant purely as pictorial versions of theory”,[26] far removed from empirical observation of nature. Mining with the help of visual illustration, cosmologists such as descartes and steno sought to find an explanation

for the formation of the earth that was compatible with the principles of their mechanistic philosophy. however, parallel to this theoretical scholarly endeavour there existed a centuries-old, broad empirical knowledge of the structures and consistence of the underground – or at least of its upper-most crust. ever since prehistoric times the development of mining had allowed man to penetrate – at least partially – the potentially threatening underground (which, from antiquity onwards had also been understood as the sphere from where earthquakes and volcanoes originated). [27] and ever since the sixteenth century, pictures had become exceedingly important for ensuring effective communication about subterranean structures and locating mineral deposits. [28] in 1556, georgius agricola (1494–1555) published his De re metallica, which for centuries was an authoritative source of information on mining practices. [29] in his 264-page book he provides an abundance of extremely detailed instructions concerning the precautions, activities and procedures required for successfully locating and exploiting mines. however, what brought him real prominence were the 292 woodcuts that adorned his book. [30] agricola explained the didactic purpose of his illustrations in his dedication: “ich habe [...] viel mühe und arbeit verwendet, auch keine Kosten gescheut [...] um abbildungen zu schaffen, damit die mit worten beschriebenen dinge, die den gegenwärtigen oder zukünftigen menschen unbekannt sind, ihnen keine schwierigkeiten für das Verständnis bereiten.” [31]

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among the many rather technical illustrations of early modern mining machinery and details of the diverse practices of beneficiation, assaying, smelting etc., there are also numerous landscape depictions. [32] these images are remarkable in that they demonstrate in an exemplary manner the fundamental difficulty of conveying an impression of hidden, three-dimensional subterranean structures visually (figs. 5–7). unlike the cosmological illustrations of the underground by descartes and steno, agricola’s pictures depict primarily surface features. none of the illustrations shows very deep penetration into the underground (even though there were already mines advancing more than 100 metres underground at that time). [33] this reflects one of agricola’s major concerns: the importance of precise and careful observation of the surface. the first factor to be taken into account before starting mining was the aboveground environment: “bevor der bergmann gänge zu bauen beginnt, muss er siebenerlei beachten: erdoberflächenform, erdoberflächenbeschaffenheit, wasser, wege, Klima, landesherrschaft, nachbar.” [34] actual prospecting – locating mineral deposits hidden deep in the ground – even required the application of ‘artistic standards’ (“Kunstregeln”). they included examining nearby springs, rivers, rubble, soil, changes in vegetation and fertility. [35] the illustrations mirror this approach: the images show hilly landscapes with trees, shrubs and small buildings. 164

these are recognizable symbols of the beholder’s everyday visual experience and emphasize the importance of being rooted in the familiar surface. Yet the ultimate purpose of these visualizations was to give a picture of hidden underground structures. this aspect is pictorially taken into account by means of geometrical lines and planes that are ‘placed within’ these landscapes. these strips and stripes are used to indicate the directions, dimensions, proportions and spatial relationships of several veins (“gänge”), beds (“flöze”) and mineral deposits (“stöcke”) within the landscape. agricola’s depictions of the geological underground represent an interesting hybrid to modern eyes: they are neither purely landscapes nor pure geological sections as we would define them. Pieper has argued these landscapes should be read as bird’s-eye views and not as ‘frontal views’. [36] i disagree on this interpretation. on the contrary, i think the lines and planes are to be read as schematic indications of direction and configuration rather than as straightforward depictions of existing objects. (and in this they bring to mind the representational approaches of descartes and steno.) the images are reluctant to show these hidden structures, as if one could actually perceive them visually. on the one hand, the geometrical indications stand for concrete objects, for the matter of specific minerals that do exist in the underground and that are to be located and brought to the surface. on the other hand, through differentiated application of the graphical devices offered by woodcut technique the images susanne b. Keller

fig. 5: Kreuzung von gängen und flözen, wood cut, in: agricola, georg (2003), zwölf bücher vom berg- und hüttenwesen, wiesbaden: fourier Verlag, p. 53. (reprint 1928, first published 1556) fig. 6: gang mit seitlichen trümern, wood cut, in: agricola, georg (2003), zwölf bücher vom berg- und hüttenwesen, wiesbaden: fourier Verlag, p. 56. (reprint 1928, first published 1556) fig. 7: ursprung, ende, Kopf und schwanz eines stockes, wood cut, in: agricola, georg (2003), zwölf bücher vom berg- und hüttenwesen, wiesbaden: fourier Verlag, p. 55. (reprint 1928, first published 1556)

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clearly distinguish between structures that can be observed and structures that can only be inferred. by the middle of the sixteenth century, the technique of woodcut was broadly established in europe. it was the dominant reproduction method of book illustrations, broadsheets and other graphical works and had been perfected at that time by albrecht dürer (1471–1528). woodcut was superseded after 1600 by copper engraving, which allowed for much finer lines and hatching – thus facilitating subtle chiaroscuro graduations and an improved rendition of plasticity. [37] because these qualities were difficult to achieve with woodcuts, they were often illuminated after printing; or, the purchaser of the book received ‘instructions’ on how to colour the pictures in order to make them ‘better’. [38] there was, however, with all reproduction techniques a major problem: the authors of the books seldom had the skill and training to draw the pictures themselves, despite deeming them necessary to complement their written explanations. in agricola’s case, the learned author lived in chemnitz near the mining region of the erzgebirge, where he worked with one or several draughtsmen who made drawings according to his instructions, perhaps ‘on the spot’ and probably with at least some basic familiarity with mining. these drawings were subsequently sent to a renowned print workshop as far away as basel or bern in switzerland, where different draughtsmen transferred the representations to the woodblocks. then finally another person, the engraver, carved the illustration into the wood, ready 166

for printing. [39] this means it cannot have been easy for the swiss artisans to always ‘understand’ what the original drawings were meant to convey. it has been suggested that agricola specifically made use of the visual medium to involve – and instruct – illiterate individuals in mining. [40] however, it has to be asked whether the text alone could have fulfilled agricola’s aim of imparting knowledge, to a literate person – without the images. on the other hand, an understanding of the images themselves is largely dependent on verbal explanations: reference letters in the picture relate certain places to their respective captions under the image. one of the advantages of woodcut is being able to print images directly onto the page of a book. unlike for copper engravings, no extra sheets for the plates had to be inserted in the volume for woodcuts. this meant agricola could insert the illustrations exactly where the text discussed the subject visualized in the respective picture. Geology geological sections in late eighteenth century geological and stratigraphical research were for the most part based upon mining experience. and with the development of modern empirical geology, those scientific authors who speculated about the interior of the earth “without ever having seen a mine” met increasingly with criticism. [41] the german mineralogist Johann gottlob lehmann (1719–1767), in particular, stressed the importance of empirical investigation of the underground: he called upon geologists to susanne b. Keller

descend into pits and galleries and in 1752 published an article entitled Ohnmaßgeblicher Vorschlag, auf was Art und Weise man zu einer genauern Entdeckung der unter der Erde verborgenen Dinge, oder kurz zu sagen, zu einer unterirdischen Erdbeschreibung gelangen könnte. [42] lehmann urges travellers to pay closer attention to geological and mineralogical aspects of the countries they visited. but he also concedes at the very beginning of his essay: “[...] daß es unmöglich ist etwas vollständiges in diesem stücke jemals zu erwarten, weil keines menschen alter zureichend seyn würde, auch nur eine gegend von einer meilweges durch und durch von der oberfläche biß auf das tieffste zu untersuchen.” [43] he suggests, though, that the goal of an “improved subterranean ground description” could be achieved through the participation of numerous individuals: “[...] wobey auch landgeistliche, Verwalter, Jäger, ja selbst bauern hülfliche hand leisten könnten, wann ihnen anbefohlen würde, auf alle besondere arten von steinen, erden, wassern und dergleichen achtung zu geben, da sie beständig auf dem lande sind, und alle winkel ihrer güter zu durchkriechen nöthig haben.” [44] this suggestion again reflects the importance of surface surveying. like agricola, lehmann asks

his readers first of all to read attentively all traces that could give hints to the existence of concealed structures and contents. only then, in a second step, are observers instructed: “wollen [wir, s.K.] also unsrer arbeit näher treten, oder bergmännisch zu reden, wir wollen unterkriechen.” [45] while surveying, the researcher should remember to record even the least apparently interesting circumstance. subsequently: “[...] bringt man die ganze gegend in einen genauen und sorgfältigen riß, man zeichnet alle oerter an, wo man etwas entdecket hat, man macht nach gelegenheit einen ordentlichen grubenriß, darauf die gänge und dergl. nach den stunden des compasses angegeben werden, man füget denselben eine beschreibung bey, und erlanget hierdurch eine möglichst genaue erkenntniß der vorgenommenen gegend.” [46] according to lehmann, it is the very process of writing one’s observations down and particularly making maps and drawings of a geological section (“grubenriß”) that leads to knowledge (“erkenntniß”). his proposed method envisages that the whole procedure – surface-study, taking notes and drawing plans – is repeated with neighbouring areas to ultimately compile a single survey from the separate studies. such endeavours were deemed very useful: “da doch kein ort in der welt so gar leer ist, dass nicht wenigstens etwas nützliches unter der erde daselbst verborgen seyn sollte [...].” [47]

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lehmann is considered one of the founders of stratigraphy, which by 1750 was, of course, neither established as a discipline nor even generally known. nevertheless, he was acknowledged widely in his time. [48] senebier, in his Essai sur l’art d’observer, repeatedly refers to lehmann as a leading example of a mineralogical observer because the german mineralogist did not only analyze any possible aspect of a mineral chemically, he also: “[...] beschreibt die ganze umliegende gegend und ihre Produkte, welche die natur daselbst erzeugt, besteigt die benachbarten gebirge, befährt alle stollen, die in dieser gegend unter die erde getrieben sind, sucht seine gegenstände an ihrem geburtsorte selbst auf, und sucht die natur über dem werke ihrer erzeugung zu erhaschen.” [49] lehmann’s insights into subterranean strata provided the basis for several publications, including a book, which appeared shortly after the lisbon earthquake, entitled Physikalische Gedanken von denen Ursachen derer Erdbeben und deren Fortpflanzung unter der Erden, größtentheils aus dem Baue des Erdbodens hergeleitet. [50] in this publication, he inserted two plates – of which the second is shown here (fig. 8) – for the purpose of visualizing the Paths of the Earthquake and the Causes of it Further Propagation. [51] the engraving shows, in its top zone, the schematic portrayal of a landscape: a ridge of hills stretches from the left to the right and on the horizon vegetation 168

and some buildings can be discerned. below, the hills are shown in section, as can be gathered from the accompanying text. this may also be concluded from the picture itself, where some subterranean fissures are indicated and marked by the letter f. the larger, lower part of the illustration adjoining the upper one below a demarcation called “horizontal line” appears to be a diagram at first sight: the white space is filled with a geometrical arrangement of straight lines that are marked with different letters. the explication of the picture in the text indicates that this illustration represents a vertical section through the ground. the various straight lines stand for earth strata of different compositions and formations and are intended to visualize the underlying geological structure of the landscape depicted above in a schematic manner. lehmann used his illustration to demonstrate his hypothesis that an earthquake, which was triggered at a specific point by a subterranean explosion in a coal seam (marked in the illustration with the letter c, near the right margin), propagated along the stratum i up to a vertical vein V (near the left edge). this led to ground movement at the surface, at a point marked X (upper left). lehmann wanted to prove that the configuration of the underground strata exerted a direct influence on the earthquake’s destructive force at the surface, and he comes to the self-confident conclusion: “es ist fast nicht möglich eine andre und gewissere Nachweisung von denen wegen derer susanne b. Keller

fig. 8: glassbach (nach Johann gottlob lehmann), Von denen wegen des erbebens und denen ursachen der weitern ausbreitung derselben, Kupferstich, in: lehmann, Johann gottlob (1757), Physikalische gedanken von denen ursachen derer erdbeben und deren fortpflanzung unter der erden, größtentheils aus dem baue des erdbodens hergeleitet, und mit nöthigen Kupfern versehen. berlin: lange, Pl. ii. Picturing the inaccessible: gazing under the earth’s surface between emPiricism and sPeculation

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erdbeben, und deren fortpflantzung unter der erden zu geben, als diese, welche aus dem innern bau des erdbodens genommen ist, folglich nicht auf bloßen Muthmaßungen beruht.” [52] in spite of his conviction that his insights were “evidence”, lehmann felt the need to construct a largely hypothetical model of subterranean structures. a striking feature of his section – and, in fact, of almost all underground visualizations – is that it does not (and cannot) provide an identifiable vantage point, which would explain from what position the draughtsman ‘viewed’ the motif. in contrast to the conventions of traditional landscape painting, there is no foreground that would allow the beholders an imaginary access to the picture by putting themselves in the artist’s place and following his gaze. [53] this again brings to mind the speculative cosmological models of descartes and steno. lehmann’s depictions, however, differ from agricola’s approach (and other similar examples) in which the illustrations are at pains to link the underground to the known surface through the construction of perspective or other stylistic techniques. [54] by contrast, diagrammatic sections like lehmann’s conceptualize the terrain so that observers are aware of the invisible underground’s physical location and find it transferred to their mind – and so to the level of theoretical discourse. there it can become the subject of investigation and conjecture. this is inconsistent with lehmann’s ideal of a description of the earth (“erdbeschreibung”) based on 170

as much empirical observation as possible. so lehmann, who came from a mining background and like other geognosts of his time was anxious to distance himself from any speculative, cosmological labelling,[55] tried to reinforce his ‘empirical authenticity’ in other ways. on the one hand, he gave extremely detailed verbal descriptions of his actions and the observations he had made in the text. on the other hand, he affirmed the authenticity of the picture by adding his signature: the lower left corner bears the inscription “dr. Johann gottlob lehmann inv:[enit] et del:[ineavit]” – in other words, he himself had conceived and drawn the picture. this further underlines the importance the author attached to the image. signing an illustration was a common practice among artists but unusual among scientists. lehmann’s unconventional emphasis of the authorship of his scientific illustration points to a problem already addressed in the context of the technical genesis of agricola’s woodcuts: that cooperation and communication between the different individuals involved from the first sketch of an image to the printed book form could present some difficulties. it is not easy to retrace the disputes and discontent in individual cases, but there are the occasional indications that naturalists disapproved of the final result. there were even cases where the artist, too, was disappointed with what had eventually become of his drawing after submitting it to the scientific author. [56] in the emerging geological sciences a naturalist often chose a draughtsman whom he “taught to see with geological eyes” and with whom he worked susanne b. Keller

again and again. [57] or, in some cases like lehmann’s, the naturalist himself began to ‘see with his pencil’, i. e. to try and translate and convey his observations in a visual form to his own satisfaction. [58] however, it was almost always someone else who executed the final engraving. in this area of tension, even conflict, between the original perception of the learned observer and the mediated result of the didactic visual material, which made these perceptions public, some artists even began to see the phenomena ‘with geological eyes’, convinced they possessed the faculties of perceiving, observing and communicating geological pieces of evidence in an adequate form. one of these artists was Jean hoüel. Jean Hoüel in 1782–1787, the french artist and architect Jean hoüel (1735–1813) published his illustrated Voyage pittoresque des isles de Sicile, de Malte et de Lipari. [59] he had collected comprehensive material during two extended sojourns in south italy and sicily in the years 1769–1772 and 1776–1779. for the four-volume folio oeuvre he translated 264 of his more than 1000 gouaches and drawings into sepiacoloured aquatints himself. [60] like the majority of travelers of his time, hoüel was interested in a multitude of aspects of the country he aimed to describe – a fact mirrored in the title: Picturesque Voyage to the Isles of Sicily, Malta, and Lipari, which considers the antiquities still preserved

there, the most important natural phenomena and the habits and customs of the inhabitants. even though hoüel – as a trained artist and architect – was primarily concerned with the many classical sites in the former Magna Graeca, he also focused a remarkably large part of his attention on the natural history of sicily and, in particular, on its volcanic phenomena. hoüel even included a treatise in his travel account entitled Observations sur la formation du Basalte,[61] as well as a chapter on his Hypothèse sur la formation des Volcans. in the latter, the artist boldly ventured to explain the historical development of mount etna with an approach that reveals a striking familiarity with leading contemporary geological ideas. however, what makes him particularly interesting for my argument is that he demonstrated his geological views with the aid of the visual medium. in his observations and descriptions of the grand volcano, hoüel adopted a decidedly inductive approach, as was the rule among the naturalists at that time: only after extensively describing the empirically, visually perceivable surface facts and pieces of evidence [62] did he venture to “try and penetrate the deep caverns” and correlate the visible signs with his inferred deductions of the invisible underground: “après avoir parlé de tous les effets & de tout l’extérieur de ce volcan, essayons pour le bien connoître de pénétrer dans ses cavernes profondes où réside un feu éternel: voyons quels en peuvent être les rapports avec les proportions

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fig. 9: Jean hoüel, coupes faites pour demontrer la formation et l’accroissement du mont etna, aquatint, in: hoüel, Jean (1782–1785), Voyage pittoresque des isles de sicile [...]. Paris: impr. de monsieur, Vol. 2, Pl. 119. fig. 10: Jean hoüel, coupes faites pour demontrer la formation et l’accroissement du mont etna, aquatint, in: hoüel, Jean (1782–1785), Voyage pittoresque des isles de sicile, [...]. Paris: impr. de monsieur, Vol. 2, Pl. 119, with accentuated reference letters.

connues de l’extérieur du volcan, & voyons si nous pouvons nous faire une idée de sa formation & sa progression.” [63] hoüel, who unhesitatingly called his essay on the formation of mount etna a “hypothesis”, elucidated it with significant help from one of his most remarkable plates (figs. 9 and 10). the title of the plate itself reveals the artist’s distinctly didactic concern: “coupes faites pour demonstrer la formation et l’accroissement du mont etna”. [64] the aquatint, 23 × 36 cm in size and like all plates signed “dessiné et gravé par J. hoüel”, shows four images, of which two (respectively) seem to form a pair. each one presents a section, which is divided into several differently tinted areas arranged horizontally. some shaded fields seem to recur in all the pictures. in the lower pair a mass of indefinable, smoke-like formations can be discerned; yet the images are barely comprehensible without reading the text. however, hoüel explicitly justified his use of the visual medium in this context: “J’ai représenté ces quatre coupes pour faire sentir plus facilement que par une simple description, les progrès successifs de la formation de cette montagne.” [65] in the text the author uses the illustration as an accompanying tool, to which he repeatedly refers. one learns that the sections are meant to represent four (imaginary) stages in the historical development

of mount etna. hoüel was convinced that the volcano evolved from the bottom of the mediterranean sea “thousands of centuries” ago. [66] and he emphasizes before he begins with his explanations that the assumptions he was presenting on the original formation of the volcano “ne seront point de simples conjectures, mais une suite d’observations physiques qui sont incontestables”. [67] the first vertical section on the upper left shows the sea level marked with the letter (a); the sea bed (b) which hoüel assumed was then completely even; the underlying ground (g) and, near the right margin, half of the pyramid of a tiny, emerging undersea volcano, the details of which are marked with (e), (c), and (f). the laterally reversed second section on the upper right represents a later historical stage, when the volcano had already increased in size by accumulating matter from both its own eruptions and the growing deposits of sea sediment. moreover, the sea itself had by then retreated slightly. in the third image, on the lower left, the sediment had already reached the ocean’s surface (i). when these were thus eventually exposed to climatic influences, erosion created valleys and hills on the slopes of the volcano, as shown in the fourth section, where the direction of the flow of rainwater is also indicated by an arrow (t). according to hoüel, the volcano grew in height and volume above all through its volcanic activity. the actual underground, that is the interior of the volcano, is understood – and depicted – as an enormous hollow space (hoüel compares it to “un pâté vide”) [68], filled with smoke (o). inside this cavity, a

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thin whitish stripe, “une clarté indicative” (m) adjoining the underground (g), is meant to depict an underground fire. hoüel stresses that it was his explicit intention to make it clear from the illustration itself that the subterranean fire was kept alive by drawing its nourishment from the rock fundament: “J’ai exprimé aussi dans ces quatre coupes le feu de l’intérieur du volcan, par une clarté M, M, qui touche exactement la terre g, g, pour marquer que c’est de la terre même qu’il tire sa substance […].” [69] while using text and image simultaneously for a dual-medium communication of his notion of how mount etna evolved, the artist is always at pains to give the readers/beholders the opportunity to follow and understand his decision to adopt a specific pictorial means of expression to signify and convey the appearance of a geological phenomenon. the recipients of his work are informed, for instance, that he assumed the undersea foundations of the mountain (g) consisted of various types of rock – which is why he depicted them with irregular strokes of different shades: “[…] matières dont j’ai exprimé les variétés par des traits irréguliers d’une teinte plus ou moins foncé, à l’endroit qui représente ce sol.” [70] hoüel explains in the text that he envisaged the subterranean fire hollowing out the walls of the enormous caverns through flames lashing out in all directions and so decided to visualize them as “pointed ramifications”: 174

“J’ai représenté ces divers foyers, & la manière dont ils agissent perpendiculairement & obliquement en tous sens, pour creuser la terre; je les ai représentés sous l’apparence de rameaux aigus à leurs extrémités, parce que je suppose qu’en s’éloignant du foyer principal ils se divisent toujours davantage.” [71] hoüel’s strikingly didactic style reflects his efforts to visualize invisible processes in his mind’s eye, from where he translated them into a material verbal-visual presentation. it is also important to note that the artist did not write primarily for a scientific audience. his published work was an elaborate travelogue from which readers at that time expected edification from interesting anecdotes, picturesque scenes, and architectural monuments. this might also explain why he depicted the unknown subterranean realm (unlike the naturalists discussed above) in a way reminiscent of a naturalistic and seemingly ‘really’ accessible, landscape. as a trained landscape painter and draughtsman hoüel possessed the technical ability to transcribe his ideas and perceptions visually with more sophistication than the typical naturalist, who tended to be unskilled artistically. in addition, as an architect he was very well versed in thinking – and recording – threedimensionally. [72] in fact, the majority of the plates of his Voyage show architectural monuments, of which he mostly presented a general view, an elevation or section, and also a plan. it appears he was particularly interested in ‘underground architecture’ as shown by susanne b. Keller

fig. 11: Jean hoüel, Plan et coupe de la cave sepulchrale, aquatint, in: hoüel, Jean (1782–1785), Voyage pittoresque des isles de sicile, [...]. Paris: impr. de monsieur, Vol. 4, Pl. 219. Picturing the inaccessible: gazing under the earth’s surface between emPiricism and sPeculation

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underground magazines, ancient prisons, baths, water reservoirs and sepulchral caves (fig. 11). he drew site plans of grottos and even ‘plans’ or bird’s eye views of islands and volcanoes, thus mentally and visually encircling them – like a classical monument. [73] as an artist he was very aware of the distinctive effects that different graphic techniques could offer to impart the specific features of a natural phenomenon. his unconventional use of the technique of sepia-colored aquatints allowed for subtle tonality and smooth gradations that emphasized a differentiated rendering of plasticity. [74] moreover, it can be claimed that hoüel as an artist even could perceive aspects of phenomena, which might not have come to the eye or mind of a mineralogist. because of his great interest in geological research, however, he was also able to apprehend objects that would have evaded a landscape painter’s gaze. thus, in hoüel’s work, artistic perception and scientific observation coincided in productive synthesis. also, hoüel succeeded in conveying that interdisciplinary interest in natural phenomena by a handling of the media of text and image that reveals his unambiguous striving for an ideal interconnection of the two. and he left no one in doubt about his qualifications: “[…] d’ailleurs j’étois peintre & architecte, & je pouvois avec les connoissances de ces arts, non-seulement m’intéresser plus qu’un autre aux objets que j’allois visiter, mais encore les reproduire […].” [75] 176

Ut pictura poesis with his sections of mount etna, hoüel not only peered under the volcano’s skin, he also projected his imaginary picture of its interior on to further imaginary images of the past stages of the mountain’s morphogenesis. his solution to the problem of visualizing a continuous sequence of geological events within a temporal dimension was the use of the visual device of interconnected ‘snapshots’ of four different stages. thus he was able to visually foreshorten an enormous period of time. in the traditional aesthetic debate on the respective superiority of the visual versus the verbal medium, discussions always focused on the question of which one was better suited to convey the notions of ‘space’ and ‘time’. ever since antiquity, painting had been compared to poetry, the role and competences of images to those of texts. in the eighteenth century, the old debate flared up again in the ut pictura poesis controversy. [76] the german poet gotthold ephraim lessing (1729–1781) played a prominent role in emphasizing the fundamental difference between the two media, and he claimed painting and poetry ought to confine themselves to their specific roles. he argued that language was a temporal medium best suited to express a sequence of interrelated moments (chronologically). the image, by contrast, was a medium of space able to represent concurrent incidences in a specific moment within differentiated spatial correlations (chorologically). [77] this applies to the process of reception as susanne b. Keller

well: whereas the content of a text has to be apprehended successively, sentence by sentence, a visual representation enables the beholder to grasp a represented scene at a glance. the visual medium was thus particularly well suited to represent the space of the unknown, threedimensional underground. this was already apparent in the ample visual material of agricola’s book and also reflected in descartes’s and steno’s cosmological images. interestingly, the latter, like hoüel, used a sequence of single ‘snap-shots’ of successive stages within earth’s history. in conveying a temporal dimension, the visual medium appropriated the narrative structure of a verbal description. thus scientific illustration challenged the postulate of the unity of space and time, which had hitherto held true for the fine arts. scientific illustration, however, was excluded from the aforementioned debates on aesthetics. instead, this genre enjoyed a sphere of aesthetic freedom in which it could try out new strategies of visualization that only much later entered the realm of the fine arts as an innovative means of expression. [78] however, as early as 1800, artists showed some awareness of the expressive quality of such context-related illustrations. the painter James northcote discussed the ut pictura poesis-problem in his article On the Independency of Painting on Poetry (1810) and associated himself with lessing’s position: “in a picture, there should be no attempt to tell a long and complicated tale [...].” [79] as an artist northcote was particularly interested in ascribing

to the visual medium a specific and indispensable competency – and he explicitly used scientific illustration to prove his point: “[...] there are certain ideas and impressions, which the mind is capable of receiving, and which words are not calculated to give. this is eminently exemplified in matters of natural history and mechanical inventions, which can never be explained by words alone, without the help of figures or diagrams added to the descriptions – the figure gives the form, the word its qualities.” [80] Photographic acknowledgements eth zürich, sammlung alte drucke: figs. 1, 9, 11; Kunstmuseum solothurn: fig. 2; max-Planck-institut für wissenschaftsgeschichte, berlin: fig. 3; staats- und universitätsbibliothek hamburg carl von ossietzky: fig. 4; niedersächsische staats- und universitätsbibliothek, göttingen: fig. 8.

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i wish to thank max Planck institute for the history of science, berlin, for granting me a postdoctoral research fellowship in 2005/2006, which gave me the opportunity to conduct the research for this article. i would particularly like to thank the participants of the departmental colloquium of department 2. Kant (1961 [1756]), vol. 1, pp. 215f. (“we have fairly extensive knowledge of the earth’s surface in terms of its expanse. however we have yet a world beneath our feet of which we still know only very little. the crevices of the mountains which open unfathomable chasms to our plummet, the caves we find inside the mountains, the deepest mine shafts which we have been extending over the centuries, are far from sufficient to provide us with clear insights into the inner structures of the lump we inhabit.”) all translations by the author unless otherwise stated. the term ‘empirical’ has broad and sometimes even contradictory connotations. i use it as understood by martin Kemp, “[...] in its more elastic sense as a form of knowledge ostensibly based upon observation without necessarily stipulating the precise roles of a priori and a posteriori procedures.” Kemp (1990), introduction, p. 1. see also williams (1976), s. v. “empirical”. carrard (1777). it first appeared as carrard (1771). the question had been proposed by charles bonnet, a member of the dutch academy, see Poser (2002), p. 39. carrard was also a member of the haarlem society. he published several papers on economic, agricultural and legal matters. senebier (1776). senebier was a member of several scientific societies. he became particularly well known for his publications on plant physiology. ibid., p. 5. (“the mineralogist is observer when he lets the vaults of the earth convulse to allow him to follow the sequence of its layers, to open up the mother of the gemstones and to present the veins of ore to his eyes.”)

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ibid., p. 57 (emphasis by the author). (“if we talk about a mineral, it does not suffice to delineate its history from single fragments; one has to see it by oneself in its natural environment, has to surprise Nature during the process of its production, has to search, how, from which compounds and agents nature is creating it, and has to carefully record the alterations it suffers through air, water, and fire.”) ibid., pp. 112f. (“of all senses, the sense of sight offers the largest number of notions to the human soul. the sciences and the arts owe their origin and progress to this sense. it delights the sage, whose knowledge it increases [...]. this sense is equally able to penetrate into matter that seems to be beyond our sphere due to its smallness, its distance or its large dimension, it leads the soul to the limits of creation and puts it on the edge of infinity.”) see also the french edition, senebier (1802 [1775]), vol. 1, p. 188. see Keller (2006), for a more extended survey of this subject. topographical landscape painting was seen as ‘low art’ for a long time, because it only recorded facts and did not convey any higher, universal truth. see e. g. Pointon (1979). i use terms like ‘scientist’, or ‘science’ anachronistically to make reading easier. however, i am aware that they were not in general use before the nineteenth century. the same applies to terms such as ‘geological’, ‘stratigraphical’ etc. for a discussion of ‘bildwissenschaft’ in comparison (and partly in opposition) to the term ‘visual studies’ – as used in the anglophone academic world – see bredekamp (2003).

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for a discussion of the term ‘enlightenment’ see zelle (1999), reichardt (1998). many examples of the political iconography of the french revolution concerning the meaning of ‘light’ can be found in herding et al. (1989). in the history of art there have been repeated debates on ‘light’, especially since the emergence of central perspective in the renaissance, which made use of the achievements of optical science. see Kemp (1990), alpers (1989), rosenberg (2001) (i thank susanne Pickert for drawing my attention to the latter article). rosenmüller (1796), with two coloured engravings; here cited from rosenmüller (1797). (“in caves it is utterly impossible to have the amenities necessary for drawing. the narrow space, the arduous task of climbing, the dripping stalactite water and other hindrances all make drawing extremely difficult in such a location. however, the most disagreeable obstruction is the fact that illustrations of stalactite caves cannot have the illumination and posture which the feeling and rules of the artist demand, if the representations of the objects are not to lose their distinctive quality. Yet ultimately the latter is the very purpose of such illustrations. on such narrow and arduous paths it is not possible to bring torches into the cave. so for illumination i had to avail myself of several candles which were placed here and there […].”) rosenmüller was a well-known surgeon and anatomist. for studies in the history of speleology see emslander (2002), holländer (2000 a). see hughes (1968), blanc (2004). see for example isaiah xiv, 15, ezekiel xxxi, 16, amos ix, 2, revelation xix, 20. hughes (1968), p. 201. dante’s “inferno” in his Divina Commedia was particularly influential on later artistic representations of hell. dante, however, took his material from earlier authors – from the Visions, from islamic and eastern sources, and especially from Virgil, see hughes (1968), p. 204.

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see e. g. fra angelico, The Last Judgement, after 1431, tempera on wood, 105 × 210 cm, museo di san marco, florence. see, for example, nardo di cione, The Inferno, fresco, sta maria novella, florence. see hughes (1968), pp. 160–64, also for a short-lived attempt to place hell in the sun around 1700. for martin see feaver (1975), campbell (1993), hopkins (2001). John martin, The Great Day of His Wrath, 1852, oil on canvas, 196 × 302,7 cm, tate gallery, london. descartes (1644). for an english translation see descartes (1984), the paragraphs discussed here are on pp. 199–203, see Pl. XViii. for descartes’s illustrations see baigrie (1996). further examples of similar visualizations can be found in burnet (1681), woodward (1733 [1695]) (and, as a precursor, leonardo da Vinci); see oeser (2003). steno (1669) (engl. trans. 1671). cf. albritton (1989), pp. 7–13; oldroyd (1996), pp. 63–67. the illustration is printed on the lower part of a fold-out plate at the end of the book. see adams (1990 [1938]), pp. 357–64, who comments on steno’s sections: “these, while diagrammatic in character, probably represent the earliest geological sections ever prepared.” (p. 362). see also scherz (1969), pp. 11–47, fabian (1988), which consists of a german translation by Karl mieleitner and fabian’s essay, pp. 93–174. montgomery (1996), p. 15. by the eighteenth century, one could even speak of a veritable “early modern inner colonisation” of europe, which the geological sciences promoted by opening a new natural dimension beneath the earth’s surface, see fuchsloch (2004).

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for a pictorial history of mining see wilsdorf (1987), winkelmann (1958). agricola (2003 [1557]). first edition published in latin 1556, german trans. 1557; ital. trans. 1563; engl. trans. published by the Mining Magazine, london 1912 (reprint new York 1950). the text was completed in 1550 (it took six years to work on the illustrations), see Pieper (1955); for agricola see also ernsting (1994), holländer (2000 b), esp. pp. 660–63, where he points to the (obvious) parallels of anatomical and mining illustrations. see also bredekamp (1981) on this subject. agricola (2003 [1557]) p. xxvii (“i have invested great effort and work, and spared no expense [...] to produce illustrations so that those things described in words, which are unfamiliar to present and future people, will not be difficult to understand.”) these appear predominantly in the third book, which deals with “veins, clefts and rock layers” (»Von den gängen, Klüften und gesteinsschichten«). see also the somewhat different landscape illustrations in the fifth book (for which there is no space to discuss here). cf. e. g. becke et al. (1986), p. 35. agricola (2003 [1557]), p. 24 (“before the miner starts to build galleries (i. e. to mine), he has to take into account seven factors: the shape of the surface, the surface features, water, roads, climate, governance of the country, neighbourhood.”) »die verborgenen und tiefliegenden erzgänge aber suchen wir mit hilfe von Kunstregeln auf [...].« agricola (2003 [1557]), p. 29, see esp. second book Die Aufsuchung von Gängen auf Grund natürlicher Anzeichen und durch Schürfen, ibid., pp. 24–33. Pieper (1955), p. 266. cf. e. g. ford (2003). see Pieper (1955), p. 267.

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cf. ibid., passim. this work procedure involving numerous individuals was typical for book illustration. artists, however, usually accomplished all the different steps themselves, as e. g. dürer, who was both a draughtsman and engraver. ibid., pp. 266f. this seems to be a misunderstanding of the above-cited passage of the dedication. ferber (1774), p. 5. lehmann (1752) (emphasis by the author). (“humble proposal regarding which method could achieve a more precise discovery of the things hidden under the earth’s surface, or, in short, a subterranean ground description.”) lehmann (1752), p. 30. (“[…] that it is impossible to ever expect something complete in this field, because no human’s age would suffice to examine even an area of one (square-) mile thoroughly from the surface to the deepest depths.”) ibid., p. 42. (“[...] whereat also country clergymen, bailiffs, huntsmen, even countrymen could give a helpful hand, if they were commanded to pay attention to all peculiar sorts of rocks, minerals, waters and the like, because they are constantly in the countryside, and have to crawl through all corners of their estates.”). see Porter (1977), pp. 128–56 on the participation of lay persons (amateurs, autodidacts, dilettantes) in late 18th-century geology; cf. also stewart (1992). lehmann (1752), p. 35 (“shall we move closer to our work, or to speak in mining language, crawl under.”) ibid., p. 37. (“[...] one draws up a precise and careful plan of the whole region, marks every place where something has been discovered, makes a proper mine section if possible, in which the veins etc. are indicated according to the hours of the compass, adds a description thereof and through this obtains as accurate knowledge as possible of the respective region.”) ibid., p. 41 (“because no place in the world is so completely barren that there is not at least something useful hidden under the earth.”)

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the term ‘stratigraphy’ was broadly used only in the second half of the nineteenth century when the examination of the layered structure of the earth became a separate discipline within geology. see secord (1986), p. 24. lehmann’s fame was based notably on his work Versuch einer Geschichte von Flötz-Gebürgen (berlin 1756). for lehmann’s significance to stratigraphy see freyberg (1955); hamm (1997), pp. 84–86; conkin & conkin (1984), p. 10f.; oldroyd (1996), pp. 74–77. in the many articles on geological subjects in diderot’s Encyclopédie, most of them written by Paul henri thiry baron d’holbach (1723–1789), lehmann is referred to as a leading authority. lehmann taught mineralogy and mining in berlin, held the title ‘Preußischer bergrat’, and became a professor of chemistry at the royal academy of the sciences in st. Petersburg in 1761. see also watznauer (1980). senebier (1776), p. 183, note. (“[...] describes the whole region and its products, which nature brings forth, climbs the neighbouring mountains, descends into every gallery driven under the earth in this region, locates his objects at their birthplace and seeks to catch a glimpse of nature as it works on its creations.”) lehmann (1757). the french translation by P. h. t. baron d’holbach became far better known: lehmann (1759). Von denen Wegen des Erdbebens und denen Ursachen der weitern Ausbreitung derselben, lehmann (1757), p. 43. ibid., p. 50 (emphasis by the author). (“it is scarcely possible to provide more definite evidence of the paths of the earthquakes and their propagation under ground than this evidence, which is taken from the interior of the ground and therefore not based on mere speculation.”) only from 1800 onwards landscape painting began to omit the foreground from the picture. see, e.g. matthias (1980), esp. pp. 226–53; busch (1983), in which the problem of the foreground in oil sketches around 1800 is discussed.

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see e. g. the elaborate engravings on mining in diderot’s Encyclopédie. see rudwick (2005), pp. 884f., n. 34. one example is Jakob Philipp hackert (1737–1807) who worked for william hamilton (1730–1803) near naples in his early career. hamilton published his illustrated Campi Phlegraei several years later (1776–1779) without even mentioning hackert’s name. see goethe (1891), p. 129. hamilton collaborated, for instance, for many years with the artist Pietro fabris, see hamilton (1776–1779), vol. 1, p. 5. a further prominent example is the scottish geologist John macculloch (1773–1835), who was the official draughtsman of the geological society of london. hoüel (1782–1787). an abridged german translation was published by Johann heinrich Keerl, see hoüel (1779– 1809), with only a few of hoüel’s plates reproduced as copper engravings. hoüel’s original gouaches and drawings are kept in the louvre, Paris, and the eremitage, st. Petersburg. for hoüels travels see Pinault (1990); Pinault sørensen (1994); several of the works with geological motifs have been exhibited: howoldt et al. (2002), cat. nos. 112–32. hoüel (1782–1787), vol. 2, pp. 66–76, see Keller (2001). for notes and observations on mount etna, see hoüel (1782–1787), vol. 2, pp. 55–115, even though there are other topics in between. for the Voyage au sommet de l’Etna see pp. 99–106. for plates showing mount etna see e. g. Pl. 104–105, 117–18, 121–23, 127. ibid., vol. 2, p. 88 (“after having spoken of all the effects & of the entire exterior of this volcano, let us now get to know it better by penetrating its deep caverns where an eternal fire resides: let us see how this relates to the known dimensions of the volcano’s exterior, & let us see whether we can gain an idea of its emergence and progression.”)

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ibid., vol. 2, pl. 119 (emphasis by the author). ibid., vol. 2, p. 96 (emphasis by the author). (“i have represented these four sections to enable [the reader] to understand the successive progress of this mountain’s formation more easily than through a simple description.”) ibid., vol. 2, pp. 90–97, p. 95. the belief that the earth was of such an old age was very progressive around 1780. even a renowned natural philosopher like buffon did not dare to publish his assumption that the earth was older than about six thousand years, as was calculated from biblical genealogies. see oldroyd (1996), p. 91, n. 16. this modern opinion prevailed, above all, among travelling naturalists, who studied geological phenomena on-site and were directly confronted with the remains of the major processes of the past. the conviction that in the past similar processes had taken place to those that could be currently observed was established only half a century later by charles lyell. for lyell’s “uniformitarianism”, see also oldroyd (1996), esp. ch. 6. hoüel was well acquainted with geologists, especially with nicolas desmarest (1725–1815), who even once mentioned the artist’s visual representations of basalt formations in a scientific article as a proof of his own progressive theory. see desmarest (1774), p. 749 (cf. Keller (2001), p. 126). hoüel (1782–1787), vol. 2, p. 58 (“[…] are in no way simple conjectures, but a set of physical observations that are incontestable.”) ibid., vol. 2, p. 96. ibid., vol. 2, p. 91 (emphasis by the author). (“in these four sections, I have also expressed the fire of the interior of the volcano by a brightness M, M that touches the ground G, G, for the purpose of indicating that it is from this ground that it takes its nourishment.”) ibid. (“[...] substances the varieties of which i have expressed through irregular lines of more or less dark color at the place that represents this ground.”)

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ibid., vol. 2, p. 95. (“i have represented these diverse hearths, & the manner in which they agitate vertically and diagonally in all directions to hollow out the ground; i have represented them as ramifications with pointed ends, because i suppose that they are increasingly dividing themselves when moving away from the main hearth.”) rudwick points to the essential importance of this ability for every student of geology, see rudwick (2005), p. 87. cf. hoüel (1782–1787), Pl. 63 (Vulcano) and Pl. 118 (monti rossi). the technique of engraving aquatints (also called “lavis” or, in german, “tusch-manier”) was developed 1765– 1768 by a contemporary of hoüel, Jean-baptiste le Prince (1734–1781). for the development of the graphical techniques see geck (1982). hoüel (1782–1787), vol. 1, p. Vf. (“moreover, i am a painter & architect, & (therefore) able through the acquaintance of these arts not only to be interested more than others in the objects i am visiting, but i can also reproduce them […].”) for an overview see schweizer (1972). lessing (1987 [1766]). with his book lessing responded to Johann Joachim winckelmann’s Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. dresden 1755, particularly on the latter’s interpretation of the famous hellenistic sculpture of Laokoon. a study of the influence of scientific illustration on the development of innovative visual experiments in the fine arts would require looking as far ahead as to twentiethcentury art. northcote (1810), vol. 1, no. iX, pp. 14–16, p. 15. James northcote (1746–1831) was a member of the london royal academy and a student of Joshua reynolds. ibid., p. 16.

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abb. 1: friedrich ludwig heinrich waagen (nach georg christoph lichtenberg), staubfigur, Kupferstich, in: lichtenberg, georg christoph (1778), de nova methodo naturam ac motum fluidi electrici investigandi. göttingen: dieterich, o. P., taf. 1.

Stillgestelltes Leben. Die Übersetzung von Natur ins Bild friedrich weltzien

für die gattung des stilllebens spielt der begriff der lebendigkeit in mehrfacher hinsicht eine zentrale rolle. im gegensatz zur bezeichnung in den romanischen sprachen – nature morte oder natura morta – ist in der ursprünglich niederländischen begriffsprägung, und davon abgeleitet auch im englischen und deutschen, das leben teil der terminologie: still leven, still life, Stillleben. uneindeutig bleibt freilich, was für ein begriff des lebens angesprochen ist. er liesse sich gleichberechtigt in medialer, gegenständlicher oder epistemischer hinsicht deuten. Dreifach stille Lebendigkeit auf das medium der malerei bezogen meint das stillgestellte, unbeweglich gemachte leben die angehaltene zeitlichkeit des daseins. im bild wird der ewige wandel gestoppt und in diesem zustand kontemplierbar, ohne dabei aber – und darin besteht die Kunst – den eindruck der lebendigkeit zu verlieren. es geht letztlich um die technische beherrschung der metamorphose. auf der ebene der dinglichkeit sind die dargestellten gegenstände des stilllebens dem wirklichen leben entnommen, dem alltagsgeschehen, das dem zeitgenössischen betrachter vertraut ist. leben meint in dieser hinsicht das leben jedes einzelnen, das konkret zu führende leben – im gegensatz zu abstrakten ideen philosophischer, theologischer oder sonst wie theoretischer herkunft. Von seinen antiken ursprüngen bis zu seiner blüte bei den niederländischen Künstlern des barock kennzeichnet stillgestelltes leben. die Übersetzung Von natur ins bild

ein hohes mass an Verismus die malweise des stilllebens besonders und bestätigt diesen aspekt. die Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts bringt das stillleben mit dem bildtypus des trompe-l’Œil in Verbindung: die mimetische annäherung des gemäldes an das tatsächliche alltagsleben soll bis zur Verwechselbarkeit getrieben werden. [1] dies führt schliesslich auf die dritte ebene: diejenige der deutung. spätestens seit dem barock ist das stillleben von der idee der Vanitas und des memento mori kaum mehr zu trennen. die Vergänglichkeit unseres irdischen daseins soll dem betrachter zu bewusstsein gebracht werden, der prekäre und vorläufige modus alles lebendigen. sterblichkeit ist die ultimative definition des lebens. natur ist unaufhaltsame metamorphose, der Kreis von geburt, blüte und Verfall – ganz gleich, ob dieser zirkel als christliche Jenseitshoffnung oder, wie im zuge der aufklärung in zunehmender weise, im sinne eines entwicklungsbiologischen tatbestandes verstanden ist. diese drei definitionen von leben lassen sich durch ihre jeweiligen gegenbegriffe anschaulich machen: leben versus technik, leben versus theorie, leben versus dauer. in der zeit um 1800 ist der höhepunkt dieser bildgattung überschritten. das stillleben steht nicht mehr in hohem ansehen: in der malpraxis der akademien gilt es bestenfalls als ein trainingsfeld, auf dem die angehenden meister ihre fähigkeiten hinlänglich erproben können, bevor sie sich an die renommierten gattungen des Porträts oder des historienbildes wagen dürfen. wie seine sujets, die 189

alltagsgegenstände, gilt auch die Kategorie stillleben als niedrige stufe in der akademischen hierarchie der salons und des Kunstmarktes. eine aufwertung erhält in dieser Phase das stillleben allerdings aus unerwarteter richtung. das wissenschaftliche bild – durch eine stark anwachsende forschungstätigkeit und durch immer bessere drucktechniken befördert – macht zunehmend gebrauch von den Konventionen des stilllebens. sowohl das repräsentative arrangement der bildstruktur als auch der auf wiedererkennbarkeit ausgelegte realismus der darstellungsweise kommen den bedürfnissen der wissenschaft entgegen. [2] gesucht werden darstellungskonventionen, die den oben erwähnten drei definitionsbereichen des lebendigen (dem nichttechnischen, dem nichttheoretischen, dem nichtdauerhaften) ausdruck verleihen können. denn das technische ist gemacht und kann über Pläne und anleitungen eindeutig repräsentiert werden, das theoretische ist formulierbar, und das dauerhafte kann gesammelt, archiviert und ausgestellt werden. Problematisch wird die bildliche wiedergabe, wenn diese momente keine geltung mehr haben. Aus der Natur ins Bild im folgenden geht es weder um die frage der Komposition noch um Probleme des stils. die wiedergabe von lebendigkeit im bild soll in diesem rahmen als Problem der Übersetzung untersucht werden: wie kann lebendigkeit ins bild übertragen werden? dieser beitrag will die aufgabe des transfers von real 190

life zu still life als einen mechanismus bildgebender Verfahren darstellen, der zu beginn des 19. Jahrhunderts mit völlig neuen technischen mitteln angegangen wird. die resultate dieser experimente können abschliessend als eine art wissenschaftlicher oder abstrakter stillleben bezeichnet werden. insbesondere wissenschaftliche disziplinen, die man heute zu den Life Sciences zählen würde – in einer bandbreite von der botanik über die Physiologie bis hin zur elektrizitätslehre –, waren sehr daran interessiert, dynamische Prozesse, entwicklungsvorgänge oder Kräfteverhältnisse anschaulich zu machen. Von einer bildgattung, die metamorphosen stoppt und dadurch der erkenntnis aufschliesst, konnte man nur profitieren. meine definition von stillleben bezieht sich in einem weiten Verständnis auf diese Kompetenz der stillgestellten repräsentation von lebensprozessen. [3] wie aber stellte man sich die möglichkeit der Übersetzung von natur ins bild um die 18. Jahrhundertwende vor? es gab einen ansatz, der im gegensatz zu allen anderen so neu war, seine effekte so spektakulär und seine rechtfertigung so schlagend, dass bis heute immer wieder darauf bezug genommen wird, wenn es um die frage nach der lebendigkeit in der Kunst geht. ich nenne diesen ansatz autopoiesis und die bildtechniken, die mit diesem begründungszusammenhang operieren, autopoietische Verfahren. zu denjenigen denkern, die zu jener zeit eine solche theorie am wirkmächtigsten zu formulieren wussten, gehört der romantische Philosoph august wilhelm schlegel. in seiner terminologie wird friedrich weltzien

das zu beschreibende Phänomen »selbstthätigkeit« oder »freythätigkeit« genannt. die essenz dieses Vorganges lässt er in seinem dialog Die Gemählde. Gespräch, der im Jahre 1799 im Kontext seiner arbeit an den Athenäum-fragmenten erschien, den maler reinhold ausdrücken. reinhold, der Praktiker, spricht hier mit waller, dem theoretiker und historiker. letzterer fragt sich, wie es der Kunst gelingt, die grösse und wildheit der natur in den rahmen eines kleinen bildes zu bannen. waller hält dies für einen akt der gewalt gegenüber der lebendigen natur. so sagt er: »aber wie muß er [der Künstler, f.w.] einen weiten horizont, ein hohes gebirge, den gränzenlosen ozean auf seiner leinwand zusammendrängen!« der Künstler entgegnet trocken: »es drängt sich von selbst zusammen.« [4] erklärend fügt er hinzu: »blicken sie nur durch eine kleine fensterscheibe oder durch die hohle hand ins freye hinaus, und welche menge von großen gegenständen wird ihr auge umfassen.« [5] die natur ist nur ins bild zu bekommen, wenn sie sich von selbst dorthin begibt. das kleinteilige abkupfern hingegen tötet alles leben ab, wie schlegel in dieser schrift niederlegt. drei Jahre später reicht schlegel eine etwas klarere erläuterung nach, wie man sich diesen Vorgang vorzustellen hat. im rahmen der Vorlesungen zur Kunst, die er in berlin zwischen 1801 und 1804 vorträgt, formuliert der romantische Vordenker diesen berühmt gewordenen satz: »wird nun natur nach dieser würdigsten bestimmung genommen, nicht als masse von hervorbringungen, sondern als das hervorbringende selbst, stillgestelltes leben. die Übersetzung Von natur ins bild

und der ausdruck nachahmung ebenfalls in dem edleren sinne, wo es nicht heißt, die Äußerlichkeiten eines menschen nachäffen, sondern sich die weise seines handelns zu eigen zu machen, so ist nichts mehr gegen den grundsatz einzuwenden, noch zu ihm hinzuzufügen: die Kunst soll die natur nachahmen. das heißt nämlich, sie soll wie die natur selbständig schaffend, organisirt und organisirend, lebendige werke bilden […].« [6] Kunst kann dann lebendig werden, wenn sie die produktiven Prinzipien der natur imitiert, anstatt Äusserlichkeiten nachzuäffen. wenn nicht die einzelnen gegenstände der natur abgezeichnet werden, sondern ihre organisation nachgeahmt wird, dann stelle sich in der tat auf dem wege eines natürlichen wachstums lebendigkeit im Kunstwerk ein – ganz von selbst. [7] möglich ist diese Verbindung, weil auch wir menschen teil der natur sind. unsere ratio ist nicht »widernatürlich«, so sagt schlegel: »die gesamte natur ist ebenfalls organisirt, aber das sehen wir nicht; sie ist eine intelligenz wie wir, das ahnden wir nur, und gelangen erst durch speculation zur klaren einsicht.« [8] er schliesst mit dem satz: »man könnte die Kunst daher auch definiren als die durch das medium eines vollendeten geistes hindurchgegangene, für unsere betrachtung verklärte und concentrirte natur.« [9] Kunstproduktion ist nach dieser ansicht ein Vorgang der sichtbarmachung durch Konzentrierung im durchgang durch den geist, man könnte auch sagen: der Übersetzung. eine faszinierende these, die leider ganz aufseiten der theorie bleibt. weder der Künstler reinhold 191

abb. 2: Johann stephan capieux (nach ernst florens friedrich chladni), Klangfiguren, radierung, in: chladni, ernst florens friedrich (1787), entdeckungen über die theorie des Klanges. leipzig: breitkopf & härtel, o. P, taf. i. 192

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abb. 3: Christiaan Sepp (nach Martinus van Marum), Kalzination, »½ bley ½ zin«, in: Marum, Martinus van (1788), beschreibung einer ungemein großen elektrisier-Maschine und der damit im teylerschen Museum zu Haarlem angestelten versuche, erste Fortsetzung. leipzig: im Schwickertschen verlage, taf. viii. StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

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in den frühen gesprächen noch der Dozent Schlegel in seinen späteren vorlesungen geben uns Hinweise darauf, wie diese Übersetzung praktisch funktionieren könnte. es gibt keine anleitung dazu, wie natur zu ›lebendigen Werken‹ zu konzentrieren sei, es werden keine Strategien vorgestellt, um ›wie die natur selbstständig zu schaffen‹, es werden keine vorschläge gemacht, welche bedingungen im atelier hergestellt werden müssen, damit sich der »gränzenlose ozean« von selbst in den bilderrahmen zwängt. Gebrauchsanweisungen Die technischen Handlungsanleitungen mussten die progressiven Künstler anderswo suchen. einen Weg wies die Hochtechnologie der zeit, zum beispiel die experimentelle Physik. Deren verfahren nutzte Christoph nathe, ein landschaftszeichner aus der lausitz, in exakt dem gleichen zeitraum, in dem Schlegel seine thesen an die Öffentlichkeit brachte: beginnend um 1798 bis zu seinem tod 1806. 1803 und 1805 waren seine ergebnisse, die sogenannten elektrischen gemälde (Abb. 5 und 6), auch in berlin ausgestellt. Schlegel hätte also die Möglichkeit gehabt, unmittelbar nach verlassen seines Hörsaals nathes »selbstthätig« entstandene Kunstwerke zu besichtigen. leider ist mir eine solche begegnung nicht bekannt. im vorliegenden aufsatz stelle ich mir jedoch vor, dass Schlegel in nathe einen erfüller seiner theoretischen vorgaben gesehen haben mag. [10] 194

nach den aufsehenerregenden experimenten von luigi galvani, der 1780 mithilfe von elektrischer energie Froschschenkel zum zucken brachte, galt die theorie, dass mit der elektrizität – dem galvanismus, wie man sagte – die entscheidende Kraft organischen lebens entdeckt sei, vielen Wissenschaftlern als bestätigt. Die Forschung in europa, die derartige experimente ermöglichte, hatte zuvor Stromgeneratoren und elektrisiermaschinen hervorgebracht, wie den sogenannten elektrophor von galvanis landsmann alessandro volta. eine solche Maschine besass auch der inhaber des ersten lehrstuhls für experimentelle Physik an der universität göttingen, der kunstsinnige Forscher georg Christoph lichtenberg. bereits 20 Jahre vor nathe und immerhin drei Jahre vor galvanis Froschschenkelexperiment hatte er ein verfahren veröffentlicht, das mithilfe von elektrischer Spannung selbsttätig entstehende bilder hervorbringen konnte. in der Übersetzung seiner ursprünglich auf lateinisch verfassten Schrift liest sich die Passage der entdeckung wie folgt: »gegen Frühlingsanfang des Jahres 1777, unmittelbar nach der Fertigstellung meines elektrophors, war mein zimmer noch voll von feinstem Harzstaub, der beim abhobeln und glätten des Fundaments bzw. der grundfläche des instruments aufgestiegen war, sich danach an den Wänden und auf den büchern abgesetzt hatte und oft bei luftzug zu meinem großen verdruß auf den Schild des elektrophors herabfiel. als ich später des öfteren den Schild an der zimmerdecke FrieDriCH Weltzien

hängen ließ, geschah es, daß der auf der grundfläche liegende Staub diese nicht, wie zuvor den Schild, gleichmäßig bedeckte, sondern sich nun an mehreren Stellen zu meinem großen vergnügen in kleinen Sternen anordnete, die anfangs matt und schwer zu erkennen waren, die aber, als ich mit eifer mehr Staub darauf streute, sehr deutlich und sehr schön wurden und häufig getriebener arbeit glichen. es zeigten sich mitunter fast unzählbar viele Sterne, Milchstraßen und größere Sonnen; bogen, die an ihrer hohlen Seite dunkel, an ihrer erhabenen aber mit Strahlen versehen waren; ganz fein gebildete Ästchen, denen ähnlich, welche gefrorener Dampf an Fensterscheiben erzeugt; ferner Wolken, sehenswert in ihrer mannigfachen gestalt und den verschiedenen graden des Schattens.« [11] Der elektrophor besteht im Wesentlichen aus zwei Komponenten: zum einen aus einem teller aus getrocknetem baumharz, dem sogenannten Harzkuchen. Darüber ist isoliert davon, über einen Seilzug von der zimmerdecke hängend, eine Metallplatte angebracht. Durch das reiben mit einem Katzenfell wird der Harzkuchen elektrisch aufgeladen. Senkt man nun den metallischen Schild ab, so wird sich die elektrische Spannung entladen, indem ein Funken vom Harzkuchen auf den Schild überspringt. lichtenberg stellt nun fest, dass elektrostatischer Staub, wie er beim Schleifen des Harzkuchens entsteht, auf diese entladungen reagiert und sich auf dem Kuchen zu entsprechenden Strukturen anordnet (Abb. 1). StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

Darüber hinaus bemerkt er, dass sich diese Staubfiguren immer wieder auf die gleiche art bilden, wenn der Staub abgewischt und neu darauf gestreut wird. erst eine weitere elektrische entladung erzeugt eine neue Figur. Mit den elektrischen Figuren hat er also auch einen Mechanismus zur technischen reproduktion von bildern erfunden. und schliesslich stellt er fest, dass sich diese Figuren leicht manipulieren lassen – viel leichter als etwa eisenspäne, die sich in der nähe eines Magneten an den Feldlinien entlang ausrichten. So kann lichtenberg mit einer sogenannten leidener Flasche, einer art batterie, auf der Harzfläche ›zeichnen‹, und der danach aufgestreute Staub wird sich an diesen Strichen entlang orientieren. Die unmittelbare reaktion auf diese entdeckung ist zunächst die einer ästhetischen erfahrung: Der Physiker behandelt das Phänomen wie ein Kunstwerk. er vergleicht es mit »getriebener arbeit«, beschreibt die Strukturen im Sinne mimetischer repräsentation etwa von »Sternen, Milchstraßen und Sonnen« und bewundert den Duktus, zum beispiel die »verschiedenen grade des Schattens«. Dann fährt er fort, über weitere anwendungen zu sinnieren, und hält in diesem zusammenhang vor allem den anschein der lebendigkeit für zentral. er schreibt: »Figuren, noch schicklicher mit dem Schaftoder Schachtelhalm (equisetum oder Hipparis) verglichen, mit denen die züge, die durch den Knopf positiv geladener Flaschen hervorgebracht werden, zuweilen die größte aehnlichkeit 195

haben. also könnte man jene Maschinen auch gebrauchen, die entwicklung der Pflanzen zu erläutern.« [12] Die Staubfiguren, die sich an der Spur einer leidener Flasche entlang bilden, scheinen ihm biologischen Wachstumsprozessen so stark zu ähneln, dass er sie als anschauungsmaterial für angehende botaniker empfiehlt (Abb. 5). er selbst nutzt in seinen physikalischen vorlesungen diese bilder auch, um die Wirkungsweise von elektrischem Strom anschaulich zu machen. zur Konservierung der sehr fragilen bilder legt er einfach ein mit leim bestrichenes blatt Papier auf die Figur, sodass die Staubpartikel dort haften bleiben. auf diese Weise kann er das Material problemlos präsentieren. [13] angesichts dieser beschäftigung erscheint es fast als untertreibung, wenn er im gleichen Jahr in einem brief an einen Kollegen die Staubfiguren als »ein so schönes lehrreiches Spiel, daß ich mich dessen nie schämen werde« [14] beschreibt. Spielerisch erkundet lichtenberg die Möglichkeiten des Mediums. nicht nur mit der leidener Flasche manipuliert er die Figuren. er arbeitet auch mit metallenen Schablonen. auf diese Weise erzeugt er etwa die buchstaben »gr« als Kürzel für georgius rex zu ehren seines landesvaters und obersten Dienstherren. Den Mitschriften seiner Studenten zufolge hat er sogar Darstellungen von gesichtern erzeugt. [15] aber weder die Manipulierbarkeit noch die Fähigkeit zur reproduktion verleihen nach lichtenberg dem verfahren seine herausragende bedeutung. 196

entscheidend sind vielmehr die Spontaneität und Selbsttätigkeit der Hervorbringung. 1778 betont er: »alle Figuren auf dem elektrophor […] hatte der zufall erzeugt.« [16] als anschauungsmaterial der gesetze der elektrizität wie der natürlichen Wachstumsvorgänge können diese Figuren nur dienen, eben weil sie nicht gezeichnet oder auf andere Weise willentlich hervorgebracht worden sind, sondern weil sie sich ausschliesslich und unmittelbar dem Wirken der naturgesetze selbst verdanken. lichtenbergs bildgebendes verfahren entspricht insofern in der tat Schlegels Kunstanspruch an die lebendigkeit eines bildes: Durch nachahmung nicht der gegenstände, sondern der produktiven Prinzipien der natur drängt sich das ungebändigte leben von selbst ins bild. Sich selbst abdruckende Naturgesetze obwohl lichtenberg die ästhetischen Qualitäten seiner Staubfiguren zu erkennen weiss, geht er nicht so weit, diese blätter als Kunstwerke zu bezeichnen. und trotz seiner spielerischen versuche mit leidener Flasche und buchstabenschablonen ist sein ehrgeiz nicht darauf gerichtet, ein bildmedium zu entwickeln. an diesem Projekt sollten zwei andere Männer weiterarbeiten. Der naturwissenschaftlich interessierte grundbesitzer Freiherr adolf traugott von gersdorf hatte sich in seinem landsitz Meffersdorf in der oberlausitz, unweit von görlitz, ein physikalisches Kabinett eingerichtet, das den wissenschaftlichen laboren seiner zeit in nichts nachstand. [17] gersdorf kannte FrieDriCH Weltzien

lichtenberg und besuchte ihn mehrmals in göttingen. bei einem dieser treffen, fünf Jahre nach der veröffentlichung von lichtenbergs Schrift, lernt gersdorf am 24. Juni 1783 das verfahren der Staubfiguren kennen. aber es werden weitere 15 Jahre vergehen, bevor gersdorf selbst mit diesem verfahren arbeitet. [18] Weshalb der Freiherr so lange gewartet hat, bevor die Staubfiguren für ihn interessant wurden, ist unklar. zum einen hat gewiss die arbeit an seinem buch über die atmosphärische elektrizität, das 1802 aus seiner Forschung zum blitzableiter hervorgegangen ist, das interesse an anderen elektrischen Phänomenen wieder wachgerufen. [19] zum anderen könnten aber zwei weitere bücher, die in der zwischenzeit erschienen sind und sich mit vergleichbaren autopoietischen bildgebenden verfahren beschäftigen, gersdorfs aufmerksamkeit auf die von lichtenberg gelernte technik zurückgelenkt haben. Das eine Werk wurde vom gründervater der modernen akustik verfasst: ernst Florens Friedrich Chladnis zuerst 1787 erschienene Theorie des Klanges. Chladni kannte ebenfalls lichtenbergs verfahren der Staubfiguren und berief sich in seiner arbeit ausdrücklich auf den göttinger Physiker. allerdings ging es ihm nicht um elektrischen Strom, sondern sein unternehmen bestand darin, mit einem ähnlichen verfahren Schallschwingungen sichtbar zu machen. Dazu streute er feinen Sand auf eine Scheibe aus glas oder Metall und brachte sie durch das anstreichen mit einem geigenbogen in vibration. tatsächlich begann der Sand auf der Scheibe zu tanzen und ordnete sich schliesslich an jenen Stellen der StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

Scheibe an, die sich nicht bewegten, während er von allen anderen Partien fortgerüttelt wurde (Abb. 2). So entstanden in analogie zu den elektrischen Figuren lichtenbergs Chladnis sogenannte akustische oder Klangfiguren. gersdorf begegnete Chladni nachweislich 1791 in leipzig, wo der berühmte akustiker auf der dortigen Messe die entstehung seiner Klangfiguren öffentlich vorführte. Fasziniert notiert gersdorf, wie Chladni »glastafeln [...] mit feinem Sande bestreute und nachher an bestimmten Flecken etlichemal mit dem bogen bestrich, da dann der Sand jedesmal andere vorher bestimmte Figuren bildete«. [20] auch der zehn Jahre später verstorbene novalis war zeuge einer von Chladnis vorführungen geworden, und er erkannte die Selbsttätigkeit dieses vorganges, wenn er in den Fragmenten unter der Überschrift »Physik und grammatik« schreibt: »Man zwingt eigentlich den Schall, sich selbst abzudrucken – zu chiffrieren – auf eine Kupfertafel zu bringen.« [21] Diese aufsehenerregende vorführung mag gersdorf wieder auf lichtenberg gebracht haben. aber noch ein weiteres buch ist dazu angetan, die alten göttinger Staubbilder wieder ans licht zu holen. in drei bänden erscheint zwischen 1786 und 1798 die Beschreibung einer ungemein großen Elektrisier=Maschine und der damit im Teylerschen Museum zu Haarlem angestelten Versuche des niederländischen Wissenschaftlers Martinus van Marum. gersdorf besass nicht nur eine elektrisiermaschine nach der bauart von van Marum, er hatte auch dessen buch im regal stehen – noch heute ist es teil seiner bibliothek. van Marum beschreibt 197

abb. 4: adolph traugott von gersdorf, Kalzination nach van Marum, nachlass gersdorf in der oberlausitzischen bibliothek der Wissenschaften, Signatur atvg 536 (g13). 198

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dort ein bildgebendes verfahren, das ebenfalls auf der Wirkung elektrischen Stroms beruht. er nennt es Kalzination, und es dient ihm als analyseverfahren zur bestimmung von Metalllegierungen (Abb. 3). van Marum war aufgefallen, dass Drähte aus unterschiedlichen Metallen auf einer Papierunterlage spezifische Muster hinterlassen, wenn man sie einer hohen Spannung aussetzt. Sowohl die Farben als auch die Strukturen, die von den Metallen bei der Kalzination auf das unterliegende Papier gezeichnet werden – so drückt sich van Marum aus –, seien bei präziser bestimmung von Dicke und länge des Drahtes sowie der Stärke der elektrischen ladung für jedes Metall sowie für unterschiedliche legierungen charakteristisch. neben einer anzahl von bauplänen für entsprechende elektrisiermaschinen und versuchsanordnungen hat van Marum auch neun aufwendig kolorierte Kupferstiche nach den Kalzinationsspuren beigefügt. zur begründung schreibt er: »Die sonderbaren und lehrreichen erscheinungen […], die beschwerlichkeit, sie ohne abbildungen zu beschreiben und die Schönheit der zeichnung, die durch das verkalken der verschiedenen Metalldräte auf das darunter liegende Papier gemacht werden, haben mich bewogen, von ein oder zwei der schönsten zeichnungen, die durch das verkalken des Metalls gemacht worden, eine abbildung hier beizufügen.« [22] van Marum beschreibt den vorgang der Kalzination korrekt – entgegen der damals gängigen FlogistonStillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

theorie – im Sinne von lavoisiers theorie des hypothetischen grundstoffes der luft, dem von ihm sogenannten principe oxygine, als eine verkalkung der Metalle; heute spricht man von oxidation. er nennt die auf der Papierbahn hinterlassenen Spuren durchgängig »zeichnungen«, die von den Metallen während des experiments hergestellt werden, und betont immer wieder deren ästhetischen Wert. ausschlaggebend bei der entscheidung für die aufwendigen (und teuren) kolorierten illustrationstafeln war letztlich ihre Schönheit. Darüber hinaus versäumt es van Marum nicht, ganz wie vor ihm lichtenberg, die analogie zur lebendigkeit deutlich zu machen. in der beschreibung der verkalkung einer 50-prozentigen blei-zinn-legierung notiert er (Abb. 3): »Diese Materie […] bildet sodann an dessen oberfläche gleichsam eine art von blumen, welche der Schwefelblume, welche die Solfatara hervorbringt, sehr ähnlich zu sein scheinen. Man sieht in der abgebildeten zeichnung [er meint taf. viii, F.W.] verschiedne solche Kalkblumen vorgestellt […]. ich habe diese Kalkblumen durch das Mikroskop betrachtet; alsdann gleichen sie sehr dem blumenkohl, dessen blume bereits, wie man es nent, zu schossen angefangen hat.« [23] Was lichtenberg der Schachtelhalm, ist van Marum der blumenkohl. gersdorf hat dieses buch vielleicht in der vorbereitung auf seine blitzableiter-abhandlung 199

von 1802 angeschafft, denn van Marum behandelt dieses Phänomen auch. in gersdorfs nachlass finden sich allerdings belege, die zeigen, dass er auch die eben zitierten Kapitel intensiv rezipierte. in görlitz habe ich blätter entdeckt, die offenbar Kalzinationen nach der Methode van Marums zeigen (Abb. 4). es lässt sich also belegen, dass gersdorf van Marums experimente nachgestellt hat. ob dies unmittelbar nach erscheinen der ersten Fortsetzung 1788, die die Kalzinationstafeln enthält, oder erst nach der zweiten Fortsetzung von 1798, die sich mit den blitzableitern beschäftigt, geschehen ist, lässt sich schwer nachweisen. [24] gersdorfs Kalzinationen sind leider nicht datiert. als wahrscheinlich lässt sich jedoch annehmen, dass gersdorf, nachdem er 1783 lichtenbergs verfahren erlernt hatte, 1791 Chladni getroffen und schliesslich spätestens 1798 van Marums Schriften studiert hatte, selbst aktiv wurde und in diesem zuge die elektrischen Figuren reaktivierte. Die aussagekraft all dieser experimente beruht, das muss gersdorf klar geworden sein, auf der bilderzeugenden lebendigen Selbsttätigkeit der naturkräfte. Vom Experiment zur künstlerischen Technik Der eindruck, den die farbigen tafeln auf gersdorf gemacht haben müssen, lässt sich mittelbar erschliessen. Sind seine van-Marum-Kalzinationen auch nicht datiert, so ist es doch eine zeichnung aus der Hand von gersdorfs engem Mitarbeiter, Christoph nathe, die eine lichtenberg-Figur zeigt und auf 200

das Jahr 1798 datiert ist – das erscheinungsjahr von van Marums drittem band. zu diesem zeitpunkt haben der Freiherr und sein assistent also definitiv mit ihren experimenten begonnen. Christoph nathe war ein landschaftszeichner aus görlitz, den der landadelige in seinem humanistischen Streben zur unterstützung von Kunst und Wissenschaft nach Kräften förderte. im auftrag seines gönners zeichnete nathe nicht nur dessen besitzungen und pittoreske landschaften der lausitz, böhmens oder der Schweiz, sondern er fertigte auch die vorlagen für die illustrationstafeln in gersdorfs erwähntem buch zur atmosphärischen elektrizität an. nathe war also in die wissenschaftlichen unternehmungen gersdorfs eng eingebunden. am 25. april 1798 wurde nathe als Mitglied in der oberlausitzischen gesellschaft der Wissenschaften aufgenommen, was seine nicht nur künstlerische Kompetenz bestätigt. Da im gleichen Jahr nathes junge Frau an einer lungenkrankheit starb und er nun teilweise auf gersdorfs landsitz Meffersdorf wohnte (er mietete hier ein zimmer), lässt sich annehmen, dass nathe viel zeit im labor zubringen konnte, um sich an der reichhaltigen Produktion von Staubbildern zu beteiligen. [25] Der biograf von gersdorf und ehemalige betreuer von dessen nachlass im görlitzer Museum, ernst-Heinz lemper, geht davon aus, dass nathe nach einer Schulung durch den Hausherrn die meisten dieser blätter selbstständig hergestellt hat. bis heute hat sich die aussergewöhnlich hohe zahl von 1359 originalen blättern erhalten. [26] Das dürfte die FrieDriCH Weltzien

grösste Sammlung von lichtenberg-Figuren aus der zeit um 1800 darstellen. Darunter sind ausgesprochen prachtvolle exemplare, die auch unterschiedliche Farben miteinander kombinieren. gersdorf und nathe haben nicht nur mit Harzstaub, sondern auch mit verschiedenen geriebenen Mineralien experimentiert und so die reaktion mineralischer Stoffe auf elektrizität getestet. [27] auf diese Weise konnten beide ihre geologischen Forschungsinteressen – als landschaftszeichner kannte sich nathe bestens mit der geschichte und den vorkommen von gesteinsarten aus, wie seine Korrespondenz zeigt – mit dem gebiet der elektrizität vermitteln (Abb. 5). Die angesprochene bisterzeichnung von 1798 dürfte wohl am anfang dieser reihe stehen. es ist die einzige zeichnung, die unter allen lichtenberg’schen Figuren aus gersdorfs labor enthalten ist. es scheint so, als hätte nathe rasch erkannt, dass lichtenbergs verfahren der originalkonservierung mit der Hilfe von leimpapier nicht nur deutlich schneller und einfacher funktioniert, sondern zudem einzig den unverfälschten zugang zum versuchsresultat erlaubt. Das abzeichnen hingegen würde den autopoietischen effekt der sich selbst abdruckenden natur konterkarieren und zunichtemachen. zu dieser zeit, 1798, taucht die aufgabenstellung der elektrischen Figuren erstmals in nathes Korrespondenz auf. Die beobachtung von lemper, dass gersdorf erst 1799 damit begann, glattes velinpapier zu kaufen, das sich als besonders gut geeignet für die Konservierung der Staubfiguren erwiesen hatte, spricht für diese Deutung: erst wurde es mit abzeichnen StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

versucht, dann auf die technik des originalabdrucks umgeschwenkt. [28] im anblick der Staubfiguren wird zudem ein weiterer aspekt deutlich, den der Künstler nathe offenbar bewusst verfolgt hat. es geht nicht nur um die systematische untersuchung der reaktion verschiedener Stoffe auf elektrische ladungen, es geht insbesondere auch um die Produktion von bildern nach ästhetischer Massgabe. So wie schon lichtenberg und van Marum die künstlerischen Qualitäten hervorhoben, so erprobt nathe ganz offenbar die Hervorbringung unterschiedlicher Formen, sich überlagernder Strukturen, verläufe in graduierten Schattierungen, Kontraste zwischen hellen und dunklen Partien, plastische und räumliche effekte und vielerlei andere elemente, die für eine wissenschaftliche untersuchung wenig erkenntnis zu bieten scheinen, dem auge dafür umso gefälliger sind. viele der blätter erscheinen im rückblick 200 Jahre später wie visionäre vorwegnahmen von abstrakten Fotogrammen eines Man ray, el lissitzky oder lászló Moholy-nagy. auch die spielerischen elemente lichtenbergs nimmt nathe auf. er arbeitet insbesondere mit Schablonen, die buchstaben und Profilköpfe zeigen (Abb. 6). in der technik fügt er damit lichtenberg nichts neues hinzu, aber in diesen experimenten tragen die resultate einen sehr klar künstlerischen gestus, der keine wissenschaftliche legitimierung beansprucht und der auch nicht – im gegensatz zum universitätslehrer lichtenberg – als pädagogischer Kniff zu deuten ist, um die aufmerksamkeit der Studenten 201

zu fesseln. nathe muss niemanden beeindrucken, er ist nur sich selbst und seinem gönner gersdorf verpflichtet. So kann er eine ganze reihe von Profilköpfen aus blech ausschneiden. als Demonstrationsstück hätte wohl auch ein einziger Kopf genügt. zudem scheinen die gesichter zumindest teilweise Porträtcharakter zu tragen – auch das dient keinem wissenschaftlichen interesse, sondern kann wohl nur als künstlerische intention, als ein anschluss an die zu dieser zeit ungemein beliebte Form des Scherenschnittporträts verstanden werden. Parallel dazu verwendet nathe auch buchstabenschablonen, zum beispiel ein »a«, vielleicht für den namen adolf seines laborbesitzers. aus unterschiedlichen buchstaben fügt er dann aber auch ganze Worte zusammen, so etwa den namenszug »gilbert«. [29] Diese anstrengungen, die nicht bei dem naturwissenschaftlichen beweis der Möglichkeit einer elektrischen reaktion stehenbleiben, sondern nach einer darüber hinausreichenden anwendung suchen, belegen, so denke ich, nathes untersuchungen der ästhetischen Dimensionen des neuen Mediums. gersdorf stellt die bilder aus seinem labor mehrmals öffentlich vor. 1801 sind einige blätter in görlitz zu sehen, 1803 und 1805 schickt er sie der gesellschaft der naturforschenden Freunde nach berlin. [30] im zuge dieser ausstellungen wird der terminus ›elektrische gemälde‹ geprägt. in der populären Wahrnehmung sind sie damit bereits eher in der Kunst als in der Wissenschaft angesiedelt. Mit dem tod nathes im Jahre 1806 und gersdorfs ableben ein 202

Jahr später reisst die entwicklung der elektrischen Malerei leider ab, ohne eine Fortsetzung zu finden. obwohl auch anderswo in europa, etwa in london durch tiberio Cavallo,[31] lichtenberg-Figuren hergestellt worden sind, blieb die künstlerische entwicklung aus der lausitz singulär. Pittoreske Elektrizität es fragt sich allerdings, worin für die zeitgenossen nathes die Faszination dieser elektrischen gemälde bestanden haben mag. auch wenn ihnen retrospektiv eine bemerkenswerte Modernität eigen zu sein scheint – müsste die gegenstandslosigkeit, welche die meisten blätter kennzeichnet, den zeitgenossen nicht eher irritierend gewesen sein? abgesehen von den buchstaben und den Profilköpfen wirkten die mimetischen referenzen wohl eher gesucht: ob Schachtelhalm oder blumenkohl, ob Wolken – wie gersdorf die bilder aus seinem labor gelegentlich umschreibt – oder zweige, Sterne, Sonnen und Milchstrassen, all dies musste in die bilder eher hineingelesen werden, als dass sie es darstellten. Das wesentliche Faszinosum liegt nach den Schilderungen in der bislang ungesehenen Feinheit der Strukturen. Die verästelungen und Dendriten, die von den Hauptlinien der Staubfiguren abgehen, bilden immer dünnere und feinere Forken. Die zartheit der linien übertrifft bei Weitem, was man mit Kupferstichen herzustellen in der lage war, und kein bleistift konnte so sorgsam angespitzt werden, dass er der Konkurrenz dieser Delikatesse standhielte. Wie FrieDriCH Weltzien

van Marum schreibt, waren einige bildelemente erst unter dem Mikroskop zu erfassen. Hinzu kamen die nahezu unerschöpflichen zwischentöne, Schattenwerte und graustufen, die sich über dem Papier ausbreiteten und eine scheinbare tiefe eröffneten, die den zeitgenossen nur mit dem blick durchs Fernrohr in das unendliche Weltall vergleichbar war. Wenn man schliesslich noch die Dimension der Farbe hinzufügte, entstanden Mischungen und verläufe, die zwar der lasur und dem transparenten licht von aquarellfarbe ähneln, dabei aber von höchst exakter verteilung sind, die flüssig gelöste und mit dem Pinsel aufgetragene Pigmente so nicht erzielen. alles, was die akademie von einem guten Kunstwerk fordert, fehlt hier: es gibt keine Perspektive, keine Komposition, keine Dramaturgie, keinen planimetrischen aufbau. Der betrachter wird nicht ins bild hineingeführt und bekommt weder unterhaltende noch belehrende gegenstände vorgestellt. und doch liegt etwas in diesen Formen, das dem gerade erwachenden romantischen lebensgefühl entgegenkommt. Die regeln, denen diese zeichnungen gehorchen, sind nicht willkürlich zusammengestellt, verdanken sich nicht einem vertrockneten bücherwissen oder einer beliebigen tradition. Die regeln, deren ausdruck diese bilder sind, sind die unwandelbaren naturgesetze selbst – direkt abgeformt und unmittelbar sichtbar geworden. Hier zeigt sich eine Wahrheit, die geradewegs aus dem Herzen des Seins kommt, ohne philosophische Spekulation, ohne menschlichen irrtum, ohne zivilisatorische Überformung. StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

es passte gut in den geschmack der zeit, dass die ergebnisse nicht simpel und klar waren wie eine mathematische Formel, sondern komplex und kleinteilig. Das Pittoreske, das romantische, das Malerische – nathe kannte diese terminologie genau. So hatte er unter anderem die Schriften von William gilpin [32] im original gelesen und war mit den theorien des erhabenen vertraut. Das verrät auch ein text aus seiner Feder, der erst in seinem todesjahr 1806 veröffentlicht wurde, als Manuskript aber wohl schon einige Jahre vorher existiert hatte. er ist als ein Kommentar zu einem Projekt zu verstehen, im auftrag der Chalcographischen gesellschaft zu Dessau eine Folge von aquatinta-blättern mit ansichten des riesengebirges zu edieren. Das Projekt scheiterte zwar 1803, weil der Kunstverlag aus geldmangel die Produktion einstellte, [33] erschien dann aber unter dem titel Mahlerische Wanderungen durch das Riesengebirge in Schlesien. Das naturwüchsige, die malerischen zustände des verfalls und der ruinierung, der reiz der ungeglätteten oberflächen, die undurchdringliche tiefe der Dunkelheit oder der Himmelsbläue, all das gehört dem bereich des Pittoresken an. Kennzeichen dieser elemente ist, dass »Kunst und Menschenhände […] gar nichts an ihnen gethan« [34] haben. Dieses romantische interesse am autopoietischen, an der Selbstgestaltung nach Massgabe interner gesetzmässigkeiten, formuliert nathe so: »Die wahre natur unserer erde, welche in ihrem Werden und verändern sich selbst überlassen 203

abb. 5: adolph traugott von gersdorf und Christoph nathe, lichtenberg-Figur, görlitz, Kulturhistorisches Museum görlitz, Physikalisches Kabinett. 204

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abb. 6: adolph traugott von gersdorf und Christoph nathe, lichtenberg-Figur, görlitz, Kulturhistorisches Museum görlitz, Physikalisches Kabinett. StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

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ist, wo Menschenhände nichts verbesserten oder verwüsteten, hat eine ganz eigene Harmonie und prächtige Fülle: und diese natur findet man im riesengebirge noch an den vielen Stellen, welche sich die menschliche Kultur noch nicht unterwürfig machen konnte.« [35] gerade weil dieses verfahren der Staubfiguren en détail nicht steuerbar ist, weil nichts »verbessert oder verwüstet« werden kann, weil nur vorhersagbar ist, dass feine und feinste verästelungen zu sehen sein werden, aber nicht, wo genau und wie sie im einzelnen aussehen werden, sind die lichtenberg-Schablonen mit einer aura der »wahren natur« ausgestattet. auch hier kommt eine »eigene Harmonie und prächtige Fülle« zum vorschein. Die Dendriten (Abb. 6), die von der Konturlinie nach aussen und ins innere des Kopfes dringen, folgen den gleichen Prinzipien wie die sich ausfächernden arme eines unbegradigten Flussdeltas, aber auch wie die verzweigungen der adern und nervenbahnen im menschlichen Körper. ganz wie es gleichzeitig Schlegel fordert, bildet sich hier eine Ähnlichkeit höherer Stufe ab: nicht die mimetische nachahmung, sondern die Darstellung des produktiven Prinzips versorgt diese bildwahrheit mit gewicht. Diese bilder faszinieren gersdorf, nathe und ihre zeitgenossen, weil sie sich nicht einem regelkanon unterwerfen, sondern frei und spielerisch erkenntnis vermitteln, die an die grenzen des Wissenshorizonts rührt. Christoph nathe bestätigt diese auffassung, wenn er am 26. Juni 1798 – also zur entstehungszeit der bisterzeichnung und wohl zu beginn seiner 206

beschäftigung mit den »elektrischen gemälden« – an gersdorf einen brief schreibt. es geht dabei um die künstlerische erziehung eines Knaben, den der Freiherr in sein Haus aufgenommen hat. um »sein auge zum richtigen und scharfen Sehen anzugewöhnen, und die Hand zur Folgsamkeit zu bilden«, [36] rät nathe dazu, den jungen Karl von Meyer mit dem abzeichnen von lichtenberg-Figuren zu beschäftigen. Denn, so argumentiert er: »Wegen des zeichnens als mechanische Fähigkeit, welche zu erwerben er anlagen hat, glaube ich, daß es recht sehr gut ist, wenn er zugleich mit dieser uebung eine Wißenschaft verbindet, und die theorie der elektrizität wird so um viel anschaulicher in ihm werden, wenn er sich die Figuren von anfang an kopirt. Wegen des zeichnens als Sache der Fantasie, oder ästhetisch betrachtet als schöne Kunst, dürften Sie ohnmaßgeblich nur nach seinem Hange ihm die Wahl lassen, […] damit das freye Ding, die Fantasie ihr Spiel in ruhe treiben könne […].« [37] Das intensive Studium der Staubfiguren bewirkt »richtiges und scharfes Sehen« und das Kopieren eine Schulung der zeichenkunst als »mechanische Fähigkeit«. als bonus bietet diese zeichenübung auch noch eine anschauliche vermittlung der »theorie der elektrizität«. zeichnen als Wissensvermittlung, als ein anschaulichmachen von theorie, das ist in der tat kein geringer gewinn. FrieDriCH Weltzien

um nathes hohen anspruch, den er mit den lichtenberg’schen Figuren verknüpft, in seinem ganzen umfang zu verstehen, muss der zweite absatz der briefstelle in die Waagschale geworfen werden. Die aufgabe, elektrische Figuren zu kopieren – nathe hat dies zur zeit, da er diese Worte schrieb, selbst getan –, ist ein instrument der bildung, das der Kontrolle dient, der »Folgsamkeit«. nathe springt nun zur »ästhetisch betrachtet« schönen Kunst und betont dabei »das freye Ding, die Fantasie«, die ihr Spiel nach ihrem eigenen Hange in ruhe treiben will. Wenn der junge Karl später Künstler werden möchte, dann ist das zeichnen der Staubfiguren ein erster Schritt, der ihm die nötige Freiheit verschafft, seine Fantasie spielen zu lassen. Dass die Fantasie, die einbildungskraft, aber ein organ ist, das durch Freiheit anstatt durch das erlernen von willkürlichen regeln definiert ist, dass die Fantasie sogar diejenige instanz im Menschen ist, die nur in der »Selbstthätigkeit« funktioniert, das hat nur wenige Jahre vorher die massgebliche philosophische autorität der zeit formuliert: immanuel Kant. Fantasie, anschaulich gemacht nathe war mit den Werken Kants nicht nur vertraut, sondern folgte ihnen in fast übertriebener Weise. Sein arzt, immanuel gottlieb Knebel, der genau in dieser zeit – Juli 1798 – die behandlung des nach dem tod seiner Frau selbst auch erkrankten nathe übernimmt, [38] betont später diesen umstand in seinem nachruf. er hebt nathes bemerkenswerte Kenntnis sowohl des klassischen altertums als auch der »Schätze StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

neuerer gelehrten« hervor und betont: »Das mehrste anziehende für ihn hatte in seinen männlichen Jahren das Studium der Kantischen Philosophie, nach der er auch seine theoretischen ansichten von seiner Kunst formte.« [39] er fügt hinzu, dass »er sich die Kantischen lehren ganz und so zu eigen [machte, F.W.], daß er fast jede seiner Handlungen, jedes, was ein anderer thun wollte, erst prüfte, ob und wie es mit den Kantischen grundsätzen übereinstimmte. Dadurch ward er ein zu strenger richter.« [40] abgesehen von nathes persönlichen Konsequenzen aus seiner Kant-lektüre lässt sich diese bemerkung seines arztes nutzen, um die eigentümlich enge beziehung, die nathe im zitierten brief zwischen den lichtenberg-Figuren und dem freien Spiel der Fantasie herstellt, besser zu verstehen. Der erste teil der 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft, die Kritik der ästhetischen Urteilskraft, bietet die unmittelbare vorlage für eine solche Äusserung. Hier finden sich Passagen, die sich auf gegenstände wie die elektrischen gemälde anwenden lassen, ohne dass Kant freilich auf die experimentalphysik direkt bezug nimmt. [41] im Paragrafen 22 heisst es dort etwa: »niemand wird leichtlich einen Menschen von geschmack dazu nötig finden, um an einer zirkelgestalt mehr Wohlgefallen, als an einem kritzlichen umrisse, an einem gleichseitigen und gleicheckigen viereck mehr, als an einem schiefen, ungleichseitigen, gleichsam verkrüppelten, zu finden; denn dazu gehört nur gemeiner verstand und gar kein geschmack.« [42] 207

Wohlgefällig also ist der »kritzliche umriss« im gegensatz zum perfekten Kreis nicht. Das liegt aber nicht daran, dass die »gleichsam verkrüppelten« Formen nicht schön sein können: Sie sind es nur nicht im Hinblick auf ihre nützlichkeit, wie Kant weiter ausführt. im gegenteil sei es gerade die regelmässigkeit, die rasch eintönig würde: »alles Steif-regelmäßige (was der mathematischen regelmäßigkeit nahe kommt) hat das geschmackwidrige an sich: daß es keine lange unterhaltung mit der betrachtung desselben gewährt, sondern, sofern es nicht ausdrücklich das erkenntnis, oder einen bestimmten praktischen zweck zur absicht hat, langeweile macht. Dagegen ist das, womit einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu, und man wird seines anblicks nicht überdrüssig.« [43] als beispiel führt Kant die Wahrnehmung der natur an, interessanterweise den gegensatz von Kaffeeplantagen und urwald auf Sumatra. er führt aus, dass die parallelen reihen der Kaffeepflanzung wenig reizvoll seien, hingegen die »wilde, dem anscheine nach regellose Schönheit nur dem zur abwechselung gefalle, der sich an der regelmäßigen satt gesehen hat«. So kommt er zu dem Schluss, dass »wenn der verstand durch die regelmäßigkeit sich in die Stimmung zur ordnung, die er allerwärts bedarf, versetzt hat, ihn der gegenstand nicht 208

länger unterhalte, vielmehr der einbildungskraft einen lästigen zwang antue: wogegen die dort an Mannigfaltigkeiten bis zur Üppigkeit verschwenderische natur, die keinem zwange künstlicher regeln unterworfen ist, seinem geschmacke für beständig nahrung geben könne.« [44] Die fantastischen Formen und Strukturen, die die elektrischen bilder zu bieten haben – die »eigene Harmonie und prächtige Fülle«, wie nathe schrieb –, gehören ohne jeden zweifel zu denjenigen visuellen Phänomenen, die Kant als reizvoll und anregend qualifiziert hätte, »so wie etwa bei dem anblick der veränderlichen gestalten eines Kaminfeuers, oder eines rieselnden baches«. [45] Sie sind fantasieanregend, weil sie ebenso wie die »wilde, regellose Schönheit« des Dschungels auf Sumatra stets neues und unvorhersehbares bieten, weil sie dem »Steifregelmäßigen« in keiner Weise entsprechen. Die lichtenberg-Figuren müssen aber noch aus einem zweiten grund dem Kriterium des geschmackvollen zugerechnet werden, und das ist die art und Weise ihrer Herstellung. Sie können nur deshalb immer neu und ausserhalb des zwanges künstlicher regeln erscheinen, weil sie eben ausserhalb dieser künstlichen regeln entstehen: weil sie von selbst entstehen. Dieses entstehen nach eigener gesetzmässigkeit gesteht Kant nur einer menschlichen instanz zu: der Fantasie oder einbildungskraft. »Wenn nun im geschmacksurtheile die einbildungskraft in ihrer Freiheit betrachtet werden FrieDriCH Weltzien

muß, so wird sie erstlich nicht reproductiv, wie sie den associationsgesetzen unterworfen ist, sondern als productiv und selbstthätig (als urheberin willkürlicher Formen möglicher anschauungen) angenommen;« [46] Die einbildungskraft bringt »productiv und selbstthätig« Formen möglicher anschauungen hervor: Dies liest sich beinahe wie eine beschreibung des lichtenberg’schen verfahrens zur Herstellung von elektrischen Figuren. Man könnte sagen, diese Figuren sind mehr als eine anschauung der »theorie der elektrizität«, wie nathe es beschrieben hat – im lichte der Kant’schen Ästhetik erscheinen sie wie abbilder der einbildungskraft selbst. Sie bieten »veränderliche gestalten« in einer bis zur »Üppigkeit verschwenderischen natur« und erschaffen diese auf selbsttätig produktive Weise. Damit sind sie der abdruck der regeln, nach denen auch die Fantasie funktioniert. genau das schreibt nathe an seinen gönner gersdorf: »Die Kenntnis der regeln, wonach die Phantasie, sowie der menschliche verstand handelt, ist wirklich eine herrliche belohnung, und dieser regeln abdruck liegt in der natur im wirklichen anschaulichen bilde vor uns.« [47] nathe wusste in der auffassung der elektrischen gemälde beides zu verbinden: Kant und Physik. Abstrakte Stillleben es ist das Spielerische, die Freiheit, die den autopoietischen verfahren – seien es die elektrischen StillgeStellteS leben. Die ÜberSetzung von natur inS bilD

gemälde, Chladnis Klangfiguren oder van Marums Kalzinationen – ihren ästhetischen Wert beimisst. als sich selbst abbildende natur tragen sie eine Wahrheit in sich, die alles Mimetische hinter sich lässt, weil sie ganz im Sinne von Schlegels Forderung natur nicht als Masse der Hervorbringungen begreift, sondern als das Hervorbringende selbst. es werden keine einzeldinge gezeigt, sondern die Prinzipien anschaulich gemacht. Das verfahren der elektrischen Malerei müsste Schlegel beeindruckt haben, denn hier kommt die notwendigkeit der naturgesetzlichen Wirkung mit der kreativen energie des Künstlers zusammen, und das ist ein wesentliches Merkmal der Selbsttätigkeit, wie sie der Philosoph 1802 definierte: »Selbstthätigkeit ist noch wesentlich von Willkür unterschieden. eine Wirksamkeit kann nach der gegebenen anregung nothwendig und doch unser eigen seyn.« [48] Selbst wenn ihm die elektrischen gemälde nicht gefallen hätten, der bildtechnik als solcher müsste er doch den Status eingeräumt haben, zumindest hypothetisch Kunst hervorbringen zu können. Wenn auch mit dem tod von nathe und gersdorf die künstlerische Karriere der lichtenberg-Figur an einen endpunkt kam, so lebt doch die idee der autopoietischen verfahren weiter. insbesondere die erfinder der Fotografie betonen im Jahr 1839 stets, dass es in ihrem verfahren die natur höchstselbst, das licht der Sonne sei, das den Pinsel führe. [49] aber kann man diese blätter nun als Stillleben bezeichnen? in meiner eigenen, verkürzenden, anfangs gegebenen bestimmung habe ich formuliert, 209

dass es drei Merkmale des lebendigen gebe, die im Stillleben Wirksamkeit entfalten: lebendigkeit, als dasjenige, was nicht technik ist, was nicht theorie ist, was nicht unsterblich ist. umgekehrt formuliert könnte man auch sagen, dass das Stillleben der technik, der theorie und der unvergänglichkeit das leben verfügbar macht. in diesem Sinne war nathe ein vollender des romantischen Stilllebens, des abstrakten Stilllebens. aber sogar derjenige, der diese Definition nicht übernehmen möchte, wird zugestehen müssen, dass die Methode der Übersetzung von lebendigkeit ins bild, des »freythätigen« einzwängens der »gränzenlosigkeit« in den bilderrahmen mithilfe der verfügbaren Hochtechnologie geglückt ist, sobald er oder sie in den genuss kommen sollte, im Kulturhistorischen Museum görlitz einen blick auf die originale zu werfen. Die Frische, die ausstrahlung von zeitloser Modernität, die aura von unvergleichbarkeit ist auch dem zugänglich, der nichts von lichtenberg, Chladni, van Marum oder Kant weiss. von real life zu still life kann in diesem Fall als geglückter transfer betrachtet werden: Das leben kam ins bild, ohne dabei zu sterben.

abbildungsnachweis etH zürich, Sammlung alte Drucke: abb. 2; oberlausitzische bibliothek der Wissenschaften, nachlass gersdorf: abb. 4; Kulturhistorisches Museum görlitz, Physikalisches Kabinett: abb. 5, 6.

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vgl. hierzu etwa ebert-Schifferer (1998), grimm (1988). an anderer Stelle gehe ich auf die nähe von wissenschaftlicher illustration und Stillleben in den frühen Fotografien von William Henry Fox talbot ein. vgl. Weltzien (2006 a). andere wesentliche elemente der Stilllebenmalerei, etwa die emblematische, religiöse oder genrehafte Symbolik, werden hier zugunsten der lebendigkeitsproblematik unterschlagen. vgl. zu diesem themenbereich z. b. Schneider (1989). Schlegel (1996 [1799]), S. 25. ebd. Schlegel (1989 [1808]), S. 258. näher erläutert habe ich diesen zusammenhang in Weltzien (2007 a). Schlegel (1989 [1808]), S. 258. ebd., S. 259. »Wenn man die naturschönheit und Kunstschönheit sich unter dem bilde zweyer Schwestern denkt, so ist jene, gegen die herrschende Meynung, die erstgeborene.« (ebd., S. 247). nach Schlegel ist Schönheit das ergebnis der verbindung von Freiheit und regel. aus diesem grund ist Kunst notwendig, um die Schönheit der natur zu erkennen, denn ohne Kenntnis ihrer gesetzmässigkeiten bleibt auch ihre Schönheit verborgen. Schlegels angenommene zustimmung zu nathes bildtechnik ist nicht unbedingt vorauszusetzen, da er an mancher Stelle gegen die verwendung von apparaten wie etwa der Camera obscura polemisiert. andererseits galt die Physik als die paradigmatische Disziplin der ergründung der naturgesetze. Möglicherweise wäre Schlegel also meinem argument doch gefolgt.

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lichtenberg (1997 [1778]), S. 151. lichtenberg (1956 [1778]), S. 51. nur für seine Publikation von 1777 musste er die Figuren von einem Stecher umsetzen lassen, damit sie gedruckt werden konnten. lichtenberg an Johann andreas Schernhagen, 5. Februar 1778. zit. n. Joost et al. (1983), S. 440. zu den buchstaben gr vgl. Joost et al. (1992), S. 352. zu den Köpfen vgl. rogier (2004), bes. S. 115/116: experimente 19 und 20. lichtenberg (1997 [1778]), S. 151. Dieses Kabinett ist noch heute weitgehend erhalten und kann im Kulturhistorischen Museum görlitz besichtigt werden. vgl. dazu Herrmann (2007). vgl. lemper (1974), S. 261. Hier wird darauf hingewiesen, dass sich gersdorf bereits 1793 die notwendigen geräte dazu beschaffte. Siehe gersdorf (1802). zit. n. lemper (1974), S. 58. novalis (1993), S. 65, Fragment nr. 362. Hervorhebungen im original. van Marum (1788), S. 14. ebd., S. 21. in gersdorfs bibliothek sind der Hauptband und die beiden nachfolgebände van Marums in einem buch zusammengebunden. vielleicht hat gersdorf sie bereits so gekauft, vielleicht sind die drei Publikationen aber auch erst nachträglich zusammengebunden worden. Die elektrisiermaschine von van Marum aus gersdorfs nachlass ist allerdings bereits 1792 für ihn hergestellt worden, er kannte van Marums arbeit wahrscheinlich also bereits zu diesem zeitpunkt. vgl. zu nathe Michels et al. (2007). Hierin auch mein beitrag Weltzien (2007 b). vgl. lemper (1974), S. 264. vgl. Herrmann (2007). vgl. lemper (1974), S. 368 und 369, anm. 725.

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Damit ist wohl der Mathematiker und Physiker ludwig Wilhelm gilbert (Herausgeber der bedeutenden Fachzeitschrift Gilberts Annalen) gemeint, der gersdorf am 22. Februar 1805 um Übersendung von lichtenberg-Figuren bat, gerahmt und hinter glas wie Kunstwerke (vgl. lemper (1974), S. 264). Über diesen beleg kann man diese arbeit datieren. vgl. dazu lemper (1974), S. 264. Cavallo (1777), auf Deutsch erschienen 1785 und 1797. Siehe Schreiben an gersdorf vom 23. März 1801. briefe von Christoph nathe in der oberlausitzischen bibliothek der Wissenschaften, iX 93, atvg 629, blatt 145. vielleicht bezog sich nathe auf die beiden bände von William gilpin von 1786, die 27 getönte aquatinta-tafeln und drei kolorierte Karten enthielten (gilpin (1786)). vgl. Michels et al. (1996) und netzer (1987). nathe (1806), Sechster Tag, S. 36. nathe (1806), Einleitung, S. X. briefe von Christoph nathe in der oberlausitzischen bibliothek der Wissenschaften, iX 93, atvg 629, blatt 103. ebd. ebd., blatt 105. Knebel (1807), S. 181. ebd., S. 182. Möglich wäre es durchaus, denn Kant schätzte lichtenbergs Forschungsarbeiten und nannte den »vortrefflichen Herrn Hofrath lichtenberg« im Jahr 1787 einen »hellen Kopf«: brief von Kant an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Dezember 1794. zit. n. zehe (1992), anm. 14. zum verhältnis zwischen Kant und lichtenberg vgl. Weltzien (2006 b), S. 15–30, bes. S. 23f. Kant (1966), S. 324. ebd., S. 327. ebd. ebd., S. 328. ebd., S. 324. brief vom 2. Januar 1796. oberlausitzische bibliothek der Wissenschaften, iX 93, atvg 629. Schlegel (1996 [1799]), S. 18. vgl. Weltzien (2006 b).

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abb. 1: Jean-baptiste oudry, Hase und Hammelkeule, 1742, Öl auf leinwand, 98,2 × 73,4 cm, Cleveland, Cleveland Museum of art, John l. Severance Fund.

Paradiesische Alternativen. Das »lebende Tierinventar« der Rosa Bonheur Petra lange-berndt

Wie es die Philosophin elizabeth grosz beschreibt, ist aus einer zeitgenössischen Perspektive die klare trennung zwischen den territorien des Menschen und denen des tieres nicht mehr möglich, denn alle Künste sind im ökologischen zeitalter auf die eine oder andere Weise mit dem gesang der vögel, dem olfaktorischen tanz der insekten oder der performativen zurschaustellung von Menschen und anderen Wirbeltieren verbunden. [1] Stillleben scheinen jedoch Herrschaftsräume mit klaren Hierarchien zu konstruieren, indem sie lebende tiere zu objekten der Malerei transformieren: [2] Wie es der französische Maler Jean-baptiste oudry 1742 programmatisch vorführt, schlägt sein Hase keine Haken mehr, sondern hängt vielmehr an demselben (Abb. 1). Die Konfrontation mit rohem Hammelfleisch steht im Kontrast zu dem eindruck, dass der Körper mitten im Sprung eingefroren wurde; insgesamt wirkt das exakt wiedergegebene tier durch das ungetrübte auge und die detailgetreue textur des Fells lebendig. Dieses gemälde demonstriert letztlich auch, dass lebewesen getötet werden müssen, damit die Malerei ihr reanimierendes Wunder vollbringen kann. [3] oudrys augentäuschung versucht in bester Stilllebentradition, durch Mimesis die grenze zum Dargestellten aufzuheben. gleichzeitig stellt sie einen Sonderfall dar, denn der monochrome Hintergrund isoliert das tier, das in den betrachterraum zu ragen scheint, und lässt es trotz des kleinen Formates nahezu monumental erscheinen. Wegen dieses veränderten blickwinkels auf die Fauna entfachte Hase und Hammelkeule nach seiner ausstellung im

Pariser Salon eine Debatte über den Status von lebewesen innerhalb von christlicher Schöpfung und Kunsttheorie, hatte die tierwelt doch bis zu diesem zeitpunkt vor allem als beiwerk in Darstellungen der Menschheitsgeschichte einsatz gefunden. [4] Doch seit dem 18. Jahrhundert revidierten Philosophen rené Descartes’ mechanistische auffassung des animalischen Körpers und sprachen tieren eine Seele zu. [5] Dementsprechend unterzog oudry das Stillleben durch bezüge auf Porträt und landschaftsmalerei einer revision. auch wenn dabei das genre erweitert und sogar verlassen wurde, kann anhand dieses Phänomens ein verändertes interesse diskutiert werden: Der arbeit mit lebenden Modellen, das zeigt die verbindung des Künstlers mit der königlichen Menagerie in versailles, kam infolgedessen eine verstärkte aufmerksamkeit zu. [6] im 19. Jahrhundert erkundeten die aufkommenden biologischen Wissenschaften – vor allem die zoologie – zunehmend die Prozesse des lebens, und mit der sogenannten art animalier kam ab 1830 ausgehend von Frankreich auch im restlichen europa und in nordamerika eine veristische tiermalerei auf, die nicht mehr der Monarchie, sondern dem aufkommenden bürgertum verbunden war. [7] anhand eines prominenten beispiels, der französischen Malerin rosa bonheur, die mit bildern wie Hasen, Karotten essend von 1840 ein zahlendes Massenpublikum bediente, sollen die entsprechenden Prozesse künstlerischer transformation diskutiert werden (Abb. 2). bedingt durch eine beschleunigte industrialisierung bildeten sich in dieser zeit auch zahlreiche

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tierschutzorganisationen. im zuge dieser entwicklungen wurde das tier in der Kunst zunehmend als Subjekt wahrgenommen. [8] Parallel drohte sich die trennung zwischen Homo sapiens und dem rest der Fauna im Chaos evolutionärer theorien aufzulösen. Wie genau positioniert sich bonheur gegenüber der tierwelt und diesen umbrüchen? in welcher Weise und in welchen räumen arrangiert sie das von ihr porträtierte leben? und wie steht es um die relation von leben und tod in den entstehenden bildlichkeiten? Feldforschung Während der blütezeit der art animalier war die realismusdebatte das beherrschende thema der Kunstszene. Wie es in einer gemalten Satire des französischen Malers thomas Couture von 1865 deutlich wird, verschmäht ein Realist, so der titel, den abguss eines zeus-Hauptes und bevorzugt stattdessen den abgehackten Schweinekopf für seine Studien als Sittenbild des einfachen lebens und demokratischer gesinnung (Abb. 3). [9] Der zoologe georges-louis leclerc, Comte de buffon, hatte in seiner breit rezipierten Histoire naturelle schon Mitte des 18. Jahrhunderts jedes der vielen besprochenen lebewesen, sei es ein Hamster oder ein löwe, in den beigefügten Kupfern auf einen Sockel stellen lassen, und es ist kein zufall, dass bei Couture unter den abgebildeten gegenständen ausgerechnet das tier symptomatisch für die neue Kunstrichtung steht. Während die Stilllebenmalerei mit unbelebten Dingen und Pflanzen 216

im 18. Jahrhundert ein anerkanntes Fach geworden war, [10] schätzten Ästhetik wie akademische Kunstausbildung das genre der tiermalerei zu beginn des folgenden Jahrhunderts noch immer äusserst gering. Dieses gebiet eignete sich daher für eine neudefinition von traditionen. als eine der berühmtesten zeitgenössischen animaliers wurde damals in europa wie nordamerika rosa bonheur gefeiert – sie bestimmte diese bewegung massgeblich. [11] Seit linda nochlins berühmtem aufsatz Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben? aus dem Jahr 1971 wurde die Künstlerin jedoch weniger wegen ihrer Malerei, sondern vorrangig aufgrund ihrer unkonventionalität, der inszenierung als androgyn und ihres protolesbisch zu nennenden lebensstils rezipiert. [12] bonheur war nicht nur die berühmteste tiermalerin des 19. Jahrhunderts, sondern auch eine der wenigen kommerziell erfolgreich tätigen Malerinnen überhaupt und die erste Frau, der von der Kaiserin eugénie mit der bemerkung, dass das genie kein geschlecht habe, das Kreuz der ehrenlegion verliehen wurde. Darüber hinaus bevorzugte bonheur wie george Sand Männerkleidung, wofür sie bekanntermassen eine polizeiliche erlaubnis zur travestie benötigte, trug die Haare für damalige zeiten kurz, rauchte, war nie verheiratet und führte mit ihren jeweiligen gefährtinnen, nathalie Micas und anna Klumpke, ein unabhängiges leben. bonheurs biografie und professioneller Habitus sind von der geschlechterforschung sehr gut untersucht. Wie auch in der allgemeinen Forschung zum französischen realismus wurden jedoch vorrangig gemälde Petra lange-bernDt

abb. 2: rosa bonheur, Hasen, Karotten essend, 1840, Öl auf leinwand, 54 × 65 cm, bordeaux, Musée des beaux-arts. ParaDieSiSCHe alternativen. DaS »lebenDe tierinventar« Der roSa bonHeur

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abb. 3: thomas Couture, ein realist, 1865, Öl auf leinwand, 46 × 38 cm, amsterdam, van gogh Museum. 218

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abb. 4: Frederick goodall, rosa bonheur malt in den schottischen Highlands, 1856–1858, Öl auf Holz, 39 × 58 cm, indiana, indiana university art Museum. abb. 5: Fortunino Matania, animaliers im Jardin des Plantes, lithografie, in: l’illustration, Januar 1902. ParaDieSiSCHe alternativen. DaS »lebenDe tierinventar« Der roSa bonHeur

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wie Der Pferdemarkt fokussiert, also Werke, die im gesamtœuvre aufgrund ihrer an das Historienbild angelehnten Monumentalität eine ausnahme darstellen. Überraschenderweise klammern diese untersuchungen die Prozesse von bonheurs alltäglicher Kunstproduktion, die bestenfalls als konventionell beschrieben oder ignoriert wird, weitgehend von der analyse aus. [13] Doch lassen sich beide bereiche nicht voneinander trennen. Die tausenden Skizzen, aquarelle und Ölbilder wie die von bonheur porträtierten lebenden tiere sind vielmehr integraler teil des übergeordneten Projektes, den eigenen lebensentwurf, der die bürgerliche ordnung der geschlechter grundlegend infrage stellte, zu legitimieren – und dies zu einem zeitpunkt, an dem sowohl Frauen die meisten bürgerrechte noch verwehrt waren als auch ein moderner entwurf schwul-lesbischer identitäten sowie die damit verbundenen Subkulturen sich erst herauszubilden begannen. [14] anhand von bonheurs über zahlreiche biografien, anekdoten und Porträts gesteuerter Selbstinszenierung soll daher untersucht werden, welche rolle tiersammlung und massenhafte bilderproduktion spielen. [15] Das Stillleben wie die tiermalerei stellten bevorzugte gebiete weiblicher Dilettanti des 19. Jahrhunderts dar. Doch rosa bonheur nutzte dieses genre als einfallstür in die höchsten ränge ihrer Profession. anders als viele bürgerliche oder aristokratische Frauen praktizierte sie Kunst nicht zum zeitvertreib, sondern verdiente mit ihrer kommerziell erfolgreichen Malerei den lebensunterhalt. Darüber hinaus vermied sie traditionelle Sujets wie 220

blumen, niedliche Katzen, Hunde oder Kinder und die beschäftigung mit einer häuslichen Sphäre, sondern wandte sich vorrangig arbeitendem vieh oder wilden tieren zu. [16] bonheur beschäftigte sich mit anatomie, dem inneren aufbau von Körpern und scheute selbst nicht davor zurück, genitalien akribisch abzubilden. Da sie als Frau an den öffentlichen Sektionen, die im Jardin des Plantes stattfanden, anders als etwa antoine-louis barye oder eugène Delacroix nicht teilnehmen konnte,[17] absolvierte sie eine zeit lang besuche im Pariser Schlachthof und »machte sogar Sezierübungen«. [18] Darüber hinaus verkehrte sie regelmässig mit Wissenschaftlern wie dem zoologen geoffroy Saint-Hilaire [19] und betrieb auf einigen reisen Studien direkt in der natur, wie es in einem gemälde von Frederick goodall zu sehen ist, das die Künstlerin 1857 als Feldforscherin in den schottischen Highlands mit Hochlandrindern zeigt (Abb. 4). obwohl sich die klassizistische Ästhetik einig war, dass bei tieren ein »inneres Wesen« durch Schuppen, Haar und Federn verdeckt sei,[20] ging es bonheur wie vielen animaliers in romantischer tradition gerade darum, die Seele der tiere zu erfassen. [21] Die Künstlerin, die aufgrund der geschlechterpolitik ihrer zeit die École des beaux-arts nicht besuchen konnte und die daher von ihrem vater raymond bonheur, einem anhänger der frühsozialistischen bewegung der Saint-Simonisten, in der Malkunst unterrichtet worden war,[22] steht exemplarisch für dieses neue ideal, tiere der politischen naturrechtsund Freiheitslehre entsprechend als eigenständige Wesen anzuerkennen. [23] Sie wollte ihre Modelle Petra lange-bernDt

jenseits traditioneller christlicher, mythologischer oder politischer Symbolbedeutungen platziert wissen. in einem ihrer bekanntesten gemälde, Ackerbau in Nièvre von 1849, entstanden ein Jahr nach der revolution von 1848, wurden die erkenntnisse solcher Studien in das für dieses genre ungewöhnlich grossformatige Ölgemälde umgesetzt. zwei ochsengespanne pflügen ein mit grasnarben bedecktes gelände. obwohl sie geführt und von treibern begleitet werden, rücken die Menschen in den Hintergrund, während die tiere scheinbar ohne zwang – das typische Joch ist kaum sichtbar – gemeinschaftlich mit den bauern ihre arbeit verrichten. Durch die scharfen Konturen, die plastische gestaltung sowie die detailgetreue und nüchtern anmutende Wiedergabe von Muskulatur und haptisch wirkendem Fell erscheint die Darstellung der rinder als einer naturwissenschaftlichen illustration ebenbürtig. anders als die niederen tiere der Stillleben, Kröten, insekten und Schlangen, die kolonialen beutestücke der Papageien oder die erlegten rebhühner und Hirsche der fürstlichen und aristokratischen Jagdbilder sind die ochsen trotz ihres Status als nutztiere Symbole der politischen wie persönlichen Freiheit. [24] Der bezug auf vermeintlich objektiv-exakte naturwissenschaftliche ideale ermöglichte einen ausstieg aus traditionen der tierdarstellung; allerdings stellte das ideal der Feldforschung für die meisten animaliers die ausnahme dar. Die errichtung des Pariser Jardin des Plantes, des damaligen zentrums biologischer Forschung, als ein resultat der Französischen revolution erleichterte das Skizzieren

jenseits der Wildbahn und ausserhalb des ateliers. auf diesem gelände wurden verschiedene institutionen zusammengeschlossen, und 1794 entstand der erste öffentliche zoo europas. [25] Dort beobachtete auch rosa bonheur lebende tiere; [26] andere Studienorte waren tierausstellungen, tiermärkte, der zirkus oder bauernhöfe beziehungsweise die ländlicheren teile von Paris. Wie es die Künstlerin selbst formuliert, müssen für einen animalier solche Studien nach der natur bestandteil des lebens werden. [27] auch wenn der Jardin des Plantes mit seinen neuartigen gehegen den eindruck eines pittoresken, friedlichen gartens vermitteln wollte,[28] störte sich bonheur an den wenigen vorhandenen Käfigen, die in einer populären illustration von 1905 dominant in Szene gesetzt sind (Abb. 5). Sie nahm die Sache stattdessen in die eigene Hand und sammelte in grösserem ausmass als die meisten anderen animaliers tiere. Dabei verdichtete sie das von ihr aufgesuchte tierleben in modellhaften Situationen und isolierte die lebewesen aus dem »schwarzen, schmutzigen, rauchigen Paris«,[29] bereits bevor sie ihre Skizzen anfertigte, um im zeitalter von vivisektion, rücksichtslosen tierversuchen, Massentierhaltung und -schlachtung der utopie eines direkten austauschs mit der natur nachgehen zu können. [30] Das Atelier als Stall eine Darstellung ihres ersten eigenen Wohnateliers, entstanden 1852 für eine reportage der populären zeitung L’Illustration, verdeutlicht den privilegierten

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abb. 6: atelier von Mademoiselle rosa bonheur in Paris, in: Du Pays, augustinJoseph (1852), visite aux ateliers. atelier de Mademoiselle rosa bonheur. l’illustration, XiX, 479, 1. Mai 1852. 222

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Status, den die Künstlerin ihren tiermodellen zugestand, und führt die praktizierte einheit von tierstudium, künstlerischen Prozessen und Wohnsituation vor (Abb. 6). [31] anders als etwa Horace vernet oder edwin landseer, die einzelne Pferde ins Studio holten, oder später gustave Courbet, der seine Schüler mit einem ochsen konfrontierte, [32] lebte bonheur mitten in Paris auf begrenztem raum ständig mit ihren Modellen zusammen: »ich konnte hier in ruhe arbeiten und alle möglichen tiere aus noahs arche durch diese räumlichkeiten spazieren lassen.« [33] ausgerechnet eine urbane Wohnung wird zum locus amoenus. Die besucher und Kunden, die hier regelmässig ein- und ausgingen, konnten zeitgenössischen aussagen zufolge in einem der räume einen kompletten Stall mit tieren wie einem Pferd, einem ziegenbock, Schafen oder freilaufenden Hunden bestaunen, die in friedlicher Koexistenz mit der Künstlerin und ihrer gefährtin nathalie Micas lebten. [34] Die reportage beschreibt männlichen Künstlermythen folgend die romantisch anmutende einsamkeit von bonheurs atelier, [35] das trotz seiner kommerziellen ausrichtung ausserhalb der realen Welt, der Welt der geschäfte des nahen boulevard du Montparnasse, angesiedelt sei, wo rinder, Kühe und Schafe nur als Filet oder entrecôte existieren. [36] Doch obwohl sich räume der aussenwelt und der innenwelt ineinander verschachteln, sind zumindest der visuellen argumentation der grafik zufolge die Sphären von natur und Kunst, von animalischen und menschlichen zimmern weiterhin separiert. Dieses relativ kleine atelier wurde der Sammeltätigkeit rosa bonheurs bald nicht mehr gerecht,

und die Künstlerin mietete sich um 1860 einen landsitz in einem kleinen ort namens by, am rand des Waldes von Fontainebleau. Dieses Domizil befand sich in nachbarschaft zu der ortschaft barbizon, in der sich seit den 1830er-Jahren landschaftsmaler angesiedelt hatten, aber auch zum dortigen Schloss, dem regierungssitz von napoléon iii. während der zweiten republik. [37] rosa bonheurs umzug gilt biografisch motivierten analysen zufolge als rückkehr und rückzug in die ländliche Situation, in der die Künstlerin aufwuchs; zudem wird der folgende lebensabschnitt als abkehr von früheren republikanischen idealen gedeutet. Dagegen kann argumentiert werden, dass die Künstlerin die bereits modellhafte Situation des Pariser ateliers auf diesen landsitz übertrug. an diesem ort, den rosa bonheur bis an ihr lebensende angeblich nur selten verliess, blieben Wohnhaus mit atelier sowie die daran angrenzenden Ställe räumlich ebenfalls voneinander getrennt, aber die tiere, welche liebevoll als »Pensionsgäste« bezeichnet wurden,[38] befanden sich nun überall: in bonheurs Schlafzimmer wohnten in 60 goldenen Käfigen Hunderte von vögeln,[39] in Ställen und gehegen tummelten sich Hühner, truthähne, Wachteln, enten, ein adler, Pferde, Mustangs, Ponys, 40 Schafe, ziegen, gazellen, bären, Mufflons, Steinböcke, ein Yak, elche, Wildschweine, rehe sowie Hirsche und Hunde, während sich affen, ja sogar löwen frei im Haus und auf dem gelände bewegten – um nur einige der Kostgänger zu nennen. zudem dehnte bonheur ihren Machtbereich aus und liess die Mauer zwischen dem garten und dem angrenzenden gehölz

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niederreissen. nicht nur dieser Wohnsitz, sondern auch das gesamte Waldareal von Fontainebleau dienten ihr gleichermassen als Freiluftatelier, in dem sie sich ihre Modelle aussuchen konnte. [40] Keineswegs ging es rosa bonheur wie bislang angenommen darum, eine »unbelastete« oder »ursprüngliche« natur aufzusuchen. [41] ihre tiersammlung ist vielmehr basis der Selbstinszenierung und notwendiger teil des übergeordneten Projektes, den eigenen Sonderstatus über den verweis auf natur zu legitimieren. Über den geografischen ort Fontainebleau präsentiert sich die Künstlerin als Monarchin, deren tugend sich in ihrer tiersammlung spiegelt. [42] Die von le vau entworfene, an ein Panoptikum angelehnte architektur der berühmten Menagerie von versailles ermöglichte es etwa louis Xiv., alle tiere von einem zentralen Pavillon aus visuell zu erfassen. [43] Da diese Menagerie eine souveräne Macht über das universum zur Schau stellte, galt sie während der Französischen revolution als Symbol der tyrannei und wurde 1792 zerstört. by kommt ohne eine solche Überwachungsarchitektur aus, rosa bonheur forciert vielmehr anspielungen auf den bürgerlichen zoo des Jardin des Plantes. [44] Dieser ort propagierte durch die verbesserung von tierzucht, agrikultur, verkehrswirtschaft sowie bildung die veränderung gesellschaftlicher zusammenhänge. beworben wird ein bürgerliches leben ohne luxus, das sich der erforschung der natur widmet. [45] Für beide Modelle der tiersammlung war die anthropozentrische rhetorik der zähmung des einst Wilden zentral. [46] vergleichbar den intentionen der errichter des Pariser zoos ist 224

es in bonheurs landsitz erst die gefangenschaft, die selbst löwen zu friedlichen geschöpfen werden lässt und etwa davon befreit, sich nahrung durch das töten anderer lebewesen beschaffen zu müssen. [47] Der Jardin des Plantes wie auch bonheur verfolgten die absicht, durch das Sammeln von tieren deren Überleben zu sichern. Dementsprechend wurde die Künstlerin als tier- und naturschützerin tätig und engagierte sich unter anderem für die erhaltung des Waldes von Fontainebleau und seiner tierarten, denn menschliche eingriffe und zunehmender tourismus verringerten damals die Fauna drastisch. [48] in dieser Phase entstanden zahlreiche kleinformatige bilder einheimischer tiere, etwa Ruhendes Damwild von 1867 (Abb. 7). im gegensatz zu Der Pferdemarkt stehen diese für einen bürgerlichen Kunstmarkt gefertigten objekte in der tradition biblischer Paradiesdarstellungen, in denen die tiere nur selten in aktion zu sehen sind (Abb. 8).[49] in ihren briefen reihte sich bonheur explizit in dieses tierreich ein, indem sie sich als »gemisch von einem Hund und einer Schildkröte« oder gar »alte[s] untier« titulierte. [50] ihr naturverständnis steht jedoch in einem krassen gegensatz zu der kulturpessimistischen rezeption darwinistischer theorien von evolutionären grenzauflösungen oder einem »struggle of life«, wie sie spätestens in der Dritten republik nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg von 1870–1871 auch in den Künsten Konjunktur hatten. [51] es ist dabei auffällig, dass bonheur konsequent analogisierungen von weiblicher Sexualität mit animalischem trieb vermeidet,[52] wie sie ab 1859 Petra lange-bernDt

etwa in den zahlreichen und äusserst populären Plastiken emmanuel Frémiets eines Weiblichen Gorillas, der eine Wilde verschleppt unternommen wurden. Frémiet imaginiert die Kämpfe zwischen den lebensformen, die sich vermeintlich nahestehen und daher miteinander in Konkurrenzkämpfe treten. [53] auch wenn sich die Künstlerin mit einer ganzen reihe von tieren identifiziert,[54] so thematisiert sie letztendlich keine Metamorphosen, sondern betont vielmehr, dass sie einem leviathan vergleichbar alle möglichen lebewesen in sich vereint. dabei ermöglicht erst die Mimikry männlicher Posen, von noah über den Monarchen bis hin zum Zoologen – sowie die tatsächliche Kontrolle einer Menagerie –, über natur zu herrschen: die individuelle Freiheit und die Freiheit der tiere sind hier aufs engste miteinander verwoben. [55] nur eine friedliche tierschar demonstriert das damals unmögliche, nämlich dass die Künstlerin bonheur natur – auch die eigene – kontrollieren kann. aber es sind gleichzeitig zentrale verschiebungen auszumachen. Keinesfalls wird, wie es das Gemälde Ruhendes Damwild mit seiner Kleinfamilie nahelegt, die bürgerliche Geschlechterordnung zementiert. darüber hinaus liess die Künstlerin die Geschichte kolportieren, dass ihre Mutter ihr das adamitische alphabet beigebracht hatte, indem sie die tochter neben jeden buchstaben ein tier zeichnen liess. [56] die Fauna bildet innerhalb dieses Weltentwurfes die Matrix einer schöpfung, die auf eine weibliche Genealogie verweist. doch wird dieses Geschlechtermodell durch neue varianten ergänzt. [57] so berichtete bonheur, dass ihre Äffin ratata sie für

»ein Männchen ihrer rasse« hielt – in dieser anekdote erkennt das tier instinktiv die wahre natur der Künstlerin: [58] rosa bonheur versuchte offenbar, sich saint-simonistischen ansichten sowie damaligen Künstlermythen folgend als androgyn zu inszenieren. [59] dieser selbstbestimmte Kosmos, dieses biotop weiblicher Machtausübung, aus dem zukünftige alternativen und neue Geschlechterkonstellationen hervorgehen könnten,[60] wird durch den wiederholt ausgeführten Malprozess gefestigt. nur mithilfe von Malerei und ihren reproduktionen kann das bild einer friedlichen Fauna produziert und international vermarktet werden. by steht für das Projekt, ein alternatives Paradies jenseits bürgerlicher Geschlechternormen mit der rhetorik der aufklärungszeit zu legitimieren. Tödliche Dressur by galt nathalie Micas und rosa bonheur als »domäne der vollkommenen liebe«. [61] ihrer empathie für die tierwelt entsprechend berichtet bonheur, dass sie ihren Zeichenstil an die Modelle angepasst habe. Wechselte ein tier seine Pose, während sie es skizzierte, wurde dementsprechend ein neues blatt angefangen. [62] Gleichzeitig fusst diese Paradiesproduktion auf der Kontrolle und der Modellierung des tierlebens. diese Zurichtung wird nur sichtbar, wenn bonheurs schaffensprozess sowie das verhältnis von Menagerie und atelier ins Zentrum der analyse rücken. so war die Künstlerin für die nahsichtigkeit ihrer bilder berühmt; dem ideal wissenschaftlicher

Paradiesische alternativen. das »lebende tierinventar« der rosa bonheur

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abb. 7: rosa bonheur, ruhendes damwild, 1867, Öl auf leinwand, 41 × 33 cm, detroit, the detroit institute of arts, Gift of Mrs. Queene Ferry coonley. 226

Petra lanGe-berndt

abb. 8: roelant savery, Paradies, 1626, Öl auf holz, 81 × 138 cm, berlin, Gemäldegalerie der staatlichen Museen, Preussischer Kulturbesitz. Paradiesische alternativen. das »lebende tierinventar« der rosa bonheur

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darstellungen wie traditioneller Malerei entsprechend gab sie tiere haar für haar wieder. [63] um diesem speziellen interesse nachkommen zu können, mussten ihre Modelle bestimmte Qualitäten aufweisen. sie sollten zahm sein und über längere Zeit still stehen. [64] unter den befreundeten tiermalern existierte daher ein reger tauschhandel; beliebte Modelle wurden untereinander verschenkt, verliehen oder vermietet. [65] doch rosa bonheur war Perfektionistin. um tiere nicht in künstlich wirkende Posen zwingen zu müssen, interessierte sie sich für Methoden der tierzähmung, wie sie zu beginn des 19. Jahrhunderts etwa isaac van amburgh entwickelte, ein löwendompteur, dem edwin landseer mit einem bild ein denkmal setzte und dessen Pose bonheur auf einer Fotografie selbstbewusst imitierte (Abb. 9 und 10). [66] ein anderes beispiel wäre buffalo bill, den bonheur 1889 während der Pariser Weltausstellung traf und dessen Fähigkeiten der sanften Pferdedressur sie bewunderte. [67] trotzdem waren in by keinesfalls alle tiere gleichermassen willkommen. von biestern, denen keine besseren »Manieren« [68] beigebracht werden konnten, trennte sich das Paar schnell, wie von einem wilden Mustang, der so unbändig war, dass selbst bonheur ihn nicht zähmen, geschweige denn in seine nähe gehen und ihn zeichnen konnte. [69] sie arbeitete also nicht, wie es das ideal vorsah, in der Wildnis und mit zufälligen situationen, sondern gestaltete die von ihr verewigte natur aktiv mit – je kultivierter die tiermodelle, desto wahrer wurde ihre darstellung. nathalie Micas ging ihr bei der konkreteren umsetzung zur hand, indem sie bildhintergründe 228

malte [70] und sich als dilettierende tierärztin betätigte, wie es der biograf theodore stanton berichtet: »ich erinnere mich, dass nathalie und rosa einmal vier volle Wochen lang an einem kranken löwen herumkurierten, allerlei operationen intimster art bei ihm vornahmen und für ihn sorgten, wie sie ein Kind gepflegt haben würden.« [71] rosa bonheur wählte also auch die inszenierung als fürsorgliche Mutter. tiere, die sich diesem künstlerischen schaffensprozess nicht unterwarfen beziehungsweise sich einem akribisch naturalistischen stil entzogen, wurden jedoch gewaltsam stillgestellt und sogar liquidiert. die Künstlerin, der die Jagdrechte von napoléon iii. verliehen worden waren, diese »diana von Fontainebleau«,[72] erlegte damaligen berichten zufolge einen ausgebrochenen hirsch mit einem Kopfschuss und tötete alle alten und kranken tiere. [73] es erstaunt wenig, dass rosa bonheur, die ihr Gästehaus mit strenger hand führte, auch die Kadaver ihrer tiere zeichnete. tatsächlich spielte sich die Fertigung der vielen meist kleinformatigen Ölbilder weiterhin im atelier ab, und zu diesem raum hatten in by nur einige wenige haustiere Zutritt – also die sorte tier, die Gilles deleuze und Félix Guattari zufolge im Gegensatz zu rotten, Meuten und schwärmen den Gesetzen des Menschen gegenüber loyal sind. [74] im Gegensatz zum flüchtigen skizzieren war bonheurs Malprozess äusserst langwierig. die Künstlerin trug die Ölfarben zunächst dick auf, liess sie bis zu zwei Jahre lang trocknen und nahm die arbeit dann wieder auf, indem sie die abschliessenden Petra lanGe-berndt

Farbschichten aufbrachte. [75] es wird deutlich, warum sie ihr leben lang detaillierte bleistiftskizzen, aquarelle und Ölstudien anfertigte. ihre studiensammlung und die ständige beobachtung des »lebenden tierinventars« [76] werden geholfen haben, haltungen und details zu memorieren. [77] diese hilfsmittel dienten entsprechend einer neoplatonischen Kunstauffassung als äusserer anreiz, um vor dem inneren auge aus dem imaginären Museum der, wie bonheur es nannte, »geistigen Fotografien« geeignete bilder aufleben und den Pinsel das umsetzen zu lassen, was in dieser inneren schau gesehen wird. [78] Keineswegs wird also leben eingesammelt und kopiert, sondern der kunstvolle lebenshauch wird in der art animalier – wie auch im stillleben – erst während des künstlerischen transformationsprozesses im atelier generiert. [79] aber bonheur interessierte sich insbesondere für belebt wirkende oberflächenstrukturen, und selbst Fotografien waren ihrer aussage zufolge nicht geeignet, tierkörper zufriedenstellend wiederzugeben. [80] ein Porträt aus dem Jahr 1893 von Georges achilleFould, einer Künstlerin, die regelmässig im Salon des femmes ausstellte, zeigt bonheur in ihrem atelier, und dieses bild hilft, den Prozessen der transformation nachzuspüren (Abb. 11). [81] die ausnahmeperson bonheur, die vor zwei unfertigen leinwänden in ihrer berühmten männlichen arbeitskleidung zu sehen ist, stellt ihr atelier als einen kultischen raum der wundersamen Metamorphose vor, in dem sogar das unfertige preisgegeben wird. achille-Fould porträtierte sie als professionelle wie kommerziell erfolgreiche

Malerfürstin: bonheur stellt das bildzentrum und den ursprung der sie umgebenden Ölbilder dar. dabei werden anders als bei courbets berühmtem bild Das Atelier des Künstlers [...] von 1855 anspielungen auf tradierte analogisierungen von Weiblichkeit mit natürlichkeit oder Prostitution vermieden; bonheurs biologischer Körper ist unter der panzerartigen Kleidung kaum auszumachen. stattdessen können zahlreiche repräsentationen wilder tiere, wie die unbändigen Pferde links oder die löwen auf der staffelei, erblickt werden. auch hier wird bonheur in diesem von ihr definierten raum entsprechend den jagenden Feudalherren und naturforschern als beherrscherin und tugendhafte bezwingerin von natur inszeniert. aber diese beobachtung beschränkt sich nicht allein auf die gezeigten leinwandbilder. unter den Füssen bonheurs befindet sich ein abgezogenes tierfell. [82] und dieses objekt verweist auf die naturunterwerfung, die die jagende Künstlerin jenseits der gemalten illusionsräume und des ateliers handfest praktizierte. dieses Fell sowie eine zweite tierhaut links führen in den bildhintergrund; hier sind schliesslich weit oben auf einem schrank weitere tiere zu erkennen, die offenbar ein schattendasein fristen. Die Untoten der Taxidermie es handelt sich um Präparate, um ausgestopfte tiere, wie sie noch heute im ateliermuseum in by zu finden sind – gefügige tiermodelle, die zwar im verborgenen existieren, aber statt des unkontrollierbaren oder alternden lebewesens als das der

Paradiesische alternativen. das »lebende tierinventar« der rosa bonheur

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abb. 9: edwin landseer, isaac van amburgh und seine tiere, 1839, Öl auf leinwand, 113 × 175 cm, Windsor, royal collection Windsor. abb. 10: bonheur mit der löwin Fathma in by, Fotografie, um 1885. 230

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abb. 11: Georges achille-Fould, Porträt von rosa bonheur in ihrem atelier, 1893, Öl auf leinwand, 91 × 124 cm, bordeaux, Musée des beaux-arts. Paradiesische alternativen. das »lebende tierinventar« der rosa bonheur

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art animalier zugrundeliegende Prinzip beschrieben werden können: »der raum ist mit ausgestopften Köpfen verschiedenster tiere geschmückt – Wildschweine, bären, Wölfe und oxen; darüber hinaus hocken vögel in allen geeigneten Plätzen«, schrieb ein besucher 1884. [83] rosa bonheur bezeichnete ihr atelier dementsprechend als »sanktuarium«, in dem vor allem die Präparate der porträtierten tiere, die ihr besonders am herzen gelegen hätten, bewahrt würden. [84] erst die taxidermie, die Gestaltung der haut, ermöglicht eine jahrelange arbeit mit stillgestellten dreidimensionalen Körpern. doch Präparate sind äusserst ambivalente objekte. [85] aufgrund ihrer Materialität versprechen sie naturnähe. um ein tier zu konservieren, wird der Kadaver gehäutet und die gegerbte haut anschliessend in eine lebendig wirkende Pose gebracht. skizzen, Kupferstiche oder Fotografien dienen als vorlagen, sodass die verfechter der taxidermie diese Methode sogar als die herstellung dreidimensionaler bilder anpriesen. hierbei sollte der tote Kadaver, ganz wie es die neoplatonischen schöpfungsmythen der Kunst beschreiben, transformiert werden, damit der eindruck eines lebenden tieres an seine stelle trat; das bild des lebens stoppt die Prozesse des todes, ohne einen sichtbaren Medienwechsel zu vollziehen. [86] diese stillgestellten Modelltiere waren, wie es eadweard Muybridge in einer stereofotografie von 1869 vorführt, bestens geeignet, sogar für die langen belichtungszeiten der frühen Fotografie reglose Modelle abzugeben (Abb. 12). doch obwohl der Pariser Jardin des Plantes neben dem Zoo und der Galerie 232

der vergleichenden anatomie ein naturkundemuseum beherbergte und genau diese verbindung von musealer sammeltätigkeit mit Forschung und lehre es überhaupt erst ermöglicht hatte, naturwissenschaftliche erkenntnisse in einem ausmass auf die Kunst anzuwenden, wie es in früheren Jahrhunderten nicht möglich gewesen war,[87] wurden Präparate in hinsicht auf die art animalier überraschenderweise als Gegenstände von tierstudien sowohl in der zeitgenössischen theorie als auch in der selbstinszenierung der Künstler verschwiegen. [88] emmanuel Frémiet bildete die lieferanten seiner studienobjekte sogar selbst aus. so war er seit 1875 als lehrer für zoologisches Zeichnen im Jardin des Plantes tätig und somit auch für die ausbildung von taxidermisten zuständig. [89] doch stellen Präparate höchst unvollkommene Gebilde dar, die den schriftlich in handbüchern formulierten ansprüchen und hoffnungen nie gerecht werden konnten. denn abgezogene häute mitsamt haar- und Federkleid sind vergängliche naturstoffe, denen entscheidende Merkmale lebendiger tiere fehlen. Wie arthur schopenhauer 1820 schreibt: »ein lebendiges tier ist mir lieber als hundert ausgestopfte: bei diesen fehlt eben der Geist und der ist ja überall alles in allem.« [90] Präparate erfüllten keineswegs, und auch dies führt Muybridge mit seinen tierstücken in 3-d ungewollt vor, den anspruch, gelungene »bilder ihrer selbst« zu sein. doch orientierten sich – und das war wohl der eigentliche skandal – selbst die Präparatoren nicht direkt an der lebenden natur, denn es war ausgerechnet das studium der art animalier, Petra lanGe-berndt

das von taxidermisten in ihren schriften wiederholt als vorbild gepriesen wurde. nur über den einbezug der Kunst konnten gestalterische Probleme des biologischen Körperdesigns bewältigt werden. Je näher animaliers an ihre studienobjekte heranrückten, desto ungreifbarer wurde offenbar der Gegenstand der künstlerischen Forschung. ausgestopfte tiere erinnern daran, dass natur erst im atelier der Malerin rosa bonheur beziehungsweise im labor der Präparatoren so zur erscheinung gebracht wird, dass sie eingehend studiert werden kann. Wie die taxidermisten wollte bonheur durch ihren Malprozess oberflächentexturen animieren, keinesfalls sollten ihre tierrepräsentationen wie schlaffe Pelzmatten aussehen. [91] traditionelle, männlich besetzte schöpfungsmythen der Kunst, die bonheur mit aller Macht auch für sich reklamierte, einte jedoch der anspruch auf eine klare trennung zwischen den Zuständen des todes und des lebens. dieser schöpfungsakt, die beherrschung des Farbmaterials sowie des tierinventars, wird durch die anwesenheit von Präparaten vehement infrage gestellt. denn ein ausgestopftes tier stellt weder unberührte oder gar paradiesische natur zur schau, noch ist der präparatorische transformationsprozess ausreichend, um das endergebnis als etwas anderes als natur bezeichnen zu können. ein ausgestopfter haarbalg präsentiert die reste eines abgestorbenen Körpers, eine von der Zeit geprägte hülle, die lediglich in einem lebensähnlichen, also einem untoten Zustand in der schwebe zwischen natur und Künstlichkeit, leben und tod, zwischen real life und still life gehalten wird. [92]

schon 1904 war klar: »die Kunst von rosa bonheur war ihr leben.« [93] die Künstlerin meisterte das unmögliche und fusionierte in ihrer inszenierung oppositionen wie Monarchie und bürgertum, männliche und weibliche Prinzipien sowie natur und Kunst, wobei die alten ordnungen mit neuen vorzeichen versehen wurden. sie porträtierte ländliches nutzvieh sowie wilde tiere in dem Moment, in dem sie durch industrialisierung aus dem urbanen blickfeld verschwanden oder gar vor dem aussterben bedroht waren. [94] Wie donna haraway es im Zusammenhang mit den kolonialen bestrebungen des 19. Jahrhunderts beschrieben hat: »sobald die unterwerfung abgeschlossen ist, wird der erhalt dringlich.« [95] auf diesem Weg entsteht die erzählung gottgleicher Überlegenheit, welche die vermeintlich verlorenen objekte einer primitiven Wildnis fetischisiert – um letztlich vor allem sich selbst zu konservieren. diese haltung ist in bonheurs Fall nicht allein mit nostalgie oder politischem Konservativismus zu erklären: [96] um die tradierten männlichen rollenmodelle zu annektieren und einem naturverständnis der aufklärungszeit treu bleiben zu können, muss die Künstlerin immer wieder aufs neue beweisen, dass sie lebende tiere sowie die eigene natur kontrolliert. doch eine klare trennung zwischen dem Menschen als Krone der schöpfung sowie der Fauna liess sich gegen ende des Jahrhunderts nicht mehr aufrechterhalten. [97] denn der populären rezeption darwinistischer theorien zufolge war der Mensch längst in evolutionäres chaos verstrickt; auch in Frankreich machten sich misogyne wie rassistisch motivierte

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abb. 12: eadweard J. Muybridge, tiere in Woodwards Garten, stereokarte, 8,5 × 17,5 cm, um 1869, bradford, national Media Museum. 234

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Ängste vor vermeintlichem verfall und degeneration breit. [98] amazonen oder hermaphroditen verhiessen keine utopien mehr, sondern galten Künstlern wie odilon redon als zufällige abweichungen, Monster und – evolutionäre sackgassen. [99] und so endete die grosse Künstlerin mit ihrem alternativen lebensentwurf nur ein Jahr nach ihrem tod als spezimen und Fallbeispiel für eine »sexuelle Zwischenstufe« in Magnus hirschfelds berühmtem Jahrbuch. [100] das angenommene Paradies bürgerlichen Künstlerdaseins sowie das Konzept einer friedlichen natur führten um 1900 keine emanzipation von den damit verbundenen Geschlechterpolitiken herbei: in rosa bonheurs territorium kann die Kontrolle des lebens nur durch den tod herbeigeführt werden. doch das grösste Problem ist, dass die tiermalerin von der eigenen Körperlichkeit als schauplatz von herrschaft und auseinandersetzung ablenkt. Für bonheur stellte die Flucht nach vorn, die inszenierung als sexualisierte Femme fatale und bohemienne – eine rolle, die nur wenig später die berüchtigte luisa casati mit ihrer extravaganten Menagerie eingefärbter tiere auf die spitze trieb –, offensichtlich keine mögliche strategie dar. [101] trotzdem taugt die Künstlerin als bezugspunkt für gegenwärtige cyberfeministische debatten. so bezieht sich das Kollektiv subrosa explizit auf rosa bonheur. im Zeitalter von biotechnologie und transgener Kunst fordern diese intersexualitätsaktivisten/innen das medizinische establishment offen heraus, indem die hoffnung auf autonome räume für differenz, hybridbildungen, Wildlinge und Wucherungen,

anomalien und agit-crops formuliert wird: [102] »Mit anderen Worten: es wäre nicht mehr zwingend, eine Frau oder ein Mann gemäss irgendwelcher sozial (oder biologisch) konstruierter begriffe sein zu müssen – wir würden alle zu ›yes species‹ werden, und was das wäre, würden wir im Werden jeweils neu erfinden.« [103] es bleibt abzuwarten, was diese selbst gestaltete evolution und die transformation des lebens in weiterhin lebendiges für zukünftige Formationen des stilllebens und eine Malerei nach der Malerei bedeuten werden.

abbildungsnachweis John l. severance Fund, the cleveland Museum of art: abb. 1; Musée des beaux-arts, bordeaux: abb. 2, 11; van Gogh Museum, amsterdam: abb. 3; indiana university art Museum, indiana, Foto: Michael cavanagh, Kevin Montague: abb. 4; detroit institute of arts, detroit, Gift of Mrs. Queene Ferry coonley/the bridgeman art library: abb. 5; © bpk – bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte/nationalgalerie, berlin, Foto: Jörg P. anders: abb. 8; royal collection Windsor, Windsor: abb. 9; national Media Museum, bradford: abb. 12.

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vgl. boime (1981), s. 386f.: »it is as if she required a traditional aesthetic and conservative political viewpoint to support her unorthodox life-style«; chadwick (1993), s. 90; saslow (1997), s. 71, verspricht, diese sichtweise zu ändern, geht dann jedoch fast ausschliesslich auf den Pferdemarkt und hier vor allem rosa bonheurs mögliches selbstporträt ein. vgl. saslow (1997), s. 73. nach ihrem tod im Jahre 1899 listete ein auktionskatalog diese skizzensammlung, die zu lebzeiten nicht zum verkauf stand und im atelier aufbewahrt wurde, mit über 1800 einträgen auf, ashton et. al. (1981), s. 186. vgl. Weisberg (1998), s. 1–22, sowie zur Problematisierung solcher Quellensorten Kris et al. (1995 [1934]), s. 138–58. vgl. zum haustier Kete (1994), s. 56ff. vgl. Kliman (1982). hirsch (1905), s. 110; vgl. auch ashton et al. (1981), s. 52, saslow (1997), s. 70. vgl. ashton et al. (1981), s. 39ff. vgl. Fend (2007), s. 99. »animals do have souls, don’t you think?« rosa bonheur, zit. n. Klumpke (1997 [1908]), s. 22. raimond bonheur besass beziehungen zum Jardin des Plantes, denn er war von etienne Geoffroy saint-hilaire, dem direktor des Pariser naturkundemuseums, beauftragt worden, objekte der sammlung zu zeichnen, vgl. boime (1981), s. 407, anm. 52. vgl. harten et al. (1989), s. 68, artinger (1995), s. 129. vgl. saslow (1997), s. 76. vgl. vezin (2002), s. 73ff. vgl. ribemont (1997), s. 86. vgl. ashton et al. (1981), s. 167. vgl. baratay et al. (2002), s. 77f., und zu einer postkolonialen Kritik vgl. spickernagel (2010), s. 49ff. träupmann (1981), s. 49. vgl. ritvo (1987). vgl. du Pays (1852).

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vgl. ashton et al. (1981), s. 119. der Jardin des Plantes wurde ebenfalls zum abbild des biblischen Paradieses stilisiert, vgl. lepenies (1978), s. 70. rosa bonheur, zit. n. stanton (1914), s. 255 und 260. vgl. larson (2005), s. 70f. bonheur reagierte auf den Krieg mit dem Malen von royalen tieren: »the war gave my thoughts a tragic turn. after concentrating on peaceful animals for so long, i turned my attention to lions and tigers. this change of heart was due to our disasters.« Zit. n. Klumpke (1997 [1908]), s. 182. vgl. chadwick (1993), s. 91ff., ribemont (1997), s. 97. vgl. Weissberg (1991). bonheurs selbstinszenierung steht vielmehr in der tradition von Grandvilles Karikaturen, la Fontaines Fabeln oder Forschungen zur vergleichenden anatomie, vgl. ashton et al. (1981), s. 43. »Wenn ich indessen genauer in mich hineinschaue, scheint es mir, als ob es der bär wäre, der über die anderen tiere, die ich bin, vorherrscht.« rosa bonheur, zit. n. stanton (1914), s. 255. vgl. Fend (1999), s. 80. bonheurs Gemälde stellen mehr als blosse vehikel für ideen über natur dar; auch sind ihre tiermodelle keine »surrogates for a fantasy of liberty that could not yet be fully conceived or publicly represented«. saslow (1997), s. 76 und 81. vgl. Klumpke (1997 [1908]), s. 87. »My aunt elizabeth, my father’s sister, claimed that i loved animals so much because my mother’s bedroom was papered with bucolic scenes.« vgl. Klumpke (1997 [1908]), s. 67 und 134, van slyke (1991).

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rosa bonheur, zit. n. stanton (1914), s. 355. Zwei Porträts von bonheur könnten in ähnlicher hinsicht interpretiert werden. edouard louis dubufe sowie consuélo Fould, Marquise de Grasse, malten je ein Porträt der Künstlerin (1857, châteaux de versailles et de trianon und 1894, leeds art Gallery). bonheur fügte einen männlichen bullen sowie einen männlichen hund hinzu. beide Male dominiert sie durch eine aufgelegte hand die animalische natur, gleichzeitig zeigt sich die ›wahre natur‹ der Malerin. vgl. van slyke (1991), s. Xvi und XXXiii, Fend (1999). bonheur glaubte an die transmigration animalischer zu menschlichen seelen, das tierreich galt ihr als eine humanere Gesellschaft, vgl. ashton et al. (1981), s. 139. rosa bonheur, zit. n. Klumpke (1997 [1908]), s. 230ff. vgl. Klumpke (1997 [1908]), s. 122. vgl. stanton (1914), s. 140, Klumpke (1997 [1908]), s. 175. »M. Gérôme, when he wished to paint lions, visited the tamer Pézon at the Jardin des Plantes, and made his studies across the bars of the cages. bonheur [...] actually gave the freedom of her gardens to the lions of the menagerie at by.« Klumpke (1997 [1908]), s 137. stanton (1914), s. 58 und 184, ashton et al. (1981), s. 91. vgl. blühm et al. (2005/2006), s. 100f. allerdings übernimmt sie weder das antikisierende Kostüm noch die in amburghs show verwendeten Mittel der Züchtigung. amburgh reiste mit seiner show nach Paris, wo er grosse erfolge feierte, siehe anonym (1841), s. 9. buffalo bill schenkte ihr etwa zwei wilde Mustangs, vgl. holmes (1894), s. 62. rosa bonheur, zit. n. stanton (1914), s. 225. »dieses wilde Pferd blieb so durch und durch stürmisch, daß [...] es mir kaum möglich war, auch nur ein paar skizzen anzufertigen.« rosa bonheur, zit. n. Klumpke (1997 [1908]), s. 9; vgl. auch stanton (1914), s. 164f. vgl. Quinsac (1998), s. 26.

Petra lanGe-berndt

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stanton (1914), s. 78, 97 und 349f.; ribemont (1997), s. 92, erwähnt einen weiteren veterinär namens rousseau. stanton (1914), s. 366. im ausgehenden 19. Jahrhundert stellten Jagd und naturschutz keine Gegensätze dar, vgl. für nordamerika Wonders (1993), s. 149ff. vgl. stanton (1914), s. 365, Klumpke (1997 [1908]), s. 193. vgl. deleuze et al. (2002), s. 328. vgl. stanton (1914), s. 383, hird (1904), s. 53. ein blick aus dem atelier wurde anscheinend nebensächlich. denn büsche warfen grüne reflexe, sodass bonheur sogar nach rollläden verlangte, vgl. Klumpke (1997 [1908]), s. 214. auch aus finanziellen Gründen konnte bonheur dem ideal der Feldforschung nicht immer nachkommen: »ich habe für meinen lebensunterhalt bilder malen müssen, und wenn man arbeitet, kann man sich nicht umhertreiben.« rosa bonheur, zit. n. stanton (1914), s. 134. vgl. stanton (1994), s. 303. oder wie es bonheur formulierte: »der Geist muß den stoff zerstören, denn das Fleisch tötet, aber der Geist macht lebendig.« stanton (1994), s. 171. vgl. boime (1981), s. 393. vgl. Klumpke (1997 [1908]), s. 11. vgl. zu dem bild auch Garb (1994), s. 120f. »in nice, just as at by, i had goats, izards, and mouflons, which are a kind of wild sheep. i’ve got one of their skins under my worktable.« rosa bonheur, zit. n. Klumpke (1997 [1908]), s. 192. bacon (1884), s. 836.

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»these animals lived with me as my friends, and i drew them over and over.« rosa bonheur, zit. n. Klumpke (1997 [1908]), s. 10 und 233; ashton et al. (1981), s. 142. vgl. allgemein zu Wechselwirkungen zwischen taxidermie und animaliers lange-berndt (2009). vgl. rheinberger (2003). vgl. artinger (1995), s. 128ff. siehe lange-berndt (2009), s. 15ff. ebd. schopenhauer (1913), s. 284. stanton (1914), s. 381. vgl. Petra lange-berndt, von der Gestaltung untoter Körper. techniken zur animation des leblosen in Präparationsanleitungen um 1900. in Geimer, Peter (hrsg.), UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. berlin: Kulturverlag Kadmos. (ersch. 2011) hird (1904), s. 43. vgl. Klumpke (1997 [1908]), s. 5, stanton (1994), s. 300. haraway (1984–1985), hier 28. vgl. boime (1981), s. 392. es sollte auch nicht vergessen werden, dass bonheur durch das leben inmitten einer tiersammlung einer bäuerlichen Kultur nahestand. »›aren’t people animals?‹ she replied with a smile.« rosa bonheur, zit. n. Klumpke (1997 [1908]), s. 69. vgl. richards (1983), dijkstra (1986), s. 210–34 und 272–332, Kendall (1998). vgl. larson (2005), s. 66ff. vgl. Fend (1999), s. 72f. siehe ryersson et al. (2004), s. 42. »neither a utopia nor a dystopia, but a haunted space for reverse engineering, monstrous graftings, spontaneous generation, recombination, difference, poly-versity hybridization, wildlings, mutations, mongrelizing, crop circles, anomalies, useless beauty, coalitions, agit-crops, and unseemly sproutings.« subrosa (2002), s. 278. subrosa (2005), s. 65f.

Paradiesische alternativen. das »lebende tierinventar« der rosa bonheur

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abb. 1: sam taylor-Wood, still, aus: still life, 2001, dvd.

Vom Nachleben des Stilllebens im bewegten Bild Monika Wagner

von anfang an, seit dem entstehen der Gattung, scheint der topos vom lebendigen Bild [1] in einem besonders produktiven spannungsverhältnis zum stillleben gestanden zu haben, das – je nach verständnis – als »unbelebtes«, als »stilles«, als »totes« oder »bescheidenes« Genre verstanden wurde. [2] das intellektuelle spiel des oszillierens zwischen simulatio und dissimulatio traf offenbar den nerv der stilllebenmalerei. von daher ist das trompe-l’Œil zu recht als höhepunkt der Gattung verstanden worden.[3] auch die aus der antike überlieferte Parabel von den vögeln, die sich von den gemalten trauben des Zeuxis hatten täuschen lassen, und gar der Überlistung des Zeuxis durch den gemalten vorhang seines Konkurrenten Parrhasios wurde immer wieder als lobende beschreibung täuschend echter stilllebenmalerei angeführt. dem Genre ist also die lust am Paradoxen eigen. unter dem Gesichtspunkt der täuschenden darstellung von lebendigkeit zeigt das stillleben ein vitales nachleben. allerdings hat sich die vorstellung von lebendigkeit in der Kunst im lauf der Zeit in relation zu den medialen Mitteln verändert. stillleben haben in der zeitgenössischen Kunst die Gattungsgrenzen übersprungen und entfalten ihre Potenziale auch jenseits der Malerei. bereits im 18. Jahrhundert zeigten sich veränderungen in der art der belebung. als die allegorische bedeutung der stillleben abnahm, pries man etwa Jean siméon chardins stillleben ihrer durch den atmosphärischen raum erzeugten lebendigkeit [4] wegen; im ausgehenden 19. Jahrhundert, als die grosse Zeit der kleinen Gattung vorüber war, wurden voM nachleben des stilllebens iM beWeGten bild

stillleben als exerzierfeld des sogenannten »rein Malerischen« einer modernen Malerei verstanden. [5] durch die art und Weise, in der Maler wie Édouard Manet oder Paul cézanne stillleben darstellten, schienen sie die im bild repräsentierten dinge auf eine neue Weise zu beleben. die niederen Gattungen, zu denen neben der landschaft auch das stillleben gehörte, dienten Künstlern in besonderem Masse für ihre innovativen Farb- und Formexperimente. nicht mehr die suggestion des Gegenstands im bild, auch nicht mehr die atmosphärische illusion des raums, sondern die oberfläche des bildes, die spur des Malers, der index waren nun für die angestrebte lebendigkeit ausschlaggebend. an die stelle der illusion der dinge trat die einzigartige, subjektive sichtweise des Malers. nicht allein die Zusammenstellung der in einem stillleben versammelten dinge hat sich historisch modifiziert, sondern vor allem die strategien zur belebung unbelebter dinge haben sich gewandelt. daher ist es nicht verwunderlich, dass im 20. Jahrhundert stillleben selbst in filmisch bewegten bildern eine rolle spielen, figurierte doch Bewegung seit langem als Kern der signa vitae. Zunächst einmal scheint eine solche belebung durch den Kinematografen, die einer re-animation der in der stilllebenmalerei gerade stillgestellten dinge gleichkommt, zwangsläufig zum Tod der Gattung – mindestens jedoch zu deren transformation – zu führen. ich möchte im Folgenden drei exempel vorstellen, in denen durch filmisch bewegte bilder unterschiedliche auseinandersetzungen mit der arretierten Zeit in der stilllebenmalerei stattfinden. im ersten 245

beispiel geht es um das stillleben im Zeitraffer, im zweiten um die Übersetzung eines stilllebenarrangements in die installation einer realen dingwelt mit einem echtzeitvideo; im dritten Fall handelt es sich um einen Kinofilm, in dem stillleben als Zeitmesser der vergänglichkeit figurieren. Re-Animation: Stillleben im Zeitraffer die jüngsten filmischen inspektionen von Zeitstrukturen des stilllebens stammen von der stuttgarter Künstlerin Pia Maria Martin. sie nimmt anordnungen der ungleich bekannteren engländerin sam taylorWood auf, vor allem aus deren Filmen Still Life (Abb. 1) von 2001 und Little Death von 2002. doch erweitert Martin das repertoire der stillleben und nimmt explizit auf die Zeitlichkeit filmischer bilder bezug, sodass die hier zur debatte stehenden Probleme besonders deutlich zutage treten. im Frühjahr 2006 waren in einer kleinen ausstellung des Kunstmuseums stuttgart drei arbeiten von Pia Maria Martin zu sehen (Abb. 2), die sich mit dem stillleben und dessen Medium, der Malerei, auseinandersetzten. [6] eingefasst von schwarzen, niederländisch anmutenden bilderrahmen hingen an den Wänden eines ausstellungsraums drei stillleben unterschiedlichen Formats. die bilder schienen mitsamt ihren dunklen rahmen auf den ersten blick ins 17. Jahrhundert zu gehören: ein vanitasstillleben mit Kerze, totenschädel und sanduhr, ein blumenstillleben und ein banketje, ein gedeckter tisch also, mit hummer und Früchten. die sujets 246

entsprechen damit wichtigen, traditionellen Genres des stilllebens. [7] umso stärker mussten das leise rascheln und Knistern, Geräusche, die von den bildern ausgingen, oder das allmähliche verlöschen der Kerze in dem vanitas-stillleben überraschen. beim zweiten blick erwiesen sich die drei vermeintlich niederländischen stillleben als Flachbildschirme, in denen kurze Filme das eigentümliche ›leben‹ der dinge eines stilllebens vorführen: die Kerze brennt, flackert und erlischt, die sanduhr läuft ab, die Geige spielt, die Feder schreibt, das Glas stürzt um, und die Würfel fallen. in dem benachbarten banketje fängt ein hummer an, die Zitronen zu schälen und sich der Früchte zu bedienen, die allmählich zu verfaulen beginnen, während in dem blumenstillleben mit Fruchtschale das verwelken im Zeitraffer bis zur auflösung des blumenstrausses vorgeführt wird (Abb. 3). Zunächst einmal wird auch hier mit dem spiel der täuschung operiert, ganz so, wie es dem traditionellen stillleben zukam. doch erfolgt dies nicht mehr durch die stoffliche imitation der dargestellten dinge oder die suggestion eines atmosphärischen raums, sondern durch die bewegung und veränderung der dinge in raum und Zeit. diese art der belebung widerspricht dem Medium Malerei mit seinen statischen bildern. der Film hat sich also dem Format und dem Präsentationsmodus des statischen Gemäldes im musealen Kontext angepasst. insbesondere die sich selbst spielende Geige, das sich wie von Geisterhand umdrehende stundenglas oder die selbstständig schreibende Feder MoniKa WaGner

abb. 2: ausstellung: Pia Maria Martin. Frischzelle 03, 2006, Kunstmuseum stuttgart.

in dem vanitas-stillleben lassen assoziationen von automaten und belebungsfantasien des Künstlers als alter deus aufkommen. anderes ereignet sich in dem blumenstillleben mit Fruchtkorb. der strauss aus rosen, anemonen, nelken und Freesien verblüht, während die Früchte aufbrechen und sich ihr Fruchtfleisch in eine amorphe Masse auflöst. doch im zeitlichen ablauf wird durch eine schnecke, die sich mit verblüffender Geschwindigkeit am obst zu schaffen macht, ebenso wie durch den sprungartig verwelkenden, sich aber kurzfristig auch wieder regenerierenden blumenstrauss die alte technik des Zeitraffers thematisiert. Martin hat den Zeitraffer im blumenstillleben eingesetzt, um das vergehen der ihrem naturzusammenhang entrissenen blumen und Früchte, einer absterbenden natur also, prozessual als Formauflösung sichtbar zu machen. doch die störung des linearen ablaufs lässt die Manipulierbarkeit der Zeit in den technischen Medien durchschaubar werden. die Zeitraffung, die sich seit langem grosser beliebtheit erfreut, wurde schon vor der erfindung der Kinematografie etwa von ernst Mach (1838–1916), dem in Prag lehrenden Physiker und Philosophen, genutzt, indem er sechs Wochen lang täglich zweimal eine Kürbispflanze aufnahm und diese Fotos anschliessend in einer stroboskopischen trommel in rascher Folge vorführte. [8] Zunächst jedenfalls wurde der Zeitraffer fast ausschliesslich für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt. in sogenannten Kulturfilmen, meist lehrfilmen für schulen, ebenso wie in der wissenschaftlichen langzeitbeobachtung hat voM nachleben des stilllebens iM beWeGten bild

das verfahren bis heute seinen ort. viele der Zeitrafferfilme zeigen das Keimen, Wachsen und erblühen von Pflanzen, aber nur wenige ihr vergehen. oskar Messter, einer der Pioniere der Kinematografie und der Filmindustrie, verweist allerdings in seinen Erinnerungen (1936) auf den ersten Katalog seiner Firma und erwähnt »eine von mir im Frühjahr 1897 gemachte Zeitrafferaufnahme von […] blumen«. er habe den entsprechenden Film mit dem titel Blumen-Arrangement im Katalog folgendermassen angekündigt: »ein mit frischen tulpen, nelken und rosen reichgeschmückter blumenkorb steht auf einem tisch. der Film zeigt die innerhalb 24 stunden eintretende veränderung im aufblühen und verwelken der blumen. diese aufnahme hat nur wissenschaftliches interesse.« [9] doch Messter fügte hinzu, in letzterem habe er sich gründlich getäuscht, denn dieser erste ›Kulturfilm‹ von einer Minute länge, was einer 1500-fachen beschleunigung entsprach, sei wider erwarten ein Publikumsliebling geworden. [10] ernst bloch beschrieb die im Zeitraffer zur anschauung gebrachte neudimensionierung der Zeit als »fremd« und »unheimlich«, »obwohl doch nicht eigentlich unsere Zeit gerafft, sondern gerade eine fremde Zeit auf unsere Maße gebracht wird«. [11] langsame naturprozesse werden auf diese Weise kommensurabel und lassen sich auf ein nahezu beliebiges Zeitmass bringen, wofür auch bloch das beispiel der blume anführte: »die beschleunigte blüte tut in fünf Minuten auf der leinwand, wozu sie sonst fünf tage braucht. aufbrechende blumen sind wie tiere bewegt, bald zögernd, bald ruckweise.« [13] Werden 247

abb. 3: Pia Maria Martin, stills, aus: vivace ii, 2006, 16 mm auf dvd. 248

MoniKa WaGner

vertraute bewegungen jedoch zu stark beschleunigt, erscheinen sie uns fremd und mitunter komisch, geradezu slapstickartig; so auch, wenn die schnecke, der inbegriff langsamer bewegung, in Martins stilllebenfilm geschäftig hin- und herrennt (charlie chaplin setzte zu schnelle menschliche bewegungen in vielen seiner Filme als elemente der Komik ein). das heute verbreitete verfahren der beschleunigung von Prozessen im Zeitraffer dient meist der schrumpfung naturhistorischer abläufe und ist von Walt disney in seinen naturfilmen mit grossem erfolg popularisiert worden. das inkommensurable lang anhaltender Prozesse, das die menschliche Wahrnehmung überfordert, wird so auf das Format eines Kinofilms gebracht. in Martins Film kollidiert die geradezu aktionistische veränderung der Formen in der Zeit mit der kompositorischen ordnung des stilllebens, die auf das begrenzte Format der Malerei mit ihrem überzeitlichen Geltungsanspruch bezogen bleibt. die bewegung innerhalb des bilderrahmens, die nicht durch die Kamerabewegung erzeugt wird, widerspricht der Zeitstruktur eines Gemäldes, insbesondere der des stilllebens. im blumenstillleben des 17. Jahrhunderts etwa waren blühende Pflanzen der verschiedenen Jahreszeiten und unterschiedlicher regionen der Welt in verschiedenen stadien des erblühens und verwelkens zusammengeführt und im bild eines strausses konzentriert. die anwesenheit von ungleichzeitigem im nahraum des stilllebens weist das Gemälde als Kompositum aus. neben einem solchen simultanwerk des blumenstrausses, das eine zyklische Zeit voM nachleben des stilllebens iM beWeGten bild

anzeigt, tritt mitunter auch eine uhr als vergegenwärtigung der linear ablaufenden Zeit. doch auch das Ziffernblatt enthält den Modus des Zyklischen. der dem tradierten blumenstillleben gegenüber linearen Zeitstruktur des Films begegnet Martin mit dem arretieren und kurzen rückwärtsspulen. der unterwerfung aller dinge, aller noch so unterschiedlicher Formen unter die herrschaft der Zeit entspricht die entropische Formauflösung, wie sie seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts von vielen Künstlern nicht mehr nur symbolisiert, sondern an physischen Materialien untersucht wurde. [14] an die stelle der vergänglichkeitsmetapher in den stillleben des 17. Jahrhunderts ist die prozessuale veränderung und damit auch der verlust der Form getreten. statt der langzeitversuche, wie sie dieter roth mit seinen objekten aus verschiedensten lebensmitteln initiierte,[15] deren Materialien den physischen veränderungen in unabsehbar langer Zeit unterworfen sind, haben Martin oder taylor-Wood das spiel mit dem Zeitraffer eingesetzt, der uns in beliebiger Geschwindigkeit an der auflösung organischer Formen teilhaben lässt. die sukzessive nivellierung der Form- und Farbunterschiede ist in sam taylor-Woods dreiminütigem Zeitrafferfilm Still-Life von 2001,[16] der ein vorbild für Martin gewesen sein dürfte, ebenfalls in strenger linearität herausgearbeitet. die verschiedenen chardin-artig aufgetürmten Früchte – Äpfel, birnen und Pfirsiche – beginnen zu faulen und werden von einem hellen, immer pelziger werdenden Flaum überzogen, der in schimmel übergeht (vgl. Abb. 1), 249

bevor sich Fliegen und Maden darüber hermachen und einen form- und farblosen haufen hinterlassen. dem verfallsprozess trotzend liegt hier jedoch ein simpler Plastikkugelschreiber, gewissermassen als verkörperung einer anderen – wenn auch keineswegs besonders ausgewiesenen – halbwertzeit auf der tischplatte. doch trotz dieser unterschiede geht es in den Zeitrafferaufnahmen von stillleben mit organischen Materialien um ein Paradox, das in der Gattung angelegt ist: um den quicklebendigen verfall, der auch in taylor-Woods Film die Grenze zur Komik berührt. hier wie bei Martin wird die Form zerstört, die etwa bei den zu faulen beginnenden Pfirsichen in abraham Mignons stillleben aus den 60erJahren des 17. Jahrhunderts (Abb. 4) gerade gewahrt blieb. lediglich die Farbveränderungen zeigen den Fäulnisprozess an. Stillleben als Installation Mona hatoums installation Deep Throat aus dem Jahr 1996 lässt sich ebenfalls als stillleben verstehen (Abb. 5); allerdings handelt es sich um eine rückübersetzung in die Welt des dreidimensionalen. Zu sehen ist ein minimalistisch gedeckter tisch, dem ein einzelner stuhl zugeordnet ist. auch teller, Glas, Messer und Gabel sind für die Mahlzeit einer einzelnen Person ausgelegt. Was auf dem teller zunächst wie eine weiche süssspeise aussehen mag, entpuppt sich bei näherer betrachtung als kreisrunde videoprojektion. sie lässt, wie das gesamte arrangement auf der tischfläche, an rené Magrittes gemaltes stillleben 250

mit dem titel Porträt aus dem Jahr 1935 denken (Abb. 6). Magritte hatte die tradition des sogenannten augenporträts [17] surreal verfremdet, sodass ein Fleischgericht auf dem teller den blick des imaginären Gastes beziehungsweise betrachters erwidert, von dem es gleich verschlungen zu werden droht. in hatoums installation ist es freilich nicht das aus dem teller herausblickende auge, sondern der schlund, der sich in entgegengesetzter richtung im teller abgrundartig auftut. Was sich dort innerhalb der physischen Welt der stabilen dinge bewegt, ist die Projektion einer endoskopischen Kamerafahrt durch das innere des menschlichen verdauungstrakts vom rachen bis zum after. auf dem teller begegnen uns anstelle der nahrung jene organe, durch welche die speise transformiert wird. da ein laie die bewegten, weichen oberflächen bei der Kamerafahrt einzelnen organen kaum zuordnen kann, weil ihm sein eigenes inneres fremd ist, entsteht eine eigentümlich uneindeutige Zeitlichkeit. denn bei dem auf den teller projizierten video lässt sich nicht unterscheiden, ob es sich um die Geschwindigkeit der körpereigenen bewegungen oder ob es sich um die willkürliche, mal langsamere, mal schnellere bewegung des endoskops oder aber um die Projektionsgeschwindigkeit des videos handelt. diese bilder eines pulsierenden lebens in der topografie der verdauung lassen die gesamte stilllebenartige installation in der sogwirkung des schlundes münden. Zudem wird jedes empfinden für einen zeitlichen ablauf ausser Kraft gesetzt, da hatoum die endoskopische Fahrt als endlosschleife projiziert. ohne anfang und ohne ende sieht sich der MoniKa WaGner

abb. 4: abraham Mignon, Früchtestillleben, 2. hälfte d. 17. Jh., Öl auf holz, 40 × 32,5 cm, Karlsruhe, staatliche Kunsthalle. voM nachleben des stilllebens iM beWeGten bild

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abb. 5: Mona hatoum, deep throat, 1996, installation, hamburger Kunsthalle. 252

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abb. 6: rené Magritte, das Portrait, 1935, Öl auf leinwand, 73,3 × 50,2 cm, new York, Museum of Modern art. voM nachleben des stilllebens iM beWeGten bild

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betrachter der unendlichen arbeit der unsichtbaren transformationswerkzeuge eines organismus ausgesetzt, der mitten in der stabilen Welt des dinglichen angesiedelt ist. in den stillleben des 17. Jahrhunderts, in den ontbijtjes und banketjes, dienten die offerierten leiblichen Genüsse stets zur reflexion der relation von physischer und spiritueller nahrung (vgl. Abb. 8). Mona hatoum hat demgegenüber ihre installation mit der stilllebenartigen ordnung auf die erschreckende physische ebene der verdauung reduziert. in der unersättlichen bewegung dieses schlundes liegt eine ganz auf das Kreatürliche ausgerichtete, molluske lebendigkeit, die nur durch den physischen teller eine begrenzung erfährt. sie transformiert alles, was ihr genau an diesem ort normalerweise angeboten wird, in Formlosigkeit, und seien es die raffiniertesten Formen von speisen. Zugleich speist sich aus dieser transformation die energie des lebendigen. Re-Symbolisierung: Stillleben im Spielfilm auch Peter Greenaway hat in seinem legendären Film Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber aus dem Jahr 1989 stillleben geradezu programmatisch eingesetzt. [19] neben Prunk- und bücherstillleben geht es vor allem um Küchenstücke und um stillleben aus unterschiedlichen nahrungsmitteln, die auch hier der permanenten transformation unterliegen, und zwar einerseits durch Konsumption, andererseits durch langsames verrotten. der gesamte Film basiert auf dieser doppelten transformation. 254

Greenaway hat den verfallsprozess von Fleisch, der stilllebenartig inszeniert wurde, als einen den gesamten Film durchziehenden Zeitmesser eingesetzt. denn der zeitlichen Gliederung des filmischen Geschehens dienen zwei opulente stillleben, die gleich zu beginn in langen einstellungen vorgeführt werden. sie bestehen laut drehbuchanweisung aus zwei lastwagenladungen »mit lauter gutem Zeug« und stehen vor dem Feinschmeckerlokal »le hollandais«, in dem der Film hauptsächlich spielt. der eine lastwagen ist mit rohem Fisch, der andere mit rohem Fleisch (Abb. 7) beladen. spica, der chef einer gewalttätigen, hierarchisch organisierten Männerbande, die sich allabendlich vom französischen Koch des lokals unter den auspizien von Franz hals’ Bankett der Haarlemer Schützengilde ein Prunkstillleben auftischen lässt, hat sie dorthin bringen lassen. doch lehnt es der Koch ab, nahrungsmittel zu verarbeiten, die er nicht selbst ausgewählt hat. daher bleiben das rohe Fleisch und der rohe Fisch sich selbst überlassen. das Faulen des Fleisches, das immer wieder durch einen blick in die lastwagen ablesbar bleibt, demonstriert die fortschreitenden stadien des verfalls. die realzeitliche erfahrung des betrachters wird auf diese Weise genutzt und in filmische Zeit überführt, die ebenfalls einen Modus der Zeitraffung darstellt. Zu beginn des Films richtet sich der blick der Kamera auf die ladeflächen der beiden geöffneten lastwagen und gleitet über stillleben aus farbig schimmerndem, frischem Fleisch und schillerndem Fisch. in diesen reichen arrangements finden sich MoniKa WaGner

laut regieanweisung unter anderem »schweinsköpfe, schweinshaxen, ochsenzungen, innereien, nieren, Kutteln«, »tintenfische, Muscheln, heringe, Plattfische, hummer, Garnelen« [20]. in ihrer opulenz lassen sie an Pieter aertsens Fleischerbude mit der Flucht nach Ägypten (Abb. 8) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts denken. aertsen hat mit der Konfrontation zwischen der eingeblendeten biblischen szene und dem reichtum eines zeitgenössischen schlachterladens ein angebot zur reflexion von irdischen und spirituellen Genüssen offeriert. [21] auch Greenaways Film ist auf einer dualen struktur von leiblicher und geistiger nahrung aufgebaut. in dem Fleischstillleben des lastwagens manifestiert sich Überfluss als etwas sinnloses. Überfluss generiere, wie norman bryson es im Kontext niederländischer stillleben des 17. Jahrhunderts formulierte, abfall. Genau das wird in Greenaways Film auf drastische Weise anschaulich: in den zehn tagen, die der Film Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber umspannt und die durch täglich wechselnde speisekarten angezeigt werden, fault das Fleisch im lastwagen vor sich hin und wird zum ungeniessbaren, widerwärtigen abfall. der situation kontrastieren die geordneten stillleben der Küche und der vorratskammern des Feinschmeckerlokals, deren inhalt durch die Kunst des Kochs zu feinsten speisen verarbeitet wird. Georgina, die Frau des bandenchefs, legt sich einen Gast des lokals, einen antiquar und büchernarr, als liebhaber zu, um ihr heimliches liebesspiel »zwischen den Gängen« – wie sie es nennt – in den intimeren voM nachleben des stilllebens iM beWeGten bild

räumen des Küchentrakts zu treiben. die Küche, in der traditionell sozial niedriger stehende arbeiten, war schon in Küchenstillleben des 17. Jahrhunderts als topografie der lüste inszeniert worden. Georgina und ihr liebhaber treffen sich in den vorratskammern und der rupfkammer des nobelrestaurants, die als intime Kastenräume mit reichen stilllebenartigen Gruppierungen der verschiedensten lebensmittel ausgestattet sind – ähnlich wie Greenaway sie in seinen Zeichnungen und Materialsammlungen zum Film zusammentrug. in der geordneten Welt der vorräte werden ganze sparten niederländischer stillleben des 17. Jahrhunderts aufgerufen: obst- und Gemüsestillleben, verführerische Konfektstillleben mit borden voller Kuchen, torten und Pasteten, die Milch- und Käsekammer mit ihren reichhaltigen vorräten und schliesslich die rupfkammer mit kopfüber aufgehängten Fasanen, rebhühnern, enten und Gänsen. der blick auf die nebeneinander gereihten, statisch inszenierten nahrungsmittel gewährleistet zunächst ruhe. doch im raschen Wechsel von schnitt und Gegenschnitt – von liebesspiel und Küchenarbeit – wird schon in der ersten vorratskammer deutlich, dass es kein verweilen gibt, weder für die vorräte noch für die liebenden. der Zugriff des Küchenpersonals auf die vorräte und der der spica-bande auf die liebenden rücken immer näher. die dramatische Zuspitzung der situation wird in der rupfkammer als letzter station der Zuflucht durch die inszenierung des ortes ablesbar: die wie in Jagdstillleben kopfüber aufgehängten tiere zeugen 255

abb. 7: Peter Greenaway, still, aus: der Koch, der dieb, seine Frau und ihr liebhaber, 1989. 256

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abb. 8: Pieter aertsen, Fleischerbude, 1551, Öl auf holz, 124 × 169 cm, Uppsala universitets konstsamlingar. Vom NachlebeN des stilllebeNs im bewegteN bild

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abb. 9: Peter greenaway, still, aus: der koch, der dieb, seine Frau und ihr liebhaber, 1989. 258

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von der herrschaft des Jägers über leben und tod. während die Vorratskammern zunächst schutz vor spicas männern geboten hatten, wird die Jagd der modernen schützenbrüder auf georgina und ihren liebhaber durch das filmische aufblitzen der beute in der rupfkammer eröffnet. als die liebenden aus der rupfkammer fliehen müssen, versteckt der konspirative koch die Nackten vorübergehend zwischen gehäuteten, aufgehängten rinderhälften und abgeschlagenen schweinsköpfen in der kühlkammer. Von dort gelangen sie schliesslich in den noch immer vor dem lokal stehenden lieferwagen mit dem inzwischen in Verwesung übergehenden Fleisch. die Flucht zwischen den Fleischvorräten von geschlachteten tieren in greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber zu einem Versteck ausserhalb der herrschaft der gangsterbande [22] weist analogien zu Pieter aertsens Fleischerbude mit der zwischen ungerupften hühnern, Fisch, abgeschlagenen tierköpfen, innereien und würsten eingeblendeten Flucht von maria und Joseph nach Ägypten auf. doch die analogie zur biblischen geschichte wird durch eine andere ebene, die der fleischlichen begierde, überlagert. die in Verwesung übergehenden und von Fliegenschwärmen und würmern belebten Fleischteile und die sich in ekelerregenden schleim verwandelnden innereien berühren und beschmutzen die nackten körper (Abb. 9). der voluptas carnis, die das niederländische küchenstück im 16. und 17. Jahrhundert in den Fleischstillleben und dem zügellosen Verhalten der niederen stände in szene setzte [23] und vor der es zugleich 260

warnte, begegnet der Film durch die äusserste konfrontation von zweifach »verdorbenem« Fleisch: die ehebrecherischen nackten liebenden berühren im verfaulenden Fleisch ganz wörtlich die inkarnierte Vergänglichkeit. die Fäulnis, in die das rohe übergeht, wenn es nicht gekocht wird, entfaltet nicht nur in den von claude lévi-strauss untersuchten indianischen Ursprungsmythen, sondern auch im Film ihr bedrohliches Potenzial. [24] dies umso eindringlicher, als das mehrfach hintereinander eingesetzte Fadeout den ekel des Zuschauers steigert: immer wenn die ungewollte berührung der liebenden mit dem verwesenden Fleisch bei der holprigen Fahrt durch die Nacht unerträglich wird, erlischt das unstete licht der scheinwerfer vorüberfahrender autos, das Fleisch verschwindet mitsamt den Nackten allmählich wieder im dunkel, und die ekelerregende berührung steigert sich in der Fantasie des Zuschauers. Formlosigkeit, ein seit george batailles Dictionnaire Critique von 1927 mit dem schlachthof korrelierender terminus [25] samt der begleitenden schlachthoffotos von eli lothar, figuriert als antithese zu lebendigkeit und Vitalität. Formlosigkeit ist ausdruck und ergebnis der auflösung, des Verfaulens, der Zerstörung oder entropischer Prozesse. stillleben des 17. Jahrhunderts enthalten Zeichen solcher Fäulnis, aber die vollendete Form der dinge bleibt stets gewahrt (Abb. 4). seit in der kunst der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts der physische Zerfall von Formen, dingen und materialien in realzeitprozessen in gang gesetzt wurde, haben Vergänglichkeit und prozessuale Veränderung einen festen Platz in der moNika wagNer

zeitgenössischen kunst. in der reanimation der traditionellen gattung des stilllebens, in die vor dem horizont einer unvergänglichen kunst Vergänglichkeit zeichenhaft eingeschrieben war, durch zeitlich ablaufende Prozesse von Film und Video scheint der tod der gattung besiegelt. ihr Potenzial ist jedoch gewissermassen gerettet und in das medium selbst überführt. denn in der Übersetzung des stilllebens in die temporalität der technischen medien wird der fortschreitende Zerfall, die auflösung in Formlosigkeit zum thema. Vielleicht liegt darin gerade die heute mögliche Form einer Vanitas-obsession.

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Zur debatte siehe die beiträge in Pfisterer et al. (2005). Vgl. könig et al. (1996), bes. s. 25–33 zu begriffsgeschichtlichen Varianten in verschiedenen europäischen sprachen. Zur bescheidenen gattung vgl. bryson (1990). Vgl. ebert-schifferer (2002). Vgl. denis diderot, salon von 1765, wieder abgedruckt in könig et al. (1996), s. 121–23. Zu themen und Verfahrensweisen von stillleben der beginnenden moderne vgl. beth (1976). Zu den technischen Verfahren siehe das interview in martin et al. (2006), o. s. Vgl. schneider (1989) mit einer klassifikation der verschiedenen stillleben des 17. Jahrhunderts. aus kulturgeschichtlicher Perspektive werden die mechanismen der Zeitraffung in becker (2003) und becker (2004) diskutiert. Zit. n. becker (2004), s. 109. messter (1936), s. 123. bloch (1973), s. 544. ebd. Vgl. wagner (2001), bes. kap. iV. Zu Nahrungsmitteln bei roth und anderen künstlern des 20. Jahrhunderts vgl. wagner (2004), s. 120–35. Vgl. kellein et al. (2004), s. 160 und 161. das augenporträt, auch als augenminiatur bezeichnet, war um 1800 verbreitet und zeigte meist in einem ovalen medaillon ein auge mit dem umgebenden gesichtsausschnitt. magritte selbst hat 1932 ein augenporträt gemalt, vgl. schmidt-burckhardt (1992), s. 19–45. Zur beziehung von greenaways Filmen zur malerei vgl. Pascoe (1997). greenaway (1989), s. 21–22. Vgl. michalski (2001), s. 167–186. Vgl. bryson (1990), s. 129. der tisch des antiquars wurde im restaurant als monochromes buchstillleben inszeniert und figuriert als gegenpol zu der als Prunkstillleben inszenierten tafel der spica-bande, in deren Umgebung rot dominiert. wie die monochromen bücherstillleben des 17. Jahrhunderts ist

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der tisch des antiquars ausdruck spiritueller Nahrung und ›erlesener‹ bescheidenheit. das Versteck – das bücherlager des antiquars – ist zudem mit ›geistiger Nahrung‹ vollgepackt. der antiquar wird durch die spica-bande, die ihm herausgerissene buchseiten wie leibliche Nahrung in den rachen stopft, umgebracht. Vgl. schneider (1989), s. 41. lévi-strauss (1994), s. 5, unterscheidet durch das rohe und das gekochte typen südamerikanischer indianermythen. der erste eintrag, der im Dictionnaire Critique der surrealistischen Zeitschrift Documents 1927 veröffentlicht wurde, war »abattoir«. Vgl. bois et al. (1996).

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abb. 1: anne katrine dolven, stills, aus: still life, 1998, Video (dVd), 9 min.

Im Zeichen der Kunst. Zeitgenössische Stillleben von Anne Katrine Dolven, Wolfgang Tillmans, Karin Kneffel [1] bettina gockel

»Sehnsucht nach dem Echten« »sehnsucht nach dem echten« attestierte anfang der 1990er-Jahre der anthropologe michael taussig nicht nur der westlichen gesellschaft, sondern auch akademikern, die auf dem weg von der kritischen theorie zum Poststrukturalismus gelernt hatten, geradezu alles als kulturelle konstruktion aufzufassen. Polemisch schreibt taussig: »als voller begeisterung herausgestellt wurde, wie sich die anwesenden mitglieder unserer akademie noch erinnern werden, daß rasse, geschlecht und Nation ... [sic] konstruktionen, erfindungen und repräsentationen wären, öffnete sich ein Fenster, eine einladung wurde ausgesprochen, mit dem kritischen Projekt der analyse und der kulturellen rekonstruktion zu beginnen. Und noch spürt man seine kraft. doch was nicht mehr als eine einladung war, ein Vorwort zu einer Untersuchung, wurde statt dessen im großen und ganzen in eine schlußfolgerung umgewandelt, z. b. ›geschlecht ist ein soziales konstrukt‹, ›rasse ist ein soziales konstrukt‹, ›Nation ist eine erfindung‹ und so weiter – die alte leier, für jede gelegenheit hat man die passende Formulierung bereit. die brillanz der aussage blendete. Niemand fragte, was ist der nächste schritt? [...] wenn leben konstruiert ist, warum erscheint kultur so natürlich? aber kaum sind wir mutig genug, noch einmal eine neue welt zu erfinden und neue Fiktionen zu leben, da greift uns eine verschlingende kraft aus einer anderen richtung an und verführt uns. sie spielt mit unserer sehnsucht nach dem echten. würde es doch, könnte es sich doch klar und wahr äußern, dies echte.« [2]

die sehnsucht nach dem echten und realen, nach wirklichkeit, Praxis und konkretion – sie scheint bis heute weiter gewachsen zu sein. Und sie kristallisiert sich sowohl in den akademischen wissenschaften wie in der bildenden kunst deutlich heraus. insofern erscheint es aufschlussreich, beide Phänomene kurz in ihrer Neuartigkeit und Profilierung zu skizzieren. in den akademischen wissenschaften fällt die nicht abreissende ausrufung einer rückkehr des objekts auf, das konkret als etwas materielles und damit in bezug auf soziale wie auch auf wirtschaftliche Praktiken hin als sinn- und bedeutungsstiftend betrachtet wird. [3] darüber hinaus – und das dürfte der eigentlich innovative impuls dieser Forschungsrichtung sein – werden sinnliche wahrnehmungen und emotionen, die objekte aktivieren, nicht mehr der ideengeschichte subsumiert, sondern sollen als teil einer geschichtsschreibung aufgefasst werden, die sich in den geistes- und kulturwissenschaften zum Ziel setzt, »to establish a genuine sense of the things that comprise the stage on which human action, including the action of thought, unfold«. [4] der sprechende titel von lorraine dastons sammelband Things that talk. Object Lessons from Art and Science (2004) geht einen schritt weiter. er markiert das epistemologische eigenpotenzial der objekte, die mehr sind als Untersuchungsgegenstände oder als solche von experten konstruierte dinge. [5] in dem masse, wie die kognitive rolle der dinge ins spiel kommt, reicht die erforschung des Verhältnisses von sehen und objekt nicht mehr aus. Übertragen auf das objekt bild und auf objekte im bild steht damit auch die dominanz des

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sehsinns zur disposition. die kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung (humboldt-Universität zu berlin) geht deshalb den Zusammenhängen von kognitiver und körperlicher wahrnehmung im hinblick auf die wirkmächtigkeit von bild und kunst nach. [6] insbesondere im Fach kunstgeschichte deutet sich nach einer Phase avancierter phänomenologischer und diskursanalytischer ausrichtung eine erneute selbstvergewisserung darüber an, wie der materielle Forschungsgegenstand – das objekt kunstwerk – in Zeiten der globalisierung und digitalisierung methodisch und theoretisch zu erfassen ist. [7] die konjunktur des themas ›dinge‹ in den letzten Jahren hat überdies interdisziplinär und kulturwissenschaftlich geprägte studien hervorgebracht, die einen wegweisenden akzent auf die erforschung materieller kultur setzen und so die Untersuchungsgegenstände der einzelnen disziplinen neu in den blick nehmen wollen, ohne dass dafür eine ausgereifte methode und eine theorie bereitstünden. [8] objekte und dinge in der kunst des 20. bis 21. Jahrhunderts, die als objektkunst das bild hinter sich gelassen haben, lassen den begriff des stilllebens obsolet erscheinen. dennoch verfolgte die ausstellung Objects of Desire. The Modern Still Life des museum of modern art, New York, 1997 die bildgattung des stilllebens in der kunst des 20. Jahrhunderts ausgehend von cézanne und Picasso über die objektkunst der surrealisten bis hin zur kunst der 1950er- bis 1990erJahre. [9] im Unterschied zu gefundenen objekten sollen diejenigen, die als kopien realer objekte geoder bemalt oder als skulpturen hergestellt wurden, 266

deshalb zum stillleben gerechnet werden, weil sie die grenze zwischen realität und Fiktion markieren und provozieren. das stillleben diente in dieser ausstellung als Prisma, durch das die avantgardistische, moderne und postmoderne kunst in den blick genommen und umgekehrt die Veränderung diagnostiziert wurde, die sich im genre Stillleben hinsichtlich zeitgenössischer auffassungen von realität und Fiktion, kunst und gesellschaft spiegelt. [10] in ihrem essay The Mechanisms of Consumer Culture konstatiert margit rowell: »if the still life may be interpreted as a reflection or measure of evolving social attitudes and cultural perceptions, translated by artistic concepts and styles that conform to the spiritual and intellectual realities of a moment in time, the diverse and singular art forms that emerged in the 1950s and the 60s in both america and europe demonstrate the conviction that the essential truths of that reality are untruths, deliberately duplicitous, superficial and ephemeral; and that the space for the mechanisms of desire and its symbols has been radically reduced and transformed in the new order of priorities. these considerations notwithstanding, the strength and significance of the art of this period, whether created from actual objects or from mechanical production processes, lie in the authentic ambivalence it embodies between belief and disbelief, humor and cynicism, truth and fiction, an ambivalence that finally constitutes the true vision of reality during these decades.« [11] das stillleben wird demzufolge als reflexionsmedium gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden, ein ansatz, der für die hier zu analysierenden kunstwerke der 1990er-Jahre und bettiNa gockel

abb. 2: ambrosius bosschaert d. Ä., blumenvase in einer Fensternische, um 1620, Öl auf holz, 64 × 46 cm, den haag, mauritshuis, het koninklijk van schilderijen. im ZeicheN der kUNst. ZeitgeNÖssische stilllebeN VoN aNNe katriNe dolVeN, wolFgaNg tillmaNs, kariN kNeFFel

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des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht ausreicht. Vielmehr werden auch die wahrnehmungsgeschichtlichen und wissenschaftshistorischen bedeutungen von objekten im stillleben zu untersuchen sein. die hauptthese des New Yorker ausstellungsprojekts, dass die kunst der zweiten hälfte des 20. Jahrhunderts sich mehr als je zuvor mit der »arena of lived experience – that of late capitalism« [12] beschäftigt habe, bleibt gleichwohl ein wichtiger ausgangspunkt für den folgenden beitrag. dabei ist eine der besonderheiten der hier zu untersuchenden kunstwerke, dass sie die »sehnsucht nach dem echten« wie auch die in der zeitgenössischen kunst präsente thematisierung der konsumkultur mit der bilderfrage verknüpfen, die sogar konzeptionell die oberhoheit über die etablierten elemente der mit objekten und dingen befassten kunst erlangt. denn die hier ausgewählten künstler scheinen mit einer der kernkompetenzen der bildkünste zu ringen (oder sie reanimieren zu wollen), nämlich eine kopie realer objekte herzustellen, die deren »eigenschaften und kräfte« [13] übernehmen kann. sie unterscheiden sich von den »postmodern simulacra«, als die rowell jene stillleben der zeitgenössischen kunst ansieht, die die von baudrillard und Jameson diagnostizierte Zerstörung jedweder sinnhaften und funktionalen relation bzw. Unterscheidung zwischen realität und Fiktion, objekt und bedeutung zur grundlage haben. [14] mit dieser posthumanistischen haltung, die die Zurückweisung von originalität, bedeutung, künstlerischer handschrift usw. einbezieht, haben anne katrine dolven, wolfgang tillmans und karin kneffel 268

wenig zu tun, so als zeichne sich im laufe der zweiten hälfte der 1990er-Jahre eine theoretische und kunstpraktische trendwende ab. Jedenfalls würden alle drei künstler für sich die möglichkeit in anspruch nehmen, etwas Neues zu schaffen, eine kunst zu kreieren, die gesellschaftlich relevant ist und die sich als kunst von industrieller bildproduktion absetzen will – alles komponenten, die von der kunst der Postmoderne, wenn man diese kategorie ausgehend von der postmodernen theoriebildung akzeptieren will, abgelehnt, vermieden oder ironisiert werden. [15] taussig führt den begriff des »sympathiezaubers« an, um zu verdeutlichen, dass das »wunder der mimesis« eine magische und rituelle dimension hat. [16] in der tat horcht man auf, wenn man sich klarmacht, dass wohl kein begriff in der kunstkritik und kunstgeschichtsforschung zum stillleben so häufig verwendet wird wie der der magie. das magische wird als unerklärliches changieren zwischen kunstwerk und wirklichkeit zum Qualitätsausweis einer darstellung, die auf den ersten blick häufig banal ist und bar jeder erzählung tatsächlich dieses diskurses bedarf, um den eigenen status herzustellen. arthur c. danto meinte, dass sein begriff der »transfiguration« für das Verständnis dessen, was magie im Zusammenhang des stilllebens eigentlich bedeutet, nicht wirklich weiterhilft: »why should one fall in love with a dead duck, when the sight of that very duck would leave us more or less indifferent? this paradox of mimetic art has been familiar since aristotle [...] transfiguration is not much of an improvement on magic, but it at least gives us a model.« [17] es ist sicher richtig, dass die bettiNa gockel

transfiguration des alltäglichen, gewohnten ein transhistorischer aspekt des stilllebens ist. hinzu kommt für die zeitgenössischen adaptionen des stilllebens, dass das programmatische oszillieren zwischen Fakt und Fiktion dem stillleben oder dem bild der dinge in einer Zeit, die objekte und objektivität als historische und kulturelle konstruktionen entlarvt hat und in der dennoch jene »sehnsucht nach dem echten« herrscht, ein besonderes analytisches Potenzial zukommen lässt. das heisst, man hat es nicht allein mit einem kunsthistorischen wiederaufleben einer altbekannten gattung zu tun, in der aus dem blick geratene objekte und dinge eine Verwandlung und quasi-magische aufladung erfahren. Vielmehr handelt es sich um eine historisch und kulturtheoretisch deutlich konturierte Phase der gegenwart, in der künstlerinnen und künstler die dinge des alltags und der Natur im hinblick auf deren wirklichkeit und auf deren Verbildlichung hin thematisieren. dass sie dabei prononciert den kunstcharakter ihrer werke betonen, wird nicht zuletzt als absage dieser künstler an nivellierende tendenzen einer omnipräsenten bildkultur zu verstehen sein. die beanspruchung einer anthropologischen und sozialen wirkmächtigkeit und Funktion von bildern bedarf heute offenbar paradoxerweise des kunstanspruchs. gleichzeitig hatte das stillleben spätestens seit dem 18. Jahrhundert und besonders im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts eine kunsttheoretische Funktion.[18] die rohe manier der avantgardekünstler stellte die glatte akademische malerei infrage, ohne unbedingt darüber hinausgehende bildinhalte zu generieren. an die skandale, die mit der hässlichkeit des stils

bewusst produziert wurden, können zeitgenössische künstler, wenn überhaupt, nur kurzfristig anknüpfen, denn allzu schnell werden auch von den künstlern als subversiv gedachte bildgestaltungen und -kompositionen wie auch die entsprechende sujetwahl von der werbeindustrie und modefotografie aufgenommen. auf diesen aspekt wird zurückzukommen sein. Umso stärker zeichnet sich der spezifische rahmen ab, in dem die im Folgenden zu untersuchenden werke inhalte und aussagen generieren: 1. das bewusstsein für eine industriell und technisch hoch ausgereifte bildproduktion, die den visuellen alltag wie die wirklichkeitswahrnehmung nachhaltig prägt. 2. die kulturtheoretische annahme der konstruktion des realen. 3. die Nivellierung von bild und kunst zugunsten des bildes. die folgenden ausführungen sind als gratwanderung in doppeltem sinn zu bezeichnen: in dem sinn, dass eine historische annäherung an zeitgenössische werke erprobt wird, und in dem sinn, dass ästhetische und konzeptionelle gratwanderungen zwischen kunst und leben, objekt und subjekt, bild und kunst den werken selbst eignen. die methodische und theoretische trittfestigkeit muss sich dabei im einzelfall erweisen. Gratwanderung I »we are all busy thinking about issues such as love, but we don’t talk about them, [...]. it is a fine line to tread, and that’s why it is exciting to walk it again and again.« [19] (anne katrine dolven)

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abb. 3a: Jacopo ligozzi, tulipa gesneriana Nr. 1908, um 1590, aquarell und tempera über schwarzem stift auf weissem Papier, 68 × 48 cm, Florenz, galleria degli Uffizi, gabinetto disegni e stampe. 270

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abb. 3b: maria sibylla merian, drei tulpen, um 1675, stift und aquarell- und deckfarben auf Pergament, 33 × 26,4 cm, haarlem, teylers museum. im ZeicheN der kUNst. ZeitgeNÖssische stilllebeN VoN aNNe katriNe dolVeN, wolFgaNg tillmaNs, kariN kNeFFel

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die norwegische malerin und Videokünstlerin anne katrine dolven evoziert mit ihren werken verlangsamte und hoch konzentriert erscheinende wahrnehmung von Naturobjekten, Naturphänomenen wie auch menschlichen beziehungen. Vergleichbar mit ihren weissen, erst bei längerem hinsehen vielfältig nuancierten gemälden, die sie nicht als monochrome bilder verstanden wissen will (zum beispiel It’s All about Slowing Down and Love, i–iV, 2000; Everything’s Gonna Be Alright, 2000; It’s OK, 2001; Don’t Worry, 2001; We’ll Be Fine, 2001), hat der betrachter von Still Life (1998) eine offenbar mit weisser, opaker Farbe gemalte tulpe auf weissem grund vor sich (Abb. 1). die Videoarbeit ist mit dem rahmen des monitors wie ein gemälde und zugleich auf einem Podest wie eine skulptur präsentiert und beansprucht derart den status des kunstwerks im rückbezug auf tradierte medien der bildenden kunst. am beginn des Films meint man, dass der ins bild ragende Pinsel tupfer auf die oberfläche des bildgegenstands setzt. man vermutet, dass dieses Still Life seiner Vollendung entgegensieht, so, wie die bildtitel der weissen gemälde suggerieren, dass alles gut wird – bis man beginnt zu zweifeln. allmählich wird klar, dass ein ganz anderer Vorgang als der einer bemalung stattfindet: mit dem Pinsel wird Farbe abgetragen. der Pinsel wühlt sich so zwischen die blütenblätter, dass sein schaft blinkend wie die polierte oberfläche einer waffe aus dem zarten material hervorragt. der malvorgang kann so auch als eingriff wahrgenommen werden, ganz im sinne der stets ambivalenten werke anne katrine dolvens. deren 272

Polaritätsprinzip hat in der literatur dazu animiert, warburgs Pathosformel zu bemühen. [20] tatsächlich scheint die tulpe gleich einem lebewesen auf die berührungen oder auf die störungen zu reagieren. die Pflanze erzittert, erbebt, und nach und nach kommt die rote Farbe der tulpe zum Vorschein. der titel It Could Happen to You, der eine Videoarbeit aus dem Jahr 2001 bezeichnet und in dem seherfahrung zugunsten haptischer erfahrung annuliert wird (der Protagonist hat die augen geschlossen und sucht vergeblich mit dem mund nach der neben ihm liegenden Frau), [21] lässt sich insofern auf Still Life übertragen, als dass die berührung und die reaktion vom betrachter fast körperlich spürbar nachvollzogen werden, weil die tulpe durch ihr vermeintliches reagieren zum subjekt wird. Faszination und Unbehagen, eindrücke von liebkosung [22] und angriff [23] müssen vom rezipienten selbst in die balance gebracht werden. er muss sich der »umgekehrten erkenntnis« aussetzen, die der in wahrheit rückwärtslaufende Film provoziert. [24] das wegnehmen der Farbe als Umkehrung des gängigen malvorgangs erscheint zunächst als befreiung, dann aber auch als veritabler Verlust. denn das Videobild der roten tulpe wirkt flach und immateriell, also gerade den erwartungen an die scheinbar räumlich und haptisch erfahrbaren gegenstände eines stilllebens entgegengesetzt. Zugleich scheint das Video die blume zu verlebendigen. der Paragone zwischen malerei und Video bleibt deshalb unentschieden. so wird die Polarität der arbeit auf den medialen ebenen vertieft, die Still Life verwendet und zeigt. bettiNa gockel

dolven lässt auch in Warmth (1999) [25] einen Vorgang rückwärtslaufen, nämlich das Fallenlassen eines gekochten eis im schnee, und so verlangsamt und verkehrt sie in Still Life die indienstnahme eines objekts durch die geschichte der malerei. ihre Videoarbeit als werk zeitgenössischer kunst schenkt diesem objekt der kunst und des konsums eine art wiedergeburt. so liesse sich das konzept gerade im Vergleich mit Warmth benennen, denn unverhofft tritt der vermeintlich ursprüngliche gegenstand hervor. die sehnsucht nach dem realen unter der oberfläche der kunst (in Still Life der malerei) bleibt jedoch unbefriedigt. entlarvt werden sehnsüchte, begierden, stereotypen nicht nur von sehen und wahrnehmung, sondern von zeitgenössischen erwartungen an die andere, an die faszinierende, magische erscheinung eines objekts in der welt der kunst. letztlich ist hier allen konzeptionellen ebenen und bildtechniken wie auch den Fähigkeiten von sehen und wahrnehmung enttäuschung und kritik eingeschrieben (was als Verweigerung gegenüber dem begehren des konsumenten verstanden werden kann). dem Vorgang, den nur die Videoarbeit mit ihren mitteln der Verzeitlichung und Verlangsamung evozieren kann, eignet eine aggressive Note, die den betrachter aktiviert und in ein rezeptionsästhetisches dilemma führt. Unwillkürlich wird der wunsch erzeugt, die handlung zu unterbrechen oder zu beschleunigen. es ist daher richtig, dass es dolven um »die moralischen auswirkungen menschlicher eingriffe« [26] geht – und das ist sehr viel mehr als ein rekurs auf kunsthistorische gattungen, sujets und objekte. die stilllebenkunst

des 18. und frühen 19. Jahrhunderts hatte diesen impetus ebenfalls, der selten benannt worden und kaum erforscht ist. [27] so wird die »holländischste aller blumen« [28] in dolvens arbeit zu einem subjekt, in dessen existenz buchstäblich eingegriffen wird und an dem man gewissermassen anteil nimmt. der widerstand gegen die ästhetische konsumierbarkeit von objekt und bild soll letztlich in diese emotionale aufmerksamkeit für ein objekt münden, das in der Frühen Neuzeit botaniker, künstler und sammler gleichermassen faszinierte. als element prächtiger blumensträusse wurde die tulpe zu einem bewundernswerten objekt (Abb. 2), das vor allem in seinen Variationen als Zuchtprodukt (Abb. 3a, b) wertgeschätzt wurde. die gestreiften und fleckenartigen muster gingen unter anderem auf Viruskrankheiten zurück, durch die eine einfarbige »muttertulpe« gebrochen wurde. [29] Je monströser ein gegenstand war, desto stärker konnte er die unermessliche Variationsfähigkeit der Natur als ergebnis göttlicher schöpfung reflektieren. die aufmerksamkeit für das wunderbare und monströse war nicht zuletzt physikotheologischer antrieb und legitimation des neuen empirismus der Scientific Revolution. wie nie zuvor wurde dabei der akt der beobachtung zu einer epistemischen kategorie, aber auch als soziale Praxis reflektiert, deren moralische implikationen zu bedenken waren. [30] die geradezu in den bann schlagende Verlangsamung des von dolven vorgeführten geschehens knüpft inhaltlich an diese geschichte der Naturobjekte und die damit verbundenen weisen der

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abb. 4: wolfgang tillmans, Naoya tulips, 1997. 274

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abb. 5: robert hooke, seeds of tyme, kupferstich, in: hooke, robert (1667), micrographia. or some physiological descriptions of minute bodies made by magnifying glasses. with observations and inquiries thereupon. london: Printed for John martyn, printer to the royal society [...] 1667, taf. 18. abb. 6: robert hooke, mites (fig. 1), small creature hatched on a Vine (fig. 2), kupferstiche, in: hooke, robert (1667), micrographia. or some physiological descriptions of minute bodies made by magnifying glasses. with observations and inquiries thereupon. london: Printed for John martyn, printer to the royal society [...] 1667, taf. 36. im ZeicheN der kUNst. ZeitgeNÖssische stilllebeN VoN aNNe katriNe dolVeN, wolFgaNg tillmaNs, kariN kNeFFel

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abb. 7: wolfgang tillmans, Pumpkin, tomato & Pomme granate, 1995. 276

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beobachtung und der Verbildlichung an. Unwillkürlich wird das alltägliche objekt zu einer wundersamen und staunen erregenden sache. was als objekt der werbung, ja auch als preiswert stets verfügbare ware kaum noch interesse auf sich zieht, scheint nun der beobachtung wert. erst die Verwandlung des objekts in ein subjekt und die Verlangsamung des sehens erlauben es, dass die historischen bezüge in der gegenwart der betrachtung und erfahrung des kunstwerks sinn auch im sinne eines moralischen appells stiften, Verantwortung für das Naturobjekt oder für das vor augen geführte geschehen zu übernehmen. was in der Frühen Neuzeit Forscher dazu animierte, ihre obsession für die lange und wiederholte beobachtung von insekten, blumen und Naturphänomenen zu legitimieren, ist eine Praxis, die der Zeitgenosse erst wieder zu erlernen hat. was zur Praxis des wissensdrangs von Naturphilosophen gehörte, soll zur Praxis eines konsumenten werden, dem wissen und ästhetische erfahrung der ihn umgebenden dinge abhandengekommen sind. die wechselseitig kritische reflexion von malerei und Video führt schliesslich dazu, dass der Prozess der Verbildlichung im einen wie im anderen medium die kategorie bild thematisiert. die bildliche Präsenz und reale absenz des objekts schüren den rekurs auf kunst und künstlichkeit des gezeigten wie auch des objekts selbst. das defizitäre der bilder schärft das bewusstsein für die einseitigkeit des sehsinns und dessen dominanz bei der wahrnehmung der wirklichkeit. so erfüllt dolven nicht die »sehnsucht nach dem echten« oder diejenige nach dem Ursprünglichen der

muttertulpe, sondern lenkt zurück auf die komplexe ausserbildliche erfahrungswirklichkeit, in der das, was als »echt« wahrgenommen und empfunden wird, die reflexion über den status des bildes im Verhältnis zum objekt einbeziehen sollte. mit diesem reflektierten rückbezug ihrer arbeit auf die realität begründet dolven letztlich ihren anspruch, eine gesellschaftlich relevante kunst zu schaffen, die betrachter buchstäblich und im übertragenen sinn angeht. Gratwanderung II »›i’ve seen my oranges on a windowsill.‹ it’s the sense that ›i’m not alone‹. that’s the driving force behind sharing these things – that i want to find connections in people.« [31] (wolfgang tillmans) wolfgang tillmans gilt als einer der erfolgreichsten zeitgenössischen künstler, der seine Fotografien in Fotobüchern und installation immer wieder neu zusammenstellt. er arbeitet mit tradierten gattungen wie Porträt, landschaft und stillleben sowie mit abstrakten, zum teil auf Fehlern und experimenten in der dunkelkammer zurückgehenden Fotografien. [32] sowohl die gattungsbegriffe wie auch die bezeichnung seiner werke als figurativ und abstrakt eröffnen jedoch kein Verständnis des werks, das wesentlich als auseinandersetzung mit der Prozesshaftigkeit von Verbildlichung, bedeutungserwartung und -generierung im und durch das medium der Fotografie zu begreifen ist.

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tillmans’ von ihm selbst so bezeichnete »stillleben« sind in den 1990er-Jahren häufig als tagebuchartige bildkommentare, als aufzeichnungen aus einer sozialen Umgebung verstanden worden, der er selbst als junger mann und homosexueller angehörte. man kann den Versuch, seine werke derart festzuschreiben, mit der sehnsucht nach dem realen schlechthin in Verbindung bringen, die stärker als bei jedem anderen medium auf die Fotografie übertragen wird. die ästhetische gratwanderung zwischen kunst und wirklichkeit, die tillmans’ werk ausmacht, bleibt so unerkannt. Publikationen wie die prominenten ausgaben seiner werke im taschen-Verlag und die damit einhergehenden essays haben gegenüber diesen lesarten einen gegendiskurs eröffnet. es soll erkennbar werden, dass milieus, die durch sexuelle orientierung und konsum, mode und medien geprägt sind, zwar häufig themen der bilder und installationen des in london ansässigen künstlers sind. doch ist dies nicht allein biografisch und dokumentarisch zu verstehen, obgleich die bilder »authentisch« wirken (und wirken sollen). [33] aufschlussreich ist die heterogenität der frühen rezeption tillmans’, deren impetus es ist, das authentische an seinem werk zu betonen: ihm wird subjektivität im sinne der biografischen dokumentation wie auch objektivität im sinne der Feldforschung in einer Jugend- und subkultur attestiert. gegen beide interpretationen hat der künstler inzwischen in zahlreichen interviews stellung bezogen und seine auffassung von authentizität zu differenzieren versucht. [34] durch die lesart, die tillmans eine gleichsam ethnologische 278

Perspektive unterstellt, wird verdeckt, dass seine bilder an tradierte elemente und blickweisen von stillleben und wissenschaftlichen bildern anknüpfen, die die dokumentarische (und authentische) wirkung seiner Fotografien einerseits verstärken, andererseits ihren kunstcharakter unterstreichen. seit anfang der 1990er-Jahre beschäftigt sich tillmans immer wieder mit stillleben. »ding-Fotografie(n)«, wie christina Pack sie genannt hat, [35] ist indes für diese werke als begriff geeigneter, auch wenn tillmans selbst die kunsthistorischen beziehungen seines »bildervorrats« für essenziell hält. [36] trotzdem würde der gattungsbegriff des stilllebens als ausgangspunkt der analyse zu einer allzu schnellen einordnung führen, durch die verschiedene inhaltliche schichten der werke tillmans’ zugunsten der kunsthistorischen zu stark in den hintergrund treten würden. in vielfacher hinsicht lässt sich tillmans’ Fotografie fotohistorisch mit der Straight Photography mit ihrem augenmerk für den alltag und den alltagsgegenstand wie auch mit der sachfotografie und der bewegung des Neuen Sehens vergleichen. auffallend ist, dass stilllebenartige arrangements dabei eine wichtige rolle spielen, deren konzeptionelle und ästhetische Funktion jeweils genau zu definieren und zu differenzieren wäre. in jedem Fall erlauben die formalen experimente, wie sie etwa Paul strand in seinen stillleben vollzog, einen neuen blick auf die dinge jenseits ihrer gebrauchszusammenhänge, indem dieser blick ganz in das bild hineingezwungen wird. [37] wollte man weiter ausholen, müsste die bettiNa gockel

bedeutung stilllebenartiger kompositionen in der geschichte der Fotografie untersucht werden. insbesondere die frühe Fotografie, die daguerreotypie eingeschlossen, hat sich nicht zufällig auf das stillleben bezogen, sogar deutlich auf Untergattungen, wie den »gedeckten tisch« oder das »atelier-stillleben«. [38] kunst- und medientheoretisch besteht der bezug zwischen der gattung und dem medium offenkundig darin, dass Vergänglichkeit und tod beidem sui generis als thema und mediale bestimmung anhaften. würde man das stillleben als die gattung begreifen, die sich grundsätzlich mit der Vergänglichkeit der dinge beschäftigt, könnte man sagen, dass die Fotografie von vornherein die tradierte gattung in ihrer Funktion als Vanitas-darstellung medial beerbt. das heisst, die beziehung der Fotografie zur gattung des stilllebens ist eine historische, eine mediale und eine theoretische, also eine durchaus bemerkenswerte, die sich nicht einfach als Fortführung der kunsthistorischen kategorie verstehen lässt. wie in den genannten Phasen der Fotografiegeschichte ist auch tillmans’ werk mit einem diskurs über das Verhältnis von kunst und Fotografie verknüpft. [39] entscheidend für den hier interessierenden Zusammenhang ist, dass tillmans darauf insistiert, malerei und Fotografie seien als Bilder gleichwertig. [40] die hervorkehrung von tillmans’ Œuvre als ein künstlerisches, das auf augenhöhe mit der malerei zu stehen habe, ist gleichwohl kein obsoleter rekurs auf eine anachronistische debatte, sondern als argument (sicher auch als strategie), jedoch nicht als thema seiner arbeit zu verstehen. tillmans arbeitet

mit und durch die Fotografie an topoi dessen, was mit Fotografie seit jeher verbunden, was von ihr erwartet wurde. so bleiben die gegenstände des alltags und der Natur in den hier ausgewählten werken stets auf der schwelle zwischen reportage, dokument und kunstwerk. an einigen beispielen seien die damit zusammenhängenden ästhetischen und konzeptionellen gratwanderungen genauer untersucht. Viele von tillmans’ »ding-Fotografien« zeigen objekte in aufsicht, die wirken, als seien sie wie zufällig in den blick geraten (Abb. 4, 7). [41] die geöffneten blumenkelche der Naoya Tulips erscheinen als flächige muster im Zentrum des bildes. allein die aus der bildmitte gerückten, herabhängenden blumen sind als plastische objekte zu erkennen, sodass der tulpenstrauss sowohl gegenständliche wie abstraktformale charakteristika aufweist. Um den strauss sind sodann unscharf die Füsse des künstlers und kopien, Zeitschriften, ein Umschlag, halb verdeckt ein stift und eine schere zu sehen. der objektivierende und formalisierende blick von oben wird so in einen subjektiven kontext gestellt, dass das bild sich einer Festlegung und einordnung entzieht. die abstrakte schönheit des blumenmusters konkurriert mit der banalität und alltäglichkeit der Umgebung. [42] an diesem beispiel ist leicht nachzuvollziehen, weshalb tillmans’ bilder häufig als dokumente seiner biografie und erfahrung verstanden werden. demgegenüber verwirklicht sich der künstlerische anspruch tillmans’, diese subjektive erfahrung verallgemeinern zu wollen, in der als bewusst offengelegten wahl der bildgestaltung (daher auch

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abb. 8: wolfgang tillmans, roadworks, 1995. 280

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abb. 9: robert hooke, the surfaces of rosemary, and other leaves, kupferstich, in: hooke, robert (1667), micrographia. or some physiological descriptions of minute bodies made by magnifying glasses. with observations and inquiries thereupon. london: Printed for John martyn, printer to the royal society [...] 1667, taf. 14. im ZeicheN der kUNst. ZeitgeNÖssische stilllebeN VoN aNNe katriNe dolVeN, wolFgaNg tillmaNs, kariN kNeFFel

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abb. 10: wolfgang tillmans, shells, 1995. 282

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abb. 11: bartolomeo del bimbo, gen. il bimbi, stillleben mit muscheln, um 1700, Öl auf leinwand, 97,5 × 120 cm, siena, Palazzo della Provincia. im ZeicheN der kUNst. ZeitgeNÖssische stilllebeN VoN aNNe katriNe dolVeN, wolFgaNg tillmaNs, kariN kNeFFel

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abb. 12: kupferstich, titelblatt von scilla, agostino (1670), la vana speculazione disingannata dal senso. lettera risponsiva circa i corpi marini, che petrificati si trovano in varij luoghi terrestri. Neapel: appresso andrea colicchia.

tillmans’ stets reservierte haltung gegenüber der schnappschuss-Ästhetik). Vergleicht man die aufsichtige aufnahme mit historischen beispielen für diese blickweise, so fällt auf, dass diese im Zusammenhang empirischer Forschungen, beobachtungen und deren Verbildlichungen entstand und die objektivität des gezeigten bildes unterstreichen sollte (Abb. 5, 6) – und zwar zu einer Zeit, in der sich erst noch herauszubilden hatte, wie denn ein bild auszusehen habe, das auf beobachtung beruhte und wissenschaftliche Neugier und aufmerksamkeit ebenso erregen sollte, wie es diese beobachtung als evident für die wissenschaftliche beschreibung und schlussfolgerung erscheinen lassen musste. hooke war autor der zu seiner Zeit populären Micrographia (london 1665), in der erstmals bilder gezeigt wurden, die mithilfe des mikroskops entstanden waren. in vergleichbarer weise scheint tillmans seine kamera wie ein Forschungsinstrument einsetzen zu wollen, um das bekannte in jenen Ursprungszustand des noch nie so gesehenen zurückzuversetzen. was auf den ersten blick als schnappschuss erscheinen mag, nimmt tatsächlich die blüten wie auch einzelne blütenblätter von oben, von der seite und von unten ins Visier. wenn man diesen blick im rekurs auf hooke als einen wissenschaftlichen verstehen will, dann wird nachvollziehbar, dass tillmans gerade keine momentaufnahme erzeugen will, sondern die objektivierende, bildscharfe erfassung eines alltäglichen objekts in kontrast zur subjektiven Unschärfe der Umgebung setzt. ort und objekt werden so in eine neue beziehung gesetzt: das objekt ist kein element 284

einer ort und situation beschreibenden aufnahme, sondern wird herausgegriffen, um innerhalb des bildes autonomie und aufmerksamkeit beanspruchen zu können. so weit hooke und tillmans historisch und medial auseinanderliegen, teilen sie doch eine art gestalterisches herantasten an eine neue sicht auf die dinge, die in Natur und alltag randständig erscheinen, symbolischer werte entbehren (oder derer verlustig gegangen sind) und für die bildwürdigkeit beansprucht wird. darin liegt das bildtheoretische Potenzial, das hookes werk in der bildwissenschaft und in der wissenschaftshistorischen Forschung attestiert wurde und übertragen auf tillmans’ werke seinen Versuch unterstreicht, etwas »Neues« wie auch neuartige bilder produzieren zu wollen. [43] in Pumpkin, Tomato & Pomme Granate (Abb. 7) ist die tomate so exakt von oben fotografiert, dass der eindruck eines schwebenden, gelben objekts entsteht, während der granatapfel das arrangement geradezu wieder auf den boden der materiellen wirklichkeit zurückholt, indem, allerdings unscharf, ein Preisschild an seiner oberen seite klebt. die kanten des Fensterbretts geraten zu diagonalen begrenzungen der drei objekte auf weissem grund. der soziale kontext bleibt einmal mehr buchstäblich unscharf und ist dennoch präsent und assoziierbar als Nachlässigkeit, die spuren eines alltags zeigt, in dem Zeit für genrehafte, hübsche arrangements fehlt. Formen und Farben, Flächigkeit und Plastizität sollen hier studiert werden, jedoch nicht um ihrer selbst willen. worum es dabei geht, verdeutlicht die Fotografie Roadworks (1995) (Abb. 8). tillmans benutzt bettiNa gockel

die aufsicht auf die szenerie und deren eigene strukturen, damit der betrachter die sand-, steinund schutthaufen untereinander vergleicht. indem vertikal und horizontal jeweils in der bildmitte die holzlatten und der strassenrost eine ordnung vorgeben, wird das, was im alltag als Ungeordnetes übersehen und damit unsichtbar bleibt oder als störung verdrängt wird, einem forschenden blick ausgesetzt. damit ist die Fotografie instrument und ergebnis der beobachtung, was sie als komplexes medium der wissensgenerierung und ästhetischen erfahrung und nicht als mechanisches aufnahmegerät ausweist. [44] oberflächen einer zeitgenössischen erfahrungswirklichkeit werden so sichtbar wie die oberflächenstrukturen von blättern unter hookes mikroskop (Abb. 9) oder als sähe man gesteinsproben in den kästchen einer mineralogischen sammlung. die Ästhetik von Zerfall, schutt, liegengelassenem steht buchstäblich vor augen, was voraussetzt, dass die betrachter diesen blick einnehmen können, ja durch die bildgestaltung dazu gezwungen werden. Fotohistorisch greift tillmans ordungsmuster des bildes auf, die schon william henry Fox talbot, der erfinder des Negativ-Positiv-Verfahrens, benutzte, um anstatt idyllischer und genrehafter Naturdarstellungen das fotografische bild als medium der Forschung zu präsentieren. [45] indem der blick des Fotografen zu dem des betrachters wird, offeriert tillmans ihm die möglichkeit, die erfahrungswirklichkeit wie ein Forscher durch das bild neu zu sehen. kunst bietet hier den dialog mit einer verloren geglaubten materialität der wirklichkeit an. [46] der topos von der evidenz des

realen, den die Fotografie in ihrer mediengeschichte von anfang an mitführt, dient diesem Zweck. deshalb kann der künstler sagen: »[ich verstehe, b. g.] das Foto als medium einer gesellschaftlichen realität.« [47] oder: »[...]; die abstrakten strukturen beziehen sich alle auf reale objekte. man kann diese bilder [tillmans’ Fotografien von Passagieren in der U-bahn, b. g.] einerseits als dokumentation einer realen situation, andererseits als abstrakte studien von oberflächenstrukturen betrachten.« [48] wie aufmerksamkeit für die Ästhetik und soziale Funktion von marginalisierten objekten evoziert wird, seien es erde und gestein, blätter oder muscheln, wird eindrücklich in Shells (Abb. 10) deutlich. das bild scheint direkt an die muschelstillleben des 17. Jahrhunderts anzuknüpfen und gibt doch nur in der differenz zu dieser kunsthistorischen referenz seinen inhalt preis. [49] in unbunten Farben präsentieren sich auf den ersten blick Naturobjekte mit glatten, porösen oberflächen und mustern, ohne schon in eine ordnung gebracht worden zu sein. in Roadworks begegnet das umgekehrte Verfahren angesichts der ordnenden bildstruktur. hier liegt indes alles da, als sollte eine erste Vorauswahl getroffen werden; das schönste oder kostbarste objekt ist noch nicht als solches erkoren, und umso intensiver beginnt man hinzusehen. erst dann erkennt man den Puderpad in der oberen bildhälfte, dessen bräunliche, gräuliche und hautfarbene Nuancen sich kaum von den muscheln und steinen abheben. im Vergleich mit bartolomeo del bimbos opulentem muschelstillleben, das er für den grossherzog

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abb. 13: wolfgang tillmans, Pomodoro, 1993. 286

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abb. 14: wolfgang tillmans, still life, lucca, 1993. im ZeicheN der kUNst. ZeitgeNÖssische stilllebeN VoN aNNe katriNe dolVeN, wolFgaNg tillmaNs, kariN kNeFFel

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Abb. 15: Wolfgang Tillmans, Kate McQueen, 1996.

Ferdinando de Medici ausführte (Abb. 11), stellt Tillmans zwar keine kostbaren Sammlerstücke dar. Doch er weist diesen zerstreut herumliegenden Dingen eine ähnliche Bildwürdigkeit und Aufmerksamkeit zu und lässt ästhetische Kategorien des Schönen und Hässlichen in einer prekären Balance. Wo Bimb0 die beigen und grauen Töne der Muscheln mit fulminanten Rottönen dramatisiert, setzt Tillmans einen roten Akzent ausgerechnet auf dem Schminktuch, das unter dem Puderpad wie zufällig drapiert ist. Dieses Arrangement erinnert entfernt an Inszenierungen drapierter Stoffe, wie sie in der Geschichte des Stilllebens von Il Bimbi bis Cézanne vorkommen. Tillmans unterstreicht so seinen Rekurs auf die historische Gattung. Indem er wie diese mit dem Effekt der Augentäuschung spielt, ohne jedoch die Erwartungen an das Genre zu erfüllen, kann er das von ihm beanspruchte »Neue« seiner Werke hervorkehren. Nicht nur die Formen, sondern auch die materielle Beschaffenheit der Dinge und ihre materielle Verbundenheit untereinander sollen in den Blick geraten. So evoziert der Puderpad noch eine weitere, wesentliche Komponente des Bildes, die der Haptik. Die cremigen Substanzen verleihen diesem Objekt eine materielle Präsenz, die den Wunsch nach Berührung oder zumindest die Vorstellung entstehen lässt, jemand müsse dieses Objekt gehandhabt haben. Welche sinnlichen Daten müssen erhoben werden, bevor eine Auswahl und Zuordnung erfolgt – auch das scheint mittels des Bildes gefragt zu werden. Oder anders gesagt, diese Dinge versetzen den Betrachter in einen Zustand vor jeder Wissensgenerierung, so wie in Dolvens It Could Happen

to You nicht Sehen, sondern Tasten zur anfänglichen oder erneuten Kontaktaufnahme mit der umgebenden Wirklichkeit wird. Auch dieser Aspekt lässt sich auf die Verbildlichungsstrategien einer empirischen Naturphilosophie zurückführen. Das Frontispiz von Agostino Scillas La vana speculazione disingannata dal senso (Neapel 1670) (Abb. 12) verbindet den aufsichtigen Blick auf Fossilien mit dem Appell, im vergleichenden Sehen und mittels Berührung deren organische Herkunft zu verstehen. [50] Die Intensivierung des Hinsehens wie auch die Haltung, Sehen als bewusste Beobachtung könne als epistemische Kategorie nicht genügen, forciert Tillmans durch immer wieder neu eingesetzte Variationen von extremer Bildschärfe, verbunden mit brillanten Buntfarben (Abb. 13), und von Unschärfen (Abb. 14), die jeweils konventionalisierte Strategien der Werbefotografie hinter sich lassen und Gewohnheiten von Sehen und Wahrnehmung durchbrechen wollen. Tillmans’ Aufnahme des Models Kate Moss von 1996 vor einem zufällig wirkenden Arrangement aus Erdbeeren, Cherrytomaten und kleinen Kartoffeln (Abb. 15) mag als subversives Statement im Vergleich zur gängigen Haute-Couture-Modefotografie gelten und wirft die Frage auf, was hier eigentlich wen ernährt. [51] Moss sitzt vermeintlich unschön mit glänzender Stirn und in glänzendem Plastikbody da. Das heroin kid Moss und ihr Image als Vertreterin des rock style dürften für Tillmans die Gratwanderung zwischen Subkultur, Konvention und professioneller Provokation verkörpern, die seinem eigenen künstlerischen Konzept eingeschrieben ist, das aber gerade aufgrund der

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Abb. 16a: Wolfgang Tillmans, I Didn’t Inhale, Chisenhale Gallery, 7.6.–3.8.1997, North Wall, left. 290

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Abb. 16b: Wolfgang Tillmans, I Didn’t Inhale, Chisenhale Gallery, 7.6.–3.8.1997, North Wall, left. IM ZEICHEN DER KUNST. ZEITGENöSSISCHE STIlllEBEN VON ANNE KATRINE DOlVEN, WOlFGANG TIllMANS, KARIN KNEFFEl

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Etablierung hybrider Verweissysteme in der Konsumkultur einer steten Rechtfertigung bedarf, die Tillmans als Interviewkünstler propagiert. [52] Diese anhaltende Kommentierung seiner Werke erlaubt es ihm, immer wieder sein Bewusstsein für die Verwertung »neuer« Gestaltungsweisen durch die Mode- und Werbeindustrie zu betonen und zugleich der Überzeugung nachzuhängen, sich tatsächlich als Künstler gegen die kommerzielle Bildproduktion behaupten zu können. [53] Wie prekär (aber auch produktiv) diese Haltung, innerhalb des Systems zu agieren, ist, zeigt sich, wenn man die Präsentation eines Models vor einem »armen« Stillleben in einer Fotostrecke von Angie Gassner und Thomas Mailer für Madame vergleicht und bedenkt, dass das Echte, Authentische der vermeintlich ungeschminkt glänzenden Haut schon von Jil Sander als Effekt eines puristischen Appeals okkupiert wurde. [54] Die bislang diskutierten Fotografien werden von Tillmans in unterschiedlichen Formaten immer neu mit anderen seiner Bilder kombiniert (Abb. 16a, b), sodass zum Beispiel Stillleben und Porträt allein schon vom Format her jenseits der Gattungshierarchie betrachtet werden können und zudem formale Beziehungen zu landschafts- und Stadtansichten gezogen werden, die auch die immer wieder verwendeten subjektivierenden und objektivierenden Blickweisen Tillmans’ deutlich werden lassen. Die nicht hierarchischen Bezüge der Gattungen untereinander und die Monumentalisierung des Stilllebens gegenüber der tradierten Gattungshierarchie wie auch die Bilderfülle nehmen Bezug auf Ausstellungspraktiken, in denen, wie in Johann Michael Bretschneiders 292

idealtypischen Galeriebildern, dem Stillleben und dem Porträt das Hauptaugenmerk zugebilligt wird, und zwar bei Bretschneider verdeutlicht durch das zentrale Stilllebenarrangement auf dem Tisch und die Praxis des Porträtmalers (Abb. 17). Tillmans’ Aufnahmen seiner Installationen in der Chisenhale Gallery erlauben zudem, selbst die kleinformatigen Bilder genau zu erkennen, so wie Bretschneider, in der flämischen Tradition stehend, Wert auf die miniaturmalerische Wiedergabe der präsentierten Gemälde legte und damit seine Meisterschaft als Maler zu erkennen geben wollte. [55] So wie Bretschneiders Galeriebilder Unikate sind, beansprucht Tillmans diese in jeder Ausstellung, die er selbst als Kunstwerk verstanden wissen will. Der immer wiederkehrende Anspruch des Fotografen, seine Werke sollten nicht medienspezifisch, sondern wie Malerei betrachtet werden, ohne dass er mit seiner Fotografie auch nur im Ansatz Malerei oder deren Strategien imitieren wolle, erhellt sich zweifellos auch in diesem ausstellungshistorischen Kontext seiner Installationen. Im Museum zeigt Tillmans im Unterschied zur Ästhetik des Einzelwerks und im Unterschied zu Fotoausstellungen eine Fülle von Bildern, die die subjektive Erinnerung und Erfahrung zeitgenössischer Kultur und Wirklichkeit evozieren wollen, um Dialoge und Beziehungen zu stiften. Selbst wenn dies Konzept nicht alle Kritiker zu überzeugen vermag und selbst wenn diesen Werken keine Dauer beschieden sein sollte, so ist für das gegenwärtige Verständnis wichtig zu erkennen, dass er einen zeitgenössischen Bilderatlas herstellt, BETTINA GOCKEl

Abb. 17: Johann Michael Bretschneider, Blick in eine Gemäldegalerie mit einem malenden Porträtisten, um 1700, öl auf leinwand, 146 × 191 cm, Rom, Sammlung Graf Brachetti Peretti.

der sich Bild- und Blickstrategien vorhergehender Jahrhunderte einverleibt, um Bilder als Kunstwerke mit epistemischen und sozialen Funktionen jenseits der Bildindustrie sichtbar zu machen. Gratwanderung III »Trotzdem ist der Mensch in allem der Stoff meiner Bilder.« [56] (Karin Kneffel) Während Dolven und Tillmans im Video und in der Fotografie vermeintliche leistungen der künstlerischen Gattung Stillleben infrage stellen und diese in der Differenz zur historischen Kategorie so weit erneuern, dass Aspekte der Wirklichkeitswahrnehmung, der sozialen und humanen Kontexte, die mit Alltagsund Naturobjekten zu tun haben, thematisiert werden, sind Karin Kneffels Gemälde, die Obststillleben zeigen, auf den ersten Blick einem kunsthistorischen und kunsttheoretischen Programm verpflichtet. [57] Doch könnten die Unterschiede zur Geschichte tradierter Malerei und Kunsttheorie nicht grösser sein. Eben diesen Unterschieden verdanken Kneffels Stillleben die ihnen eigene Originalität. Elke Bippus hat deren Eigenart folgendermassen auf den Punkt gebracht: »Sie [Kneffel, B. G.] führt die Mimesis in ihrer konstruktiven Künstlichkeit vor.« [58] Kneffels Gemälde dreier Bündel von Weintrauben (Abb. 18) [59] wirkt bei der Bildbetrachtung nur anfänglich illusionistisch. Doch mit der Zeit entsteht der Eindruck einer spezifischen Artifizialität, die auf zwei Kunstgriffen beruht: Die einzelnen Trauben erscheinen wie

prall gefüllte Ballons, die alle ohne Unterschied in einem Idealzustand ohne Spuren der Alterung wie Flecken, Einkerbungen, ohne Anzeichen von Abweichungen eher wie Produkte eines laborversuchs wirken. [60] Zudem gehört heute prall Gefülltes oder prall Erscheinendes in die Bildwelt und Wirklichkeit von mit Botox aufgespritzen Wangen und lippen ewig jugendlicher Gesichter. Spuren von Alterung sind, zumal in Bildern, nicht erwünscht. Dies dürfte als zeitgenössischer Wahrnehmungskontext ebenso wichtig sein wie die kunsthistorische Dimension, die Kneffel anspricht und auf die im Folgenden eingegangen wird. Unwillkürlich ruft das Motiv der Trauben die in der Geschichte des Stilllebens immer wieder bemühte Anekdote über den Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios auf. [61] Doch scheint Kneffel ebenso wie prominente Vertreter des Stilllebens mit Trauben seit dem 17. Jahrhundert die von Plinius d. Ä. überlieferte Geschichte eher zum Anlass von Abgrenzung und Ablehnung zu nehmen. [62] So hat Juan Fernández, gen. El labrador um 1630/1640 in seinem Stillleben mit hängenden Weintrauben (Abb. 19) den Akzent auf den Gebrauch und Verbrauch der Trauben gelegt, indem diese ebenso wie die Weinblätter in koloristischen und formalen Nuancen erscheinen, die von den Reifezuständen der Dinge erzeugt werden. Der Maler und Bauer Fernández begründete seinen Erfolg auf der Suggestion einer greifbaren Realität der Objekte, deren Kenntnis und Handhabung er anekdotenhaft zu unterstreichen wusste. [63] Offenkundig lässt sich dieses Gemälde in den Kontext einer materiellen Kultur

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Abb. 18: Karin Kneffel, Ohne Titel, 1998, öl auf leinwand, 200 × 200 cm, Düsseldorf, Galerie ludendorff. 294

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Abb. 19: Juan Fernández, El labrador, Stillleben mit weissen Trauben, ca. 1630– 1640, öl auf leinwand, 29,5 × 38 cm, Madrid, Prado, Colección Naseiro. IM ZEICHEN DER KUNST. ZEITGENöSSISCHE STIlllEBEN VON ANNE KATRINE DOlVEN, WOlFGANG TIllMANS, KARIN KNEFFEl

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Abb. 20: louis-léopold Boilly, Weisse Trauben, 1. Hälfte 19. Jh., öl auf Papier auf Karton, 25 × 20 cm, Rouen, Musée des Beaux-Arts. 296

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Abb. 21: George Henry Hall, The Twins, Chianti Grapes, 1885, öl auf leinwand, 46 × 36,2 cm, Dr. u. Mrs. Frederick Baekeland. IM ZEICHEN DER KUNST. ZEITGENöSSISCHE STIlllEBEN VON ANNE KATRINE DOlVEN, WOlFGANG TIllMANS, KARIN KNEFFEl

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Abb. 22: Abraham Mignon, Weintraube und Früchte in einer Nische, 2. Hälfte 17. Jh., öl auf lindenholz, 47 × 37 cm, Basel, Kunstmuseum, Depositum der Prof. J. J. Bachofen-BurckhardtStiftung 1921.

stellen, die der antike Wettstreit nur am Rande berührt, wenn Vögel nach Zeuxis’ gemalten Trauben picken, der Maler selbst aber einen von Menschenhand gemachten Gegenstand, den von Parrhasios gemalten, vermeintlich vor dem Bild hängenden (Theater-)Vorhang, zurückzuziehen versucht. Gegenüber El labradors Trauben-Stillleben kommen louis-léopold Boillys Weisse Trauben (Abb. 20) wie ein lehrstück genauer künstlerischer Beobachtung und Könnerschaft in der Tradition des Trompe-l’Œil daher. Beide Werke weisen gleichwohl einen gemeinsamen Effekt auf, indem die Trauben vor dem Hintergrund aus dem Bild hervorzutreten scheinen. Kneffels Trauben ragen dagegen weit in den diffusen Bildraum hinein, der ebenso künstlich wirkt wie die Objekte selbst. Fast meint man sich in die Welt einer Science-Fiction-Szenerie, ja eines Science-Fiction-Films mit ins Unendliche ausgreifenden Bildräumen versetzt. Natürlichkeit, Illusionismus, Täuschung – das alles wird gerade zugunsten einer Künstlichkeit suspendiert, die an computergenerierte Bildwelten erinnert, die keiner »Sehnsucht nach dem Echten« nachgeben. Vergleichbar mit Kneffels Bild ist auch das Gemälde The Twins, Chianti Grapes aus dem Jahr 1885 (Abb. 21) . Es wurde von dem weit gereisten George Henry Hall in Siena gemalt. Der lokale Bezug und die Verwertung der Trauben [64] wie auch die identifizierbare Räumlichkeit verankern das Dargestellte in einer zumindest angenommenen, in jedem Fall durch den Künstler bezeugten Erfahrungswirklichkeit, die nicht das Künstliche, sondern die Authentizität des Dargestellten hervorhebt. Diese Art der Suggestion 298

von Authentizität steht Kneffels Bildstrategie entgegen, die eine Welt zeigt, die übersinnlich, fiktiv und in ihrer Monumentalität umso intensiver, unausweichlicher erscheint. In der Absenz lokaler und materieller Kontexte, in ihrer Unwahrscheinlichkeit und im Verweis auf eine andere Weltlichkeit und Existenz gleichen diese unwirklichen Stillleben noch am ehesten Abraham Mignons Weintraube und Früchte in einer Nische (Abb. 22), das eucharistische Bedeutungen aufruft. [65] Interessanterweise findet sich hier der Eindruck des Prallen und Künstlichen wieder, der durch die Ungleichzeitigkeit der von Mignon gezeigten Reifezustände der Trauben und Beeren unterstrichen wird. Während die vorhergehenden Vergeichsbeispiele Authentizität durch den assoziierten Gebrauchsbezug herstellen, verbleibt Mignons Bild in einem symbolischen Bezugsrahmen. Im zeitgenössischen Kontext digitaler Bildwelten kann demgegenüber die Enttäuschung der Illusion sowie die Verweigerung imaginierter Verwendung und Handhabung paradoxerweise gerade authentisch wirken. Denn die andere, wie von einem »Marsmenschen« gesehene Bildwelt und deren Objekte sind Teil gegenwärtiger medial vermittelter Wirklichkeit. Oder anders gesagt: Eine hochkünstliche Darstellung im Bild kann durchaus natürlich wirken für ein Publikum, dessen Seh- und Empfindungsweisen durch Bildmedien und die im Supermarkt präsentierte Gleichförmigkeit gezüchteter lebensmittelprodukte an diese Künstlichkeit gleichsam angepasst sind. Kneffel reproduziert diesen Effekt nicht einfach, sondern stellt ihn produktiv BETTINA GOCKEl

in den Zusammenhang der Erwartungen an eine Hochkunst, die sie selbst mit ihren monumentalen Gemälden forciert. Dem Betrachter wird ein rezeptionsästhetisches Dilemma aufgezwungen: Diese Meisterwerke der Malerei lassen die (Bild)Produkte der lebensmittelindustrie nicht vergessen. Fast schmerzhaft kommt die Dominanz des Sehens und die Absenz der fassbaren Dinge zu Bewusstsein, für die sich im Zuge dieses Dilemmas Neugierde und Interesse einstellen. Dass es Kneffel nicht allein um die Selbstreflexion des Bildes und medialer Vermittlungen geht, verdeutlichen ihre Gemälde von Feuersbrünsten und brennenden Scheiterhaufen. Diese kombiniert sie direkt mit nahsichtigen Porträts von Rindern, in einem Fall auch mit dem Bild eines aufjaulenden Hundes. [66] Die BSE-Epidemie, die 1986 mit einem erstmals in Grossbritannien diagnostizierten Fall der infektiösen Krankheit begann, prägte die 1990er-Jahre und warf schliesslich aufgrund der schockierenden Fernsehbilder und Fotografien in Tageszeitungen und Zeitschriften, die brennende Kadaver zeigten, ethische Fragen hinsichtlich der Massentierhaltung und -verwertung auf. Den distanzierenden wissenschaftlichen und verwertenden Umgang mit Tieren konfrontiert Kneffel in einem Ensemble aus Tierköpfen im Profil, Halbprofil und in Frontalansicht mit der porträthaften, nahsichtigen Individualität der Tiere. [67] Vergleichbar mit Tillmans’ Bildstrategien kombiniert sie objektivierende und subjektivierende Darstellungsweisen, sodass ihre Sujets zu »wunderbare[n], aufgeladene[n] Gegenstände[n]« [68] werden.

Mit dieser Bemerkung lässt sich der Bogen zurück zum Empirismus der Frühen Neuzeit schlagen. Die eigentümliche Verfremdung des Dargestellten war damals und ist für Kneffel Garant einer neuen Aufmerksamkeit sowohl für das Bild wie für die dargestellten Objekte. Immer wieder erscheint bei Kneffel das Thema der Klassifikation (Abb. 23a, b), wobei sich auf den zweiten Blick jedes Objekt widerspenstig dieser Bildordnung zu entziehen scheint. Dadurch entsteht eine mit Tillmans’ Arbeiten verwandte Gratwanderung von Objektivität und Subjektivität, die das Einzelne wieder in den Blick rückt, so wie die Tierporträts trotz ihrer Zusammenstellung in einem Tableau auch je für sich gesehen werden wollen, indem jedes Individuum den Blick des Betrachters zu fixieren scheint. Klassifikation wird hier auch parodiert, wenn nicht sogar als Chiffre einer von den Naturwissenschaften besonders intensiv geprägten Zeitspanne der 1990er-Jahre kritisiert. Was als Grundlage gentechnischer Experimente alles andere als amüsante Ergebnisse gezeitigt hat, wird geradezu auf einen anfänglichen, neugierigen Forscherblick zurückgeführt, dem Freude und liebhaberei an der Zusammenstellung der Dinge, an ihrem überraschenden Aussehen eignet. Gerade die ungewöhnliche Kombination von Kirschen, Kirschkernen und kleinen Gurken (Abb. 23a) erinnert an Jacob Hoefnagels Stiche [69] nach den Vorlagen von Joris Hoefnagel, denen die Vorstellung der Spiegelung der gesamten Schöpfung in jedem »noch so kleinen Geschöpf Gottes« zugrunde liegt. [70] Das Sinnbildliche der Werke Hoefnagels überführt Kneffel in das

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Abb. 23a: Karin Kneffel, Ohne Titel, 1998, öl auf leinwand, 100 × 100 cm, Privatsammlung. 300

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Abb. 23b: Karin Kneffel, Ohne Titel, 2000, öl auf leinwand, 60 × 85 cm, Privatsammlung. IM ZEICHEN DER KUNST. ZEITGENöSSISCHE STIlllEBEN VON ANNE KATRINE DOlVEN, WOlFGANG TIllMANS, KARIN KNEFFEl

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in ihrem Bild präsente Nachdenken über etablierte Ordnungen und Denkmuster und über deren Konventionalisierung im Akt des Sehens und Wahrnehmens, die gravierende Konsequenzen für den Menschen und seine lebenswelt hat. Mit Dolven und Tillmans verbindet sie daher das Bekenntnis: »Trotzdem [trotz der weitgehenden Absenz der menschlichen Figur in ihren Bildern, B. G.] ist der Mensch in allem der Stoff meiner Bilder.« [71] Posthistorische Positionen Die historischen Bezugnahmen in den hier vorgestellten Kunstwerken wirken zunächst motiv- und gattungsgeschichtlich. Gleichwohl haben sich alle Werke als weitaus komplexer erwiesen, als es diese Zuordnungen suggerieren. Weisen des Sehens, der Beobachtung, des In-den-Blick-Nehmens sind als Gestaltungsmittel der jeweiligen Werke deutlich geworden, die den Betrachter mit Konventionen der Wahrnehmung von Alltags- und Naturobjekten wie auch mit Wahrnehmungen und Erwartungen an Kunst und Bildmedien konfrontieren. Die transhistorischen Aspekte dieser Werke offenbaren sich, um eine Formulierung von Danto aufzugreifen, »allein durch die Geschichte«. [72] In diesem umfassenden historischen Bezugsrahmen sowie der Ablehnung von Medienspezifik und Stilkategorien entstehen posthistorische Stillleben, die als entschieden zeitgenössische Werke konzipiert sind. Mit dem Anspruch einer gesellschaftlich engagierten Kunst und der Ablehnung der alleinigen dokumentarischen oder mimetischen 302

Funktion widersprechen sie zudem einseitigen kulturhistorischen Interpretationen und Vereinnahmungen des Stilllebens als Spiegel einer Gesellschaft und ihrer Verhältnisse zum Gebrauch von Alltags- und Naturobjekten. Das Bild als Ort des Denkens über Objekt und Wahrnehmung, Geschichte und Gegenwart wie auch als animierendes, aktives Medium wird auf diese Weise als Kunstwerk reklamiert, das zeitgenössische Bilder jeder Provenienz verarbeiten, thematisieren und einem permanenten künstlerischen Produktionsprozess aussetzen kann. Indem diese Kunstwerke dabei das Defizit des Sehsinns in ihren konzeptionellen und gestalterischen Mittelpunkt stellen, versuchen sie sich von den Versprechungen der Bildindustrie – ›What you see is what you get‹ – abzugrenzen. Dass dies ein prekäres Unterfangen ist, für das ein bild- und kunsttheoretisches Konzept erst noch zu entwickeln ist, unterstreicht nur die Gratwanderung, die die Relevanz der hier vorgestellten Werke und Positionen ausmacht.

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Abbildungsnachweis

Bibliografie

© Prolitteris Zürich; Courtesy carlier | gebauer: Abb. 1; Mauritshuis, Het Koninklijk van Schilderijen, Den Haag: Abb. 2; © Galleria degli Uffizi/Photo Scala, Florenz – courtesy Ministero Beni e Att. Culturali: Abb. 3a; Teylers Museum, Haarlem: Abb. 3b; © Wolfgang Tillmans; © Wolfgang Tillmans, Courtesy the artist and Andrea Rosen Gallery, New York: Abb. 4, 7, 8, 10, 13, 14, 15, 16a, 16b; Zentralbibliothek Zürich: Abb. 5, 6, 9; akg-images: Abb. 11; ETH Zürich, Sammlung Alte Drucke: Abb. 12; © Prolitteris Zürich; Galerie ludendorff: Abb. 18; © Peter Willi – ARTOTHEK: Abb. 20; Dr. u. Mrs. Frederick Baekeland: Abb. 21; Kunstmuseum Basel, Foto: Martin P. Bühler: Abb. 22; © Prolitteris Zürich; Achim Kukulies, Düsseldorf: Abb. 23a, 23b.

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Der folgende Beitrag ist die überarbeitete Fassung des Vortrags auf der Konferenz From Real Life to Still Life. Pictorial, verbal and instrumental processes of transformation, 1600–1900 (2006). Den Konferenzteilnehmern wie auch den Mitgliedern der Art-History-Arbeitsgruppe am Institute for Advanced Study, Princeton, sei für Kritik und Anregungen gedankt. Taussig (1997), S. 13. Vgl. unter anderem Kohl (2004). Siehe auch Anm. 7 und 8. Brown (2003), S. 3. Siehe Daston (2004). Die neuere Wissenschaftsgeschichte hat seit den 1990er-Jahren den Fokus von den Subjekten der Wissenschaft hin zu deren Objekten verschoben, um einer hagiografischen Geschichtsdarstellung und Enthistorisierung der Wissensproduktion entgegenzuarbeiten. Siehe Rheinberger (2007). Vgl. das Max-Planck-Research-Network History of Scientific Objects, begründet von lorraine Daston, Jürgen Renn und Hans-Jörg Rheinberger. Siehe die Darlegungen auf der Homepage der Forschergruppe: »Zentrale Thesen sind erstens, dass in jeder Bilderkennung die Augen nicht als Wahrnehmungsorgan isoliert werden können, sondern dass der gesamte Körper wahrnimmt, und zweitens, dass Bilder niemals nur abbilden, sondern immer auch im Bildakt erzeugen, was sie darstellen.« Siehe Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung, Thesen, 2011, auf: http:// bildakt-verkoerperung.de/zielsetzungen (28.09.2011). Vgl. das Konzept und Programm des 33. Internationalen Kunsthistoriker-Kongresses, der unter dem Titel Herausforderung des Objekts vom 15. bis 20. Juli 2012 in Nürnberg stattfinden wird. Schon 2006 hat Yve-Alain Bois für das Fach einen »return to the object« diagnostiziert. Vgl. seine Ankündigung zur Vortragsreihe The Sensuous in Art (Institute for Advanced Study und Princeton University), die er zusammen mit Hal Foster organisierte: »In art history today there seems to be what we could call a ›return to the object‹, after, and benefiting from, two decades of intense theorization. […]

Exploring the theme of the sensuous – which is different from, but related to, that of the sensual – will allow us to reflect not only upon the different effects works of art were meant to have on human senses in different times and places, but also upon the way we can respond today to their summon. How is visual pleasure, for example, regulated by the context of an artwork’s occurrence? Is there such a thing, even, as purely visual pleasure? Do a medieval nun, a Persian calligrapher, a contemporary artist and Renaissance humanist have anything in common when it comes to the production and reception of an art object? This is the type of questions, both historical and anthropological, that will hopefully be raised in this series of lectures, and the responses promise to be as diverse as the subfields of art history that will be invoked.« Siehe Institute for Advanced Study, Princeton, Leading Academics Explore The Sensuous In Art, 29. September 2006, auf: www.ias.edu/ news/press-releases/sensuous-art (28.09.2011). Bois’ Statement geht deutlich von Foster (1996) aus und überträgt die historische Analyse Fosters auf den Gegenstand der Kunstgeschichte im Allgemeinen. Foster postuliert eine alternative dritte lesart avantgardistischer Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber polarisierenden Tendenzen, die entweder Oberflächlichkeit nach dem Ende der Avantgarden oder doch gesellschaftliches und politisches Engagement der Künste diagnostizieren wollen. Das Paradebeispiel ist Warhol und dessen Rezeption in der Kunstwissenschaft. Foster interessieren die Spuren von Realitätsbezügen in der realistischen oder hyperrealistischen Kunst, deren Aktivität und inhaltliche Relevanz er in den Kontext gesellschaftlicher Krisen stellt.

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Siehe unter anderem Frank et al. (2007) sowie die interdisziplinäre und historiografisch reflektierte Einführung in das Thema von Brown (2003), S. 3–12. Brown ist allzu fixiert auf den Zusammenhang von Konsumkultur und der kulturellen Bedeutung der Dinge seit der Zeit um 1900, was Mark Blackwell zu Recht kritisiert, der die Thematik der Objekte und Dinge im 18. Jahrhundert untersucht. Vgl. Blackwell (2007). Gewöhnlich wird übersehen, dass die Erforschung der Dinge und der materiellen Kultur einen wichtigen Ausgangspunkt in der feministischen Forschung hat: Vgl. hierzu Ecker et al. (2002). Ohne die ethnologische und soziologische Perspektive und Methodenreflexion hinsichtlich der kulturellen Bedeutung der Objekte und Dinge in praxeologischen Zusammenhängen dürfte diese interdisziplinäre Ausrichtung schwerlich an Nachhaltigkeit und theoretischer Fundierung gewinnen, insbesondere mit Blick auf die zu kritisierende Verengung hinsichtlich der Funktion der Dinge in der kapitalistischen Gesellschaft. Gezeigt wurden Werke unter anderem von Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Arman, Christo, Daniel Spoerri, Piero Manzoni, Marcel Broodthaers, Andy Warhol, Claes Oldenburg, Richard Hamilton, Kiki Smith, Tony Cragg und Jeff Koons. Die These vom Ende der Kunst und Arthur C. Dantos Plädoyer für den Begriff einer posthistorischen Kunst, die nicht in Stilkategorien gedacht werden kann, sowie die Abgrenzung zwischen moderner und zeitgenössischer Kunst sind in dieses Ausstellungskonzept nicht eingegangen. Vgl. Danto (2000), S. 34f. Rowell (1997), S. 169. Ebd., S. 193. Taussig (1997), S. 14. Vgl. Rowell (1997), S. 193–97.

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Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die hier zu besprechenden Künstler versuchen, eine Haltung gegen die kulturpessimistische Zeitdiagnose Michel Houellebecqs einzunehmen: »So wie jede Wissenschaft ist auch jede Kunstform ein Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation. Es ist klar, dass die Wirksamkeit und die Intensität in dem Moment abnehmen und zur Aufhebung neigen, in dem Zweifel einsetzen an der Wahrhaftigkeit des Gesagten, an der Aufrichtigkeit des zum Ausdruck Gebrachten (kann man sich etwa eine Wissenschaft in übertragender Bedeutung vorstellen?).« Siehe Houellebecq (2001), S. 69. Houellebecq schreibt aus der Erfahrung der 1990er-Jahre heraus – die »logik des Supermarkts« beschäftigt ihn ebenso wie die Deutungshoheit der Naturwissenschaften über das, was leben sei. Er geht davon aus, dass eine Flut von Pseudoinformationen sowie die Beschleunigung der Wahrnehmung Menschen in kapitalistischen Systemen keine Möglichkeiten mehr einräumen, ein »Gewicht des Seins« in sich selbst zu finden. Die Verlangsamung und Intensivierung sinnlicher Wahrnehmung, die etwa beim Besuch einer Gemäldegalerie notwendig sei, beschreibt er treffend als Auslöser von Unbehagen, weil eine grundlegende »ironisch distanzierte Haltung« aufgegeben werden muss, mit der sich Menschen in kapitalistischen Systemen aus Houellebecqs Sicht vor der Realität zu schützen suchen. (Ebd., S. 70) Museen arbeiten heute bekanntlich diesem Unbehagen mithilfe von Shops und Audioguides entgegen. Es ist dieses Unbehagen, das die hier zu analysierenden Werke auslösen und zum Ausgangspunkt von etwas werden lassen, was man vielleicht als neue »Aufrichtigkeit« bezeichnen könnte. Taussig (1997), S. 11. Danto (2005), S. 37f. Siehe Kitschen (1995), S. 22ff. Carpenter et al. (2001).

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Glasmeier (2001): »Anne Katrine Dolven […] moves her images so that we, the viewers, can be moved by them. In doing so, she demonstrates the vitality of Aby Warburg’s Pathosformeln (pathos formulae) for our own age.« Vgl. Dolven: »It is a complex work, and there are several ways to see it. It is based on a moment in life, when you are first born and you can’t see but sort of feel with your mouth – […] Here is someone with closed eyes, a grown-up person, and again he is just searching with his mouth. […] We do not know exactly what is happening, but it is an important moment when a lot of our preconceptions are wiped away.« (Ebd., o. S.) Dolven betont, dass sie stets mit Personen arbeitet, die sie kennt und/ oder zu denen sie eine Beziehung aufgebaut hat, was ein Element ihrer Konzeption ist, das Authentische ihrer Arbeiten zu betonen, also jedwede Zusammenarbeit mit Schauspielern abzulehnen. So Claire Doherty über Dolven in Batchelor (2001), S. 52. Die Kunsthistorikerin Marilyn Aronberg lavin assoziierte das Werk Still Life, das ich Ende 2006 im Rahmen einer ersten Diskussion über diese und andere zeitgenössische Werke in der Art-History-Gruppe am IAS, Princeton, vorstellte, mit dem Folterskandal, der in dem Gefängnis Abu Ghraib in der Nähe von Bagdad stattgefunden hatte. 2006 waren weitere Videos und Fotografien von gefolterten Gefangenen an die öffentlichkeit gelangt, nachdem erstmals 2004 über die intern schon früher bekannten Vorfälle berichtet worden war. Folter als Kontext des Stilllebens mag zunächst abwegig erscheinen, trifft aber die Tatsache, dass die Tulpe wie hilflos den Aktionen des Malakts ausgesetzt ist. Die grelle rote Farbe, die unter der pastosen weissen Farbschicht liegt, mag Assoziationen von Haut, Enthäutung und Entblössung, aber auch von der erstickenden Qualität der Farbe sowie den Eindruck des Ungeschützten evozieren, während der Betrachter dem (hilflos) zusehen muss. Diese BildBetrachter-Relation mag dazu beigetragen haben, dass lavin ihre zeitgenössische Erfahrung auf Dolvens Werk projizieren konnte.

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Claire Doherty über Dolven in Batchelor (2001), S. 50. Vgl. Anne Katrine Dolven, Warmth, 1999, Video (DVD) auf lCD Bildschirm, 10 × 15 cm, präsentiert im Fussboden oder auf Wandbrett, Oslo, Privatsammlung; siehe ebd. S. 52f. Claire Doherty über Dolven in Batchelor (2001), S. 54. Besonders die Stillleben Goyas sind mit einer Aktivierung von Mitgefühl, wenn nicht Mitleid verknüpft, was durch den Rückgriff auf die christliche Ikonografie forciert wird. Vgl. Vischer (2005), S. 116f. So Martin Roth in seinem Grusswort zum Ausstellungskatalog Tulpomanie. Die Tulpe in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, siehe Goes (2004), S. 5. Siehe dazu ausführlich Segal (2004), hier S. 33. Vgl. die Darstellung einer roten, nicht gebrochenen Tulipa spec. von Conrad Gesner, 1557, Erlangen, Universitätsbibliothek. Siehe ebd., Kat. Nr. 32, S. 140. Vgl. Daston (2011); Daston et al. (2011). In ihrer Einleitung Observation observed legen Daston und lunbeck »Beobachtung« als historische und epistemische Kategorie entlang der Geschichte des Experiments dar. Bis ca. 1820 wurden Beobachtung und Experiment als gleichwertige Praktiken in einem gemeinsamen Prozess der Wissensgenerierung verstanden, während sich die Wege gewissermassen trennten, als »observation« für passiv, registrierend, »experiment« hingegen für aktiv gehalten wurde (vgl. ebd., S. 3f.). Die beobachtende, experimentierende künstlerische Tätigkeit, die die hier zu untersuchenden zeitgenössischen Werke ausmacht, wäre demnach eher mit dem älteren Modell der Wissenschaftsgeschichte zu vergleichen. Blank et al. (2004), S. 119. Die sogenannten abstrakten Arbeiten sind zuerst 1998 veröffentlicht worden (Parkett Edition 1993–1998). Siehe dazu Zdenek (2001). Vgl. Tillmans’ Xerox-Bilder, die er zuerst im Hamburger Café Gnosa ausgestellt hat, sowie seine Tintenstrahldrucke.

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Vgl. Deitcher (1995). Siehe unter anderem folgende Interviews und Gespräche: McCormick et al. (1998); Kernan et al. (2001); Blank et al. (2004); Genzken et al. (2005); Eichler et al. (2008). Beispielhaft ist das Interview mit Carlo McCormick, zumal Tillmans seine Darlegungen häufig wortgetreu wiederholt. Darin geht Tillmans die Problematik, dass ihm einerseits Authentizität aufgrund biografischer Zusammenhänge attestiert wird und er andererseits selbst den Eindruck von Authentizität erwecken will, von immer neuen Seiten und mit verschiedenen Formulierungen an. Dabei wird deutlich, dass er keineswegs auf die biografische Situation als historischen Fixpunkt eines Bildes verzichtet, aber auch nicht im Sinne einer Sozialgeschichte des Künstlers interpretiert und festgelegt werden will: »[Man hat mir, B. G.] meine Fiktion als Authentizität abgekauft […]. Als Fiktion oder als Realität oder als Unbestimmtheit, wo man nicht weiß, was nun Fiktion und was Reportage ist. Mir kommt es darauf an, daß man mir meine Ästhetik als gültig abnimmt, und am gültigsten ist, was für real genommen wird. Darum lasse ich mein licht, meine Farben und Situationen so aussehen, als stünde sehr wenig zwischen mir und meinem Sujet.« (Ebd., S. 48) Oder: »Die Installationen sind eine Art psychologische landkarte meines aktuellen Zustands, […] Sie handeln nicht von meinem Privatleben. Auch wenn sie sehr persönlichen Erfahrungen und Situationen entspringen, versuche ich, darauf zu achten, daß sie einen sehr emblematischen Charakter bekommen. Ich will in den Fotos gewöhnlich nicht auf mich selber hinweisen. […] Es sollte etwas Allgemeineres sein. Weil man Fotografie als authentisch ansieht, will man wissen, was die Geschichte ist. Sobald der Betrachter ein Gesicht erkennt, versucht er sofort eine Verbindung herzustellen.« (Ebd., S. 51f.) Diese reflektierten Gratwanderungen haben zum Erfolg Tillmans’ beigetragen, zu dem seine Popularität ebenso gehört wie die Tatsache, dass er in namhaften Kunstmuseen vertreten ist und mit seinem Werk Eingang in den kunsthistorischen und

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kunstwissenschaftlichen Diskurs gefunden hat, wie die Busch-Reisinger-Museum-lecture mit Wolfgang Tillmans, eingeführt von Benjamin Buchloh, am 3. März 2011 belegt. Tillmans ist damit zu den »important speakers on topics of central and northern European art« aufgestiegen, die in dieser Vortragsreihe sprechen. Siehe Harvard Art Museum, Busch-Reisinger Museum Lecture. Wolfgang Tillmans, 2. März 2011, auf: http://www.harvardart museums.org/calendar/detail.dot?id=33685 (28.09.2011). Pack (2008), S. 13. Vgl. McCormick et al. (1998), S. 50. Vgl. Tillmans: »[…] wir sind durch die Kunstgeschichte geprägt. Wenn man sich meine Ausstellung anschaut, lassen sich diese historischen Muster zweifellos entdecken. Das gefällt mir irgendwie, da es doch außerhalb dieses Raums keine Kultur gibt. Dieses Beziehungsgefüge ist das erste Kriterium des Bildes.« Vgl. die kurze, aber erhellende Passage in Brown (2003), S. 8f. Siehe Starl (2004), hier S. 6–12. Die frühe Fotografie hat sich neben ihren häufig in der Forschung wenig beachteten Ambitionen, sich auch als künstlerisches Medium zu etablieren, vor allem als wissenschaftliches Medium installieren und legitimieren wollen. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Selbsterforschung des Mediums anhand stilllebenartiger Arrangements, wie Starl ausführt. Der Bezug der frühen Fotografie auf die holländische bildende Kunst, die mehr als jede andere den Alltagsund Naturgegenstand aus verschiedenen historischen Beweggründen favorisierte, ist auffällig: Die Fotografie will die kunsthistorisch nobilitierte, vermeintliche Wirklichkeitsdarstellung beerben, die emblematischen Charakter hat oder beansprucht; umgekehrt wird das Alltägliche bildgestalterisch durch die Fotografie neuen Blickweisen ausgesetzt.

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Siehe Pack (2008), S. 11–23, zu einem historischen Abriss über die ›Ding-Fotografie‹ im 20. Jahrhundert. Vgl. unter anderem McCormick et al. (1998), S. 49, und Kernan et al. (2001), S. 7f. Siehe auch Wolfgang Tillmans, Summer Still Life, 1995, auf dem Buchcover. Vgl. Verzotti (2001), hier S. 14: »Vielleicht lässt mich die Fotografie eine ebenso selbstverständliche wie absolute Schönheit gewahr werden, die mir gewöhnlich kaum auffällt?« Vgl. McCormick et al. (1998), S. 50, zu Tillmans’ Anspruch, ›neue‹ Bilder gestalten zu wollen. Zu Hooke vgl. unter anderem Chapman (2005), Hunter et al. (1989), Purrington (2009) sowie Bredekamp et al. (2006). Siehe zum wissenschaftshistorischen Kontext Wilder (2011), S. 349–68, hier S. 351: »Visualizing with photography is not some kind of mechanical observation akin to the mechanical objectivity so ably defined by Daston and Galison. Since cameras, lenses, emulsions, and other photographic equipment register images that lie so far outside the scope of the human senses, it is also never merely a matter of making visible the previously invisible. To make a thing visible to the unaided human eye out of objects too small, too large, too fast, too slow, and too far outside the spectrum of human vision is only the precondition for observation, and dozens of small decisions go into the process of giving these ephemeral phenomena form.« Vgl. zum Beispiel William Henry Fox Talbot, The Ladder, 1843, Abb. 15, S. 11, in Starl (2004). Horizontalen und Vertikalen setzt Talbot so ein, dass die Bildkompartimente zueinander in eine vergleichende Beziehung geraten. Die gewachsene Natur wird, wie Starl erhellend darlegt, in eine rasterartige Struktur überführt. Eben das macht die Fotografien eher zu Ding-Bildern: »Without things, we would stop talking.« Siehe Daston (2004), hier S. 9. Zdenek (2001), S. 7. Ebd., S. 8

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Vgl. louis Jacques Mandé Daguerre, Ohne Titel, 1837/1839, Abb. 9 in Starl (2004). Daguerres Bild zeigt eine weitgehend geordnete Sammlung von Fossilien in einem Regal. Hier wird, trotz des Eindrucks eines Sammelsuriums, der positivistische Zugang zu den Dingen und Objekten der Natur schon allein durch die Anordung im Bild deutlich. Tillmans hingegen geht hinter diesen Status des ordnenden Blicks zurück. Der Maler, Geologe und Paläontologe Agostino Scilla zählt zu den frühneuzeitlichen Forschern, die, wie Robert Hooke und John Ray, einem modernen Naturverständnis auf der Grundlage morphologischer Beschreibungen auf der Spur waren. Vgl. Schmeisser (2010). Die Kartoffel in der Kunst kann spätestens seit van Goghs Die Kartoffelesser (1885) nicht mehr jenseits kunsttheoretischer Implikationen gesehen werden. Die Darstellung der Kartoffel hat seither immer auch mit einer Kunst zu tun, die ihre Betrachter angeht, die gebraucht wird, die zeitgemäss ist, was Jörg Immendorff mit dem Slogan »Die Kunst muss uns zur Kartoffel werden« auf den Punkt zu bringen versuchte, siehe Immendorff et al. (2005). Tillmans’ omnipräsente Interviews sind ein Teil seiner künstlerischen Arbeit und legendenbildung wie auch ein subjektiver Theoriekommentar zu seiner Arbeit, der auch als Widerstand gegen den exegetischen Impetus der Kunstkritik zu verstehen ist. Dolven und Kneffel äussern sich ähnlich prononciert, aber sie wenden das Interview nicht so systematisch an wie Tillmans. Vgl. McCormick et al. (1998), S. 49. Tillmans: »[…] ich glaube nicht an die Verschmelzung von Kunst und Kommerz oder Kunst und Mode. […] Ich glaube nicht, daß dieses ganze Zeug in den Modemagazinen Kunst ist. Es ist Mode, Kleidung, Make-up, Styling und sollte Geltung auf diesem Gebiet beanspruchen, statt Kunst sein zu wollen.«

IM ZEICHEN DER KUNST. ZEITGENöSSISCHE STIlllEBEN VON ANNE KATRINE DOlVEN, WOlFGANG TIllMANS, KARIN KNEFFEl

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Vgl. Dolce Vita. l’ispirazione italiana, Fotos: Angie Gassner und Thomas Mailer. Madame, 2, 2011, S. 143ff. Vgl. zu Bretschneider Tebbe (2000); Nicholls (2006), Kap. 3.1. Schreiber (2010), S. 102. Vgl. zum Werk von Kneffel unter anderem Schreiber (2010) mit weiterführender literatur sowie Karin Kneffel. Texte zur Kunst. Edition Heft Nr. 31. Texte zur Kunst. Zur Erinnerung an Stefan Germer, 8, 31, 1998, S. 146f. Bippus (2003), S. 51. Das Gemälde gehört zu einer Werkreihe, in der sich Kneffel mit der nahsichtigen Isolierung und Monumentalisierung von Trauben und Pflaumen beschäftigt. In ähnlicher Weise hat sie Kirschen, Pfirsiche und Äpfel als Sujets gewählt. Vgl. Schreiber (2010), Nr. 31, 32, 33, 42, 49, 50, 51. Vgl. auch ihre Stillleben in leccese (2003), S. 12 und S. 48f. Vgl. Stephan Bergs Formulierung: »Zum einen verweist die makellose Textur der gemalten Früchte auf ihre Herkunft aus den Genlaboren der landwirtschaft. Zum anderen strahlt auch die Malerei selbst eine komplex getunte, hochgezüchtete Oberflächenaura aus, die jeden Versuch, in sie einzudringen, an ihrem makellosen Malereipanzer abprallen lässt.« Schreiber (2010), S. 12. Siehe Ebert-Schifferer (2002), hier S. 19–21. Klaus Gerrit Friese weist auf den konventionellen Aspekt der mit dem Stillleben verbundenen Topoi hin: »Man hat gelernt, in der Schönheit der Trauben und der Hummer und der anderen Dinge auch ihre Vergänglichkeit zu sehen, weil es durch den Totenschädel, die Sanduhr nebendran, so idiotensicher vorgedacht war.« Schreiber (2010), S. 35. Das Vorgedachte, die ausserbildliche Denkleistung, die als Erklärung auf das Bild angewendet wird, bleibt auch Kneffel zutiefst suspekt, die sich im Interview mit D. J. Schreiber fast enerviert von seinen Versuchen zeigt, ihre Arbeit in Analogie mit philosophischen Positionen zu setzen, was ihm fast zum Namedropping gerät.

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Vgl. Westheider (2010), Kat. Nr. 13, Katalogbeitrag von Robert Felfe. Vgl. Ebert-Schifferer (2002), Kat. Nr. 5, Katalogbeitrag von Franklin Kelly. Vgl. Sander (2008), Kat. Nr. 71, S. 256. Schreiber (2010), Nr. 7, 8, 9, 10, 13, 41. Karin Kneffel, Tierporträts, 1991–1996, öl auf leinwand, Ensemble aus 300 Tieren, je 20 × 20 cm. Siehe Schreiber (2010), S. 128. Ebd., S. 100. Vgl. Beitrag von Werner Busch in diesem Band, Abb. 5. Sander (2008), S. 62. Vgl. ebd. S. 60–63. Schreiber (2010), S. 102. Danto (2000), S. 54: »Es gibt ein transhistorisches Wesen der Kunst, das überall und immer dasselbe ist, sich jedoch allein durch die Geschichte offenbart. […] Was meiner Ansicht nach nicht haltbar ist, ist die Identifizierung dieses Wesens mit einem bestimmten Kunststil – monochrom, abstrakt oder was immer –, was impliziert, daß alle anderen Stilrichtungen falsch sind. Dies führt nämlich zu einer ahistorischen Auffasssung der Kunstgeschichte, in der alle Kunst dem Wesen nach gleich ist – […].«

BETTINA GOCKEl

Englische Abstracts und Hinweise zu den Autoren

On the Connection between Still-Life Painting and Epistemology in Early Modern Age Norbert Schneider

On the premise that a change in aesthetic models of perception is determined by impulses of social reality, this essay investigates which socio-economic stimuli account for the interest of the still-life genre in things – rather than in human acts. The increasing ostension of objects in Netherlandish still-life of the 16th and 17th centuries derives from the transition from the economic crisis of the late Middle Ages to a secular phase of growth and early capitalistic market conditions of the modern age. Goods and wares as universal objects of bartering became the constitutive factor of economic and social relations – and so, according to Georg lukács, establishing a culture of “reification”. There is evidence of a significant change in the representation of objects over time: Whereas in the beginning the aim was to achieve a suggestion of ontic stability, there later followed a tendency to depict things as immaterialised. This new artistic quality indicates a reflection of refined visual awareness. The author sees in this process an analogy to the development of epistemological philosophy, which redefines the status of things with the change in terminology from the scholastic ens to the ‘reifed’ res. Similarly, the view that emotion affects the process of knowledge is mirrored in painting through its treatment of the theme of the five senses. The optical illusions of trompe l’oeils correspond to the empirical approach of challenging the validity of knowledge. And so we find in the two objectivation systems of painting and philosophy a parallel stimulated by radical economic processes of transformation, from

which issues of autonomous quality have emerged in both disciplines. Norbert Schneider ist emeritierter Professor am Institut für Kunstgeschichte der Universität Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen vorwiegend die europäische Malerei des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext sowie Theorie und Geschichte der Ästhetik.

ON THE CONNECTION BETWEEN STIll-lIFE PAINTING AND EPISTEMOlOGY IN EARlY MODERN AGE

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The Thought of Painting: Still Life as a Philosophical Genre Hanneke Grootenboer

Still life in early modern times characterises the tension between a visually illusive presentation of depicted materiality and an emphasis on the picture beyond an Albertian ‘window’ perspective. In that sense still life has the potential to reveal its fundamental pictorial concepts meta-reflexively and experimentally. Trompe l’oeil plays a particular role in that it directs the gaze of the observer directly on to the picture’s surface through the experience of the greatest possible illusion. Departing from the thesis of Jean-luc Nancy that the evolution of philosophical models of thought from ontology to phenomenology marks the development into the European modern age, the author discusses the extent to which the shift in thinking determined by this process – from the pictures as illusion to truth as image – is dealt with prismatically in the trompe l’oeils. Trompe l’oeil paintings of the 17th century, for instance those by Cornelis Gijsbrechts and Samuel van Hoogstraten, may on the one hand appear to be purely illusionist. However, on the other hand, since their illusionism is not based on the traditional modes of realistic painting – such as narrativity or depth of perspective – they make the conditions of their own modalities of representation and human visual senses all the more visible. In the sense of Maurice Merleau-Ponty’s phenomenology of perception, according to which painting can point to the duality of seeing and being seen and the associated conditioning of observation, the author sees in Gijsbrechts’ ‘anti-picture’ of a reversed canvas THE THOUGHT OF PAINTING: STIll lIFE AS A PHIlOSOPHICAl GENRE

a reflection on the limits of our powers of seeing, which is partly determined by the medium of the image: The observer comes to realise that he sees in accordance with the picture rather than he himself actually seeing the picture itself. Hanneke Grootenboer ist University lecturer in Kunstgeschichte und Fellow am St Peter’s College der Universität Oxford. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die Wechselbeziehungen zwischen Malerei und Philosophie der Frühen Neuzeit, insbesondere im Kontext von Wahrnehmungstheorien und Modalitäten des Sehens. In ihrem derzeitigen Forschungsprojekt »The Pensive Image« beschäftigt sie sich mit dem Denken in Bildern.

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Flower Still-Lifes between Mimetic Images of Nature, Meta Painting and the Antialbertian Image Concept: From the Madonna in the Floral Wreath by Brueghel the Elder to Cartouche Still-Lifes by Daniel Seghers and His Circle Elisabeth Oy-Marra

As a sub-genre of still-life painting, which itself is not held in high esteem in the traditional hierarchy of painting genres, floral still-life painting has been regarded primarily as decorative representation of elements of nature ever since the 17th century. low estimation of this seemingly non-narrative, purely figurative representation of flowers stands in contrast to the increasing importance of the scholarly observation of nature as was reflected in the rise of botanical illustrations. Ultimately, though, both botanical illustrations and floral still-lifes can be linked in early modern times to the rise of botany as a science, to highly developed horticulture and the associated interest in flora on the part of collectors. Many painters were dependent for their compositions on visiting the flowers in highly specialised gardens or consulting the numerous florilegiums that gained popularity from the end of the 16th century onwards. As with botanical representations, floral still-lifes were able to open up a spectrum of the dissective study of nature and the classifying order of knowledge. They were frequently meant to present a collection of rare and precious flowers in the foreground of the picture: Such an arrangement of entirely diverse flowers, which in reality blossomed at different times, contradicts the idea that an ‘authentic’ vase of flowers was transferred directly on to the picture for decorative purposes. Taking these considerations as the point of departure, the author examines in her essay the pictorially conceptual status attributed to floral still-lifes in early modern times. Rather than investigating floral

still-lifes merely as a theoretical sub-genre distinct from the higher ranking status of genres such as history painting, she focuses on a perspective that examines the actual discourse in 16th and 17th century of imitare versus ritrarre – a reflected imitation of nature. As the author demonstrates, floral still-life – by distinguishing itself through its dissective observation of nature on the one hand and selective process of composition on the other – encourages the principle of reflected imitation in the mode of faithful reproduction. It is particularly in the special forms such as floral wreaths and cartouche still-lifes, in which floral still-life appears as a kind of picture within the picture, that the specific potential of this genre in pictorially conceptual terms is revealed. Using various examples, the author discusses how this mixture of forms confronts leon Battista Alberti’s traditional concept of the picture as a window with a countermodel. In contrast to the embedded vedutas, religious or mythological representations that lead the viewer’s gaze into another world very different to reality, the accompanying flower arrangements indicate the presence of the painted surface by appearing to overcome the visual boundary to the viewer. Elisabeth Oy-Marra ist Professorin für Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Forschungsgebieten gehören Malerei, Skulptur und Kunstliteratur der Frühen Neuzeit, vornehmlich die Kunst Italiens und Frankreichs mit dem Fokus auf Kunsttransfer, politische Repräsentation und das Verhältnis von Kunst- und Wissensgeschichte.

FlOWER STIll-lIFES BETWEEN MIMETIC IMAGES OF NATURE, META PAINTING AND THE ANTIAlBERTIAN IMAGE CONCEPT

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Rembrandt’s Shell – Imitation of Nature? A Didactic Piece Werner Busch

Rembrandt’s so-called Shell of 1650 is an unusual etching in its representational reduction – at least for the painter – and has been the subject of many different interpretations. What is it meant to be? Possibly a natural science illustration, in view of its precise representation? A demonstrational piece of artistic-aesthetic mastery? Or does the picture point to some dimension far beyond – to other spheres with perhaps religious or moral connotations? This essay aims to outline the different perspectives; it enquires into their cultural-historical justification yet recognises the methodological problem of arriving at a definitive conclusion, given the undetermined nature of the etching. The few graphical symbols it offers do not facilitate a convincing reading of the picture. Underlying this is the general problem for art historians of achieving a synopsis of culturalhistorical conditionality of the depicted object and its aesthetic image in their interpretation. Werner Busch ist emeritierter Professor am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsinteressen gehören vor allem die Malerei und die grafischen Künste des europäischen 18. und 19. Jahrhunderts, Schwerpunkte sind das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaften sowie Kunsttheorie und Gattungsgeschichte.

REMBRANDT’S SHELL – IMITATION OF NATURE?

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The Shell as Symbolic Form, or: How Rembrandt’s Conus marmoreus came to Oxford Karin leonhard

In the Baroque period the shell assumed basal status in the natural history theories of creation. However, the debate changed radically in the course of the 17th century: The older conception of form and matter, which natural philosophy regarded as the basis of cosmology up to 1600, was replaced by a new, physical view of creation within a priori categories of time and space. Though conchylia as models of cosmology continued to be the subject of debate throughout the entire century, the interpretations of the genesis of mollusca changed fundamentally – and with it evaluations of how the snail shell was formed. Rembrandt produced his Conus marmoreus in 1650, at a time when the paradigm was shifting from older ideas of creativity, which saw shells as games of nature (ludi naturae), to the time and space oriented explanations of the modern life sciences. It was, as the author will demonstrate, deliberately used to establish the new model of creation based on time and space: a hitherto unknown copy of Rembrandt’s etching is to be found in a conchological sketch book of the English naturalist and physician Martin lister. It served him as a model for an illustration in his Historia Conchyliorum, an early publication on shells of the Baroque period. In it, Rembrandt’s shell is ‘corrected’. This is because Rembrandt’s print process had created a back-to-front impression showing the whorl of the cone as anti-clockwise, something the scientist considered taxonomically false. What the 17th century discovered was the empirical – and by no means logical – fact that biological nature had preferred dextral ‘tendencies’. This

discovery dynamised manifestations of nature, to which phases of growth and genetic programmes were then attributed. In 1768, precisely as a result of this discovery, Kant wrote his paper Vom ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raum (On the Differentiation of Directions in Space) which he based on an a priori conception of time and space. The Baroque period recognised the necessary directionality of dynamic movements, and so the shell rose to become the epochal symbol. Karin leonhard ist Forschungsmitglied der Research Group Art and Knowledge in Pre-Modern Europe am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts im Kontext zeitgenössischer Wahrnehmungstheorien sowie generell das Beziehungsgeflecht zwischen Kunsttheorie und Naturphilosophie der Frühen Neuzeit.

THE SHEll AS SYMBOlIC FORM, OR: HOW REMBRANDT’S CONUS MARMOREUS CAME TO OXFORD

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Picturing the Inaccessible: Gazing Under the Earth’s Surface Between Empiricism and Speculation Susanne B. Keller

Empirical examinations of the subterranean world – in the sense of a direct observation of nature, carried out ‘on the spot’ and with one’s own eyes – are feasible only to a very limited extent. Our idea of the appearance, configuration and composition of the underground is based on an intellectual synopsis of extremely fragmentary insights. It depends largely on the results of scientific speculation and deductive conclusion. Nonetheless, visual representations have played a fundamental role in the production of knowledge of the earth’s interior and the underground. Yet, the translation of the fragmentary knowledge of the subterranean world into images required the development of specific strategies of visualization. In this article, the author examines selected examples of graphical illustrations of subterranean structures and spaces from the 16th to 18th century with regard to the processes of their creation and reception. From the 18th century onwards, geological sections of the underground were for the most part based on mining experience. In illustrated scientific treatises effective interaction of words and images was often central to communicating the respective ideas of underground features convincingly. By paying close attention to the pictures themselves, the author investigates how the relationship between the empirically observable surface and the largely invisible underground found visual expression.

Susanne B. Keller studierte Kunstgeschichte, literaturwissenschaft, Geschichte und Anglistik in Stuttgart und Hamburg. 2005/2006 war sie Postdoctoral Research Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Forschung, Publikationen und Ausstellungstätigkeit u. a. zur Kunst- und Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts und zur Zeit der Aufklärung in Europa.

PICTURING THE INACCESSIBlE: GAZING UNDER THE EARTH’S SURFACE BETWEEN EMPIRICISM AND SPECUlATION

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Still-Life. Translating Nature into a Picture Friedrich Weltzien

In academic circles around 1800, the genre of stilllife was held in very low esteem. However, its status rose with the advent of the life sciences, which made increasing use of the conventions of still-life. The need of these young sciences to illustrate their findings corresponded to the ability of still-life depictions to capture life’s processes pictorially on a medial, representational and epistemic level. A particularly illustrative case in point is to be found in the autopoietic mechanisms, by which nature manifests itself visually ‘of its own accord’. The results of such a systematised process – producing structured figures from dust through the discharge of voltage – were first recorded and published by the physicist Georg Christoph lichtenberg. This led the landscape draftsman Christoph Nathe to explore the artistic dimensions of this phenomenon in a singular production of images. In doing so, he placed ‘electric pictures’ in the context of art. Although these abstract still-lifes could not be considered artistic creations in academic terms, the author makes the case – based on two contemporary thinkers – that they most certainly satisfied the aesthetic taste of that time. The autogenesis of the pictures corresponds to the August Wilhelm Schlegel’s theory of art, according to which the imitation of the productive principles of nature gives rise to “live” art. Kant’s Critique of the Aesthetic Power of Judgement (Kritik der ästhetischen Urteilskraft) regards the “wild, random beauty” of natural phenomena as more stimulating in the long term than the “rigidly regular”. In keeping with this view, creation is STIll-lIFE. TRANSlATING NATURE INTO A PICTURE

according to its own rules not simply the mechanics of nature but a quality on par with the power of human imagination. Friedrich Weltzien ist Gastprofessor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee für Theorie und Geschichte der Kunst. Er forscht zu künstlerischen Schaffensprozessen, zur Kunsttheorie sowie zum Verhältnis von Natur und Kunst im 19. und 20. Jahrhundert.

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Paradisial Alternatives. Rosa Bonheur’s “Living Animal Inventory” Petra lange-Berndt

In aesthetic as well as academic discourses, animal painting was held in low esteem. Consequently, fauna appeared frequently as no more than embellishment or as medium for religious, mythological or political symbolism. During the Enlightenment era, industrialisation and the advance of biological sciences such as zoology shifted the focus and animals became an independent subject of artistic work. The emerging art animalier of the nineteenth century established this area as an independent pictorial theme and propagated fieldwork and the utopia of direct contact with nature. Within this genre, the French artist Rosa Bonheur holds a special place. Ranking as the most famous and commercially successful woman animalier, she challenged traditions. Bonheur produced detailed studies of wildlife, which, following the precision of scientific representations, were based on her travels, observations in zoological institutions, the circus or markets. However, research up till now mainly focused on the artist‘s unconventional lifestyle and attendant revision of the social order of her time: Bonheur – educated in accordance with the early Socialist teachings of the Saint-Simonianist movement – located her sexual identity between androgynity and proto-lesbianism. This essay links these observations to an analysis of Bonheur’s day-to-day art production and emphasises the central role of her extensive collection of living animals for her alternative way of life. Indeed, it was only through keeping a menagerie that she was able to present herself as commander of nature, including her own, a role that enabled her to break with bourgeois conventions of sexuality and artistdom.

By analysing Bonheur‘s life and work on an estate in By, situated on the edge of the forest of Fontainebleau, it is possible to place her collection of animals and the accompanying mass-production of images of peaceful nature in relation to the artist’s self-staging. From 1860 onwards, parallel to the popularisation of Darwinist theories, this production of an alternative ‘paradise’ went hand-in-hand with a vehement control of animal life: In order to condense her menagerie into a model of nature and to reinforce the exemplary naturalness of her collection, the artist was interested in exercising both gentle domestication and forceful discipline. As the author points out from a portrait of Bonheur, which shows her in front of an easel, there is a comparable subjugation of nature especially in her studio. Unlike her previous workplaces in Paris, this cult-like room of metamorphosis accommodated not living animals but almost exclusively taxidermied bodies – death as the prerequisite for images of a harmonious nature, untouched by the chaos of evolution. Bonheur actively shaped nature through her collection of animals as well as her art production while, at the same time, the stilled lifes of taxidermy, which held an ambivalent status in art theory at that time, call into question the success of this process. Petra lange-Berndt ist lecturer/Assistant Professor für Kunstgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts am Department of History of Art, University College london. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören das Verhältnis von moderner Kunst und den Naturwissenschaften, Animal Studies sowie die Beschäftigung mit Künstlerhäusern und -kommunen seit den 1970er-Jahren.

PARADISIAl AlTERNATIVES. ROSA BONHEUR’S “lIVING ANIMAl INVENTORY”

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Still-Life Living on in the Moving Image Monika Wagner

Paradoxically – and contrary to its definition – stilllife has always existed in a state of productive tension to the living image. As the author shows, the suggestion of life – under the auspices particular to the epochs in question – remains to this day a constant feature of the genre. The new medial possibilities of film allow a “reanimation” of the objects captured on canvas and give rise to a transformation of the genre. Taking three works as examples, this analysis demonstrates how temporality has again become the topic of discussion in still-life through the means of film. Pia Maria Martin’s time-lapse films of traditional objects of still-life are the first example. With the aid of framed screens her works register the element of optical illusionism on a meta-level over the presentational forms of painting. Rather than in material imitation the objects are shown in their procedural transformation. Interruptions to the linear sequence of the films point to the way time can be manipulated in the technical media. Mona Hatoum’s installation Deep Throat, a retranslation of still-life into three-dimensionality, is made up of a video projection of endoscopic images of the alimentary canal, framed by a plate on a laid table. This way, traditional reflection on the relationship between physical and spiritual nourishment in still-life attains a new degree of reality. Furthermore, the unidentifiable interior views suspend our awareness of a structured time sequence. Peter Greenaway’s movie The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover addresses the aesthetics of STIll-lIFE lIVING ON IN THE MOVING IMAGE

still-life, in particular of kitchen pieces, and has them function – subject as they are to permanent transformation through consumption and decomposition – as time measurements of transience. Overall it becomes clear that the notion of vanitas, which is inscribed in the genre of still-life, manifests itself in contemporary art as dissolution of form, which for its part is captured on camera in the film recordings. And though the process of decomposition supplants the moment frozen in time and the genre reaches its limits, it nevertheless retains its potential. Monika Wagner ist emeritierte Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Malerei des 18. bis 20. Jahrhunderts, die Geschichte und Theorie der Wahrnehmung sowie die Bedeutung des Materials in der Kunst, speziell des 20. Jahrhunderts.

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Under the Sign of Art. Contemporary Still-Lifes by Anne Katrine Dolven, Wolfgang Tillmans, Karin Kneffel Bettina Gockel

The traditional genre of still-life painting continues to challenge contemporary artists working in a variety of mediums. This essay examines how their work legitimates, actualizes, and sometimes even parodies this type of painting. An analysis of artworks by Anne Katrine Dolven, Wolfgang Tillmans, and Karin Kneffel reveals that for them it is the process of pictorializing an actual object, rather than its commodity aspect or aesthetic appeal, that counts. All three artists address the relationship of art to photographed, filmed, or remembered images. Their still lifes engender an increased awareness of how pictorial images construct reality and shape individual experience, conferring on them an almost unprecedented status. Dolven’s nine-minute reverse-running looped video Still Life juxtaposes the mediums of film and paint in order to critically and fundamentally question their authenticity. The video accomplishes this by turning upside down the process of building up an image with oil paint. In it a paintbrush carefully strips away white color from a red tulip, causing it to lose its haptic and plastic qualities. Reduced to a flat, immaterial thing, this “tulip” refuses to obey the rules of classical still-life painting: the production of illusionary space and of seemingly tangible objects. The video instead yields an animated picture of a motif infused with new vitality, one which had all but been absorbed by various consumptive processes. At first glance, many of the works of Wolfgang Tillmans are reminiscent of different kinds of stilllife arrangements. Brilliantly colored and exquisitely detailed in their rendering, these images captivate

their beholder’s eye. By making use of the technical means and editing possibilities afforded by photographic practices, Tillmans proceeds as though he were a master painter. On second glance, however, what at first seemed aesthetically pleasing—closeup shots of details extracted from various social milieus—turns out to be infused with ugliness and decay. Far from purely biographical or merely documentary, such images attain a degree of pictorial depth that reveals the complexity of their social and political underpinnings. Particularly in the 1990s, Tillmans increasingly focused on ways to create images that are like still lifes. These pictures demonstrate not just how closely aesthetic perception and socially conditioned images are intertwined, but also how useful a “still life” can be in breaking down precisely such relations. Tillmans’s use of both sharp and relatively blurred images, objectively or subjectively disclosed, will be closely analyzed in my comparison of them with works of art and scientific illustrations from the early modern age. Whereas Dolven and Tillmans use film and photographic practice to broach one of the shared themes of their work—the authenticity and historicity of images—Kneffel takes the opposite approach. She makes paintings that are so highly charged with media-like effects that they begin to resemble digital images or even movies. To achieve this effect she uses self-made and/or found photographs and applies angles of vision in rendering them in paint that are inherent to the mediums of film and photography. The resulting highly precise representational

UNDER THE SIGN OF ART. CONTEMPORARY STIll-lIFES BY ANNE KATRINE DOlVEN, WOlFGANG TIllMANS, KARIN KNEFFEl

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images betray an admiration of sophisticated technical methods. This approach and her choice of images and their subsequent monumentalization via large formats ultimately call for reflection on the mimetic, deceptive, and illusionary practices of making pictures. like Dolven, Kneffel takes up motifs innate to still-life painting in order to question not just the authority of histories of art, but also the aesthetic and social function of a particular image and how it is perceived by members of society today. Anything but a formalistic self-reflexive experiment, the still lifes of Dolven, Tillmans, and Kneffel never lose their connection to historical and social reality. Moreover, they make the viewer aware of the unfolding of the process by which an artist transforms a live thing into a nature morte. Paradoxically, because the work of all three artists demonstrates that seeing and making visible are insufficient means to reveal the complexities of the cognitive process, it also questions the actual accomplishment of any pictorial image. Only by making the deficit of pictorial images visible—the central theme of all their art—can the work of art become a viable locus for thought and debate.

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Bettina Gockel ist Professorin für Geschichte der bildenden Kunst am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich und leitet die lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft, die bildende Kunst des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts sowie intermediale Aspekte der Bildkünste.

BETTINA GOCKEl

Zurich Studies in the History of Art Georges Bloch Annual, University of Zurich, Institute of Art History, 2011, Special Issue Editor: Wolfgang F. Kersten

Founding Editors Helmut Brinker Wolfgang F. Kersten Honorary Board Members Helmut Brinker Werner Weber (†) Franz Zelger

Editorial Staff Julia Häcki, Miriam Volmert Translation Carol Carl, Ginger A. Diekmann Picture Editors Julia Häcki, Miriam Volmert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschliesslich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. In einigen Fällen konnten die Urheber- und Abdruckrechte der Bildwerke trotz umfangreicher Recherchen nicht ermittelt werden. Bei noch ausstehenden Ansprüchen wird um Mitteilung gebeten. Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005662-3 eISBN 978-3-05-006250-1

Bildnachweis Umschlag Frontseite, v. l. n. r.: 1) Jean-Baptiste Oudry, Hase und Hammelkeule, 1742, öl auf leinwand, 98,2 × 73,4 cm, Cleveland, Cleveland Museum of Art, John l. Severance Fund; 2) Wolfgang Tillmans, Summer Still life, 1995; 3) Bartholomeus Assteyn, Platte Krabbe, Mitte 17. Jh., Gouache, 31,2 × 20,2 cm, Paris, Fondation Custodia, Collection Frits lugt; 4) Sam Taylor-Wood, Still, aus: Still life, 2001, DVD. Abbildungsnachweis: John l. Severance Fund, The Cleveland Museum of Art: Abb. 1; © Wolfgang Tillmans; © Wolfgang Tillmans, Courtesy the artist and Andrea Rosen Gallery, New York: Abb. 2; Fondation Custodia, Collection Frits lugt, Paris: Abb. 3; © Sam Taylor-Wood; © Sam Taylor-Wood, Courtesy White Cube: Abb. 4. Rückseite, v. l. n. r.: 1) Abraham Mignon, Früchtestillleben, 2. Hälfte d. 17. Jh., öl auf Holz, 40 × 32,5 cm, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle; 2) Pieter Aertsen, Fleischerbude, 1551, öl auf Holz, 124 × 169 cm, Uppsala universitets konstsamlingar; 3) René Magritte, Das Portrait, 1935, öl auf leinwand, 73,3 × 50,2 cm, New York, Museum of Modern Art; 4) Georges Achille-Fould, Porträt von Rosa Bonheur in ihrem Atelier, 1893, öl auf leinwand, 91 × 124 cm, Bordeaux, Musée des Beaux-Arts; 5) Wolfgang Tillmans, Pumpkin, Tomato & Pomme Granate, 1995. Abbildungsnachweis: Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe: Abb. 1; Uppsala universitets konstsamlingar: Abb. 2; © Prolitteris Zürich; © 2011. Digital Image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz: Abb. 3; Musée des Beaux-Arts, Bordeaux: Abb. 4; © Wolfgang Tillmans; © Wolfgang Tillmans, Courtesy the artist and Andrea Rosen Gallery, New York: Abb. 5.