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German Pages [274] Year 2020
Lukas Ohly
Dogmatik in biblischer Perspektive
utb 5423
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Prof. Dr. Lukas Ohly lehrt Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Zudem ist er Gemeindepfarrer in Nidderau (Hessen).
Lukas Ohly
Dogmatik in biblischer Perspektive
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
Umschlagabbildung: Angel mit Trompete und Sonnenstrahlen, mammuth, Stock-ID: 482783447, © iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5423 ISBN 978-3-8252-5423-0 (Print) ISBN 978-3-8385-5423-5 (ePDF)
Für meine evangelische Kirchengemeinde in Nidderau-Ostheim und den Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1
Das Ziel dieses Buches
I.
Die Grundlagen, von Gott zu reden
2
Christlich wahrnehmen (Theologie als Wahrnehmungswissenschaft, Heb. 11, 8-10)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3
Warum Menschen von Gott reden (Lk. 1, 68-79)
4
Gefühl für die Wahrheit (Theologische Wahrheitstheorie, Joh. 8, 21-26)
5
27
Die Bibel und Gottes Wort (Das reformatorische Schriftprinzip, 2. Kor. 3, 3-9)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
6
Christus und das Alte Testament (Alter und neuer Bund, Joh. 5, 39-46)
II.
Gottes Wirklichkeit
7
Was ist Gott? (2. Mose 33, 18-23)
8
Gott mit dem menschlichen Gesicht (Trinität)
8.1 8.2
......................................
. 35 39
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Die Treue Gottes im Menschen (Ps. 43) . . . . . . . . . . . . . . . 45 Die Struktur religiöser Rede (Lk. 24,30-31) . . . . . . . . . . . . 48
9
Gottes Allmacht und Güte (Eigenschaften Gottes, Ps. 139, 5-10)
10
Zu Gott beten (Lk. 18,1-8)
11
Wie kann Gott das Böse zulassen? (Das Theodizee-Problem)
.....
53
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 ........
65
8
Inhalt
12
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Orte der Offenbarung (1. Mose 28, 10-19) . . . . . . . . . . . . . 69 Die Rückkehr der Offenbarung (1. Mose 35, 6-15) . . . . . . 72
Gottes Offenbarung
12.1 12.2
.......................................
III.
Gottes Geschöpfe
13
Die Schöpfung und die Entstehung der Welt (1. Mose, 1, 1–3a)
14
Hat Gott einen Plan mit unserem persönlichen Lebensablauf? (Vorsehung Gottes, 2. Sam. 12, 1-10.13-15a)
Christen und Juden – ein erwähltes Volk (Röm. 9, 1-8, 14-16)
16
Engel (Joh. 3,11-16)
17
Der Mensch
17.2 17.3 17.4 17.5 18
. . . . . . . 79
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
15
17.1
77
. . . . . . . . 87
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
.............................................. Der geschaffene Mensch in der geschaffenen Welt (1. Mose 2, 4–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der geborene Mensch (Ps. 139, 13-16) . . . . . . . . . . . . . . . . Der freie Mensch in Zweideutigkeit (1. Mose 3, 1-24) . . . Der liebende Mensch (1. Kor. 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der sterbliche Mensch (Psalm 8, 4-6) . . . . . . . . . . . . . . . . .
95 95 97 102 107 111
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Die Entstehung der Sünde (Ps. 139, 19-24) . . . . . . . . . . . . . 113 Schuld gegenüber verstorbenen Menschen (Lk. 13, 1-5) . 117
Der sündige Mensch
18.1 18.2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
IV.
Jesus Christus
19
Jesus, Gott und Mensch (Zweinaturenlehre, Mt. 4, 1-11)
20
Gott wird geboren (Inkarnation, Joh. 1, 1-18)
21
Die Wunder Jesu
21.1 21.2
. . . . . . . . . . . . 123
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Was ist ein Wunder? (Mt. 14, 13-21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die Heilungen Jesu (Mk. 7, 31-37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Inhalt
22
9
22.1 22.2 23
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der Gekreuzigte als der Ferne (Mk. 14,50. 54.66-72) . . . . . 149 Der Gekreuzigte als der Erhabene (Lk. 23, 23-49) . . . . . . . 153 Der Gekreuzigte als der Mächtige (Mk. 15,37-39) . . . . . . . 156
Gott der Gekreuzigte
23.1 23.2 23.3 24
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Auf das Reich Gottes zeigen (Mt. 4, 12-17) . . . . . . . . . . . . . 141 Die Gleichnisse Jesu (Mt. 22, 1-14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
Die Verkündigung Jesu
. . . . . . . . . . 161 Der Zweifel an den Zeugen (1. Kor. 15, 1-11) . . . . . . . . . . . 161 Ist die Auferstehung Jesu ein historisches Ereignis gewesen? (Das leere Grab, Mt. 28, 1-10) . . . . . . . . . . . . . . . 165 Ein neues Realitätsverständnis (Joh. 20, 11-18) . . . . . . . . . 170 Ist die Auferstehung Jesu naturwissenschaftlich möglich? (Mt. 28, 16-20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Christus der Auferstandene und die menschlichen Zweifel
24.1 24.2 24.3 24.4
25
Die Himmelfahrt Jesu (Apg. 1, 3-4.8-11)
V.
Der Heilige Geist
26
Die andere Nähe Gottes (Jak. 5, 7-8)
27
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
.......................................... Allein Christus (Kol. 2, 3-10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allein durch das Wort (Mk. 13, 31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allein aus Glauben (Treue, Röm. 3,28) . . . . . . . . . . . . . . . . Allein aus Gnade (Heb. 12, 12-18.22-25a) . . . . . . . . . . . . . .
187 190 193 196 200
Der Glaube kommt aus der Predigt – Kontroversen der christlichen Kirchen (Apg. 2, 22-23, 32-33.36-39)
29
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Was „allein“ hilft
27.1 27.2 27.3 27.4 28
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Die Entstehung der Kirche (Apg. 2, 1-18) . . . . . . . . . . . . . . 209 Die Kirche entsteht aus dem Unglauben (Joh. 16, 5-15) . . 212
Die Kirche
29.1 29.2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
10
Inhalt
29.3 29.4 29.5
Die Menschen in der Kirche (Apg. 16, 14-15) . . . . . . . . . . . 215 Das göttliche Amt der Kirche (Lk. 17, 20-24) . . . . . . . . . . . 219 Die Gnadengaben der Kirche (Lk. 16, 1-8) . . . . . . . . . . . . . 222 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
30
Die Sakramente (Mk. 16, 1-8)
31
Die Taufe (Joh. 3, 3. 5. 6. 8. 11. 12)
32
Das Abendmahl (Mt. 26, 20-38)
VI.
Die letzten Dinge
33
Werden Menschen am Ende ihres Lebens für ihre Werke bestraft?
33.1 33.2 34
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
. . . . 241 Das Jüngste Gericht (Mt. 25, 31-46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Wie Gott uns richtet (2. Kor. 5, 17-21) . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Woher können wir etwas vom ewigen Leben wissen? (Joh. 3, 11-13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Wie sieht das Leben nach dem Tod aus? (1. Kor. 15, 35-38.42-44) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
Die Auferstehung der Toten
34.1 34.2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
35
Das Reich Gottes (Lk. 13, 22-27)
36
Der Trost des Christentums (2. Kor. 1, 3-7)
Literaturverzeichnis Register
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
1 Das Ziel dieses Buches Phänomenologie/Phänomen
Die Phänomenologie ist die Lehre von den Phänomenen. Ein Phäno‐ men ist ein erfahrener Gegenstand unter dem Aspekt seines Erschei‐ nens. Vielleicht ist das Fenster, das ich von weitem sehe, nicht geöffnet. Aber wenn es mir so erscheint, dass es offen ist, so ist das geöffnete Fenster ein Phänomen. Die Phänomenologie im Anschluss an Edmund Husserl (1859–1938) entwickelt aus der Untersuchung der Phänomene verlässliche Grund‐ lagen für die Wissenschaften: So ist beispielweise verlässlich und un‐ bezweifelbar, dass ich ein offenes Fenster als einen räumlich ausge‐ dehnten Gegenstand sehe, sogar dann, wenn ich mich darin täusche, dass dem phänomenalen Fenster wirklich ein reales Fenster ent‐ spricht. Das Bedürfnis nach Erklärung ist hoch. Christen wollen wissen, welche Gründe dafür sprechen, dass der christliche Glaube die Wirklichkeit er‐ schließen hilft. Und Nicht-Christen wollen verstehen, warum die vernünf‐ tigen Menschen in ihrem Freundeskreis am christlichen Glauben festhalten. Diesem Interesse zu verstehen dient dieses Buch. Es möchte Vorschläge un‐ terbreiten, wie sich die Einsichten des christlichen Glaubens im Leben und Sterben bewähren. Dazu richtet es sich an Leser, die an religiösen Phäno‐ menen interessiert sind und sich nicht damit zufrieden geben, Religion als esoterische Sonderwelt zu verstehen. Seit über 20 Jahren arbeite ich in Kirchengemeinden als Seelsorger. Etwa genauso lange erforsche ich, zunächst als Doktorand und Habilitand und schließlich als Professor für Systematische Theologie an der Universität Frankfurt die theologischen Bedingungen der menschlichen Existenz. Beide Arbeitsbereiche ergänzen sich. Zum einen helfen sie, schwierige wissen‐ schaftliche Zusammenhänge so zu beschreiben, dass sie auch von NichtWissenschaftlern nachvollzogen werden können. Zum anderen werden die Erlebnisse von Menschen, die mir begegnen, theologisch bedeutsam. Theo‐ logie wird dann nicht eine abgehobene Architektur dogmatischer Lehrsätze,
12
1 Das Ziel dieses Buches
sondern würdigt Lebenserfahrungen. Zum dritten erwachen gerade so theo‐ logisch-wissenschaftliche Erklärungsmodelle zum Leben: Sie werden in der menschlichen Lebenswelt rekonstruiert, der sie – so meine These, die in allen folgenden Kapiteln belegt werden sollen – entstammen. Der christliche Glaube deutet typische Erfahrungen, mit denen Menschen im Laufe ihres Lebens konfrontiert werden. Keine dieser Erfahrung muss man christlich deuten. Aber auch wer es nicht tut, greift dabei auf Deutungskategorien zurück, die eigener Art sind und die der christliche Glaube auf Gott bezieht. Gott wird dabei deshalb zum Deutungsangebot, weil diese Kategorien auf etwas anderes verweisen als auf Gegenstände und Tatsachen dieser Welt. Anders gesagt: Menschen machen Erfahrungen in ihrer Welt, die in gewisser Weise aus der Welt herausführen – weil sie anderer Deutungskategorien bedürfen als weltlicher Gegenstände. Jedes Denken bemüht Modelle. Manche Modelle stellen sich im Lauf der Geschichte als tragbar heraus, andere werden verworfen und durch andere ersetzt. Auch wissenschaftliches Denken ist Modelldenken, wobei es nicht auf seinen Modellen beharrt, die lediglich so lange Geltung verdienen, bis Wissenschaft leistungsstärkere Erklärungs- oder Verstehensangebote ent‐ wickelt hat. Auch die Theologie verwendet ihre Modelle nur als Instrumente zur Lösung von Denk- und Lebensproblemen. Dieses Büchlein verfolgt dabei einen bestimmten, nämlich phänomenologischen Ansatz. Niemand muss dazu vorher wissen, was Phänomenologie ist. Zudem kann man auch anders Theologie betreiben. Hilfreich erscheint mir dieser Ansatz dennoch, weil er hilft, die Phänomene des christlichen Glaubens schärfer zu sehen und sie zugleich gegenüber einem nicht-fachlichen Publikum zu kommunizieren. Genau das ist die Aufgabe aller theologischen Berufe, dass sie in Kirche und Unterricht gemeinsam mit theologischen „Laien“ Modelle entwickeln, um das Leben zu verstehen. Und das zeichnet das christliche Leben überhaupt aus, dass es verstehen will, was es glaubt und was es im Horizont des christ‐ lichen Glaubens erlebt. Das Buch ist nach den Lehrstücken einer evangelischen Dogmatik ange‐ ordnet. Zugleich gehen alle Kapitel jeweils von einem biblischen Text aus, den sie interpretieren. Mit ihrer Interpretation soll gezeigt werden, dass sich die hier vorgeschlagenen Modelle an Bibeltexten belegen lassen. Dabei ver‐ wende ich jedoch nicht für alle Fragestellungen diejenigen Bibelstellen, die man klassisch für sie heranziehen würde. Wenn etwa über das Verhältnis des christlichen Glaubens zum Alten Testament die Rede ist, wird dazu ein Text aus dem Neuen Testament zugrunde gelegt. Der Bibeltext wiederum,
1 Das Ziel dieses Buches
der die Dreieinigkeit Gottes verständlich machen soll, stammt aus dem Alten Testament. Mit solchen scheinbaren Irritationen möchte ich einerseits her‐ vorheben, dass ich biblische Texte selbst als Modelle verstehe, von denen ich solche heranziehe, die mir als besonders geeignet erscheinen, um Denkpro‐ bleme des Glaubens zu lösen. Deshalb werden für manche Sektionen die gleichen Bibeltexte verwendet. Andererseits belegt diese Auswahl auch, dass die Bibel selbst keine einheitliche Theologie vertritt, sondern unterschied‐ liche Modelle präsentiert. Jedes Kapitel steht für sich. Wer auf konkrete Fragen oder Themen aus dem Inhaltsverzeichnis anspricht, kann bedenkenlos zur entsprechenden Stelle springen. Das vorliegende Büchlein kann, muss aber nicht von vorne nach hinten gelesen werden. Sein roter Faden besteht nicht in einer ein‐ heitlichen Argumentationsentwicklung, sondern in meiner Methode, von lebensweltlichen Phänomenen auszugehen und biblische Texte als Verste‐ henshilfen heranzuziehen oder umgekehrt biblische Texte mit Hilfe von Le‐ benserfahrungen zu deuten. Die Bibelübersetzungen halten sich weitgehend an die revidierte Lu‐ ther-Bibel. Allerdings sind sie mit den Grundtexten in hebräischer oder griechischer Sprache verglichen und an einigen Stellen anders übersetzt, um die Pointe des Textes dadurch klarer herauszuheben. Mit diesem vorliegenden Büchlein lade ich die Leserinnen und Leser ein, an der Aufgabe mitzuwirken, religiösen Glauben und nachprüfbare Vernunft in ein konstruktives und lebensnahes Verhältnis zu bringen. Für die vorzügliche Betreuung während Druckphase danke ich Dr. Kris‐ tina Dronsch, Dr. Valeska Lembke und Corina Popp stellvertretend für die Mitarbeiter des Narr Francke Attempto Verlags. Catharina Wellhöfer-Schlü‐ ter hat einmal mehr das Roh-Manuskript kritisch durchgesehen. Für ihre Treue danke ich an dieser Stelle sehr.
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I. Die Grundlagen, von Gott zu reden
2 Christlich wahrnehmen (Theologie als Wahrnehmungswissenschaft, Heb. 11, 8-10) Wahrnehmungswissenschaft
Mit diesem Titel möchte ich diejenigen Entwicklungen der Theologie in den vergangenen Jahrzehnten markieren, die Religion als Erfah‐ rungsdimension oder Reflexion auf eine bestimmte Art menschlicher Wahrnehmungen verstehen. Insbesondere der Ansatz der → Phäno‐ menologie eignet sich für die scheinbare Paradoxie, in sinnlichen Wahrnehmungen Dimensionen mit zu erkennen, die der sinnlichen Wahrnehmung entzogen sind. Theologiegeschichtlich dürfte etwa Friedrich Schleiermachers Beschreibung der Religion als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ diese Grundlegung der Theologie als Wahrnehmungswissenschaft angestoßen haben. Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande und wohnte wie ein Fremder in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die (ihre) Grundsteine (schon) hat, deren Baumeis‐ ter und Schöpfer Gott ist.
Abraham als Vorbild des Glaubens: der dem Wort Gottes „blind“ traut, ob‐ wohl er die Stadt gar nicht besitzt, die Gott ihm versprochen hat. Abraham glaubt Gott „blind“, ohne dass er auf seine alten Tage noch erleben darf, dass ihm das verheißene Land auch wirklich gehört. Ist das für uns wirklich ein Vorbild des Glaubens? Einer, der glaubt, ob‐ wohl für ihn gar nicht eintritt, woran er glaubt? Man könnte ja fast sagen: Abraham hat vergeblich geglaubt. Gott verspricht ihm das Land Israel als Erbe. Und Abraham bewohnt es sein Leben lang nur wie ein Fremder. Selbst der Hebräerbrief, der hier Abraham zum Vorbild des Glaubens erhebt, ge‐ steht wenig später ein: „Diese alle haben durch den Glauben Gottes Zeugnis
18
2 Christlich wahrnehmen (Theologie als Wahrnehmungswissenschaft, Heb. 11, 8-10)
empfangen und doch nicht erlangt, was verheißen war.“ Ist das wirklich ein Vorbild? Wenn ja, dann heißt das, dass der Glaube auch eine tragische Seite hat. Das trifft dann auch auf den christlichen Glauben zu. Christen glauben an Gottes Verlässlichkeit in einer Welt, in der vieles unzuverlässig ist. Der Glaube hat eine tragische Seite, so wie Abraham mit großen Erwartungen in sein versprochenes Land zog und dort als Fremder wohnte. Er hat mit seinem Glauben „nicht erlangt, was verheißen war.“ Mich beeindruckt, dass der Hebräerbrief beides enthält: Er kann sagen, dass der Glaube eine tragische Seite hat, und trotzdem für den Glauben wer‐ ben. Er wirbt dafür, so zu glauben wie Abraham mit einem unbedingten Vertrauen trotz der relativen Gewissheit, in dieser Welt nicht zu erlangen, was verheißen war. Wir werden nicht sofort erlangen, was verheißen ist. Wir werden noch warten müssen und sollen trotzdem glauben. Aber warum soll man Gott glauben, wenn seine Macht meistens verbor‐ gen bleibt? Weil es keine sinnvolle Alternative gibt! Es macht keinen Sinn, nicht zu glauben. Sogar wenn Abraham nicht erlangt hat, was verheißen war: Es wäre Unsinn gewesen, wenn er nicht geglaubt hätte. Er wäre nicht zurechtgekommen im Leben. Zwar hat er mit seinem Glauben nicht erlangt, was verheißen war, und das Land nie besessen, das ihm versprochen war. Aber er hat immerhin in diesem Land gewohnt und die Grundsteine der Stadt schon gesehen, auf die er wartete. Das hätte er nicht gekonnt ohne Glauben. Darin besteht die Kraft des Glau‐ bens: nicht etwa darin, dass der Glaube uns auf ein Jenseits vertrös‐ tet, sondern dass der Glaube uns Lebensmöglichkeiten eröffnet, die man sonst übersehen müsste. Der Glaube lässt uns etwas ahnen, was es sonst in dieser Welt nicht zu se‐ hen gäbe. Es ist so wie bei dem Bild vom Kaninchen und Ente Hasen, der auch eine Ente sein (© Wikimedia Commons) könnte. Wir sehen nicht beides. Se‐ hen wir den Hasen, sehen wir nicht die Ente, und umgekehrt. Aber wer glaubt, sieht im Hasen die Möglichkeit der Ente – und umgekehrt. Man kann nicht beides zugleich sehen. Und
2 Christlich wahrnehmen (Theologie als Wahrnehmungswissenschaft, Heb. 11, 8-10)
trotzdem weiß man: Dieses Bild kann beides sein. Dabei darf man aber nicht den Augen trauen, weil sie eben zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur eins von beiden sehen. Vielmehr muss man eigentlich „hinter“ das Bild sehen können, den Sinn des Bildes verstehen. Dann sieht man mehr, als was die Augen sehen, indem man dem wahren Sinn gegen den Augenschein traut. Nur wer das kann, sieht richtig; nur wer also hinter das Bild sehen kann, sieht auch mit den Augen richtig. Wenn jemand nur die Ente sehen kann, wäre das irgendwie bedauerlich, weil er oder sie das Bild nicht ganz sieht, sondern nur die Hälfte. Ganz sieht man das Bild dagegen, wenn man seinem Sinn gegen den Augenschein traut. Und das heißt eben manchmal auch, gegen den Augenschein zu glauben. Manche Leser werden einwenden wollen, dass dieses Beispiel nichts mit Glauben zu tun hat, weil man doch beides sieht: nämlich nacheinander im selben Bild. Doch vielleicht beruht dieser Einwand darin, dass man meint, Glaube habe mit dem, was wir sehen, gar nichts zu tun – wie wenn wir an einen unsichtbaren Gott glauben. Glauben hat aber durchaus etwas damit zu tun, was wir sehen. Durch den Glauben können wir mehr sehen als das, was wir mit den Augen sehen kön‐ nen. Niemand kann eben mit den Augen gleichzeitig den Hasen und die Ente sehen, sondern sieht entweder den Hasen oder die Ente. Beides zugleich kann man nur dann sehen, wenn man dem Sinn des Bildes traut. Man muss dem Bild glauben, dass es beides zugleich zeigt. Wer das nicht glaubt, muss an‐ nehmen, dass es ein Zauberbild ist, das dauernd das Motiv wechselt. Aller‐ dings müsste man auch dabei etwas glauben, weil man nämlich auch nicht sieht, wie es jeweils ins andere Bild umkippt. Das Kippen ist unsichtbar und kein Objekt auf dem Bild. Manche Menschen, denen ich meine Interpretation dieses Bildes vorstelle, behaupten dann, sie könnten sich antrainieren, die Ente und den Hasen gleichzeitig zu sehen, ohne dass das Bild dazu kippen muss. Das wäre aber sehr merkwürdig, denn niemand verwechselt einen Hasen mit einer Ente. Eine Ente sieht nun einmal nicht wie ein Hase aus. Man braucht vielmehr diesen Moment, an dem das Bild kippt. Aber gerade weil dieses Kippen sich nicht auf dem Bild befindet, kann der Eindruck entstehen, man könne beides zugleich sehen. Natürlich muss man solche Kipp-Bilder wie von Hase und Ente nicht se‐ hen können, um zu glauben. Gott ist eben kein sichtbarer Gegenstand und auch nicht mit Gegenständen zu identifizieren. Dennoch gehört zur mensch‐ lichen Wahrnehmung eine unsichtbare Seite, nämlich der Moment, an dem
19
20
2 Christlich wahrnehmen (Theologie als Wahrnehmungswissenschaft, Heb. 11, 8-10)
die Wahrnehmung auftritt. Ich nenne diesen Moment den Widerfahrens‐ charakter oder das Widerfahren solcher Ereignisse. Wer wahrnehmen kann, ist einem solchen Widerfahrenscharakter ausgesetzt. Genauso wenig wäre Gott richtig beschrieben, wenn man ihn einfach als unsichtbar beschreiben würde. Vielmehr zeigt sich Gott im Sichtbaren, wenn man hinter die Dinge sieht und ihren Sinn begreift. Abraham hat „sein“ Land gesehen, auch wenn es noch nicht seins war. Aber er hätte es eben niemals gesehen, wenn er Gott nicht geglaubt hätte. Glaube hilft, mehr zu sehen, und hat somit durchaus etwas damit zu tun, was wir sehen. Wer dagegen nicht glaubt, erleidet einen Realitätsverlust, weil für ihn die Welt nur so ist, wie sie ist. Aber wie die Welt eigentlich ist, kann er dann nicht mehr sagen. Wie sie aussieht, welche verborgenen Hintergründe sich auftun, wenn man sie betrachtet – das kann niemand realistisch einschätzen, der nie gelernt hat zu glauben. Die christliche Theologie unterstützt ihre Rezipienten dabei, glauben und richtig sehen zu lernen. Damit behaupte ich, dass man glauben lernen kann, nämlich indem man für den Widerfahrenscharakter von Wahrnehmungen aufmerksam wird. Paradoxe Wahrnehmungen helfen, mit der Hoffnung aus der verborgenen Rückseite zu leben. Es gibt immer mehr zu sehen, als was uns die sinnliche Wahrnehmung zeigt. Die Theologie macht ebenso wie der Hebräerbrief darauf aufmerksam: Sie zeigt – mit Hilfe von Wahrnehmungs‐ hilfen – das Vorbild des Glaubens, obwohl der Glaube auch seine Tragik hat. Dabei lässt sich zeigen, dass sogar der tragische Glaube ohne sinnvolle Al‐ ternative ist. Das zutiefst christliche Zeichen für die Kraft des tragischen Glaubens ist das Kreuz Jesu Christi. Der gekreuzigte Jesus ist für uns Christen das Hoff‐ nungssymbol. Ausgerechnet das Kreuz, dieses widerliche Mordinstrument. Aber die christliche Theologie sieht dahinter. Sie zeigt, dass etwas in der Kreuzigung Jesu nicht stimmt und gegen den Tod rebelliert. Über das, was das Kreuz sehen lässt, zeigt sich zugleich, dass das nicht sein darf, was wir da sehen. Die menschliche Würde erscheint im Kreuz stärker als die Hin‐ richtung. Und woran sieht man das? An welchen optischen Signalen? Darauf ant‐ wortet die christliche Theologie nicht, dass Christen an das Unsichtbare glauben. Sie deutet aber auch auf kein optisches Signal, das Gottes Sieg über den Tod nachweist wie auf einem Foto. Theologie kann aber dazu ermutigen, selbst hinzusehen! Auf das Kreuz zu schauen und auf die biblische Botschaft vom Kreuzestod Christi zu hören! Niemand wird dabei ein Objekt sehen, das
2 Christlich wahrnehmen (Theologie als Wahrnehmungswissenschaft, Heb. 11, 8-10)
umkippt. Aber wer spürt, wie die sinnliche Wahrnehmung in den Sinn um‐ kippt, hat glauben gelernt. In der Welt lässt sich nicht mit eigenen Augen sehen, wie Christus den Tod überwand. Aber wer in der Begegnung mit dem Tod tiefer sehen lernt und beim Anblick des Todes mehr sieht, versteht sich auf das, was Glauben ist. Dagegen gibt es keine sinnvolle Alternative, weil erst der Glauben uns ins Leben führt. Literatur zur Vertiefung
L. Ohly: Warum Menschen von Gott reden, 37–42. – Darin stelle ich auch anhand eines Kippbildes dar, dass die unsichtbare Seite der Wahrneh‐ mung wahrnehmungsleitend ist. Ohne sie gäbe es keine Wahrnehmung. Das Unsichtbare ist also wirklichkeitserschließend. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, Kap. 1 und 2. – Diese Passage enthält etliche Beispiele dafür, wie Wahrnehmungen geleitet werden, um aufzu‐ treten. Auch Waldenfels diskutiert dabei das Kippbild (57).
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3 Warum Menschen von Gott reden (Lk. 1, 68-79) Widerfahrnis
In allen Ereignissen sind Momente enthalten, deren Urheber nicht Menschen sind. Dieser Aspekt, nicht Urheber eines solchen Momentes zu sein, aber trotzdem davon betroffen zu werden, wird mit dem Be‐ griff des Widerfahrnisses betont. Wenn ich mir selbst vornehme, bei meiner Nachbarin zu klingeln, so ist es dennoch ein Widerfahrnis, wenn sie mir öffnet. Wenn sich zwei Menschen die Hand zur Begrü‐ ßung reichen, ist es ein Widerfahrnis, wie sich die Hand des Gegen‐ übers anfühlt. Im Widerfahrnis kann man unterscheiden zwischen dem Gehalt (Die Tür wird geöffnet; das Gegenüber hat eine warme Hand) und dem Widerfahrenscharakter, dass das entsprechende Ereignis aufgetreten ist. Wenn in unserer Wahrnehmung der Widerfahrenscharakter do‐ miniert oder wenn wir ihn zum Gesprächsthema machen, dann beto‐ nen wir unsere Betroffenheit für ein Geschehen, dessen Urheber wir nicht sind, das vielmehr uns ergriffen hat. Dabei spielt der Gehalt nur noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen fällt uns die Überra‐ schung auf, unser Schreck, unsere Bewunderung oder ähnliches. Wenn Menschen von Gott reden, beziehen sie sich in der Regel auf den Widerfahrenscharakter von Widerfahrnissen. Sie betonen, dass sie getroffen sind, und weniger, welcher Gehalt ihnen widerfahren ist. Nachdem Johannes der Täufer geboren war, begann sein Vater Zacharias das folgende Lied zu singen: Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat sein Volk heimgesucht und erlöst und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David – wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten –, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, dass wir furchtlos erlöst werden aus der Hand unsrer Feinde
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3 Warum Menschen von Gott reden (Lk. 1, 68-79)
und ihm dienen unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Au‐ gen. Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns das aufgehende Licht aus der Höhe heimsuchen wird, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.
Als dem Zacharias ein Sohn geboren wurde, da ist ihm offenbar noch mehr widerfahren als das. Er ist vielmehr „heimgesucht“ worden. Zweimal kommt dieses Wort „Heimsuchung“ in seinem Lied vor. Zacharias ist offenbar über‐ wältigt worden davon, dass er eine Heimsuchung erlebt hat. Wir würden vielleicht heute von einer „außerordentlichen Begegnung“ sprechen oder sagen, dass ihm etwas „widerfahren“ ist. Die ganze Geschichte Israels läuft vor seinem geistigen Auge noch einmal ab. Wir erfahren aus seinem Lied etwas von David, von Abraham, von den Propheten – die großen Helden Israels. Und Zacharias sieht sogar die Zu‐ kunft voraus: Es wird Frieden kommen. Eigentlich ist nur sein Kind geboren. Aber mit diesem Ereignis ist ihm noch sehr viel mehr widerfahren. Menschen fangen oft an, Gottesgeschichten zu erzählen, wenn sie eine solche „Heimsuchung“ erlebt haben. Dabei sind solche Heimsuchungen ganz natürliche Ereignisse. Ein Kind wird geboren – das ist etwas ganz Natürli‐ ches. Aber für viele Menschen ist die Geburt ihrer Kinder überwältigend. Wenn es überwältigend ist, dann heißt das: Ihnen widerfährt gerade mehr als nur, dass ihr Kind geboren wird. Zacharias widerfährt dabei die ganze Geschichte seines Volkes und die ganze Zukunft. Und doch wäre ihm das alles nicht widerfahren, wenn sein Sohn nicht geboren worden wäre – wenn also das ganz Natürliche nicht stattgefunden hätte. Gottes Geschichten er‐ eignen sich also bei natürlichen Ereignissen, die zugleich überwältigend sind. Wenn das passiert, kann man mit Zacharias von einer „Heimsuchung“ sprechen. Besonders eindrückliche Gotteserfahrungen erleben Menschen, wenn da‐ bei das natürliche Ereignis sogar in den Hintergrund gerät. Das passiert hier auch: Zacharias erlebt die Geburt seines Sohnes, aber er redet nur von der Erlösung Israels. Von seinem Sohn spricht er nur ganz kurz, und zwar nur so, dass Johannes einen winzigen Anlass für diese große Zukunft bildet: „Du,
3 Warum Menschen von Gott reden (Lk. 1, 68-79)
Kindlein, wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest.“ Sogar der eigene Sohn verschwindet fast vor der Heimsuchung Gottes. Noch deutlicher tritt die Heimsuchung hervor, wenn das Natürliche sich selbst in den Hintergrund stellt. Das ist vor allem bei vielen biblischen Men‐ schen so: Sie bringen gerade dadurch die Heimsuchung Gottes in den Mit‐ telpunkt, dass sie sich in den Hintergrund stellen. Sie machen auf Gott in der Welt aufmerksam, gerade indem sie zeigen, dass sie selbst es nicht sind, worauf es ankommt. Eine solche Person ist Johannes der Täufer. Genauso wie Zacharias seinen Sohn fast vergisst, weil er so überwältigt ist von Gottes Heimsuchung bei der Geburt seines Sohnes, wird Johannes der Täufer in der Bibel erinnert: Johannes war ein lautstarker Prophet. Aber er hörte damit sofort auf, als er Jesus begegnete. Gerade als er aufhörte zu reden, fiel Jesus auf. – Ein anderes Beispiel ist Maria, die Mutter Gottes: Gott ist in ihr Mensch geworden. Aber von ihr selbst wird recht wenig in der Bibel erzählt. Es gibt kaum einen Satz, der von ihr überliefert ist. Maria tritt in den Hintergrund, damit die über‐ wältigende Menschwerdung Gottes in den Mittelpunkt rücken kann. Und auch Jesus! Auch er tritt zurück, damit das Überwältigende passieren kann. Als Gott Mensch wurde, da tauchte er in einem sterblichen Wesen auf. Das Sterben dieses Menschen wurde damit zu einer überwältigenden Heim‐ suchung. Schon das Kind in der Krippe, für das kein Platz in der Herberge war (Lk. 2,7), macht sich fast unsichtbar, damit das Überwältigende hervor‐ treten kann. Was ist nämlich so überwältigend: dass ein Kind geboren wurde? Oder dass dabei allem Volk noch viel mehr widerfahren wird (Lk. 2,10) – so viel, dass dabei das Kind in diesem Hinterhof von Bethlehem schon kaum noch auffällt? Zumindest fällt kaum auf, wie wenig es in diesem Stall zu sehen gibt: ein Kind, in Windeln gewickelt, mehr nicht; ein sterblicher und verletzlicher Mensch. Das Überwältigende lässt sich damit nicht iden‐ tifizieren. Überwältigend ist vielmehr, dass mit diesem relativ gewöhnlichen, natürlichen Geschehen noch viel mehr widerfährt. Wenn wir uns nach dem Überwältigenden sehnen, so sehnen wir uns offenbar danach, was der Kern des christlichen Glaubens ist: Gott tritt hervor bei einem Menschen, so dass der Mensch dabei fast im Hintergrund ver‐ schwindet.
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3 Warum Menschen von Gott reden (Lk. 1, 68-79)
Literatur zur Vertiefung
M. Welker: Gottes Offenbarung, 208–219. – Der frühere Heidelberger Theo‐ loge interpretiert in diesem Buch über Jesus die Selbstlosigkeit von Men‐ schen als Freiraum, in dem sich unerwartete schöpferische Prozesse er‐ eignen können.
4 Gefühl für die Wahrheit (Theologische Wahrheitstheorie, Joh. 8, 21-26) Wahrheit
Die Übereinstimmung einer Aussage mit einem Sachverhalt. Wahrheit ist daher weder eine Aussage noch ein Sachverhalt. Vielmehr liegt sie zwischen beiden. Wenn somit jemand sagt: „Ich sage die Wahrheit“, so macht er damit nicht die Wahrheit zu einer Aussage. Vielmehr be‐ zeugt er, dass das, was er vorher gesagt hat, mit einem Sachverhalt übereinstimmt. Damit lokalisiert er sich in einer Situation, in der sich die Wahrheit von selbst zeigt. Wahrheit kann nicht ausgesprochen werden, sondern muss sich von selbst zeigen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. Da sprachen die Juden: Will er sich denn selbst töten, dass er sagt: Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen? Und er sprach zu ihnen: Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. Darum habe ich euch gesagt, dass ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden. Da fragten sie ihn: Wer bist du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Zuerst das, was ich euch auch sage. Ich habe viel von euch zu reden und zu richten. Aber der mich gesandt hat, ist wahr, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt.
Es gibt eine Wissenschaft, die will uns seit vielen tausend Jahren erklären: „Was ist Wahrheit?“: die Philosophie. Was bedeutet eigentlich „wahr sein“? Zum Bei‐ spiel beschäftigt sich die Philosophie mit dem Problem, ob es wahr ist, dass Schneewittchen bei den sieben Zwergen wohnte. Einerseits trifft das ja zu, denn es ist ja falsch zu sagen, dass Schneewittchen bei den acht Zwergen oder bei den sechs Zwergen oder überhaupt nicht bei Zwergen wohnte. Und trotzdem kann man eigentlich nicht sagen, dass der Satz wahr ist, weil die Aussage zu einem Märchen gehört und es Schneewittchen ja gar nicht gegeben hat. Wenn wir
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4 Gefühl für die Wahrheit (Theologische Wahrheitstheorie, Joh. 8, 21-26)
folglich diesen Satz für wahr halten würden, dann würden wir etwas für wahr halten, was es gar nicht gibt. Und das ist Unsinn. Die Philosophie schließt aus diesem Problem zwei Folgerungen. Erstens: Nur Aussagen können wahr sein. Und zweitens: Die Aussage muss mit dem übereinstimmen, was es gibt, was also „ist“ oder „Sein“ hat. Diese Antwort ist mindestens 2500 Jahre alt. Auch Jesus wird sie wohl gekannt haben. Denn er spielt hier mit ihr: „Ich bin es“, sagt er. Natürlich fragen die Leute da zurück: „Ja, was denn? Wer denn?“ Und er antwortet: „Ich bin, was ich euch sage“. Damit erfüllt er beide Erfordernisse, die die Philosophie von der Wahrheit verlangt: Eine Übereinstimmung zwischen einem Satz und dem Sein. Jesus sagt: „Ich bin“ – da hat er das Sein – „das, was ich euch sage“, da hat er die Aussage. In diesem Zusammenhang spricht Jesus auch von Gott: Gott ist „wahr“. Wie kann Gott aber wahr sein? Wahr können doch nur Sätze sein. Gott kann nur wahr sein, wenn von ihm etwas gesagt wird. Deshalb heißt es am Anfang des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort, und Gott war das Wort“. Gott ist – es gibt ihn. Und: Es gibt ihn so, dass er selbst von sich spricht. Deshalb ist Gott wahr. „Ich bin, was ich euch sage.“ Mit einer solchen Behauptung wird bean‐ sprucht, dass der Satz dadurch wahr ist, dass er ausgesagt wird. Das liegt an diesem Ich, das ihn aussagt. Nur Jesus kann also sein, was er sagt, dass er es ist. Wir anderen Menschen können uns etwas erträumen, was es nicht gibt. Wir können lügen. Jesus kann nicht lügen. Das, was er sagt, erfüllt sich sofort. Das, was er sagt, gibt es sofort, sobald er es sagt. Nirgendwo sollen wir also der Wahrheit so dicht sein, nirgendwo soll ein wahrer Satz die Realität so nah zu uns führen als der Satz, den Jesus hier sagt: „Ich bin es“. Wir sollen bei Jesus eine unmittelbare Wahrheit haben. Überprüfen wir diese Behauptung an einem Gegenbeispiel. Nehmen wir einen Satz, der bestimmt wahr ist: „Gestern früh ging die Sonne auf“. Dieser Satz ist wahr. Und trotzdem ist ein tiefer Graben zwischen dem Satz und seinem Inhalt. Der Satz kann nämlich gar nichts dafür, dass die Sonne auf‐ gegangen ist. Die wäre auch aufgegangen, ohne dass dieser Satz gesagt wor‐ den wäre. Der Satz macht seinen Inhalt nicht selber wahr. Die Sonne ist gestern aufgegangen, weil bestimmte kosmische Prozesse dafür verantwort‐ lich gewesen sind. Und in diese kosmischen Prozesse greift niemand ein, der diesen Satz sagt.
4 Gefühl für die Wahrheit (Theologische Wahrheitstheorie, Joh. 8, 21-26)
Anders bei Jesus: „Ich bin, was ich euch sage“. Jesus erschafft die Wahr‐ heit, indem er etwas sagt. So wie bei Gott, wie er in der Bibel dargestellt wird. Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht. – Nur bei Gott ist ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer Aussage und dem, was es gibt. Kein tiefer Graben, sondern hier entsteht alles, was gesagt wird. Jesus geht noch einen Schritt weiter. Er meint, dass wir auch ein solches unmittelbares Verhältnis zur Wahrheit bekommen: nämlich glauben, dass Jesus ist, was er sagt. Dazu müssen wir nichts tun. Dazu müssen wir nur etwas empfinden. Wir Menschen können ja Unmittelbarkeit empfinden. Jesus nennt das Glaube. Man kann auch ein bestimmtes Gefühl so nennen. Gefühle sind uns ganz nah. Nichts kann uns näher kommen als unsere eigenen Gefühle. Ich spüre einen Schmerz. Ich leide daran. Ich kann mir zwar einreden, dass ich den Schmerz unterdrücken soll oder dass der Schmerz für irgendetwas gut ist – zum Beispiel wenn ich eine Spritze von der Ärztin bekomme. Trotzdem kann ich mir den Schmerz nicht wegreden. Ich spüre ihn ganz nah. Und was ich mir einrede, kann keinen Graben öffnen zwischen mir und meinem Gefühl. Christlicher Glaube ist genauso unmittelbar wie ein Gefühl. Er ist uns genauso dicht wie Freude oder Leid, Angst oder Hoffnung. Wenn wir an Christus glauben, dann können wir den Glauben auch nicht mehr weg‐ schieben, weil sich nichts zwischen ihm und uns befindet. So meint es wohl Jesus: Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht hinkom‐ men, wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin: nämlich das, was ich euch sage. – Wenn wir aber glauben, dann sind wir da, wo Jesus ist; da, wo von ihm gesprochen wird. Was von ihm gesagt wird und was er sagt, ist dann eine Realität für uns. Und hier kommt Philosophieren endlich an sein Ende. Jetzt geht es ums Fühlen, ums Erleben: Darin wird der christliche Glaube uns dicht. Nun reden wir oft von Gefühlen so, als ob sie eine abgeschwächte Realität besitzen, nur subjektiv und ohne objektive Realität. Denn was ich fühle, muss es nicht auch wirklich geben. Das empfinde ich vielleicht nur so. Unsere Gefühle beweisen tatsächlich noch nicht, dass es das auch gibt, was wir fühlen. Wir können nämlich nicht, was Jesus kann, nämlich etwas in die Realität bringen, nur weil wir es fühlen. Nur ein völlig freies schöp‐ ferisches Wesen kann das; und Christus ist anscheinend dieses Wesen. Was er sagt, entsteht. Was er von sich sagt, ist er dann auch wirklich. Trotzdem ist der christliche Glaube von einem Gefühl begleitet. Dieses Gefühl beweist zwar noch nichts. Aber das Gefühl muss auch nichts bewei‐
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sen. Denn es ist uns ja so nah und unmittelbar, dass sogar für den Zweifel an diesem Gefühl kein Platz bleibt. In manchen Augenblicken staunen wir über die Schönheit der Welt, wie wir sie dann in dem Augenblick empfinden. Wir sehen einen Sonnenunter‐ gang und werden sentimental. Wie großartig ist Gott! Wie gewaltig ist er da für uns! In diesem Moment ist uns Gott so dicht, dass wir keinen Anlass haben zu zweifeln. Unsere Stimmung gibt dem Zweifel keinen Raum. Sobald der Zweifel kommt, ist das Gefühl nicht mehr da. Dann sehen wir aber auch den schönen Sonnenuntergang nicht mehr, sondern fangen an nachzudenken über dies und das, aber haben die Schönheit der Natur nicht mehr vor Augen. Das Gefühl fragt nicht nach der Wahrheit, weil dem Gefühl alles klar ist. Der Glaube bezieht sich auf ein solches Gefühl, etwa das Gefühl, dass Gott nah bei mir ist. Das fühle ich so dicht, dass ich daran nicht zweifle. Und trotzdem räumen wir Christen dem Zweifel einen Platz ein. Wir zweifeln manchmal, ob das, was wir fühlen und glauben, wirklich ist. Und genau das ist Glaube: Die Nähe Gottes fühlen und doch nicht sicher sein, ob wir da wirklich etwas Wahres fühlen. Wir überlassen Gott die Wahrheit, diesem absolut freien schöpferischen Wesen. Nur er kann „beweisen“, dass er wahr ist. Wir fühlen Gottes Nähe und sind doch vorsichtig, unser Gefühl für ausschlaggebend zu halten. Nicht unser Gefühl entscheidet; Gott ent‐ scheidet. Beides enthält der Glaube: Einerseits fühlen wir Gottes Nähe un‐ mittelbar. Gott wird für uns das Allerselbstverständlichste. Und andererseits fühlen wir, dass Gott allein für die Wahrheit unseres Glaubens sorgt. Literatur zur Vertiefung
E. Tugendhat/U. Wolf: Logisch-semantische Propädeutik, Kap. 13. – Hier wird der philosophische Wahrheitsbegriff erklärt. G. Ebeling: Der christliche Glaube Bd. 2, § 18. – Nach Ebeling müssen die Aussagen des christlichen Glaubens auf die Grundsituationen ihres Glau‐ bens zurückgeführt werden (Gebet, Gottesdienst). Dadurch wird auch Wahrheit an die christliche Kommunikation zurückgebunden (116 ff). E. Jüngel: Metaphorische Wahrheit, 153–157. – Wahrheit bedarf einer sprachlichen Erweiterung über die vertraute Welt hinaus. Bevor Aussa‐ gen mit Sachverhalten übereinstimmen können, muss Sprache schöpfe‐ risch sein.
5 Die Bibel und Gottes Wort (Das reformatorische Schriftprinzip, 2. Kor. 3, 3-9) Schriftprinzip
Das reformatorische Schriftprinzip besagt, dass die Bibel für die christ‐ liche Verkündigung maßgebliche Erkenntnisquelle und Norm ist (lat.: sola scriptura = allein durch die Schrift). Zwar können auch andere Erkenntnisse bei der christlichen Verkündigung aufgenommen wer‐ den. Allerdings haben sie nachrangige Bedeutung. Dasselbe gilt auch für die Glaubensbekenntnisse der Konzilien und Kirchensynoden: Sie sind nachrangig und müssen an der Bibel überprüft werden (norma normata = normierte Norm, also nur abgeleitete Norm). Demgegen‐ über ist die Bibel norma normans = normierende Norm, also maßgeb‐ liche Norm zur Überprüfung christlicher Rede. Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen. Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht weil wir von uns selber fähig wären, etwas zuzurechnen wie von selber; sondern unsere Fähigkeit ist von Gott, der uns befähigen wird zu Dienern des neuen Bundes, nicht der Schrift, sondern des Geistes. Denn die Schrift tötet, aber der Geist macht lebendig. Wenn aber schon der Dienst, der den Tod bringt und mit Schrift in Stein gehauen war, Glanz hatte, sodass die Israeliten das Angesicht des Mose nicht ansehen konnten wegen des Glanzes auf seinem Angesicht, der (irgendwann) aufhörte, wie sollte nicht viel mehr der Dienst, der den Geist gibt, in Herrlichkeit werden? Denn wenn schon Glanz im Dienst des Gerichtes liegt, wie viel mehr fließt der Dienst der Gerechtigkeit zum Glanz.
Paulus erinnert sich hier an eine Verheißung aus dem Propheten Jeremia zur Zeit des Alten Testaments: In Zukunft wird Gottes Volk aus Menschen be‐ stehen, die nicht erst lesen müssen, was Gott von ihnen will, sondern sie
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5 Die Bibel und Gottes Wort (Das reformatorische Schriftprinzip, 2. Kor. 3, 3-9)
werden die Weisungen Gottes schon in ihrem Herzen haben (Jer. 31,33). Paulus sagt es noch treffender: Künftig werden die Gläubigen selbst die „Schrift“ sein, an der man Gottes Wort erkennt. „Ihr seid ein Brief Christi.“ Während Mose noch die Gebote auf Steintafeln geschrieben hatte, werden unsere Herzen einst selbst Tafeln sein. An uns wird man erkennen, was Gott will. Wir müssen dazu neu erschaffen werden. Gottes Wort können wir uns nämlich nicht selbst in unsere Herzen schreiben. Das betont Paulus hier ausdrücklich: „Nicht weil wir von uns selber fähig wären, etwas zuzurech‐ nen wie von selber; sondern unsere Fähigkeit ist von Gott.“ Wenn Paulus eine Botschaft des Alten Testaments übernimmt, dann drückt das aus, dass das Alte Testament keine andere Botschaft hat als das Neue. Es ist derselbe Gott, dieselbe Hoffnung und Zukunft, nämlich dass man einmal an unseren Herzen erkennen wird, was Gott von den Menschen will. Einstweilen haben wir uns noch an die Schrift zu halten, die mit Tinte geschrieben ist. Und wenn man danach sucht, woran wir denn erkennen können, wie Gottes Wort in unseren Herzen geschrieben ist, muss man na‐ türlich noch in die Bibel schauen. Zwischen der Schrift aus Tinte oder den Worten in Stein gehauen einerseits und dem geistlichen Wort Gottes in un‐ seren Herzen andererseits besteht also kein strenger Gegensatz. Sogar Pau‐ lus gibt zu, dass schon die Steintafeln einen Glanz hatten. Das Wort Gottes ist ein Wort, und es bleibt auch das eine. Auch trotz Neuen Testaments ist das Alte nicht veraltet. Und auch die fleischernen Worte in unseren zukünf‐ tigen Herzen sind keine anderen. Schon geschriebene Worte können nämlich von Herzen kommen. Und Paulus schreibt im ganzen 2. Korintherbrief mit dem Herzen. Er ist nämlich sehr persönlich geschrieben: Zwar mit Tinte geschrieben, erfahren wir aber darin, dass Paulus dabei zwischendurch geweint hatte, als er ihn schrieb (2. Kor. 2,4). Paulus benutzt harte Worte, aber er schreibt dazu: Die Christen in Korinth sollen merken, wie viel Leidenschaft er für sie hat, gerade weil er sie so hart beschimpft. Er kämpft um sie, weil er sie liebt. Es gibt übrigens auch keinen persönlicheren Propheten in der Bibel als Jeremia, von dem die Verheißung stammt, dass wir irgendwann Gottes Wort im Herzen tragen. Auch von Jeremia erfahren wir, wie oft er geweint hat aus Leidenschaft zu seinem Volk, weil er kommen sah, was Schlimmes über Israel hereinbrechen werde (z. B. Jer. 13,17). Auch die Worte Jeremias sind von Herzen gekommen. Ein klarer Gegensatz besteht offenbar nicht zwi‐
5 Die Bibel und Gottes Wort (Das reformatorische Schriftprinzip, 2. Kor. 3, 3-9)
schen geschriebenen Worten und Worten, die wir selber sind („Ihr seid ein Brief Christi“). Menschen haben das Bedürfnis nach Worten, die von Herzen kommen. Warum schreiben sich Jugendliche so viele Texte auf dem Smartphone? Weil sie das Bedürfnis haben, etwas Nettes zurückgeschrieben zu bekommen. Es sind zwar nur Texte, nicht einmal mit Tinte geschrieben, sondern auf einem vergänglichen Display. Und manchmal fragt man sich, was eigentlich der Sinn der letzten Nachricht gewesen ist, die wir bekommen haben. Aber Ju‐ gendliche und inzwischen auch Erwachsene überhäufen sich trotzdem mit solchen oftmals sinnfreien Texten. Anscheinend kommt es nämlich gar nicht so sehr auf den Inhalt an, den wir da lesen. Es kommt vielmehr auf das Herz an, das wir in diesen Nachrichten spüren. Allein dass jetzt wieder das Smart‐ phone vibriert, macht glücklich. Nicht der Text ist entscheidend, sondern dass jetzt wieder ein Text an mich gerichtet wird – dass jetzt wieder jemand an mich denkt –, freut mich. Vielleicht belegt das, dass diese Neuschöpfung gerade im Gang ist, in der sich Texte zu Personen wandeln. Zu keiner anderen Zeit haben sich Men‐ schen so viel geschrieben wie zurzeit. An jedem Tag schreiben wir uns mehr Texte über das Internet, als die Deutsche Bibliothek Bücher hat. Wir schrei‐ ben uns, weil wir uns mögen, und machen uns selbst zur Botschaft. Wir wollen schöne Worte lesen, weil wir Sehnsucht nach dem Herzen haben. Und wir wollen schöne Worte schreiben, weil wir herzlich sind. Könnte das alles nicht heißen, dass Gott uns gerade neu erschafft? Dass Gottes Worte in unsere Herzen angelangt sind? Vielleicht sollte man doch noch nicht allzu optimistisch sein. Es gibt auch Streit, Mobbing und Shitstorms über WhatsApp und im Internet. Das kann manchmal sogar dazu führen, dass wir nicht nur in der virtuellen, sondern auch in der physischen Welt aus einer Gruppe ausgeschlossen oder sogar Feinde werden. Das geschriebene Wort ist eben doch nicht dasselbe wie das Wort aus dem Herzen. So viel wir uns gegenwärtig auch schreiben: Es ist doch noch nicht Gottes vollendete Neuschöpfung. Deshalb hat Paulus auch bei seinen besonders persönlichen Passagen im 2. Korintherbrief dazugeschrieben, dass er aus Leidenschaft schreibt, unter Tränen und im Schmerz. Hoffentlich wird Gott uns so umwandeln, dass unsere Leidenschaft künftig kein Leid mehr erzeugt. Aber vorerst gehört das Leid wohl auch zu den leidenschaftlichen Worten dazu. Vielleicht sind die Tränen, unter denen Paulus seinen Brief geschrieben hat, ein Zeichen dafür,
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5 Die Bibel und Gottes Wort (Das reformatorische Schriftprinzip, 2. Kor. 3, 3-9)
dass Gott zumindest anfängt, aus unserem Gerede Worte des Herzens zu machen. Wir befinden uns im Prozess der Neuschöpfung. Gott wandelt unsere Worte so um, dass sie das Herz erreichen sollen, weil sie von Herzen gemeint sind. Dieser Prozess der Neuschöpfung, dass wir selbst die Worte sind, die wir von Herzen meinen, ist noch nicht zu Ende. Leider fließen noch zu viele Tränen deswegen, was wir schreiben, sagen oder schreien. Aber herzlos sollten auch solche Worte nicht mehr sein. Denn Gottes Umwandlung un‐ serer Herzen hat begonnen. Und alle, die sich um gute Worte bemühen, sind bereits Diener der neuen Schöpfung. Literatur zur Vertiefung
I. Nord: Realitäten des Glaubens, 92–103. – Nord bemisst die religiöse Qua‐ lität virtueller Realitäten und entdeckt sie in Übergangsbereichen, die Mögliches verwirklichen. L. Ohly/C. Wellhöfer: Ethik im Cyberspace, 116–127. – Nords Analyse wird aufgegriffen und in ihrer theologischen Zweideutigkeit abgewogen. F. Schleiermacher: Über den Begriff des höchsten Gutes. – Der prominente Theologe des 19. Jahrhunderts hatte zwei komplementäre Entwicklungen in seiner Weltanschauungen zusammengedacht, nämlich eine, die die Einheit der Welt verbürgt (das Organisieren), und eine, die Vielfalt er‐ reicht, damit sich die Welt überhaupt entwickeln kann (das Symbolisie‐ ren). In diesem Konzept kann sich die Einheit nur zur Darstellung brin‐ gen, also beispielsweise ihrer bewusst werden, indem sie sich pluralisiert.
6 Christus und das Alte Testament (Alter und neuer Bund, Joh. 5, 39-46) Jesus sagt zu den Leuten in Jerusalem: Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr das Leben habt. Ich nehme keine Meinung von Menschen an; aber ich habe gemerkt, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben und nehmt Meinung voneinander an, und die Meinung von dem alleinigen Gott sucht ihr nicht? Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist Mose, auf den ihr hofft, der euch verklagt. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrie‐ ben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glau‐ ben?
Was die Jerusalemer Menschen damals von Jesus gehört haben, musste sie empören: Jesus behauptet, dass man automatisch an ihn glauben muss, wenn man der Bibel glaubt (für Juden besteht die Bibel aus dem Buch, das für Christen das sogenannte Alte Testament ist). Wer richtig im Alten Testament liest, muss automatisch darauf kommen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Und wer an Gott glaubt, kommt an Jesus nicht vorbei. Das muss die Menschen damals empört haben. Denn natürlich gibt es keine Zeile im Alten Testament, wonach ausgerechnet Jesus der Sohn Gottes sein soll. Zwar redet das Alte Testament öfter davon, dass „jemand“ kommen wird; aber es ist nirgendwo gesagt, dass es ausgerechnet Jesus ist. Wie kann das dann Jesus behaupten? Interessanterweise behauptet Jesus das aber gar nicht. Alles was er sagt, sagt er nicht über sich, sondern nur über die Bibel: Wer in der Bibel liest, wird automatisch darauf kommen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Aber er sagt hier nichts über sich selbst, etwa dass er Gottes Sohn sei. Denn: „Ich nehme keine Meinung von Menschen an.“ Jesus spricht also auch keine Meinung über sich selber aus. Er redet nur von anderen. Er sagt, was die Bibel und
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6 Christus und das Alte Testament (Alter und neuer Bund, Joh. 5, 39-46)
Gott über ihn denken. „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen.“ Jesus kommt nicht von sich aus. Solche Leute, die von sich aus kommen, die in ihrem „eigenen Namen“ reden, kritisiert Jesus vielmehr. Gerade damit demonstriert Jesus, warum man ihm glauben kann, nämlich gerade indem er von sich schweigt. Glaubwürdigkeit kann man sich nämlich nicht selber geben. Glaubwürdig wird man nur durch etwas anderes. Nur deshalb kann Jesus glaubwürdig sein, weil er andere für sich sprechen lässt. Jesus ist der Mensch, der von sich schweigt. Gerade so weist er auf sich hin, indem er von sich weg weist, und wird glaubwürdig, weil er nicht im „ei‐ genen Namen“ davon spricht, warum er glaubwürdig ist. Oder noch mal anders gesagt: Jesus macht auf sich aufmerksam, indem er zeigt, dass er es gerade nicht ist, an dem man erkennt, dass er Gottes Sohn ist. Man erkennt ihn nicht an sich selbst, sondern nur über den Umweg der Bibel. Das ist bereits die Pointe aus dem 4. Kapitel gewesen: Jesus erschafft zwar die Wahrheit, die er selbst ist. Aber er überlässt es doch einem anderen, dass die Wahrheit, diese Übereinstimmung zwischen ihm und dem, was er sagt, eintritt. Dabei entsteht die unmittelbare Wahrheit, von der bereits im 4. Kapitel die Rede war, nur, indem Jesus sein Sein über ein Anderes gewinnt, über seine Worte. Wenn man heute uns Christen kritisch zurückfragt: Warum soll denn ausgerechnet Jesus Gottes Sohn sein? Und welche Bibelstelle aus dem Alten Testament beweist uns das? – dann muss das die Antwort sein: Glaubwür‐ digkeit entsteht immer durch etwas anderes. Und gerade weil Jesus nicht von sich selbst redet, sondern nur von der Bibel, die ihn bezeugt, kann er Gottes Sohn sein. Nun gibt es aber keine Bibelstelle im Alten Testament, die beweist, dass es ausgerechnet Jesus ist, der „kommt“. Aber das Alte Testament ist genau so geschrieben, dass es ebenso seine Glaubwürdigkeit immer von etwas an‐ derem bekommt. Genauso wie Jesus nur indirekt von sich spricht, redet die Bibel von Gott: Auch die Bibel wird nur glaubwürdig durch etwas anderes. Es gibt nämlich auch in der Bibel kein Wort, das sich selbst beweist. Und es gibt auch in der Bibel kein Wort, das von sich selbst redet. Glaubwürdigkeit bekommt auch die Bibel immer nur so, dass sie zeigt, dass nicht sie es ist, an der man erkennt, dass sie es ist. Ich will das an Mose zeigen, von dem Jesus ja hier sagt: Wer Mose richtig liest, kommt automatisch auch auf Jesus. Ich habe vor einiger Zeit eine Dis‐ kussion mit einem Christen darüber geführt, ob Gott denn selbst die Bibel geschrieben hat. Meine Meinung dazu ist, dass Gott nur über Menschen von
6 Christus und das Alte Testament (Alter und neuer Bund, Joh. 5, 39-46)
sich reden macht. Dieser Christ wiederum, mit dem ich mich unterhalten habe, dachte anders. Er sagte, dass Gott z. B. die 10 Gebote (2. Mose 20, 2-17) selbst geschrieben habe. Aber schauen wir uns die Geschichte genauer an: Mose hat damals die Gesetzestafeln auf den Berg Sinai mitgenommen. Und dann hat tatsächlich Gott selbst auf die Tafeln das Gesetz geschrieben. Es heißt dort: Die Gesetze wurden geschrieben mit dem Finger Gottes (2. Mose 31,18). Man hätte also sagen können: Die Steintafeln sind ein schriftlicher Nachweis Gottes. Aber was ist dann passiert? Die Steintafeln sind nie beim Volk Israel unbeschadet angekommen! Als Mose wieder herunterkam von dem Berg, hatte sein Volk gerade Götzenbild hergestellt, das goldene Kalb. Sofort hat Mose die Steintafeln zerbrochen (2. Mose 32,19). Gott kann man nicht anfassen. Gott ist kein Goldenes Kalb, und man darf auch die Steintafeln nicht mit Gott verwechseln oder sie anbeten, etwa weil Gott selbst darauf geschrieben hat. Etwas, was die Handschrift Gottes selbst trägt, ist nie auf Erden angekommen. Und was erzählt die Bibel danach? Mose hat die Steintafeln noch einmal angefertigt. Ein zweites Mal werden die Gesetze Gottes auf die Steintafeln geschrieben. Aber jetzt schreibt nicht mehr Gott selbst mit seinem eigenen Finger. Vielmehr werden die Steintafeln von Mose beschrieben (2. Mose 34,271). Diese Geschichte aus dem Alten Testament ist eine ganz typische Ge‐ schichte für Gott: Denn sie erzählt davon, dass auch die Gesetze des Alten Testaments nicht selbst Gott sind, um den es geht. Gottes Gesetz ist nur dadurch bei den Menschen angekommen, dass es von Menschen aufge‐ schrieben wurde. Keine göttlichen Tafeln selbst sind unter uns Menschen zu finden. Das, was von Gott selbst ist, ist gerade nicht bei den Menschen an‐ gekommen. Die zerbrochenen Tafeln machen darauf aufmerksam, dass nicht sie es sind, an denen wir merken, dass Gott bei uns ist. Denn sie sind gerade zerbrochen. Es gibt nichts auf der Welt, an das wir uns klammern können, um Gott zu finden. Sondern alles, woran wir uns klammern könnten, macht nur darauf aufmerksam, dass es nicht selbst das ist, woran wir uns eigentlich gerne klammern würden.
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V.1 kann daher nur metaphorisch gemeint sein, wo Gott ankündigt, selbst auf die neuen Tafeln zu schreiben.
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6 Christus und das Alte Testament (Alter und neuer Bund, Joh. 5, 39-46)
So redet die Bibel von Gott: Gott kommt uns zwar nahe. Aber er kommt uns immer in Zeichen nahe, an denen wir merken, dass es nicht die Zeichen selbst sind, worum es geht. Die Zeichen Gottes zerbrechen vor uns und sie müssen zerbrechen, damit wir hinter sie sehen können. Kein Zeichen steht für sich selbst, sondern jedes Zeichen Gottes zeigt zugleich an, dass wir hin‐ ter das Zeichen sehen müssen. Gott ist unter uns immer nur in menschlicher Gestalt, immer nur in Ge‐ stalt von etwas anderem. Und dieses andere muss dabei so auf sich auf‐ merksam machen, dass es zeigt, dass man dahinter schauen muss. Deshalb kann ein Mensch Gottes Sohn sein: nämlich gerade indem er von sich selber weg weist. Wer Jesus ist, kann man nur durch etwas anderes erfahren, weil man Glaubwürdigkeit sich nicht selber geben kann. Deshalb müssen wir auch woanders anfangen (bei der Bibel), um auf Jesus zu kom‐ men. Und wir können nur so an Jesus glauben, dass wir zugleich daran glauben, dass wir hinter ihn schauen müssen – zu Gott selbst. Literatur zur Vertiefung
I. U. Dalferth: Wirkendes Wort, 190–207. – Zurzeit ist in der Theologie eine gewisse Unsicherheit zur Bedeutung des Alten Testaments für den christ‐ lichen Glauben eingetreten. Dalferth gibt dem „Alten“ eine theologisch notwendige Würde, ohne die es kein „Neues“ geben kann. J.L. Marion: God Without Being, Kap. 5. – Einerseits entwickelt Marion eine Wahrheitstheorie, nach der Christus mit seinem Wort identisch ist. An‐ dererseits führt gerade die Verdopplung durch sein Wort zu einer Diffe‐ renz für uns, so dass wir nur vermittelt mit ihm in Kontakt treten können.
II. Gottes Wirklichkeit
7 Was ist Gott? (2. Mose 33, 18-23) Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und (Gott) sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du wirst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht wird nicht erscheinen.
Für mich ist diese Bibelstelle ein Einspruch gegen alle unsere Vorstellungen von einem persönlichen Gott; ein Einspruch gegen die Vorstellung, Gott wäre eine Person wie wir, eine Art Übermensch, aber doch mit menschen‐ ähnlichen Fähigkeiten. Ich will mit dieser Bibelstelle einen wesentlichen Charakterzug Gottes aufweisen, wonach Gott überhaupt nicht gegenständ‐ lich oder körperlich zu verstehen ist, sondern als ein freies Ereignis, das alles Körperliche erst bildet. Oder noch etwas drastischer ausgedrückt: Gott ist keine Wirklichkeit, aber bildet die Wirklichkeit. Nun könnten Sie einwenden und sagen: Aber in dieser Geschichte hat Gott einen Körper: Er hat ein Gesicht – warum sonst will Mose sein Gesicht sehen? Gott hat Hände – wie sonst kann Gott seine Hand vor Mose halten? Er hat eine Stimme – wie sonst könnte Gott zu ihm reden? Und er muss einen Körper haben – wie sonst hätte Mose hinter ihm herschauen können? Ich glaube aber: Der Bibeltext spielt mit unseren gewohnten Bildern von Gott, um sie alle zu durchbrechen. Wenn Gott einen Körper hätte, warum sieht Mose dann nichts davon, während er mit ihm spricht? Wie muss Mose dann noch hinter Gott hersehen, wenn er doch vorher auch schon irgendeine Gestalt hätte sehen müssen? Die beiden werden ja nicht miteinander tele‐ foniert haben. Und wenn Gott eine Person wäre, warum kann kein Mensch leben, der ihn sieht?
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7 Was ist Gott? (2. Mose 33, 18-23)
Das Charakteristische Gottes ist in dieser Geschichte nicht etwa das Ge‐ sicht oder seine Hand. Vielmehr werden ganz andere Eigenschaften Gottes erwähnt, die wiederum nicht persönlich sind, sondern über das Persönliche hinausgehen: Gott ist Güte; er ist Herrlichkeit. Und Gott ist ein Vorüberge‐ hen. Vielleicht kann deshalb kein Mensch Gott sehen, weil Gott vorübergeht. Und ein Vorübergehen kann man nicht direkt sehen: Man merkt es erst, wenn etwas vorübergegangen ist. Würde man Gott sehen können, dann würde nichts vorübergehen. Und dann kann man nicht ohne Gott leben, also ohne dass etwas vorübergeht. Denn Leben heißt ja, dass irgendwas passiert, irgendwas also vorübergeht. Dieser Bibeltext verabschiedet unsere Vorstellungen von einem persön‐ lichen Gott: Er benutzt sie noch, aber nur um sie zu verabschieden. Wir sollen auch ihnen nur noch hinterhersehen. Was Gott ist, das können wir nicht auf gegenständliche Weise begreifen; nicht körperlich und dann auch nicht per‐ sönlich. (Denn alle Personen sind körperlich.) Wir sollten vielmehr darauf achten, was mit uns passiert, wenn Gott an uns vorüberzieht: welcher Glanz an uns vorüberzieht und unser Leben hell macht. – Interessanterweise er‐ zählt die Bibel das Ergebnis dieser Begegnung später genauso: Am Ende leuchtet das Angesicht von Mose (2. Mose 34,29). Darüber kann man in ge‐ genständlicher Weise reden. Da wird es persönlich – in dem, was mit uns passiert, wenn Gott an uns vorübergeht. Aber was mit uns passiert, merken wir erst nachträglich, nachdem es vorübergegangen ist. Das Vorübergehen merken wir gar nicht. Erst nach‐ träglich merken wir: Da muss wohl etwas gewesen sein. Ich möchte ein wenig beschreiben, wie wir Menschen abhängig von sol‐ chen Erfahrungen sind, die an uns vorübergehen, ohne dass wir sie beob‐ achten können. Ich halte diese Erfahrungen für Gottesbegegnungen, und zwar allein schon deshalb, weil sie sich eben nicht vergegenständlichen las‐ sen und weil sich keine Person zeigt, sondern etwas, was überhaupt erst erschafft, dass es Gegenstände und Personen gibt. Was im Folgenden be‐ schrieben werden soll, analysiert Alltagserfahrungen. Damit soll belegt wer‐ den, wie nahe Gott uns ist und uns immer im Alltag begleitet. Gott ist nichts, was gegenständlich da sein kann, aber das Gegenständliche ist bei Gott: „Siehe, es ist ein Raum bei mir.“ Gott ist nicht da, aber alles, was da ist, ist immer „bei“ ihm. Nehmen wir einmal an, Sie liegen morgens noch im Bett, wo Sie kein Wecker weckt und Sie keinen Termin haben. Und irgendwann merken Sie, dass Sie nicht mehr schlafen. Sie sind aufgewacht. Und während Sie das
7 Was ist Gott? (2. Mose 33, 18-23)
merken, merken Sie auch, dass Sie vor fünf Minuten auch schon wach waren. Aber da haben Sie es noch nicht gemerkt. Den genauen Zeitpunkt, wann Sie wach geworden sind, haben Sie verpasst. Aber diesen Moment muss es ge‐ geben haben, denn sonst wären Sie ja jetzt nicht wach. Sie können also dem Moment Ihres Aufwachens nur hinterhersehen. „Dann will ich meine Hand von dir tun und du wirst hinter mir hersehen.“ Genauso ist es natürlich mit dem Einschlafen. Wir bekommen nie den Moment mit, bei dem wir einschlafen. Denn wenn wir ihn mitbekommen würden, würden wir nicht schlafen. Erst wenn wir wach werden, können wir rückblickend sagen: Ich muss wohl eingeschlafen sein. Der Moment des Einschlafens war nicht da, als wir beim Einschlafen waren. „Siehe, es ist ein Raum bei mir.“ Ein anderes schönes Beispiel: der Moment, an dem wir uns in jemanden verlieben. Wann genau hat der Moment stattgefunden, an dem wir uns in jemanden verliebt haben? Man kann sich zwar vornehmen, sich zu verlieben, und für jemanden ein wenig mehr Interesse zeigen. Aber wann merkt man, dass dieses Interesse auch Verliebtsein ist? Vielleicht war man ja schon ver‐ liebt, als man die Entscheidung getroffen hat, die Person einmal zum Kaffee einzuladen. Dann hat man den Moment bereits verpasst. Oder es passierte irgendwann später: Am Anfang noch ein unverbindlicher Flirt, aber auf ein‐ mal sitzt man so tief drin, dass man nicht gemerkt hat, wie man reingerutscht ist. Vielleicht hat das Neue Testament von Gott gerade deshalb auch so ge‐ sprochen: Gott ist die Liebe (1. Joh 4,16). Er ist also nicht einfach nur „ein Lieber“, sondern er ist das Ereignis der Liebe, das wir nicht im selben Moment mitbekommen, an dem es sich ereignet, sondern erst wenn es schon vor‐ übergegangen ist. Alle Ereignisse unseres Lebens sind im Vorübergehen. Solange sie vor‐ übergehen, wissen wir noch nicht, wie sie ausgehen. Und sobald sie vor‐ übergegangen sind, sind sie keine Ereignisse mehr. Von Ereignissen können wir nur im Nachhinein sprechen. „Dann will ich meine Hand von dir tun und du wirst hinter mir hersehen.“ Vielleicht ist uns Christen an Gott deshalb auch sein Wort so wichtig – nicht einfach das geschriebene, sondern vor allem das gesprochene Wort, von dem die Reformatoren sagten, dass der Glaube vom „lebendigen Wort“, also vom mündlichen Wort komme: Es ist erstaunlich, was passiert, wenn wir einer Person zuhören. Noch bevor sie fertig ausgesprochen hat, was sie gerade sagt, wissen wir schon, was sie sagen will. Auch da haben wir den
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7 Was ist Gott? (2. Mose 33, 18-23)
Moment verpasst, an dem wir die Stimme verstanden haben. Jedenfalls hängt unser Verständnis nicht davon ab, bis die Stimme ihren Satz zu Ende ge‐ sprochen hat. Stimmen sind freie Ereignisse. Sie sind nie ganz da, aber sie ereignen sich. Das erzeugt einen Raum, um sie plötzlich zu verstehen. „Siehe, es ist ein Raum bei mir.“ Kann man zu einem solchen Gott beten? Zu einem Gott, der keine Ohren hat, kein Gehirn, mit dem er unsere Gedanken errät? Der keine Person ist? Einen solchen Gott vor sich haben zu wollen, entspräche wieder Moses For‐ derung: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Aber am Ende dieser Gottes‐ begegnung ist es Moses Angesicht, das leuchtet – und kein göttlicher Körper. So beten wir eigentlich. Wir beten nicht, weil wir denken, am anderen Ende würde jemand unsere Informationen empfangen. Sondern wir beten, weil wir merken, wie sich beim Gebet etwas Glänzendes ereignet. Wir beten nicht, weil wir hoffen, Gott würde irgendwas machen. Sondern wir beten, weil uns dabei etwas widerfährt – schon während wir beten. Wer betet, lässt sich darauf ein, dass dabei etwas passiert. Und wenn man am Ende Amen sagt, dann sind die eigenen Hände vielleicht nicht gefüllt worden mit ir‐ gendwelchen Gegenständen, die wir uns gewünscht haben – und trotzdem haben wir den Eindruck: Da war doch was! Aber den genauen Zeitpunkt haben wir nicht mitbekommen. Immerhin im Nachhinein können wir mer‐ ken, wie viel Glanz uns im Leben widerfährt. Literatur zur Vertiefung
H. Arendt: Vita activa, Kap. 5. – Unvorhersehbarkeit ist allen Anfängen inhärent (216). Deshalb kann man erst im Nachhinein von ihnen als etwas Bestimmtem sprechen. Anfänge lassen sich nicht in statistisches Denken einpassen. U. Gerber: Gottlos von Gott reden, Einführung. – Hier wird dieselbe Bibel‐ stelle so interpretiert, dass sich Gott erst im Nachhinein bestimmen lässt, weil er allen Bestimmungen vorausliegt (17). Ch.S. Peirce: Religionsphilosophische Schriften, 329–377. – Das „vernach‐ lässigte Argument“ für die Realität Gottes besteht nach Peirce darin, dass man die unbestimmte Kreativität Gottes instinktiv unterstellen muss, um auf ihn zu schließen. Deshalb ist Gott zwar nicht beweisbar, aber nur deshalb nicht, weil wir ihn als Unbestimmtheit immer schon im Rücken haben.
8 Gott mit dem menschlichen Gesicht (Trinität) Trinität
„Dreieinigkeit“. Gott wird als einer in drei Personen aufgefasst, Vater, Sohn und Heiligem Geist. Die Lehre der Trinität wurde im 4. Jahrhun‐ dert festgelegt. „Trinität“ oder „Dreieinigkeit“ kommt aber in der Bibel nicht vor. Dennoch werden im Neuen Testament Vater, Sohn und Hei‐ liger Geist als Gott angebetet. Dabei halten Christen die drei göttlichen Personen nicht für drei Götter. Die göttlichen Personen haben ein Wesen (griechisch: Homousia). Die Theologie hat viele Denkmodelle zurückgewiesen, wie der eine Gott zugleich aus drei Personen besteht, etwa die Vorstellung, dass Gott sich zu verschiedenen Zeiten andere Masken aufsetzt. Mit diesen Zurückweisungen wurde die Richtung der Lehre von der Trinität vorgegeben. Diese Richtung besteht darin, dass jede Person die anderen beiden Personen „enthält“, dass sie das gött‐ liche Wesen als Prozess entfalten oder unterschiedliche Perspektiven des einen göttlichen Wesens repräsentieren. Man kann also nicht von einer göttlichen Person sprechen, ohne sich dabei auf die anderen bei‐ den zu beziehen oder sie mit zu meinen.
8.1 Die Treue Gottes im Menschen (Ps. 43) Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider ein ungütiges Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten! Denn du bist der Gott meiner Stärke: Warum hast du mich verstoßen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget? Sende dein Licht und deine Treue, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung, dass ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist, und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott. Was betrübst du mich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich lobe ihn noch, meines Angesichts Hilfe und meinen Gott.
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8 Gott mit dem menschlichen Gesicht (Trinität)
„Sende dein Licht und deine Treue!“ Mir scheint, hier sehnt sich jemand nach dem dreieinigen Gott. Obwohl dieses Bibelwort im Alten Testament steht, das Jesus Christus noch nicht kennt, bittet jemand darum, dass Gott auf dreifache Weise sich offenbart. Dass Gott treu ist, daran zweifelt der Beter nicht. Und dass Gott Licht ist, weiß er auch. Es fehlt ihm nur eins: Anschei‐ nend kommen die beiden nicht bei ihm an. Sonst könnte er nicht beten, dass Gott sein Licht und seine Treue ihm noch senden möge. Gottes Licht und Treue sind zwar gegeben, aber sie erreichen diesen Menschen nicht. Man könnte sagen, dass sie ihm „abwesend nahe“ sind. Abwesend – und trotzdem nahe. Wie geht das? Manchmal ist uns etwas tatsächlich näher, was abwesend ist. Kinder wünschen sich ganz stark ein bestimmtes Geburtstagsgeschenk. Aber noch haben sie nicht Geburtstag. Deshalb haben sie ihren Wunsch dauernd im Kopf und können kaum noch über etwas anderes reden. Gerade weil sie das Geschenk noch nicht haben, weil es für sie noch fern ist, verfolgt es sie den ganzen Tag. Ganz anders kann es sein, sobald sie endlich das lang ersehnte Geschenk bekommen. Wie schnell ein Geschenk seinen Reiz verliert! So‐ lange es fern war, musste man dauernd daran denken. Sobald man es hat, verliert es seine Auffälligkeit. Und so ist es nicht nur bei Kindern. Sondern eben auch bei Psalm 43. Der Beter sehnt sich nach Gottes Licht und seiner Treue. Das alles ist ihm nahe, aber nur als das Abwesende nahe. Vielleicht besteht gerade darin Gottes Treue, dass der Beter ihm nicht ent‐ kommen kann, obwohl für ihn Gottes Treue weit weg ist. Treue bewährt sich ohnehin nur in Situationen, wo wir voneinander entfernt sind. Nur wer abwesend ist, kann treu sein. In nächster Nähe können wir uns nicht einmal untreu werden – denn sonst wären wir ja nicht in nächster Nähe zusammen. Psalm 43 spürt also Gott auf zweifache Weise: Gott ist Licht. Durch Gott wird etwas deutlich, was sonst unauffällig bliebe. Und Gott ist Treue. Ob‐ wohl er von dem Beter entfernt ist, läuft ihm Gottes Treue nach. Der Beter hat also Gottesgewissheit und zweifelt überhaupt nicht an Gott. Nur ein Drittes fehlt ihm, wonach er sich sehnt: Gott mit einem menschlichen Ge‐ sicht. Es reicht ihm nicht, dass es zwar einen Gott gibt, der aber weit weg ist, oder dass Gott Licht ist, aber letztlich nur eine ferne Treue zum Leuchten bringt. Der Beter wünscht sich, dass Gott sich auch in menschlicher Gestalt zu erkennen gibt. Der Beter wünscht sich Frieden unter den Menschen und Gott in seiner Nähe. Er hätte ihn gern bei sich.
8.1 Die Treue Gottes im Menschen (Ps. 43)
Darin liegt der Grund für meine These, dass sich der 43. Psalm nach dem dreieinigen Gott sehnt. Und dabei sehnt er sich vor allem nach dem mensch‐ lichen Gott. Nicht einfach nach den übermenschlichen Kräften der Treue und der Erleuchtung. Sondern menschlich soll es zugehen. In Frage steht nicht Gott, in Frage steht der Mensch. Kein Zweifel, dass es Gott gibt. Aber es gibt erhebliche Zweifel, ob es unter Menschen menschlich zugeht. Vielleicht zweifeln heute vor allem deshalb so viele Menschen an Gott, weil sie eigentlich am Menschen zweifeln: Ist der Mensch wirklich mensch‐ lich? Gibt es den Menschen wirklich – so wie wir ihn gerne hätten? Jesus von Nazareth ist uns nicht mehr als Mensch nah. Zwar ist er nach dem christlichen Zeugnis von den Toten auferstanden und ist uns dadurch mit seiner Treue gegenwärtig, aber er ist uns eben nicht mehr als Mensch nahe; nicht mehr so nahe, wie sich Psalm 43 Gottes Nähe wünscht. Auch Jesus ist uns nur so nahe wie Gottes Treue: von Weitem nahe – so wie ein Geschenk, auf das man sich freut, das man aber noch nicht hat. Wie merkwürdig eigentlich, dass wir am Menschen zweifeln. Natürlich können wir zweifeln, ob Menschen wirklich menschlich sind. Dafür hören wir einfach zu schlimme Geschichten von ihnen. Aber das Neue Testament enthält ein Wort von Jesus, dass er uns nicht allein zurücklassen wird (Joh. 14,18). Obwohl er inzwischen für uns weit weg ist, hat er uns versprochen, dass Gottes menschliche Seite immer wiederkommt. Die Erfahrung, dass der Mensch unendlich wertvoll ist, tritt oft gerade dadurch drastisch auf, dass er missachtet und misshandelt wird. Gerade wenn die Menschenwürde in weite Ferne gerückt ist, wird sie uns aufdring‐ lich nahe. Der jüdische Philosoph Hans Jonas hat einmal darüber gestaunt, dass wir Menschen uns anscheinend einsam fühlen. Wir fragen uns, ob es Außerir‐ dische gibt auf einem fernen Planeten. Dabei sollte es uns eher beschäftigen, so Jonas, dass wir mit acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten zu‐ sammenleben. Wie kann man sich da einsam fühlen?2 Wenn wir nach dem menschlichen Gott suchen, nach dem Gott mit seinem menschlichen Ge‐ sicht, dann sollten wir uns eben menschliche Gesichter ansehen. Acht Mil‐ liarden gibt es davon zu sehen. Auch Jesus ist kein Außerirdischer. Wir müssen uns nicht nach dem Him‐ mel sehnen, um Gott mit seinem menschlichen Gesicht zu sehen. Dazu lässt das Neue Testament ihn zu Wort kommen: „Was ihr einem meiner geringsten 2
H. Jonas: Materie, Geist und Schöpfung, 1988, 68.
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8 Gott mit dem menschlichen Gesicht (Trinität)
Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt. 25,40b). Gottes menschliche Nähe kommt wieder. Sie kommt wieder in den Mitmenschen, mit denen wir zusammenleben. Die Menschenwürde ist Gottes Ankunft in der Welt. Weil jeder Mensch eine Würde hat, ist Gott in unserer Nähe. Gott ist Licht und er ist Treue, aber Gott ist auch der „geringste unter den Brüdern“. Und wo wir einem Mit‐ menschen begegnen, können wir gar nicht mehr an der menschlichen Seite Gottes zweifeln. Was sich der 43. Psalm wünscht, ist, dass er endlich einmal Menschen begegnet; nicht Feinden, die ihm das Leben schwer machen, sondern Men‐ schen, denen er ins Gesicht schauen kann, ohne dabei zu erschrecken. Der 43. Psalm wünscht sich Menschlichkeit. Sogar bei acht Milliarden Mitmen‐ schen, die zurzeit auf Erden leben, kann man sich einsam fühlen. Dann ist Gott tatsächlich weit weg und seine Treue nur von weitem spürbar. Und dann wird es Zeit, dass sich der Wunsch erfüllt: „Sende dein Licht und deine Treue.“ Mach das menschlich spürbar! Und der Wunsch erfüllt sich ja: Wir begegnen ja unseren Mitmenschen und spüren, wie verletzlich sie sind. Und wir müssen rücksichtsvoll mit ih‐ nen sein. Seitdem Jesus uns Gottes menschliches Gesicht gezeigt hat, können wir es jetzt auch bei anderen finden: bei den geringsten seiner Brüder. Literatur zur Vertiefung
M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. – „Es gibt nur ei‐ nen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht verneint“ (229). Diese philosophischen Skizzen entdecken die Würde des Menschen darin, dass sie sich gegen ihre Verletzung sperrt. Gerade weil Menschen misshandelt werden, offenbaren sie, dass sie dafür nicht bestimmt sind, misshandelt zu werden.
8.2 Die Struktur religiöser Rede (Lk. 24,30-31) Schon die ersten Christen haben von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist gesprochen. Aber ein offizielles Bekenntnis ist erst 300 Jahre später daraus geworden, dass Gott einer in drei Personen ist. Das wiederum ist für viele so schwer zu glauben: Gott als einer in drei Personen. Dafür sind wir Chris‐
8.2 Die Struktur religiöser Rede (Lk. 24,30-31)
ten auch angegriffen worden, wir würden drei Götter anbeten und nicht einen. Für mich ist das Bekenntnis vom dreieinigen Gott eine Regel: Sie hilft uns, angemessen vom einen Gott zu reden. Und sie hilft nicht nur uns Christen, sondern allen Menschen, die an einen Gott glauben. Auch Juden und auch Muslime setzen diese Regel stillschweigend voraus, wenn sie von Gott reden. Das sollen einige Beispiele illustrieren. An der Universität biete ich öfter auch Lehrveranstaltungen an, an denen muslimische Theologiestudierende teilnehmen. Muslime stellen sich Gott als erhaben über allem vor: Gott kann nicht leiden, er kann sich nicht ver‐ ändern. Er ist von Ewigkeit her immer gleich. Er kann daher auch nicht Mensch werden. In einer Sitzung habe ich dann die Studierenden gefragt: Wenn sich Gott in Offenbarungen mitteilt, sind dann seine Offenbarungen göttlich oder sind sie weltlich? Ist der Koran zum Beispiel für die Muslime Gottes Wort oder ein menschliches Buch? Die Antwort ist klar: Für Muslime ist der Koran Gottes Wort. Deswegen kann er auch nicht in eine andere Sprache übersetzt werden. Denn sonst würde man das, was göttlich ist, zu etwas Menschlichem machen. Genauso haben die Muslime in meiner Lehrveranstaltung geant‐ wortet. Daraufhin habe ich rückgemeldet: Also ist der Koran göttlich. Und Gott im Himmel ist göttlich. Aber dann hätten wir doch zwei göttliche Wesen: Gott im Himmel und das göttliche Buch, das wir in den Händen halten und darin lesen können. Die muslimischen Studierenden haben darauf geantwortet: Nein, es sind nicht zwei. Denn der Koran redet doch von nichts anderem als von Gott im Himmel. Dagegen habe ich wieder eingewendet: Wie kann der Koran von Gott reden, wenn er nicht selbst göttlich ist? Wie kann ein Buch, das ganz und gar nicht göttlich ist, Gott angemessen ausdrücken? – Es gab aber einen muslimischen Studierenden, der darauf Folgendermaßen geantwortet hat: Der Koran ist zwar göttlich, aber nicht in sich selbst, sondern durch die Beziehung, die er zu Gott im Himmel hat. Derselbe Student fuhr fort, dass die Gelehrten des Islam deshalb dazu raten würden, Hilfe in den christlichen Bekenntnissen zum dreieinigen Gott zu suchen, um das zu verstehen. Gott ist einer. Aber seine Offenbarungen sind auch göttlich. Sie sind aber nur göttlich in Beziehung zu ihm. Zwischen Gott und seinen Offenbarungen muss zwar unterschieden werden, aber zugleich bilden Gott und seine Of‐ fenbarungen eine Einheit – eine Einheit in Beziehung.
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8 Gott mit dem menschlichen Gesicht (Trinität)
Diese Antwort des Studenten war für mich eine Sternstunde. Sie zeigt nämlich: Auch andere Religionen können nur dann an Gott glauben, wenn sie in Gott selbst Unterscheidungen vornehmen. Gott offenbart sich in Wor‐ ten und Zeichen. Aber diese Worte und Zeichen können ja nur Zeichen Gottes sein, wenn sie selber göttlich sind, wenn sie also Gott angemessen darstellen. Menschliche Worte sind zu schwach, um Gott darzustellen. Also muss sich Gott selber darstellen. Und seine Zeichen sind dabei genauso wie er selbst: Sie sind göttlich. Er ist nicht derselbe wie seine Offenbarungen. Und doch bilden er und seine Offenbarungen eine Einheit. Gott (1) bringt sich eindeutig (2) zur Darstellung (3). Das ist die Einheit, aber eine, die zugleich unterscheidet. Gott unterscheidet sich von seiner Darstellung. Aber die Darstellung bezieht sich doch eindeutig auf Gott. Für uns Christen ist die beste Darstellung Gottes der Mensch Jesus Chris‐ tus. Und die Eindeutigkeit dieser Darstellung nennen wir den Heiligen Geist. Gott (1) bringt sich eindeutig (2) zur Darstellung (3). Das heißt für uns Christen: Gott Vater (1) offenbart sich durch den Heiligen Geist (2) in Jesus Christus (3). Die Darstellung Gottes gehört zu Gott selbst. Und doch muss von ihr un‐ terschieden werden. Denn sonst würden wir Zeichen anbeten und nicht den, den sie meinen. Man kann die biblischen Geschichten daraufhin untersu‐ chen, ob sie diesen Dreischritt enthalten, und wird ihn ganz oft finden. Eine Geschichte soll das illustrieren, die Geschichte vom Ostertag, an dem zwei Jünger mit dem Auferstandenen unterwegs sind, aber nicht merken, dass er es ist. Und dann passiert Folgendes: Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach's und gab's ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.
Was genau ist passiert? Jesus hat ein Zeichen gegeben: Er hat mit ihnen Brot gegessen. Ein alltägliches Zeichen, ganz von dieser Welt. Menschlicher geht es nicht. Aber dieses Zeichen ist ein Zeichen Gottes. Jetzt erkennen die Jün‐ ger den Auferstandenen. Und genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihn er‐ kennen, verschwindet er vor ihnen. Warum verschwindet er ausgerechnet da? Weil das, was die Jünger erkennen, nicht mehr ein Zeichen ist, sondern das, was es meint. Sie haben nämlich die Herrlichkeit Gottes selbst erkannt – durch das Zeichen hindurch. Sie haben den unsichtbaren Gott selbst er‐ kannt. Und weil es der unsichtbare Gott ist, können sie ihn natürlich nicht
8.2 Die Struktur religiöser Rede (Lk. 24,30-31)
sehen. Was sie vorher gesehen haben, waren Zeichen, die ihnen geholfen haben, das unsichtbare Geheimnis Gottes zu erkennen. Aber jetzt wo sie das unsichtbare Geheimnis Gottes erkannt haben, sind die Zeichen nicht mehr wichtig. Jesus verschwindet, aber dabei ist die Eindeutigkeit wichtig gewor‐ den, mit der das Zeichen auf Gott gezeigt hat. Gott (1) bringt sich eindeutig (2) zur Darstellung (3). Die Herrlichkeit Got‐ tes (1) erscheint durch den Heiligen Geist (2) in Brot und Wein (3), in der Aus‐ legung der Bibel (3), im Kreuz Jesu Christi (3). Die Kommunikation der Reli‐ gionen ist auf solche Zeichen angewiesen, die christliche Rede auf die Bibel, Brot und Wein und auf das Kreuz, um Gott zu erkennen. Aber dabei wird nicht die Bibel angebetet oder Brot und Wein oder das Kreuz. Diese Zeichen bilden mit Gott eine Einheit. Aber wir unterscheiden sie zugleich von Gott. Die Trinitätslehre ist eine Regel, damit wir angemessen von Gott reden können, die Einheit zwischen Gott und seinen Offenbarungen erkennen und zugleich zwischen beiden unterscheiden. Diese Regel halten wir meistens ganz selbstverständlich ein, sogar meistens auch andere Religionen. Dazu muss keiner an die Trinität glauben. Es wird von niemandem verlangt, dass er an ein Bekenntnis aus dem 4. Jahrhundert glaubt. Aber meistens halten wir uns einfach so an diese Regel. Der dreieinige Gott hält offenbar auch so die Einheit mit uns. Ich sehe deshalb in der Dreieinigkeit Gottes eine Möglichkeit, dass wir uns an die anderen Religionen annähern können, mit ihnen Frieden schlie‐ ßen können und die Einsichten teilen, die uns geschenkt sind – uns Christen durch die Offenbarung in Christus. Der dreieinige Gott wendet sich allen Menschen zu. In ihm werden wir eine große Familie. Literatur zur Vertiefung
I. U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte, 225–235. – Bei Dalferth wird die Trinitätslehre als sprachliche Regel verstanden, wie man das Wort „Gott“ angemessen verwendet. Dazu gehört, dass Gott Selbstunterschei‐ dung ist, weil er ansonsten nicht in Beziehung treten könnte. H. Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, § 11. – In diesem Paragrafen nutzt Deuser die Religionsphilosophie von Charles S. Peirce für eine trinitätstheologische Beschreibung Gottes: Gott muss sich in Anderem zur Darstellung bringen, um sich als derselbe zu bestimmen. Ansonsten verbliebe er in absoluter Unbestimmtheit, die man nicht ein‐ mal bemerken könnte.
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9 Gottes Allmacht und Güte (Eigenschaften Gottes, Ps. 139, 5-10) Allwissenheit
Als allmächtiger Gott weiß er auch alles. Theologisch umstritten ist aber die Frage, ob Menschen frei sein können, wenn Gott alles weiß und daher auch im Voraus erkennt, wie sie stets handeln werden. Kann ein allwissender Gott also auch alles Mögliche wissen, was es noch nicht gibt? Neuere evolutionstheoretische Modelle schließen aus, dass Gott bereits etwas wissen kann, dessen Möglichkeit sich erst noch in der Entwicklung befindet. Aber Gott weiß alles ab dem Moment, in dem es sich entwickelt. Dazu muss er noch nicht wissen können, was schlechthin neu ist. Eine Frau hatte ihren Vater verloren und klagte nun gegen Gott: „Gott konnte meinem Vater nicht helfen“. Deshalb hat sich diese Frau von Gott abgewendet und mir das in einem Brief mitgeteilt, in dem sie ihren Kir‐ chenaustritt begründete. Was diese Frau nicht verstanden hat, war, warum Gott in diesem Fall nicht geholfen hatte. Sie konnte mit ihrem Glauben nicht zusammenbringen, dass sie mit etwas leben muss, was man nicht versteht. Menschen müssen mit dem Nichtwissen leben. Und dazu gehörte von nun an für diese Frau, dass sie nicht wusste, warum Gott ihrem Vater nicht helfen konnte. Interessanterweise schien es für sie leichter zu werden, mit dem Nichtwissen umzugehen, indem sie sich von Gott abwandte. Das Nichtwissen aber bleibt so bestehen. Etwa in derselben Zeit, in der ich diesen Brief bekam, hatte ich aber auch eine genau umgekehrte Äußerung von einer Person meiner Kirchenge‐ meinde gehört, die mit ihrem Nichtwissen anders herum umging. Sie klagte mir ihre Lebenssituation, die sich vor einiger Zeit verschlechtert hat. Und dann sagte sie eher beiläufig einen Satz, der bei mir hängen blieb: „Ich bin ein gläubiger Mensch. Ich weiß, es kann jeden Moment etwas völlig Uner‐ wartetes passieren“. Die Frau aus dem anonymen Brief hat mir leidgetan. Ich finde ihre Reak‐ tion tragisch. – Die Person aus dem Gespräch hat mich beeindruckt und hat
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9 Gottes Allmacht und Güte (Eigenschaften Gottes, Ps. 139, 5-10)
mir zu denken gegeben, weil sie ganz anders mit dem Nichtwissen umging. Sie weiß nicht, was im nächsten Moment alles passieren kann. Aber sie weiß, dass sie es nicht wissen kann und glaubt gerade deshalb an Gott. Gerade das Nichtwissen führt diese Person zu einer Gotteserkenntnis. Gerade aufgrund ihres Nichtwissens muss sie sich an Gott wenden. Im 139. Psalm wird ebenso das eigene Nichtwissen zum Anlass genom‐ men, einen persönlichen Bezug zu Gott zu entdecken. Gerade weil in dieser Welt mehr geschieht, als ich verstehe und erkenne, werde ich dazu gedrängt, an Gott zu glauben. Denn was ich nicht verstehe und nicht erkenne, muss Gott verstehen und erkennen. Gäbe es nämlich keinen Gott, dann könnte es zwar auch Dinge geben, die absolut unverständlich und absolut unerkennbar sind. Aber dann könnte ich nicht einmal wissen, dass sie unerkennbar sind. Dann wären sie eben absolut unerkennbar. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Hier führt die Nichterkenntnis über den Tod zur Gotteserkenntnis. „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da“. Gott ist überall schon gewesen, wo ich mich mit meinem Geist beschwerlich hintaste. Es ist so wenig, was ich in dieser Frage erkennen kann: Warum müssen Menschen sterben? Warum müssen unsere liebsten Menschen sterben? Es ist so be‐ schwerlich, hierzu eine Antwort zu finden, weil man dazu eigentlich nichts Genaues wissen kann. Wir erkennen hier die Grenze unseres Wissens. Aber gerade das führt den Beter zu der Einsicht: „Siehe, so bist du auch da“. Was ich nicht erkenne, führt mich zu der Einsicht, dass es dennoch erkannt wor‐ den sein muss von einer höheren Macht. Denn – und das erleben wir unzweifelhaft – es passiert mehr in dieser Welt als wir erkennen. Das führt in dem Psalm zu einem philosophischen Argument über die Gotteserkenntnis: Es passiert schon mit mir mehr, als ich von mir erkenne. Mein Leben ist davon abhängig, dass in mir etwas ge‐ schieht, auch wenn ich es nicht weiß. Wenn ich total davon abhängig bin, obwohl ich es nicht erkenne, dann muss es also ein Wesen geben, von dem
9 Gottes Allmacht und Güte (Eigenschaften Gottes, Ps. 139, 5-10)
ich total abhängig bin. Und dieses Wesen muss dann auch alles wissen, was ich selber nicht weiß, von dem ich aber immerhin weiß, dass ich es nicht weiß. Denn sonst wäre meine totale Abhängigkeit von diesem Wesen nicht total, wenn dieses Wesen nicht alles wüsste. Gott ist das Wesen, warum mehr passiert, als wir erkennen können. Und sobald wir wenigstens erkennen, dass wir vieles nicht erkennen, müssen wir annehmen, dass Gott das alles erkennt, was wir nicht erkennen. Denn an‐ sonsten hätten wir zwar Erkenntnis darüber, was wir nicht erkennen, aber diese Erkenntnis würde sich ihm nicht total verdanken. Wir erleben aber nun einmal, dass wir uns total Gott verdanken, weil mit uns Dinge passieren, die auch dann passieren, wenn wir nichts darüber wissen. Unsere Einsicht, alles von Gott total zu verdanken, bedeutet also zugleich, dass Gott alles weiß, was wir nicht wissen und niemals wissen werden. Diese Grundeinsicht steht hinter allen Beobachtungen dieses Psalms: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor dei‐ nem Angesicht?“ Es ist alles schon von Gott erforscht, was ich erkenne. Und ich erkenne ja auch, dass ich vieles nicht erkenne. Auch was grundsätzlich Gegenstand meiner Erkenntnis sein könnte, obwohl ich es nicht erkannt habe, muss damit wenigstens von Gott schon erkannt worden sein. Der Psalm kann also philosophisch das einholen, was unser christlicher Schöpfungsglaube enthält: Alles, was Gott erschaffen hat, ist von ihm er‐ kannt. Mit einer kühnen Weiterführung kann der Psalm daraus folgern, dass auch die Toten in Gott aufgehoben sind: „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da“. Wir erkennen zwar vieles nicht, was mit dem Tod zu tun hat. Und dennoch ist der Tod Gegenstand unserer Erkenntnis. Wir wollen etwas darüber erkennen. Und das schon führt uns zu der Einsicht: Gott, der Grund dafür ist, dass überhaupt etwas passiert, muss auch erken‐ nen, was im Tod passiert. Nach meinem Eindruck kann der Psalm daraus das ewige Leben erkennen: „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da“ und lässt mich leben, selbst wenn ich tot bin. Denn „wohin soll ich fliehen vor deinem An‐ gesicht? Von allen Seiten umgibst du mich.“ Wenn Gott erkennen kann, was im Tod passiert, dann ist der Tod nicht das absolute Nichts. Sondern dann passiert im Tod auch etwas. Sonst könnte ich mich seiner Erkenntnis ent‐ ziehen, wenn ich tot bin. Gott erkennt also, was im Tod geschieht. Indem sich Gott an die Toten erinnert, passiert etwas mit ihnen. Sie bleiben Teil
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9 Gottes Allmacht und Güte (Eigenschaften Gottes, Ps. 139, 5-10)
seiner Schöpfung und setzt sie in ein Geschehen. Oder in den Worten des christlichen Glaubens: Er erweckt sie zum Leben. Was genau im Tod passiert, das wissen wir nicht. „Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.“ Aber ich kann wenigstens begreifen, dass hier etwas Erkennbares geschieht. Ich kann we‐ nigstens ahnen, dass hinter dem Tod neues Leben entsteht. Und das ist etwas, was Menschen wirklich ahnen können, auch wenn es hinter ihrer Erkenntnisgrenze passiert. Sie ahnen, dass Gott es erkennt und dass deshalb dort auch Leben ist. Selbst in dem anonymen Brief an mich war eine solche Ahnung enthalten. Obwohl die anonyme Absenderin nicht er‐ tragen konnte, was sie nicht erkannte, hat sie trotzdem geahnt, dass an der Grenze ihrer Erkenntnis neues Leben entsteht. Sie hat mir Folgendes ge‐ schrieben: „Manchmal werde ich in die Kirche gehen, um mit meinem Vater zu sprechen.“ Das fand ich erstaunlich. Obwohl diese Frau den Glauben an Gott verloren hatte, weil ihr Vater gestorben war und sie den Grund dafür nicht verstand, spürte sie, dass hinter der Grenze ihrer Erkenntnisse neues Leben entsteht. Neues Leben, mit dem man sogar sprechen kann, und zwar für sie in der Kirche, im Haus Gottes. Wenn Menschen sterben, bleibt so viel offen, was wir nicht verstehen und womit wir uns auch nicht aussöhnen können. Vielleicht werden wir in sol‐ chen Situationen dafür Gott verklagen. Und dennoch taucht an der Grenze unserer Erkenntnis die Gotteserkenntnis wieder auf. Literatur zur Vertiefung
D. Korsch: Dogmatik im Grundriß, § 9. – Unter Allmacht versteht Korsch, dass Gott alles verwirklicht. Die Vorstellung der Allmacht Gottes ergibt sich aus der menschlichen Verwunderung, dass dem Menschen die Mög‐ lichkeit der Lebensführung gegeben ist. Diese Möglichkeit kann sich nicht aus innerweltlichen Bedingungen heraus erklären. Vielmehr muss sich der Mensch dabei auf die Wirklichkeit als ganze richten, also auf Gottes Allmacht. E. Jüngel: Der Tod als Geheimnis des Lebens. – Wenn Gott stirbt, stirbt nicht Gott, sondern der Tod. Gottes umfassendes Sein, das Leben und Tod übergreift, integriert die ganze Wirklichkeit, so dass ihm nichts fremd bleibt.
9 Gottes Allmacht und Güte (Eigenschaften Gottes, Ps. 139, 5-10)
J. Moltmann: Der Weg Jesu Christi, 269–278. Ähnlich wie bei Jüngel stirbt Gott den widernatürlichen Tod, um das natürliche Leben zu retten. Sein Tod führt zum Tod des Todes und zur Rettung des ganzen Kosmos.
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10 Zu Gott beten (Lk. 18,1-8) Allmacht
Als Schöpfer der Welt ist Gott allmächtig und keiner anderen Macht unterworfen. Ist er damit nicht auch verantwortlich für alles, was in der Welt geschieht? Auch für das Böse? Lässt Gott dann überhaupt seinen Geschöpfen Raum, um eigenständig zu sein? Dann würde ein allmächtiger Gott nichts neben sich zulassen. In der Konsequenz könnte er nicht etwas anderes erschaffen als sich selbst hervorzubrin‐ gen. Und das wäre ein Widerspruch zu seiner Allmacht. Theologisch muss daher die Bedeutung von Gottes Allmacht von den berichteten Erfahrungen gläubiger Menschen hergeleitet werden und nicht von der abstrakten Logik des Begriffs „Allmacht“. Er sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nach‐ lassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir soviel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschen‐ sohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?
Beten hilft garantiert. Sogar ein ungerechter Richter hilft, wenn man ihn nur lange genug bittet. Der Richter tut das um seinetwillen. Er tut das, um nicht selbst Schaden zu nehmen. Könnte das nicht auch das Motiv sein, weshalb Gott helfen müsste, nämlich damit auch er keinen Schaden nimmt? Viel‐ leicht gibt es kaum ein religiöses Thema, das in unserer Zeit umstrittener ist
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10 Zu Gott beten (Lk. 18,1-8)
als das Gebet. Anscheinend erleidet Gottes Anerkennung gerade durch Ge‐ bete Schaden. Zu viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Gebete nicht erhört worden sind. Viel zu viele Menschen sind enttäuscht worden. Und viel zu viele Menschen wollen sich auch vor weiteren Enttäu‐ schungen schützen. Deshalb trauen sie dem Gebet nichts zu. Zu Beginn meines Berufslebens hörte ich von einem Fall, bei dem ein Kind seinen Glauben an Gott verloren hatte, weil es vergeblich gebetet hatte. Es bekam einen kleinen Bruder, der behindert war. Und ein Bekannter hat der Familie geraten, zu beten, dass die Behinderung verschwinde. Das Kind zu‐ mindest hat dann immer wieder gebetet. Aber der Zustand des kleinen Bru‐ ders blieb unverändert. Bei einer solchen Geschichte kann man erhebliche Zweifel bekommen, dass die Behauptung, dass Beten garantiert hilft, moralisch gerechtfertigt ist. Zumindest garantiert Beten nicht, dass alles eintritt, was wir wollen. Bestimmte Strategien kursieren, um diesen Widerspruch aufzulösen, dass Jesus die garantierte Wirkung durch das Gebet behauptet, dass Menschen aber zugleich enttäuschende Erfahrungen mit dem Gebet machen. Religiöse Menschen entwickeln Strategien, um zu erklären, dass bestimmte Gebete nicht erhört werden. Manche Strategien sind ganz sinnvoll, manche halte ich nicht für richtig. Aber alle Strategien laufen nach dem Muster, den An‐ spruch unserer Gebete herabzusetzen. Und dieses Muster halte ich für falsch. Sogar in dem vorliegenden Bibelwort findet sich so eine Strategie: „Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“ Damit wird uns untergeschoben, dass wir daran schuld sind, wenn unser Gebet nicht erhört wird. Die Strategie besteht darin, dass Beten zwar garantiert hilft, aber auch nur, wenn man dem Menschensohn glaubt. Ich halte diese Strategie für falsch. Denn Jesus unterstreicht ja kurz vorher, dass Gott seinen Auserwählten Recht schaffen wird – um seinetwillen wird er es tun. Gott hilft uns – nicht, wenn wir vorher genug daran glauben, sondern weil es ihm selbst entspricht, den Seinen zu helfen. Dass Beten ga‐ rantiert hilft, wird sofort zurückgenommen, wenn man die Bedingung un‐ seres Glaubens daran bindet. Eine andere Strategie findet man oft in theologischen Lehrbüchern. Da‐ nach hilft Beten zwar garantiert, aber nur wenn man um das Richtige bittet. Viele theologische Lehrbücher schreiben, dass nicht alle Gebetsinhalte damit gemeint seien, sondern nur solche, in denen man darum bittet, den Heiligen Geist zu empfangen oder dass Gott den Glauben stärkt. Auch solche inhalt‐ lichen Einschränkungen halte ich für eine Abschwächung der garantierten
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Gebetserhörung. Die Bibel jedenfalls gibt ein anderes Zeugnis: Man kann dort wirklich um alles Mögliche bitten. Ich möchte daher in meinen Überlegungen daran festhalten, was in dieser Bibelstelle behauptet wird, dass Beten garantiert hilft. Dafür haben wir auch zu viele gute Beispiele, dass Beten hilft. Auch Atheisten halten in bestimmten Situationen Stoßgebete – nicht weil sie dabei plötzlich in ihrem Glauben gestärkt würden, sondern weil sie ein Gebet einfach loswerden müssen. Manchmal überkommt es Menschen einfach zu beten – um alles, was sie jetzt gerade umtreibt. Daher will ich an der garantierten Hilfe des Betens festhalten. Aber trotz‐ dem können wir ja auch nicht beiseite schieben, dass Menschen nach ihren Gebeten enttäuscht wurden. Das garantiert helfende Gebet garantiert of‐ fenbar nicht, dass das Erwünschte immer eintritt. Das Gebet erreicht nicht alles, aber das Gebet erreicht immer etwas. Selbst die Bibel hat nie behauptet, dass das Gebet alles erreicht. Die Psalmen sind dafür ein gutes Beispiel, die um Gottes Hilfe flehen, aber dabei scheinbar festgefahren bleiben. Auch die Bibel hat schon dokumentiert, dass Menschen enttäuscht wurden, weil ihre Gebete nicht erfüllt wurden. Aber trotzdem dreht sich in fast jedem Psalm auf einmal der Ton. Auf einmal entdeckt der niedergeschlagene Beter ein Fünkchen Hoffnung: „Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst und nimmst dich meiner an in Not“ (Ps. 31,8). Das Gebet erreicht nicht alles. Es heißt nicht: „Ich freue mich, dass ich keine Not mehr habe“. Hier betet jemand in Not. Aber diese Not wird gelindert. Das Gebet erreicht immer etwas. Trotz der Not erfährt der Beter auch Erleichterung. Vielleicht liegen viele Missverständnisse darin, dass das Gebet als kausale Verursachung einer göttlichen Wirkung betrachtet wird, so als könne das Gebet eine göttliche Wirkung „anknipsen“. Damit wird dem Gebet gleich‐ zeitig zu viel und zu wenig zugetraut: Zu viel wird ihm zugetraut, wenn man meint, man könnte eine Handlung Gottes erzwingen, so als wären göttliche Wirkungen technischer Art. Zu wenig wird dem Gebet zugetraut, wenn sein eigentlicher Sinn außerhalb des Gebets liegt, nämlich in der Wirkung, die es anstößt, wenn es schon abgeschlossen ist. Die garantierte Hilfe des Gebets liegt vielmehr im Gebet selbst. Sie liegt darin, dass alles Mögliche, was einen Menschen beschäftigt und umtreibt, mit Gott in Beziehung gebracht wird. Es ist etwas anderes, ob man nicht mehr krank sein möchte oder ob man Gott um Heilung bittet. Im ersten Fall ist die Krankheit eine existenzielle Not, im zweiten Fall wird sie zu einem Ausdruck für die Beziehung zu Gott.
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Im ersten Fall ist man durch einen Sachverhalt belastet, im zweiten Fall the‐ matisiert man nicht einfach diesen Sachverhalt, sondern dass dieser Sach‐ verhalt widerfahren ist. Im Gebet werden Ereignisse des Lebens aus der Per‐ spektive der Gottesbeziehung betrachtet. Dieser Perspektivwechsel ist eine garantierte Änderung der Situation. Der „Erfolg“ dieses Perspektivwechsels lässt sich dann aber auch nicht an den bloßen Sachverhalten ablesen – etwa ob man gesund wird. Vielmehr stellt sich die Hilfe des Gebets ein, indem das Verhältnis des Sachverhalts zur Gottesbeziehung betrachtet wird. Auch wer nach seinem Gebet krank bleibt, erlebt seine Krankheit anders, als wenn er oder sie nicht betet. Manche Menschen fühlen sich schuldig und ringen um Vergebung, wenn sie gesund werden, während andere Patienten im selben Krankenzimmer gestorben sind. Manche wiederum fühlen sich gestärkt und getröstet in ihrer unheilbaren Krankheit. Im Perspektivwechsel des Gebets erweitert sich der Horizont der Möglichkeiten, das eigene Leben hilfreich wahrzunehmen. So ist es auch mit der Witwe aus dem biblischen Gleichnis: Sie will nicht einfach ein besseres Leben führen, sondern vom Richter Recht bekommen. Der Begriff des Rechts setzt Anerkennung durch eine andere Person voraus. Die Witwe erkämpft sich die Anerkennung durch den Richter. Daneben ist es im Gleichnis nachrangig, welches inhaltliche Urteil er nun für sie spricht. Ebenso beim Gebet: Wer betet, thematisiert alles, was ihn oder sie umtreibt, vor Gott – und bleibt damit nicht mehr damit allein, was ihn oder sie um‐ treibt. Das Kind, das vergeblich darum gebetet hat, sein Bruder soll nicht mehr behindert sein, hat seinen Glauben an Gott verloren. Aber es ist ihm auch ein falsches Gottesbild vorgestellt worden. Ein Gott, der den Gebetswunsch garantiert erfüllt, ist nicht der Gott der Bibel. Tatsächlich hat auch hier das Beten des Kindes etwas erreicht. Es ist nämlich reifer geworden und glaubt nichts mehr, was auch kein Christ verantwortlich vertreten kann. Ich hätte es allerdings diesem Kind gewünscht, dass man ihm von Gott eine realistische Hoffnung vor Augen gestellt hätte. Ich hätte ihm ge‐ wünscht, dass der Bekannte mit ihm gebetet hätte. Und da hätte man tat‐ sächlich alles Mögliche bitten können. Und doch hätte das Kind wissen sol‐ len: Das Gebet erreicht nicht alles. Aber es erreicht immer etwas. Und was es erreicht, das bezieht Gott mit ein und nicht allein unsere Gebetswünsche.
10 Zu Gott beten (Lk. 18,1-8)
Literatur zur Vertiefung
Chr. Tietz: Was heißt: Gott erhört Gebete? – Nach einer theologiegeschicht‐ lichen Einordnung dieser Frage betont die Zürcher Theologin, dass Ge‐ betserhörung nicht von der Erfüllung der Gebetsinhalte abhängt, sondern von der Erfahrung, dass die Inhalte in den Zusammenhang mit Gott ge‐ stellt werden, dass also Gottes Fürsorge wahrgenommen wird.
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11 Wie kann Gott das Böse zulassen? (Das Theodizee-Problem) Theodizee
„Rechtfertigung Gottes“. Darunter versteht man das Problem, wie Gott als gerecht verstanden kann, wenn in seiner Schöpfung Böses ge‐ schieht. Es gibt Fragen, die man stellt, ohne jemanden bei der Antwort ausreden zu lassen. Eine dieser Fragen heißt: „Warum lässt Gott so etwas zu?“ Eine solche Frage wird gestellt, ohne eine Antwort hören zu wollen. Pfarrerinnen und Pfarrern kann es öfter passieren, dass sie eine Antwort andeuten – sie sind ja gefragt worden. Aber man will ihre Antwort nicht hören. Wer sie so fragt, redet bald weiter und wartet ihre Antwort nicht ab. Vielleicht sind sie deshalb oft zurückhaltend, wenn man ihnen diese Frage stellt. Denn anscheinend handelt es sich gar nicht um eine wirkliche Frage. Darauf zu antworten erscheint dann respektlos. Es wäre fast unanständig, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer eine Antwort darauf hätten. Denn welche Antwort würde jemand gerne hören, der diese Frage stellt? Würde es nicht vielmehr erschrecken, wenn jemand antwortet, dass es Sinn macht, dass Menschen sterben, und wenn jemand die Gründe dafür darlegen kann? Gegenüber trauernden oder verzweifelten Menschen wäre es re‐ spektlos. Wenn wir dem quälenden Gedanken darin beikommen wollen, müssen wir besser verstehen, was jemand damit bezweckt, wenn er das sagt: „Warum lässt Gott das zu?“. Was ist der Zweck der Frage, wenn keine Antwort be‐ zweckt ist? Trauernde Menschen äußern solche Fragen, wenn sie etwas Unbegreifli‐ ches erlitten haben, etwa den endgültigen Abschied eines geliebten Men‐ schen. Das ist eine abgründige Erfahrung. Denn ein Abschied für immer übersteigt unsere Vorstellungskraft. Unser Geistesvermögen kann diesen Gedanken nicht fassen, dass wir für immer Abschied nehmen müssen. Es geschieht wirklich, was unwirklich ist. Das ist das Abgründige: Obwohl es nicht zu fassen und nicht zu begreifen ist, ist es trotzdem geschehen.
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11 Wie kann Gott das Böse zulassen? (Das Theodizee-Problem)
Was uns da erdrückt, wird mit der aufdringlichen Nähe Gottes in Verbin‐ dung gebracht. Denn auch Gott ist die Wirklichkeit, die wir nicht fassen können. Anscheinend reagieren Menschen auf das Unfassbare oft so, dass sie religiös sprechen. Sie müssen in der Sprache der Religion sprechen, weil diese Sprache die Wirklichkeit des Unwirklichen aussprechen kann. Und zugleich müssen sich Menschen davon abgrenzen, dass sie so er‐ drückt werden von der unfassbaren Wirklichkeit Gottes. Deshalb ist keine Antwort gewünscht auf diese religiöse Frage. Ein Gott, der uns zu nahe kommt, erdrückt uns mit seiner unbegreiflichen Wirklichkeit. Ein Gott, der uns zumutet, den unendlichen Abschied von unseren Liebsten zu begreifen, mutet uns zu viel zu. Wir müssen uns davon abgrenzen und eine Grenze setzen zwischen uns selbst und dem, was uns zu hoch ist und zu schwer. Beides kann geschehen, wenn Menschen entsetzt sind. Einerseits reden sie in der Sprache der Religion; denn mit ihr kann das Unwirkliche ausge‐ sprochen werden, das Wirklichkeit geworden ist. Und andererseits grenzen sie sich von dieser erdrückenden Wahrheit des Unbegreiflichen ab. Auch andere Verhaltensweisen von entsetzten, verzweifelten oder trau‐ ernden Menschen integrieren beides: Manche Menschen graben direkt nach einem Schicksalsschlag ihren Garten um, kaufen sich plötzlich ein neues Auto oder gehen jetzt erst recht auf Partys. Denn sie müssen wie‐ der den irdischen Boden unter den Füßen fühlen, die irdische Wirklich‐ keit, die sie fassen und begreifen können: Sie verweigern sich dem Un‐ wirklichen. Und doch verhalten sie sich nur so, weil ihnen etwas Unwirkliches geschehen ist. Und beides zeigt sich in diesem Satz: „Warum lässt Gott das zu?“ – Man redet in der Sprache der Religion: „Gott hat es zugelassen“. – Und zugleich fragt man sich: „Warum?“ und grenzt sich von einer unbegreiflichen Tatsa‐ che ab. Man klagt an, dass das Unwirkliche geschehen ist, und zieht damit eine Grenze. Man sucht Anschluss an die irdische Vernunft und hält das Unfassbare auf Distanz. Es gibt so viele biblische Geschichten, die genau diese Spannung von Nähe und Distanz beschreiben. Gott kommt auf den Berg Sinai, um sein Volk zu belehren. Gott kommt, um das Unwirkliche begreiflich zu machen. Sein Volk versteht ihn auch und will seine Gebote halten. Aber zugleich wird ihnen die göttliche Nähe zu dicht (2. Mose 20,19). Es ist eine Gnade, wenn Gott uns nahe genug kommt, damit wir das Un‐ wirkliche im Leben beschreiben können. Aber es ist auch eine Gnade, wenn wir uns von seiner drückenden Nähe abgrenzen können. Manchmal ge‐
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schieht beides gleichzeitig: Wir erfassen aufdringliche Signale, in denen sich Gott selbst eine Grenze setzt. Was sind das für Signale, die Gott sendet? Wo verstehen wir das Göttliche besonders deutlich und spüren dabei zugleich auch seine Distanz? Ich möchte einige solcher Signale andeuten: Der letzte Einkaufszettel ei‐ nes Verstorbenen ist auf einmal so wertvoll für uns. In ihm zeigt sich das Leben. Aber in einigen Wochen können wir ihn doch wegwerfen. Uns fallen Sprüche ein, Lebensweisheiten, die uns nie etwas gesagt haben. Jetzt auf einmal denken wir daran und sinnieren darüber. Und doch sind es alte Sprüche, die wir schon lange kennen und die schon immer irgendwie in unser Leben gehört haben. Sie verweisen auf das Unbegreifliche, sie sind aber selbst leicht zu begreifen und leicht in unserer Lebensgeschichte un‐ terzubringen. Viele Trauernde schweigen viel. Ihre Gedanken fallen von ihnen ab ins Leere. Das Schweigen ist auch ein Signal, obwohl es nichts sagt. Aber es hilft oft und klärt auf. Es zeigt etwas, obwohl es die Sprache begrenzt. Die richtige Balance zu finden zwischen Nähe und Distanz zu Gott, wird zur Aufgabe trauernder Menschen. Sie sind in der Regel mühelos dazu in der Lage, was ihnen zu anderen Zeiten schwer fallen würde. Anscheinend kann hinter dem Unbegreiflichen doch etwas begreiflich werden. Auch wer Gott dafür verklagt, dass er Böses zulässt, lernt, eine Balance zwischen dem Begreiflichen und Unbegreiflichen zu finden. Man lässt sich von Gott auch dann helfen, wenn er sich schrecklich unverständlich zeigt. Literatur zur Vertiefung
G.W. Leibniz: Theodizee. – In diesem Werk erklärt Leibniz, dass ein voll‐ kommener Gott keine vollkommene Welt erschaffen konnte, weil er dann keine Welt erschaffen, sondern sich selbst verdoppelt hätte. Eine Ver‐ dopplung des Vollkommenen ist aber nicht möglich. Daraus folgt, dass Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen hat. H. Kushner: Wenn guten Menschen Böses widerfährt. – Dieser persönlich gehaltene Essay beschreibt Gott als einen leidenden, weil er um seiner Liebe willen anderes neben sich zulässt, auch wenn es unvollkommen ist. L. Ohly: Warum Menschen von Gott reden, Kap. 7+8. – Nach einer logischen Analyse des Theodizeeproblems entfalte ich den Gedanken einer All‐ macht des Ohnmächtigen: Weil Menschen ohnmächtig sind, scheut man sie und fühlt sich ihnen nicht gewachsen. Der allmächtige Gott offenbart sich im gekreuzigten Christus.
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12 Gottes Offenbarung Offenbarung
Damit Gott erfahren werden kann, muss er in Erscheinung treten, sich offenbaren. Im Gegensatz zu weltlichen Gegenständen, die auch „da“ sind, wenn sie niemandem auffallen, kann Gott, der kein weltlicher Gegenstand ist, nur durch Offenbarung in der Welt „da“ sein.
12.1 Orte der Offenbarung (1. Mose 28, 10-19) Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an einen Ort, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von dem Ort und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an den Ort schlafen. Und er träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und siehe, der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du schläfst, werde ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausge‐ breitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe. Und Jakob erwachte von seinem Schlaf und sprach: Fürwahr, es gibt den HERRN an diesem Ort, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist dieser Ort! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häup‐ ten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte den Ort Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus.
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12 Gottes Offenbarung
Was hat eigentlich Jakob gemacht bis zum Morgen? Vielleicht hat er einfach wach dagelegen, weil er etwas Außerordentliches hier erfahren hat. Dann hat er den Ort auf sich wirken lassen. Bestimmt hat er zum Schlafen keine Ruhe mehr gefunden, denn er fürchtete sich ja. Aus dem Hebräischen könnte man sogar übersetzen: „Wie furchtbar ist dieser Ort.“ Diese Furcht ist natürlich keine Angst, denn Jakob ist doch hier wunder‐ bar gesegnet worden. Diese Furcht ist also nichts Schlimmes; eher ein un‐ fassbares Überwältigtsein. Jakob ist ergriffen worden von einem außeror‐ dentlichen Geschehen, obwohl es ganz natürlich ist, dass man nachts träumt. Es liegt kein Widerspruch darin, dass uns manche natürlichen Erfahrungen überwältigen. Zwar hätte Jakob auch sagen können: War leider nur ein Traum! Aber auch von Träumen können Menschen überwältigt sein. Man‐ che Träume lassen uns nicht los, obwohl wir wissen, dass wir nur geträumt haben. Deshalb nimmt auch Jakob den Traum für die Realität und zweifelt nicht daran. Denn was einen trifft, trifft einen eben wirklich. Dafür ist es unerheblich, ob man dabei geschlafen hat. Warum ist der Ort dabei so wichtig? Eigentlich ist es ja der Moment, der Jakob überwältigt hat. Und da er in diesem Moment geträumt hat, hätte er dieses Erlebnis auch woanders haben können. Vielleicht kann man nicht überall einen solchen Traum haben. Wir träumen an manchen Orten besser als an anderen. Und viele Träume haben wirklich was damit zu tun, wo wir uns gerade aufhalten. Aber zumindest träumen Menschen auch von Orten, an denen sie sich nicht gerade aufhalten. Jakob hätte vermutlich diesen Traum auch woanders haben können. Aber um den Moment „festzuhalten“, an dem er überwältigt worden ist, braucht Jakob diesen Ort, und zwar jetzt, an dem er aufgewacht ist. Für dieses überwältigende Ereignis setzt Jakob ein Merkzeichen: die Säule, die er auf‐ stellt, ist das Symbol eines Moments; das Symbol seines Traums. Vielleicht also hätte Jakob auch woanders durch diesen Traum überwältigt werden können. Aber jetzt, wo er wach ist, wird dieser Ort wichtig, wo er das Über‐ wältigende erlebt hat. Deshalb kehren Menschen an Plätze zurück, an denen etwas Wunderbares passiert ist: weil sie an diesen Plätzen mehr erleben als nur etwas Vergan‐ genes. Dieses „Furchtbare“ (das Überwältigende) wird so erlebt, als kommt es immer wieder in die Gegenwart zurück. Es hat seine Spuren an diesem Ort hinterlassen. An diesem Ort steht eine Säule seiner Anwesenheit. Menschen kehren sogar an Plätze zurück, an denen wirklich etwas Furcht‐ bares passiert ist, weil sie an diesen Plätzen noch etwas Zweites erleben.
12.1 Orte der Offenbarung (1. Mose 28, 10-19)
Nicht nur das Furchtbare begegnet dann in Erinnerung noch einmal, son‐ dern auch die Menschen sind hier zu spüren, mit denen man damals das Furchtbare erlebt hat. An manchen Orten fühlen wir uns Menschen näher verbunden, die uns eigentlich schon verloren gegangen sind. Hier haben sie noch eine Säule hinterlassen, ein Symbol ihrer Nähe. Menschen suchen solche Orte absichtlich auf. Es sind Orte der Vergan‐ genheit. Hier lassen sie sich bewusst noch einmal überwältigen. Gerade das stärkt sie. Merkwürdigerweise hat das Christentum nie Orte angebetet, während im Islam der Ort Mekka eine Pilgerreise nötig macht oder im Judentum die Tempelmauer in Jerusalem eine besondere Gottesbegegnung schafft. Im Christentum dagegen spielt etwa Golgatha keine größere Rolle. Bis heute weiß man nicht genau, wo sich eigentlich das Grab Jesu befunden hat, aus dem er auferweckt wurde. Und selbst die Bibel erzählt drei oder sogar noch mehr Geschichten über unterschiedliche Orte, an denen Jesus in den Himmel aufgefahren ist. Irgendwie haben die Christen vergessen, sich die Orte zu merken, an denen etwas furchtbar Heiliges geschehen ist. Aber vielleicht sind dem Christentum bestimmte Orte deswegen nicht so wichtig, weil es viele solcher Orte kennt. Es hat nicht nur Golgatha und nicht nur den Berg der Himmelfahrt. Das Christentum hat sogar viele persönliche Orte der An‐ betung. Sie sind alle biografisch geprägt: die Brücke, auf der wir uns das erste Mal geküsst haben; das Zimmer, in dem unser Kind geboren wurde; der Ort unserer Kindheit oder auch ein Friedhof. Alles Orte, die ihre Spuren hinterlassen haben von dem, was damals furchtbar Heiliges geschehen ist. Solche Orte prägen auch die Geschichte einer christlichen Gemeinschaft: der Kirchenraum, in dem wir große Feste gefeiert haben oder wo mir immer die Tränen kommen, wenn wir gemeinsam einen bestimmten Choral singen. Hier erfahren Christen eine Atmosphäre von damals, die geblieben ist. Und sie kehren gerne dorthin zurück, obwohl sie dort Unterschiedliches erlebt haben. Nun kann man an manchen Orten auch an Gott Zweifel bekommen. Und an manchen seiner Orte verzweifelt man auch. Auch solche Orte sind bio‐ grafisch geprägt. Manche Orte sind einfach nur furchtbar – und trotzdem auch Gottes Orte? Wenn man heute an solche furchtbaren Orte zurückkehrt, erlebt man dann heute auch nur Furchtbares? Oder passiert dort mehr als nur etwas Furchtbares? Damals, als das Furchtbare passiert war, haben wir vielleicht keine Säule aufgestellt. Aber wenn wir jetzt zurückkehren, holen wir das oft
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12 Gottes Offenbarung
nach. Menschen suchen oft nach Monaten oder Jahren einen alten Unfallort auf und pflegen ihn, gerade weil sie sich hier dem Verstorbenen besonders nahe fühlen. Darin besteht kein Widerspruch, obwohl der Verstorbene hier von ihnen gegangen ist. Es ist deswegen kein Widerspruch, weil sie an sol‐ chen Orten eben zwei Erfahrungen machen: Man kann hier traurig sein und zugleich vom Heiligen überwältigt werden. Deshalb müssen die furchtbaren Orte von damals keine furchtbaren Orte bleiben. Sie können vielmehr Gottes Orte werden, die uns überwältigen, ohne uns zu bedrohen. Und vielleicht wird man gerade hier furchtbar dankbar. Literatur zur Vertiefung
H. Schmitz: System der Philosophie Band III/4, 208–306. – Der frühere Kieler Philosoph zählt Kirchenräume zur Art der „Wohnung“, die dadurch cha‐ rakterisiert ist, dass sie Gefühle „züchtet“. Genauer werden Gefühle, die Atmosphären sind, nicht etwa von Menschen erzeugt, sondern in Woh‐ nungen bewahrt, während andere Gefühle von ihnen abgehalten werden. Religiös kompetente Menschen sind in der Lage, sich Gefühlen auszu‐ setzen, ohne von ihnen verschlungen zu werden. Sie lassen Atmosphären gerade soweit an sich herantreten, dass sie von ihnen in Stimmung ver‐ setzt werden.
12.2 Die Rückkehr der Offenbarung (1. Mose 35, 6-15) Was gewesen ist, ist nicht vergangen. Was Menschen erlebt und erfahren haben, zieht seine Spur durch das weitere Leben. Es hat uns – so oder so – geprägt. Und vielleicht ist es ja gerade Gott selbst, der uns dabei prägt – oder zumindest eine Spur von sich erhaschen lässt. Vor einigen Jahren habe ich einen Mann seelsorgerlich begleitet, der von seiner Frau geschieden wurde. Die Trennung hat ihm damals sehr wehgetan – so sehr, dass er sich nicht mehr vorstellen konnte, sich neu zu verlieben. Irgendwann hat er sich dann doch neu verliebt. Aber er hat der Situation nicht getraut. Sollte er wirklich eine neue Ehe eingehen? Und was er dann erlebte, hat ihm die Entscheidung abgenommen: Er hat an einem Morgen einen ganz phantastischen Sonnenaufgang erlebt. Und da wusste er, dass er diese Frau heiraten wird …
12.2 Die Rückkehr der Offenbarung (1. Mose 35, 6-15)
Eigentlich ist das etwas merkwürdig. Streng genommen spricht kein Son‐ nenaufgang zu uns. Kein Sonnenaufgang sagt: Trau dich, heirate diese Frau. Und doch ist für diesen Mann an jenem Morgen viel mehr geschehen als nur, dass die Sonne aufgegangen ist. Denn mit einem Mal war die Gewissheit da, was er tun wird. Der Mann hat seit damals bestimmt noch viele Sonnenaufgänge gesehen – doch dieser eine bleibt für ihn einzigartig. Und wenn er sich an den Morgen von damals zurückerinnert, wird er vielleicht wieder etwas spüren von dem Wunder im Sonnenaufgang von damals. Da leuchtet noch mal mehr auf als nur die ersten Sonnenstrahlen am Morgen. Als Seelsorger hört man immer wieder solche beeindruckenden Geschich‐ ten. Es sind Geschichten von Paaren, die an ihrem Jahrestag noch einmal dahinfahren, wo sie ihre Flitterwochen erlebt haben oder die erste Zeit, als sie sich verliebt haben. Oder eine Mutter zeigt ihrer Tochter die Klinik, in der sie geboren wurde. Ein älter gewordener Mensch sucht noch einmal die alte Heimat auf. Man geht an den Ort, wo einem einst etwas Beeindrucken‐ des widerfahren ist. Und dabei wird man wieder eingeholt von dem über‐ wältigenden Geschehen. Auch Jakob macht dasselbe wie viele andere Menschen auch: Er sucht den Ort noch einmal auf, der ihn überwältigt hatte. Und auch er wird ihn sicher nicht deshalb aufgesucht haben, weil es dort landschaftlich so schön war, sondern weil er letztlich dem Ereignis von damals wieder begegnen will – was ja eigentlich gar nicht geht, denn das Vergangene ist vergangen. Aber irgendwas ist eben doch nicht vorbei. Jakob spürt und ahnt, dass hinter dem, was einst hier geschah, etwas ihm bleibt. Etwas Unsichtbares hinter dem Sichtbaren! So kam Jakob nach Lus im Lande Kanaan, das nun Bethel heißt, samt all dem Volk, das mit ihm war, und er baute dort einen Altar und nannte die Stätte El-Bethel, weil Gott sich ihm daselbst offenbart hatte, als er vor seinem Bruder floh. Da starb Debora, die Amme der Rebekka, und wurde begraben unterhalb von Bethel unter der Eiche; die wurde genannt die Klageeiche. Und Gott erschien Jakob abermals und segnete ihn und sprach zu ihm: Du heißt Jakob; aber du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel sollst du heißen. Und so nannte er ihn Israel. Und Gott sprach zu ihm: Ich bin der allmächtige Gott; sei fruchtbar und mehre dich! Ein Volk und eine Menge von Völkern sollen von dir kommen, und Könige
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12 Gottes Offenbarung
sollen von dir abstammen, und das Land, das ich Abraham und Isaak gegeben habe, will ich dir geben und will's deinem Geschlecht nach dir geben. Und Gott fuhr auf von ihm an der Stätte, da er mit ihm geredet hatte. Jakob aber richtete ein steinernes Mal auf an der Stätte, da er mit ihm geredet hatte, und goss Trankopfer darauf und begoss es mit Öl. Und Jakob nannte die Stätte, da Gott mit ihm geredet hatte, Bethel.“
Jakob scheint sich etwas von dieser Rückkehr zu versprechen: Das, was er einst erlebt hat, kann ihm noch einmal begegnen. Und tatsächlich: Es passiert alles noch einmal. Eigentlich passiert auch gar nichts Neues. Alles, was passiert, hat Jakob vorher schon einmal erlebt. Er ist hier schon einmal Gott begegnet. Er hat schon einmal hier ein Steinmal errichtet, es mit Öl begossen; schon einmal diesen Ort in Bethel umbenannt. Und selber hat er auch schon vorher von Gott einen neuen Namen bekommen. Er wird noch einmal verzaubert. Gott kehrt hier noch einmal wieder. Nur eins ist anders als damals: Die Amme von seiner Mutter Rebekka stirbt. Ausgerechnet hier, an diesem überwältigenden Ort, stirbt eine enge Angehörige. Was hier so nebenbei erzählt wird, scheint doch eine wichtige Anmerkung zu sein. Denn sogar eine großartige religiöse Erfahrung be‐ wahrt uns nicht davor, etwas Trauriges zu erleben. Ein großartiger religiöser Ort bewahrt uns nicht einmal davor, ausgerechnet hier etwas Trauriges zu erleben. Wie menschlich wir doch bleiben, wenn wir von Gott berührt sind! Und trotzdem: Auch wenn an diesem Ort Tränen geweint worden sind, kehrt etwas wieder von dem Glanz, der sich mit diesem Ort verbindet. Und das liegt daran, dass wir hinter den Erinnerungen etwas anderes ahnen. Wir nutzen solche überwältigenden Orte nur, um hinter sie zu schauen. Deshalb kann bei der Rückkehr nach Bethel einiges anderes passieren als beim ersten Mal. Bethel ist das Sichtbare, das Jakob aufsucht, um dahinter das Unsicht‐ bare wieder zu entdecken. Interessant ist der Zeitpunkt, wann sich bei Jakob die überwältigenden Ereignisse wiederholen: nämlich erst nachdem die Amme gestorben ist. Bethel ist schon getrübt worden von einem tragischen Ereignis. Es hat nicht mehr den Glanz von damals. Inzwischen erinnert die große Eiche an die Klage und nicht mehr nur an die Himmelsleiter von einst. Und trotz‐ dem bleibt Bethel der Ort der Gottesbegegnung. So sehr wir auch Men‐ schen bleiben mit unserer gesamten Tragik: Es ereignet sich erneut Got‐ tes Segen.
12.2 Die Rückkehr der Offenbarung (1. Mose 35, 6-15)
Es gibt Plätze und Ereignisse, die unverwechselbar unseren Glauben prä‐ gen. Unser Glaube ist biografisch geerdet. Was wir irgendwann und ir‐ gendwo erlebt haben, hätten wir nicht so einfach irgendwo anders erleben können. Dasselbe hätte auch nicht irgendjemand anderes erleben können. Das merken wir, wenn wir zurückkehren an unser „Bethel“ oder noch einmal unser „Steinmal“ von damals aufstellen. In der Glaubenstradition der Bibel unterscheiden wir Christen zwischen den glanzvollen Anlässen und dem, was sie glanzvoll macht. Wir sehen hin‐ ter diese Anlässe. Dabei betreiben wir keine Magie, wenn wir an diese Orte zurückkehren. Wir hüten auch keinen Talisman, wenn wir unser Steinmal hüten, sondern können gut unterscheiden zwischen diesen glanzvollen An‐ lässen und dem, was sie glanzvoll macht. Deshalb kann man Trost finden an solchen Orten, auch wenn gerade et‐ was Trauriges passiert ist. Deshalb kann man sich hier gesegnet wissen, auch wenn gar nichts Neues passiert ist. Und deshalb kann man hier sogar einen freien Umgang lernen mit dem eigenen Lebensschicksal. Übrigens kann es auch genau umgekehrt sein: dass man bestimmte Orte lieber meidet. Und doch können wir solche Orte manchmal auch zurücker‐ obern, wenn wir uns ihnen nach einiger Zeit wieder nähern. Vielleicht liegt das gerade an diesen Orten selbst. Sogar solche Orte mögen uns helfen, da‐ hinter zu sehen und das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren zu ahnen. Es ist jedenfalls auffällig, dass auch Orte eine Anziehungskraft auf uns ausüben können, in denen wir früher einmal etwas Bedrückendes erlebt haben. Viele Menschen haben gerade in der Begegnung mit einem Ort des Schreckens gelernt, mit dem Schrecken umzugehen. Auch die Begegnung mit einem solchen Ort lässt Menschen manchmal aus einer Kraft schöpfen, um dem Schrecken zu entkommen. Diese Kunst, hinter dem Sichtbaren das Unsichtbare zu sehen, ist die Kunst des Glaubens. Wir dürfen dann aber auch ruhig genau draufschauen: also diese Erfahrungen wertschätzen, sie uns bewahren. Gerade weil wir Christen dahinter schauen können, sollten wir dann auch genau drauf‐ schauen. Dann erfahren wir, was uns trägt – selbst wenn uns Schwieriges zustößt. Dazu sollten wir zulassen, dass wir unsere heiligen Orte haben, in denen der erinnerte Glanz eines früheren Ereignisses wiederkommt: der Glanz ei‐ nes einzigartigen Sonnenaufgangs, der sich niemals wiederholen lässt; und die feierliche Atmosphäre eines großen Festes von früher. Um dahinter se‐ hen zu können, müssen wir draufschauen können und merken, dass der
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12 Gottes Offenbarung
Segen unverletzt bleibt, auch wenn bei uns vielleicht dabei eines Tages die Amme stirbt. Literatur zur Vertiefung
L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, Sektion 2. 3. – In diesem Buch beschreibe ich Phänomene, die man sogar dann nicht auf Abstand brin‐ gen kann, wenn sie vergangen sind oder sich inzwischen woanders be‐ finden. Man muss so mit ihnen umgehen, dass man ihre bleibende An‐ wesenheit respektiert. Es handelt sich bei der Anwesenheit um eine eigene Kategorie, von der Christen Gebrauch machen, wenn sie vom Heiligen Geist oder von der Nähe Gottes reden. B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, Kap. 13. – Eigentlich handelt das Kapitel vom Vergessen. Aber Waldenfels beschreibt menschliche Strate‐ gien, sich vor dem Vergessen zu schützen, nämlich indem sie die zu er‐ innernden Situationen neu inszenieren oder in Räumen wiederfinden. Erinnerungen befinden sich nicht im Kopf, sondern in Dingen und Räu‐ men, „unseren Blicken entzogen“ (379).
III. Gottes Geschöpfe
13 Die Schöpfung und die Entstehung der Welt (1. Mose, 1, 1–3a) Schöpfung
An der Frage nach der Entstehung der Welt zeigt sich, in welchem Verhältnis Naturwissenschaften und christliche Theologie stehen. Wenn die Weltentstehung ohne Rückgriff auf Gott erklärt werden kann, scheint sich das Bekenntnis erledigt zu haben, dass Gott der Schöpfer der Welt ist. Umgekehrt können die Naturwissenschaften mit ihren derzeitigen Grundlagen nicht beschreiben, was Neues ist. „Schöpfung“ bezeichnet das voraussetzungslose Auftreten von Neuem, sowohl die Entstehung der Welt als auch die Entstehung von Neuem innerhalb der Welt. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde.
Inzwischen können die Naturwissenschaften bis zu den ersten Bruchteilen der ersten Sekunde nach der Weltentstehung vorstoßen und erklären, was in diesen Momenten passiert ist. Für den allerersten Bruchteil der ersten Sekunde dagegen fehlt noch eine Erklärung. Hier kommt die Physik an ihre grundsätzliche Grenze. Und zwar deshalb, weil sie hier ihr Werkzeug nicht anwenden kann, mit dem sie natürliche Phänomene erklärt. Das klassische Werkzeug der Naturwissenschaften ist das Prinzip der Kausalität. Alles, was es gibt, wird auf eine Ursache zurückgeführt. Aber dieses Erklärungsprinzip funktioniert nicht beim Weltanfang. Wenn es vor der Welt noch nichts gab, dann gab es auch keine Ursache für die Weltentstehung. Inzwischen gibt es einige Naturwissenschaftler, die das Problem so lösen wollen, dass sie vermuten, dass die Welt gar nicht entstanden ist. Vielmehr gab es sie schon immer. Zwar hat es einen Urknall gegeben, aber vor dem Urknall gab es bereits etwas – und zwar schon immer. Aber auch dieser Erklärungsversuch passt nicht zur Art, wie Naturwissenschaften etwas er‐
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klären. Denn wenn es schon immer die Welt gab, dann gab es für die Welt also auch keine Ursache. Dann passt also diese Welterklärung nicht dazu, wie die Naturwissenschaften alles Übrige in der Welt erklären. Dieses Problem feiern die religiösen Fundamentalisten wie ein Fest. Wo die Physik an ihre Grenzen kommt, bringen sie Gott ins Spiel. Das geht aber auch nicht – jedenfalls nicht so, wie das die Fundamentalisten tun. Sie wollen nämlich Gott zur allerersten Ursache machen. Dafür akzeptieren sie das na‐ turwissenschaftliche Erklärungsprinzip von Ursache und Wirkung und be‐ haupten nur, dass sie eine Ursache mehr kennen als die Naturwissenschaften – nämlich Gott. Aber das überzeugt keinen Naturwissenschaftler. Das Prin‐ zip heißt ja: Alles hat eine Ursache. Was ist dann die Ursache für Gott? Die religiösen Fundamentalisten antworten dann, dass Gott schon immer da gewesen sei. Deshalb habe er keine Ursache. Aber das ist naturwissen‐ schaftlich unbefriedigend. Dann kann man auch einfach vorher abbrechen und behaupten, dass die Welt keine Ursache hat. Wie die Welt anfangen konnte, bekommen wir nur heraus, wenn wir völ‐ lig anders denken – nicht in dem einfachen Schema von Ursache und Wir‐ kung, sondern mit einem anderen Prinzip: mit dem Prinzip der Kreativität. Denn Kreativität fügt sich nicht in das Schema von Ursache und Wirkung. Mit der Kreativität verhält es sich ja so: Sie ereignet sich einfach, ohne dass wir wissen, wie. Aber wenn sie sich dann ereignet hat, wird uns rückwirkend klar, dass sie dazu passt, wie wir die Welt sehen. Sie grübeln über eine schwie‐ rige Aufgabe – beim Kreuzworträtsel: Ihnen fällt ein Wort nicht ein, oder wie die Matheaufgabe zu lösen ist, verstehen wir nicht. Und auf einmal fällt uns die Lösung ein. Was ist passiert? Wir haben das Wort im Kreuzworträtsel nicht deshalb gefunden, weil wir etwas kombiniert haben. Es gab keine Technik, wie wir darauf kommen könnten. Und auch die Matheaufgabe haben wir nicht durch Rechnen rausbekommen, weil wir ja gerade nicht wussten, wie wir rechnen sollen. Der Einfall kam trotzdem – irgendwie. Das Spannende daran ist: Mir muss die Lösung einfach einfallen, sonst kann ich die Aufgabe nicht lösen. Aber wenn ich merke, dass sie mir einge‐ fallen ist, dann ist die Aufgabe bereits gelöst. Mir muss die Lösung nicht zuerst einfallen, und danach löse ich die Aufgabe. Sondern mir fällt die Lö‐ sung ein, und damit habe ich sie bereits gelöst. Bei der Kreativität, bei tollen Einfällen und guten Ideen, läuft die Zeit irgendwie andersherum. Es passiert irgendwie, und dann stellen wir fest, dass etwas entstanden ist, ohne dass wir beobachten konnten, wie es entstanden ist.
13 Die Schöpfung und die Entstehung der Welt (1. Mose, 1, 1–3a)
Mit solchen merkwürdigen Erfahrungen haben wir es zu tun, wenn wir uns mit Kreativität beschäftigen. Und so ist es dann erst recht bei der größten Kreativität überhaupt, nämlich bei der „creatio“ der Welt, der Schöpfung der Welt. Der biblische Schöpfungsbericht hat genau diese Perspektive im Blick: Es ereignet sich etwas, ohne dass wir gemerkt haben, wie dabei etwas entstan‐ den ist. Wir merken nur: Es ist jetzt da. Der erste Vers der Bibel lautet: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Sehr weise, dass sich die Bibel nicht überlegt hat, was Gott vor der Erschaffung der Welt unternommen hat. Son‐ dern Gott schuf die Welt im Anfang. Nicht verursachte er zuerst etwas, und dann entstand eine Welt. Sondern die Welt ist bereits im Anfang, wenn Gott sie schafft. Im Anfang gibt es keinen Zeitablauf von früher nach später. Son‐ dern im Anfang verläuft die Zeit irgendwie kreuz und quer. Es passiert ir‐ gendwie, und ohne dass man es gemerkt hat, ist dabei auf einmal schon etwas Konkretes da gewesen. Und weil man das so schwer glauben kann, wird im zweiten Vers der Bibel das noch mal gesagt: „Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe.“ Die Erde, die noch gar nicht geschaffen war, war bereits wüst und leer. Wenn man naturwissenschaftlich eins nach dem anderen denkt – zuerst die Ursache, dann die Wirkung –, geht das nicht. Aber im Anfang gibt es eben kein Vorher und Nachher. Vielleicht können wir uns das noch vorstellen, dass es wüst und leer sein musste, bevor es etwas gab. Aber dann fragt man doch sofort: Wo war es denn wüst und leer? Wenn es nichts gab, kann es auch keinen Ort gegeben haben, an dem es nichts gab. Also kann es nur nirgendwo nichts gegeben haben. Und wenn es nirgendwo nichts gab, dann müsste ja eigentlich überall etwas gewesen sein. Und genau mit dieser verwirrenden Klarheit spricht die Bibel von der Schöpfung: Der Geist Gottes schwebte über den Wassern – die also schon im Anfang da waren. Eine totale chaotische Überflutung von etwas ist über‐ all – bevor es eine Welt gibt, ist überall etwas. Das ist eigentlich ein Wider‐ spruch, weil dann die Welt schon existiert haben musste, bevor sie erschaffen wurde. Und darauf sagt die Bibel: Genau so war es wohl – aber nicht vor der Welt, sondern „im Anfang“! Im Anfang ist sogar überall eine totale Über‐ flutung zeitlicher Ereignisse. Das kann man nicht verstehen, wenn man nach dem einfachen Schema von Ursache und Wirkung denkt. Das kann man nur merken, wenn man kreativ ist – und wenn man von kreativen Prozessen mitgerissen wird.
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Als Gott sprach „Es werde“, da wurde „es“. So oft heißt es in der Schöp‐ fungsgeschichte: „Es geschah so.“ Was ist dieses „es“? Es ist nichts Genaues, was aber macht, dass im Rückblick etwas Genaues schon da gewesen ist. Noch einmal zur Matheaufgabe: Wir wissen jetzt, wie wir sie rechnen sollen. Aber wie wir darauf kamen, das konnten wir nicht ausrechnen. Das ist ein‐ fach passiert. „Es geschah so.“ Aber seitdem es geschehen ist, können wir diese Matheaufgabe rechnen. Genauso ist es im Anfang der Welt: Wie sie entstand, können wir physi‐ kalisch nicht vollständig erklären. Vielmehr geschah es einfach. Aber seit‐ dem es geschehen ist, können wir auch naturwissenschaftlich errechnen, wie die Abläufe genau waren. Wenn wir Christen von Gott dem Schöpfer des Himmels und der Erde sprechen, sollten wir nicht so tun, als wären wir die besseren Naturwissen‐ schaftler. Denn Gott ist keine erste Ursache für die Welt. Was wir Christen stattdessen können, ist, dass wir uns von kreativen Ereignissen beeindru‐ cken lassen. Wir denken Entstehungsprozesse noch einmal anders als die Naturwissenschaften, weil das Schema von Ursache und Wirkung zu einfach ist. Zum Anfang der Welt kommt man so einfach nicht durch – genauso wenig wie bei unseren kreativen Erlebnissen, die wir heute haben – bei un‐ seren tollen Einfällen und guten Ideen. Sondern: „Es geschieht so.“ Die Welt ist kreativ. Literatur zur Vertiefung
H. Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, §§ 4+5. – Deuser versteht unbestimmte Kreativität als Ursprung jeglicher Be‐ stimmtheit. Deshalb ist das Vertrauen in den schöpferischen Prozess al‐ ternativlose Voraussetzung der Naturwissenschaften. B. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, 37–42. – Bevor wir uns auf bestimmte Urheber von Ereignissen beziehen können, widerfah‐ ren sie uns durch ein anonymes „Es“. L. Ohly: Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik im biotechnologischen Zeitalter, 13–31. – In diesem Abschnitt lege ich die biblische Schöpfungs‐ geschichte aus und bringe ihren Ertrag in eine produktive Beziehung zu den Grundlagen der Urknalltheorie.
14 Hat Gott einen Plan mit unserem persönlichen Lebensablauf? (Vorsehung Gottes, 2. Sam. 12, 1-10.13-15a) Vorsehung
Wenn Menschen denken, dass Gott einen Plan mit seinen Geschöpfen und mit uns Menschen hat, so denken sie an die göttliche Vorsehung. Die Annahme beruht zum einen auf göttlichen Eigenschaften: Wenn Gott allwissend und allmächtig (→ Allmacht) ist, sind alle Ereignisse der Welt festgelegt. Der Mensch kann dann auch keine freien Ent‐ scheidungen treffen, weil Gott stets weiß, wie der Mensch jeweils entscheiden wird. Zum anderen deuten Menschen etliche ihrer Le‐ benserfahrungen als göttliche Lenkungen oder „Wink des Schicksals“. Die Lehre von der Vorsehung ist in der Theologie der vergangenen Jahrhunderte präzisiert worden, um zugleich neue Ereignisse denken zu können und auch freie menschliche Entscheidungen. Die göttliche → Allwissenheit bezieht sich nach einem Vorschlag zwar auf alles, was gewusst werden kann. Aber wenn etwas Neues eintritt, so kann es von Gott erst im selben Moment gewusst werden, in dem es eintritt; ansonsten wäre es nichts Neues. Das hat Folgen für die Frage, wie Gott auf weltliche Prozesse einwirkt: Es ist dann nicht alles in unserer Le‐ bensgeschichte vorprogrammiert, aber Gott greift auch nicht willkür‐ lich in unser Leben ein, sondern im verlässlichen Zusammenhang mit seiner Allwissenheit. Und der HERR sandte (den Propheten) Nathan zu David. Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß, und er hielt's wie eine Tochter.
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Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er's nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war. Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan: So wahr der HERR lebt: der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und kein Mitleid hatte. Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! – Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN. Nathan sprach zu David: Auch der HERR hat deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben. Aber weil du bei den Feinden des HERRN durch diese Sache (Gottes Gabe) ver‐ ächtlich behandelt hast, wird der Sohn, der dir geboren ist, des Todes sterben. Und Nathan ging heim.
Nehmen wir einmal an: Der Prophet Nathan wäre damals nicht zu David ge‐ gangen. Aber Davids Kind wäre trotzdem gestorben. Vermutlich hätte sich Da‐ vid ebenso Vorwürfe gemacht. Er hätte nach seiner Schuld gesucht, dafür dass sein Kind gestorben ist. Im Rückblick erscheint uns manches Schicksal wie eine Strafe für vergangene Sünden. Dann erscheint es manchmal so, als ob zu uns ein Gesandter Gottes gekommen wäre und uns eine Strafe Gottes angesagt hätte. Die biblische Geschichte wäre jedenfalls nicht anders ausgegangen, wenn der Prophet Nathan daheim geblieben wäre. Auch ohne Nathan hätte David sich schuldig gesprochen dafür, dass er sein Kind nicht retten konnte. Knapp drei Wochen, nachdem ich diesen Gedanken zum ersten Mal ge‐ dacht hatte, ist unser Sohn gestorben. Wie aktuell dieser Bibeltext damals für mich werden würde, das konnte ich bei meiner Beschäftigung mit ihm noch nicht ermessen. Zu diesem Zeitpunkt ging es meinem Sohn noch gut. Aber im Rückblick hat sich wirklich bei uns so etwas eingestellt wie bei König David. Wir suchten nach Gründen: Warum ist er gestorben? Und wir suchten die Gründe bei uns. Das Tröstliche an dieser biblischen Geschichte besteht aber darin, dass Gott das Schicksal von seiner Gnade trennt. David hat sich selbst schuldig gesprochen. Und Gott vergibt ihm die Schuld: „Der HERR hat deine Sünde weggenommen“. Trotzdem stirbt Davids Kind. Dann kann aber der Tod des Kindes keine Strafe Gottes mehr sein. Denn der HERR hat seine Sünde ja weggenommen. Der Tod des Kindes muss also einen anderen Grund gehabt haben. Es wird auch ein anderer Grund genannt: „weil du bei den Feinden des HERRN Got‐
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tes Gabe verächtlich behandelt hast“. Aber das ist offenbar keine Sünde – die hat Gott vergeben. Vielmehr liegt darin ein menschliches Missverständ‐ nis, dass Menschen die Gabe Gottes nicht richtig einschätzen und etwas für ungerecht halten, was vor Gott gerecht ist. Menschen können gute Gaben verwerfen, weil sie das Schlechte vor Augen haben. Davids Kind ist gestorben, nicht als Strafe, nicht wegen einer Sünde. Son‐ dern es ist einfach gestorben. Gott gibt, wem er gibt. Dafür ist keine Sünde verantwortlich und keine Strafe. Aber wenn wir seine Gabe verächtlich be‐ handeln, dann mögen wir es als eine Strafe ansehen, dass wir das verlieren, was nur eine Gabe auf Zeit war. Wer etwas Schreckliches erlebt hat, mag zwar nach Antworten suchen, wie es passieren konnte. Aber man will sich mit keiner Antwort zufrieden geben. Vielmehr will man Gott selber „haben“. Solche Menschen wollen, dass er ihnen beisteht, aber nicht dass er ihnen etwas erklärt. Vielleicht wissen sie nicht, wie sie ihre Situation mit Gott durchstehen. Aber ohne Gott lässt sie sich nicht besser durchstehen. Man will ihn vielmehr „haben“ auf eine unbegreifliche Weise. Gottes Geben und Nehmen begreifen wir nicht. Fangen wir an, es begrei‐ fen zu wollen, sprechen wir schnell von Sünde und Strafe. Und dann können wir erst recht nicht begreifen, wenn es dann heißt: „Der HERR hat deine Sünde weggenommen.“ Das Unbegreifliche Gottes ist schwer auszuhalten. Aber es wäre gar nicht auszuhalten, wenn der, den wir nicht begreifen, uns auch noch verlässt. Aber Gott kann man nicht entkommen. Die übernatür‐ lichen Gaben und die unbegreiflichen Bürden werden mitgetragen von dem, der selber unbegriffen ist. Unbegreiflich ist das Leben sowieso. Das unbe‐ greifliche Schicksal ist aber dabei umfasst von dem, der selber unbegriffen ist. Literatur zur Vertiefung
S. Kierkegaard: Der Begriff Angst, Kap. 5. – Angst beruht auf der unver‐ meidlichen Situation, sich für Möglichkeiten entscheiden zu können. Wird die Angst mit dem Glauben verbunden, so kann das Individuum in der göttlichen Vorsehung ruhen. Darin werden die menschlichen Mög‐ lichkeiten mit dem Unendlichen verbunden. U.H.J. Körtner: Bedenken, daß wir sterben müssen, Kap. 3. – In diesem Büchlein, das die ethische Frage nach Handlungsmöglichkeiten am Le‐ bensende behandelt, wird die christliche Vorsehungslehre als Vorausset‐ zung menschlicher Handlungsfähigkeit verstanden: Wenn der Mensch
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vor seinem Sterben steht und dabei in seinem Handeln grundsätzlich be‐ grenzt ist, wird er durch die Vorsehung Gottes auch an dieser Grenze zum Handeln befähigt.
15 Christen und Juden – ein erwähltes Volk (Röm. 9, 1-8, 14-16) Bund
Nach biblischem Zeugnis hat Gott mit Menschen einen Bund ge‐ schlossen, um in ein Treueverhältnis mit ihnen zu treten. Im Bund mit Israel hat Gott ein Volk zu seinem Eigentum erwählt (2. Mose 19,5). Auch wenn schon in der hebräischen Bibel ein neuer Bund zwischen Gott und Israel angekündigt wird (Jer. 31,31), spricht das Neue Testa‐ ment von einem neuen Bund, den Gott mit Menschen aller Völker schließt, die an Jesus Christus glauben (Lk. 22,20, Heb. 8,13). Beide Bundesverhältnisse stehen in Spannung zueinander, weil danach Ju‐ den, die nicht an Christus glauben, von diesem neuen Bund ausge‐ schlossen zu sein scheinen. Dennoch bleibt der erste Bund mit ihnen bestehen (Röm. 11,27–29). Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brü‐ der, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen. Aber ich sage damit nicht, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei. Denn nicht alle, die aus Israel sind, sind selbst Israel; auch die Nachkommen Abrahams sind nicht alle Kinder. Sondern »in Isaak wird dein Nachkomme berufen werden« (1.Mose 21,12), das heißt: nicht die Kinder des Fleisches sind Gottes Kinder; sondern die Kinder der Verheißung werden als seine Nachkommenschaft anerkannt. Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! Denn er spricht zu Mose (2.Mose 33,19): »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.«
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15 Christen und Juden – ein erwähltes Volk (Röm. 9, 1-8, 14-16)
So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbar‐ men.
Dieses Bibelwort ist auch in der neuesten Revision der Lutherbibel falsch übersetzt worden. Dort klingt es so, als ob nicht alle Juden von Gott erwählt worden sein sollen, sondern nur einige. Dazu hat sie immer wieder ein „nur“ eingefügt: „Nur die Kinder der Verheißung“ (und angeblich nicht die Juden). Bei Paulus im Griechischen findet sich aber kein „nur“. In der Lutherbibel ist ein „darum“ eingefügt worden, das Paulus selbst nicht geschrieben hat: „nicht alle, die Nachkommen Abrahams sind, sind darum seine Kinder.“ So‐ gar ein Bibelzitat aus dem Alten Testament ist umgeschrieben. Ganz offenbar hat Luther aus dieser Textpassage von Paulus etwas anderes darstellen wol‐ len als Paulus selbst geschrieben hatte. Bei Luther klingt der Text so, als ob nicht alle Juden zu den Erwählten Gottes gehören, sondern eigentlich nur die Juden, die an Christus glauben. Paulus sagt hier aber etwas ganz anderes. Nicht nur die Juden sind Gottes Kinder, sondern auch die Christen. Darin besteht ein Gegensatz: Martin Lu‐ ther will einige Juden aus der Erwählung Gottes ausschließen. Paulus dage‐ gen will noch mehr Menschen als nur alle Juden in die Erwählung einschlie‐ ßen. Was schreibt der Apostel Paulus wirklich: „Die Nachkommen Abrahams sind nicht alle Kinder.“ Das heißt dann wohl, dass es noch weitere Kinder Gottes gibt. Es sind zwar schon alle Israeliten Gottes Kinder, aber es gibt noch weitere. – Oder wie spricht Paulus von den „Kindern des Fleisches“, also von denen, die blutsverwandt mit den Vätern Israels sind? „Nicht die Kinder des Fleisches sind Gottes Kinder; sondern die Kinder der Verheißung.“ Das heißt dasselbe: Blutsverwandt mit Abraham und mit Jakob sein, erklärt noch nicht, was es eigentlich bedeutet, Gottes Kind zu sein. Denn es gibt eben auch Kinder Gottes, die nicht blutsverwandt mit den Vätern Israels sind. Es gibt also auch Kinder Gottes, die keine Juden sind. Gottes Erwählung schließt auch die Gläubigen ein, die keine Juden sind. Allenfalls eine Stelle könnte so klingen, als ob Paulus doch auch einige Juden aus der Erwählung ausschließen will. „Nicht alle, die aus Israel sind, sind selbst Israel.“ Aber das ist ein trivialer Satz: Ich bin zwar ein Deutscher. Ich komme also aus Deutschland. Aber ich bin nicht Deutschland. Und wer aus Israel ist, ist nicht selbst Israel. Israel ist einfach mehr als ein Mensch aus Israel. Und auch die Erwählung reicht weiter als nur über diese Volks‐ grenzen hinaus.
15 Christen und Juden – ein erwähltes Volk (Röm. 9, 1-8, 14-16)
Das ist die Pointe von Paulus: Der Glaube an Jesus Christus hebt die Er‐ wählung Israels nicht auf, sondern erweitert sie nur. Die Grenzen der Er‐ wählten werden über Israel hinausgeführt. Zu den Erwählten gehören so wie immer schon auch alle Juden. Sonst wäre Gott untreu. Aber es gehören eben noch mehr Menschen dazu, eben auch die Christen. Das liegt einfach daran, dass Gott so viel Erbarmen zeigt, dass er den Kreis vergrößert. In der Lutherbibel dagegen wird Gottes Erbarmen zu einer plötzlichen Laune Gottes. So klingt Gott in Luthers Übersetzung: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig.“ Ist damit gemeint, dass Gottes Gnade von seiner Lust abhängt? – Bei Paulus dagegen hat das Erbarmen Gottes einen Grund, auf den man sich verlassen kann: Gott erbarmt sich nämlich, weil er treu ist. Gott hat einmal die Entscheidung getroffen, Israel zu seinem Volk zu er‐ wählen. Das Alte Testament gibt als Grund dafür an, dass Gott dieses kleine Volk liebt (5. Mose 7,7 f). Darin steckt aber keine Willkür, weil Liebe umge‐ kehrt eine feste Bindung an jemanden ist, den man liebt. In diesen Zusam‐ menhang gehört das Zitat: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig.“ Gott kann keinen anderen Grund für sein Erbarmen angeben als seine feste Bin‐ dung. Auf diese Liebe ist Verlass. Die Juden können sich so fest auf Gottes Treue verlassen, dass ihnen sogar die Erwählung „gehört“. Sie besitzen die Erwäh‐ lung wie ihr Eigentum. Wenn Gott seinem Volk das alles wegnehmen würde, angeblich weil er nach Laune gnädig ist, wem er gnädig ist und je nach Lust wieder anderen gnädig ist –, dann wäre er nicht treu und schließlich auch nicht gerecht. Paulus will aber gerade hier zeigen, wie Gott beides, treu und gerecht bleiben kann, obwohl durch Christus etwas Neues geschehen ist. Seine Lösung besteht darin, dass zwischen der Erwählung Israels und dem Erbarmen in Christus ein Zusammenhang besteht, nämlich seine Treue. Wenn Gott den Juden ihr Eigentum, ihre Erwählung, wieder abgenommen hätte, dann könnten auch Christen sich nicht darauf verlassen, dass Christus uns endgültig mit Gott versöhnt hat. Dann könnte sich auch das irgendwann ändern. Und dann könnten wir uns nicht darauf verlassen, woran wir glau‐ ben. Schon allein deshalb gehört die Erwählung Israels unverzichtbar zum christlichen Glauben dazu. So werden wir Gott nicht mehr los. Wir können uns nicht einmal ernsthaft gegen seine Treue entscheiden. Das steckt jedenfalls auch in diesem Satz von Paulus: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ Wir können nicht einmal von Gott weglaufen, wenn er sich uns erbarmt. Wir können zwar Gott untreu werden, aber wir ent‐
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kommen dabei nicht seiner Treue. Sie wird uns immer binden. Und das hat Auswirkungen auf unser Leben. Wenn wir der Treue Gottes entkommen wollen, aber niemals können, dann macht es wenig Sinn, Gott untreu zu werden. Diese göttliche Macht der Treue zeigt sich schon bei zwei guten Freunden, die sich einmal heftig streiten, so schlimm, dass sie sogar die Freundschaft beenden: Sie kommen doch nicht ganz voneinander los. Wenn man irgend‐ wann davon hört, dass es dem anderen schlecht geht, dann fühlt man sich irgendwie gefordert, sich doch einmal wieder zu melden – oder hat ein schlechtes Gewissen, dass man es nicht tut. Man wird die Erinnerungen aus der gemeinsamen Zeit der Freundschaft nie ganz los. In solchen Fällen merkt man, dass Bindung zwischen zwei Menschen stärker ist als ihr Wollen und Voneinander-Weglaufen. Irgendwie prägt eine Freundschaft das Verhalten zueinander auch dann noch, wenn sie schon beendet ist. Dann macht es so wenig Sinn, Freundschaften für beendet zu erklären. Ganz können sie nicht beendet sein. Ebenso wenig macht es Sinn, Gott un‐ treu zu werden, wenn man nie von seinem Erbarmen los kommt. Gottes Treue bindet doch stärker als unser Wollen und Laufen. Literatur zur Vertiefung
F.-W. Marquardt: Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden Bd. 2, § 7. – Das Buch, das im Kontext der Versöhnung zwischen Kirche und Israel geschrieben worden ist, sieht die Bindung des christlichen Glaubens an Israel für fundamental an. Jesus kann nur von der Geschichte Israels her als Sohn Gottes verstanden werden. Die unauflösliche Bindung von Christen- und Judentum besteht darin, dass zu Jesus auch diejenigen ge‐ hören, die zu ihm Nein sagen (230).
16 Engel (Joh. 3,11-16) (Jesus spricht:) Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glau‐ ben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herab‐ gekommen ist, nämlich der Menschensohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Was sich zwischen Himmel und Erde ereignet, scheint genau das Thema der Religionen zu sein: nicht ganz der Himmel, sondern schon auch die Erde. Religiöse Menschen verlassen sich auf Gott, weil er die Erde prägt, unseren Lebenshorizont. Gott ist zwar kein Teil der Erde, und man kann ihn nicht sehen. Aber die Erde ist doch nicht gottlos. Sie birgt Zeichen Gottes. Jesus fragt hier: „Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage?“ Denn man kann nichts vom Himmel verstehen, wenn man nicht auf die Erde blickt. Gott ereignet sich zwischen Himmel und Erde. Für Jesus gibt es zu‐ mindest ein irdisches Ereignis, das mehr ist als die Erde: nämlich sein Tod. „Der Menschensohn muss erhöht werden.“ Damit meint er nicht seine Him‐ melfahrt, sondern seine Kreuzigung. Gerade einmal einige Meter vom Erd‐ boden entfernt wurde Jesus erhöht am Tag seines Todes. Und schon das rettet Leben. Gerade ein Tod bringt uns mit Gott in Verbindung. Das kann man nur verstehen, wenn man die Erde wahrnimmt mit ihrer Endlichkeit und Not. Und wenn ich mit Trauernden nach einem Todesfall zusammen bin, bin ich immer wieder erstaunt, welche wunderbaren Einsichten ich von ihnen er‐ zählt bekomme. Der Tod ist nicht einfach eine irdische Angelegenheit. Wir werden vielmehr erfasst mit etwas, das höher ist. „Wir bezeugen, was wir gesehen haben.“ Von Gott kann man reden, weil man etwas gesehen hat. Und sehen kann man nur, was auf Erden geschieht.
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Und trotzdem ist Gott ja kein sichtbarer Gegenstand. Man muss zwar die Erde wahrnehmen, um Gott zu spüren. Aber man sieht dann dabei eben mehr als das, was sich sehen lässt. Wenn man mit Menschen über Schicksal spricht und über Schutzengel, erzählt man sich Geschichten der Erde. Die meisten Menschen, die an Engel glauben, haben noch keine gesehen, aber sind schon oft von ihnen behütet worden. Das wiederum kann man sehen. Man kann sehen, wie man einen Unfall überlebt hat oder dass es einem von einem auf den anderen Augen‐ blick besser geht, nur weil man ein entscheidendes Gespräch geführt hat. „Wir bezeugen, was wir gesehen haben.“ Aber was wir dann bezeugen kön‐ nen, geht über das hinaus, was wir gesehen haben. Engel kann man nicht sehen, aber dass sie einen bewahrt haben, das kann man sehen. Es ist interessant, dass wir meistens keine genauen bildlichen Vorstellun‐ gen vom Himmelreich im Kopf haben. Was wir haben, sind ausschließlich Bruchstücke, herausgehobene einzelne Erfahrungen, die von Gottes Nähe etwas bemerkbar machen. Aber religiösen Menschen reichen schon die Bruchstücke, um sich ganz auf Gott zu verlassen. Diese Bruchstücke zeigen sich in irdischen Erfahrungen. Eine Gesetzmä‐ ßigkeit etwa ist etwas Unsichtbares. So ist es ein Naturgesetz, dass die Sonne jeden Morgen wieder aufgeht. Aber wir sehen das Gesetz nicht. Wir sehen nur die Sonne aufgehen – und verlassen uns auf ein unsichtbares Gesetz, das sich im Sonnenaufgang zeigt. Wir brauchen solche Gesetze, um uns zu orientieren. Wir würden sonst nicht wissen, ob es sich lohnt, morgens auf‐ zustehen. Trotzdem sieht man Gesetze nicht. Vielleicht gibt es ja auch Gesetze des Schicksals: Ratschläge, was wir ver‐ meiden müssen, damit uns nichts Schreckliches passiert; Gesetze einer hö‐ heren Wirklichkeit. Aber wenn es solche Gesetze gibt, dann sehen wir sie nicht. Sie sind kein Teil dieser Erde. Wie kommen Menschen aber dann dar‐ auf, solche Gesetze anzunehmen? Eben so, dass sie wahrnehmen, was auf Erden passiert. Wer christliche Erfahrungen mitteilen will, wird auf das Unsichtbare auf‐ merksam machen – und zwar das Unsichtbare, das sich im Sichtbaren zeigt. Oben wurde dieses Phänomen am Beispiel der Kipp-Bilder illustriert, etwa dem, auf dem man entweder einen Hasen oder eine Ente sieht.3 Damit man auf einem Bild den Hasen oder die Ente sieht, muss das Bild „kippen“. Aber dieser Moment des Kippens ist selbst kein sichtbarer Gegenstand auf dem 3
Kap. 2.
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Bild. Er ist vielmehr unsichtbar. Man braucht ihn aber, um beides auf dem Bild sehen zu können. Anscheinend kann man dabei in zwei Fallen tappen. Die erste Falle ist, so zu tun, als wäre Gott weit weg und als könnte man nichts von ihm wahr‐ nehmen. Dagegen sagt Jesus eben: „Wir bezeugen, was wir gesehen haben.“ Und die zweite Falle besteht darin, die sichtbaren Zeichen Gottes selbst zu einem Gegenstand dieser Erde zu machen. Dagegen wendet er ein, dass Gott nicht irdisch ist, sondern sich im Irdischen entdecken lässt – und zwar gerade nicht in dem, was passt, sondern im Gegenteil, in den Bruchstücken; nicht in einem erfolgreichen Leben, sondern in seinem Tod. Der Tod ist nämlich das, was nicht „ist“. Zwar ereignet sich der Tod auf Erden, aber der Tod ist selbst nichts. Er ist ja das Nichtsein des Verstorbenen. Er kommt nicht selbstständig vor, sondern nur in den Verstorbenen. Aber gerade durch ihn sind sie nicht mehr. Also ist er auch kein irdischer Gegen‐ stand. Und gerade deshalb begegnet man im Tod dem Überirdischen. Genauso bruchstückhaft sind Engel: Sie begegnen uns nicht dauernd, sondern in kurzen Momenten, an denen uns geholfen wird, wo wir eine Spur des Glücks erhaschen oder wo wir uns Verstorbenen besonders verbunden fühlen, die dann uns zu Engeln geworden sind. Das kann man anderen Menschen zeigen, wenn man vom christlichen Glauben erzählen will. Der christliche Glaube erklärt nicht die ganze Welt, sondern er zeigt auf kleine Besonderheiten: erstaunliche Erfahrungen, die man nicht genau erkennt, aber ganz genau merkt, dass sie geschehen. So wie man offenbar Engel nicht sehen kann, aber genau merkt, wie sie gerade auf einen aufgepasst haben. Weil wir nicht die Welt erklären, bleiben auch uns Christen viele Fragen offen. Man kann fragen, warum der Engel nicht immer da ist, wenn wir ihn brauchen. Man kann fragen, warum Menschen sterben müssen und warum es so vielen Menschen schlecht geht. Offenbar versagen hier unsere Gesetze. Und Gott lässt sich nicht in Gesetze pressen. Er zeigt sich eben in den Bruch‐ stücken unserer Erfahrung. Und von Bruchstücken her kann man kaum ein Gesetz formulieren. Aber vielleicht gelingt es, sich bereits auf Bruchstücke eigener Erfahrung zu verlassen. Menschen glauben an Engel, weil sie ihnen ein- oder zweimal im Leben begegnet sind. Der Glaube hält ein Leben lang – die Ereignisse aber waren nur kurze Momente. Christen glauben an die Auferstehung der Toten. Aber vielleicht waren es ganz seltene Erfahrungen, bei denen Menschen erlebt haben, dass ein Todesfall sie mit Gott in Verbin‐
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dung gebracht hat – nicht genau zu sehen, aber sie haben es doch sehr genau gemerkt.4 Heilsame Bruchstücke bringen unsere Gesetze immer wieder durchein‐ ander. Und deshalb ist die Entwicklung unseres Glaubens auch nie abge‐ schlossen. Berichte von Christen können darauf vorbereiten, dass einzelne Überraschungen das ganze Leben prägen können. Aber mit diesen Berichten kann man diesen Prozess nicht abschließen. Denn wir werden immer wieder bruchstückhafte Spuren Gottes zu sehen bekommen, die uns ganz prägen: das Unsichtbare, was man in sichtbaren Erfahrungen bemerken kann. Literatur zur Vertiefung
W. Härle: Dogmatik, Sektion 8. 3. 4. – Härles Dogmatik zeichnet sich dadurch aus, überhaupt eine Sektion für das Thema Engel vorzuhalten. Das Ziel der Sektion besteht in der Klärung, dass Engel auf Gott angewiesen sind. Es gibt kein von Gott unabhängiges Engelwirken. Engel können zwar auch schreckliche Erfahrungen auslösen, niemals jedoch heillose. I. Nord: Realitäten des Glaubens, 109 f. – Engel sind Darstellungen anonymer religiöser Kommunikation. Sie halten mit ihrer Fremdheit eine produk‐ tive Spannung zur Nähe religiöser Erfahrung, was als Freiheitsgewinn für den Menschen erlebt wird.
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Sektion 34. 1.
17 Der Mensch Gottebenbildlichkeit
Nach biblischem Zeugnis hat Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen (1. Mose 1,26). Das Motiv des Ebenbildes Gottes hat seine historische Wurzel in der Königsideologie des Alten Orients. Dort wurden die Könige so bezeichnet und damit ihre Funktion ausge‐ drückt, Repräsentant des göttlichen Willens zu sein. Gottebenbild‐ lichkeit bedeutet demnach keine äußere Ähnlichkeit, wie sie zwischen einem Bild und dem abgebildeten Objekt besteht. Vielmehr beschreibt sie ein Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen als seinem Eben‐ bild, und zwar im Hinblick auf die Funktion des Menschen in der Welt.
17.1 Der geschaffene Mensch in der geschaffenen Welt (1. Mose 2, 4–9) Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. Und all die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Jugendliche sagen schnell: Gott hat die Welt nicht erschaffen, sondern der Urknall. Deshalb zweifeln sie an einer solchen Geschichte. Bis zur Oberstufe wissen jedoch Jugendliche in der Regel kaum etwas darüber, wie der Urknall die Welt hat entstehen lassen. Sie haben keine Antwort auf die Frage, was da eigentlich damals knallte, als es doch noch nichts gab, was hätte knallen
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können. In der Regel reagieren sie so, dass sie sich etwas einfallen lassen und eine Geschichte erzählen. Wenn es um die Entstehung der Welt geht, fangen wir an, uns Geschichten zu erzählen. Es war ja auch niemand damals dabei. Deshalb können wir auch nur erzählen, was wir vom heutigen Standpunkt aus für vorstellbar halten. Das gilt übrigens auch für die moderne Physik. Steven Hawking, der weltberühmte Physiker, hat seinen Bestseller über die Weltentstehung ganz bewusst „Eine kurze Geschichte der Zeit“ genannt. In diesem Buch kann man lesen, dass Phy‐ siker genau zurückrechnen können, was beim Urknall passiert ist – bis auf die allerersten Sekundenbruchteile. Aber genau in diesen verborgenen Momenten liegt der ganze Schlüssel für unsere Welterklärung. Also wissen wir eigentlich das Entscheidende noch gar nicht. Deshalb muss man Hypothesen aufstellen, also eigentlich unbewiesene Geschichten erzählen. Hawkings Buch ist auch nur eine „kurze“ Geschichte über die Zeit, weil alle bisherigen Erklärungen zu kurz greifen. Sie erzählen nicht alles. Sie fangen zu spät an und hören zu früh auf. Genauso ist es mit dieser biblischen Geschichte, die ebenfalls zu spät an‐ fängt und zu früh aufhört. Die Geschichte fängt erst an, nachdem die Welt steht. Die Weltentstehung wird hier nicht noch einmal erzählt. Es wird nur ein kleiner Abschnitt daraus erzählt, nämlich wie der Mensch von Gott er‐ schaffen und in eine Umwelt gestellt wird, die ihn mit Essen versorgt; und wie auch seine Lebensgeschichte und seine Kultur von natürlichen Umstän‐ den abhängt. Der Schreiber dieser Geschichte war damals auch nicht dabei. So dichterisch, als er vom Baum des Lebens sprach und vom Baum der Er‐ kenntnis von Gut und Böse, drückt er aus, dass wir unsere Lebensgeschichte nicht selbst in der Hand haben. Vielmehr hängt sie von den natürlichen Umständen ab, in denen wir leben. Genauso ist es mit Gut und Böse: Diesen Unterschied können wir nicht selbst bestimmen, weil er von den natürlichen Umständen abhängt, in denen wir leben. Die Geschichte aus der Bibel fängt zu spät an und hört zu früh auf – wie alle Geschichten, auch die Urknalltheorie. Nur ein Aspekt scheint dem Ver‐ fasser dieser biblischen Geschichte besonders wichtig gewesen zu sein, nämlich wie verwundbar der Mensch ist. Gott hat den Menschen aus Staub geformt. Ein Staubklumpen hält nicht lange. Er zerfällt schnell. Die eigene Lebensgeschichte hat er nicht in der Hand. Der Baum des Lebens ist nicht sein Baum, sondern er steht um ihn herum. Über Gut und Böse kann der Mensch nicht selbst entscheiden, son‐
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dern muss sich dabei auf äußere Umstände beziehen. Der Mensch ist so ver‐ wundbar – und darf trotzdem leben. Das ist eigentlich auch die Botschaft der Urknalltheorie. Ein Physiker hat einmal gesagt, es sei wahrscheinlicher, dass ein Affe auf einer Schreibma‐ schine herumspielt und dabei zufällig komplett Goethes Theaterstück „Faust“ schreibt, als dass in diesem Universum Menschen entstehen konn‐ ten. Wir völlig zufälligen und unwahrscheinlichen Lebewesen dürfen trotz‐ dem leben. Für die Bibel ist der Mensch aus sich selbst nur ein Erdklumpen. Er kann sich nicht festhalten und eine Bestimmung geben. Wenn er eine Bestimmung hat, dann von außen. Dann ist er ein Geschenk von woandersher. Literatur zur Vertiefung
M. Luther: Großer Katechismus: Von dem Glauben, der Erste Artikel: „Also daß man aus diesem Artikel lerne, daß unser keiner das Leben noch alles, was itzt erzählet ist und erzählt mag werden, von ihm selbs hat noch erhalten kann, wie klein und gering es ist.“ (BSLK, 648) St. Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. – Dieses Buch fasst die phy‐ sikalischen Erkenntnisse und offenen Fragen zur Weltentstehung zu‐ sammen. J.v. Buttlar: Supernova, 259–261. – Mit dem Zufall allein lässt sich die Ent‐ stehung des Lebens nicht erklären. Ch.S. Peirce: Religionsphilosophische Schriften, 346–351. – Auch eine ma‐ terialistische Evolutionstheorie wie der Darwinismus scheitert an ihren mathematischen Voraussetzungen. H. Schulz: Patt. – Dieser Beitrag zeigt die grundsätzlichen Probleme auf, die sowohl Atheisten als auch religiöse Kreationisten haben, wenn sie die Entstehung des Lebens und des Bewusstseins erklären wollen.
17.2 Der geborene Mensch (Ps. 139, 13-16) Denn du (angesprochen ist Jahwe, der Gott Israels) hast meine Nieren geschaffen und hast mich gewebt im Bauch meiner Mutter. Ich danke dir dafür, dass ich furchtbar außerordentlich bin; außerordentlich sind deine Werke; meine Seele erkennt das sehr.
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Es ist dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Versteck gemacht worden bin; ich bin gebildet worden unten in der Erde. Deine Augen sahen meinen Embryo, und sie alle sind in deinem Buch geschrieben: die vorgebildeten Tage, von denen keiner da war.
Niemand von uns war bei der eigenen Geburt dabei. Das eigene Leben be‐ ginnt in einer unpersönlichen Situation, von der wir nichts wissen. Unsere Geburt erahnen wir nur im Rückblick, ohne dass wir uns an etwas erinnern könnten, worauf wir dabei zurückblicken. Ein echter Blick ist dieser Rück‐ blick also nicht. Der Rückblick auf unsere eigene Geburt ist ein Blick ins Dunkle. An unsere Geburt können sich immerhin unsere Eltern erinnern und die Hebamme vielleicht, die dabei war. Das macht aber unsere Geburt nicht schon zu einem bekannten Ereignis. Für Eltern ist die Geburt ihres Kindes ein rätselhaftes Unbekanntes, gleichgültig wie viele Geburtsfilme man vorab gesehen oder Vorbereitungskurse besucht hat. Die Mutter hat das Kind zwar schon wochenlang gespürt. Und doch kommt am Tag der Geburt ein unbe‐ kanntes Menschlein auf die Welt, von dem niemand sagen konnte, was es für einen Charakter hat oder wie bald es die Nächte durchschlafen wird. Ob die Geburt eines Kindes eine Gotteserfahrung ist, das lässt sich für viele Eltern heutzutage schwer aussprechen. Und doch ist die Geburt eines Kindes meistens für Eltern weit mehr als nur eine menschliche Selbsterfah‐ rung. Eltern sprechen in solchen Situationen über Ohnmacht und davon, wie man damit lebt, dass man sich anhaltend lange ohnmächtig fühlen kann. Dabei kann sogar Gegensätzliches ohnmächtig machen. Ein junges Paar kann sich ohnmächtig fühlen, weil der Wunsch, ein Kind zu bekommen, unerfüllt bleibt. Aber auch das Umgekehrte kann einen ohnmächtig machen, dass man ein Kind erwartet. Warum ist beides ein verständliches Gefühl? Weil wir das Leben nicht in der Hand haben, weder Leben zu schaffen noch ein werdendes Leben zu steuern. Von Anfang an lebt sich Leben von allein. Das ist auch für Eltern eine drastische Selbsterfahrung – sie kann sogar schmerzhaft sein. Aber sie ist doch mehr als das: Ein Paar kann sich dabei ohnmächtig fühlen, gerade weil die eigene Selbsterfahrung an einem ande‐ ren Leben auftritt, noch dazu an einem Leben, das sich gerade neu bildet. Die eigene Ohnmacht zeigt sich darin, dass wir dieses Werden nicht in der Hand haben. Und vielleicht ist es dann doch der treffende Ausdruck, von einer Gottes‐ erfahrung zu sprechen, nämlich davon, dass unsere Selbsterfahrung die Er‐
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fahrung eines Größeren einschließt, das uns ohnmächtig macht. Hätten wir die Macht über dieses andere Leben, dann wäre es nicht mehr ein anderes Leben, sondern unser eigenes. Also macht uns das andere Leben ohnmächtig und sprachlos. Es handelt sich wohlgemerkt um eine Erfahrung, die schmerzhaft sein kann, aber dem eigenen Leben auch Tiefe gibt und sogar Lebensglück: Wie wunderbar ist es, dass dieses Kind geboren werden durfte! Aber das belegt ja nur, dass wir unser Glück nicht selbst hervorbringen können. Sogar Glück ist keine bloße Selbsterfahrung, sondern die Erfahrung eines Größeren. Auch Lebensglück ist eine Ohnmachtserfahrung. Die Geburt eines Men‐ schen wird also nicht weniger außerordentlich, wenn sie die Geburt eines anderen Menschen ist. Geborenwerden ist das Signum unserer eigenen Fremdheit. Was uns an unserer eigenen Geburt fremd ist, ist nicht nur ein lange ver‐ gangenes Ereignis, sondern ebenso wir uns selbst. Diese Fremdheit, die wir für uns selbst sind, setzt sich im Leben fort. Unsere Existenz dringt aus einem Anfang, den wir verpasst haben, seitdem wir angefangen haben zu leben. Vermutlich gibt es auch keine erste, älteste Erinnerung für uns. Auch wenn wir uns an Ereignisse aus der frühen Kindheit erinnern, könnte es sein, dass uns in einer anderen Situation andere Erinnerungen einfallen, die noch länger zurückliegen. Selbst wenn also das Erinnerungsvermögen ein‐ mal eingesetzt hat, gibt es keinen Zeitpunkt, seitdem es da gewesen ist und einen Augenblick vorher noch nicht. Eher scheint daher das Erinnerungsvermögen allmählich entstanden zu sein, nicht zu einem plötzlichen Zeitpunkt, sondern auf einer längeren Zeit‐ strecke. Aber das ändert nichts daran, dass es ein Rätsel ist, dass unsere frühesten Erinnerungen irgendwann nach unserer Geburt entstanden sind und wir uns an diese Entstehung selbst nicht erinnern können. Wie soll auch allmählich etwas entstanden sein, was doch entweder da ist oder weg und nichts allmählich Dazwischenliegendes? Der Mensch ist wohl dieses allmähliche Wesen. Wir sind zwar jetzt da, aber der allmähliche Prozess, wie wir zu geistigen Wesen geworden sind, ist für uns genauso dunkel wie der Moment unserer Geburt. Geboren sein heißt wohl, ein allmählich entstandenes Wesen zu sein. Und ein allmähliches We‐ sen sein heißt wohl, dass man den genauen Zeitpunkt nicht angeben kann, ab wann man sein eigenes Leben lebt. Das Eigene enthält das Fremde. Zwar entwickelt sich aus dem Fremden allmählich das Eigene, aber man wird dabei das Fremde nicht los.
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Der Psalm nennt diese Erfahrung das „furchtbar Außerordentliche“: Am eigenen Leben lässt sich erkennen, dass sich Vieles nicht erkennen lässt. Am Außerordentlichen, das Ehrfurcht erregt, werden vor allem die eigenen Er‐ kenntnisgrenzen bewusst. Dieses Ich aus dem Psalm weiß nur, dass es hier etwas zu erkennen gibt, aber nicht für mich und wohl für keinen Men‐ schen. Gäbe es aber hier für niemanden etwas zu erkennen, dann wäre diese Erkenntnisgrenze unüberwindbar. Und das könnte nur heißen, dass es eben nichts zu erkennen gäbe. Das widerspricht aber meiner Ahnung von meiner Geburt: Ich weiß ja, dass ich geboren bin. Dieses Dunkle, aus dem ich ge‐ worden bin, war ja vom Licht der Erkenntnis nur so weit entfernt wie alles Allmähliche: graduell, irgendwie schon da, bevor es da war. Der Psalm folgert daraus drei Zusammenhänge: Zum einen muss der Mensch, dieses allmähliche Wesen, ein Geschöpf Gottes sein. Zum anderen überwindet die Erkenntnis Gottes meine Erkenntnisgrenzen. Zum dritten schließlich wird gefolgert, dass meine Erkenntnisgrenzen über meine Zu‐ kunft ebenfalls von Gott überschritten werden: Er hat alle meine Tage bereits in sein Buch geschrieben und sie in seiner Erkenntnis vorgebildet. Sind diese Schlussfolgerungen nicht etwas kühn? Dass ich ein mir fremdes Wesen bin, das sich erst allmählich entwickelt hat, kann dann kein Mensch unabhängig von religiösen Bindungen sagen. Denn man müsste dabei immer zugleich mitdenken, dass Gott meine Erkenntnisgrenzen überschreitet, was er deshalb kann, weil er allwissend und Schöpfer ist. Und muss man das mitdenken? Inwiefern ergeben sich also die Allwissenheit Gottes und seine Schöpfer‐ kraft gemeinsam aus meinen Einsichten über mein Geborensein? Wenn ich mich aus dem Dunklen allmählich bilde, so bilde ich mich aus dem Erkannten eines anderen. Das, was Gott erkennt und woraus ich gebildet werde, ist für mich dieselbe Dunkelheit. Und es ist derselbe allmähliche Prozess, der mich hervorbringt und der meine Erkenntnisgrenzen überschreitet. Ich bin ein geistiges Wesen, das Erkenntnisse und Erinnerungen hat, ohne dass ich mich an den Beginn meines Geistes erinnern könnte. Mein Geist verdankt sich also einem Ereignis hinter meinen Erkenntnisgrenzen, das ein umfassender, allwissender Geist bildete. Dass der Mensch Geschöpf ist, heißt also, dass er ein allmählich gewor‐ dener Geist ist, ein geborenes Wesen. Und das wiederum heißt, aus Gottes Geist geworden zu sein. Deshalb besteht für den 139. Psalm ein direkter Zusammenhang zwischen der Allwissenheit Gottes, seiner Schöpferkraft und unserem Geborensein.
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Und übrigens auch für Jesus im Johannesevangelium: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist“ (Joh. 3,6). Bestünde die Welt nur aus lebloser Materie, so müsste nichts aus Geist entstanden sein. Wenn sich aber der geborene Geist selbst einem Geist verdankt, dann verdankt er sich einem allwissenden Geist. Ein solcher hat dann keine Erkenntnisgrenzen, die alle Wesen haben, die allmählich aus Geist zum Geist geboren werden. Psalm 139 und vermutlich auch das Jo‐ hannesevangelium beschreiben das Geborensein als eine mystische Begeg‐ nung mit Gott: Indem ich mich wahrnehme, erkenne ich, dass in mir eine andere Kraft wirkt. Mein Geist verdankt sich also einem anderen Geist in mir. Tatsächlich hat es Geist schon gegeben, bevor wir einen Geist hatten. Als ich geboren wurde, achteten andere auf mich, gaben mir einen Namen und dachten stellvertretend für mich. Das gilt für uns alle. Kein Mensch ist je geboren worden, ohne dass vor ihm schon gedacht wurde. Kein Bewusstsein ist je erwacht, ohne dass es bereits ein waches Bewusstsein gab. Die Ge‐ schichte des Geistes ist also älter als die der Menschen. Und ohne eine Ge‐ schichte des Geistes wäre nie ein Mensch als geistiges Wesen geboren wor‐ den. Mögen auch physikalische Prozesse bei der Entstehung der Menschen mitbeteiligt gewesen sein – ohne den Geist als Voraussetzung für den menschlichen Geist hätte nie ein Mensch geboren werden können. Geboren werden heißt, aus der Dunkelheit eigener geistiger Voraussetzungen all‐ mählich geworden zu sein. Literatur zur Vertiefung
H. Arendt: Vita activa, 17 f, 215–217, 316 f. – Die Geburt eines Menschen ist das Wunder, selbst einen Anfang zu setzen, auch wenn der Mensch zu diesem Zeitpunkt noch nicht ist, um einen Anfang zu setzen. Vielmehr ist der Mensch der Anfang. Geborensein setzt sich also im ganzen Leben fort. S. Žižek: Event, 3–8. – Jedes Ereignis verwirklicht rückwirkend die Bedin‐ gungen, die zu ihm führen. Žižek spricht von einer „retroaktiven Kausa‐ lität”. In diesem wundersamen Moment des Ereignisses liegt das Göttli‐ che.
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17.3 Der freie Mensch in Zweideutigkeit (1. Mose 3, 1-24) Aber die Schlange war listiger als alles Leben auf dem Felde, das Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Wohl gar hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten. Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend anzusehen 5. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten. Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß. Da sprach Gott der HERR zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange verführte mich, und ich aß. Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du ver‐ flucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. 5
Luther hat stattdessen hier nicht wörtlich, sondern nach seinen theologischen Urteilen übersetzt.
17.3 Der freie Mensch in Zweideutigkeit (1. Mose 3, 1-24)
Und zur Frau sprach er: Ich werde dir viel Beschwerde schaffen, wenn du schwan‐ ger wirst; unter Schmerz wirst du Kinder gebären. Und dein Verlangen wird dein Mann sein, und er wird dich beherrschen. Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Beschwerden wirst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln wird er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie war die Mutter allen Lebens. Und Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er der Erde diene, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Che‐ rubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.
Manchmal hilft es, wenn man eine bekannte Geschichte „unbekannt macht“, damit man ihre Überraschungen entdeckt. Auf diese Geschichte trifft das auch zu, weil sie fälschlicherweise für die Geschichte des sogenannten Sün‐ denfalls gehalten worden ist. Dieses Missverständnis geht weit zurück: Der Apostel Paulus hat Adam zum ersten Sünder erklärt (Röm. 5,14) wegen die‐ ser Geschichte. Dabei kommt hier das Wort Sünde kein einziges Mal vor. Die Bibel spricht zum ersten Mal von der Sünde bei der Mordgeschichte von Kain und Abel. Was hier dagegen geschieht, hat mit Sünde nichts zu tun. Natürlich könnte man sagen, dass Adam und Eva ein Gebot gebrochen und sich damit schuldig gemacht haben. Aber dann hätte sich vorher schon Gott schuldig gemacht. Er hätte die beiden angelogen, dass sie sterben wer‐ den, wenn sie von dem Baum in der Mitte des Gartens essen. Denn giftig war der Baum ja nicht. Die beiden haben den Verzehr der Frucht überlebt. Dann also wäre Gott der erste Sünder gewesen. Aber damit zerstören wir
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diese Geschichte und machen sie zu etwas, was sie nicht erzählt. Sie ist eben keine Geschichte vom Sündenfall. Was die Geschichte stattdessen erzählt, handelt von dem befreienden, aber auch beschämenden Prozess, selbstständig zu sein. Es ist eine Ge‐ schichte von der Entstehung der Freiheit – und von ihrer Zweideutigkeit: Wer selbstständig wird, erlebt Siege, aber auch Niederlagen. Beides wird hier erzählt. Und die Geschichte hat ein offenes Ende, weil sie nicht erzählt, wie ein selbstständiger Mensch trotzdem mit Gott in Beziehung stehen kann. Für unselbstständige Wesen gibt es keine Unterschiede. Sie tun einfach das, was sie tun müssen, ohne zu verstehen, was sie eigentlich tun. Aber vielleicht kann der unselbstständige Mensch durch irgendwelche Ereignisse verstehen, dass er nichts versteht. Und schon das ist der Beginn der Selbst‐ ständigkeit. Der erste Impuls, zu verstehen, dass man nichts versteht, kommt in dieser Geschichte nicht vom Menschen, sondern von der nichtmenschli‐ chen Schöpfung. Die Schlange macht eine Feststellung, als ob es keine Un‐ terschiede gäbe: „Wohl gar hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten.“ Es ist Eva, die den Unterschied feststellt: Von den Bäumen essen wir nichts, aber von den Früchten der Bäume. Das ist der erste Unterschied, den ein Mensch in der Bibel entdeckt. Hatte Adam am Tag der Schöpfung zwar den Tieren Namen gegeben, so hat er sie doch noch nicht bewusst unterschieden. Und als er seine Frau sah, sah er ja gerade keinen Unterschied, sondern nur Gleiches: „Fleisch von meinem Fleisch“ (1. Mose 2,23). Es ist die Frau, die den ersten Unterschied in der Bibel beschreiben kann. Wer zwischen Gut und Böse unterscheiden will, muss überhaupt unter‐ scheiden können. Eva kann unterscheiden. Und wer unterscheiden kann, kann dann auch schon angeben, was für einen selbst gut und böse ist. Es ist interessant, dass Eva den Unterschied von Gut und Böse bereits kennt, bevor sie von der verbotenen Frucht isst. „Die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre.“ Nach meinem Eindruck will die Geschichte also nicht er‐ zählen, dass der Baum von Gut und Böse eine magische Kraft hat, um diese Unterscheidung zu erlernen. Man bekommt die Fähigkeit von Gut und Böse nicht dadurch, dass man eine Frucht isst. Vielmehr kann Eva ja schon vorher zwischen Gut und Böse unterscheiden. Seitdem sie unterscheiden kann, weiß sie auch schon, was gut aussieht. Sie hat damit ihre Unterscheidung von Gut und Böse über das Verbot gestellt, nicht von diesem Baum zu essen. Es wird nicht erzählt, warum Gott verboten hatte, von diesem Baum in der Mitte des Gartens zu essen. Nur eins war dieses Verbot für den Menschen
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nicht: Es war nicht böse und es war auch nicht gut. Gut und Böse entstehen erst durch die menschliche Fähigkeit zu unterscheiden. Und indem Eva ent‐ deckt hat, dass von dem Baum gut zu essen wäre, stellt sie das Gute über die Pflicht, ein Verbot einzuhalten. Für einen selbstständigen Menschen gilt also: Höher als die Pflicht ist das Gute. Nun könnte man auf die Idee kommen, dass Gott etwas dagegen hatte, dass die Menschen selbstständig werden. Zumindest hat er einige Bedenken. Aber er bestraft sie nicht dafür. Alles, was er macht, ist, die Konsequenzen zu enthüllen, die mit Selbstständigkeit entstehen. Denn wer selbstständig ist, ist auch verantwortlich für sein Tun. Und das kann manchmal auch wehtun. Der selbstständige Mensch steht in Konflikt mit der Natur. Er hat keine Eltern, die wilde Tiere abhalten. Man tritt vielmehr selbst auf den Kopf der Schlangen und man wird gelegentlich auch von ihnen gebissen. Ebenso we‐ nig bekommt der selbstständige Mensch sein Essen gebracht. Er muss viel‐ mehr selbst im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen. Und schließlich halten auch keine Eltern den selbstständigen Menschen von seinen sexuel‐ len Begierden ab: „Dein Verlangen wird dein Mann sein, und er wird dich beherrschen.“ Befreien wir diesen Vers von seinen diskriminierenden Asso‐ ziationen, wonach sich die Frau dem Mann unterzuordnen habe! Dann legt der Satz ein typisches Begleitphänomen des Verliebtseins frei, das auf Men‐ schen aller Geschlechter zutrifft: Wer verliebt ist, dessen Gedanken sind ganz von der Liebespartnerin beherrscht. In der Unselbstständigkeit lebt man in seiner Familie, als gäbe es keine anderen Menschen. Hier sind jüngere Ge‐ nerationen nicht vorgesehen. Wer dagegen selbstständig ist, kann selbst Kinder bekommen. Selbstständigkeit kann schön sein: verliebt sein, Eltern werden, von der eigenen Arbeit leben – aber all das ist eben auch mit Konflikten verbunden und mit Verantwortung. Gott straft nicht die Frau damit, dass sie unter Schmerzen gebären muss. Der Geburtsschmerz ist vielmehr eine natürliche Konsequenz ihrer Selbstständigkeit, sich für Kinder zu entscheiden. Gott straft nicht den Mann, dass die Felder Dornen tragen, sondern benennt ein‐ fach eine Eigenschaft der Natur. Es ist ja auch keine Strafe, dass der Mensch nun die Kräuter des Feldes und Brot isst. So müsste es aber sein, wenn man Gottes Rede an Adam für eine Strafrede hält. Aber die Erträge des Feldes sind die Produkte der Arbeit des selbstständigen Menschen, für die er sich entscheidet. Der selbstständige Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen. Das ist die logische Kehrseite seiner Selbstständigkeit. „Da wies ihn Gott der
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HERR aus dem Garten Eden, dass er der Erde diene, von der er genommen war.“ Wer von Erde genommen ist, kann dann auch nur der Erde dienen, wenn er seine Pläne aus sich selbst heraus bestimmt. Für eine Strafgeschichte wegen eines angeblichen Sündenfalls fehlen jeg‐ liche Indizien. Wie sonst hätte Eva glorreich mit dem Titel „Mutter allen Lebens“ geschmückt werden können? Erst seitdem der Mensch selbstständig geworden ist, treten Sexualität und Fortpflanzung auf und Mütter und Väter. Die Geschichte erzählt, dass Eva diesen Schritt in die Selbstständigkeit ge‐ wagt hat. Deshalb ist sie die Mutter allen Lebens – und auch die Mutter der Selbstständigkeit. Aber wie kann der selbstständige Mensch nun mit Gott leben? An dieser Stelle hat die Geschichte ein offenes Ende. Der selbstständige Mensch lebt nicht mehr in unmittelbarer Nähe zu Gott, sondern in unmittelbarer Nähe zu sich, zur Erde. Wie ist da noch eine Beziehung zu Gott möglich? Zumin‐ dest scheint sie nicht mehr nötig zu sein. Zwar bleibt auch der selbstständige Mensch noch ein Geschöpf Gottes – er entkommt ja nicht der Situation, von Erde genommen zu sein. Aber der selbstständige Mensch ist sich und seiner Erdverbundenheit dennoch näher als Gott. Das einzige, was die Geschichte zu dieser Frage beiträgt, ist die Nachricht, dass sich der Mensch nicht vor Gott schämen soll, dass er Geschöpf und selbstständig ist. Wenigstens vor Gott soll er sich nicht schämen. Es ist ja interessant, wie Adam und Eva sich genau dafür zunächst schä‐ men. Wer verantwortlich für sein Leben geworden ist, schämt sich auch manchmal für seine Entscheidungen. Adam will deshalb seine Verantwor‐ tung am liebsten abwälzen: auf die Frau, „die du mir gegeben hast“ – und damit auch auf Gott. In solchen Situationen wünscht man sich die Unselbst‐ ständigkeit herbei: dass Gott doch alles für einen macht. – Und Eva schiebt die Verantwortung auf die Schlange. Zur Selbstständigkeit gehört auch, dass sich der Mensch für eigene Ent‐ scheidungen immer wieder auch schämt. Aber er soll sich nicht vor Gott schämen! „Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.“ Er entzieht sie seinen Blicken, damit sie sich nicht schämen müssen. Vermutlich auch deshalb wohnen sie jetzt nicht mehr in seinem Garten. Das heißt nichts anderes, als dass Gott den selbstständigen Menschen anerkennt. Menschen stehen nicht beschämt vor ihm, sondern frei neben ihm in einem eigenen Lebensraum. So hat sich zwar der Mensch aus eigener
17.4 Der liebende Mensch (1. Kor. 13)
Kraft in die Selbstständigkeit begeben – aber schließlich auch unter Gottes Segen. Literatur zur Vertiefung
A.-K. Lück: Der gläserne Mensch im Internet, 73–92. – Dieser Text räumt mit etlichen Vorurteilen zur Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies auf und beschreibt den Menschen in seiner Ambivalenz aus Selbstständigkeit und Verletzbarkeit.
17.4 Der liebende Mensch (1. Kor. 13) Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klirrende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht er‐ bittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie hüllt alles in Schweigen, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
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Paulus schreibt diese Stelle innerhalb des Ersten Korintherbriefs im Zusam‐ menhang mit einer Frage, die damals anscheinend unter Christen kursierte: Welche Begabung, welches Talent ist für Christen am wichtigsten und am größten? Und die Antwort, die Paulus gibt, lautet: Am größten ist die Er‐ kenntnis, die wir aber nicht aus uns selbst haben, sondern von jemandem anderen. Paulus nennt diese Erkenntnis: „Ich erkenne, dass ich erkannt bin.“ Diese Erkenntnis kann nur von jemandem anderen ausgehen. Ich brauche also diesen Blick von außen, um zu verstehen, wie ich wirke. Erkennen, wie ich erkannt bin – das ist für Paulus Liebe. Wer Liebe hat, hat auch die größte Erkenntnis. Liebe unterscheidet sich aber von den anderen besonderen Fähigkeiten. Wer prophetisch weissagen kann, kann auf seine besondere Erkenntnis stolz sein. Wer sich aufopfert für andere, kann auf seine besondere Fähigkeit stolz sein. Wer aber liebt, hat am meisten von allen erkannt, obwohl er darauf nicht stolz sein kann. Denn die Liebe ist keine eigene menschliche Fähigkeit. Und was man durch seine Liebe erfährt, erwächst nicht aus einem selbst. In Liebe verdankt man alles einem anderen, nämlich dem, den man liebt. „Ich liebe dich“ heißt nämlich, dass das Entscheidende von dir kommt. Du erkennst mich. Ich entdecke also mehr von mir, wenn ich jemanden liebe. Dabei tue ich gar nichts, wenn ich liebe. Denn durch dich erkenne ich. Dafür musst Du gar nichts können. Du wirst ja nur geliebt und kannst vielleicht gar nichts dafür. Uns beiden widerfährt also etwas, wofür wir nichts können: Du wirst geliebt, ohne dass du dafür etwas hättest vollbringen müssen. Und ich werde erkannt, ohne dass du diese Erkenntnis bewusst generiert hättest. Deshalb beschreibt Paulus die Liebe als eine Gabe Gottes. Was Liebe er‐ fahrbar macht, entsteht nämlich nicht durch zwei Liebende, sondern zwi‐ schen beiden. Liebe ist also nicht von Menschen gemacht. Sie schließt Got‐ teserkenntnis ein, nämlich die Erkenntnis in das Widerfahrnis der Liebe. Erkennen, wie ich erkannt bin, ist das Widerfahrnis des Blickes. Wir kön‐ nen uns nicht selbst ansehen – außer über einen Spiegel, aber dann schaut der Spiegel uns an und nicht wir uns. Ein Blick eines anderen verändert dagegen alles an unserer Selbsterkenntnis. Er eröffnet eine Dimension, die nicht mehr endet. Denn kein Blick hat uns jemals fertig angeschaut. Wir bleiben davon abhängig, dass wir erkannt werden. Wenn nun die Liebe, die ewig bleibt, die größte ist, dann bleiben wir ewig darauf angewiesen, geliebt zu werden. Auch im ewigen Reich Gottes bleiben alle Menschen abhängig, dass sie von anderen erkannt werden. Oder anders ausgedrückt: Die ewige Seligkeit gibt es nur in der Gemeinschaft der Liebe.
17.4 Der liebende Mensch (1. Kor. 13)
Im Griechischen gibt es mehrere Wörter für „Liebe“. Die Liebe, die Paulus hier meint, ist eine andere als eine brennende Begierde oder die Sehnsucht schlafloser Nächte. Aber dennoch ist auch sie die Angewiesenheit auf den anderen: aber eine ruhige Angewiesenheit. Man hat sich nicht gefunden, weil man sehnsüchtig gesucht hat. Sondern man wurde entdeckt, und das kann bereits in aller Ruhe gefallen. Der Blick des Du ruht dann still auf dem Gesicht des Ich; und seine Erkenntnis vom Du verleiht beiden eine neue Größe. Menschen hören es normalerweise nicht so gerne, dass sie auf andere angewiesen sind, und noch weniger, was andere von ihnen denken und ih‐ nen ins Gesicht sehen. Meistens müssen wir scheu wegsehen, wenn uns jemand ansieht. Es ist schwer zu ertragen zu erkennen, dass wir erkannt werden und dass andere uns durchschauen. Aber weil es schwer zu ertragen ist, können wir uns in der Regel nicht erkennen. Wir flüchten lieber vor den Erkenntnissen der anderen. Wir flüchten nur dann nicht, wenn wir lieben: Dann wollen wir auf einmal erfahren, was die geliebte Person über uns denkt. Wir wollen auf einmal entdecken, was der Blick des Geliebten von uns aufdeckt. Liebende halten ihren Blicken stand. Frisch Verliebte übrigens noch nicht: Sie müssen weg‐ schauen und werden rot, wenn der Freund sie anlächelt. Aber wo eine Be‐ ziehung gewachsen ist, da halte ich dem Blick der geliebten Person stand. Ich ertrage, was sie von mir erkennt und will sogar von ihr erkannt werden. Im Gegensatz zu anderen zwischenmenschlichen Begegnungen glaubt die Liebe auf einmal alles: „sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund, keine natürliche Ursache. Die Liebe ist eine Schöpfung aus dem Nichts. Denn ohne das, was beiden widerfährt, wenn sich Liebe ereignet, hätten sie keinen Grund, sich von einem anderen gerne durchschauen zu lassen. In der Liebe öffnen wir uns haltlos für Er‐ kenntnisse, die wir normalerweise eher fürchten. Aufgrund dieses Wider‐ fahrnisses enthält Liebe eine Gotteserfahrung. Allerdings machen wir mit der Liebe nicht nur glückliche Erfahrungen. Liebe wird oft auch enttäuscht. Und auch wer liebt, will nicht permanent dem Anderen ins Angesicht sehen. Der Gesprächsstoff geht manchmal aus – auch unter Liebenden. Und dann erkennen wir nicht mehr, wie wir erkannt sind, sondern schweigen miteinander. Die Sehnsucht zu reden mag dann wachsen. Aber es fällt einem nichts ein. Oder man sucht vielleicht sogar lieber im Schweigen sich selbst und kehrt sich lieber einmal von der gelieb‐ ten Person ab. Man will nicht dauernd erkennen, wie man erkannt ist, son‐
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dern auch gelegentlich wieder dem Blick der geliebten Person entgehen – für sich sein, allein, ungestört mit seinen Gedanken. In solchen Reaktionen zeigt sich ein wichtiger Einwand gegen die Liebe: Wo lässt sie eigentlich Platz für mich allein? Lässt also die Liebe Raum, sich auch aus der Distanz zu erkennen? Es sind vermutlich vor allem die lange gewachsenen Lebensgemeinschaften, die sogar in solchen Situationen er‐ kennen, erkannt zu sein. In dauerhaften Liebesbeziehungen lebt man auch oft schweigend miteinander und entgeht dem Blick der Geliebten. Das än‐ dert aber nichts daran, trotzdem Wohlgefallen daran zu haben, dass man angesehen wird. Die geliebte Person erkennt mich auch, wenn nicht geredet wird und auch wenn der Blick nicht zurückgespiegelt wird. Und auch das unterscheidet sich von anderen Begegnungen, in denen Blicke scheu aneinander vorbeisehen. Normalerweise gibt uns der Andere nichts zu erkennen, wenn wir unseren Blick von ihm abwenden. Langjährige Beziehungen verstehen sich aber sogar über räumliche Distanzen hinweg. Auch hier ist die Liebe wieder eine Schöpfung aus dem Nichts. Aber gerade dieser Zuwachs an Erkenntnis durch den Anderen steigert auch die Erkenntnisbedürftigkeit. Die Angewiesenheit, erkannt zu werden, wächst in Liebesbeziehungen sogar. Vielleicht ist es nicht für jeden ein an‐ genehmer Gedanke, dass in diesem Sinn die Liebe bleibt, dass es also ein Segen ist, dass wir Menschen sogar ewig von Anderen abhängig bleiben. Viele stellen sich das Himmelreich eher als ewige Erfüllung vor. Paulus dagegen bestimmt das Reich Gottes als ewig Unerfülltes: Wenn Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben, dann bleibt immer etwas übrig, was wir noch nicht haben. Sonst müssten wir nichts mehr hoffen. Und sonst gäbe es für uns irgendwann doch nichts mehr zu erkennen, wie wir erkannt sind. Wir Menschen sind immer unfertig und zugleich ewig geliebt. Und gerade weil wir geliebt werden, sind wir unfertig. Denn die Liebe wird nie damit fertig, uns anzuschauen und darin uns zu erkennen. Das mag nicht für jeden wünschenswert sein, aber Liebende wollen nicht, dass es damit aufhört. Für sie besteht das Reich Gottes darin, was sie schon gegenwärtig miteinander erleben, obwohl es niemals eine Gegenwart gibt, an der alles endgültig er‐ kannt wäre. Literatur zur Vertiefung
J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 638–648. – Normalerweise schäme ich mich vor den Blicken anderer, weil ich dabei zu ihrem Utensil werde.
17.5 Der sterbliche Mensch (Psalm 8, 4-6)
Wenn ich geliebt werde, setze ich dagegen alle Wertigkeiten des Anderen. Daher will ich von ihm angeblickt werden. I. Karle: Liebe in der Moderne, 96–101. – Die Bochumer Theologin nennt romantische Liebe eine „Komplettberücksichtigung des anderen“ (100) und macht damit auf die kommunikative Ebene der Liebe aufmerksam: In der Liebe kommunizieren Menschen sich selbst. L. Ohly: Ethik der Liebe, Kap. 2+8. – Verliebtheit ist ein Widerfahrnis mit theologischem Charakter. Es bleibt sogar an Menschen gebunden, wenn sie nicht mehr ineinander verliebt sind.
17.5 Der sterbliche Mensch (Psalm 8, 4-6) (Gott,) Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
„Was ist der Mensch, dass du (Gott) seiner gedenkst?“ Diese kurze Frage, die eigentlich gar nichts fragt, sagt doch doppelt so viel wie so manche anderen Bemerkungen, die man nach einem Todesfall los wird. Sie sagt einmal, dass wir Menschen zu klein sind, als dass wir an der Grenze des Lebens Ent‐ scheidungen treffen könnten, denen wir gewachsen wären. Aber diese Frage sagt doppelt so viel. Sie sagt auch noch, dass es anscheinend gerade ohn‐ mächtige Menschen sind, die hohe Entscheidungen treffen und zur Erleich‐ terung beitragen. „Er hat es uns abgenommen.“ Manchmal sprechen wir von verstorbenen Menschen so, dass sie uns schwere Entscheidungen abgenommen haben: Entscheidungen über weitere Pflegemaßnahmen oder ob wir die Kraft ha‐ ben, einen Menschen über weite Strecken eines Tages intensiv zu versorgen. Manchmal sterben Menschen merkwürdig „rechtzeitig“, als hätten sie es selbst verfügt, ihre Lebensfunktionen „abzustellen“. Aber was ist der Mensch, dass er solche Entscheidungen über Leben und Tod treffen kann? Was ist der Mensch, dass er bei allem Schmerz seine Mitmenschen zugleich erleichtern kann?
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Es ist ja nicht der Mensch an sich. Es ist die Tatsache, dass Gott des ohn‐ mächtigen Menschen gedenkt. Das verleiht ihm Größe und Macht. Der verwundbare Mensch, so viel kleiner als Mond und Sterne, ist doch viel kostbarer als sie. Denn in einem kann er mehr als sie: Mond und Sterne müssen nie Schicksalsschläge verkraften. Der Mensch aber muss zuweilen schweres Leid erdulden. Vielleicht ist der Mensch gerade deshalb gottähn‐ lich, weil er lernen kann, mit Leid umzugehen. Was die Würde des Menschen vom Mond und den Sternen unterscheidet, liegt genau darin, dass der Mensch anders werden kann. Sterne haben ihre Bahn, von der sie nicht abweichen. Er Mensch dagegen kann anders werden, als er früher war und als man von ihm vermutet. Ob es ihm jeweils gut tut, wissen Außenstehende oft nicht. Und der Mensch, der sich ändert, weiß es auch oft erst im Nachhinein oder manchmal selbst dann nicht. Aber er nimmt dennoch die die Kraft auf sich, sich zu verändern – und auch die Folgen hinzunehmen, die sich daraus ergeben. Weil der Mensch anders werden kann, ist er nur wenig niedriger als Gott selbst. Das spricht dafür, dass die Würde eines Menschen nicht vergeht, wenn er vergeht – wenn er so anders wird, dass es ihn scheinbar nicht mehr gibt. Auferstehung von den Toten heißt: anders werden können. Und auch die Auferstehung selbst wird vermutlich anders sein, als wir sie uns vorstellen. Gerade darin erfüllt sich die christliche Verheißung. Der verwundbare Mensch kann anders werden. Er ist nicht darauf festgelegt, wie er gelebt hat und woran er gelitten hat. Er ist nicht einmal darauf festgelegt, als Verstor‐ bener endgültig im Grab zu verbleiben. Literatur zur Vertiefung
H. Deuser: Theologie der Natur, 107 f. – Der sterbende Mensch fällt nicht etwa aus dem Kontinuum der Natur heraus, sondern bestätigt dieses Kontinuum, weil es Übergänge integriert. Der Tod ist im Leben integriert, in der natürlichen Evolution.
18 Der sündige Mensch Sünde
Verfehlung des Menschen. Meistens wurde Sünde moralisch verkürzt, als Bruch von Gottes Geboten. In der Sünde wird inzwischen eine grundsätzliche Spannung des Menschen zu seinem Gottesverhältnis gesehen, die auch über moralische Verfehlungen hinausgeht. Kurz ge‐ sagt: Auch wer Gottes Gebote einhält, kann zum Sünder werden.
18.1 Die Entstehung der Sünde (Ps. 139, 19-24) Es ist eine vernünftige Einsicht unserer Erfahrung, dass niemand alles wis‐ sen kann. Und wie Psalm 139 gezeigt hat, entsteht daraus die Ahnung eines allwissenden Gottes.6 Diese Einsicht überträgt Psalm 139 an seinem Ende in eine moralische Thematik – und damit auch in das Thema, das gläubige Menschen oft „Sünde“ nennen. Mir ist bewusst, dass die evangelische Theo‐ logie in den vergangenen Jahrzehnten den Begriff der Sünde von einer mo‐ ralischen Engführung befreit hat: Sünde ist danach mehr und etwas anderes als Schuld. Das heißt aber nicht, dass nicht auch Schuldkonflikte mit Sünde zu tun haben. Psalm 139 zeigt nun, dass die moralische Thematik genau diese Tiefendimension hat, die die Entstehung der Sünde bedenkt. Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! Dass doch die Blutgierigen von mir wichen! Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut. Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden. Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. 6
Kapitel 9.
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18 Der sündige Mensch
Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.
Plötzlich dreht sich der 139. Psalm scheinbar überraschend zu einer mora‐ lischen Thematik. Aber die moralische Thematik lässt sich erklären über die Erkenntnis der eigenen Erkenntnisgrenzen. Denn wenn ich nicht alles weiß, dann kann ich auch nicht wissen, ob ich in moralischen Hinsichten alles weiß. Aufgrund dieses unvermeidbaren Erkenntnisdefizits gesteht der Psalmbeter zu Recht, zwar auf moralische Rechtfertigung im Ganzen angewiesen zu sein, aber nur von Gott im Ganzen gerechtfertigt werden zu können. „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin“. Dahinter steckt die Einsicht, dass ich es selbst nicht sehen kann. Ich muss mich eines Urteils über mich enthalten, weil ich die Selbsterkenntnis habe, dass ich nicht alles von mir selbst erkenne. Der Psalmbeter kann also auch nicht erkennen, ob er alles moralisch Relevante er‐ kannt hat, was zu seiner Rechtfertigung beitragen könnte. Nun gehört es zum moralischen Denken, dass ich richtig handeln will. Mein Handeln und mein Sein sollen gerechtfertigt sein. Sonst wüsste ich nicht, was Ethik und Moral ist. Selbst wenn ich jetzt etwas tun will, was ich für moralisch falsch halte, setze ich voraus, dass es in dieser Situation oder für mich moralisch richtig ist. Sogar wenn ich einmal etwas Unsinniges tun will, so meine ich, dass es gerechtfertigt ist, einmal etwas Unsinniges zu tun. Wir können zwar Falsches tun, aber wir können es immer nur dann tun wollen, wenn wir es zumindest ausnahmsweise für richtig halten. Nun weiß ich aber nie, ob ich richtig handle und ob es dafür eine Recht‐ fertigung gibt, weil ich nicht alles über mich weiß. In dieser Situation ergibt sich folgerichtig das Bedürfnis, dass ich hoffentlich von Gott gerechtfertigt werde, weil nur Gott mein Verhalten rechtfertigen kann. Gott weiß nämlich alles und daher auch, ob mein Handeln und Sein gerechtfertigt sind. Dieser Einsicht kann man nur durch zwei Strategien ausweichen: Ent‐ weder man überbrückt die eigene Rechtfertigungsbedürftigkeit durch totale moralische Selbstrechtfertigung (eine Form, sich „gegen Gott zu erheben“, wie es der Psalm ausdrückt) oder man ignoriert die moralische Thematik überhaupt. Dabei müsste man moralische Themen umgehen oder durch oberflächliches Gehabe überdecken („sie reden von dir lästerlich/tückisch“). Beide Strategien haben moralisch schwerwiegende Folgen: Man wird „Blut‐ gieriger“, weil man entweder nur eigene moralische Maßstäbe kennt oder
18.1 Die Entstehung der Sünde (Ps. 139, 19-24)
gar keine moralischen Maßstäbe, an denen man sich misst. Deshalb wählt der Psalm moralische Beurteilungen für die mangelnde Gotteserkenntnis und kritisiert beide Strategien: Sie sind unmoralisch, weil sie unrealistisch mit der Erkenntnis der eigenen Erkenntnisgrenzen umgehen. Beide Strate‐ gien sind ein lebenspraktischer Widerspruch, denn jeder Mensch will mo‐ ralisch gerechtfertigt handeln und leben. Er ist also angesichts der eigenen Erkenntnisgrenzen darauf angewiesen, von Gott dem allwissenden Wesen gerechtfertigt zu werden. Dieses Rechtfertigungsbedürfnis entsteht not‐ wendig mit der moralischen Thematik. Nun gehört zu unserer Moralität, dass wir unser Verhalten immerhin teil‐ weise rechtfertigen können. Sonst bräuchten wir auch keine Ethik betreiben, wenn wir doch gar nicht wüssten, was wir tun oder unterlassen sollten. Wenn wir auf ethische Begründungen überhaupt verzichten würden, wären wir auf einmal selbst die Blutgierigen, weil wir keine moralischen Maßstäbe kennen würden. Also müssen wir unterstellen, dass wir immerhin teilweise moralische Aussagen treffen können. Aber können wir das wirklich? Wir wissen ja, dass wir nicht alles wissen. Also wissen wir, dass wir uns in unserer moralischen Selbstrechtfertigung täuschen können. Damit entsteht ein Dilemma, in das der Psalmbeter stürzt: 1.
Entweder muss er seinen Hass gegen den Gottlosen aufgeben, weil er nicht weiß, ob er vielleicht selber der ist, den er hasst. Dann jedoch verliert er jegliche Kriterien moralischer Selbsteinschätzung. Das macht ihn aber erst recht zu einem Blutgierigen. 2. Oder er muss die Differenz fallen lassen, die ihn vom Gottlosen ur‐ sprünglich unterschied, nämlich das Kriterium der Erkenntnis in ei‐ gene Grenzen der Selbsterkenntnis. Der Psalm müsste diese an sich richtige Selbsteinschätzung fallen lassen, weil er nicht weiß, ob er sie auf sich selbst richtig anwendet. Er weiß eben nicht, ob er entweder eine moralisch richtige Entscheidung trifft, weil er doch weiß, dass er nicht alles über sich und seine Entscheidung weiß – oder ob er eine falsche Entscheidung trifft, weil er seine Erkenntnisgrenzen ignoriert.
Dieses Dilemma scheint der Psalmist durch eine Unterscheidung zu umge‐ hen zwischen theoretischer Verurteilung des Gottlosen und lebenspraktischer Hoffnung auf einen gnädigen Gott: Theoretisch muss der Gottlose zwar ver‐ urteilt werden. Lebenspraktisch kann aber niemand wissen, ob er selbst als Gottloser überführt wird, weil er sein Verhalten nie vollständig rechtfertigen
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kann. Das Dilemma kann man nur aushalten, wenn man Gott um Rechtfer‐ tigung bittet, die man selber nicht sicherstellen kann. Nur dann führt mich Gott auf „ewigem Wege“, wenn mich Gott auf mei‐ nem Lebenswege rechtfertigt. Ob Gott mich rechtfertigt, muss ich aufgrund der Erkenntnis in die eigenen Grenzen meiner Selbsterkenntnis offen halten. Aber wenn mich Gott rechtfertigt, dann leitet er mich auf ewigem Wege – und nicht etwa ich, weil ich ja dafür nicht alles weiß. Sünde entsteht also allein deshalb, weil wir Menschen nicht alles wissen können, uns aber für unsere Lebenshaltung rechtfertigen müssen. Wir kön‐ nen beides gar nicht zusammen in Harmonie bringen. Wir leben zum einen unausweichlich so, dass wir möglicherweise moralisch Falsches tun, ohne es zu wissen. Zum anderen wissen wir aber, dass es so ist und können uns dafür nicht rechtfertigen. Darin besteht unsere Selbstzerrissenheit: Wir müssen uns rechtfertigen – sonst sind wir „Blutgierige“, die jede moralische Recht‐ fertigung ignorieren oder die nur ihre eigenen moralischen Maßstäbe ken‐ nen. Wir können uns aber nicht abschließend rechtfertigen, weil wir nicht alles wissen. Also können wir uns gar nicht rechtfertigen, weil wir sonst unsere Erkenntnisgrenzen ignorieren. Und damit werden wir wieder zu den „Blutgierigen“. Als beim Menschen das Wissen von Gut und Böse entstand7, begann die‐ ses Dilemma. Jetzt konnte er wissen, dass er nicht alles weiß – und war zugleich von diesem Moment an ein Wesen, das für sein Verhalten Rechen‐ schaft ablegen muss. Seitdem ist er von Gottes Rechtfertigung abhängig. Wir Menschen müssen mit dieser Zerrissenheit leben. Aber wir können sie nur so aushalten, dass wir sie überspielen und so tun, als wüssten wir alles, was uns rechtfertigt. Wir sind also Sünder und überspielen das – was unsere Sünde nochmals vertieft. Ohne Gottes Rechtfertigung können wir das nicht ändern. Sünde ist vielleicht nicht nur ein moralisches Problem, aber zumindest auch. Der Sünde entkommen wir aber nicht auf moralische Weise, sondern nur mit Gottes Hilfe. Literatur zur Vertiefung
H. Arendt: Vita activa, 301 f. – Das einzige Heilmittel dagegen, dass der Mensch Getanes nicht rückgängig machen kann, ist Verzeihen.
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Sektion 17. 3.
18.2 Schuld gegenüber verstorbenen Menschen (Lk. 13, 1-5)
K. Barth: Der Römerbrief, 190–196. – Dass der Mensch nichts tun kann, wenn Gott alles für ihn tut, heißt nicht, dass der Mensch dann die richtige Entscheidung trifft, wenn er nichts tut. Barth beschreibt das Dilemma, dass der Mensch zwischen halbherzigem Wählen und Zurückhalten steht, dem er nicht von allein entkommen kann.
18.2 Schuld gegenüber verstorbenen Menschen (Lk. 13, 1-5) Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten (Jesus) von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie erschlug, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.
Wenn zwei Menschen in einen Autounfall verwickelt werden und einer von beiden dabei stirbt, so fühlt sich der andere meistens schuldig daran, sogar dann, wenn er am Unfall keine Schuld hatte. Nicht deshalb fühlt er sich schuldig, weil er etwas falsch gemacht hat, sondern nur weil er noch lebt. Oft wünschen sich solche überlebenden Unfallopfer, dass sie selbst tot wären und ihr Mitfahrer noch lebte. In solchen Fällen wird ein Zusammen‐ hang von Schicksal und Schuld hergestellt. Andere Menschen werden vom Schicksal getroffen. Und die Überlebenden fühlen sich irgendwie verant‐ wortlich dafür. Das ist eine Belastung, die man kaum tragen kann. Die Menschen, die von einem Turm erschlagen werden, erleiden etwas, was eigentlich wir auch jederzeit erleiden könnten. Aber gerade weil wir es nicht erlitten haben, sind wir eigentlich schuldiger als sie. Sie sind eigentlich für uns gestorben, damit wir sehen, dass wir Buße tun müssen. Wir haben noch eine Lebenschance, sie nicht mehr. Aber gerade ihr Schicksal macht uns darauf aufmerksam, dass wir noch eine Lebenschance haben. Wie hält man das aus, dass die Toten uns diesen wertvollen Dienst tun? Sogar dass sie quasi deshalb gestorben sind, damit wir unsere Lebens‐ chance erkennen? Jedenfalls können sie dann nicht schuldiger sein als wir.
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Es scheint eher umgekehrt zu sein: Wir schulden ihnen etwas dafür, dass sie uns auf unsere Lebenschance aufmerksam machen. Nun können wir aber nichts dafür, dass 18 Menschen zur Zeit Jesu vom Turm erschlagen worden sind. Genauso wenig, wie die überlebende Person beim Autounfall moralische Schuld trägt, dass sie noch lebt und ihr Mitfahrer nicht. Dennoch fühlt sie sich schuldig, wenn sie als Übriggebliebene noch lebt. Menschen fühlen sich also in solchen Situationen schuldig, ohne dass sie für den Tod der anderen verantwortlich sind. Was ist das dann für eine Schuld? Wer sich so schuldig fühlt, den wird man nicht damit beruhigen können, dass man diese Schuld beschwichtigt. Beschwichtigt wird diese Schuld, wenn man nur meint, dass sie ein Schuldgefühl ist, dem aber keine reale Schuld entspricht. Die Überlebenden würden sich also ihre Schuld nur ein‐ bilden. Das ändert nichts an ihrer Situation: Denn diese Schuld fühlen sie trotzdem. Wäre es nicht besser, das Phänomen der Schuld vielschichtiger wahrzu‐ nehmen? Offenbar hat nicht jede Schuld etwas damit zu tun, dass man mo‐ ralische Normen verletzt. Das Schuldgefühl verweist vielmehr auf eine Schuld, die tiefer liegt. Sie hat damit zu tun, dass wir Menschen unser Leben nicht im Griff haben – und damit auch für das Leben anderer Menschen nicht bürgen können. Die Schuld liegt darin, dass wir Menschen lieben, die aber sterben. Also ist unsere Liebe nicht stark genug, um ihren Tod aufzuhalten. Oder diese Schuld liegt darin, dass sogar uns unbekannte Menschen allein deshalb sterben, weil wir zufällig gerade zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Es ist zwar nicht verboten, sich an diesem Ort zu befinden. Aber wären wir nicht dort gewesen, wäre es nicht zum Unfall gekommen. Nun waren wir jedoch da … Das ist eine Schuld, die nichts mit Moral zu tun hat. Aber von dieser Schuld spricht die Bibel auch: Weil Menschen sterben können, fühlen sie sich schul‐ dig. Und weil Menschen den Tod anderer erleben, fühlen sie sich verant‐ wortlich dafür. Dieser Schuld können wir nicht ausweichen, indem wir mo‐ ralisch alles richtig machen. Denn wir haben unser Leben nicht im Griff und erleben den Tod anderer Menschen. Das können wir nicht verhindern. In dieser Bibelstelle beschwichtigt Jesus keine Schuld. Im Gegenteil un‐ terstreicht er sie sogar: Es belastet wirklich, dass die 18 Menschen erschlagen worden sind und wir noch leben.
18.2 Schuld gegenüber verstorbenen Menschen (Lk. 13, 1-5)
„Tut Buße“ heißt: Bedenkt eure Schuld vor Gott. Bedenkt sie allerdings nicht vor den 18 armen Menschen, die erschlagen worden sind, sondern vor Gott. Was ändert sich dadurch? Wir bedenken unsere Schuld vor dem Schöpfer des Lebens, der unsere Schuld überwinden und uns rechtfertigen kann.8 Menschen können für das Leben anderer und für ihr eigenes Leben nicht bürgen. Buße tun heißt, sich an die Instanz zu richten, die das Leben er‐ schaffen hat und für das Leben bürgt. Wenn Gott die Menschen leben lässt, für die wir nicht bürgen können, dann heißt das ja, dass Gott die Bürgschaft umkehrt: Nicht wir sind dann für den Tod der anderen verantwortlich, son‐ dern Gott für ihr Leben – und damit bürgt er für uns, indem er uns diese Schuld vergibt. Gegen diese vertiefte Schuld hilft nur, wenn der, der aus dem Tod kommt, vergibt.9 „Tut Buße“ ist die Aufforderung, sich an Gottes Vergebung zu erinnern und die eigene Schuld vor ihm zu bedenken. Dann ist es Zeit, Vergebung zuzusprechen – nicht mit freundlichen Worten der Zeitgenossen, sondern mit dem Wort dessen, der den Tod übergreift. Literatur zur Vertiefung
L. Ohly: Was Jesus mit uns verbindet, 113–117, 139–142. – Das Phänomen der Schuld gegenüber Verstorbenen wird beschrieben und an der Passi‐ onsgeschichte Jesu rekonstruiert.
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Sektion 18. 1. Sektion 23. 1.
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IV. Jesus Christus
19 Jesus, Gott und Mensch (Zweinaturenlehre, Mt. 4, 1-11) Zweinaturenlehre
Diese traditionelle Lehre behandelt das Problem, wie Gott in Jesus Christus ein Mensch werden konnte, ohne seine Göttlichkeit aufzu‐ geben und ohne dass Jesus ein Übermensch wurde. Im Konzil von Chalcedon im Jahr 451 einigte man sich auf die Formel, dass Christus in göttlicher und menschlicher Natur „unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert erkannt“ worden sei. Beide Naturen seien „in einer Person“ verbunden. Mit dieser Formel sollen die Modelle abge‐ wehrt werden, dass Jesus nur scheinbar Gott, nur scheinbar Mensch oder eine Art Halbgott gewesen ist. Chalcedon hat aber nur eine Heu‐ ristik vorgegeben, wie eine Lösung auf das Problem gesucht werden soll, dass Christus Gott und Mensch sein kann. Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5.Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht ge‐ schrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5.Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit
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19 Jesus, Gott und Mensch (Zweinaturenlehre, Mt. 4, 1-11)
und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5.Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.
Wer 40 Tage gefastet hat, hat irgendwann auch Visionen. Das erzählen im‐ mer wieder Menschen, die bereits nur eine Woche lang gefastet haben. Auf einmal sehen sie etwas, was sie so noch nie gesehen haben. So wird es Jesus wohl gegangen sein. Dazu muss man nicht annehmen, dass es so ein merk‐ würdiges Wesen wie den Teufel gibt. Es kommt in dieser Geschichte nicht darauf an, ob es ein solches teuflisches Wesen gibt. Entscheidend ist an der Geschichte, wie Jesus sich selbst erlebt hat. Schalten wir einen Moment zurück auf die Geschichte, die sich vorher ereignet hat: Jesus ist am Jordan von Johannes dem Täufer getauft worden. Unmittelbar danach hört Jesus eine Stimme aus dem Himmel: „Das ist mein geliebter Sohn.“ – vielleicht war diese Botschaft Jesus überraschend und neu. Zumindest stellt sich für ihn nun eine existenzielle Frage, die ihn in die Wüste bringt, ist, nämlich was das für ihn bedeutet, der Sohn Gottes zu sein. Wie lebt es sich also angemessen als Sohn Gottes? Die Antwort, die sich für Jesus nach 40 Tagen Fasten ergibt, lautet: Als Sohn Gottes lebt man, wenn man erst recht als Mensch lebt. Der Sohn Gottes hat nichts anderes zu sein als ein Mensch. Alles, was Jesus in dieser Geschichte tut, besteht darin, sich Gott unter‐ zuordnen. Das wird darin konkret, dass er sich den Menschen unterordnet. Der Sohn Gottes ist vor allem ein Mitmensch, den Menschen gleich, und achtet ihre Würde. Schon deshalb fastet Jesus 40 Tage in der Wüste. Es ist ganz klar, worauf diese Zeitspanne anspielt: 40 Jahre hat nämlich das Volk Israel in der Wüste verbracht, bevor es ins gelobte Land einzog. Jesus folgt den Spuren Israels, wenn er jetzt 40 Tage in der Wüste ist und ordnet sich in die Geschichte Israels ein. Der Sohn Gottes ist nicht nur ein Mensch, er ist vor allem auch ein Jude und ein Mitmensch der Juden. Das bleibt auch in der ganzen Geschichte so. Jesus entwickelt keine Al‐ lüren, zu denen die teuflische Stimme lockt. Zwar hat ihn das Erlebnis der himmlischen Stimme nach seiner Taufe so sehr verwirrt, dass er jetzt in der Wüste diese Vision vom Teufel hat, die darauf anspielt. Wenn er wirklich der Sohn Gottes ist – was könnte das nicht alles für wunderbare Möglich‐ keiten eröffnen? „Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot wer‐
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den. Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab!“ Denn die Engel werden dich tragen. Diese verwirrenden Stimmen hat Jesus also wohl im Kopf – geschwächt nach 40 Tagen des Fastens. Aber er antwortet auf diese Stimmen stets damit, dass er ein Mensch ist: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Die teuflische Stimme sagt es ihm zweimal: Du bist doch Gottes Sohn. Und Jesus antwortet: Ich bin ein Mensch. Die teuflische Stimme kennt sich sogar in der Bibel aus. Und sie führt Jesus vor, dass die Engel ja wohl Jesus zu dienen haben, wenn er Gottes Sohn ist. Aber auch da bleibt Jesus der Mensch. Er nennt eine andere Bibelstelle: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Ein solches Gebot ist an Menschen gerichtet. Jesus wendet dieses Gebot auf sich, einen Menschen, an. Ich finde diese Passage aus der Geschichte besonders interessant, weil sie eine Diskussion erzählt, welche Bibelworte eigentlich gelten. Gilt das Wort, das der Teufel zitiert? Immerhin findet es sich ja auch in der Bibel, dass die Engel dich behüten werden. – Oder gilt das Wort, das Jesus zitiert: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.«? Offenbar können nicht beide Bibelworte zusammen gelten. Und damit wird auch gesagt, dass die Bibel nicht immer Recht hat. Und wir haben nicht immer Recht, wie wir die Bibel zitieren. Aber warum hat Jesus Recht und nicht die teuflische Stimme? Of‐ fenbar deshalb, weil die Bibel uns helfen soll, als Menschen zu leben; menschlich zu leben. Die Bibel darf man nicht einsetzen, um aus sich selbst mehr zu machen als einen Menschen. Deshalb liest Jesus die Bibel richtig. Vor Gott leben wir richtig, wenn wir nichts anderes sein wollen als Men‐ schen. Wollte im Garten Eden der Mensch sein wie Gott, kehrt sich nun alles um: Es kommt der Sohn Gottes und will nichts anderes sein als ein Mensch. Sogar die Königreiche der Welt nimmt Jesus nicht vom Teufel an. Das ist interessant, denn eigentlich ist es doch das Ziel des Evangeliums, dass Jesus am Ende die Welt besitzt. Genau so endet das Matthäusevangelium: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“ (Mt. 28,18). Aber so wie hier will er die Königreiche der Welt nicht annehmen. Denn dann hätte er sie sich nicht als Mensch genommen, sondern er hätte sich zum Übermenschen gemacht. Jesus musste vielmehr zuerst sterben. Sein Menschsein musste sich sogar bis zur Vollendung seiner Sterblichkeit erfüllen. Jesus hat die Versuchung bestanden. Die teuflische Stimme ist schließlich von ihm gewichen. Und jetzt kommen sogar Engel, die er vorher nicht an‐
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gefordert hatte, weil er einfach nur ein Mensch war. Nur wer menschlich lebt, kann manchmal einem Engel begegnen. Und was ist er denn nun? Gott oder ein Mensch? Oder ist er beides? Aber wie kann er beides sein, wo doch Mensch und Gott verschiedene Wesen sind? Das sind ganz alte Fragen, die wir bis heute nicht losgeworden sind. Wenn Jesus Gottes Sohn ist, dann hatte doch der Teufel Recht. Spielt Jesus uns dann etwa nur vor, ein Mensch zu sein? Die Frage ist alt, aber die Probleme immer noch aktuell. Manche Men‐ schen stellen sich Jesus so rein vor, weil er ja Gott ist, dass an ihm nichts irgendwie anstößig sein darf. Der Sohn Gottes werde doch bestimmt keine sexuellen Neigungen gehabt haben, und wenn doch, dann doch bestimmt nicht homosexuelle. Manche Christen können sich das nicht vorstellen, weil sie denken, Gottes Sohn wäre dann nicht rein gewesen. Ich weiß nicht, welche Neigungen Jesus gehabt hat. Aber anscheinend quälen Menschen gelegentlich auch verwirrende Stimmen, wenn sie sich einbilden, Gottes Sohn könnte nicht so menschlich sein wie es Menschen sind. Doch solche Stimmen hat Jesus in die Wüste geschickt. Wir sollten es auch tun und Jesus einen Menschen sein lassen, der er war: ein Jude, ein Mann, warum nicht auch mit seinen besonderen menschlichen Neigungen, wie sie andere Menschen auch haben? Wie der Sohn Gottes ein Mensch sein kann, das kann man kaum in eine Theorie pressen. Davon muss man vielmehr eine Geschichte erzählen. Diese Geschichte von Jesus in der Wüste ist dafür beispielhaft. Er ist der Sohn Gottes, gerade weil er ein Mensch ist. Was wir nicht begreifen können, das können wir uns erzählen und das lässt sich so dann auch verstehen. Und so lässt sich auch leben. Wir sollten Jesus darin nachahmen: nicht danach streben, mehr zu sein als Menschen, sondern ganz und gar mensch‐ lich leben: mit unseren Schwächen, mit unseren individuellen Neigungen, sogar mit unseren Sünden, die wir noch vertiefen, wenn wir so tun, als wären wir mehr als Menschen.10 Und wir sollten auch mitmenschlich leben und uns verzeihen, dass wir nur Menschen sind.11 Literatur zur Vertiefung
K. Barth: Kirchliche Dogmatik I/2, 170–173. – Jesus ist gerade dadurch Got‐ tes Sohn, dass er sein Menschsein annimmt. 10 11
Sektion 18. 1. Sektion 18. 2.
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I. U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte, 38–48. – Während der Sünder sein will wie Gott, verkündet das Wort vom Kreuz die Selbstlosigkeit Gottes. Das Wort, die Verkündigung, ist das Verbindungsstück zwischen Gott und Mensch. Die Einheit von Gott und Mensch in Jesus ist also vermittelt durch das Wort vom Kreuz.
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20 Gott wird geboren (Inkarnation, Joh. 1, 1-18) Inkarnation
„Fleischwerdung“, darunter versteht man den christlichen Inhalt, dass Gott in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist. Genauer geht es bei der Inkarnation darum, dass Gott, der kein Gegenstand der Welt ist, dennoch angemessen in weltlichen Gegenständen repräsentiert wird. Denn könnte ihn nichts repräsentieren, könnte man auch nicht von ihm sachgemäß reden. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dieses (Wort) gemacht, und ohne dasselbe ist nichts ge‐ macht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herr‐ lichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Johannes gibt Zeugnis von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.
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Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.
Dieser berühmte Anfang des Johannesevangeliums ist sehr lang. Das ist auffällig. Es bedeutet nämlich, dass es ihm schwer fällt, auf den Punkt zu bringen, was er eigentlich erklären will. Wer ist Jesus Christus? Wer ist die‐ ser Mensch? Und inwiefern kann man sagen, dass dieser Mensch Gott ist? Das ist es, was hier erklärt werden soll. Dafür braucht der Evangelist viele Worte. Ein Mensch, im Stall von Bethlehem geboren, ist Gott. Alles ist also durch ihn gemacht. Er ist der Schöpfer der ganzen Welt. Aber wie ist es nun mög‐ lich, dass der Schöpfer der ganzen Welt aus der Welt abgedrängt wird an den Rand der Lebensmöglichkeiten – in einen unmenschlichen Stall, ans Kreuz? „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Wie geht das überhaupt, wenn Gott doch unsere Lebensbedingungen zugrunde legt. Wie kann man ihn dann an den Rand schieben, als wäre er nicht da? Offenbar muss man hier etwas zusammendenken, was sich eigentlich nicht zusammendenken lässt: Denn irgendwie ist es doch nicht denkbar, dass Gott ein Mensch wird. Von diesem Menschen wird nämlich gesagt, dass er zwar gekommen ist, aber nie ganz da ist. „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Er kam also, aber er kam doch nie richtig an. Er war zwar vor aller Zeit schon da, hat ja die Welt erschaffen, ist aber doch später geboren als viele andere. Dazwischen ist er also nicht da gewesen. Genau das drückt Johannes der Täufer aus mit seinem merkwürdigen Wort: „Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist.“ Und dieses Wort wird noch merkwürdiger dadurch, dass Johannes nicht sagt: „Dieser ist es“. Dann wäre Jesus Christus jetzt da. Aber offenbar ist er nicht mehr da. Jesus Christus ist ein Mensch, der kommt; der auch gekom‐ men ist, aber nie ganz da ist. Als er geboren wurde, hatte er „keinen Raum in der Herberge“ (Lk. 2,7). Um geboren zu werden, mussten nach der Weih‐ nachtsgeschichte Maria und Josef eine beschwerliche Reise auf sich nehmen. Christus ist unterwegs. Er kommt. Aber es ist kein Platz für ihn. Sogar die Christen werden ihn erst so richtig verstanden haben, nachdem er schon vorübergegangen ist – nachdem er gestorben ist. Christus zeigt uns zwar,
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wer Gott ist, weil er selbst Gott ist. Und doch gesteht das Johannesevange‐ lium im gleichen Atemzug ein: „Niemand hat Gott je gesehen“. Das ist die Zumutung des christlichen Glaubens, aber auch eine Chance. Wir können nämlich Gottes Nähe gerade da erwarten, wo wir nicht mit ihm rechnen. Christus sind wir gerade da nahe, wo wir dem Vorübergegangenen nahe sind. Wo wir ihm nachschauen oder wo wir ihn erwarten, gerade dann sind wir ihm besonders nahe. Die Krippe von Bethlehem ist die Spur von dem, den niemand je gesehen hat und der trotzdem gekommen ist. Aber wir sollten diese Spur nicht verwechseln mit Jesus Christus selbst. Spuren sind gegenwärtig. Jesus Christus dagegen ist unsere Vergangenheit und Zukunft – und damit die Rettung für unser ganzes Leben. Uneingeschränkte Rettung vermittelt er, weil er selber Züge der Einschränkung trägt. Der Uneinge‐ schränkte zeigt sich, aber er zeigt sich nur eingeschränkt. Seine Einschränkungen sind kein Grund, ihn in Frage zu stellen. Denn Menschen müssen in Einschränkungen leben. Christus kann sie für uns durchbrechen, weil er in dieser eingeschränkten Welt nicht aufgeht. Er kommt. Und wir schauen ihm nach. Er ist Vergangenheit und Zukunft. Und gerade so führt er uns aus unseren gegenwärtigen Einschränkungen heraus. Literatur zur Vertiefung
E. Levinas: Die Spur des Anderen, 229–233. – Die Begegnung mit einem Anderen ist nie gleichzeitig: Was ich vom Anderen wahrnehme, wenn er mir begegnet, ist immer nur eine Spur von ihm. Sie ist die Spur der Ewig‐ keit. Der Andere begegnet mir in der Dimension des Raums und lässt sich daher nicht in der Dimension der Zeit festhalten. L. Ohly: Was Jesus mit uns verbindet, 55–64. – Hier erläutere ich die Philo‐ sophie von Levinas und spitze sie auf Jesus und sein Geborensein zu.
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21 Die Wunder Jesu 21.1 Was ist ein Wunder? (Mt. 14, 13-21) Als das Jesus hörte, fuhr er von dort weg in einem Boot in eine einsame Gegend allein. Und als das Volk das hörte, folgte es ihm zu Fuß aus den Städten. Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn und er heilte ihre Kraftlosen. Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Die Gegend ist öde und die Nacht bricht herein; lass das Volk gehen, damit sie in die Dörfer gehen und sich zu essen kaufen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht nötig, dass sie fortgehen; gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen zu ihm: Wir haben hier nichts als fünf Brote und zwei Fische. Und er sprach: Bringt sie mir her! Und er ließ das Volk sich auf das Gras lagern und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel, dankte und brach's und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und sammelten auf, was an Brocken übrig blieb, zwölf Körbe voll. Die aber gegessen hatten, waren etwa fünftausend Mann, ohne Frauen und Kinder.
Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer vor der Aufgabe stehen, über eine Wunder‐ geschichte zu predigen, dann stehen sie vor der Versuchung, das Wunder erklären zu wollen. Aber ein Wunder lässt sich nicht erklären. Denn sonst wäre es ja kein Wunder. Eine andere Versuchung der Prediger lockt damit, so zu tun, als wäre das beschriebene Ereignis kein Wunder gewesen. Solche Predigten, die ein bi‐ blisches Wunder klein reden, hören sich dann in etwa so an: Das eigentliche Wunder sei nicht, dass Jesus das Brot vermehrt hat. Das eigentliche Wunder sei, dass Jesus sich den Menschen zuwendet. – Sich anderen Menschen zu‐ wenden, ist zwar wunderbar, aber kein Wunder. Auf diese Weise wird das Wunder in den Predigten beseitigt. Aber hier steht es drin. Diese Geschichte von der Brotvermehrung erzählt ein Wunder. Aber ein Wunder kann man nicht erklären. Und was man nicht erklären kann, dar‐
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über sollte man dann auch schweigen. Und dann hätten Pfarrer nichts zu predigen. Das wäre dann die dritte Versuchung. Ein vierter Weg liegt darin zu klären, was eigentlich ein Wunder zum Wunder macht und was das mit Gott zu tun haben könnte. Wunder sind nicht erklärbar. Müssen wir dann nicht auch aus völlig unerklärbaren Grün‐ den an Gott glauben? Dann wäre unser Glaube selbst nicht vernünftig er‐ klärbar, weil er sich an etwas hält, was sich nicht erklären lässt. Nun kann man jedoch vermutlich die Frage beantworten, was ein Wunder zum Wun‐ der macht. Man weiß dann zwar immer noch nicht, wie es zum Wunder kommt, aber man versteht wenigstens, warum man es nicht weiß. Und allein dadurch müsste es nicht mehr unbegründet sein, dass man Gotteserfahrun‐ gen macht, wenn man Wunder erlebt. Was macht ein Wunder zum Wunder? Die erste Antwort, die man dazu aus dieser Geschichte erhält, heißt, dass ein Wunder etwas völlig Übertrie‐ benes ist. Jesus hätte das alles nicht tun müssen, nicht einmal um die arme Menschenmenge vor Erschöpfung zu retten. Die Jünger haben rechtzeitig auf die Uhr gesehen. Es hätte noch gereicht, die riesige Menschenmenge nach Hause zu schicken, damit sie sich versorgen. Aber Jesus will offenbar gerne übertreiben. Und es ist interessant, wie er das Essen organisiert, nämlich offenbar als Abendmahlsfeier: „Er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel, dankte und brach's und gab die Brote weiter.“ Diese Worte haben viel Ähnlichkeit zu den Einsetzungsworten beim christlichen Abendmahl (z. B. Mk. 14,22), bis auf die Fische, die beim Abendmahl nicht gegessen wer‐ den. Aber interessanterweise werden auch in dieser Geschichte die zwei Fische nicht gegessen. Jesus gab nur die Brote weiter. Noch etwas Überflüs‐ siges also! Obwohl ohnehin schon viel zu wenig für alle da war, lässt Jesus die Fische liegen und verteilt nur das Brot. Eingesammelt werden am Ende die Brocken – und das waren wohl nur Brotstückchen. Das Brot hat sich so stark vermehrt, dass 12 Körbe übrig bleiben. Erneut übertrieben, dass Jesus viel zu viel Brot vermehrt hat. Was soll man jetzt mit den Resten machen?! Ein Wunder ist etwas völlig Übertriebenes; völlig überflüssig. Es gab keine Notsituation, in der Menschen ja am ehesten noch ein Wunder erflehen. Vielmehr hat Jesus einfach so ein Wunder getan. Damit zeigt er, wie er Wunder tut. Ein Wunder Gottes wird also nicht durch eine Notsituation aufgezwungen. Überhaupt lässt sich Gott nicht zwingen, Wunder zu tun. Das Wunder besteht gerade darin, dass es sich frei ereignet. Der Überfluss ent‐
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steht durch den Stifter und nicht durch eine Zwangssituation. Wenn jemand aus einer Not gerettet wird, dann zwingt die Not auf, was jetzt nur noch helfen kann. Aber Gott lässt sich nicht zwingen. Gottes Wunder ereignen sich frei. Sogar als das Volk Israel in der Wüste in einer echten Notsituation stand und dann das Manna vom Himmel regnete, hat sich Gott nicht zwingen lassen (2. Mose 16). Er hat so viel Überflüssiges regnen lassen, dass es nie‐ mand aufessen konnte. Ein Wunder wird also deshalb zum Wunder, weil etwas passiert, was nie‐ mand ahnen konnte. Der wunderbare Stifter hat etwas getan, woran nie‐ mand gedacht hat. Ein Wunder ist nicht einmal unwahrscheinlich. Es ist vielmehr völlig unvorstellbar, weil es völlig übertrieben ist. Wir rechnen deshalb mit Vielem nicht, weil wir es für unwahrscheinlich halten. Wenn Menschen eine schwere Krankheit haben, kann es sein, dass wir nicht mehr damit rechnen, dass sie gesund werden. Manchmal tritt das Unwahrscheinliche dann doch ein, und sie werden doch gesund. Das wäre aber dann kein Wunder. Denn ein Wunder fügt sich keinen Sachzwängen. Das Wunder ereignet sich frei. Gottes Wunder bedienen nicht unseren Wunsch danach, dass das Unwahrscheinliche eintritt. Sondern sie überra‐ schen uns mit etwas, was wir nicht einmal geahnt haben. Ich habe schon viele Menschen kennen gelernt, die schwer erkrankt waren und nicht wieder gesund wurden, aber auf einmal fröhlich waren oder weise Gesprächspart‐ ner wurden. Und sie haben begonnen, ihr Leben zu genießen, jeden Tag. Krank, aber glücklich zu sein – das ist weitaus überflüssiger und übertrie‐ bener als wieder gesund zu werden. Begrenzt zu sein und doch voll über‐ schießender Seligkeit, darin ereignen sich Gottes freie Wunder. Ich glaube nicht an übernatürliche Kräfte, die unsere Naturgesetze durch‐ brechen. Aber ich glaube an Wunder. Übernatürliche Kräfte sollen sich an Sachzwänge anpassen oder an unsere Lieblingsvorstellungen. Wir wün‐ schen uns dann das eine rettende Medikament herbei, das es aber nicht gibt. Oder wir sehnen uns nach einem Arztbesuch, bei dem uns gesagt wird, dass auf einmal alle Symptome verschwunden sind. Übernatürliche Kräfte wür‐ den unsere Wünsche befriedigen und sich gut an die Sachzwänge anpassen, auch wenn sie dazu Naturgesetze durchbrechen. Ganz anders ist es mit Wundern. Wunder passen sich nicht an. Wunder passen überhaupt nicht in diese Welt. Sie sind völlig übertrieben und völlig überflüssig. Aber sie ereignen sich in der Welt. Denn das erleben Menschen
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immer wieder, wie ihnen etwas Übertriebenes begegnet, was sie nicht ein‐ sortieren können. Unser Leben verläuft nicht so, dass wir im Voraus wissen, was als nächstes passiert. Wir können nicht vorausahnen, welcher Mensch auf einmal in un‐ ser Leben tritt oder welche Neuigkeiten unser Leben erschüttern. Zwar tut uns nicht jede Erschütterung gut. Aber den Weg Gottes zu uns kann auch keine Erschütterung verbauen. Gott dient uns auf überflüssige Weise. Wie er das macht, das können wir uns nicht vorstellen. Wir müssen uns auch nicht seine Arbeit machen. Aber Christen leben mit dieser Erwartung, dass das Überflüssige eintritt. Weil es überflüssig ist, kann sich niemand vorstellen, wie es eintritt. Indem Christen dennoch mit der Erwartung leben, dass etwas Überflüssiges ein‐ tritt, hoffen sie nicht auf das Übernatürliche, sondern auf Gottes ganz na‐ türliche und freie Liebe. Literatur zur Vertiefung
H. Schulz: Nur das Unglaubliche ist gewiss. – Wunder sind Ereignisse, für die charakteristisch ist, dass sie ihre Bedingungen erst rückwirkend er‐ schaffen. Ereignisse wiederum sind entweder möglich oder Wunder. Wenn man ein Wunder erklärt, hört es auf, ein Wunder zu sein. Also kann es nicht erklärt werden. Gott am Werk zu sehen, bedeutet, Wunder zu sehen. F. Schleiermacher: Der christliche Glaube Bd. 1, 99–105. – Der christliche Glaube ist nicht auf Wunder angewiesen. Es ist natürlich, von Gott etwas Unerwartetes zu erwarten. Deshalb kann ein Wunder nicht Gottes Wir‐ ken beweisen, weil man bereits vorher an Gott glaubt, wenn man erwar‐ tet, dass er Wunder tut.
21.2 Die Heilungen Jesu (Mk. 7, 31-37) Und als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und mühsam redete, und sie er‐ mahnten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte und fasste dabei seine Zunge und
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sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Werde geöffnet! Und sogleich öffneten sich seine Ohren, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und maßlos gerieten sie außer sich und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.
Konnte Jesus wirklich einen Taubstummen heilen? Oder ist diese Geschichte etwa nur eine nachträglich erfundene Legende über Jesus? Wenn wir so eine Frage stellen, geraten wir sofort wieder in die Zwickmühle vom Eingang des Kapitels, für ein Wunder eine Erklärung finden zu wollen. Entweder wir verlangen eine Erklärung, wie das möglich ist: Wie kann ein hörbehinderter und sprachbehinderter Mensch durch eine kurze Berührung Jesu geheilt werden? Dann verlangen wir eine naturwissenschaftliche Erklärung. Aber dann geht verloren, wie einzigartig dieses Wunder gewesen ist. Oder aber wir betonen, wie einzigartig dieses Wunder gewesen ist. Aber genau das macht es ja so schwer, die Geschichte zu glauben. Etwas Einzigartiges ist schwer zu glauben. Das ist eine Zwickmühle, weil man so oder so etwas verliert. Man verliert entweder aus den Augen, wie einzigartig diese Begeg‐ nung mit Jesus gewesen ist. Oder man verliert die Glaubwürdigkeit in eine solche Geschichte. Eine solche Geschichte wird erzählt, weil sie etwas mit ihren Rezipienten bewirken soll. Aber was? Soll sie zum Glauben an Jesus führen? Wie soll aber jemand dann an Jesus glauben, wenn dieses Geschehen so einzigartig ist, nicht übertragbar und damit unglaubwürdig? Oder will die Geschichte behaupten, dass sich Menschen so heilen lassen – dass also nicht nur Jesus so heilen konnte, sondern dass auch andere Men‐ schen das könnten. Vermutlich werden schon manche Christen versucht haben, Taubstumme so zu behandeln, dass sie ihnen die Finger in die Ohren gesteckt und ihre Zunge mit Spucke berührt haben. Aber ebenso wird das vermutlich nicht viel geholfen haben. Und damit scheint diese wundervolle und zugleich schwierige Geschichte ihre Rezipienten ratlos zurück zu lassen. Ich halte diese Geschichte für einzigartig und für übertragbar. Die kon‐ kreten ärztlichen Handgriffe, die Jesus hier ausgeführt hat, haben geholfen. Aber sie werden nicht unbedingt noch einmal helfen. Was wir jedoch von Jesus auf uns übertragen können, ist die Art, wie Jesus auf den Menschen
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mit seiner Behinderung eingeht. Jesus geht nämlich eine sehr enge Bezie‐ hung mit ihm ein. Es ist eine sehr gewagte intime Nähe. Und es ist eine Beziehung, die sich für die Zukunft öffnet. Diese Art kommt vielleicht in unseren gegenwärtigen Heilkünsten zu kurz. Selbst wenn Ärzte eine Beziehung zu einem kranken oder behinderten Menschen eingehen wollen, rechnen Krankenkassen länger dauernde Be‐ handlungsgespräche nicht an. Im Vordergrund unseres Gesundheitssystems steht die Krankheit, eine Diagnose, aber nicht der Mensch. Die Die evidenz‐ basierte Medizin fragt: „Was hat der Mensch?“, aber nicht: „Was ist der Mensch?“ und schon gar nicht „Was ist er für mich?“ – für die Ärztin oder den Arzt. Solche Fragen wiederum stellen Heilpraktiker – etwa Menschen in hei‐ lenden Berufen, die sich eher auf Naturheilkräfte spezialisiert haben. Aber auch bei ihrer Anamnese überwiegt die Frage, welche Lebensgeschichte zur Krankheit geführt hat und wie das Leben bisher verlaufen ist. Heilpraktiker orientieren sich also an der Vergangenheit und nicht ebenso an der Zukunft. Das ist in dieser Heilungsgeschichte bei Jesus anders. Jesus stellt keine langen Fragen: „Wann ist das Problem zum ersten Mal aufgetreten?“ Sein Thema ist die gegenwärtige Beziehung zu diesem Menschen und seine zu‐ künftigen Möglichkeiten. Dass Jesus eine gewagt enge Beziehung zu dem taubstummen Patienten eingeht, zeigt sich in dem Akt, dass Jesus mit seiner Spucke die Zunge des Taubstummen berührt. Eigentlich ein ekelerregender Gedanke, aber indem sich Jesu Spucke mit der Spucke des Hörbehinderten vermischt, sind beide Münder miteinander verbunden. Dichter kann eine Beziehung kaum wer‐ den. Jesus geht hier überhaupt gewagt enge Beziehungen ein. „Jesus sah auf zum Himmel und sprach zu ihm: Werde geöffnet! Und sogleich öffneten sich seine Ohren.“ Auch hier identifiziert Jesus zwei unterschiedliche Wirklich‐ keiten: nämlich den Himmel und die tauben Ohren seines Patienten. Jesus sagt nämlich nicht zu seinem Patienten oder zu dessen Ohren: „Werde ge‐ öffnet!“ Sondern Jesus spricht dabei zum Himmel. Und dabei öffnen sich die tauben Ohren des Patienten. Jesus knüpft also merkwürdige Beziehungen, bei denen wir nicht wissen, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Aber weil Jesus die Beziehung zwischen dem Himmel und den Ohren eines Men‐ schen setzt, kann er den Himmel um Öffnung bitten und dabei das Gehör eines Menschen öffnen. Das gelingt, weil beide durch Jesus in Verbindung
21.2 Die Heilungen Jesu (Mk. 7, 31-37)
gebracht werden. In dieser Beziehung kann der Mensch aus der Kraft des Himmels Kraft schöpfen. Die Heilmethode Jesu besteht darin, Beziehungen zu knüpfen, die vorher nicht bestanden. Durch Jesus verschmilzt sogar das, was eigentlich getrennt ist. Eigentlich ist Jesus von seinem Patienten unterschieden. Aber mit seiner Spucke verbinden sich beide zu einer schicksalhaften Einheit. Eigentlich ist der Himmel unendlich von uns getrennt. Aber Jesus verbindet den Himmel mit dem behinderten Menschen zu einer schicksalhaften Einheit. Der Mensch schöpft auf einmal aus einer Kraft, die ihm gehört, obwohl sie einem anderen gehört. Beides ist hier verschmolzen. Für die evidenzbasierte Medizin ist diese Methode als allgemeine Hei‐ lungstechnik ungeeignet, weil man nicht klar benennen kann, was die Hei‐ lung verursacht. Wo die heutige Medizin deutlich unterscheiden will und klar Diagnosen setzt, macht Jesus genau das Gegenteil: Bei Jesus verschwim‐ men Grenzen zwischen ihm und seinem Patienten, zwischen Himmel und dem Menschen, zwischen Ursache und Wirkung. Das ist naturwissenschaft‐ lich höchst unbefriedigend, unkontrolliert und unseriös. Aber das liegt daran, dass Jesus eben den Blick auf etwas anderes wirft, nämlich auf die Zukunft. Wer nach Ursachen fragt – nach den Ursachen einer Krankheit oder auch einer Heilung – lenkt den Blick zurück in die Vergangenheit: Was muss vorher gewesen sein, damit man gesund werden kann? Demgegenüber legt Jesus den Blick auf den Sinn, geheilt zu sein: Welchen Sinn hat es, gesund und geheilt zu sein? Diese Frage stellen wir uns wiederum in der Regel nicht, weil sie uns sinnlos erscheint. Aber dieser Blickwechsel erlaubt uns, von den fesselnden Ursachen los‐ zukommen. Wer diese Frage beantwortet, welchen Sinn es hat, geheilt zu sein, gönnt sich eine freie Entscheidung für seine Zukunft. Und eine freie Entscheidung treffen heißt, Zusammenhänge zwischen Himmel und Mensch herzustellen, die es vorher nicht gab. Wenn ich kranke Menschen besuche, stelle ich manchmal diese Frage: „Was würden Sie tun, wenn Sie gesund wären? Wozu würden Sie Ihre Ge‐ sundheit verwenden?“ Und ich merke: Viele Leute können das nicht sofort beantworten. Heißt das nicht, dass sie nicht genau wissen, was ihnen fehlt? Manche antworten aber auch: „Ich würde dann wieder öfter Ausflüge ma‐ chen!“ Und dann können wir im Gespräch darüber nachdenken, wie sie es auch mit ihrer Krankheit organisieren können, öfter einen Ausflug zu ma‐ chen.
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Oft ist also gar nicht die Krankheit das Problem. Sondern das Problem ist, nicht zu wissen, welchen Sinn es hat, gesund zu sein. Man ist oft so vertieft in seinem Lebensschicksal, dass man sich nicht vorstellen kann, wie es wäre, wenn es anders wäre. Man setzt keinen Glauben in die Zukunft. Genau die‐ sen Glauben in die Zukunft holt Jesus in dieser Geschichte zurück. Jesus befreit seinen Patienten zu völlig neuen Möglichkeiten, an die er vorher noch nicht gedacht hat. Dazu muss alles Mögliche miteinander verschmelzen können, der Arzt mit seinem Patienten und sogar der Himmel mit dem Menschen. Wer für sich eine Antwort gefunden hat, warum es Sinn macht, gesund zu sein, hat Verbindungen geschaffen, die es eigentlich gar nicht gäbe. Der Glaube in die Zukunft befreit zu neuen Möglichkeiten, die es sonst nicht gäbe. Was soll die Geschichte bei den Rezipienten bewirken? Sie soll aus den Zwängen der sogenannten Fakten herausführen, indem Zusammenhänge entdeckt und gebildet werden, die sonst nicht vorhanden wären. Wie dann das Leben heil wird, das ist immer einzigartig. Aber im Glauben in die Zu‐ kunft können wir Jesus nacheifern. Literatur zur Vertiefung
U. Bach: Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein, Kap. 4. – Der behinderte Mensch ist der typische Mensch, weil er die menschliche An‐ gewiesenheit repräsentiert. Aber er repräsentiert auch die Fähigkeit zu kooperieren.
22 Die Verkündigung Jesu 22.1 Auf das Reich Gottes zeigen (Mt. 4, 12-17) Als nun Jesus hörte, dass Johannes gefangengesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück. Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am See liegt im Gebiet von Sebulon und Naftali, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht: »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.« Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!
Nachdem, was historische Bibelforschung nahe legt, war Jesus vermutlich am Anfang seiner Wirksamkeit Johannes dem Täufer nachgefolgt. Und als Johannes der Täufer gefangen genommen wurde, hat sich Jesus – so scheint es hier – versteckt aus Angst, er könnte auch gefangen genom‐ men werden. Deshalb scheint er sich nach Galiläa zurückgezogen zu ha‐ ben. Denn auf Galiläa hatte König Herodes, der Johannes gefangen setzte, keinen Einfluss. Jesus zieht sich also zurück, verkündigt aber dann eine offene Heilsbot‐ schaft: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“. Das passt nicht so gut zusammen. Denn wenn das Himmelreich nahe ist, dann muss sich Jesus vor niemandem mehr verstecken, auch nicht vor König Herodes. Er versteckt sich aber. Wie passt das zu seiner Botschaft? Offenbar kann das Himmelreich nur kommen, wenn sich Jesus jetzt noch davor schützt, gefangen genommen zu werden. Das heißt aber, dass es of‐ fenbar auf Jesus ankommt, damit das Himmelreich kommen kann. Deshalb muss er sich zurückziehen und sich schützen. Genau so schützt er das Kom‐ men des Himmelreichs. Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, weil Jesus den Menschen nahe ist. Wäre Jesus weg oder gefangen genommen worden, dann wäre auch
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das Himmelreich weit weg. Offenbar ist die Nähe Jesu entscheidend für die Nähe des Himmelreichs. Was ist aber an der Nähe Jesu so besonders? Man könnte antworten, dass Jesus viele Wunder getan hatte. Aber dann wäre das Himmelreich nur bei den Menschen damals nahe gewesen, aber heute nicht mehr. Oder es wäre früher wichtig gewesen, dass Jesus den Menschen nahe sein konnte, damit das Himmelreich auch heute nahe sein kann, obwohl Jesus nicht mehr da ist. Der Theologe Dietrich Korsch hat dazu eine großartige Erklärung12 ge‐ funden, wie die Nähe Jesu die Nähe des Himmelreiches provoziert hat: Da‐ durch dass Jesus das nahe Himmelreich verkündigt, kann sich niemand mit Gründen für seine Botschaft entscheiden. Es kann sich aber auch niemand gegen seine Botschaft entscheiden. Denn wenn das Himmelreich wirklich nahe ist, dann können wir nicht mit Gründen rechtfertigen, warum wir der Botschaft Jesu glauben. Vielmehr müssen wir uns einfach dieser Tatsache stellen und uns sofort daran anpassen, weil jetzt das Himmelreich ja nahe ist. Wenn wir aber der Botschaft Jesu nicht trauen, dann können wir auch nicht in einen nüchternen Dialog eintreten und Gründe anführen, warum sie nicht stimmen kann. Denn es könnte ja doch stimmen! Und das schafft eine Spannung, die den nüchternen Dialog unterbindet. Diese Erklärung von Dietrich Korsch kann man am Verhalten von Men‐ schen bestätigen. Versetzen wir uns in eine Situation, in der jemand mit Ihnen über Gott reden wollte, vielleicht in einer Kneipe mit Vereinsmitglie‐ dern, am Arbeitsplatz oder auf dem Schulhof. Nehmen wir an, Ihr Ge‐ sprächspartner spricht Sie in dieser Situation mit den Worten an: „Jesus liebt dich.“ Was würde passieren? Es würde sicher keine Diskussion darüber geben. Vermutlich ergreifen Sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie freuen sich darüber. Oder es ist irgendwie peinlich. Diese Botschaft passt nicht so recht in die Situation. Es mag Ihnen jetzt näher liegen, einen Witz darüber zu machen oder so zu tun, als hätten Sie nichts gehört. Aber vermutlich werden Sie einer Diskussion ausweichen, in der Sie begründen würden, ob Sie dieser Äußerung zustimmen oder nicht. Das Besondere an der Nähe Jesu ist, dass wir uns nicht mit Gründen für oder gegen ihn entscheiden können. Seine Nähe lässt uns nur die Wahl, 12
D. Korsch: Dogmatik im Grundriß, 167.
22.1 Auf das Reich Gottes zeigen (Mt. 4, 12-17)
entweder peinlich berührt zu sein oder uns spontan zu freuen und mit dem Himmelreich zu rechnen. So oder so haben wir aber dann keine Wahl. Wir müssen uns vielmehr dazu verhalten, dass das Himmelreich nahe ist. Auch wer nicht an Jesus glaubt, wird nicht begründen, warum er oder sie nicht an Jesus glaubt. Dazu lässt die Nähe Jesu keinen Spielraum. Natürlich kann man es versuchen und Gründe anführen. Aber wenn erwidert wird: „Und trotzdem ist dir Jesus nahe. Und er mag dich“, gehen die Argumente aus. Dann kann der Ungläu‐ bige höchstens noch den Kopf schütteln und das Weite suchen. Das ist deshalb der Fall, weil im Gespräch mit uns Jesus eben nahe ist. Man muss sich dazu verhalten, wenn man die Botschaft hört: „Jesus ist nahe. Das Himmelreich ist nahe“. Man entkommt der Situation dieser Nähe nicht und kann daher das eigene Verhalten nicht nach eigenen Gründen ausrich‐ ten. Eher ist es umgekehrt. Sogar wenn Atheisten diese Aussage für falsch halten, müssen sie dazu eine Position entwickeln, weil sich diese Aussage ihnen aufdrängt. Auch wer peinlich berührt ist, wenn er hört: „Jesus ist nahe“, muss sich dazu verhalten, weil eben Jesus nahe ist, weil seine Nähe angekündigt ist. Auch darin, dass es peinlich ist, ist diese Nähe zweifellos gegeben. Denn wenn Gott nicht in der Nähe wäre – warum sollte es dann einem peinlich sein, wenn jemand davon redet? Peinlich kann uns immer nur etwas sein, was uns vor den Blicken eines anderen passiert, der uns nahe ist. Jesus redet also Gott herbei, so dass keiner mehr an ihm mit Gründen vorbeikommt. Man kann dann nur noch grundlos mit ihm rechnen oder sich grundlos ihm entziehen wollen. Nun könnte man fragen: Wenn man das Reich Gottes herbeireden kann – was steht dann eigentlich noch aus? Worauf warten Menschen eigentlich dann noch, wenn sie beten: „Vater unser im Himmel, dein Reich komme“? Ist dann nicht schon das ganze Reich Gottes da, sobald wir von ihm reden? Auch wenn das Himmelreich schon so nahe ist, dass wir nicht an ihm mit Gründen vorbeikommen, warten wir auf eine Zeit, in der es niemandem mehr peinlich ist, wenn ihm das gesagt wird. Dann wird das Reich Gottes ans Ziel gekommen sein. Was muss dazu geschehen? Dazu sollten wir das Gefühl von Peinlichkeit verstehen. Wie kommt es dazu, dass uns das Reden von Gott manchmal peinlich ist? Dieses Gefühl der Scham drückt eigentlich etwas Gutes aus, nämlich, dass ich ich bin und nicht das, was man von mir verlangt und was man mir sagt. Ich will mich vielmehr zur Wehr setzen gegen das, was man mir weismachen will. Deshalb will ich mich am liebsten den Blicken der anderen entziehen.
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Dafür steht dieses Gefühl der Scham, mich am liebsten der Nähe anderer zu entziehen, weil ich mich nicht von ihnen bestimmen lassen will, sondern ich bleiben will. Wem es nun peinlich ist, dass Gott ihm nahe ist, der setzt sich gegen Gottes Nähe zur Wehr. Und zwar deshalb, weil er sich schützen will vor Gottes bedrängender Nähe. Das Ziel im Reich Gottes wird sein, dass wir wir selbst bleiben können, ohne dass uns Gottes Nähe peinlich ist. Gott nimmt uns an, so wie wir sind. Das soll auch so bleiben. Es wird eine Zeit geben, da werden wir Gottes Nähe ausgesetzt sein, ohne dass es irgendjemandem peinlich ist. Und da wird Gott unter den Menschen wohnen, ihnen nahe sein, ohne sie zu bedrängen. Literatur zur Vertiefung
D. Korsch: Dogmatik im Grundriß, 164–167. – Hier entfaltet Korsch seinen Gedanken der Zustimmungsaporie, wonach man sich weder zustimmend noch ablehnend zu Jesu Verkündigung stellen kann.
22.2 Die Gleichnisse Jesu (Mt. 22, 1-14) Und Jesus fing an und redete abermals in Gleichnissen zu ihnen und sprach: Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu laden; doch sie wollten nicht kommen. Abermals sandte er andere Knechte aus und sprach: Sagt den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet, und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit! Aber sie verachteten das und gingen weg, einer auf seinen Acker, der andere an sein Geschäft. Einige aber ergriffen seine Knechte, verhöhnten und töteten sie. Da wurde der König zornig und schickte seine Heere aus und brachte diese Mör‐ der um und zündete ihre Stadt an. Dann sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren's nicht wert. Darum geht hinaus auf die Straßen und ruft zur Hochzeit, wen ihr findet. Und die Knechte gingen auf die Straßen hinaus und brachten zusammen, wen sie fanden, Böse und Gute; und die Tische wurden alle voll.
22.2 Die Gleichnisse Jesu (Mt. 22, 1-14)
Da ging der König hinein, sich die Gäste anzusehen, und sah da einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Gewand an, und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen und hast doch kein hochzeitliches Gewand an? Er aber wurde zum Schweigen gebracht. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm die Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus! Da wird Heulen und Zähneklappern sein. Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.
Auf den ersten Blick wird niemand diese Geschichte witzig finden. Dafür handelt dieser König viel zu willkürlich. Es wird noch ärgerlicher, weil die erzählten Geschehnisse ja angeblich dem Himmelreich ähnlich sein soll. Je‐ denfalls hat das Matthäusevangelium diesen Vergleich Jesus in den Mund gelegt. Aber kann das wirklich Jesus gemeint haben? Etwa dass Gott völlig will‐ kürlich handelt wie dieser König? Völlig unverhältnismäßig? Vielleicht wollte Jesus gerade übertreiben und eine völlig unrealistische Geschichte erzählen. Wenn uns diese Geschichte außerhalb religiöser Kontexte erzählt worden wäre, hätten wir sie vielleicht schon für witzig gehalten. Sie ist so übertrieben, dass sie eigentlich witzig ist. Vielleicht sollte man den Schluss‐ vers heute anders übersetzen. Statt: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“ meint Jesus vielleicht eher: „Viele bekommen diese Geschichte erzählt, aber nur wenige verstehen den Witz“. Ob wenigstens wir ihn ver‐ stehen? Nun ist es noch ärgerlicher, einen Witz zu erklären. Die meisten würden dann lieber darauf verzichten, darüber zu lachen. Vielleicht besteht ja genau darin der Witz, dass wir erst einmal gar nicht darauf kommen, darüber zu lachen, obwohl die Geschichte witzig ist. Die witzigsten Leute sind ja die, die überhaupt nicht lachen können, wenn etwas lustig ist. Also schauen wir uns mit vollem Ernst die Geschichte an! Bei manchen Hochzeitseinladungen wünschen wir uns ja tatsächlich, wir hätten sie nie‐ mals bekommen. Bei Hochzeiten am Königshof ist das allerdings schon an‐ ders. Wenn ein britisches Prinzenpaar heiratet, sind die meisten von uns nicht eingeladen, aber sehr viele von uns kommen trotzdem und sehen uns die Hochzeit vor dem Fernseher an. Ziemlich ärgerlich, wenn man da auf seinen Acker muss. Die wenigsten kämen auf die Idee, jemanden umzu‐ bringen, damit sie auch ohne Fernsehgebühren dabei sein können. Umge‐ kehrt kann man daher gut verstehen, dass der König verärgert ist, dass seine Knechte deshalb umgebracht werden, nur weil sie zur Hochzeit einladen. Ist
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schon ärgerlich! Einen guten Knecht bekommt man auch heutzutage ange‐ sichts des Fachkräftemangels nur schwer. Kein Wunder, dass man da Krieg führt. Herr Assad aus Syrien hätte es nicht anders gemacht. Er zündet schon Städte an, wenn er zu demokratischen Verhandlungen eingeladen wird. Der Krieg aus der Geschichte ist relativ schnell vorbei – er kann nur we‐ nige Minuten gedauert haben, denn das arme Hochzeitspaar kann man nicht so lange warten lassen, und das Hochzeitsessen ist, wie wir erfahren, schon auf dem Herd. Rein aus zeitökonomischen Gründen ist es da günstig, mög‐ lichst alle Heere zu mobilisieren, damit die Hochzeit noch pünktlich anfan‐ gen kann. Um nun keine weitere Zeit zu verlieren, lädt der König einfach irgend‐ welche Leute ein. Auch das ist nichts Besonderes: An gute und schlechte Leute kann ich mich bei meiner Hochzeit auch noch erinnern. Übrigens auch an Leute, die nicht so gut angezogen waren! Später haben einige Gäste ver‐ mutet, dass es sich dabei bestimmt um meinen Doktorvater gehandelt haben müsse. Er war es zwar nicht. Es hat ihn trotzdem niemand rausgeworfen. Vielleicht hat sich der Gast, der in der Geschichte rausgeworfen wird, sogar darüber gefreut, dass er endlich gehen kann. Denn die Gäste sind ja nicht eingeladen worden. Sie sind vielmehr regelrecht reingetrieben wor‐ den. Warum sollten diese Fremden unbedingt zur Hochzeit wollen, wo doch schon die besten Freunde nicht kommen wollten? Vielleicht hat also gerade dieser eine Mensch das Glückslos gezogen, der rausgeworfen wird. Der Kö‐ nig könnte das natürlich wissen. Vielleicht lässt er gerade deshalb den Gast vorher knebeln, damit er ihm nicht sagen kann, wie er sich freut, rausge‐ worfen zu werden. Wirklich eine ernste Geschichte? Kein Wunder, dass wir da alle so be‐ troffen sind? Viele bekommen die Geschichte erzählt, aber nur wenige ver‐ stehen den Witz. Vielleicht liegt das ja daran, dass wir in einer Welt leben, die selbst so übertrieben ist. Und es wäre wirklich ziemlich ärgerlich, wenn sich Gott auch an diese übertriebene Welt anpassen würde. In einer über‐ triebenen Welt wäre es doch schön, wenn wenigstens auf den lieben Gott Verlass wäre. Vielleicht können deshalb nicht sehr viele Menschen über diese Geschichte lachen. Ich frage mich, ob Jesus vielleicht gelacht hat – später, als alle weg waren. Vielleicht gab es auch dann doch einige eingeweihte Personen, die dann mit ihm gelacht haben. Denn eigentlich kann man doch glücklich darüber sein, dass in einer übertriebenen Welt auch Gott übertrieben handelt, um seinen Heilsplan umzusetzen. Gott lässt sich seine Verlässlichkeit nicht dadurch
22.2 Die Gleichnisse Jesu (Mt. 22, 1-14)
nehmen, dass wir völlig unzuverlässig handeln und leben. Aber um seinen Heilsplan verlässlich umzusetzen, improvisiert er auch. Auf unzuverlässige Menschen muss man übertrieben reagieren, damit man sein Ziel erreichen kann. Jedenfalls gibt es einen Ort in der Welt, wo alles genau umgekehrt ist als in dieser Geschichte. Und auch das ist auch schon ziemlich übertrieben. Aber Gott übertreibt eben für sein Ziel. Das Hochzeitsessen ist schon auf dem Herd. Die Feier muss gerettet werden – auch wenn die Welt so unzuverlässig ist. Gerade deshalb muss Gott selber übertreiben. Dieser Ort, an dem alles umgekehrt ist als in dieser Geschichte, ist die Kirche. Die Kirche ist ein ziemlich ernster Ort. Hochzeiten werden zwar auch hier gefeiert. Aber wer in der Kirche Verantwortung trägt, macht meistens dabei ein ziemlich ernstes Gesicht. Dietrich Bonhoeffer hat einmal von der Kirche gesagt: Sie ist ein Ort des Streits.13 Es ist zwar ziemlich übertrieben, sich im Namen Gottes zu streiten. Christen führen aber einen solchen Streit, und offenbar geht es nicht anders. In der Kirche steht nicht das Mastvieh schon fertig auf dem Herd. Hier wäre es meistens unangemessen, ein Hochzeitsgewand zu tragen, weil es manchmal ganz schön staubig zugeht. Aber es wäre auch völlig falsch, die Leute zu knebeln. In der Kirche herrscht Auseinandersetzung, Konflikt, auch Streit und manchmal sogar Missgunst. Aber gerade kein Krieg! Hier werden keine Städte angezündet, hier wird Glauben aufgebaut. In der Gemeinde herrscht vielmehr Frieden, weil wir uns streiten. In der Gemeinde herrscht Segen, weil Menschen Ja zu ihr sagen, obwohl es Nerven kostet und manch‐ mal noch mehr. Viele Menschen bekommen auch von diesem Umgang in der Kirche er‐ zählt. Und auch hier verstehen nur wenige den Witz. In einer Welt des über‐ triebenen Ärgers hätten die meisten doch gerne den harmlosen lieben Gott. Aber offenbar übertreibt Gott auch hier wieder: Er segnet die Kirche, diesen anstrengenden Ort der Auseinandersetzung zwischen Gott und Welt. Diesen Ort, wo Gottes Streit zwischen Sünde und Gnade ausgetragen wird, lässt Gott nicht fallen. Das Ziel der Kirche ist es, bei den Mühseligen und Bela‐ denen zu sein. Und dazu wirken Menschen mit, die selbst mühselig und beladen sind. Wieder einmal übertrieben! Warum Jesus Gleichnisse erzählt hat, leuchtet von hier aus ein. Denn sie mobilisieren die Rezipienten. Sie verorten sich unmittelbar in der Kirche 13
D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 129.
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oder rebellieren unmittelbar gegen diese Zumutung, gemeint zu sein. Jesu Gleichnisse erzählen nicht von fernen Ländern und auch nicht von einem fernen Himmelreich. Vielmehr verorten sie uns selbst in Situationen, in de‐ nen völlig Übertriebenes passiert. Sie konfrontieren uns mit übertriebenen Verhaltensweisen, damit wir noch die Orientierung behalten. Und am besten behalten wir sie, wenn wir uns in der Gemeinschaft verorten, die Gott mit seinen Übertreibungen auf Kurs hält. Deshalb sind Jesu Gleichnisse nicht einfach fiktive Geschichten, sondern konstituieren eine reale Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen. Literatur zur Vertiefung
E. Jüngel: Metaphorische Wahrheit, 153–157. – Metaphern lassen die Wirk‐ lichkeit spielerisch hervortreten und verwickeln die Angesprochenen in den Prozess der Erweiterung der Welt. W. Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu, 109, 134–141. – Jesu Gleich‐ nisse werden als Metaphern interpretiert, die den Zweck haben, die Hörer in die Geschichte zu integrieren und eine Lösung auf die erzählten Span‐ nungen zu finden, die nicht auf der wörtlichen Ebene liegen.
23 Gott der Gekreuzigte 23.1 Der Gekreuzigte als der Ferne (Mk. 14,50. 54.66-72) Da verließen ihn alle und flohen. Petrus aber folgte ihm nach von ferne, bis hinein in den Palast des Hohenpriesters, und saß da bei den Knechten und wärmte sich am Feuer. Und Petrus war unten im Hof. Da kam eine von den Mägden des Hohenpriesters; und als sie Petrus sah, wie er sich wärmte, schaute sie ihn an und sprach: Und du warst auch mit dem Jesus von Nazareth. Er leugnete aber und sprach: Ich weiß nicht und verstehe nicht, was du sagst. Und er ging hinaus in den Vorhof, und der Hahn krähte. Und die Magd sah ihn und fing abermals an, denen zu sagen, die dabeistanden: Das ist einer von denen. Und er leugnete abermals. Und nach einer kleinen Weile sprachen die, die dabeistanden, abermals zu Petrus: Wahrhaftig, du bist einer von denen; denn du bist auch ein Galiläer. Er aber fing an, sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht, von dem ihr redet. Und alsbald krähte der Hahn zum zweiten Mal. Da gedachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er fing an zu weinen.
Dafür, dass Jesu Tod die Sünde der Welt trägt, musste er nicht auf die ab‐ scheuliche Weise am Kreuz sterben. Nicht weil Jesus den schlimmsten Tod gestorben ist, trägt er die Sünde der Welt – Tausende sind einst gekreuzigt worden, und vermutlich sind noch andere Menschen auf entsetzlichere Weise gestorben. Ein zynischer Wettkampf um den schlimmsten Tod rettet keine Sünder. Schon jeder natürliche Tod macht auf die Schuld der Menschen aufmerk‐ sam.14 Und Hinterbliebene sind oft sehr belastet, weil sie sich an seinem Tod schuldig fühlen. Das ist der Ansatzpunkt zu verstehen, wie Jesus die Sünde der Welt tragen kann.
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Die Passionserzählungen des Neuen Testaments beschreiben diese Schuldkonflikte naher Angehöriger ganz genau. Sie beschreiben die Flucht der Jünger bei seiner Gefangennahme – so wie die Freunde oder Verwandten einer schwer erkrankten Person immer seltener zu Besuch kommen, weil sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Zwischen ver‐ zweifelter Rebellion (ein Jünger schlägt mit dem Schwert gegen einen Sol‐ daten, Mk. 14,47), Verleugnung der Situation (Petrus), Flucht (die übrigen Jünger) oder sogar Selbstmord, um der Situation zu entkommen (Judas, Mt. 27,5), bis zur Anteilnahme aus zu weiter Entfernung (Frauen am Kreuz, Mk. 15,40) werden alle möglichen Unzulänglichkeiten Angehöriger erzählt, die auch ein natürliches Sterben begleiten. Dabei haben sie sich alle auf moralischer Ebene nur wenig vorzuwerfen. Dass die Frauen als einzige seiner Anhänger den sterbenden Jesus begleiten, unterstreicht ihre Fürsorge und Solidarität. Man wird ihnen auch nicht mo‐ ralisch vorwerfen können, Jesus nur „von ferne“ zu begleiten. Wer eine ster‐ bende Person begleitet, kann nie nahe genug bei ihr sein. Denn die Schicksale zwischen ihr und denen, die zurückbleiben, könnten nicht weiter vonein‐ ander entfernt sein. Auch wenn die Frauen direkt unter dem Kreuz Jesu gestanden hätten, hätten sie doch nur „von ferne“ zugesehen – einfach weil sie den Sterbeprozess nicht aufhalten konnten. So geht es vielen, die am Sterbebett eine kalte Hand halten und dabei schon viel zu fern sind. Auch besteht die Schuld der Jünger nicht darin, dass sie Jesus etwas an‐ getan oder ihm nicht geholfen hätten: Immerhin versucht ja ein Jünger, Jesus mit dem Schwert zu verteidigen wie die Chirurgin einen Krebspatienten. Selbst dass sie fliehen, kann man ihnen nicht vorwerfen. Wie hätten sie bei Jesus bleiben können, ohne dass ihnen selbst der Prozess gemacht worden wäre? Sogar wenn sie mit ihm gestorben wären, hätten sie sich doch spä‐ testens beim Sterben allein lassen müssen. Jeder stirbt für sich und ist in diesem Moment allen anderen fern. Die Sünde, die Jesus mit seinem Tod für die Welt trägt, ist keine moralische Schuld. Sie besteht vielmehr in dem Unvermögen, dem Anderen zu entspre‐ chen. Es mag sein, dass man einen Sterbenden noch etwas Gutes tun kann, was sein Leid oder seine Angst lindert. Dennoch kann man damit nicht sein Sterben aufhalten. In dieser Situation ist die menschliche Liebe schwächer als der Tod. Dass Menschen in diesem Sinne nichts für einen Sterbenden tun können, was ihre Liebe stark genug erscheinen lässt, prägt genau die ver‐ zweifelte Situation: Wer alles für eine sterbende Person tun würde, kann dabei nichts mehr für sie tun. Die Passionserzählungen unterstreichen das
23.1 Der Gekreuzigte als der Ferne (Mk. 14,50. 54.66-72)
gerade dadurch, dass Jesu Angehörige geradezu alles tun (vom Kampf bis zur Flucht und Selbstverleugnung) – und dass alles vergeblich ist. Sünde ist mit moralischen Kategorien nicht hinreichend beschrieben. Im Angesicht eines Sterbenden kann man schuldig sein, auch wenn man in moralischer Hinsicht alles richtig gemacht hat. Auch Petrus hat auf moralischer Ebene alles „richtig“ gemacht: Er hat Jesus verleugnet, so wie es Jesus vorhergesehen hat (Mk. 14,30). Es war nicht in Jesu Sinne, dass Petrus mit ihm stirbt – wie hätte Petrus sonst eine Kirche gründen können? Damit er dieses Ziel erreichen kann, muss er lügen. Zwar hat er das Versprechen gebrochen, mit Jesus in den Tod zu gehen (Mk. 14,31). Aber wie hätte er es halten können, ohne dabei sich selbst aufs Spiel zu setzen und damit letztlich die Pläne Jesu zu durchkreuzen? Man könnte Petrus al‐ lenfalls vorwerfen, dass er Jesus dieses Versprechen gemacht hat. Dieses Versprechen liegt genau auf der Ebene von Angehörigen, die bei den Ster‐ benden sitzen und ihnen Mut machen, sie würden noch die Abiturfeier des Enkelkindes erleben. Spätestens nach dem Tod fühlt es sich hilflos an, solche gut gemeinten Versprechen gegeben zu haben. Waren sie deshalb moralisch falsch? Oder ist nicht vielmehr etwas falsch an der Situation, bei der man alles richtig macht und trotzdem den sterbenden Menschen verfehlt, den man liebt? Die eigentliche Schuld des Petrus liegt darin, Jesus nur von ferne folgen zu können, ohne ihn wirklich zu begleiten. Das ist der Grund der Verzweif‐ lung. Petrus weint, weil er im Leben Jesus nicht entsprechen kann. Und im Tod kann man niemandem entsprechen. Also kann er Jesus gar nicht ent‐ sprechen. Diese Schuld kann nicht vermieden, sondern nur vergeben werden. Und sie wird vergeben, indem derjenige, für den die Jünger alles tun wollen, alles für sie tut. Das ist der Verstorbene, der aus dem Tod kommt. Denn damit zeigt er, dass nicht sie die Beziehung tragen, die sie mit ihren verzweifelten Manövern unbedingt erhalten wollen. Indem er aus dem Tod kommt, trägt vielmehr der Verstorbene die Beziehung zu ihnen. Der Effekt dieser Begeg‐ nung mit dem, der aus dem Tod kommt, ist Vergebung. Ich habe schon von Erfahrungen geschrieben, in denen Menschen solche Begegnungen mit einem Verstorbenen hatten – überraschende Begegnun‐ gen, die sich aber dennoch an verlässlichen Orten einstellen können.15 Wei‐ tere Beispiele für solche Erfahrungen werden in diesem Buch folgen.16 Solche 15
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Erfahrungen stellen die Verantwortlichkeiten auf den Kopf. Tatsächlich sind es ja die vergebenden Personen, die eine Beziehung wieder entlasten, wenn sie durch Schuld belastet worden ist. Wenn diese Schuld gegenüber Ver‐ storbenen besteht, dann hält zwar immerhin die Schuld diese Beziehung fest, weil man sich gerade dadurch verbunden fühlt, dass man sich schuldig fühlt. Aber die Schuld kann die Beziehung nicht dauerhaft tragen. Denn sie besteht ja gerade darin, dass die schuldige Person dem Verstorbenen nicht gewach‐ sen ist. Entlastet und damit dauerhaft tragbar wird die Beziehung vielmehr durch Vergebung. Sie kann nur aus der Sphäre dessen kommen, der ver‐ storben ist. Diese Sphäre zeigt sich damit als stabiler und lebenskräftiger als die Sphäre der Menschen. Auf diese Sphäre beziehen sich Christen, wenn sie im Namen Gottes Ver‐ gebung aussprechen. Und erfahrbar wird diese Sphäre, wenn Verstorbene ihren Hinterbliebenen begegnen. Deshalb entspricht Jesus Petrus, der ihm nicht entsprechen kann. Und deshalb kann Jesus emotionslos und ohne Vor‐ würfe am Vorabend seines Todes voraussagen, dass Petrus ihn verleugnen wird. Literatur zur Vertiefung
G. Marcel: Homo Viator, 204–215. – Einen Menschen lieben heißt zu pro‐ phezeien, dass er nicht stirbt. Ansonsten würde man sich an seinem We‐ sen verschulden, das darin besteht, zukünftig zu sein. E. Jüngel: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 7–10. – Jüngel interpre‐ tiert die biblische Erzählung von Kains Brudermord so, dass ein Weiter‐ leben keinen Sinn macht, wenn sich der gewaltsame Tod eines Mitmen‐ schen nicht rückgängig machen lässt. Nur aus einer dem Leben gegenüber jenseitigen Instanz kann ihm eine Zukunft gegeben werden. Chr. Gestrich: Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt, 373–375. – Schuld wird nicht leichter dadurch, dass die geschädigte Person gestorben ist. Die göttliche Gnade besteht darin, dass dem Fluch der Schuld eine Grenze gesetzt ist.
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Kap. 24.
23.2 Der Gekreuzigte als der Erhabene (Lk. 23, 23-49)
23.2 Der Gekreuzigte als der Erhabene (Lk. 23, 23-49) Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hinge‐ richtet würden. Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selber und uns! Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Pa‐ radies sein. Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten ent‐ zwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.
Immerhin: Seine Gegner klagen ihn nicht an. Jesus muss nicht noch einmal die falschen Vorwürfe anhören, die gegen ihn gerichtet wurden. Jetzt ist er
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ja ans Kreuz genagelt. Jetzt haben seine Feinde erreicht, was sie wollten. Jetzt können sie auch offen die wahren Gründe nennen, warum sie ihn ans Kreuz bringen wollten. Niemand seiner Feinde bestreitet jetzt, dass Jesus ein guter Mensch war. Vorher haben sie gegen ihn ausgesagt, er sei ein Verführer, eine Gefahr für Recht und Ordnung. Jetzt dagegen sagen sie frei heraus: „Er hat andern ge‐ holfen.“ Seine Feinde verspotten ihn nicht etwa, weil sie ihn für böse gehalten haben. Sie verspotten ihn vielmehr dafür, dass er sich jetzt nicht selber hilft. Der Aufruf: „Hilf dir selber“ erscheint dreimal im Text. Fast bekommt man den Eindruck, sie wollten Jesus nur ans Kreuz bringen, um ihn zu locken, sich dann selber zu helfen. Es wirkt so, als wolle man Jesus nur auf die Probe stellen und als sei die Situation für ihn gerade nicht tod‐ ernst. Denn wenn er der Christus ist, dann kann er sich auch da noch helfen. Und hier scheint es so, als habe niemand Zweifel daran. Jesus hilft sich nicht. Er wehrt sich nicht einmal. Was hat er vorher immer gestritten für seine Sache! Und jetzt schweigt er einfach. Er hängt nackt und lässt zu, dass andere ihm die Blöße geben. Der Unschuldige erhält keinen Schutz durch Gott. Wie kann Gott solches Leid zulassen? Wenn es einen Gott gibt, dann darf er solches unverschuldete Leid doch nicht zulassen. Oder? Beide Sätze sind im Grunde gleich: 1. Wenn es einen Gott gibt, dann muss er helfen. 2. Wenn du der Christus bist, dann hilf dir selber. Sie sind gleich, denn sie stellen Gott eine Bedingung, als wüsste man oder könnte selbst entscheiden, wie sich Gott zu verhalten habe, um seine Aner‐ kennung als Gott zu verdienen. Genau darin zeigt sich der Spott gegen Jesus. Nun will man vermutlich nicht spotten, wenn man solche Sätze äußert, dass Gott kein ungerechtes Leid zulassen darf, oder fragt, wie Gott das zu‐ lassen kann. Aber könnte das für die „Spötter“ der Kreuzigungsszene nicht auch gelten? Würde die Szene anders aussehen, wenn die Leute vor dem Kreuz Jesus nicht verspotten wollten, sondern sich ebenso fragen, wie Gott das zulassen kann, nicht vom Kreuz herabzusteigen, wo er doch anderen geholfen hat. Der Aufruf „Hilf dir selber“ wäre ernst gemeint gewesen, quasi so, wie wenn man jemanden zu Höchstleistungen anfeuert. Mindestens bei
23.2 Der Gekreuzigte als der Erhabene (Lk. 23, 23-49)
dem Mitgekreuzigten klingt der Aufruf ernst gemeint: Hilf dir doch und uns! Denn Jesus wäre auch für ihn die letzte Chance gewesen. Vielleicht also haben sich die Leute am Kreuz gar nicht lustig über Jesus gemacht, sondern wirklich gefordert, dass er nicht zulassen darf, dass er stirbt. Dennoch kommentiert der Evangelist ihr Verhalten damit, dass sie „spotteten“. „Hilf dir selber“ ist ein Spott, aber nicht weil sich die Passanten über die Ohnmacht Jesu lustig gemacht haben, sondern weil sie Gott eine Bedingung stellen. Sie stellen Gott auf die Probe und geben dabei die Spiel‐ regeln an, wie Gott sich verhalten soll. Gott enttäuscht die an ihn gestellten Bedingungen. Und dennoch glauben Menschen an Gott und halten an ihm fest. Gottes Glaubwürdigkeit bleibt offenbar unabhängig von menschlichen Bedingungen. Gott enttäuscht menschliche Bedingungen, und trotzdem halten sich viele an ihn. Genauso übrigens wie die Leute am Kreuz damals: Direkt nach seinem Tod spricht der Hauptmann aus: „Dieser ist ein gerechter Mensch gewesen.“ Und auch von dem Volk heißt es, als Jesus starb: „Sie schlugen sich an die Brust.“ Ebenso im Lukasevangelium wird von einem Zöllner erzählt, dass er sich an die Brust schlägt und dabei sagt: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk. 18,13). Könnte der Zusammenhang hier auch bestehen, dass sich die Leute schuldig fühlen, wie ihre Bedingung vor ihren Augen zerbricht und Jesus stirbt? Dann hätte zwar Jesus alle Forderungen enttäuscht und trotzdem über‐ zeugt: Vom Hauptmann bis zu den Leuten damals bis zu den Christen heute. Er überzeugt gerade, indem er stirbt. Im Angesicht des armen toten Men‐ schen verstummt unser Spott. – Was es wohl ist? Ein schlechtes Gewissen? Oder weil man über einen Toten nicht schlecht spricht? Es ist ja auch ein Gräuel, über einen Toten zu spotten, dessen Sterben man mit angesehen hat. Hier setzen alle Hemmungen ein. Hier überkommt uns ein Schauer: Der tote Mensch ist über alles erhaben. Gott setzt sich lautlos durch. Er macht keine Worte. Er greift nicht ein. Er stirbt. Das ist schon alles. Gott hat überzeugt, dass er ein fremder Gott ist. Er geht nicht in unseren Wünschen und Erwartungen auf. Er hat überzeugt, dass wir mit Gott leben können, obwohl wir nicht verstehen, warum er so vieles zugelassen hat, worunter Menschen leiden. Manchmal hat es sogar den Eindruck, Gott treibe Menschen dahin, dass sie leiden müssen. Sein Sohn zumindest ist entschlos‐ sen auf den Tod zugegangen. Aber gerade weil er schweigt und im Schwei‐ gen stirbt, begräbt er auch unsere Bedingungen, die wir an ihn stellen. Wir
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nehmen es hin, dass wir so mit ihm leben müssen, wie er ist, nicht so, wie wir ihn gerne hätten. Dass Jesus wirklich Gottes Sohn ist, erkennen wir gerade daran, was Gott mit uns macht, nämlich dass er uns an sich bindet, obwohl wir zugleich starke Bedenken haben. Nicht die Eigenschaften, unsere Bedingungen und Vorstellungen entscheiden, wie Gott ist. Sondern was Gott mit uns macht, wie er uns auf eigenartige Weise dazu bringt, dass wir trotzdem an ihn glau‐ ben. Man stelle sich vor, in der Bibel würde Folgendes stehen: „Und auf einmal spannte Jesus seine Muskeln an, und die Nägel fielen auf den Boden. Und Jesus sprang vom Kreuz herab. Und alle staunten.“ Ein schöner Ausgang wäre das gewesen. Aber dann würden wir heute fragen, ob das wirklich so war, wie es möglich war und warum Gott nicht heute solche Wunder tut. Wenn die Geschichte wirklich so ausgegangen wäre, dann hätte Jesus die Leute damals überzeugt, aber uns noch lange nicht. Er hätte sich selber ge‐ holfen. Aber er hätte uns nicht geholfen, Gott zu verstehen. Jetzt würden wir nämlich fordern: Er hat es damals anderen bewiesen. Jetzt soll er es uns auch beweisen. Die Geschichte würde weitergehen, dass Menschen Gott auf die Probe stellen. Sie müsste endlos weitergehen. Jesus am Kreuz überzeugt lautlos, ein- für allemal. Er erregt menschliches Gewissen. Der tote Mensch ist erhaben, rührt an, macht betroffen. Er bricht unseren Widerstand, seine Macht anzuerkennen. Literatur zur Vertiefung
I. U. Dalferth: Leiden und Böses, 206–219. – Gott verdunkelt sich im Kreuz Jesu selbst. Das Leiden an Gott verschärft sich, indem Gott selbst an Gott leidet. Das Wort vom Kreuz gibt Gott Eindeutigkeit, die ihm im Kreuz verloren gegangen ist.
23.3 Der Gekreuzigte als der Mächtige (Mk. 15,37-39) Aber Jesus schrie laut und verschied. Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so ver‐ schied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn!
23.3 Der Gekreuzigte als der Mächtige (Mk. 15,37-39)
Drastischer geht es nicht: Der Mann, der hier ein christliches Glaubensbe‐ kenntnis abgegeben hat, hat einige Stunden vorher den Befehl gegeben, Jesus ans Kreuz zu schlagen. So steht dieser Hauptmann und Befehlshaber der Kreuzigung ihm auch jetzt noch gegenüber. Das griechische Wort, das hier verwendet wird für „gegenüber“, meint normalerweise ein feindliches Entgegenstehen. Und ausgerechnet dieser Hauptmann, der Jesus feindlich gegenübersteht, wird vom Tod Jesu so sehr überwältigt, dass er hier ein Glaubensbekenntnis ablegen muss. Offenbar kann der Tod eines Menschen sogar seine Feinde überwältigen, dass sie plötzlich in ihm Gott selbst erkennen. Anscheinend ist das typisch für Begegnungen, die Menschen mit Jesus gemacht haben. Sie waren von ihm überwältigt, gerade nicht weil er so großartig war und so viel konnte – sondern weil er sich zurückzog und undurchschaubar war. Solange er lebte, hatte er Feinde. Im Moment, in dem er stirbt, überwältigt er sie. Und auch wir glauben an Christus nicht, weil er besondere Eigenschaften hatte. Sondern wir glauben erst jetzt an ihn, wo er alle seine Eigenschaften aufgibt. Denn welche menschliche Eigenschaft könnte uns beweisen, dass Jesus Gottes Sohn ist? Dass er Menschen heilen konnte? Ist das die entscheidende Eigenschaft? Dann müssen wir aber auch an Ärzte glauben. Und vermutlich gibt es Ärzte auf dieser Welt, die noch mehr Menschen das Leben gerettet haben als Jesus. Oder beweist uns die Göttlichkeit Jesu, dass er Wunder tun konnte? Würden wir dann also sagen: Alle Menschen, die Wunder tun kön‐ nen, sind göttlich? Und eigentlich glauben wir nicht Jesus, sondern nur sei‐ nen Wundern? Die Menschen, die Jesus am Kreuz verspotten, haben das alles gewusst. Sie wussten, dass Jesus anderen geholfen hatte. Sie haben sich beim Vorbei‐ gehen am Kreuz daran erinnert, dass er den Tempel abreißen und in drei Tagen aufbauen könnte. Das hat sie aber nicht dazu gebracht, an Jesus zu glauben. Menschliche Eigenschaften machen es nicht, dass ein Mensch Gott ist. Noch die wundersamsten Eigenschaften lassen einen Menschen nicht zu Gott werden, zu etwas anderem, als er ist: eben ein Mensch. Wenn Sie zu Hause einen vollkommenen Hund hätten, einen perfekten Hund, dann wäre dieser Hund zwar vollkommen, aber er würde nicht deshalb ein Mensch werden. Auch ein vollkommener Hund bleibt ein Hund. Bei Menschen ist es nicht anders. Göttlich wird Jesus in dem Augenblick, wo er alle seine Eigenschaften verliert. Davon ist der Hauptmann überwältigt. Als er sah, dass Jesus „so
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verschied“, erkennt er in ihm Gottes Sohn. Was bedeutet dieses „so“? Wie genau muss jemand sterben, damit man sehen kann, dass er Gottes Sohn ist? Wenn wir den Hauptmann fragen könnten, was er gesehen hat, dann könnte er vermutlich nur stammeln. Jesus ist ja nicht gerade heldenhaft gestorben. Er hat gejammert, er hat vor Schmerz geschrien. Und er hat sich offenbar von Gott verlassen gefühlt (Mk. 15,34b). Er ist so gestorben wie so viele Menschen sterben, fast alle eigentlich. Und als der Hauptmann das sah, dass Jesus „so“ verschied wie die meisten anderen Menschen auch, da fing er an, an den Sohn Gottes zu glauben. Vielleicht würde er das sagen: „Ich habe gesehen, dass ich so überwältigt war. Was es war, kann ich nicht sagen. Jesus hat dazu nichts Besonderes gemacht. Gerade weil er so ohnmächtig starb, bin ich so überwältigt gewe‐ sen.“ Tatsächlich fangen Menschen an, von Gott zu reden, wenn sie von etwas überwältigt werden. Dabei ist es geradezu unwichtig, was genau passiert ist. Sie glauben vielmehr, weil sie überwältigt sind von irgendetwas, was passiert ist. Die weltlichen Tatsachen werden dabei unscheinbar und treten zurück. Ebenso ist es mit dem Sterben eines Menschen: Er tritt aus der Welt. Und gerade dass seine besonderen Eigenschaften jetzt weg sind, lässt Menschen auf entsetzliche Weise überwältigt sein. Das unterstreicht noch eine merkwürdige Äußerung des Hauptmanns: „Dieser Mensch war Gottes Sohn.“ Wenn Jesus Gottes Sohn war, dann war er es doch nicht nur, dann muss er es doch immer noch sein. Vor allem, weil doch der Hauptmann seine Gottesoffenbarung bei Jesus erst jetzt hat, wo Jesus „so verschied“. Gerade im Augenblick, wo Jesus nicht mehr ist, ist er für den Hauptmann zum Sohn Gottes geworden. Nicht was Jesus war mit seinen besonderen Eigenschaften und seiner Vollkommenheit, machte ihn zum Sohn Gottes. Sondern wie er den Hauptmann überwältigen konnte in dem Moment, in dem er nicht mehr war – das macht ihn zum Sohn Gottes. Wenn ich in Vorträgen so argumentiere, höre ich manchmal den Einwand, dass der Hauptmann nicht deshalb an Jesus glaube, weil er verschied. Viel‐ mehr verweise das „so“ darauf, dass zum Zeitpunkt seines Todes etwas Wundersames im Jerusalemer Tempel geschah, nämlich der Tempelvorhang zerriss. Aber warum kann das nicht sein? Allein schon weil der Hauptmann den zerrissenen Vorhang nicht sehen konnte. Zwischen dem Berg, an dem Jesus gestorben ist, und dem Tempel liegen mehrere Kilometer. Und der Vorhang befand sich ja im Tempelinneren und nicht draußen, wo man von weitem
23.3 Der Gekreuzigte als der Mächtige (Mk. 15,37-39)
vielleicht etwas hätte ahnen können. Der Einwand überzeugt aber auch aus einem anderen Grund nicht: Will er etwa sagen, dass ein Mensch immer dann Gottes Sohn ist, wenn irgendwo anders gleichzeitig ein Vorhang zer‐ reißt? Sind zerrissene Vorhänge ein Gottesbeweis? Zweifel scheinen ange‐ bracht. Mir scheint vielmehr, dass wir alle überwältigt werden können vom Au‐ genblick, an dem wir Zeugen davon werden, dass jemand stirbt. Und mir scheint, dass uns eben diese sterbenden Menschen überwältigen – nicht weil sie etwas dafür können, sondern gerade weil sie ohnmächtig sind und alle ihre menschlichen Eigenschaften verlieren. In solchen Situationen fangen wir an, von Gott zu reden, weil wir von diesem Schrecken überwältigt sind und unendlich getroffen. Dieses Ereignis besteht nicht aus seinen Eigen‐ schaften, sondern aus dem eigenschaftslosen Zucken, mit dem es in unsere Glieder fährt. Haben wir als Christen den Mut, das Sterben jedes Menschen als eine Gottesbegegnung zu verstehen? Haben wir den Mut, es so zu benennen, dass beim Sterben eines Menschen uns etwas widerfährt, was sich nicht greifen und nicht festhalten lässt? Und dass wir deshalb so bodenlos vor einer an‐ deren Dimension der Wirklichkeit schweben – die uns dazu bringt, von Gott zu reden? Ich jedenfalls bekomme das so mit, wenn ich Trauernde begleite und mit ihnen danach suche, was ihre Haltlosigkeit abbremsen könnte. Vielleicht finden Trauernde dann Worte wie diese: „Es ist so, als wäre er noch da, und gleichzeitig ist er nicht da.“ „Es ist alles unwirklich geworden.“ „Gott ist in unser Leben eingedrungen.“ Oder auch: „Seitdem sie tot ist, bin ich noch enger an sie gewachsen.“ Das ist alles nicht weit weg von dem Satz des überwältigten Hauptmanns: „Fürwahr, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ Das Wunder des Todes Jesu überträgt sich auf den Tod auch anderer Menschen. Sein Tod kann nichts Besonderes „sein“. Denn der Tod ist ja das Ende von allem, was „sein“ kann, das Ende aller Eigenschaften. Deshalb offenbart sich das Überwältigtsein Gottes nicht nur bei Jesus, sondern auch beim Tod der anderen Menschen. Wir sind nicht allein gelassen, wenn Menschen sterben. Wir werden viel‐ mehr angerührt von einer anderen Dimension der Wirklichkeit, die uns überwältigt, wenn sonst die Welt ihren Halt verliert. Das ist die frohe Bot‐ schaft von dem, der Gottes Sohn war: Gerade indem er war und jetzt nicht mehr ist, verwandelt sich die Schöpfung. Und alle, die sterben, sterben in seiner Wirklichkeit. Und alle, die trauern, werden von ihm begleitet.
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23 Gott der Gekreuzigte
Literatur zur Vertiefung
D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, 533–537. – „Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt.“ Gerade als der aus der Welt Abgedrängte behält er Raum.
24 Christus der Auferstandene und die menschlichen Zweifel
24.1 Der Zweifel an den Zeugen (1. Kor. 15, 1-11) Ich erinnere euch aber, liebe Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr's festhaltet in der Gestalt, in der ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr kopflos gläubig geworden wärt. Denn in den ersten Tagen habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln. Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist. Es sei nun ich oder jene: so predigen wir, und so habt ihr geglaubt.
Offensichtlich haben schon Christen im ersten Jahrhundert an der Aufer‐ stehung von den Toten gezweifelt. Die Frage, wie es sein kann, dass ein Toter zu neuem Leben aufersteht, ist also nicht erst ein intellektuelles Problem für den modernen Menschen. Es gibt zwar eine Menge philosophischer Beweise dafür, dass die Seele des Menschen unsterblich ist. Aber diese Beweise – wenn sie denn über‐ haupt wahr sind – rechnen alle nur damit, dass unsere Seele nach dem Tod in ein Jenseits kommt. Die Auferstehung Christi war dagegen eine Aufer‐ stehung auf Erden. Und die Möglichkeit eines solchen Ereignisses scheint sich nicht ebenso beweisen zu lassen. Das muss man vielmehr erleben.
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24 Christus der Auferstandene und die menschlichen Zweifel
Der Apostel Paulus argumentiert deswegen anders als über philosophi‐ sche Argumente. Er wendet das einzig Mögliche gegen die Korinther ein, die offenbar an der Auferstehung gezweifelt haben und nennt ihnen Zeu‐ gen. Dabei wird er persönlich und bringt seine Integrität ins Spiel. Aber selbst wenn sie ihm nicht glauben, sollen sie andere Zeugen befragen, die es gibt. Paulus argumentiert hier also nicht sachlich. Er versucht nicht zu erklä‐ ren, wie es möglich ist, dass ein Mensch von den Toten aufersteht. Vielmehr wird er persönlich und schimpft, ob die Korinther etwa kopflos gläubig ge‐ worden sind. Er beruft Autoritäten, die Jesus gesehen haben. Vielleicht will er sogar die Korinther einschüchtern, als ob sie die Autorität bedeutender Christen in Frage stellen wollten. Dabei scheint Paulus sogar persönlich ge‐ kränkt zu sein, wenn er doch mehr gearbeitet hat als alle anderen. Wer nach dieser Verteidigungsrede noch an der Auferstehung Jesu zweifelt, macht Paulus sein ganzes Lebenswerk streitig. Intellektuelle Zweifel kann er so allerdings nicht ausräumen. Einwände mögen Paulus kränken, weil er dann nicht für voll zurechnungsfähig ge‐ halten wird. Aber intellektuell bleiben die Einwände in Kraft. Immerhin geht Paulus auf diese intellektuellen Einwände nebenbei auch ein. Und wenn er persönlich wird, dann könnte das heißen, dass man über die Auferstehung von den Toten nur persönlich reden kann und man sie nur verstehen kann, wenn man in die Personen Vertrauen hat, die sie bezeugen. Paulus genießt offenbar in Korinth zu seiner Zeit ein ausreichend hohes Ansehen, so dass die Korinther auch Vertrauen haben sollten, wenn er so etwas Außergewöhnliches berichtet. Wenn sich Auferstehung nur erleben lässt, muss denjenigen Menschen zunächst Vertrauen entgegengebracht werden, die sie erlebt haben und davon reden. Es kommt öfter vor, dass mir Personen erzählen, dass ihnen immer wieder verstorbene Angehörige begegnen. Eine Frau erzählte mir sogar einmal ganz genau, wie es im Himmel ist. Das hat mich eher befremdet und verunsichert. Was sollte ich dazu sagen? Ich kann es jedenfalls nicht nachprüfen. Was die Frau schilderte, stimmte nicht in allem mit den biblischen Zeugnissen über‐ ein und auch nicht mit meinen Vorstellungen von ewigem Leben. Also bin ich distanziert geblieben. In einem anderen Gespräch schilderte mir jemand etwas Ähnliches. Diesen Menschen kannte ich aber schon besser. Und da konnte ich besser verstehen, was er berichtete, und hielt es für glaubwür‐ diger. Ich muss einer Person vertrauen können, bevor ich ihre außergewöhnli‐ chen Erfahrungen deuten kann. Sind sie seriös? Oder ist alles nur Phantasie?
24.1 Der Zweifel an den Zeugen (1. Kor. 15, 1-11)
Ist der Zeuge glaubhaft? Denn die Botschaft von der Auferstehung wird durch Zeugen vermittelt. Anders geht es nicht, weil man dieses Geschehen nicht beweisen kann. Es ist für unsere Vernunft nicht begreifbar. Aber – und ich glaube, das kann man verstehen – es gibt Menschen, bei denen die Wahrnehmung für außergewöhnliche Phänomene besser ausge‐ prägt ist. Manche Menschen sind sensibler für solche Erfahrungen. Es ist genauso wie bei anderen sinnlichen Wahrnehmungen: Manche Menschen verstehen mehr von Musik als andere. Sie können genauer hören und die Strukturen einer Komposition besser verstehen. Ebenso scheint es mit der Auferstehung zu sein, weil sie ein wahrnehmbares Phänomen ist. Von sol‐ chen Menschen können wir lernen, wenn wir in ihre Berichte vertrauen. Das heißt nicht, dass wir alles glauben müssen, was Zeugen sagen. Auch Zeugen können sich in manchen Dingen irren. Aber die Zeugen können uns dafür sensibilisieren, wie man wahrnehmen muss, damit man solche außerge‐ wöhnlichen Phänomene überhaupt erfasst. Sie bringen uns bei wahrzuneh‐ men. Und wenn wir es dann gelernt haben, dann brauchen wir ihr Zeugnis nicht mehr. Dann können wir das Musikstück selber verstehen mit unseren eigenen Ohren – und auch außergewöhnliche Phänomene begreifen. Vermutlich lerne ich in diesem Punkt auch noch und bin auf Zeugnisse anderer angewiesen. Aber immerhin dadurch kann ich bereits kurz skizzie‐ ren, wofür wir empfindlich sein müssen, wenn wir der Auferstehung von den Toten begegnen wollen. Die Auferstehung von den Toten ist eine Erfahrung, die wir natürlich nicht an uns selber machen. Auferstehung erleben wir nur, indem uns Ver‐ storbene begegnen oder wenn wir uns einem Verstorbenen zuwenden. Da‐ her sind es vor allem Trauernde, die einen Mitmenschen verloren haben, die uns etwas von der Auferstehung der Toten erzählen können. Trauernde sind mit einem Verstorbenen unermesslich konfrontiert. Und der Verstorbene prägt ihren ganzen Tagesablauf. Er begleitet alle Gedanken, die sie haben. Dabei fühlen sie sich bezwungen von einer Macht, die höher ist als alle Vernunft. Sie klagen in Richtung dieser unbändigen Macht. Wenn sie die Wohnung des Verstorbenen betreten, begleitet sie ein geheimnisvoller Schauer. Die Wohnung wird ein fremder Ort, vom Himmel durchzogen. Nicht dass dieser Ort schön wäre, dass er „himmlisch“ wäre. Sondern die Wohnung ist himmelweit fremd und verweist auf eine unendliche Fremd‐ heit, die das Irdische übersteigt. Wer immer sich auf diese unendliche Fremdheit einlässt, der begegnet den Verstorbenen. Als ob sie uns ansehen würden! Sie sind gerade nicht vom
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Erdboden verschwunden, sondern im Raum. Meistens schweigen sie – viel‐ deutig und missverständlich – aber gerade darin sind sie bei uns und rücken uns zu Leibe. Für die Trauernden hat sich die ganze Welt verwandelt. Alles wird un‐ endlich fremd, durchzogen von einer bedrängend fremden Macht, die in ih‐ rer Fremdheit Platz auf Erden nimmt. Aber gerade in dieser Fremdheit bringt sie den Verstorbenen zu uns zurück. Der Verstorbene rückt uns zu Leibe, indem er seine fremde Anwesenheit manifestiert. Vielleicht versteht man solche Erfahrungen erst, wenn man sie selber er‐ lebt hat. Aber wenn sie uns einmal berichtet worden sind, sind wir vorbe‐ reitet, wenn auch wir mit dem Tod eines Mitmenschen konfrontiert sind. Die biblischen Zeugnisse von der Auferstehung Christi sind ein Meilen‐ stein, um diese außergewöhnlichen Phänomene wahrnehmen zu lassen. Nach den biblischen Osterberichten erschrecken sich die Frauen am Grab über die fremde Begegnung mit dem Tod. Und zugleich freuen sie sich (Mt. 28,8). Genauso suchen Trauernde immer wieder die Orte auf, an denen sie sich den Verstorbenen besonders verbunden fühlen. Und irgendwo tut es ihnen auch gut, wenn sie diese Orte aufsuchen und dann trauern. Sie machen dabei nämlich die Erfahrung, dass sie in der fremden Begegnung mit den Verstorbenen verbunden sind. In der fremden Begegnung sind die Lebenden und die Verstorbenen vereint. Auferstehung heißt nicht, dass der Tote auf Erden zurückkommt, und an‐ sonsten bleibt alles beim Alten. Sondern Auferstehung heißt, dass die Erde sich verwandelt und von einer Fremdheit durchzogen wird. Und hier, in einer fremden Neuschöpfung Gottes, begegnen sich Lebende und Tote. Das ist der Grund, warum diese Begegnung mit Erschrecken und akuter Orien‐ tierungslosigkeit verknüpft ist. Sie ist aber auch der Grund, warum sich Trauernde Zeit lassen und der Trauerzeit Raum geben. Denn ebenso intensiv wie der Schreck ist die Begegnung mit den Verstorbenen. Literatur zur Vertiefung
R. Kachler: Meine Trauer wird dich finden, Kap. 3+5. – Dieses Buch bietet als Trauermodell an, die Beziehung zu den Verstorbenen fortzuführen. Trauernde entdecken dabei die „Präsenz der Verstorbenen“ an bestimm‐ ten Orten.
24.2 Ist die Auferstehung Jesu ein historisches Ereignis gewesen? (Mt. 28, 1-10)
24.2 Ist die Auferstehung Jesu ein historisches Ereignis gewesen? (Das leere Grab, Mt. 28, 1-10)
Leeres Grab
Historisch ist umstritten, ob das Grab Jesu am Ostermorgen leer ge‐ wesen ist. Manche Forscher vermuten sogar, dass Jesus gar nicht be‐ stattet wurde oder, falls doch, sein Leichnam in ein Massengrab un‐ tergebracht worden ist. Unbestritten ist aber, dass ein leeres Grab noch kein Beweis für die Auferstehung Jesu ist. Dann allerdings hätten sich die Evangelisten eine unnötige Begründungslast auferlegt, wenn sie ein leeres Grab hinzugedichtet hätten.
Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken aus Furcht vor ihm und wurden wie Tote. Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß nämlich, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: dort werden sie mich sehen.
Man merkt es gleich, wie das Matthäusevangelium alle Zweifel ausräumen will, dass Jesus vielleicht doch nicht von den Toten auferstanden ist. Ganz offenbar ist der Verfasser dieses Evangeliums in seiner Zeit mit solchen Zweifeln konfrontiert gewesen. Der Leichnam Jesu könnte ja auch gestohlen
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worden sein. Deshalb erzählt das Matthäusevangelium diese Geschichte von den Wächtern. Es erzählt die Geschichte so, dass sogar die ungläubigen Wächter Zeugen werden – zwar nicht direkt von der Auferstehung; den Auferstandenen sehen sie selber nicht, aber doch immerhin den Engel, der das Grab wegwälzt – da war Jesus bereits fort. Ich halte diese Erzählung von den Wächtern für eine Erfindung des Mat‐ thäusevangeliums. In keinem anderen Evangelium werden irgendwelche Wächter erwähnt. Das älteste Evangelium, das am dichtesten dran war, das Markusevangelium, hätte sicher davon erzählt, wenn es die Wächter gege‐ ben hätte. Immerhin aber reagiert das Matthäusevangelium darauf, dass die Gegenseite der Christen vermutlich eine Erklärung dafür gesucht hatte, wie der Leichnam Jesu nicht mehr im Grab sein konnte. Daraus lässt sich folgern, dass zumindest zur Zeit der Abfassung des Evangeliums unumstritten war, dass das Grab Jesu leer war. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob die Wächter wirklich da waren. Es kommt Matthäus vielmehr darauf an, was damit ausgedrückt werden soll, nämlich die totale Überraschung, dass Jesu Grab leer war. Anscheinend mussten sogar die Nichtchristen zugeben, wie überrascht sie davon gewesen sind. Alles andere werden vermutlich nachträgliche Erfindungen sein: Der Vorwurf, dass die Jünger den Leichnam gestohlen haben, dürfte ebenso eine Erfindung sein wie die Reaktion darauf, dass Jesus trotz Bewachung seines Grabes plötzlich fort war. Vielleicht will der Verfasser des Evangeliums sogar die Geschichte so erzählen, dass jeder die Erfindungen merkt. Denn wir er‐ finden nun einmal Geschichten, um uns etwas zu erklären, was uns total überrascht. Das leere Grab vom Ostermorgen war eine totale Überraschung, die man wiederum nicht erfinden muss. Für den Glauben an die Auferstehung Jesu ist das leere Grab nicht nötig. Der Apostel Paulus zum Beispiel erzählt anders von Ostern: Ihm ist das leere Grab völlig gleichgültig. Paulus begründet, dass Jesus auferstanden ist, allein damit, dass er vielen Zeugen begegnet ist und die Bibel das außerdem so prophezeit hat. Diese Begründung hat Paulus schon gereicht. Ebenso reicht es den meisten Menschen auch unserer Kultur, wenn sie einen Verstorbenen auf dem Friedhof bestatten, dass sie von der Auferstehung sprechen und ihn zugleich ins Grab legen. In unseren Vor‐ stellungen muss das ewige Leben nichts damit zu tun haben, dass die Gräber leer sind.
24.2 Ist die Auferstehung Jesu ein historisches Ereignis gewesen? (Mt. 28, 1-10)
Ich halte es über die historische Forschung der Quellen für wahrschein‐ lich, dass das Grab Jesu am Ostermorgen leer war. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte man es nicht erfinden müssen. Denn ein leeres Grab allein be‐ weist noch gar nichts. Der Leichnam hätte eben auch gestohlen worden sein können. Deshalb hätten sich die Christen keinen Gefallen getan, wenn sie diese Geschichte auch noch erfunden hätten. Sie hätten sich erst recht keinen Gefallen getan, wenn sie das leere Grab zwar erfunden hätten, aber in Wirklichkeit der Leichnam Jesu noch drin gewesen wäre. Dann hätte es jeder nachprüfen können, dass sie es erfunden haben. Das Matthäusevangelium hat aber von solchen Zweifeln offenbar nichts gehört. Gegen die Christen hat man offenbar nicht etwa eingewendet, dass der Leichnam doch noch drin war. Man hat auch nicht gefragt, wo sich denn das Grab überhaupt befinden soll. (So hat etwa der Bibelforscher Gerd Lüdemann behauptet, dass das Grab Jesu gar nicht bekannt gewesen sei. Wahrscheinlich sei Jesus nicht einmal bestattet worden, sondern am Kreuz hängen gelassen worden.17) Dafür gibt es keine Anzeichen in den Quellen. Man hätte sonst die Christen unter Druck setzen können, das Grab zu zeigen, damit man sich davon überzeugen konnte, dass es leer ist. Stattdessen beschäftigt das Matthäusevangelium der Vorwurf, der Leich‐ nam Jesu sei gestohlen worden. Damit wird sogar von der Gegenseite der Christen vorausgesetzt, dass das Grab Jesu wirklich leer ist. Noch einmal: Wer die Auferstehung Jesus behauptet, muss nicht unter‐ stellen, dass das Grab leer war. Die Auferstehung muss nichts mit einem leeren Grab zu tun haben. Das Umgekehrte trifft auch zu: Wenn das Grab leer war, kann es dafür viele Erklärungen geben. Ein leeres Grab muss mit einer Auferstehung nichts zu tun haben. Aber weil das so ist, weil das leere Grab völlig unerheblich ist für den Glauben an die Auferstehung Jesu, halte ich diese theologisch unerhebliche Nebensächlichkeit für historisch wahr‐ scheinlich, dass das Grab Jesu leer war. Doch auch was theologisch uner‐ heblich ist, kann dennoch total überraschend sein. Wenn jedoch ein Zusammenhang zwischen der Auferstehung Jesu und seinem leeren Grab bestehen sollte, muss die Auferstehung Jesu muss wohl ein Naturphänomen sein. Es muss also nach den Naturgesetzen Konsequen‐ zen haben, wenn Jesus von den Toten auferstanden ist. Die Auferstehung muss bereits eine Wirkung für die biologische Welt haben und auch für die anorganische Welt. Vielleicht besteht darin die theologische Aussagekraft 17
G. Lüdemann: Die Auferstehung Jesu, 56 ff.
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der Geschichte vom leeren Grab. Selbst wenn die Auferstehung ein rein geistliches Geschehen ist, also keine Auferstehung des verstorbenen Kör‐ pers, sondern nur der Seele, wäre sie trotzdem ein Geschehen in dieser Welt, in der physikalische Gesetze gelten. Und man müsste fortan diese physika‐ lisch eingerichtete Welt mit Jesu Auferstehung zusammendenken. Was immer man unter einer Seele versteht, steht in Zusammenhang mit der anorganischen Welt. Menschen üben mit ihren Gedanken eine Wirkung auf die Welt der Naturgesetze aus. Die Seele eines Menschen bewegt und erregt den Körper: Eine aufgeregte Seele führt zu einem aufgeregten Herz‐ schlag. Und die Seele macht sich Gedanken, wie sie die Welt einrichtet: Wir planen unser Leben, wir bauen Häuser, bekommen Kinder – weil wir eine Seele haben. Hirnforscher halten zwar inzwischen das menschliche Denken für gar kein richtiges Phänomen, sondern für ein sogenanntes „Epiphänomen“: Denken ist quasi ein Nebenprodukt neuronaler Prozesse, aber es kann selbst keine Prozesse bewirken. Gedanken können nichts bewirken, sondern nur die Nervenzellen im Gehirn, die mit den Gedanken verbunden sind. Jegliche Ursache muss nach dieser Vorstellung ein physisches Phänomen sein. Des‐ halb könnten angeblich Gedanken nichts bewirken. Damit aber drängen Hirnforscher die Gedanken der Menschen aus der Welt hinaus wie einst die Dualisten, die Körper und Seele für getrennte Sub‐ stanzen hielten und kein Verbindungsstück zwischen ihnen fanden. Denn wenn Gedanken nichts bewirken können, lässt sich auch nicht auf physische Weise feststellen, was Gedanken eigentlich sind. Als Gedanken lassen sie sich dann nicht verstehen. Und umgekehrt: Alles, was verstanden werden kann, befindet sich außerhalb der physischen Welt. Die physische Welt ist dann alles, was zwar mit Hilfe von Naturgesetzen erklärt, aber nicht verstanden werden kann. Alles Verständliche befände sich dann außerhalb der Welt. Oder wollen dieselben Hirnforscher bestreiten, dass Gedanken Verstehen bewirken können? Dann könnten sie ihre eigene Hirnforschung nicht mehr verstehen. Das Matthäusevangelium scheint den Zusammenhang zwischen Denken und physischer Kausalität adäquater zu beschreiben als die Epiphänomena‐ listen unter den Hirnforschern. Wie immer man es nennt – Geist oder Seele oder Subjektivität –, es bewirkt etwas in der Welt der Natur. Denn wenn Jesus von den Toten auferstanden ist und dieser Sachverhalt zur Folge hat, dass dabei sein Leichnam nicht mehr im Grab liegt, dann hat offenbar seine Auferstehung Folgen für die Welt der Naturgesetze.
24.2 Ist die Auferstehung Jesu ein historisches Ereignis gewesen? (Mt. 28, 1-10)
Aber eine viel größere Wirkung auf diese Welt hat der Auferstandene heute noch auf Menschen, die seine Nähe um sich spüren und ihre Lebens‐ hoffnung nach ihm ausrichten. Der Auferstandene bewegt also menschliche Körper und ihren Leib heute. Seine Auferstehung wirkt sich auf die Gegen‐ wart aus. Ich könnte auch sagen: Der Auferstandene bewirkt den Glauben. Aber das könnte man missverstehen, so als ob sich Menschen das ewige Leben ein‐ bilden, eben „nur“ glauben. Wer unter Glauben solche „bloßen“ Gedanken versteht, unterstellt jedoch bereits damit, dass sich Menschen mit ihren Gedanken selbst in Bewegung versetzen. Oder man meint, dass menschliche Einbildung etwas in der anorganischen Welt der Naturwissenschaften be‐ wirkt. Christen interpretieren aber die Erfahrung, dass Gedanken „kommen“, ohne dass sie sie „machen“, so, dass nicht sie es sind, sondern der Aufer‐ standene, der ihr Leben in Bewegung bringt. Niemand könnte sich den Auf‐ erstandenen vorstellen, wenn nicht eine Erfahrung ihn dazu veranlasst hätte, daran zu glauben. Denn es handelt sich ja um eine total überraschende Erfahrung, die über das Vorstellungsvermögen hinausgeht. Das leere Grab ist vielleicht bereits eine solche Erfahrung, die über menschliches Vorstellungsvermögen hinausgeht. Aber es ist sicher nicht die einzige und auch keine notwendige Erfahrung. Die Auferstehung übt jedoch eine notwendige Wirkung auf unsere Welt aus. Irgendwie bewegt der Auf‐ erstandene unsere Körper, unser Leben, unsere Wirklichkeit. Wer das nicht erlebt, kann nicht glauben. Der kann sich auch nicht einbilden zu glauben. Es geht einfach nicht. Man muss es erlebt haben. Und deshalb konnten die ungläubigen Wächter den Auferstandenen auch nicht sehen. Sie wurden auch nicht in Bewegung versetzt. Sie fielen tot um und blieben regungslos liegen. Aber wenn wir den Auferstandenen „sehen“, vielleicht nicht wortwörtlich, aber doch die Erfahrung machen, dass „etwas“ auf uns einwirkt, dann werden unsere Leiber in Bewegung versetzt. Und dann geschieht die Auferstehung Jesu zu unserem ewigen Leben, zu einem Leben in Bewegung: „Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen.“ Literatur zur Vertiefung
W. Detel: Forschungen über Hirn und Geist. – In diesem Beitrag wird die These des Epiphänomenalismus schonungslos entfaltet.
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L. Ohly: Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik, 257–277. – Der Epi‐ phänomenalismus lässt Bedingungen außer Acht, wie Neues verwirk‐ licht werden kann ohne das lineare Muster von Ursache und Wirkung.
24.3 Ein neues Realitätsverständnis (Joh. 20, 11-18) Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf hebrä‐ isch: Rabbuni!, das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.
Jesu Auferstehung zwingt uns ein neues Realitätsverständnis auf. Wer sich nur mit der irdischen Realität befasst, verliert schnell die Orientierung an‐ gesichts fundamentaler Veränderungen. Und eine fundamentale Verände‐ rung ist der Tod eines Menschen – so wie der Tod Jesu am Karfreitag. Eine weitere fundamentale Veränderung ist die Auferstehung von den Toten – wie am Ostermorgen. Ostern also zwingt uns ein neues Realitätsverständnis auf, damit wir die Orientierung behalten angesichts solcher fundamentalen Veränderungen. Maria von Magdala dagegen verdrängt diese Einsicht zunächst noch. Sie will sich nur mit ihrem irdischen Realitätsverständnis abgeben. Sie ver‐ drängt alles, was darüber hinausgeht. Zunächst erleidet sie die schmerzliche Erfahrung, die Menschen machen, wenn sie an einem Grab stehen. Der Ver‐
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storbene ist nicht mehr da. Manchmal sagen sie sich, dass ihre Situation „unwirklich“ sei. Ist also der Tod für die Hinterbliebenen eine irdische Er‐ fahrung oder geht er schon über das Irdische hinaus? Das ist der Konflikt, den Maria mit sich führen muss. Statt des Verstorbenen befinden sich bei Maria zwei Engel. Aber Maria interessiert sich nicht für diese außerordentliche Begegnung. Sie interessiert sich überhaupt nicht für das Überirdische. Zwar beantwortet sie die Frage der Engel, wirkt aber dabei eher uninteressiert und dreht sich sofort um. Was soll sie sich jetzt mit Engeln befassen? Ihr Thema ist ein anderes: Jesus ist nicht mehr da. Ein irdisches Problem? Selbst als dann Jesus vor ihr steht, will sie sich mit der überirdischen Rea‐ lität nicht befassen. Ihre Interpretation, er sei der Gärtner, sortiert den Auf‐ erstandenen in der irdischen Realität ein. Damit kann man sich leicht be‐ fassen. Aber dass es etwas geben könnte, woran die irdische Realität zerbricht, kann Maria nicht einsehen. Interessant daran ist, dass das moderne materialistische Weltbild den Christen umgekehrt vorwirft, Auferstehungsglaube sei eine billige Vertrös‐ tung. Die religiösen Phantasien von einem Leben nach dem Tod seien eine Verdrängung. Sie verdrängten die Realität, dass unser Leben nun einmal begrenzt ist. Im Gegensatz dazu verdrängen nach diesem Osterevangelium diejenigen die Realität, die nur das Leben vor dem Tod wahrnehmen und nicht über den Tod hinaus denken können. Maria begegnen zwar Engel und der Auferstan‐ dene selbst. Sie aber interessiert sich nur für einen toten Leichnam und für einen Gärtner. Sie interessiert sich nur für das Irdische. Das Überirdische klammert sie aus, damit es ihrem Weltbild nicht gefährlich werden kann. Die Ostergeschichte bedeutet aber auch, dass man sich vor der überirdi‐ schen Realität nicht dauerhaft verschließen kann. Irgendwann wird die Rea‐ lität des Auferstandenen so übermächtig, dass man sie nicht mehr in einem rein irdischen Weltbild unterbringen kann. Irgendwann muss sich auch Ma‐ ria vom rein Irdischen lösen. In der Geschichte spricht Jesus sie an, und sie erkennt ihn. Sie erkennt ihn allerdings noch nicht so, wie sie ihn erkennen soll. Sie hätte ihn anscheinend gerne in den Arm genommen und ihn somit in die Welt des materiell Verfügbaren gezerrt. „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater“. Nun könnte sie einwenden, dass sie ihn gerade deshalb doch anrühren will, weil er eben noch da ist. Aber der auf‐ erstandene Jesus ist eben nicht einfach da. Der auferstandene Jesus über‐
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steigt die irdische Realität, wo man sich umarmen kann. Der Auferstandene ist nicht hautnah, sondern in seiner Distanz nahe. Die Auferstehung manifestiert die Realität des Lebens, das über die rein irdische Realität hinausgeht. Das Leben kann man nur real begreifen, wenn man über das Irdische hinaus denkt. Und man kann nur real leben, wenn man über das Irdische hinaus lebt. Der christliche Auferstehungsglaube ist gerade keine billige Vertröstung. Im Gegenteil, wer sich mit den durchbrechenden Erfahrungen des Lebens nicht befassen will, klammert sich an ein enges Realitätsbild, weil er das Überirdische verdrängt. Wer wie Maria nur am Grab steht und die Frage nicht stellen kann, was es bedeutet: „Er ist nicht mehr da“, vertröstet sich auf eine zu enge Realität, wo zwar alle „vernünftig“ selbstverständlich wissen, dass wir sterblich sind, aber zugleich nicht wissen, was dieser „selbstver‐ ständliche“ Tod eigentlich ist. Dagegen erfahren schon Kinder, wenn sie ler‐ nen, über das Irdische hinaus zu leben, dass sich dort Himmel und Erde berühren und die Verstorbenen von nun an „im Himmel“ sind. Ist der Tod wirklich nur die unsichtbare Grenze unserer sichtbaren Rea‐ lität? Und sehen wir im Leben wirklich nur Gräber und Gärtner? Oder ist der Tod die sichtbare Ahnung davon, dass die Realität größer ist? Heißt Tod dann nicht eher: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“? Ist das nicht näher an der Wirklichkeit? Der christliche Auferstehungsglaube vertröstet nicht, sondern löst sich von zu engen irdischen Verkrampfungen. Denn Christen erkennen den Ab‐ schied ja an: Den auferstandenen Christus kann Maria eben nicht anrühren, und er ist nicht mehr da, denn er fährt auf zum Vater. Der Abschied vom Alten gehört dazu, wenn man das Neue begreifen will. Aber wo wir so leben können, da leben wir mit einer realistischen Hoff‐ nung. Dann wollen wir in unserem Leben zeigen, wo es sich mit einer Fremdheit berührt, die über seine Enge hinausführt. Literatur zur Vertiefung
I. U. Dalferth: Volles Grab, leerer Glaube? – Um die Auferstehung Jesu zu verstehen, bedarf es eines anderen Wirklichkeitsrahmens, der über phy‐ sische, psychische oder historische Tatsachen hinausgeht. Es kann nicht davon abstrahiert werden, dass die Auferstehung Jesu eine Tat Gottes ist. Mit der Auferstehung Jesu ändert sich die ganze Wirklichkeit und nicht nur etwas darin.
24.4 Ist die Auferstehung Jesu naturwissenschaftlich möglich? (Mt. 28, 16-20)
24.4 Ist die Auferstehung Jesu naturwissenschaftlich möglich? (Mt. 28, 16-20) Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn [den Auferstandenen!] sahen, fielen sie vor ihm nieder; die aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Sogar Jesu Jünger haben offenbar daran gezweifelt, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Sie brechen zwar vor ihm zusammen, als sie ihn sehen, aber sogar sie zweifelten. Zweifel an der Auferstehung ist also nicht erst das Pro‐ blem unserer Tage geworden. Wir haben es nicht schwerer als die Jünger damals, nur weil wir den weiten historischen Abstand haben. Die Jünger standen direkt vor dem Auferstandenen und haben trotzdem gezweifelt. Seit 200 Jahren diskutieren die Historiker, ob sich das Auferstehungser‐ eignis Jesu historisch nachweisen lässt oder eher das Gegenteil. Aber Auf‐ erstehung ist nicht nur ein historisches Problem. Sie ist vor allem ein na‐ turwissenschaftliches Problem. Und merkwürdigerweise wird in dieser Hinsicht relativ wenig diskutiert. Für Biologen und Mediziner ist klar, dass kein Mensch von den Toten auferweckt werden kann. Biologisch ist das unmöglich, weil ein abgestorbenes Gehirn nicht mehr aktiviert werden kann. Aber vielleicht müssen wir die Auferstehung auch mit Hilfe einer an‐ deren Naturwissenschaft verstehen, nicht mit den Mitteln der Biologie, son‐ dern mit den Mitteln der Physik. Denn es ist ein Naturgesetz der Physik, dass nichts aus der Welt verschwin‐ den kann. Materie kann nicht verschwinden. Sie kann zwar umgewandelt wer‐ den in Energie, und Energie kann umgewandelt werden in Materie. Aber dabei verschwindet nichts. Materie bleibt dem Universum erhalten. Leben ist auch etwas Materielles. Leben kann nur, was einen Körper hat. Also kann auch Leben nicht verschwinden. Unser menschliches Bewusstsein ist – vom Standpunkt der Naturwissenschaft – nichts anderes als Energie. Also kann unser Bewusstsein auch nicht verschwinden. Es kann zwar um‐ gewandelt werden in Materie. Und unser Körper – die Materie, die wir sind
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– kann umgewandelt werden in Energie. Aber wir können dem Universum nicht verloren gehen. Was genau die Jünger auf jenem Berg gesehen haben, als sie Jesus gesehen haben, wird nicht berichtet. Es wird nicht gesagt, dass sie Jesus aus Fleisch und Blut gesehen haben. Vielleicht haben sie ihn genauso gesehen wie Pau‐ lus bei seiner Bekehrung: nämlich einfach nur ein Licht vom Himmel – und eine Stimme, die dieses Licht gedeutet hat (Apg. 9,3–5). Zumindest würde ein Licht am Himmel erklären, warum die Jünger auf einen hohen Berg steigen mussten. Von oben sieht man himmlisches Licht noch leichter. Viel‐ leicht haben also die Jünger die Energie des Auferstandenen gesehen. Das entspricht dem, was Christen glauben, nämlich dass von Jesus Energie aus‐ geht, Kraft für unser Leben und sogar darüber hinaus. In gewisser Weise haben wir es heute also sogar leichter als die Jünger damals, um die Auferstehung Jesu für plausibel zu halten. Wir haben nämlich die Erkenntnis der Physik, wovon die Jünger nichts wissen konnten, nämlich dass Materie und Energie im Universum nicht verloren gehen können. Also hätten wir heute doch eigentlich weniger Grund als die Jünger, an der Auf‐ erstehung zu zweifeln. Nun hat sich aber in den letzten 20 Jahren ein neuer Zweifel in die Na‐ turwissenschaft eingeschlichen. Es ist ein Zweifel aus der Hirnforschung. Die Hirnforschung sagt uns nämlich, dass das Bewusstsein gar nicht exis‐ tiert. Bewusstsein ist also kein naturwissenschaftlicher Gegenstand. Dem‐ nach kann es auch nicht im Universum bleiben, wenn es stirbt. Das ist aber eine merkwürdige Vorstellung, wie wir schon gesehen ha‐ ben.18 Denn nehmen wir einmal an, die Naturwissenschaften hätten Recht, und Bewusstsein wäre kein natürlicher Gegenstand: Es hätte nichts zu tun mit Energie und schon gar nichts mit Materie. Dann ist der Zweifel an die Auferstehung ja auch: nichts. Denn wenn Bewusstsein nichts ist, muss auch der Zweifel nichts sein. Dann kann aber Bewusstsein auch nicht sterben. Denn sterben kann nur, was vorher da war. Wenn aber Bewusstsein nichts ist, kann Bewusstsein auch nicht auf einmal weg sein. Und dann macht es erst recht keinen Sinn, an der Auferstehung zu zweifeln. Es macht aber noch weniger Sinn, dann Naturwissenschaft zu betreiben. Denn Wissenschaft können nur Menschen betreiben, die denken können. Und die machen ja dann offenbar, wenn sie denken, nichts.
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Sektion 24. 2.
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Ich finde problematisch, wie die Hirnforschung das Denken aus unserer Welt stößt. Denn dann befindet sich unser Denken, unsere Seele, „jenseits“ der Welt. Und dann kann man fröhlich weiter spekulieren, ob es ein Jenseits gibt – so wie man es schon vor 3000 Jahren spekuliert hat, so als ob wir nicht inzwischen Erkenntnisse der Naturwissenschaft hätten. Die Hirnforschung tut so, als ob Denken und unsere materielle Welt nicht real verbunden wären. Das ist genau dasselbe wie anzunehmen, dass zwar die Toten nicht in Gottes Schöpfung auferstehen, aber in einem Jenseits. Nach allem, was man im Neuen Testament darüber lesen kann, ist die Auferstehung Jesu aber ein Geschehen in dieser Welt. Jesus steht nicht in einem Jenseits auf, sondern hier in unserer Realität. Und dazu passt viel besser der Erhaltungssatz der Physik: Nichts kann in dieser Welt verloren gehen. Und was die Jünger auf dem Berg gesehen haben, war die ewige Energie des Lebens in diesem Universum. Darüber lohnt es sich zu staunen, weil Auferstehung jetzt etwas Reales geworden ist. Nun mag man kritisch rückfragen, wieso die Auferstehung von den Toten dann erst bei Jesus anfängt und nicht schon Millionen Jahre früher aufge‐ treten ist, seit es Menschen gibt. Wenn nach dem physikalischen Erhal‐ tungssatz alles im Universum bleibt, kann der Erhaltungssatz nicht erst bei Jesus angefangen haben. Ich stimme diesem Einwand zu. Naturwissenschaftlich kann man es sich nicht anders klar machen. Und trotzdem kann es sein, dass dieser Zusam‐ menhang bei Jesus zum ersten Mal aufgefallen ist. Paulus spricht in einer Bibelstelle von Jesus als dem „Erstling der Entschlafenen“ (1. Kor.15,20): Er ist vermutlich nicht der Erste gewesen, der überhaupt von den Toten auf‐ erstanden ist. (Wie hätte die Bibel sonst ernsthaft meinen können, dass Jesus zu Lebzeiten Tote auferweckte?) Aber er könnte der Erste gewesen sein, bei dem sich das Geheimnis der Auferstehung enthüllt hat. Zumindest für uns Christen ist Jesus der erste, an dem sich Auferstehung enthüllt hat. Wenn wir heute die Erfahrung machen, dass wir mit Verstor‐ benen verbunden sind, dass jemand uns ganz nahe ist, der schon gestorben ist –, dann erinnern wir uns ja gleichzeitig daran, dass wir davon schon einmal gehört haben. Gottes Schöpfung nimmt also niemanden weg. Alles, was geschieht, ist die Umwandlung von Materie in Energie, von Energie in Materie. Alles, was passiert, ist, dass unser Leben eingebunden ist in einem energiereichen Strom des Universums, der Leben hervorspült, aber nie zer‐ stört.
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Das merken wir, wenn wir trauern: Die Verstorbenen sind für uns nicht weg, sondern anders bei uns. Ihre Nähe zu uns hat sich verwandelt, aber sie ist dadurch nicht verschwunden. Interessant übrigens, dass die Jünger ge‐ zweifelt haben, aber trotzdem noch zusammen geblieben sind. Sie sind eine Gemeinschaft geblieben, obwohl der Gründer ihrer Gemeinschaft gestorben ist. Offenbar ist Nähe zueinander größer als alle Zweifel. Genauso wie die Welt: Es wird viel umgewandelt, aber nichts geht dieser Welt verloren. Gedanken können uns beunruhigen. Aber sie können die Verbindungen nicht lösen, die zwischen allem Lebendigen bestehen. Gottes Schöpfung bewahrt alles Leben auf. Literatur zur Vertiefung
H. Deuser: Theologie der Natur. – Übergänge und kosmische Entwicklungen bedürfen einer Theorie des Kontinuums der Natur, weil sie sich ansonsten außerhalb der Natur ereignen. Auch der Tod ist im Leben integriert, in der natürlichen Evolution. L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, Kap. 8. – Selbst streng materia‐ listische Vorstellungen des Lebens stoßen an ihre Grenzen, sobald Leben materiell reproduzierbar ist und sich dadurch Verdopplungen der sub‐ jektiven Identität ergeben können. Wenn „ich“ gleichzeitig in zwei räum‐ lich voneinander getrennten Körpern stecke, kann ich nicht materiell zusammengesetzt sein. Vielmehr bedarf es dann einer den Materialismus erweiternden Theorie, wie beide Körper miteinander verbunden sind.
25 Die Himmelfahrt Jesu (Apg. 1, 3-4.8-11) Jesus zeigte sich seinen Jüngern nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes. Und als er mit ihnen zusammen war, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten auf die Verheißung des Vaters, die ihr, so sprach er, von mir gehört habt; ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. Und als er das gesagt hatte, wurde er zusehends aufgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen weg. Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkom‐ men, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen.
Die Apostelgeschichte hat den Abschied vom auferstandenen Jesus in das Gewand eines Märchens gepackt, aber dabei gleichzeitig auch das Märchen‐ hafte schon wieder überschritten. Denn im Mittelpunkt dieser Geschichte steht nicht die Fahrt Jesu in den Himmel. Sondern im Mittelpunkt steht die Erde, auf der wir wohnen. Dreimal wird in diesem kurzen Text die Erde betont: Jesus redete vom Reich Gottes. Und wenn man weiß, wie der Verfasser der Apostelgeschichte, der ja zugleich auch das Lukasevangelium geschrieben hat, vom Reich Got‐ tes spricht, dann weiß man: Es geht um die Erde, auf der wir wohnen. So können wir vom selben Verfasser lesen: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk. 17,21), also nicht im fernen Himmel, sondern eben hier. Die zweite Stelle, in der es um die Erde geht, sind die zwei Männer im weißen Gewand. Auch am Ostermorgen begegneten einige Frauen zwei Männern in weißen Gewändern am leeren Grab Jesu. Auch hier wird nicht behauptet, dass sie Engel sind. Auf der Erde leben Menschen. Aber es sind eben auch wieder zwei Männer, die genauso aussehen und auch schon am Ostermorgen darauf hingewiesen haben, dass sich Auferstehung nicht im
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Himmel ereignet, sondern bei uns hier auf der Erde – „wie Jesus es euch gesagt hat damals in Galiläa“ (Lk. 24,6). An der dritten Stelle ermahnen die beiden Männer die Jünger, sie sollten nicht in den Himmel starren. Denn Jesus wird wiederkommen – auf die Erde. Was Gott tut, das tut er in erster Linie auf der Erde. Was die Apostelgeschichte uns in einem Märchen verkleidet, ist also die Bot‐ schaft, dass Gott sich auf der Erde ereignet, nicht im Himmel. Vielleicht ist des‐ halb das Märchen von der Himmelfahrt erzählt worden, von der Wolke, die den Jüngern den Blick zu Jesus verstellt. Denn wenn wir es für möglich halten sol‐ len, dass sich Gott auf der Erde ereignet, dann müssen wir davon ausgehen, dass die Erde eine andere Erde ist, als wir denken. Die Himmelfahrt Jesu bedeu‐ tet also, dass die Erde eine ganz andere geworden ist. Und ist das so? Ist die Erde eine andere geworden durch Jesus? Ich möchte das mit zwei Alternativen vergleichen. Nehmen wir einmal an, Jesus wäre nie da gewesen. Es hätte ihn nie gegeben. Dann hätten die meisten Menschen auch keine Bindung zu Gott. Denn da es weitaus mehr Christen als Juden gibt, die Gott zu seinem Volk erwählt hat, hätten deutlich weniger Menschen eine Bindung zu Gott. Wer ohne Bindung lebt, ist frei. Aber eine solche bindungslose Freiheit hätte keine Richtung, keine klare Orientierung. Wenn wir alles machen können, was wir wollen, dann können wir im nächsten Moment etwas völlig anders machen, weil wir das dann wollen. Eine Freiheit ohne Bindung wäre genauso, wie wenn wir uns zufällig verhalten würden. Und dann verhalten wir uns letztendlich nicht so, wie wir wollen, sondern wie es der Zufall will. Nehmen wir einmal eine andere Variante an, dass Jesus da gewesen und von den Toten auferstanden ist, aber heute immer noch irgendwo da wäre. Sagen wir, er wohnte in irgendeiner hübschen Wohnung in Jerusalem. Wie würden wir denn dann leben? Vermutlich gäbe es dann nur das Christentum und keine andere Religion, denn man könnte sich ja davon selbst überzeu‐ gen, dass Jesus auferstanden ist. Aber welche Gestalt würde das Christentum annehmen? Wie würden Christen leben? Vermutlich wären sie ziemlich un‐ freie Menschen. Tausende von Christen würden jeden Tag nach Jerusalem zu Jesus pilgern, der selbst wie ein Sektenführer verehrt würde, den man zu jeder Lebensentscheidung befragen müsste. Ist meine Frau die richtige für mich? Ich würde Jesus fragen – und meiner eigenen Liebe nicht trauen. Das alles ist nun anders dadurch, dass Jesus da war und dass er immer noch eine Bedeutung für uns hat, obwohl er weg ist. Was wir Christen tun, das können wir frei tun – aber wir sind dabei nicht total bindungslos. Wir
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können frei beurteilen, wie wir unseren christlichen Glauben verstehen und als Christen leben wollen. Wir können unsere Worte dafür selber finden und eine passende Lebensweise dafür. Aber unsere Lebensweise ist nicht unver‐ bindlich. Was wir tun, tun wir als Christen. Zumindest im Hinterkopf haben wir bei allem auch das Gefühl, jede Situation unseres Lebens mit unserer christlichen Identität abstimmen zu sollen. Gerade weil Christus da gewesen ist, übt er eine bleibende Bindung auf uns aus. Weil er jedoch zugleich nicht mehr aus Fleisch und Blut bei uns ist, gewährt er uns ein freies Leben. Seine Auferstehung erzeugt die Bindung zu uns. Sein Abwesendsein eröffnet unsere Freiheit. Beides zusammen macht unser christliches Leben aus. Und beides zusammen verändert unser Leben auf der Erde. Nun kann man fragen, ob nicht auch andere Menschen eine Macht auf unser Leben ausüben, obwohl sie nicht mehr da sind. Ist Johann Sebastian Bach für Musiker nicht genauso bindungsstark? Sie wollen seine Komposi‐ tionen spielen, aber sie wollen zugleich ihre eigene Interpretation wagen. – Und natürlich gibt es noch traurigere Beispiele: Ein verstorbener Ehepartner kann unser Leben sehr prägen. Gerade weil er nicht mehr da ist, kann er unser Leben stärker beeinflussen, als wenn er noch da wäre. Man stimmt seine Lebensentscheidungen mit ihm ab. Natürlich ist man ein freier Mensch, aber nicht unverbindlich. Man hält sich irgendwie noch daran, dass der Ehepartner nicht mehr da ist. Dass ein Mensch uns durch sein Abwesendsein an sich bindet und zu‐ gleich befreit, ist tatsächlich typisch für alle Abschiede, nicht nur für den Abschied Jesu bei seiner Himmelfahrt. Insofern aber ist Himmelfahrt kein Märchen, sondern tiefste Realität und ein typischer Einschnitt in unser Le‐ ben. Die Himmelfahrt sagt uns, wie die Erde sich immer wieder verwandelt durch Abschiede, die uns anhaltend prägen. Aber noch etwas trifft auf alle solche harten Einschnitte zu: Ihre Präge‐ kraft geht nicht von den Menschen aus, die uns verlassen. Was uns bindet und was uns frei macht, machen nicht diese Menschen. Oft entscheiden diese Menschen ja nicht selbst, dass sie uns verlassen, erst recht nicht, wenn sie sterben. Selbst hier in dieser Erzählung scheint es so, als ob es einfach pas‐ siert. Es passiert aber eben! Abwesende Menschen haben eine Prägekraft, die sie nicht selbst erzeugen. Sie sind ja abwesend; wie sollen sie da etwas bei uns erzeugen können? Diese Kraft, die aus dem Abwesenden kommt, kommt von allein. Sie hat keine Ursache, sondern tritt einfach ein. Sie ist eine Spur für Gott auf unserer Erde. Unsere Freiheit, aber zugleich die Bindung zu
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einem abwesenden Menschen wie Jesus kommen einfach. Sie ereignen sich frei und ohne natürliche Ursache. In dieser Erzählung heißt diese Kraft der Heilige Geist: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen.“ Und diese göttliche Kraft ereignet sich auch bei anderen Abschieden. Eben Gottes Spur auf der Erde: die zwingende Kraft derer, die von den Abwesenden aus‐ geht. Literatur zur Vertiefung
R. Otto: Das Heilige, Kap. 8. – Das Heilige ist befremdlich und faszinierend zugleich. Es wird in seinem abdrängenden Charakter dicht. Zwischen Nähe und Ferne besteht eine „Kontrast-Harmonie“. M. Welker: Universalität Gottes und Relativität der Welt, 203–219. – Welker fasst den Himmel als theologischen Raum der Zukunft. Himmel und Erde relativieren sich wechselseitig und erzeugen dabei eine Unbestimmtheit. Ihr Abstand zueinander ist relativ, weil beide Geschöpfe Gottes sind.
V. Der Heilige Geist Anwesenheit
Ich unterscheide Anwesendes von Anwesenheit. Während Anwesen‐ des Gegenstände sind, ist Anwesenheit die Dimension der Nähe. Des‐ halb können uns abwesende Gegenstände näher sein als anwesende, etwa wenn wir sie so sehr vermissen, dass wir darüber vergessen, wo wir uns gerade befinden und welche anwesenden Gegenstände sich gerade um uns herum befinden. Diese Dimension der Nähe, die An‐ wesenheit, identifiziere ich mit der Kategorie des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist kein Gegenstand, sondern die Nähe, die uns auch Abwesendes aufdrängt. Natürlich hat auch Anwesendes Anwesen‐ heit. Die Dimension der Nähe ist unabhängig davon, ob der betref‐ fende Gegenstand an- oder abwesend ist.
26 Die andere Nähe Gottes (Jak. 5, 7-8) Eschatologie
(griechisch: „eschaton“ = „das letzte“) Die Lehre verhandelt das Ende der Welt, den endgültigen Anbruch des Reiches Gottes und die Auf‐ erstehung der Toten (→ letzte Dinge). Im Neuen Testament werden zwei Modelle der Eschatologie entwickelt, die sogenannte „futurische“ und die „präsentische“ Eschatologie. Die futurische Eschatologie er‐ wartet die endzeitliche Wiederkunft Jesu Christi, um Gottes Reich zu gründen. Paulus ging davon aus, dass dieses Ereignis noch zu Lebzei‐ ten seiner Zeitgenossen eintrete (1. Kor. 15,51). Er selbst rechnete aber später noch damit, dass er direkt nach seinem Tod ins Reich Christi eingehe (Phil. 1,23) und dass es damit parallel zur Welt existiere. Diese Vorstellung, dass sich das Reich Gottes zeitgleich über die Welt legt oder parallel zu ihr existiert, prägt die präsentische Eschatologie. So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis der Herr anwesend ist. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, solange er den Frühregen und Spätregen nimmt. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn die Anwesenheit des Herrn ist herbeigekommen.
Wenn der Jakobusbrief sagen wollte: „Der Herr ist noch nicht da. Wartet geduldig!“, dann hätte er nichts Besonderes gesagt. Denn das wissen Chris‐ ten und Nichtchristen gleichermaßen: Man muss warten, wenn etwas noch nicht da ist. Der Jakobusbrief sagt aber etwas Besonderes: „Wartet geduldig! Denn die Anwesenheit des Herrn ist herbeigekommen.“ Er ist also schon da. Und sogar diese Situation verlangt unsere Geduld. Man muss es aushalten können, dass jemand schon da ist. Auch das können zwar ebenso Nichtchristen einsehen. Aber wir Christen gründen darauf unseren Glauben, dass Jesus schon gekommen ist und wir gerade deswegen geduldig sein müssen. Vielleicht fragen Sie sich jetzt, ob Christen wirklich ihren Glauben auf so eine komische Verdrehung von Sachverhalten gründen, wonach der, auf den sie warten, schon da ist.
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Christen gründen ihren Glauben darin, dass dadurch eine Spannung auf‐ gebaut wird, dass jemand gekommen ist. Das ist uns bei zwischenmensch‐ lichen Begegnungen ganz selbstverständlich: Jemand klingelt an unserer Haustür; jemand Freundliches, jemand, den wir kennen. Wir lassen ihn in die Wohnung – und es entsteht eine Spannung. Das kann eine schöne Span‐ nung sein, aber auch aufregend oder anstrengend – sogar bei jemandem, der oder die uns sympathisch ist. In jedem Fall macht diese Spannung den Be‐ such bedeutsam. Man muss es aushalten können, wenn jemand gekommen ist. Denn sonst übersieht man das Bedeutsame darin. Man muss Nähe aus‐ halten können, weil immer auch etwas unvollendet bleibt, wenn jemand gekommen ist. Liebespaare sind gerade deshalb so gerne zusammen, weil das die Spannung sogar erhöht, zusammen zu sein. Sie können gar nicht dicht genug sein. Auch in der erfülltesten Liebesbeziehung bleibt immer auch etwas unvollendet. Gerade das vertieft die Spannung der Nähe. Das trifft aber nicht nur auf zwischenmenschliche Begegnungen zu. Jesus nennt das Beispiel vom Bauern. Niemand sagt einem Bauern, wann die Zeit reif ist, um zu ernten. Der Bauer muss diese Spannung aushalten, wie der Regen kommt, wie die Frucht wächst, aber vielleicht noch nicht ganz reif ist, dass vielleicht noch ein Sturm einige Ernteerträge vermindert. Wer das nicht aushält, kann diesen Beruf nicht ausüben. Es steckt also ein Segen darin, Nähe auszuhalten. Die Spannung verleiht der ganzen Situation den Wert. Und darin sehe ich die Kraft für den christ‐ lichen Glauben. Etwas ist gekommen. Und jetzt erzeugt es eine Spannung, die alles wertvoll macht: den Augenblick, den Menschen, der gekommen ist, uns selbst, weil er jetzt da ist. Nähe gibt allem eine Würde. Für sich selbst wäre alles belanglos. Wertvoll wird das Leben nur in Begegnung. Als Christus in diese Welt gekommen ist, hat sich die Welt also nicht vollendet, sondern ihre Würde ist gerade instand gesetzt worden. Es hat sich etwas Unvollendetes ereignet, das uns gerade deshalb immer wieder heim‐ suchen kann. Auf diesen Herrn gründen Christen ihren Glauben. Dieser Herr bleibt selbst unvollendet, damit wir an unserer Würde wachsen und damit die stimmungsvollen Augenblicke mit Spannung angefüllt werden. Hätte sich die Nähe Jesu dagegen vor 2000 Jahren schon vollendet, dann bliebe für uns heute nichts mehr übrig von seiner Gegenwart und von einer spannungsreichen Nähe, die unser Leben erfüllt. Wir müssten seine Nähe nicht aushalten. Aber seine Nähe könnte uns auch nicht treffen. Er könnte uns nicht zu Leibe rücken.
26 Die andere Nähe Gottes (Jak. 5, 7-8)
Nun halten wir leider nicht nur liebevolle Menschen in unserer Nähe aus. Manchmal müssen wir auch Streit aushalten. Und manchmal rücken auch Krankheiten uns zu Leibe oder Leid. Steckt darin etwa auch ein Segen? Müssen wir etwa dafür noch dankbar sein und es als göttliche Fügung ver‐ stehen? Zumindest müssen wir es genauso aushalten. Gerade in solchen Zeiten wird uns viel Geduld zugemutet. Es ist interessant, dass der Jakobusbrief zur Geduld schon bei einer hoffnungsvollen Erwartung rät. Er empfiehlt nicht, sich an der Nähe des Herrn zu freuen. Anscheinend besteht für ihn also kein Unterschied zu den Zeiten des Streits und des Leides: Auch schöne Stunden müssen wir aushalten können. Denn geduldig merken wir dann, wie sich unser Leben mit Bedeutung an‐ füllt. Ich kenne Menschen, die das auch erleben, wenn sie leiden. Und ich bewundere Menschen, die im Streit noch besonnen sein können. Diese Be‐ sonnenheit macht diese Menschen groß. Sie halten auch hier Nähe geduldig aus und werden dabei mit Würde beschenkt. Darin sehe ich die große Bedeutung der Nähe Gottes. Es ist fast gleich‐ gültig, wer uns besuchen kommt oder was uns heimsucht. Jede Nähe ist eine Herausforderung. Besser stehen dann die Menschen da, die sie geduldig aushalten können. Es ist also nicht einfach ein Mensch, auf den man wartet, sondern es ist die Nähe eines Menschen, die noch mit ihm kommt. Deshalb haben die Christen von Anfang an nicht nur von dem Menschen Jesus ge‐ sprochen, der da kommt, sondern vom Mensch gewordenen Gott. Sie haben von Gott gesprochen, der uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist begegnet – und nicht nur als Sohn. Die Nähe des Sohnes entfaltet eine geistliche Kraft, die unsere Größe neu erschafft. Literatur zur Vertiefung
M. Heidegger: Das Ereignis, Kap. 45–58. – Diese schwierigen Skizzen des Philosophen beschreiben Anwesenheit als eine raumbildende Aktivität im Gegensatz zu Anwesendem oder Abwesendem, die Zustände von Ge‐ genständen sind. Anwesenheit kann daher bleiben, auch wenn etwas nicht mehr da ist. Zugleich „west sie an“ und wird zum Ereignis wie eine göttliche Offenbarung.
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27 Was „allein“ hilft particula veri
Die Reformation entwickelte diese prägnanten „Exkulusivpartikel“, wonach allein Christus (solus Christus) die Menschen errettet, und zwar allein aus Glaube (sola fide), allein aus Gnade (sola gratia) und allein nach dem, wie es durch das biblische Zeugnis verkündet wird (solo verbo oder sola scriptura). Dass es vier Exklusivartikel sind, ob‐ wohl sie alle „allein“ gelten, belegt, dass sie in einem unlöslichen Zu‐ sammenhang zueinander stehen. Man muss in jedem „allein“ die an‐ deren Exklusivartikel mitdenken. Martin Luther hat seinerzeit die christliche Grundeinsicht wieder entdeckt, dass der Mensch von Gott nicht durch eigene Leistungen gerechtfertigt wird, nicht durch gute Werke, sondern allein durch den Glauben (Röm. 3,28). Das ist der sachliche Kern der Reformation. Dieser Kern hat für unser Menschsein eine entscheidende heilsame Be‐ deutung, auch wenn die Begriffe „gute Werke“ und „Rechtfertigung“ aus unserem Sprachschatz weitgehend verloren gegangen sind. Wer mit solchen Wörtern keine Übung hat, könnte sich daher fragen, wozu eine Rechtferti‐ gung ohne gute Werke nützlich ist. Und vielleicht werden nur wenige Leute das Bedürfnis haben, dass Gott sie rechtfertigt. Dennoch scheinen Menschen grundsätzlich das Bedürfnis zu haben, gerechtfertigt zu werden. Sie sehnen sich danach, dass ihnen jemand anderes sagen möge, dass sie im Recht sind. Normalerweise kommen wir damit aus, dass wir selbst mit uns im Reinen sind. Aber sobald Konflikte mit anderen Menschen auftreten und wir zur Rede gestellt werden oder sich andere über uns ärgern oder enttäuscht sind, reicht es uns nicht mehr aus, dass wir mit uns selbst einverstanden sind. In solchen Situationen reicht es uns auch nicht mehr, dass wir es uns einreden, dass wir mit uns einverstanden sind. Dann hilft es, wenn jemand anderes uns das versichert. Wir fangen an, von unserem Konflikt zu erzäh‐ len. Wenn wir dann das Gespräch wiedergeben, locken wir unsere Ge‐ sprächspartner bereits mit dem Tonfall, sich auf unsere Seite zu stellen. Während wir unsere Stimme verstellen, wenn wir die Äußerungen unserer
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27 Was „allein“ hilft
Streitpartner wiedergeben, geben wir unsere Äußerungen in unserem na‐ türlichen Ton wieder. Und gute Freunde hören den Appell sofort heraus und werden parteiisch sein. Vielleicht geben sie uns nicht Recht, aber immerhin werden sie rücksichtsvoll mit uns umgehen, wenn sie Einwände gegen unser Verhalten haben. Doch am liebsten hätten wir jetzt eine Selbstbestätigung durch unsere Zuhörer. So verlaufen Gespräche. Und übrigens sehr viele Gespräche! Vielleicht fast alle! Allein weil andere Menschen anders sind als wir, sind wir verun‐ sichert in unserem Standpunkt. Sogar fremde Menschen, mit denen wir kein Wort gewechselt haben, können uns einfach durch ihr Dasein provozieren, nach Bestätigung für unser Dasein zu suchen. Scheinbar belanglose Witze über die Sitznachbarin im Bus, die gerade ausgestiegen ist, wären es den Aufwand nicht wert, wenn uns diese Frau nicht in Frage stellen würde. Treffe ich nun tatsächlich einen Freund, der mir die erhoffte Selbstbestä‐ tigung gibt, beruhigt mich das schon. Aber macht es mich richtig zufrieden? Ist denn mein Freund in einer besseren Lage als ich, um den Konflikt zu beurteilen? Und bei der Frau vom Bus: Hat mein Freund die Kollision be‐ seitigt, die mit ihrem Dasein zusammenhängt, indem er über meine Witze lacht? Voll beruhigt kann ich nur über meine Freunde sein, wenn das, was sie sagen, für mich voll glaubwürdig ist. Wenn ich sicher sein kann, dass die Freunde mir nicht nur schmeicheln und mich nicht nur beruhigen wollen – und wenn sie in der besten Position sind, hier eine Entscheidung herbeizu‐ führen, dass ich im Recht bin. An diesem Punkt setzt Luthers Kernbotschaft an: Ich bin gerechtfertigt, aber nicht durch gute Werke, sondern durch Glauben. Menschen können nie sicher sein, dass ihre Perspektive ultimativ ist, um zu entscheiden, wer im Recht ist.19 Das trifft auf die eigene Perspektive zu, aber auch auf die Per‐ spektive unserer Freunde, die sich für uns entscheiden. Den Konflikt können sie damit nicht endgültig beseitigen, weil ihr Verhalten zwar bestimmt gut gemeint ist, aber nicht unbedingt auch die richtige Wahl. Vielmehr muss die Perspektive dazu auch über allen Zweifeln erhaben sein. Deshalb stillt das Problem nur eine Perspektive, die sich nicht irren kann und sich nicht täuschen lässt. Ich bin gerechtfertigt, weil Gott mir sagt, dass ich im Recht bin. Mit guten Werken kann ich mich nicht beruhigen. Im Konflikt reicht mir das nämlich nicht, dass ich mir selbst sage, dass ich doch 19
Sektion 18. 1.
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genug oder alles „getan“ habe. Am glaubwürdigsten ist diese Mitteilung, wenn Gott sie äußert, nicht nur Freunde. Denn Gott greift viel effektiver in diese ganze Geschichte ein als unsere besten Freunde. Er verändert nämlich wirklich etwas, indem er uns Recht gibt und zugleich unserer Gegenseite. Sogar Jesus hat kein Recht bekommen durch seine guten Werke. Aber Gott hat Jesus von den Toten auferweckt und ihm dadurch Recht gegeben. Kein gutes Werk hat Jesus hier geholfen. Auch sonst hat ihm niemand Recht gegeben. Allein Gott setzt ihn ins Recht, und zwar so, dass er dabei was effektiv ändert. Gott ist dadurch glaubwürdig. Somit wird bereits Jesus ge‐ rechtfertigt allein durch den Glauben – nicht weil ihm Sünden hätten ver‐ geben werden müssen, sondern weil selbst seine guten Werke nichts daran ändern, dass er in seinen tödlichen Konflikten mit anderen total in Frage gestellt worden ist. Was sich mit Jesus ereignet hat, greift wirksam ein in unsere ganze Ge‐ schichte von Selbstbestätigung, Selbstzweifeln und Rechthaberei. Das Ge‐ schehen Jesu hat klar gemacht, dass wir nur durch Gottes Rechtfertigung gerecht werden, nämlich allein durch den Glauben. „Allein durch den Glauben“ heißt hier: Wir sind gerecht, weil wir Gott für glaubwürdig halten, weil er auch glaubwürdig ist. Unsere Rechtfertigung hängt nicht einmal davon ab, dass wir an Gott glauben, sondern dass Gott glaubwürdig ist. Aber unsere Rechtfertigung kann von uns nur im Glauben angenommen werden, indem wir uns an Gottes Perspektive orientieren, die wir selbst nicht einnehmen können. Immer wieder ermahnen Christen andere Menschen, dass man nur an Gott glauben müsse, um gerecht zu werden. Das klingt so, als ob es eine moralische Leistung ist, an Gott zu glauben. Auch wenn Gott angeblich nicht viel von uns Menschen verlangt, wenn wir „nur“ glauben müssen, müssten wir immerhin glauben. Ich halte das für ein Missverständnis. Glauben ist kein gutes Werk, nicht einmal ein kleines. Wenn ich glauben „müsste“, dann würde meine Rechtfertigung wieder davon abhängen, dass ich mich selbst bestätige. Und dann wiederholt sich die ganze Geschichte wieder: Glaube ich eigentlich genug? Und wer kann es richtig beurteilen, dass ich genug glaube? – Ein Glaube, den wir glauben „müssen“, löst damit nicht das Pro‐ blem, wie wir im Recht sein können, sondern wiederholt es nur, so dass man nicht aus dieser Spirale ausbrechen kann. Ich kann mich ja nicht durch mei‐ nen Glauben selbst bestätigen. Das könnte ich nur, wenn ich an mich glaube.
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Aber in Konflikten zweifle ich ja gerade an mir. Ich kann nur bestätigt wer‐ den, wenn ein glaubwürdiger Anderer mich bestätigt. Martin Luthers Kernbotschaft hat für unser Menschsein eine ungebro‐ chene Bedeutung. Wir haben das Bedürfnis, im Recht zu sein. Dieses Be‐ dürfnis ist menschlich. Was auf dem Spiel steht, ist, ob dieses Bedürfnis in unserem Leben auch gestillt wird. Es steht nicht auf dem Spiel, ob wir auch wirklich im Recht sind. Denn wenn wir von allem absehen, was wir selbst bewerkstelligen können oder was uns andere gutgemeint aus einer unzu‐ reichenden Perspektive versichern können, dann dringen wir zur Perspek‐ tive vor, die definitiv glaubwürdig ist. Diese glaubwürdige Perspektive ver‐ bindet sich also mit uns über den Glauben. Und das heißt: Gott hat uns ins Recht gesetzt. Auf dem Spiel steht, ob Gottes Rechtfertigung uns wirklich beruhigt. Wer sich ohne Gott beruhigen will, kann nicht endgültig beruhigt werden. Wer beruhigt ist, glaubt. Literatur zur Vertiefung
M. Luther: Vom unfreien Willensvermögen, 289–295 (WA 18 634–637) – Wenn Gott allein die menschliche Seligkeit wirkt, hat der Mensch eben‐ darum keinen eigenen Maßstab, um Gutes zu beurteilen, geschweige denn zu tun. Folglich muss er Böses tun und auch einen bösen Willen haben.
27.1 Allein Christus (Kol. 2, 3-10) In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Ich sage das, damit euch niemand betrüge mit verführerischen Reden. Denn obwohl ich leiblich abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch und freue mich, wenn ich eure Ordnung und euren festen Glauben an Christus sehe. Wie ihr nun den Herrn Christus Jesus angenommen habt, so lebt auch in ihm und seid in ihm verwurzelt und gegründet und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und seid reichlich dankbar. Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, ge‐ gründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig,
27.1 Allein Christus (Kol. 2, 3-10)
und an dieser Fülle habt ihr teil in ihm, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.
„Solus Christus“, wie es die Reformation sagte: Allein Christus. „In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.“ Alle Schätze – also alles allein in ihm! Machen wir uns klar, was Christen mit dieser Aussage zurückweisen! Zum einen können Menschen mit ihrer menschlichen Vernunft nicht mehr sehr viel anfangen. Mit wissenschaftlicher Erkenntnis ist es vorbei, die nichts davon begreift, was man begreifen soll. – Zum anderen verdanken sie auch keinem Gott im Himmel ihre Erkenntnis. Ein solcher Gott spielt für das Leben keine Rolle, weil Gott nicht mehr im Himmel ist: „In Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“. Was Gott ist, wird uns jetzt leibhaftig vor Augen geführt. Beides mutet uns viel zu, einfach weil Menschen beide Zugänge bisher segensreich erlebt haben: Wissenschaftliche Erkenntnis ist eine segensrei‐ che Erkenntnis. Dem Denken verdanken wir medizinische Hilfe und Er‐ leichterung im Leben. Sollten wir das wirklich aufgeben und einfach an das Solus Christus glauben? Nimmt uns Christus denn das Denken ab? Über‐ nimmt er das jetzt für uns? Aber auch ein Gott im Himmel ist für uns Gläubige segensreich. An einen Gott im Himmel kann man von überall beten. Er ist uns überall gleich nahe. Sollten wir das wirklich aufgeben und einfach an das Solus Christus glau‐ ben? Ein leibhaftiger Gott, der aber nicht gleichzeitig überall sein kann und für den zum Beispiel kein Raum in der Herberge war (Lk. 2,7)? Diese Kontroverse ist missverständlich. Es geht nicht darum, an Christus zu glauben und damit das Denken abzuschaffen oder das Flehen zum Him‐ mel aufzugeben. Das alles wären nur dann Alternativen, wenn der leibhaf‐ tige Gott einen bestimmten Platz zugewiesen bekommt irgendwo auf der Erde. Dann könnten wir wählen zwischen verschiedenen Alternativen: zwi‐ schen diesem Platz, wo der Leibhaftige sitzt, und dem Himmel; oder zwi‐ schen diesem Platz und der freien Vernunft. Das Solus Christus meint aber etwas anderes: Der leibhaftige Gott hat nicht irgendwo auf der Erde seinen Platz; vielmehr verändert der leibhaftige Gott die Plätze, an die er kommt. Es sind nicht mehr die alten Plätze, nachdem er gekommen ist. Die Futterkrippe ist zu einer Kathedrale geworden. Und bei solchen neu gewordenen Plätzen kann man nicht mehr wählen, ob sie für uns eine Rolle spielen.
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Dann geht es nicht um die Alternative zwischen Christus und der freien Vernunft. Sondern dann ist vernünftiges Denken nur noch möglich mit Christus. – Und es geht nicht um die Alternative zwischen Christus und einem Gott im Himmel. Vielmehr kann man jetzt den Himmel nur verstehen durch Christus. Christus schafft also das Denken nicht ab, sondern er führt es zu seiner Erfüllung. Die menschliche Vernunft wird nicht unfrei, wenn Gott leibhaftig gewor‐ den ist. Aber sie wird an den Kontext der Anwesenheit Christi gebunden. Wir sind nämlich in einen Entscheidungszwang20 hineingeraten, der beides umfasst, Freiheit und Bindung. Das ist gerade deshalb der Fall, weil Gott leibhaftig geworden ist. Von einem leibhaftigen Gott kann man sich nicht mehr folgenlos distanzieren. Von einem Gott im Himmel, der weit weg ist, schon. Aber ein leibhaftiger Gott zwingt uns in die Entscheidung, ob wir die Wirklichkeit anerkennen wollen, die mit seiner leibhaften Existenz verbun‐ den ist. Zwar könnten wir uns auch dazu entscheiden, dieser Wirklichkeit auszuweichen – aber dann nur auf Kosten der Vernunft. Leibhaftige Begegnungen verändern immer grundsätzlich unser Denken und Tun. Es ist etwas anderes, ob ich mich über jemanden Abwesenden ärgere oder ob er leibhaftig vor mir steht. Dann muss ich mich überwinden, um ihn zu verurteilen. Denn die Wahrheit des Anderen begegnet mir leib‐ haftig. Ich könnte mich schon überwinden und diese Person attackieren. Aber allein dass ich mich dabei überwinden muss, beweist die Macht leib‐ haftiger Anwesenheit. Sich zu überwinden, kann daher immer nur das Zweite sein, nachdem die Wahrheit des Anderen bereits begegnet ist. Und sie ist damit das Erste, was ich anerkennen muss, bevor ich mich von ihr distanziere. Ebenso kostet es Überwindung, sich Gott zu verweigern, der leibhaftig uns gegenübertritt. Deshalb „liegen in Christus verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“, weil alle gut gemeinte Philosophie im Ange‐ sicht eines Menschen versagt, der uns leibhaftig die Macht der Anwesenheit offenbart. Jetzt können wir nur noch wählen, ob wir unsere Vernunft ein‐ setzen wollen, indem wir dabei diese Wahrheit anerkennen, die vom Ande‐ ren ausgeht – oder ob wir der Wirklichkeit ausweichen und inkonsequent denken und handeln. Das Solus Christus will damit gerade nicht die Intoleranz predigen. Es will nicht sagen, dass alle Religionen unvernünftig sind außer dem Christentum, 20
Sektion 22. 2.
27.2 Allein durch das Wort (Mk. 13, 31)
weil nur hier Gott leibhaftig wird. Ich glaube sogar, dass sich Christus in anderen Religionen auch leibhaftig zeigt. Auch da verschlägt es uns die in‐ tolerante oder arrogante Sprache, wenn wir religiösen Muslimen gegen‐ überstehen oder Juden oder Buddhisten. Auch da versagt im Angesicht des Anderen jede menschliche Philosophie. Und zwar deshalb, weil wir uns nicht vernünftig distanzieren können, wenn uns die Herrlichkeit Christi leibhaftig gegenübersteht. Die Herrlichkeit Gottes ist leibhaftig geworden. Das bestimmt uns alle ganz und gar, die Menschen aller Religionen und auch die unreligiösen Menschen. Gott verändert alle Plätze dieser Erde. Wer das nicht bekennen will, der könnte auch nicht „Solus Christus“ bekennen. Literatur zur Vertiefung
E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, 63–67. – Das Phänomen, dass mir das Antlitz eines Anderen gegenübertritt und damit überhaupt erst alle Bedeutungen prägt, die ich denken kann, hat Levinas in seinen Schriften beschrieben. Das Antlitz des Anderen ist darum unendlich, weil es den Horizont meiner Bedeutungen bildet. Selbst eine Idee von Unendlichkeit kann ich nicht aus mir heraus entwickeln, weil mein Denken ohne die Begegnung des Anderen begrenzt ist. D. Bonhoeffer: Sanctorum Commmunio, 32–35, 90–92. – Auch Bonhoeffer versteht die Begegnung mit einem Anderen als absolutes Ereignis und Gottesbegegnung, bei der das Ich an Grenzen stößt. Diese Grenzen wer‐ den erst aufgehoben, indem Christus als Ich in die Begegnung eingeht und mich vor dem Anderen vertritt. „Solus Christus“ bedeutet, dass nur Christus mein Stellvertreter ist.
27.2 Allein durch das Wort (Mk. 13, 31) Jesus sagt: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“
Wie können Worte bleiben, wenn alles andere vergeht? Wenn Himmel und Erde einst vergehen werden, dann werden auch die Buchstaben vergehen, mit denen Worte geschrieben sind. Es werden auch die Ohren vergehen, die Worte hören können. Und es wird der Mund vergehen, der sie aussprechen kann.
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Selbst wenn Jesu Worte bleiben und sein Mund diese ewigen Worte weiter aussprechen wird, welchen Sinn haben sie dann noch, wenn sie niemand hört? Selbst wer dieses Rätsel für sich so lösen will, dass sich Jesus auf ein Jen‐ seits hinter Himmel und Erde bezieht, müsste auch davon ausgehen, dass es dort nicht nur Worte gibt. Auch im Jenseits muss es etwas geben, worauf sich Jesu Worte beziehen. Und es muss jemanden geben, der sie hört, damit sie überhaupt einen Sinn ergeben. Dieser Ausspruch Jesu entdeckt das Geheimnis von Worten – nicht nur fürs Jenseits, sondern für jede Realität. Wenn es Worte gibt, dann muss es immer auch etwas anderes geben. Und wenn es nichts gibt außer Worte, dann erschaffen Worte etwas. Worte erschaffen die Welt, auf die sie sich beziehen, und sogar die Wesen, für die sie einen Sinn ergeben. So sehr dieser Ausspruch ein fern liegendes Gedankenexperiment vom Ende der Welt einschließt, so nachvollziehbar ist doch, was er über das Phänomen von Worten sagt. Denn zweifellos stellen Worte Beziehung her, sonst wären sie keine Worte. Sie beziehen sich auf etwas. Und diese Bezie‐ hung kommt durch Worte zustande. Darin sind Worte schöpferisch. Ebenso beziehen sich Worte auf jemanden. Sie sollen verstanden werden von je‐ mandem, der sie hören oder lesen kann. Himmel und Erde mögen also vergehen, aber solange es Worte gibt, wird es mindestens auch Beziehungen geben. Das Gedankenexperiment ergibt, dass, selbst wenn es gar nichts gäbe, sich Worte darauf beziehen würden, dass es nichts gäbe. Und damit erschaffen Worte schon wieder eine Bezie‐ hung. Und sie schaffen damit, dass es doch etwas gibt. Diese Einsicht über die Macht von Worten zieht sich durch die ganze Bibel. „Im Anfang war das Wort“ sagt das Johannesevangelium (Joh. 1,1). Und al‐ lein das Wort erschafft sich eine Welt. Das Wort war das Licht. Und das Licht scheint in der Finsternis. Das Wort erschafft aus dem Nichts etwas. Es er‐ schafft Beziehungen, wo vorher nichts war. Das trifft nicht nur auf Worte zu, die Gott ausspricht. Vielmehr haben Worte immer diese göttliche Kraft. Auch unsere Worte können Beziehungen herstellen zwischen Dingen, die „an sich“ zueinander keine Beziehung ha‐ ben. Und wir können mit Worten Menschen ansprechen, die sonst teil‐ nahmslos an uns vorbeigehen würden. Menschen kommen überhaupt erst zu sich selbst, weil sie angesprochen werden und weil Worte sich auf sie beziehen. Mein Selbstbewusstsein entsteht erst dadurch, dass jemand ande‐ res zu mir „Du“ sagt. Ohne diese Erfahrung wäre ich beziehungslos. Ohne
27.2 Allein durch das Wort (Mk. 13, 31)
diese Erfahrung würde alles, was ich wahrnehme und erlebe, irgendwie verschwimmen – beziehungslos ineinander. Zum Glück aber machen wir die Erfahrung, dass uns andere ansprechen. Durch das Wort der anderen trete ich zu mir in Beziehung und werde ein Individuum. Ich gewinne eine Beziehung zu mir selbst und endlich auch zu etwas anderem. Das alles entsteht dadurch, dass andere zu mir in Beziehung treten. Worte erschaffen die Beziehung des Menschen zu sich selbst und zur Welt. Noch einmal: Das liegt an der kreativen Kraft der Worte und nicht daran, wer sie ausspricht. Diese schöpferische Kraft der Worte geht in diese Welt ein. Ebenfalls findet sich im Prolog des Johannesevangeliums: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh. 1,14). Das unvergängliche Wort kommt nun selbst in die vergängliche Welt. Jesu Worte, die nicht vergehen, kommen auf die Erde, die einmal vergehen wird. Damit werden der ver‐ gängliche Himmel und die vergängliche Erde eingehüllt von der Macht des unvergänglichen Wortes. Und aus der vergänglichen Welt kann nun das Wort unvergängliche Beziehungen erschaffen. Wo vorher Gottes Wort den Menschen erschaffen hat, ist Gott nun selbst ein Mensch geworden. Seine Worte werden nie vergehen, während selbst der Mensch, der solche unver‐ gänglichen Worte sagt, einmal vergehen wird, so wie Jesus einst sterben musste. Und doch sind sie unvergängliche Worte, weil sie sich stets auf etwas beziehen und damit aus dem Vergänglichen heraus Neues entstehen lassen. Himmel und Erde werden zwar vergehen. Solange aber Worte da sind, wer‐ den sie die Welt immer wieder erschaffen. Literatur zur Vertiefung
E. Jüngel: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 169–201. – Weil das Wort sowohl Wahres aussprechen als auch Menschen ansprechen kann, kann es sowohl gerecht sprechen als auch gerecht machen. Im Wort tritt ein hörender Mensch aus sich heraus und findet außerhalb seiner selbst seine Mitte.
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27.3 Allein aus Glauben (Treue, Röm. 3,28)
pistis
Das griechische Wort, das meistens mit „Glaube“ übersetzt wird. Im Neuen Testament wird aber öfter auch von der pistis Gottes geredet. In diesen Fällen hat Luther das griechische Wort mit „Treue“ übersetzt.
Martin Luthers zentrale Entdeckung in seinen Bibelstudien war eine Stelle aus dem Römerbrief im 3. Kapitel. Luther hat diese Stelle so ins Deutsche übersetzt: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.
Eine befreiende Bibelstelle für jemanden, der Angst hat vor einem strafenden Gott – so wie Luther zunächst Angst hatte. Gott hätte Anlass, die Menschen zu strafen, weil sie Fehler machen, weil sie Gesetze missachten und mut‐ willig unterlassen, gute Werke zu tun. Jetzt aber musste Luther keine Angst mehr haben vor dem jüngsten Ge‐ richt und vor einer ewigen Höllenstrafe, weil in der Bibel ein anderes Kri‐ terium zu finden ist, wie Menschen gerecht werden können: aus Glauben nämlich. Überspitzt heißt das: Ein gerechter Mensch tut nicht das, was von ihm gefordert wird – sondern ein gerechter Mensch glaubt an Gott. Nun ist das zwar eine beruhigende Entdeckung für jemanden, der Angst vor einem strafenden Gott hat. Aber es ist eine merkwürdige Definition da‐ für, was ein gerechter Mensch ist: Ist es wirklich gleichgültig, was glaubende Menschen tun? Kann also ein Mensch, der an Gott glaubt, sich alles leisten, ohne dass er dafür von Gott bestraft wird? Und umgekehrt nicht? Ein Mensch, der zwar nicht an Gott glaubt, aber gutmütig ist und Menschen hilft – der soll etwa ungerecht sein? Würde Gott gar solche Menschen bestrafen, die einer anderen Religion angehören oder gar keiner und die trotzdem Gu‐ tes tun? Dieses Problem hat man den Anhängern Luthers vorgeworfen. Es scheint, dass die Reformation die Menschen nicht besser gemacht hat, sondern schlechter. Den Menschen kann es jetzt gleichgültig sein, ob sie Gutes oder Schlechtes tun. Der Glaube ist ein Deckmäntelchen ihrer unmoralischen Verstöße gegen die Menschlichkeit.
27.3 Allein aus Glauben (Treue, Röm. 3,28)
Die Anhänger der Reformation haben sich schwer getan gegen diesen Vorwurf, nämlich so, dass zum Schluss nichts mehr davon übrig blieb, dass der Mensch gerecht wird allein aus Glauben. Reformatoren haben nämlich den Glauben selbst zu einem guten Werk gemacht, etwa mit folgender Be‐ hauptung: „Du musst zwar nur glauben. Aber wenn du glaubst, dann tust du immer auch das Richtige und erfüllst alle Forderungen der Mitmensch‐ lichkeit.“ Wer also glaubt, tut automatisch gute Werke. An dieser Reaktion überzeugt einiges nicht. Ist jetzt der Glaube nur das Mittel zum Zweck? Und der eigentliche Zweck ist jetzt doch, gute Werke zu vollbringen? Dann hätte Paulus deutlich übertrieben. Der Mensch wird dann doch gerecht durch gute Werke. Aber man tut sie eben besser, wenn man glaubt. – Und ein anderes Problem steckt in dieser Forderung: „Du musst nur glauben!“ Wenn wir glauben müssen, dann müssen wir ja doch etwas vollbringen. Dann ist der Glaube also selber ein gutes Werk. Und dann be‐ steht kein Gegensatz zwischen Glauben und dem Vollbringen guter Werke. Somit hätte Paulus schon wieder übertrieben. Und Luther hätte vielleicht doch weiter Angst haben sollen vor einem strafenden Gott. Eine zentrale reformatorische Entdeckung bedeutet, dass Christen auch über die Entdeckungen des Reformators Luther hinausgehen dürfen. Evan‐ gelische Christen müssen nicht annehmen, dass Luther immer Recht hatte. Und man sieht eben an dieser Bibelstelle, dass es merkwürdig wird, wenn man denkt, dass der Mensch tun und lassen kann, was er will, solange er an Gott glaubt, und dann schon gerecht wäre. Schauen wir also selbst in den Bibelvers, der für Luther die zentrale Ein‐ sicht wurde! Was steht dort wirklich? Das griechische Wort für „Glaube“ heißt „Pistis“. Aber nicht immer, wo im Griechischen „Pistis“ steht, hat Lu‐ ther „Glaube“ übersetzt. Es gibt nämlich Bibelstellen, da würde das Wort „Glauben“ keinen Sinn ergeben. An etlichen Stellen ist nämlich von der Pistis Gottes die Rede. Hätte Luther das auch mit „Glaube“ übersetzt, dann würde Gott ja auch an irgendwen glauben. Aber an wen sollte Gott glauben? Deswegen hat Luther zu Recht an diesen Bibelstellen ein anderes deut‐ sches Wort benutzt: nämlich „Treue“. Auch in einer anderen Bibelstelle heißt es nach Luthers Übersetzung: „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu.“ (2. Thess. 3, 2-3) Natürlich passt es schlecht zu sagen: „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber Gott glaubt.“ Gott glaubt? An wen sollte Gott glauben? Verständlich, dass Luther das Wort „Pistis“ mit Treue übersetzt, wenn es um Gott geht.
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Aber könnte es nicht hier auch sein, dass die Treue nicht jedermanns Ding ist? Dann würde die Stelle so heißen: „Die Treue ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu.“ Könnte nicht das Wort „Glaube“ eigentlich „Treue“ bedeuten?21 Was sagen Christen eigentlich, wenn sie sagen: „Ich glaube an Gott“? Etwa dass sie vermuten: Es könnte einen Gott geben? Oder etwa dass sie es eigentlich nicht wissen? In erster Linie meinen sie doch, dass sie fest an Gott gebunden sind und nicht von ihm loskommen. Sollte man daher bei Luthers Lieblings-Bibelstelle aus dem Römerbrief vielleicht auch „Treue“ einsetzen und nicht das Wort „Glauben“? Mir scheint das vernünftig zu sein. Dann klingt diese Bibelstelle so: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird allein durch Treue, ohne des Gesetzes Werke.“ Was ändert sich dadurch? Treue ist für Paulus eine Eigenschaft Gottes, nicht des Menschen. Das würde also heißen, dass der Mensch nicht durch das gerecht wird, was er machen kann. Sondern der Mensch wird gerecht durch das, was Gott vollbringt: durch seine Treue zum Menschen. Der Unterschied liegt nicht zwischen Glauben und guten Werken, sondern zwischen menschlichen Werken und Gottes Treue. Tatsächlich ist Treue eine Eigenschaft Gottes und keine menschliche Ei‐ genschaft. Das liegt daran, dass sogar untreue Menschen der Treue Gottes nicht entkommen können. Treue ist ein interessantes Phänomen: Sie bindet Menschen aneinander, sogar wenn sie gar nicht treu sein wollen. Solche Situationen gibt es. Und an ihnen merkt man, dass Treue etwas Über‐ menschliches ist. Wie ist es dann möglich, dass sich Menschen untreu sind, wenn Treue doch etwas Übermenschliches ist, was an uns haftet? Vielleicht ist ja die Untreue menschlich, aber die Treue übermenschlich. Beides kann uns gleichzeitig widerfahren. Ich will ein Beispiel geben, dem ich als Seelsorger immer wieder begegne: Wenn ich mit den Hinterbliebenen eines verstorbenen Vaters zusammen‐ sitze, erzählen sie mir oft, wie intensiv sie ihn in den vergangenen Monaten gepflegt haben. Und ab und zu passiert es, dass sie mir gestehen: „Unser Vater war ein böser Mensch.“ Sie erzählen mir dann manchmal davon, wie lieblos sie als Kinder von ihm behandelt wurden, wie oft er sie enttäuscht hat und wie streng er war. Ich frage dann manchmal: „Wie konnten Sie das auf sich bringen, Ihren Vater so intensiv zu pflegen, wo Sie doch immer unter ihm gelitten hatten?“ Und eigentlich immer ist die Antwort die gleiche: „Er ist doch unser Vater!“ 21
L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 80 ff.
27.3 Allein aus Glauben (Treue, Röm. 3,28)
Das ist ein Beispiel, wie sogar ein untreuer Vater, der im Leben seinen Kindern nicht gerecht wurde, mit ihnen so eng verbunden ist, dass es für die Kinder selbstverständlich ist, ihn zu pflegen. Es besteht eine Bindung zwi‐ schen diesem Vater und seinen Kindern, für die niemand etwas kann: der Vater nicht, denn er ist seiner Vaterschaft nie gerecht geworden; und die Kinder nicht, denn sie wären ihm am liebsten aus dem Weg gegangen, weil sie immer unter ihm gelitten haben. Sie pflegen ihn aber trotzdem. Was Vater und Kinder hier bindet, ist nichts, was Menschen tun können – sondern die Treue, die zwischen ihnen besteht. Niemand kann etwas dafür, dass diese Treue da ist. Und die Treue verschwindet auch nicht, wenn jemand untreu wird – so wie dieser Vater. Treue ist keine menschliche Eigenschaft, sie ist nicht in Menschen, sondern befindet sich zwischen ihnen. Sie ist eben eine übermenschliche Kraft – eine Eigenschaft Gottes, wie es Paulus im Römer‐ brief beschreibt. Aber diese Treue schafft es, dass Menschen sich gerecht verhalten kön‐ nen. Es ist sogar selbstverständlich, sich gerecht zu verhalten. So anstren‐ gend es auch für Angehörige ist, einen Sterbenskranken zu pflegen, so ein‐ fach ist auch die Antwort, warum sie es tun: „Er ist doch unser Vater!“ Und es ist anscheinend leichter, sogar seinem untreuen Vater treu zu bleiben, als sich ihm gerade jetzt zu entziehen. Menschen können sich zwar auch dazu entscheiden, den Vater im Stich zu lassen. Aber es kostet sie sehr viel mehr Kraft und Überwindung. Die Kraft, die man nämlich dazu überwinden muss, ist die Kraft der Treue – das dicke Band zwischen Menschen. Dieses Band zieht sehr fest. Es kann ein schlechtes Gewissen machen. Und es kann Men‐ schen auf einmal dazu bringen, doch noch einen letzten Besuch beim Vater abzustatten, weil man sonst schrecklich unglücklich wäre. Der Mensch wird gerecht allein aus Treue. Menschen lassen sich von die‐ sem starken Band ziehen, um das zu tun, was die Treue von ihnen verlangt. Was Gott von uns will, steht nicht in Worten von Gesetzen geschrieben. Sondern das spüren wir unmittelbar in zwischenmenschlichen Beziehungen. Und wir erkennen unmittelbar an, was von uns in diesen Situationen ge‐ fordert ist. Deshalb ist der Mensch gerecht. An der Treue kann sich der Mensch überprüfen. Literatur zur Vertiefung
K. Barth: Der Römerbrief, 16 f. – Barth übersetzt das griechische Wort „pis‐ tis“ mit Treue, lässt aber den menschlichen Glauben als gleichberechtig‐ ten Begriff daneben stehen: „Es ist dasselbe“ (17).
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L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 80–84. – Hier gebe ich eine de‐ taillierte Begründung für meinen Vorschlag, „pistis“ mit Treue zu über‐ setzen und sie damit als eine Eigenschaft Gottes zu verstehen.
27.4 Allein aus Gnade (Heb. 12, 12-18.22-25a) Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und macht sichere Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde. Strebt Frieden an mit allen und Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; damit keine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie unrein werden; damit nicht jemand sei ein Abtrünniger oder Heilloser wie Esau, der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte. Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Umkehr, obwohl er sie mit Tränen suchte. Denn ihr seid nicht gekommen mit Tasten und mit brennendem Feuer, nicht in Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter. Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln, und zu der Festversammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut. Seht zu, dass ihr das nicht abweist, was da redet.
Martin Luther mochte den Hebräerbrief nicht besonders, weil dort die Bot‐ schaft zu kurz kommt, dass Gott gnädig ist – etwa auch wie hier, wo sich Menschen anscheinend selbst stärken können, um selbst zu Gott zu finden: „Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie.“ Noch einmal stärker formuliert die Textpassage: „Seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume.“ Wie passt das zu Luthers Einsicht „allein aus Gnade“? Immerhin spricht auch der Hebräerbrief von Gnade. Und offenbar haben wir bereits Gottes Gnade empfangen. Sogar mit starken Worten schreibt er davon. Wir sind nämlich sogar schon im Himmel: „Ihr seid gekommen zu
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der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem.“ Dorthin ka‐ men wir nicht von alleine, sondern durch Jesus, den der Hebräerbrief den Mittler nennt. Wir haben also bereits Gnade empfangen – so viel Gnade, dass wir jetzt bereits im Himmel ein Wohnrecht erworben haben. Also meint der Briefverfasser wohl: Wenn ihr doch schon im Himmel seid, passt auf, dass ihr nicht mehr herausfallt. Ihr seid zwar aus Gnade drin. Aber ihr könnt durch euren Mutwillen auch wieder herausfallen. Das wiederum leuchtet ein. Denn wer Gottes Gnade empfangen hat, ist ein anderer Mensch geworden. Und ein anderer Mensch kann sich nicht so verhalten, als wäre nichts gewesen. Wer jetzt schon von der himmlischen Festatmosphäre er‐ fasst worden ist, kann sich nicht gleichzeitig glanzlos verhalten. Tatsächlich lassen sich Menschen von der Atmosphäre einer Situation stark leiten. Was wir richtig finden und was wir tun, hängt davon ab, mit wem wir zusammen sind und wie die Stimmung ist. Wenn ein fröhlicher Mensch in ein Zimmer kommt, wo alle anderen Menschen weinen, muss er sofort aufhören zu lachen – übrigens auch, wenn er dabei nicht selbst traurig wird. Dennoch verbietet ihm die Atmosphäre, fröhlich zu sein. Stattdessen wird er sich jetzt taktvoll verhalten, unauffällig oder sogar versuchen, die Anwesenden zu trösten. Es wäre spürbar unangemessen, wenn dieser Mensch jetzt Witze reißen würde. Wie sich ein Mensch verhält, hängt von der Atmosphäre ab, in der er sich gerade aufhält.22 Sind Christen von der himmlischen Festatmosphäre erfasst, wäre es also schlimm, wenn sie sich glanzlos verhalten würden. Sonst wären sie ja gar nicht erfasst von der himmlischen Festversammlung. An einer Formulierung in diesem Bibelwort fällt besonders auf, wie der Briefschreiber vor allem die Atmosphäre im Blick hat und was es anrichten kann, wenn man sich in dieser glanzvollen Atmosphäre glanzlos verhält: „Seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; damit nicht viele dadurch unrein werden.“ Ein unpassendes Verhalten kann also die ganze Atmosphäre belasten. Wie wäre es nämlich, wenn der fröhliche Mensch in dem Zimmer, in dem alle weinen, doch einen taktlosen Witz machen würde? Vermutlich wären die traurigen Menschen unglaublich ärgerlich. Und statt Trauer würde man jetzt Wut spüren. Die Trauernden wären so empört, dass sie den fröhlichen Menschen am liebsten rauswerfen würden. Aber zum Glück zwingt uns die Atmosphäre ja auf, wie wir uns verhalten sollen. Sie lässt uns keine Wahl – jedenfalls keine, die wir sinnvoll finden 22
H. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, 25.
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würden. Niemand reißt einen Witz in einem Kreis trauriger Menschen. Und niemand ist abtrünnig oder heillos – wie es der Briefverfasser hier ausdrückt –, wenn er sich im himmlischen Jerusalem befindet. Nun sind wir ja gar nicht im himmlischen Jerusalem – jedenfalls noch nicht. Das wäre einfacher für uns. Wir leben aber noch in der Welt, in der wir unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Wenn junge Eltern ihre Kinder zur Kindertagesstätte bringen, fahren sie ihre Kinder mit dem Auto hin und sind dabei oft schneller, als sie eigentlich dürften. Dann steigen sie aus, um zu Fuß ihr Kind sicher zur KITA zu bringen, und sind dann entsetzt, wie rücksichtslos schnell die Autofahrer gerade hier sind und wie gefährlich das für ihre Kinder ist. Woran liegt das? Man wird von einer ganz anderen Atmosphäre erfasst, ob man Auto fährt oder Fußgänger ist. Die Atmosphäre prägt menschliches Verhalten und sogar das, was man für richtig hält. Deshalb ist es für uns so schwer, uns durchgängig glanzvoll zu verhalten. Wir sind eben nicht nur angerührt von der christlichen Botschaft mit ihrem himmlischen Glanz, sondern haben auch ganz irdische Sorgen und weltliche Bedürfnisse. Ich glaube, dass der Hebräerbrief deshalb so starke Bilder benutzt, wonach wir angeblich schon im himmlischen Jerusalem sind und bereits in diesem ewigen Festraum stehen. Die Leser sollen atmosphärisch angerührt werden, damit sie wissen, wie sie sich angemessen verhalten. Dennoch scheint mir, dass Martin Luther ein Schritt weiter war. Er hat nämlich gewusst, dass die christliche Atmosphäre nicht nur aus Glanz be‐ steht – sondern auch aus Menschen, die Sünder sind. Wer das übersieht, stellt uns Christen unter einen enormen Druck. Nach meinem Eindruck wä‐ ren Christen damit überfordert, immer glücklich zu sein, immer freundlich und anständig. Entsprechende Appelle etwa zu „fröhlichen Gottesdiensten“ errichten dann eher unehrliche Fassaden. Freikirchliche Gemeinden mit einer Größe von bis zu 200 Gemeindeglie‐ dern oder auch kerngemeindliche Milieus in der Volkskirche zerbrechen oft unter diesem Druck. Wenn sich ein Ehepaar in diesem Milieu scheiden lässt, kann das die ganze Gemeinde spalten. Dies passiert dann nicht nur, weil sich die Solidarität unter den beiden Ex-Partnern aufteilt, sondern auch weil der Druck der himmlischen Festversammlung so hoch ist, dass eine solche Tren‐ nung angeblich nicht vorkommen darf. Gescheitert ist der Anspruch, aus eigenen Kräften Hände und Knie zu stärken. Wohl deshalb findet sich in dieser Textpassage auch die andere Wahrheit, dass die Knie oft wanken und die Hände oft müde sind.
27.4 Allein aus Gnade (Heb. 12, 12-18.22-25a)
Martin Luther hat dagegen eingeräumt, dass Schwächen zur christlichen Atmosphäre dazugehören. Das macht die evangelische Kirche aus. Sie ist eine Gemeinschaft der Mühseligen und Beladenen, die zugleich beseelt sind von der Gnade Gottes. Gottes Festatmosphäre trägt die Gemeinde und nicht umgekehrt. Es gehört zur evangelischen Atmosphäre, dass jeder und jede sich überprüft. Die Einzelnen können es aber nicht immer verhindern, selbst diese „bittere Wurzel“ zu sein. Auch dann lassen sie sich auf die Gnade Gottes fallen, die sie auffängt. Christen prüfen sich also selbst, aber verurteilen sich nicht – weder sich selbst noch andere in der Gemeinde. Diese Spannung gehört zur Atmosphäre des Evangeliums. Und alle, die nicht vor lauter Erlösung ein fröhliches Ge‐ sicht machen können, sind genauso getragen von Gottes Gnade wie all die anderen Sünder. Literatur zur Vertiefung
J. Fischer: Leben aus dem Geist, 49–54. – In welchem Geist Personen mit‐ einander kommunizieren, ist ihnen in der jeweiligen Situation vorgege‐ ben. Sie können nicht handeln, ohne in diesem Geist zu kommunizieren. Von dieser Voraussetzung sind sie abhängig. H. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, 23–26. – Darin entfaltet Schmitz, dass Gefühle öffentliche Atmosphären sind, in die auch schein‐ bar unbeteiligte Personen hineingezogen werden können. M. Luther (in: Hirsch: Hilfsbuch, 126–133): Der Glaube ist schwach und an‐ gefochten. Deshalb ist eine glaubende Person beides zugleich, gerecht‐ fertigt und Sünder.
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28 Der Glaube kommt aus der Predigt – Kontroversen der christlichen Kirchen (Apg. 2, 22-23, 32-33.36-39) Ökumene
Der Begriff bezeichnet das Verhältnis der christlichen Kirchen zuein‐ ander, insbesondere das Verhältnis der verschiedenen Konfessionen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich eine weltweite ökumenische Bewegung entwickelt, die durch Dialog und Begegnungen aktiv dieses Verhältnis ausbauen will. Aber auch wenn niemand an einer Intensi‐ vierung der ökumenischen Beziehungen mitwirken würde, besteht doch allein der Sache nach ein ökumenisches Verhältnis zwischen den Kirchen. Das ist deshalb so, weil sie alle christliche Kirchen sind und damit dasselbe Glaubensfundament haben. (Petrus spricht in seiner Pfingstpredigt) Ihr Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus von Nazareth, von Gott unter euch ausgewiesen durch Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst – diesen Mann, der durch Gottes Ratschluss und Vorsehung dahingegeben war, habt ihr durch die Hand von Gesetzeslosen ans Kreuz geschlagen und dahingegeben. Diesen Jesus hat Gott auferweckt; dessen sind wir alle Zeugen. Er ist zur Rechten Gottes erhöht und hat empfangen den verheißenen Heiligen Geist vom Vater. Diesen hat er ausgegossen, wie ihr hier seht und hört. So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr ge‐ kreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat. Als sie aber das hörten, bedrückten sie das Herz, und sie sprachen zu Petrus und den andern Aposteln: Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun? Petrus sprach zu ihnen: Kehrt um, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, und ihr werdet empfangen das Geschenk des Heiligen Geistes. Denn euch und euren Kindern gilt diese Verheißung, und allen, die fern sind, so viele der Herr, unser Gott, berufen wird.
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28 Der Glaube kommt aus der Predigt (Apg. 2, 22-23, 32-33.36-39)
Wie empirische Untersuchungen belegen, gefällt Jugendlichen der Konfir‐ mandenunterricht. Aber je länger der Unterricht dauert, verlieren sie Lust an evangelischen Gottesdiensten. Wie kann dann eine Predigt zum Glauben führen? Anscheinend geben die verschiedenen Kirchen darauf unterschiedliche Antworten. In dieser biblischen Geschichte kann man unterschiedliche An‐ haltspunkte dafür finden, was jeweils den einzelnen christlichen Konfessio‐ nen besonders wichtig ist. Man könnte sagen (1. Position): Der Glaube ist ein Wunder des Heiligen Geistes, ein ekstatisches Ereignis. Petrus hat nur gepredigt, aber der Glaube hat sich einfach ereignet. Es war eben ein Pfingst‐ wunder. Man könnte auch sagen (2. Position): Der Sünder muss bereuen, und dann wird ihm der Glaube geschenkt. Es ist ja interessant, dass die Israeliten nicht einfach ein schlechtes Gewissen bekamen, als Petrus ihnen mehrfach die Verantwortung für den Tod Jesu zuschreibt. Sondern sie machten sich eins: „Sie durchbohrten ihr Herz“, könnte man übersetzen. Und wer aufrichtig bereut, den bringt Gott zum Glauben. Man könnte auch wieder sagen (3. Position): Es lag an der Unfehlbarkeit von Petrus, warum die Leute zum Glauben kamen. Es kommt jedenfalls un‐ vermittelt, dass Petrus jetzt, während er die Leute verklagt, sofort eine Ab‐ hilfe versprechen kann: Sie können sich taufen lassen, und alles ist vergeben. Wie kommt der Mann darauf, dass das so funktioniert? Eine christliche Taufe hatte es bis dahin nicht gegeben. Aber wenn Petrus unfehlbar war, konnte er eine solche geniale Idee haben. Und schließlich könnte man sagen (4. Position): Der schuldige Mensch, der für den Tod Jesu Christi verantwortlich ist, bekommt dafür den Heiligen Geist geschenkt, einfach so, ohne Vorbedingung. Die bedingungslose Liebe Gottes zeigt sich gerade darin, dass die Menschen, die er liebt, gewalttätige Sünder sind. Das alles könnte man dieser Geschichte entnehmen. Und alle Positionen könnten den Satz für sich beanspruchen, dass der Glaube aus der Predigt kommt. Aber alle würden es anders verstehen. Lässt sich aus der zweiten Position ableiten, dass die Predigerin harte Bußpredigten halten soll, damit alle zerknirscht sind und dann zum Glauben kommen, würde die erste Po‐ sition eher den Lobpreis als Predigtgattung vorschlagen, der dazu führt, dass der Heilige Geist wie durch ein Wunder einfach dazukommt. Nach der vier‐ ten Position wäre wiederum der Gestus der Predigerin gleichgültig; sie müsste einfach nur von Christus und seiner Liebe predigen, und alles, was
28 Der Glaube kommt aus der Predigt (Apg. 2, 22-23, 32-33.36-39)
dann passiert, hätte sie nicht mehr in der Hand. Nach der dritten Position wiederum könnte die Predigerin sowieso nicht predigen. Das müssten schon Christen sein, die in der Tradition der Unfehlbarkeit stehen – und das wären ausschließlich Männer und auch nur solche, die sich zum Priester haben weihen lassen. Wenn sich nun eine Predigerin für einen Vorschlag entscheidet, stehen die anderen Möglichkeiten immer noch im Raum. Das kann sie mit ihrer Entscheidung nicht mehr rückgängig machen. Und könnte nicht gerade das der Heilige Geist sein: ein Angebot, das im Raum steht, das aber niemand rückgängig machen kann? Ich schaue noch einmal in die Geschichte und finde es tatsächlich: Auch hier steht etwas im Raum, was niemand rückgängig machen kann. „Gott hat diesen Jesus zum Herrn gemacht, den ihr gekreuzigt habt.“ Den gekreuzigten Jesus kann niemand rückgängig machen. Mit seinem Tod ist der gekreuzigte Jesus nicht einfach verschwunden. Sondern mit der Predigt steht er wieder im Raum. Das holt Menschen wieder ein: „Sie durchbohrten ihr Herz.“ Der Heilige Geist ist die Kraft, die dadurch entsteht, dass etwas im Raum steht, was niemand rückgängig machen kann. Er bringt etwas in Anwesen‐ heit, was Menschen nicht mehr in die Abwesenheit abdrängen können. Denn das merken Anwesende natürlich, dass etwas im Raum steht, was sie nicht mehr rückgängig machen können. Insofern bewirkt eine Predigt die Erkenntnis, dass Anwesende nicht davon loskommen, was im Raum steht, auch wenn es abwesend ist. Die Bibel spricht dann von der Treue Gottes, die beständiger ist als wir Menschen.23 Gläubige Christen erkennen an, was ihnen in der Anwesenheit Gottes passiert ist. Wer ihm wiederum entkommen will, ist trotzdem mit ihr kon‐ frontiert. Sonst könnte man ihr nicht entkommen wollen. Mit eigenen ver‐ geblichen Versuchen kann man nicht rückgängig machen, dass mit Christus etwas im Raum steht, was Menschen prägt. Der Glaube kommt aus der Predigt. Denn die Predigt stellt etwas in den Raum, was Menschen nicht rückgängig machen können. Was genau im Raum steht, dafür haben christliche Konfessionen wiederum ein unter‐ schiedliches Gespür: das schlechte Gewissen vor dem Angesicht Gottes, dem wir nicht entkommen; oder seine überraschende Nähe, ohne dass wir ihn herbeigeholt haben; oder seine beglückende Anwesenheit, wenn wir ihm
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Sektion 27. 3.
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lobsingen; oder seine Autorität, die sich in Begegnung mit Menschen und Institutionen zeigen kann. Jede Konfession entdeckt unterschiedliche Schwerpunkte, kommt aber dabei nicht von den anderen Akzenten los. Darin besteht der Sinn der öku‐ menischen kirchlichen Gemeinschaft in unterschiedlichen Konfessionen. Katholiken, Protestanten und frei-evangelische Christen haben zwar mit sich selbst genug zu tun, aber auch die anderen Konfessionen stehen im Raum. Wir können das nicht rückgängig machen. Denn Gottes Geist hat sie alle eingeräumt. Er vertritt nämlich die vielen christlichen Stimmen, an die wir gerade nicht denken, aber die dennoch im Raum stehen. Und steht dann nicht auch der Atheismus im Raum, wovon man sich nicht distanzieren kann, weil auch diese Möglichkeit richtig sein könnte? Das wäre dann ein origineller Atheismus. Es gäbe zwar keinen Gott, aber der Heilige Geist hätte diesem Atheismus Platz eingeräumt. Verständlich wird diese Variante nur innerhalb der Kirche, in der Gott nicht als menschen‐ ähnliches Wesen begriffen wird, sondern als Struktur, an die man „atheis‐ tisch glauben“24 kann. Vielleicht sollten Kirchenvorstände und Presbyterien deshalb Jugendli‐ chen keine Gottesdienste aufzwingen und sie müssten es auch nicht tun, um sie zum Glauben zu führen. Denn die Worte der Predigt stehen bereits im Raum, wenn Konfirmandinnen und Konfirmanden sich bewusst entschei‐ den, an diesem Sonntag zu Hause zu bleiben. Literatur zur Vertiefung
Confessio Augustana: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigt‐ amt eingesetzt“ (Art. 5). K. v. Stosch: Einführung in die Systematische Theologie, Kap. 11. – Diese Einführung beschreibt die unterschiedlichen Standpunkte der christli‐ chen Konfessionen. L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, Kap. 6. – In diesem Kapitel be‐ schreibe ich phänomenologisch die Kraft von Worten, die auch dann noch im Raum stehen können, wenn sie verklungen sind. Ihren Ansprüchen kann man sich nicht bewusst entziehen, ohne sie dabei anzuerkennen.
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D. Sölle: Atheistisch an Gott glauben.
29 Die Kirche 29.1 Die Entstehung der Kirche (Apg. 2, 1-18) Und als der 50. Tag erfüllt war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Geist und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen zerteilte Zungen wie Feuer; und sie setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden. Sie entsetzten sich aber alle und wurden ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das sein? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll von süßem Wein. Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen! Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage; sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.«
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Wenn Menschen Gott erfahren, dann merken sie das erst im Nachhinein. Sie können zwar merken, dass Gott in ihrem Leben Raum genommen hat. Und sie können sich auch noch in diesem Raum seiner Anwesenheit befinden. Aber sie haben nicht gemerkt, wie sie dort hineingeraten sind. Erst im Rück‐ blick merken sie, dass sie wohl dort hineingeraten sind. Ich möchte auf eine Stelle in der phantastischen Pfingstgeschichte hin‐ weisen, in der das so ist, nämlich der Anfang: „Und als der 50. Tag erfüllt war, waren sie alle an einem Ort beieinander.“ Warum haben sich diese Menschen an diesem Tag getroffen, die Jesus zu seinen Lebzeiten nachge‐ folgt waren? Vermutlich haben sie sich daran erinnert, dass Jesus von den Toten auferstanden war. Sie haben vielleicht noch keinen christlichen Got‐ tesdienst gefeiert. Aber eine christliche Gemeinschaft waren sie jetzt schon. Sie waren also schon eine Kirche, noch bevor sie gemerkt haben, dass sie eine waren. Der 50. Tag nach Ostern, der Pfingsttag, wird der Geburtstag der Kirche genannt. Aber ganz so stimmt das eben nicht. Die Christen haben sich nach dieser biblischen Erzählung schon vorher versammelt, ohne dass sie wuss‐ ten, dass sie eine christliche Gemeinde sind. Irgendetwas hatte sie jetzt schon miteinander verbunden, ohne dass sie es als christliche Gemeinschaft hätten bestimmen können. Vielleicht war ihnen sogar nur unbewusst präsent, dass sie miteinander verbunden waren. Ich halte das für eine glaubwürdige Darstellung, wie die Kirche vermut‐ lich entstanden ist. Dagegen klingen diese phantastischen Szenen vom Brau‐ sen vom Himmel und dass alle Gläubigen auf einmal in einer Fremdsprache sprechen konnten übertrieben und unglaubwürdig. Vermutlich handelt es sich damit um ein Gleichnis über die weltweite Bestimmung des Christen‐ tums in seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Eine solche phantasti‐ sche Erzählung kann leicht diese wichtige Erfahrung überdecken, die ich für eine realistische Gotteserfahrung halte: Menschen werden von Gottes Nähe erfasst, merken das aber erst im Nachhinein und wissen dann nicht, wie sie in seinen Wirkraum hineingeraten sind. Ein genaues Datum für den Ge‐ burtstag der Kirche gibt es jedenfalls nicht. Als der Pfingsttag erfüllt war, da hatte sich bereits eine christliche Gemeinde versammelt. Mit der Kirche ist es genauso wie mit der Geburt eines Kindes: Schon vor dem Tag der Geburt hat es das Kind schon gegeben. Aber so ganz genau weiß niemand, seit wann dieses Kind da ist. Wenn eine Frau merkt, dass sie schwanger ist, ist sie es ja schon. Sie hat also den genauen Moment verpasst, an dem sie schwanger geworden ist. Wenn dagegen ein Paar ein Kind haben möchte, dann muss
29.1 Die Entstehung der Kirche (Apg. 2, 1-18)
der Wunsch nicht gleich in Erfüllung gehen. Er erfüllt sich immer nur so, dass wir den genauen Zeitpunkt nicht mitbekommen. Eher unbeholfen benutzt dann die Bibel die Chiffre „Heiliger Geist“. Das klingt auch in der Pfingstgeschichte so zögerlich und tastend, als ob ihr die Worte fehlen: „Es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Geist.“ Es könnte auch etwas anderes gewesen sein, aber es schien so wie ein Geist zu sein. Und kurz darauf spricht derselbe Text ganz frei vom Heiligen Geist, als wäre schon klar, was das ist. Eben noch so zö‐ gerlich, aber im Nachhinein wird das ganz selbstverständlich Heiliger Geist genannt. Da ist es genauso! Man merkt nicht, wie man in diese göttliche Sphäre hineingeraten ist, aber später kann man ganz bestimmt davon spre‐ chen, dass man drin ist. Warum sind Christen evangelisch? In den Kirchenmitgliedschaftsunter‐ suchungen, die für die Evangelische Kirche in Deutschland alle zehn Jahre durchgeführt werden, erhält eine Antwort eine hohe Zustimmung: „Ich bin evangelisch, weil das zum christlichen Glauben dazugehört.“ Viele Theolo‐ gen werten diesen Satz eher negativ. Aber könnte das nicht gerade ein Spit‐ zenbekenntnis des christlichen Glaubens sein? Denn es gehört wirklich zum Glauben dazu, dass man zu einer christlichen Gemeinschaft gehört. Man hat sich dazu nie entschieden – genauso wie die ersten Christen vielleicht eher unbewusst die Kirche gegründet haben, schon vor dem Pfingsttag. Oder man konnte sich nur dazu entscheiden, weil man bereits von dieser göttlichen Sphäre ergriffen war. Das Rauschen vom Himmel kam erst, nachdem bereits eine Gemeinde versammelt war. Um dazuzugehören, müssen Christen nicht erst in Ekstase geraten. Vielmehr gehören sie dazu, ohne dass sie gemerkt haben, wie sie hineingeraten sind. Literatur zur Vertiefung
Engagement und Indifferenz, 89. – Hier werden die Motive für die Kirchen‐ mitgliedschaft nach Gewichtung aufgelistet, wie sie sich aus der Kir‐ chenmitgliedschaftsuntersuchung von 2012 ergeben haben. B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, 20–25. – Zwei Ereignisse treten im‐ mer gemeinsam auf, das Widerfahrnis und der menschliche Zwang, dar‐ auf irgendwie zu antworten. Trotz dieses gemeinsamen Auftretens kommt das Widerfahrnis immer zeitlich zu früh, so dass man es nicht einmal angemessen datieren kann. F. Hahn: Theologie des Neuen Testaments Bd. 1, § 45. – Die historische Re‐ konstruktion der Entstehung der Kirche kann nur ungefähre Angaben
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machen und lediglich eine Zusammenschau verschiedener Entwicklun‐ gen erreichen.
29.2 Die Kirche entsteht aus dem Unglauben (Joh. 16, 5-15) (Jesus spricht zu seinen Jüngern) Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, damit ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.
Das Christentum beginnt mit dem Unglauben. Christus ist auferstanden, und dieses bahnbrechende Ereignis trifft ausschließlich auf Ungläubige. Was die Evangelien erzählen von den Frauen am Grab am Ostertag (Mk. 16,8, Joh. 20,15) oder von den Jüngern (Lk. 24,11, Joh. 20,25), war, dass sie seine Auf‐ erweckung nicht glauben konnten. Das ist ein überraschender Anfang für eine neue Religionsgemeinschaft: Das Christentum beginnt nicht etwa mit einem neuen Glauben, sondern mit Ungläubigkeit. Erstaunlich, dass genau so überhaupt der christliche Glaube entstehen konnte! Aber anscheinend ist genau dieser Umstand wichtig für seine Entstehung. Weil alles anders ist als wir denken, kann für uns etwas Neues entstehen. In den Bibeltexten über die Entstehung der Kirche ist es genauso. Die berühmte Pfingstgeschichte führt nicht etwa schon zum Glauben, sondern zum Spott: „Sie sind voll vom süßen Wein“ (Apg. 2,13). Auch der obige Bi‐ beltext aus den sogenannten „Abschiedsreden Jesu“ beginnt nicht etwa mit dem Glauben, sondern mit der Traurigkeit, die seine Worte unerträglich machen. „Euer Herz ist voll Trauer. Aber es ist gut für euch, damit ich weggehe.“ Anscheinend ist es gut für Jesu Jünger, dass ihr Herz voll Trauer ist, damit
29.2 Die Kirche entsteht aus dem Unglauben (Joh. 16, 5-15)
sie ihn gehen lassen können; oder damit sie merken können, wie er weggeht. Jedenfalls würde es den Abschied erschweren, wenn ihr Herz jetzt nicht voll Trauer wäre. Auch hier steht nicht der Glaube am Anfang, sondern eher die Trostlo‐ sigkeit. Dann kann man aber fragen: Wie kommt es schließlich doch zum Glauben? Wie konnte das Christentum dann schließlich doch entstehen? Das beantwortet Jesus hier immerhin, obwohl er ansonsten Worte zurück‐ hält: „Es ist gut für euch, damit ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.“ Man muss zuerst Abschied nehmen, damit etwas Neues entstehen kann. Wenn dann Neues entsteht, kann man es zwar nicht glauben. Aber dann lebt man wenigstens ungläubig in einer neuen Situation. Und das ist offenbar besser, als selbstverständlich immer nur von gewohnten Situationen auszu‐ gehen und dass sich nichts verändern wird. Voller Trauer wahrzunehmen, dass etwas Neues passiert, macht uns zwar noch nicht bereit für das Neue. Im Gegenteil: Es macht das Neue sogar unerträglicher. Aber wir kommen jetzt auch nicht mehr daran vorbei. Der Heilige Geist kommt immer unpassend in diese Welt. Und was die Bibel Heiligen Geist nennt, ist ein Phänomen des Unpassenden mitten in einer Welt, die so, wie sie sein will, uns ganz gut passen würde. Aber „es ist gut für euch“, dass dieses Unpassende geschieht. Die Kirche, die mit dem Heiligen Geist entsteht, ist auch eine unpassende Gemeinschaft in der Welt. Eine Gemeinschaft, die nicht so recht in unsere Zeit passen will, die viele für altmodisch halten und lieber etwas aufhüb‐ schen wollen, damit sie in unser modernes Weltbild passt – oder eine Ge‐ meinschaft, aus der sie sich ausschließen, weil sie ihnen aus der Zeit gefallen erscheint. Aber die Kirche soll ja auch nicht passen. Sonst hätte sie keinen Trost mehr zu geben. Denn wenn der Tröster kommt, dann passiert etwas Unglaubliches. Und die Kirche entstand eben mit dem Unglauben – mit der Konfrontation mit dem Unglaublichen. Eine Freundin, die nicht getauft ist, aber oft Gottesdienste mitfeiert, habe ich bei einem gemeinsamen Frühstück gefragt, ob sie eigentlich an Gott glaubt. Daraus entwickelte sich ein interessantes Gespräch. Ihre prompte Antwort hieß: „Weiß ich, ob das, was ich glaube, Gott ist?“ Für sie ist der Name „Gott“ zu groß. Sie glaubt etwas, aber sie kann es nicht benennen. Könnte sie es benennen, wäre es nicht mehr das, was sie glaubt. Irgendwie hat mir das leidgetan, aber auch gefallen. Vielleicht ist genau das das Un‐
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glaubliche, woraus das Christentum entsteht: Was wir fühlen, wahrnehmen und mit Worten ausdrücken wollen, passt irgendwie nicht. Leidgetan hat es mir deshalb, weil meine Freundin sich damit abfinden wollte. Aber etwas, womit man sich abfindet, ist wieder selbstverständlich – nichts Neues, nichts Unpassendes, nichts Unglaubliches, sondern irgendwie normal. Wer sich mit etwas abfindet, ist so wie die Jünger, deren Herz voll Trauer ist. Sie rechnen mit einem Abschied, der aber doch erst noch kommen wird, und sie sind trotzdem völlig unvorbereitet für das Unglaubliche, was danach kommt. Selbst wer sich abfindet, kann nicht ändern, dass etwas Neues pas‐ siert. Gerade deshalb ist diese Trauer „gut für euch, damit Jesus weggeht.“ Meine Freundin hat dazu nämlich noch etwas Interessantes gesagt. Sie hat mir erzählt, wo sie sich „ganz da“ fühlt. Sie meinte, dass ihr Leben oft so flüchtig erscheint, dass sie viel unterwegs sei und überall, wo sie sei, immer zugleich auch an etwas anderes denken müsse. Nur manchmal gebe es Si‐ tuationen, in denen sie „ganz da“ sei. Meditative Momente seien das für sie. Momente, die irgendwie aus der Zeit fallen: wenn sie Musik mache und nicht auf jeden einzelnen Ton achte, sondern auf den Gesamtklang, der sich dabei bildet. Ich finde ihre Beobachtung eindrücklich, denn Momente, die aus der Zeit fallen, passen sich ja gerade nicht an gewohnte Zeitrhythmen an, sondern überfallen uns. Nicht jedes Mal, wenn man Musik macht, stellt sich dieses Gefühl ein. Man kann sich nicht vornehmen, sich jetzt ganz da zu fühlen. Ein solches Gefühl stellt sich von allein ein – es muss von allein aus der Zeit fallen und dabei unpassend sein. Ganz da sein zu können, schließt also das Unpassende ein. Damit unsere Lebensgeschichte ganz ist, muss gelegentlich Unpassendes geschehen und ab und zu Unglaubliches passieren. Dann erst sind wir ganz. Dafür ist die Kirche da, dass wir uns mit traurigen Abschieden nicht ab‐ finden und auch gar nicht abfinden können, sonst würden wir nicht merken, wie wir das Unglaubliche nicht glauben können. Die Kirche ist die unpas‐ sende Gemeinschaft in der Welt und vermittelt gerade so der Welt Neues, damit wir endlich „ganz da“ sein können. Literatur zur Vertiefung
K. Barth: Der Römerbrief, Kap. 11. – Provokant ist die These, dass die Kirche der Ort ist, an dem die Feindschaft gegen Gott offensichtlich wird. Gott nimmt sich der Unwürdigen an und versammelt sie zu einer Gemein‐ schaft.
29.3 Die Menschen in der Kirche (Apg. 16, 14-15)
29.3 Die Menschen in der Kirche (Apg. 16, 14-15) Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so dass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr an‐ erkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.
Belanglos – aber nur scheinbar. Denn was die Geschichte interessant macht: Paulus wollte wohl gar nicht zum Essen kommen. „Die Frau nötigte uns.“ Aus dem Griechischen könnte man das Wort noch stärker übersetzen: „Sie übte Zwang aus“, damit Paulus dann doch zum Essen kam. Offenbar hatte Paulus also nicht so Lust auf eine gute Mahlzeit. Von selbst wäre er wohl nicht auf die Idee gekommen, mit dieser unbekannten Frau zu essen. Um sie zu taufen, kann sie ihm ansonsten fremd bleiben. Aber mit ihr essen, wird ihm zu familiär. Anscheinend würde er daher die Einladung gerne ausschlagen. Aber Lydia übt Zwang aus. Wie macht sie das? Sie sagt etwas, dem man nicht widersprechen darf: „Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus“. Wenn du, Paulus, also umgekehrt meine Einladung ablehnst, dann nimmst du nicht ernst, dass du mich getauft hast. Und dann ist euer gesamtes Vorhaben in Frage gestellt, Menschen zum christlichen Glauben zu bekehren. Paulus geht also zu Lydia essen – nicht weil er will und nicht weil es ihm da so gut schmeckt, sondern weil der Ernst seiner christlichen Mission auf dem Spiel steht: Wenn er anerkennt, dass er eben wirklich eine Frau zur Christin getauft hat, dann muss das Konsequenzen haben für sein Verhältnis zu ihr. Die Geschichte wird noch einmal komplizierter durch eine weitere Be‐ obachtung. Zu der Zeit, in der Lydia getauft wurde, war es durchaus üblich, dass Christen nur aus dem einen Grund miteinander gegessen haben, weil sie Christen waren. Die Apostelgeschichte schreibt auch sonst sehr gerne, wie gut sich die Christen verstanden, wie sie alles miteinander geteilt haben und eine große Familie wurden. Hier dagegen muss der Verfasser eine scheinbar belanglose Geschichte schreiben, in der sich einiges reibt. Zwar haben die Christen früher miteinander gegessen, aber Paulus muss zunächst umständlich überredet werden, damit er mit Lydia isst.
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Daraus lässt sich schließen, dass es zwar in der Anfangszeit des Chris‐ tentums vorkam, miteinander zu essen und eine große Familie zu bilden. Aber es war offenbar doch nicht selbstverständlich – sogar für den großen Kirchengründer Paulus nicht. Was soll in dieser Geschichte betont werden? Soll gesagt werden, dass Christen nicht miteinander essen müssen, sondern allein dadurch verbun‐ den sind, dass sie an den Vater Jesu Christi glauben? Dann wäre die scheinbar belanglose Bemerkung aus der Erzählung doch eher überraschend, dass hier einmal Christen zusammen essen. – Oder soll gesagt werden, dass Christen, die einander taufen, auch die Pflicht haben, miteinander zu essen und mit‐ einander zu leben? Im Lauf der Kirchengeschichte hat man bis heute beide konkurrierenden Praktiken in Kirchengemeinden realisiert. Es sind heute vor allem Freikir‐ chen, die auf eine christliche Lebensgemeinschaft so hohen Wert legen und voneinander erwarten, einander die besten Freunde zu sein. Dagegen geben vor allem die Volkskirchen die andere Antwort. Danach ist die Kirche keine Lebensgemeinschaft, sondern eine Glaubensgemeinschaft. Christen verbin‐ det der Glaube und nicht die Art, wie sie leben wollen. Wir leben alle unser eigenes Leben, individuell, mit unseren eigenen Nei‐ gungen und Werten. Und gerade dadurch können viel mehr Menschen Christen sein als wenn wir uns erst einmal einigen müssten, wie wir denn miteinander leben wollen. – Welcher Konfirmand soll am nächsten Sonntag für die Gemeinde das Essen kochen? Vermutlich werden sich christliche Gemeinden nicht darauf jemals zwanglos einigen – jedenfalls nicht, solange sie möchten, dass Konfirmanden sie selbst bleiben dürfen. Ich sehe nicht, dass der Text einem von beiden Modellen recht gibt und dem anderen unrecht. Freikirchen machen es so wie Lydia und organisieren Lebensgemeinschaften. Sie reden mit, wenn ein Mitglied heiratet oder sich scheiden lässt, sich tätowieren lässt oder homosexuell ist – so wie man mit‐ redet in der Familie. – Volkskirchliche Gemeinden dagegen halten sich aus dem Leben ihrer Mitglieder heraus und lassen daher auch mehr unter‐ schiedliche Lebensformen zu. Zwischen Lydia und Paulus ist vermutlich keine Lebensgemeinschaft entstanden. Paulus ist zum Essen gegangen, damit er keinen Anstoß er‐ regt. Er will bestätigen, was Lydia von ihm fordert: „Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus“. Diese Erwartung erfüllt er. Aber vermutlich war das nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
29.3 Die Menschen in der Kirche (Apg. 16, 14-15)
Die Betonung liegt wohl eher auf etwas anderem in der Geschichte. Christliche Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie überrascht. In christlichen Gemeinschaften passiert Überraschendes. Das Spannende ist nicht, ob Lydia recht hat oder Paulus. Das Spannende ist, dass beide irgend‐ wie doch zusammen kommen, obwohl es zwischen ihnen nicht ganz so herzlich zugeht. Dass zwischen Menschen etwas Überraschendes passiert, obwohl sie nicht beste Freunde sein müssen, ist das Erstaunliche, was zwischen Chris‐ ten passiert. Sie müssen nicht Freunde sein. Das Kriterium ist nicht, wie gern man sich hat und wie viel Zeit man in der Gemeinde verbringt. Das Kriterium lautet vielmehr, den Anderen anzuerkennen, so wie er und sie sind und so fremd, wie sie und er mir sind. Nicht Freund sein, sondern ganz nüchtern: „Erkennt ihr an, dass ich an den Herrn glaube?“ Es kann auch Überraschendes geschehen, ohne dass man sich so nahe kommt. Auch in Zeiten häufiger Kirchenaustritte sollte es überraschen, wel‐ che Bindungskraft die Volkskirche hat. Denn sogar diejenigen, die aus der Kirche ausgetreten sind, finden zu bestimmten Gelegenheiten zur Kirche zurück. Sie brauchen die Kirche, um sich ihrer Hoffnungen zu vergewissern, um Trost zu bekommen. Nicht immer, nicht die ganze Zeit, und es reicht nicht, um zusammen zu essen. Aber es reicht, um sich einzugestehen, dass man ohne Kirche nicht ausdrücken könnte, was einen trägt und das Leben vertieft. Gott ist anscheinend nicht nur da nahe, wo man sich besonders lieb hat und miteinander lebt. In einer solchen Lebensgemeinschaft können die Überraschungen auch ausgehen. Es ereignet sich vielmehr auch Überra‐ schendes unter Menschen, die zueinander Abstand haben. Das Überra‐ schende ist, dass sich Christen untereinander oft sehr viel besser anerkennen können, wenn sie nicht die Lebensweise des anderen kommentieren müssen. Menschen sind freier und in der Regel zufriedener, wenn sie aus der Distanz anerkannt werden, so wie sie leben. Sie müssen sich dazu nicht selber herz‐ lich lieben, um trotzdem anerkannt zu sein. Christen sind nicht an eine bestimmte Lebensform gebunden. Sie müssen keine große Familie sein, um christlich zu leben, sondern sind eine Glau‐ bensgemeinschaft, die nur lose Bindungen aufbaut. Es ist Gott, der sich fest bindet. Denn er bindet seine Überraschungen an die Gemeinschaft der Gläu‐ bigen. Auch das heißt nicht, dass nur in der Kirche Überraschendes zwischen Menschen geschieht. Es heißt aber, dass überall, wo sich Menschen überra‐
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schend gelten lassen können, die Kirche darin Gottes Werk erkennt und darauf aufmerksam macht. Bereits dann sollte man von Gott sprechen. Was Überraschendes zwischen Menschen geschehen kann, das wird an dem Ort anerkannt, an dem Menschen getauft werden. Gott hat sich an die Kirche gebunden, damit man ihn auch da erkennen kann, wo sich Menschen nicht allzu lieb haben. Und schon das ist eine Überraschung, dass Gott eine Gemeinschaft mit uns Menschen bildet, ohne dass wir wie eine Familie zu‐ sammen leben. Literatur zur Vertiefung
D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 128–140. – Die Einheit der Kirche liegt nicht in gemeinsamen Interessen und wird auch nicht durch Sym‐ pathie hergestellt. Vielmehr trägt die Einheit umgekehrt auch die Aus‐ einandersetzungen und Antipathien der Glieder zueinander. F. Schleiermacher: Über die Religion, 4. Rede. – Religiöse Gemeinschaften bedürfen der Pluralität, weil sie das Unendliche immer nur im endlichen Verstand anschauen. Daher kann nur eine Vielfalt der religiösen Mittei‐ lung das Unendliche in Gemeinschaft angemessen repräsentieren, also in einer religiösen Gemeinschaft der Offenheit.
29.4 Das göttliche Amt der Kirche (Lk. 17, 20-24)
29.4 Das göttliche Amt der Kirche (Lk. 17, 20-24)
Amt
Unter den verschiedenen Kirchen ist es umstritten, welche kirchlichen Ämter es gibt. Das weist darauf hin, dass Ämter nicht willkürlich ge‐ setzt werden. Vielmehr sind sie durch eine spezifische göttliche Be‐ auftragung konstituiert. Und die Kontroverse wird darum geführt, welche kirchlichen Aufgaben das sind. Einig ist man sich darin, dass ein kirchliches „Amt“ das Wesen der Kirche ausmacht: Ohne dieses Amt gibt es die Kirche nicht.
Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.
Ein merkwürdiger Widerspruch! Das Reich Gottes kann man nicht beob‐ achten, aber andererseits ist das Reich Gottes mitten unter euch. Man kann nicht darauf zeigen. Denn es ist ja mitten unter euch. Wie geht das zusammen, dass man das Reich Gottes deshalb nicht loka‐ lisieren kann, weil es mitten unter uns ist? Anscheinend kommt das Reich Gottes uns so dicht, dass wir es durchaus sehr genau empfinden. Das Reich Gottes macht auf uns schon einen gewaltigen Eindruck. Aber diesen Ein‐ druck können wir nicht deutlich von anderen Beobachtungen abheben. Menschen machen Erfahrungen, die sie einerseits total betreffen, die sie aber andererseits nicht eindeutig beschreiben können und die sie nicht ab‐ heben können von anderen Erfahrungen. Sie sind manchmal umgeben von merkwürdigen Stimmungen, die irgendwie anders sind als sonst, an denen man aber nicht beschreiben könnte, was anders ist. Denn schon es zu be‐
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schreiben, hätte aus dieser unbestimmten Stimmung etwas Bestimmtes ge‐ macht – und das wäre ja nicht die Stimmung gewesen. Wir Menschen sind sehr sensible Lebewesen: Wir haben Launen und Vorahnungen. Wir entwickeln sofort Sympathien oder Antipathien für Men‐ schen, die wir gerade eben zum ersten Mal gesehen haben. Wir können aber nicht sagen, warum wir diesen Menschen jetzt auf einmal sympathisch fin‐ den und einen anderen nicht. Ebenso wenig können wir sagen, warum wir gerade schlecht gelaunt sind oder warum wir so eine Ahnung haben, dass heute noch etwas passieren wird. Schon Kinder bekommen beigebracht, dass man Gott nicht sehen kann. Das ist auch in gewisser Weise richtig. Man kann eben nicht identifizierend auf ihn zeigen. Dass man Gott nicht sehen kann, ist aber auch in gewisser Weise missverständlich. Denn ein Gott, an den man „nur“ glauben kann, ohne dass man dabei auch etwas wahrnimmt, wäre folgerichtig nur ein Ge‐ genstand unseres Kopfes und unserer Phantasie. Gott muss man spüren können. Die Bibel ist ja auch voll von solchen Zeugnissen. Mose will das Angesicht Gottes sehen. Das kann er nicht, aber er kann spüren, wie Gott an ihm vorüber geht.25 – Jesus ist das Licht der Welt (Joh. 8,12), und Licht kann man ja sehen. Trotzdem kann man dieses Licht der Welt übersehen. Und so ganz eindeutig hell ist dieses Licht nicht, dass wir sagen könnten: Hier ist es, oder: Da ist es. Man kann Gott nicht genau identifizieren in unserer Welt. Aber er betrifft uns total. Man kann ihn spüren. Und das prägt unsere Stimmung und unsere Launen. Er ist nicht nur ein Gott, der unsere Seele anrührt – die wir ja auch nicht sehen können –, sondern der uns zu Leibe rückt. Wir spüren ja, dass heute etwas anders ist, und sehen die Welt anders, wenn uns heute etwas anders begegnet als sonst. Diese starke Betroffenheit des Ungefähren manifestiert sich jedoch an sinnlich wahrnehmbaren Zeichen. Das unterstreicht die christliche Taufe mit diesem merkwürdigen leiblichen Spüren von Wasser. Da ist Gottes Reich mitten unter uns, und doch kann man nicht sagen: Hier ist es, oder: Da ist es. Eltern haben auch gewaltige Erwartungen an die Taufe ihrer Kinder. Und Gott betrifft sie sehr. Aber zugleich sind diese Erwartungen oft unbestimmt. Man kann auch nicht in zwei Sätzen sagen, was man genau von der Taufe erwartet. 25
Kapitel 7.
29.4 Das göttliche Amt der Kirche (Lk. 17, 20-24)
Diese Spannung prägt das religiöse Leben der Gegenwart. Seit einigen Jahrzehnten hat die Kirche eher einen mittelmäßigen Ruf und wird in den Medien scharf kritisiert – oft zu Recht, denn Kritik zeigt sich an bestimmten Missständen, während die Kirche sich eher an den unbestimmten Atmo‐ sphären orientiert. Menschen treten aus der Kirche aus. Das verhindert aber nicht, dass Eltern ihre Kinder taufen lassen wollen und von der Kirche erwarten, dass sie in Gottes Namen tauft. Man erwartet von Kirche, dass sie den Willen Gottes vollstreckt. Und wer an Gott glaubt, der braucht die Kirche, weil sie den Willen Gottes vollstreckt. Hier hat das Reich Gottes einen Ort, der uns total betrifft. Die Kirche ist der Ort, an dem man noch am ehesten vermuten könnte, dass sich hier das Reich Gottes befindet und der Wille Gottes hier vollstreckt wird. Man könnte noch am ehesten sagen, dass sich Gott selbst den Kindern zuwendet, weil die Kirche unsere Kinder tauft. Dennoch bleibt das Verhältnis der Gesamtge‐ sellschaft zur Kirche distanziert und kühl. Ebenso spannungsreich wie unser Verhältnis zu Gott, der den Menschen total betrifft, aber unbestimmt! An unserem Verhältnis zur Kirche drückt sich deshalb unser Verhältnis zu Gott aus. Die Kirche kultiviert dieses un‐ bestimmte, aber totale Verhältnis zu Gott. Mit ihren Gottesdiensten, Sym‐ bolen und ihrer regelmäßigen Deutung des Lebens aus der Perspektive des Evangeliums kultiviert sie das Gefühl, dass Gott um uns vorbei zieht, ohne dass wir ihn genau lokalisieren können. Sie verleiht den Menschen eine Sprache für die geheimnisvolle Nähe Gottes. Literatur zur Vertiefung
P. Tillich: Systematische Theologie Bd. 3, 176–190. – Die Kirche ist eine Ma‐ nifestation der Gemeinschaft des Heiligen Geistes, während andere Ge‐ meinschaften nur latent vom Geist ergriffen sind. Allerdings sind auch die Kirchen nur fragmentarisch Geistgemeinschaften. Die Manifestation der Geistgemeinschaft liegt in Jesus Christus begründet, der in ihr ist. R. Leonhardt: Grundinformation Dogmatik, 368–370. – Das Buch mit sei‐ nem theologiegeschichtlichen Schwerpunkt skizziert in dieser Passage das evangelische Verständnis von kirchlichen Ämtern.
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29.5 Die Gnadengaben der Kirche (Lk. 16, 1-8) (Jesus) sprach (aber auch) zu den Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz. Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib Rechen‐ schaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein. Der Verwalter sprach bei sich selbst: Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt; graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln. Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde. Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und fragte den ersten: Wieviel bist du meinem Herrn schuldig? Er sprach: Hundert Eimer Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich eilig hin und schreib fünfzig. Danach fragte er den zweiten: Du aber, wieviel bist du schuldig? Er sprach: Hun‐ dert Sack Weizen. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig. Und der Herr lobte den ungetreuen Verwalter, weil er klug gehandelt hatte; denn die Kinder dieser Welt verhalten sich zu ihrem Geschlecht verständiger als die Kinder des Lichts.
Wer ist eigentlich dieser Herr, der den untreuen Verwalter lobt? So genau wird das hier nicht gesagt. Es könnte Jesus sein, es könnte aber auch der reiche Hausherr aus der Geschichte sein, der dort immerhin mehrmals „Herr“ genannt wird. Das ist für mich deswegen eine wichtige Frage, weil für Jesus etwas völlig anderes lobenswert sein könnte als für diesen Haus‐ herrn. Wenn der Hausherr seinen Verwalter lobt, den er doch eigentlich entlassen will, dann müsste er ja seinen Trick durchschaut haben. Und dann hätte sich eigentlich seine Wut ihm gegenüber verstärken müssen. Wenn er ihn dann dennoch lobt, sticht seine Begeisterung für das taktische Verhalten des Verwalters seinen Ärger. Sollte dagegen Jesus den untreuen Verwalter loben, dann ja wohl nicht dafür, dass er seinen Noch-Chef betrügt. Das Lobenswerte scheint eher in einem Vergleich zu bestehen: „Die Kinder dieser Welt verhalten sich zu ih‐ rem Geschlecht verständiger als die Kinder des Lichts.“ – Der Hausherr und der Verwalter sind beide offenbar Kinder dieser (schlechten) Welt. Da ver‐ steht man sich sogar, wenn man auf verschiedenen Seiten steht. Vielleicht
29.5 Die Gnadengaben der Kirche (Lk. 16, 1-8)
hat der Hausherr tatsächlich den Betrug seines Verwalters erkannt und sein Trick ihm zugleich gefallen. Was ist klug an dieser Idee? Der Verwalter ist ein blanker Egoist. Ihm fällt der Betrug nur ein, weil er ein Faulpelz ist: „Graben kann ich nicht.“ Natürlich kann er graben. Graben lernen schon Kleinkinder. „Ich schäme mich zu bet‐ teln.“ Thema ist sein persönlicher Stolz. Jesus erzählt die Geschichte so, dass gleich klar ist, dass dieser Verwalter kein Vorbild ist, mit dem man sich identifizieren will. Und trotzdem wird er gelobt. Dem Verwalter gelingt nämlich etwas Erstaunliches. Obwohl er ein purer Egoist ist und alles nur tut, um sich selbst zu nutzen – nutzt er auch anderen und macht sich Freunde. Das geht zwar auf Kosten seines Hausherrn, aber zwischen beiden ist ohnehin das Tischtuch zerschnitten. Das Lobenswerte ist, dass sogar ein Egoist nicht nur egoistisch handeln kann. Wer nur an sich denkt, muss zugleich solidarisch sein, „damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde.“ Sogar bei den Kindern dieser schlechten Welt gilt eine gute Regel: „Solidarität trumpft Egoismus!“ Wer egoistisch sein will, muss zugleich mit anderen zu‐ sammenspielen und mit ihnen solidarisch sein. Das ist das Kluge an diesem Verwalter, das die Christen übernehmen soll‐ ten. Denn angeblich, so sagt es Jesus, sind Christen (die Kinder des Lichtes) nicht so verständig wie die Kinder dieser schlechten Welt. Wie kommt Jesus nun darauf, dass wir Christen von diesem Verwalter etwas lernen könnten? Direkt vor dieser Geschichte steht das berühmte Gleichnis vom verlore‐ nen Sohn (Lk. 15,11–32): Ein junger Mann verprasst die Hälfte des Vermö‐ gens seines Vaters und kommt irgendwann völlig verarmt nach Hause. Sein Vater, anstatt ihn zu beschimpfen, nimmt ihn liebevoll auf. Aber der Bruder, der immer da war und für das Vermögen der Familie hart gearbeitet hat, ist verärgert und eifersüchtig. Dieser Bruder hat immer alles richtig gemacht. Er ist ein Kind des Lichts. Aber mit seiner Wut macht er sich keine Freunde. Er geht vor lauter Ärger nicht ins Haus seines Vaters. Ganz anders der Ver‐ walter, der alles darauf setzt, um in die Häuser seiner neuen Freunde zu kommen. An wen wird Jesus wohl genau gedacht haben, als er offenbar gemeint hatte, dass die Kinder des Lichts neidisch aufeinander seien? Könnte es sein, dass sie sich nicht gönnen, dass die Gnade Gottes so großzügig verteilt wird oder dass seine Kirche Vergebung der Sünde im Namen Gottes zusagt? Und hätte Jesus mit dieser Einschätzung recht, dass ein solcher Neid normaler‐
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weise unter Christen vorkommt oder dass hier nur schlechte Ausnahmen angedeutet sind? Aber immerhin wird es vorkommen, dass Christen die Gnade Gottes ein‐ ander vorenthalten wollen oder dass Christen missgünstig sind, wie groß‐ zügig im Namen Gottes Gnade verschleudert wird. Als im Jahr 2015 eine Millionen Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen wurden, ist ein Mann nach einem Briefwechsel mit mir aus der Kirchenge‐ meinde ausgetreten, weil die evangelische Kirche sich für Flüchtlinge ein‐ setzt und sogar bereit ist, muslimische Flüchtlinge vor der Abschiebung zu schützen, wenn ihnen zu Hause Folter oder Tod droht. Dieser Mann konnte es nicht ertragen, dass Christen Muslimen helfen. Zwar scheinen Muslime zurzeit Christen nicht so sehr zu helfen wie umgekehrt – zumindest erfährt man davon wenig in den Medien. Aber darauf neidisch zu sein, entspricht gerade dem Verhalten des älteren Bruders aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, der nicht ins Haus seines Vaters geht, weil es da viel zu großzügig zugeht. Die Geschichte vom Verwalter dagegen scheint dafür zu werben, dass Christen die Großzügigkeit Gottes verschwenden sollen. Treue Verwalter Gottes sind ihm genau darin treu, dass sie alles verschenken, was Gott ihnen anvertraut hat. Denn Gott ist noch viel großzügiger als wir, wenn wir seine Großzügigkeit verschwenden. Er ist so großzügig, dass er uns seine Großzügigkeit schenkt, damit wir sie verschwenden. Sogar unter den Kindern der schlechten Welt gilt die gute Regel: Solidarität trumpft Egoismus! Bei den Kindern des Lichts müsste das erst recht gelten. Christen haben nichts zu verlieren, wenn sie Gottes unbegrenzte Gnade ansagen. Wer Gottes Gnade dagegen zurückhal‐ ten will oder bestimmte Personengruppen davon ausnehmen will, verun‐ treut gerade Gottes Großzügigkeit. Nun kann Großzügigkeit auch missbraucht werden. Auch unter Flücht‐ lingen, die 2015 nach Deutschland kamen, ist die Gastfreundschaft bisweilen missbraucht worden. Aber was wir im Namen Jesu Christi verschleudern, sind nicht unsere Schätze, sondern Gottes Gnade. Wir verschleudern Gottes Liebe an die Sünder dieser Welt, an die Hausherren, Verwalter und Denun‐ zianten der Verwalter. Unser Ziel besteht nicht darin, dass wir in den Häu‐ sern der Sünder wohnen können, sondern dass die Sünder in Gottes ewiges Haus einziehen. Hier können kirchliche Ressourcen nicht missbraucht wer‐ den. Hier müssen Christen sogar immer noch mehr Gottes Segen spenden,
29.5 Die Gnadengaben der Kirche (Lk. 16, 1-8)
weil das, worin man ihre Kraft missbrauchen könnte, nicht ihnen gehört. Ohne Gottes Großzügigkeit wäre sie gar nicht da. Jesus wünscht sich verständige Christen. Und verständig sind sie, wenn sie den Sünder segnen und seine Sünde vergeben, weil Gott sogar an diesen Menschen großzügig ist. Solidarität trumpft Egoismus! Wenn unsere Kraft dazu nicht ausreicht, dann sind wir Christen zum Glück noch mit einer grö‐ ßeren Kraft beschenkt, die den Teufelskreis der Missgunst durchbricht. Literatur zur Vertiefung
D. Bonhoeffer: Nachfolge, 29–43. – Rhetorisch widerspricht dieser Text meiner Darstellung, weil er eine „billige Gnade“ als Schleuderware ab‐ lehnt. Dagegen mahnt Bonhoeffer eine teure Gnade an, die die Kirche im Namen Christi zu spenden habe, nämlich als Resultat der Nachfolge Jesu. M. Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, Th. 14, 15, 19. – Chris‐ tus betet ohne Unterlass für die Seinen und hat sich für sie geopfert. In dieser völligen Hingabe kann dem Christen kein Ding zum Schaden ge‐ reichen. Da er jedoch auch dem leiblichen Leben verhaftet ist, steht er in Verantwortung für seine Nächsten.
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30 Die Sakramente (Mk. 16, 1-8) Sakrament
Zeichen der Kirche, die göttliches Heil bewirken oder es auf sinnliche Weise verkündigen. Während die römisch-katholische Kirche sieben Sakramente spendet (Taufe, Kommunion, Firmung, Beichte, Ehe, Priesteramt, Krankensalbung) und sich dabei auf die Lebensgeschichte eines Menschen bezieht, hat die evangelische Kirche aus biblischen Gründen die Zahl der Sakramente auf zwei reduziert (Taufe, Abend‐ mahl). Der Sakramentsbegriff, der übrigens selbst nicht biblisch ist, wird evangelisch so definiert, dass diese sinnlichen Heilszeichen nach dem Zeugnis des Neuen Testaments von Jesus selbst eingesetzt worden sind. Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn (den Leichnam Jesu) zu salben. Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß. Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern hatte sie ergriffen und sie standen neben sich. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.
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30 Die Sakramente (Mk. 16, 1-8)
Ostern beginnt mit einer überwältigenden sinnlichen Erfahrung. Den drei Frauen fehlen die Worte. Und sie bekommen auch keine plausible Erklärung. Es überfällt sie eine dramatische sinnliche Wahrnehmung. Selbst der Mann, der mit ihnen redet, erklärt nichts. Er gibt ihnen nicht die Worte wieder. Vielmehr steigert er noch einmal die sinnliche Wahrneh‐ mung und betont noch einmal das Überwältigende, was die Frauen sowieso schon mit ihren Augen sehen: „Jesus ist nicht hier!“ Das sehen die Frauen auch. „Er ist auferstanden“ – was immer das ist. Die Frauen waren darauf nicht vorbereitet. Deshalb werden die Frauen auch diesen Satz nicht als Er‐ klärung begreifen. Die Mitteilung, dass Jesus auferstanden ist, spiegelt nur das wider, was die Frauen sowieso schon sehen: „Er ist nicht hier!“ „Sieh da die Stätte, wo er mal gelegen hat“. Eben! Das ist das, was die Frauen sowieso schon sehen. Ostern beginnt mit einer überwältigenden Erfahrung, wofür die Worte fehlen. Am Anfang steht eine sinnliche Erfahrung – ohne Worte. Und als sie eintritt, sind die drei Frauen überfordert. „Sie standen neben sich“ – heißt es, und damit waren sie wohl auch nicht ganz zurechnungsfähig. Eine Wahr‐ nehmung mit den eigenen Augen, die zugleich zu viel ist für die eigenen Augen! Wenn das Christentum bei diesem Anfang stehen geblieben wäre, dann wären heute alle Christen überfordert und unzurechnungsfähig. Der Glaube braucht deswegen Distanz von der sinnlichen Totalerfahrung. Der Glaube braucht verständliche Symbole und vernünftige Sätze, damit Christen ihren Glauben vernünftig verantworten können. Die Taufe geht darauf zurück, dass Menschen solche Totalerfahrungen widerfahren. Auch die Geburt eines Kindes kann eine total überwältigende Erfahrung sein. Aber totale Erfahrungen können uns genauso erschrecken. Das ist nicht nur bei schlimmen Erfahrungen so, sondern auch bei total glücklichen Erlebnissen. Die ersten Christen haben ihre überwältigende Ostererfahrung festge‐ halten, ohne dass sie dabei weiter neben sich stehen mussten. Dazu haben sie das Alte Testament interpretiert. Für Christen heute ist Ostern ein ab‐ sehbares Fest. Die Ostererschütterung hat bei uns nie stattgefunden. Was wir an überwältigenden Erfahrungen erleben, hat wenig mit dem zu tun, was die drei Frauen damals erlebt haben. Verstehen wir damit heute besser, was bei Jesu Auferstehung genau vorgegangen ist? Hat also das Christentum inzwischen die angemessene Sprache, durch die wir alle gelassener mit der Botschaft umgehen, dass der Herr wahrhaftig auferstanden ist? Vielleicht
30 Die Sakramente (Mk. 16, 1-8)
zeigt sich hier ein Dilemma: Entweder wir machen auch heute Totalerfah‐ rungen, die uns sprachlos machen und uns überwältigen. Dann verstehen wir aber nicht richtig, was passiert ist. Oder wir haben eine verständliche Sprache für diese österlichen Totalerfahrungen. Aber diese Sprache ist dann sehr theoretisch und nüchtern und kann das totale Erlebnis nicht nachemp‐ finden. Im einen Fall macht uns die religiöse Erfahrung unzurechnungsfähig. Im anderen Fall wirkt Religion blutleer und langweilig – wie viele ja auch heute das Christentum langweilig finden – anders als die drei Frauen damals. Ei‐ gentlich müssen wir beides verbinden, unsere überwältigenden Erfahrungen mit verständlichen Symbolen. Wir müssen lernen, unsere überwältigenden Erfahrungen anderen verständlich zu machen – über die Symbole, die wir dabei benutzen. Damit halten wir etwas fest, was uns eigentlich haltlos macht. Solche Symbole sind die christlichen Sakramente, das Abendmahl und die Taufe. Sie machen Vieles intuitiv verständlich. Aber sie rühren auch an und haben manchmal sogar selbst etwas Überwältigendes. Unsere kirchlichen Symbole helfen, uns über unsere überwältigenden Erfahrungen auszutau‐ schen und sie auch über den Abstand hinweg wertzuschätzen. Literatur zur Vertiefung
P. Tillich: Systematische Theologie Bd. 1, 277–282. – Ein Symbol hat nach Tillich an der Wirkmächtigkeit dessen teil, was es symbolisiert. Deshalb haben Symbole Gottes teil an seinem Sein. H. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, 479–484. – „Ästhetische An‐ dacht“ liegt in der Fähigkeit, sich von nötigenden Atmosphären ergreifen zu lassen und dabei noch die Kontrolle zu behalten. Dazu ist eine eman‐ zipierte Person in der Lage, weil sie Strategien entwickelt, konkurrie‐ rende Atmosphären abzufiltern. Diese Fähigkeit der kontrollierten Er‐ griffenheit besitzen religiöse Menschen im Umgang mit ihren Symbolen und Handlungen.
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31 Die Taufe (Joh. 3, 3. 5. 6. 8. 11. 12) Kommen die Getauften nach ihrem Tod in den Himmel? Und warum sollte sich Gott an ein solches Ritual binden? Würde er dann nicht etwa das Ritual der Taufe mehr lieben als die Menschen? Warum also taufen Christen Menschen? Ich komme hierzu zurück auf eine für mich paradigmatische Bibelstelle aus dem Johannesevangelium, in der Jesus spricht26: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren wer‐ den. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. Wenn ich euch vom Irdischen berichte und ihr (das) nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch vom Himmlischen berichte?
Was nützt also die Taufe im Hinblick auf unser ewiges Leben? Anscheinend passiert sie bereits mitten in der Ewigkeit. Wenn ein Mensch getauft wird, dann ist das zwar ein Ereignis nach unserer Zeitrechnung. Aber wir taufen nicht deshalb, weil uns die Zeitrechnung so lieb und teuer ist. Wir sind be‐ reits in Gedanken woanders. Den Wind kann man immer nur hören, wenn man selbst im Wind steht. Und wenn man im Wind steht, weiß man nur aus der unmittelbaren Nähe, wo er herkommt und wohin er zieht, nicht aber seine genaue Herkunft und sein Ziel. Auf einem Satellitenfoto wiederum können wir sehen, woher der Wind kommt. Aber auf einem Satellitenfoto hört man den Wind nicht. Man muss schon drin stehen, wenn man den Wind hören will. 26
Zur selben Bibelstelle s. Kap. 16 und Sektion 34. 1.
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31 Die Taufe (Joh. 3, 3. 5. 6. 8. 11. 12)
Christen taufen, weil sie schon in diesem Strudel der Ewigkeit stehen. Und sie werden bereits von ihr mitgerissen. Was die Taufe bringt, das kann man einem Außenstehenden vielleicht noch erklären, so wie man einem Außenste‐ henden erklären kann, warum man sich in eine bestimmte Person verliebt hat. Doch genauso wenig wie sich dieser Zuhörer durch die Erklärung schon in dieselbe Person verliebt, will sich ein Zuhörer allein durch Erklärungen selbst schon taufen lassen. Dafür ist die Taufe einfach zu seltsam – von außen be‐ trachtet. Aber wenn man in diesem Wind drin steht, dann fragt man sich nicht mehr, wie man da hineingeraten ist. Wer darin steht, zu dem passt sie einfach. Der Unterschied zwischen Himmel und Erde ist also für Jesus eigentlich der Unterschied zwischen drin und draußen. Stehe ich draußen, dann inter‐ essiere ich mich nicht für die Ewigkeit. Aber sobald ich mich nach dem ewi‐ gen Leben sehne, stelle ich fest, dass ich schon mitten drin bin in der Ewig‐ keit. Deshalb ist die Ewigkeit nicht im fernen Himmel zu finden, sondern der Himmel beginnt schon hier auf Erden. „Wenn ich euch vom Irdischen berichte und ihr (das) nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch vom Himmlischen berichte?“ Der Himmel ist also nicht weit weg. Im Gegenteil, man muss bereits drin sein, um von ihm zu reden. Dann muss der Himmel eben bereits hier auf Erden beginnen. Meine Ausgangsfrage lautete ja, ob die Getauften nach ih‐ rem Tod in den Himmel kommen. Eigentlich müsste die Frage für Jesus heißen: Kommen die Getauften nach ihrem Tod in den Windstrudel oder schauen sie sich dieses Energiefeld Gottes von außen an wie auf einem Sa‐ tellitenbild? Und es ist klar, wie die Antwort lautet: Die Getauften sind be‐ reits jetzt mitten im Wind. Sonst würde die Taufe jetzt keinen Sinn machen. Wir haben nicht einmal entschieden, dass wir in diesen Windstrudel hi‐ neinwollen. Denn zwischen innen und außen gibt es keine Brücke. Wo es windig ist, da gibt es keinen genauen Platz, ab dem es nicht mehr windig ist. Trotzdem stehen manche drin und manche draußen. Das hängt eben davon ab, wo wir „hineingeboren“ sind. Das klingt exklusiv, so dass das Christen‐ tum keine Außenstehenden hereinlassen würde. Diese Exklusivität des christlichen Geistes verdankt sich aber gerade keinem himmlischen Dekret. Sie ist vielmehr irdischer Art, so wie sich eben Menschen verlieben, ohne dass sie Außenstehende in dieselbe Begeisterung hineinziehen könnten. Au‐ ßenstehende merken immerhin, dass woanders eine stürmische Energie herrscht. Und manchmal stellen rückwirkend sie fest, dass sie selbst von einem solchen Strudel erfasst sind, ohne dass sie gemerkt haben, wie sie hier hineingerutscht sind.
31 Die Taufe (Joh. 3, 3. 5. 6. 8. 11. 12)
Das Beispiel vom Wind, das Jesus gibt, kann Vieles klar machen. An‐ scheinend also kann man schon an irdischen Phänomenen wie am Wind Gottes Nähe entdecken. Wir reden eben nicht einfach nur von einem Na‐ turphänomen – distanziert und weit weg. Sondern wir reden mitten drin von dem, was mitten drin passiert. Die Taufe mit Wasser macht uns dabei klar, dass die Ewigkeit da beginnt, wo Wasser der natürlichste Stoff ist, den es gibt, nämlich auf Erden. Und wir können uns Geschichten von der Erde erzählen, an denen wir merken, dass wir bereits im Himmel sind. Wir leben auf Erden, aber wir stehen bereits in einem ganz anderen Wind. Manche Menschen merken abends, dass sie Halsschmerzen haben. Und im selben Moment fällt ihnen auf, dass sie am Nachmittag auch schon Hals‐ schmerzen hatten. Erst später ist ihnen aufgefallen, was sie schon einige Stunden hatten. Fast alle Ereignisse sind so, dass wir nicht merken, wie wir hier hineingeraten sind, sondern wir sind bereits drin, wenn wir es merken. Ich glaube, dass das der Grund ist, warum wir solche Ereignisse oft mit Gott in Verbindung bringen: Du weißt eben nicht, woher das kommt und wohin es fährt. Ein Außenstehender mag zweifeln, dass das alles etwas mit Gott zu tun hat. Aber ein Außenstehender würde das alles auch nicht erleben. Wer nicht drin steht oder sich lieber von Weitem Satellitenfotos ansieht, dem wünschen wir gerne, dass der Wind Gottes ihn auch erfasst. Denn auch das Irdische, wovon wir reden, kann man nur erleben, wenn man selbst drin ist, damit man das Wichtigste im Leben begreift: Gott stellt uns in Beziehung zu ihm, noch bevor wir entscheiden können, was wir wollen. Literatur zur Vertiefung
W. Härle: Dogmatik, 14. 2. 3. – Die Bedingungslosigkeit der göttlichen Heils‐ zusage ist der Grund, warum bereits Säuglinge getauft werden dürfen. Sie stehen bereits in einem Verantwortungsraum, den die Eltern, Paten und die Gemeinde repräsentieren. D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 163–166. – Die Taufe wird nicht vom getauften Kind empfangen, sondern von der Gemeinde. Sie glaubt in dem Kind und spannt somit einen Raum auf, in dem das Kind getragen ist. D. Korsch: Dogmatik im Grundriß, 21–29. – Korsch entfaltet die These, dass man Glauben in sozialen Lebensformen lernen kann. Es bedarf dazu der Kirche als einer vorgängigen Gemeinschaft, in der sich Verständigung ereignet.
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32 Das Abendmahl (Mt. 26, 20-38) Und am Abend setzte er (Jesus) sich zu Tisch mit den Zwölfen. Und als sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Und sie wurden sehr betrübt und fingen an, jeder einzeln, ihn zu fragen: Herr, bin ich's? Er antwortete und sprach: Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten. Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre. Da antwortete Judas, der ihn verriet, und sprach: Bin ich's, Rabbi? Er sprach zu ihm: Du sagst es. Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.
Wie trennt man sich angemessen von seinen Freunden? Zumal wenn man weiß, dass einer von ihnen ein Verräter ist? Und wie trennt man sich von ihnen angemessen, wenn man weiß, dass auch alle anderen ihn im Stich lassen werden? Eigentlich ist die Beziehung dann schon vorbei. Und eigent‐ lich gibt es keinen Grund, sich noch einmal zu treffen. Jesus trifft sich aber noch einmal mit seinen Jüngern und trennt sich be‐ wusst von ihnen. Er macht das, was viele Menschen tun, wenn sie sich tren‐ nen: Sie treffen sich noch ein letztes Mal. So trennen sich Arbeitskollegen, Freunde und manchmal auch Liebespaare. Eine Trennung ist ein merkwürdiger Zwischenzustand: Man steht am Ende der Beziehung, aber noch ist die Trennung nicht vollzogen worden. Man steht also sowohl irgendwie noch drin als auch schon draußen. Bei einer Trennung wirkt der Geist der Freundschaft noch nach. Aber zugleich ist auch schon ein anderer Geist spürbar, ein Geist des Misstrauens oder der Beklemmung. Die Atmosphäre ist gestört. Und sie ist deshalb gestört, weil sich hier zwei Atmosphären überlagern, der Geist der Freundschaft und der Geist der Beklemmung.
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32 Das Abendmahl (Mt. 26, 20-38)
So vollzieht sich das letzte Abendmahl Jesu. Es trennen sich Menschen, die eigentlich noch aneinander gebunden sind. Und auch nach der Trennung sind sie irgendwie noch aneinander gebunden. Der Moment, an dem man sich trennt, verbindet zugleich, was nicht zusammenpasst. Und beim Abend‐ mahl Jesu passt Vieles nicht zusammen. Gerade darin liegt seine Chance. Eine Trennung ist eine verwirrende Situation. Sie nutzt den noch beste‐ henden Geist der Freundschaft, um die Freundschaft zu beenden. Das Ver‐ bindende wird genutzt, um sich zu trennen. Zugleich ist eine Trennung eben ein Zwischenzustand, der sich zwischen Freundschaft und Nicht-Freund‐ schaft befindet. Es ist schon nicht mehr Freundschaft. Aber es ist irgendwie auch noch nicht umgeschlagen in Hass, Gleichgültigkeit oder Feindschaft. Zwischenzustände haben als solche etwas Verbindendes. Sie verbinden Zu‐ stände, die eigentlich voneinander getrennt sind. Also können sich Men‐ schen nur trennen in einem Zwischenzustand, der das Getrennte verbindet. Und darin liegt das Verwirrende von Trennungssituationen. Man verab‐ redet sich und wählt sorgsam ein beruhigendes Ambiente aus, um dann dem anderen mitzuteilen, dass man sich nicht mehr sehen will. Man schenkt dem anderen ein Glas Wein ein, um ihm dann Vorwürfe zu machen. Man nimmt sich vor, im Gespräch ruhig zu bleiben – aber man redet davon, dass man den anderen nicht mehr erträgt. Trennungssituationen sind Situationen al‐ ter Vertrautheit mit dem Ziel, ihr zu entkommen. Sobald die Trennung dann endlich vollzogen ist, ist aber die alte Vertraut‐ heit nicht einfach verschwunden. Das ist der Grund, warum es oft für einen der Beteiligten völlig unverständlich ist, was da passiert ist – so wie die Jünger sich fragen: „Herr, bin ich’s?“. Und das ist auch der Grund, warum Trennungen manchmal doch wieder rückgängig gemacht werden – so wie Christus nach seiner Auferstehung die Zerstreuten wieder versammelt. In einer Trennungssi‐ tuation kollidieren zwei „Geister“, die nicht zusammenpassen. Die Kollision entsteht gerade deshalb, weil hier zwei gegensätzliche Geister verbunden sind. Trennungssituationen haben daher etwas Unverständliches. Eine Trennungssituation dauert unbestimmt lange. Sie ist nicht mit dem einen Gespräch abgeschlossen, in dem jemand mir mitteilt, dass er nicht mehr mit mir zusammen sein möchte. Die Kollision hält an – wie lange, lässt sich schwer bestimmen. Aber das ist gerade die Chance, wenn die Trennungssituation bewusst gestaltet wird. Das letzte Abendmahl Jesu gewinnt genau darin seine ori‐ entierende Kraft und seine Barmherzigkeit, dass in ihm mehrere Geister kollidieren. Dadurch läuft der Übergang der Trennung in befriedeten Bah‐
32 Das Abendmahl (Mt. 26, 20-38)
nen. Das Abendmahl ist ein Trennungsritual. Jesus isst ein letztes Mal mit seinen Jüngern und teilt ihnen das auch kurz vorher mit, dass sie gemeinsam das letzte Mahl nehmen. Er verstärkt die Spannung durch die Ankündigung, von einem von ihnen verraten zu werden. Der Geist der Freundschaft kol‐ lidiert hier also mit einem Geist des Vertrauensbruchs. Die Evangelien be‐ schreiben, dass der Verräter Judas das letzte Abendmahl ebenso empfing. Das ist nicht verständlich, weil es eben auf einer Kollision von Geistern beruht. Und auch die anderen, denen Jesus ankündigt, dass sie ihm untreu werden, essen dennoch mit. Sehr festlich wird es bei diesem Essen vermutlich nicht zugegangen sein. Aber es kommt auch nicht zum Eklat. Das Mahl ist geprägt von zwei Polen, Freundschaft und Untreue. Aber kein Pol dominiert hier. Sondern beide Geister entschärfen sich gegenseitig. Am Ende vollzieht sich Trennung – und zwar friedlich. Es ist interessant, dass die Kirche in der Abendmahlsgemeinschaft grün‐ det – also in einem Ritual der Trennung. Es ist ein völlig uneindeutiges Ge‐ schehen, das alle Ansprüche auf der Schwebe hält. Das Abendmahl gibt nicht deshalb Orientierung, weil wir dabei vormachen, wie man die Freundschaft hält, sondern weil es uns vormacht, wie wir zusammen leben können, auch wenn alles falsch oder unsicher erscheint. Deswegen hat es Vorbildcharakter für die Kirche. Denn die Kirche versteht sich nicht einfach als eine Heilsge‐ meinschaft, sondern als eine Gemeinschaft der Sünder. Was bringt diese Gemeinschaft der Sünder? Judas hat nach diesem Tren‐ nungsmahl trotzdem seinen Herrn verraten. Und auch wenn sich heute Menschen trennen, wird dabei oft schmutzige Wäsche gewaschen und alles durch den Dreck gezogen, was diese Menschen einst verbunden hatte. Das spricht aber nicht gegen das Trennungsritual als solches. Im Gegenteil! Denn wenn sich Menschen trennen und dabei schmutzige Wäsche waschen, dann merkt jeder, dass das Unrecht ist. Und man merkt es gerade an diesem Tren‐ nungsritual. Das Abendmahl hilft uns, die Situation richtig einzuschätzen. Und es bewahrt uns in der Regel davor, Porzellan zu zertrümmern. Das Abendmahl baut die Kirche auf. Es baut also Gemeinschaft auf mitten in einer Trennungssituation. Gerade weil ein Trennungsritual zwei gegen‐ sätzliche Geister verbindet, verbindet es genauso wie es trennt. Mit dem Abendmahl bezeugt Jesus, dass zwar etwas zu Ende geht, aber doch nichts verloren ist. Vielleicht sollten Menschen miteinander Abendmahl halten, wenn sie sich trennen. Es würde ihnen helfen, in Frieden auseinanderzuge‐
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32 Das Abendmahl (Mt. 26, 20-38)
hen. Für Christen ist das Abendmahl deshalb kein Fest des Glücks, sondern die Bezeugung des Friedens angesichts ungelöster Konflikte. Literatur zur Vertiefung
M. Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie. – Der Artikel weist darauf hin, dass das Abendmahl nach evangelischem Verständnis im Verzehr, also in der Vernichtung von Brot und Wein besteht. Der Leib Christi ist also nur anwesend, um abwesend zu werden. Eine eigentümliche Bezie‐ hung von geistlicher An- und Abwesenheit Christi zeichnet das Abend‐ mahl aus. M. Welker: Was geht vor beim Abendmahl? 118–124, 167–173. – In diesen Passagen zeigt sich eine gegenläufige Interpretation zu meinem Abend‐ mahlsverständnis. Für Welker ist das Abendmahl „kein religiöses Ritual der Beklemmung“ (123), sondern soll sich als danksagendes Friedensmahl entfalten. L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 165–168. – Die inszenierte Nähe mit anderen Menschen und mit den Elementen ist eine erträgliche Zu‐ mutung, die Konflikte auf der Schwebe hält, ohne sie zwar zu lösen, aber sie doch zu beherrschen.
VI. Die letzten Dinge Letzte Dinge
Dieser Themenbereich verhandelt das Ende der Welt, den endgültigen Anbruch des Reiches Gottes und die Auferstehung der Toten.
33 Werden Menschen am Ende ihres Lebens für ihre Werke bestraft?
33.1 Das Jüngste Gericht (Mt. 25, 31-46) Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Ge‐ segneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir ge‐ kommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekom‐ men? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
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33 Werden Menschen am Ende ihres Lebens für ihre Werke bestraft?
Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis ge‐ wesen, und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Diese Bibelstelle vom Weltgericht ist Vorlage für etliche bedrohliche Ge‐ mälde in der Kunstgeschichte. Mit dem Jüngsten Gericht hat man gedroht. Und vor dem Jüngsten Gericht hat man sich gefürchtet. Sieht man jedoch von der disziplinierenden Funktion dieser Vorstellung ab, kann man diese Geschichte umgekehrt für eine der größten moralischen Entdeckungen in der Humangeschichte halten. Hier wird nämlich vielleicht zum ersten Mal überhaupt die Menschenwürde in ihrer Unbedingtheit verteidigt. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Der König und Richter des Weltgerichts identifiziert sich mit den geringsten Menschen. Damit bekommen die Geringsten ein könig‐ liches Gesicht und eine königliche Würde. Bis heute hat sich diese Idee der Menschenwürde nicht weiterentwickelt. Sie ist inzwischen in vielen Staatsgesetzen niedergeschrieben worden. Aber unser gegenwärtiges Verständnis von Menschenwürde unterscheidet sich nicht von dem, was Jesus hier beschreibt. Unter Menschenwürde versteht man folgendes: Niemand darf von ande‐ ren so behandelt werden, dass er dabei unter eine bestimmte Grenze des Unwürdigen fällt. Sobald diese Grenze erreicht ist, müssen andere dafür sorgen, dass der gedemütigte Mensch wieder aufgerichtet wird. Menschen‐ würde verlangt nicht, dass wir alles tun müssen, damit es einem Menschen besonders gut geht. Menschenwürde verlangt nur, dass wir aufpassen, dass es keinem besonders schlecht geht. Und so ist es in diesem Bibelwort auch. Der König hat nicht verlangt, dass die Hungernden mit einem Festessen gespeist, die Gefangenen befreit werden oder die Kranken die beste medizinische Versorgung erhalten. Er hat nur verlangt, dass es ihnen ein wenig besser geht: Der Hungernde soll überhaupt etwas zu essen bekommen, der Gefangene und der Kranke besucht werden.
33.1 Das Jüngste Gericht (Mt. 25, 31-46)
Bescheidene Ziele! Sie führen nicht dazu, dass die Geringsten nun ein glückliches Leben führen. Vielmehr dürfen die Geringsten nicht unter die Grenze des Unwürdigen fallen. Das ist unsere Aufgabe. Wer das missachtet, wer den Hilferuf der Geringsten missachtet, der verletzt die Menschen‐ würde. „Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ Warum konnte dieser Text bis heute Menschen ängstigen, obwohl er eine große humanitäre Idee entwickelt hat? Und warum will man sich beruhigen, indem man die Vorstellung einer Hölle als mythisch zurückweist? Doch nur weil dieser Text unmittelbar ergreift. Anscheinend möchte Jesus mit seiner Geschichte unmittelbar ergreifen, verunsichern oder auch bewirken, dass man sich gegen diesen Text empört, weil er eine ewige Verdammnis androht. Gegenreaktionen auf diesen Text zeigen nämlich, dass eine ewige Strafe ebenso der Menschenwürde widerspricht. Wer sich dagegen wehrt, dass das eigene Verhalten mit einer ewigen Strafe gesühnt wird, will also genau das‐ selbe wie Jesus, nämlich die Menschenwürde behaupten. Eigene Gegenre‐ aktionen auf diesen Text führen somit vor Augen, dass wir eine Würde ha‐ ben. Und wer eine Würde hat, darf nicht unendlich gepeinigt werden. Genau darin stimmen die Reaktionen der Rezipienten mit Jesus überein: Wer hun‐ gert, darf nicht grenzenlos hungern. Wer gefangen ist, hat trotzdem Rechte. Und wer krank ist, darf uns nicht gleichgültig sein. Die Menschenwürde spüren wir am eigenen Leib, sobald uns Jesus die ewige Hölle androht – genauso wie Hungernde Angst haben, Gefangene sich vor der Behandlung der Wärter gedemütigt fühlen und wie Kranke fürchten, einsam zu sterben. Die Geschichte vom Weltgericht muss so drastisch sein und sie muss be‐ drohlich auf uns wirken. Denn von der Menschenwürde kann man nicht neutral reden. Man muss den unendlichen Wert des Menschen herausstellen. Und das kann man nur, indem man zeigt, wie die Menschenwürde bedroht ist: bei den Hungernden, Kranken und Gefangenen, aber auch bei uns, wenn wir von einer unendlichen Strafe bedroht werden. Hätte dieses Gleichnis nicht die unendliche Schwere von Verletzungen gegen die Menschlichkeit an unserem Leib vor Augen geführt, dann hätten wir seine Ansichten zur Menschenwürde kühl zur Kenntnis nehmen können. So aber sind wir vor die Entscheidung gestellt, ob wir die Menschenwürde der anderen achten oder sie zurückweisen, indem wir die Hölle für eine mythische Phantasie halten und uns mit dieser Strategie aus der Verantwortung stehlen. Die Ge‐ schichte vom Weltgericht zeigt uns auf, dass wir selber unendlich verletzbar sind und stellt uns so vor die Entscheidung, ob wir der Menschenwürde
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dienen wollen. Wir spüren den unendlichen Wert der Menschenwürde an uns selbst, sobald wir mit einer ewigen Strafe bedroht werden. Das hält un‐ sere Sensibilität für die Menschenwürde anderer wach. Der Text ist eine große moralische Entdeckung. Folgen wir seinem An‐ spruch und dienen der unendlichen Menschenwürde! Es wird nicht verlangt, dass wir alles tun müssen, damit es einem Menschen besonders gut geht. Menschenwürde verlangt nur, dass wir aufpassen, dass es keinem besonders schlecht geht. Aber wenn wir das nicht tun, dann verletzen wir unsere eigene unendliche Menschenwürde wie bei einer ewigen Strafe. Literatur zur Vertiefung
M. Beintker: Gottes Urteil über unser Leben. – Der frühere Münsteraner Theologe hält die Allversöhnung für konsequent, weil nur so die Herr‐ schaft Gottes ungebrochen und unbegrenzt sein kann, wenn es keine unversöhnten Bereiche in seiner Neuschöpfung gibt. W. Härle: Dogmatik, 15. 2. 3. – Die Vorstellung einer Allerlösung steht so‐ wohl in Widerspruch zur menschlichen Freiheit, die Gnade Gottes aus‐ zuschlagen, als auch zu den unzähligen Opfern von Gewalt und Schuld. Deshalb kann die Allerlösung nur erhofft, aber nicht theologisch gelehrt werden.
33.2 Wie Gott uns richtet (2. Kor. 5, 17-21) Ist jemand in Christus, so ist eine neue Schöpfung. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Weil Gott in Christus ist, wird alles anders. „Ist jemand in Christus, so ist eine neue Schöpfung“. Gott war in Christus. Also ist eine völlig neue Schöp‐ fung. Die ganze Welt dreht sich total um, weil Gott in Christus ist. Diese neue Schöpfung ist allerdings nicht einfach etwas Wünschenswer‐ tes, sondern bringt uns ins Stocken. Gott in Christus. Christus am Kreuz. Da
33.2 Wie Gott uns richtet (2. Kor. 5, 17-21)
muss wirklich alles anders werden als man es normalerweise vermutet. Menschen haben Gott ans Kreuz gebracht. Das ist eine totale Verdrehung dessen, was wir für möglich halten, dass Menschen den allmächtigen Gott ans Kreuz schlagen. Diese totale Verdrehung führt Paulus noch weiter, indem wir uns mit Gott gerade dadurch versöhnen, dass wir Christus töten. Kein Strafgericht bricht über den Menschen ein. Kein Mensch muss Gott um Erbarmen bitten dafür, dass man ihn aus der Welt drängt. Vielmehr will sich Gott mit den Menschen versöhnen, weil sie den Gottessohn töten. Und es wird noch sonderbarer: Gott bittet die Menschen, ob sie sich viel‐ leicht mit ihm versöhnen könnten. Es liegt also an ihnen, ob sie sich ver‐ söhnen lassen. Gott bleibt zurückhaltend, fragt vorsichtig an und bittet die Menschen, ob sie den Streit mit Gott nun beilegen wollen, nachdem sie den Streit ausgelöst und Gott ans Kreuz geschlagen haben. Das ist eine totale Veränderung unserer gewohnten moralischen Vorstel‐ lungen und eine totale Verzerrung dessen, wer für eine schuldhafte Tat die Verantwortung zu übernehmen hat. Und noch etwas ist völlig anders. Der Verstorbene wird aktiv und bittet um Versöhnung, nachdem er verstorben ist. Wie kann man sich das erklären? Wie ist so etwas möglich, dass Gott der Allmächtige sterben kann, dass wir ihn töten können und er uns dann noch um Versöhnung bittet? Und nach der Antwort, die Paulus hier gibt, ist es eben überhaupt nicht möglich in unserer Welt. Es ereignet sich aber doch, und zwar deshalb, weil es gar nicht in unserer Welt passiert, sondern in einer total veränderten. Die ganze Welt muss eine vollkommen andere sein, damit so etwas passieren kann. Es ist nur ein Ereignis in unserer Welt. Aber mit ihm verändert sich die ganze Welt. Dieses Ereignis besteht darin, dass sich Gott mit Jesus identifi‐ ziert. „Ist jemand in Christus, so ist eine neue Schöpfung.“ Und Gott war in Christus. Also entstand jetzt eine ganz neue Schöpfung. Christen haben diesen Satz oft anders übersetzt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung“. Damit hat man diesen Vers so verstanden, als ob wir Christen in Christus wären und also neu erschaffen würden. Im Griechischen findet sich aber dieser Zusatz an dieser Bibelstelle nicht. Es steht wörtlich: „Ist jemand in Christus, so ist eine neue Schöpfung.“ Das heißt, dass alles anders wird, die ganze Schöpfung, nicht nur wir. Nur etwas später schreibt Paulus: „Gott war in Christus“. Weil folglich Gott sich mit Christus identifiziert hat (und nicht etwa wir), wird deshalb alles anders.
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33 Werden Menschen am Ende ihres Lebens für ihre Werke bestraft?
Diese neue Schöpfung bringt uns daher zum Stocken. Sie hat etwas Be‐ ängstigendes. Sie ist eine Schöpfung, in der Gott zu Tode kommt und die Mörder frei kommen, eine Schöpfung, in der das Opfer um Versöhnung bit‐ tet, obwohl es doch unschuldig ist und eigentlich die Täter um Vergebung bitten müssten. Hier ist nicht alles „sehr gut“ wie in der ersten Schöpfungs‐ erzählung (1. Mose 1,31). Vielmehr wird Gottes Kampf mit der Sünde auf die Spitze getrieben. Die neue Welt, auf die wir Christen hoffen, beginnt mit dem Karfreitag und sie lässt ihn nie ganz hinter sich. Denn ein Gott, der den Tod überwinden will, muss tot sein, um zu zeigen, dass er die Macht über den Tod hat. Wäre Gott einfach unsterblich, dann würde der Tod sich trotzdem bei uns Geschöpfen ereignen. Die Ohnmacht des Todes kann nur aufgewiesen werden, wenn Gott selbst tot ist und dann zeigt, dass man Gott trotzdem niemals loswird. Deshalb ist Gottes Tod der Anfang einer neuen Schöpfung. Und deshalb kann die neue Schöpfung nie ohne den Karfreitag sein. Nun müssen wir in einer Welt leben, in der sich alles total umgedreht hat: Die Todesopfer werden wir nicht los. Die Opfer der Gewalt kehren wieder zurück. Und im besten Fall kommen sie nicht, um uns zu erschrecken, son‐ dern um uns um Frieden zu bitten. Wie gehen wir damit um? Dann können wir jedenfalls nicht einfach so weiter machen wie bisher. Denn was vorher ohnmächtig war, ist nun mächtig geworden. Was vorher ungerecht war, ist nun gerecht geworden. Jetzt müssten wir eigentlich völlig neu lernen, uns im Leben zurechtzufinden. Aber am Anfang dieser neuen Welt bleibt uns nichts anderes übrig als anzuhalten und stehen zu bleiben. So bleibt auf einmal der Hauptmann vor dem Kreuz Jesu stehen und hält an (Mk. 15,39). So bleibt auf einmal den Spöttern am Kreuz der Atem weg.27 Es ist eine Atmosphäre des Stillstandes, die Atmosphäre, in einer neuen Welt anzukommen. Darin erst einmal stehen bleiben und schauen, was passiert! Nun kann Stillstand auch aggressiv machen. Die Jünger Jesu jedoch haben sich nicht dafür gerächt, dass man Jesus umgebracht hat. Sie haben sich vielmehr einfach zurückgezogen in Stille. In einer neuen Schöpfung, in der alles verdreht ist, müssen wir das auch tun, weil wir erst wieder lernen müssen, uns neu auszukennen. Denn am Kreuz Jesu kommen wir nicht vorbei. Wir begreifen zwar so gut wie nichts davon. Wir sehen, wie sich alles verdreht und total umgekehrt hat. Aber das Kreuz Jesu steht. Wie Gott die Welt total umgedreht hat, ist 27
Kapitel 23.
33.2 Wie Gott uns richtet (2. Kor. 5, 17-21)
für uns unfassbar und kaum begreiflich. Christus, an den sich Gott bindet und damit alles umdreht, hängt am Kreuz. Ein Faktum, das noch zur alten Welt gehört, das wir uns bildlich vorstellen können und an dem wir nicht vorbeiinterpretieren können. Die ganzen totalen Verdrehungen gehen von diesem Faktum aus, das uns unverstellt vor Augen liegt. Dieses Faktum macht uns eher betroffen, als dass es weitere Aggression schürt. Der Gekreuzigte führt uns zwar noch nicht ins neue Leben, aber er hält uns an. Wenn alles umgedreht ist, lässt uns Gott keinen Spielraum mehr, um zu sündigen. Denn von den Opfern unserer Sünde kommen wir nicht mehr los. Literatur zur Vertiefung
K. Barth: Kirchliche Dogmatik II/2, 176–187. – Die Umkehrung aller menschlichen Bewertungsmaßstäbe zeigt sich nach Barth in der Gna‐ denwahl Gottes, bei der Gott sich selbst verwirft, um den Menschen zu erwählen. I. U. Dalferth: Selbstlose Leidenschaften, 69–75. – Im menschlichen Leiden wird Gott nicht nur dunkel, sondern verdunkelt sich selbst. Der Wider‐ streit Gottes gegen sich selbst wird zum maßgeblichen Bezugspunkt des Glaubens.
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34 Die Auferstehung der Toten 34.1 Woher können wir etwas vom ewigen Leben wissen? (Joh. 3, 11-13) Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glau‐ ben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herab‐ gekommen ist, nämlich der Menschensohn.
Man kann nicht in den Himmel auffahren, um etwas über das ewige Leben zu erfahren. Vielmehr muss man richtig in die Tiefen auf Erden eindringen. Man kann das ewige Leben sogar sehen: „Wir bezeugen, was wir gesehen haben“, nämlich „an irdischen Dingen.“ Das Ewige ist uns offenbar so dicht in unserem Leben. Aber wir übersehen es meistens. Und weil wir es über‐ sehen, glauben wir dem nicht, der auf das Ewige bei uns hinweist. Normalerweise nehmen wir dieses Zeugnis nicht an, dass wir das ewige Leben sehen und danach greifen können. Aber Trauernde erleben etwas, was sie aus der Normalität herausreißt. Sie sind damit in der Lage, genau das zu spüren, wovon Jesus spricht, nämlich dass das ewige Leben ganz dicht bei ihnen ist. Wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, dann ist er nicht einfach weg. Im Gegenteil, er ist seinen Hinterbliebenen viel zu dicht, dass es sie Über‐ windung kostet, sein Zimmer zu betreten, oder dass sie sich nicht mehr in seinen Sessel setzen. Denn da sitzt er irgendwie noch. – Eine verstorbene Person ist so dicht, dass ein Foto von ihr zutiefst anrührt. Der Verstorbene ist zwar nicht mehr so da, wie sich Trauernde das wünschten. Sie können ihn nicht mehr umarmen. Aber weg ist er nicht. Es wird uns viel zu aufdringlich klar, dass er anders bei uns ist. Es wäre wohl einfacher, wenn der Verstorbene ganz weg wäre und nichts mehr an ihn erinnern würde. Aber so ist es nicht. Er ist viel zu dicht anwe‐ send. Er macht uns aufdringlich klar, dass seine Nähe anders ist, als Trau‐ ernde sich das wünschen. Und dabei rückt er ihnen ganz dicht zu Leibe.
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34 Die Auferstehung der Toten
Viele Trauernde suchen geradezu die Begegnung mit der verstorbenen Person. Sie nehmen sich ein Foto in die Hand, weil sie ihr begegnen wollen. Sie gehen ans Grab, um sich mit ihr zu unterhalten. Sie setzen sich ihrer Nähe aus und gehen absichtlich an die Stelle in der Wohnung, an der sie immer gesessen hat. Und wie lange dauert es, ihren Schreibtisch aufzuräu‐ men?! Obwohl man also eine verstorbene Person aufsuchen kann, ist ihre Nähe dennoch anders, als wir uns das wünschen würden. Deshalb trauern wir. Wir trauern nicht, weil der Verstorbene weg ist. Wir trauern, weil er uns anders nahe kommt. Wir fühlen dann, wie der Verstorbene um uns ist wie der Wind, von dem Jesus im selben Gespräch auch spricht (Joh. 3,8). Aber er ist nicht einfach da – genauso wenig wie der Wind.28 Wir spüren die Nähe eines Verstorbenen, aber wir spüren keinen Sinn und kein Ziel. Trotzdem sind solche Erfahrungen tröstlich. Trauernde suchen eben die Orte auf, an denen sie dem Verstorbenen besonders nahe sind. Trotz all der Traurigkeit haben sie auch etwas davon, seiner Nähe ausgesetzt zu sein. Es tröstet ebenso wie es belastet. Trauernde sind daher die Propheten in der Nachfolge Jesu. Sie machen Erfahrungen auf Erden, die uns über die Erde hinausführen. Sie bezeugen, was sie gesehen haben, und dringen in die Tiefen irdischer Erfahrungen ein. Und sie helfen uns, den Himmel dabei zu entdecken. Denn wenn der Ver‐ storbene so dicht begegnet, so ist er ja auf Erden aktiv und tröstet uns auf seine Weise. Viele Leser werden vermutlich das eine oder andere so erlebt haben. Aber sie könnten sich trotzdem fragen, ob solche Gefühle das Leben nach dem Tod belegen können. Manche werden zudem mit solchen Widerfahrnissen der aufdringlichen Nähe eines fernen Menschen auch beängstigende Vor‐ stellungen verbinden, so als ob der Verstorbene als Gespenst weiterlebt – und unheimlich um die Hinterbliebenen herumgeistert. Zudem sind solche Erfahrungen der Nähe des Verstorbenen nicht garantiert. Vielleicht haben Trauernde solche Erfahrungen nur manchmal, und der wiederholte Gang zum Grab oder ins Zimmer des Verstorbenen „nutzt sich ab“ und löst nichts mehr aus. Könnte das nicht belegen, dass diese Erfahrungen nur Einbildung sind, die eher etwas über Trauernde aussagen als über Verstorbene? Bilden sich Trauernde dann nicht nur ein, dass der Verstorbene dicht bei ihnen ist, weil sie seine Ferne nicht verkraften können? 28
Kap. 31.
34.1 Woher können wir etwas vom ewigen Leben wissen? (Joh. 3, 11-13)
In diesen Einwänden stecken mehrere gegenläufige Eindrücke. Der Ver‐ dacht des Unheimlichen ist gerade nicht eingebildet, weil es Hinterbliebene schutzlos überkommt. Hier passiert etwas, was Menschen in den Bann schlägt und daher auch unheimlich erlebt werden kann. Gespensterglaube könnte eine Form sein, solche Erfahrungen zu reflektieren. Menschen ma‐ chen Erfahrungen, wie dicht der Verstorbene ihnen zu Leibe rückt, und manche deuten das mit Gespenstergeschichten. Diese Deutung ist fragwür‐ dig, zumal wenn sie unterstellt, dass dem unheimlichen Eindruck auf unserer Seite jemand auf der anderen Seite entspricht, der uns erschrecken will. Wie anders aber soll eine verstorbene Person uns begegnen können als so, dass sie uns überrascht und bisweilen überwältigt? Wie könnte sie uns das er‐ sparen, gerade wenn sie uns liebt und uns deshalb begegnet? Gespensterglaube ist das Zweite, eine Deutung. Dem liegt als Erstes die unmittelbare Erfahrung zugrunde, wie Verstorbene auf alltäglichen Wegen begegnen können, auf denen Trauernde unterwegs sind. Dieses Erste, dass der Verstorbene dicht zu Leibe rückt, ist keine Einbildung. Denn sonst würde man diese Erfahrung ja nicht machen, dass er zu Leibe rückt. Trauern ist aber keine Einbildung. Und man trauert eben nicht, weil der Verstorbene weg ist, sondern weil er uns anders nahe kommt. Wäre das alles eingebildet, so würden Trauernde sich einbilden, dass sie trauern. Bleiben wir daher zunächst bei dieser ersten, unmittelbaren Trauererfah‐ rung. Sie bringt Verstorbene nahe, die den Trauernden sehr nahe sind. Ich bin aber daran interessiert, das Tröstliche an solchen Erfahrungen zu deuten und nicht nur das Unheimliche – eben das, was man sich nicht mit Ad hoc-Erklärungen einredet wie Gespenstergeschichten, sondern was man wie ein aufrichtiger Augenzeuge weiß. Warum kann es auch trösten, wenn wir so dicht mit den Verstorbenen konfrontiert sind? Die Antwort liegt nahe, dass wir hier in eine Sphäre eintreten, von der der Augenzeuge Jesus ge‐ sprochen hat. Wir erfahren den Himmel dicht bei der Erde. Näheres dazu wissen wir nicht. „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.“ Aber den Wind spüren wir schon. Und schon dass wir ihn spüren, tröstet. Wir wissen nicht, woher der Trost kommt und wohin er geht. Aber wir werden dennoch ge‐ tröstet. Denn wir spüren den Trost eines ewigen Lebens, wenn wir die Nähe zu den Verstorbenen aufsuchen. Dann ist uns der Trost unbezweifelbar nahe.
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Literatur zur Vertiefung
L. Ohly: Was Jesus mit uns verbindet, 78–83. – In diesem Abschnitt rekon‐ struiere ich die Typik der Verkündigung Jesu, dass Gottes Reich so nahe herbeigekommen ist, dass man dafür irdische Zeichen hat. Dabei gehe ich auch auf diese Bibelstelle ein. R. Kachler: Meine Trauer wird dich finden, Kap. 2. – Anschauliche Beispiele, wie Verstorbene einem Hinterbliebenen zu Leibe rücken, werden in die‐ sem Kapitel gegeben. Verstorbene sind nicht mehr da, aber genau das geht uns so nahe wie nichts anderes, was uns nahe ist.
34.2 Wie sieht das Leben nach dem Tod aus? (1. Kor. 15, 35-38.42-44) Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit was für einem Leib werden sie kommen? Du Narr: Was du säst, macht nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er wollte, einem jeden Samen seinen eigenen Leib. So auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich und wird aufer‐ stehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.
Spätestens in Zeiten der Erkenntnis über die genetischen Grundlagen des Lebens wird zweifelhaft, wie Paulus die Auferstehung von den Toten erklärt. Er erklärt sie mit Erfahrungen aus der Landwirtschaft, nämlich dass der Same etwas anderes sei, als was daraus werde. Ebenso soll angeblich das irdische Leben natürlich etwas anderes sein, als was daraus wird. Dieser Vergleich hinkt. Genetisch ist der Same nämlich dasselbe wie das Gewächs, das daraus wird. Beide haben dieselben Gene. Also stirbt streng genommen der Same nicht ab, sondern durch Zellteilung des Samens wächst schließlich eine Blüte. Das ist aber beim Tod etwas anderes, bei dem der Körper abstirbt und die Zellteilung früher oder später abbricht. Zwar können die Haare einer verstorbenen Person noch Jahre weiter wachsen. Dennoch käme niemand
34.2 Wie sieht das Leben nach dem Tod aus? (1. Kor. 15, 35-38.42-44)
darauf, daraus zu folgern, dass diese Person deshalb bereits in einem neuen Leben wandelt. Trotzdem ist die Erklärung von Paulus vielleicht sogar uns heute näher als seinen Adressaten damals. Denn in gewisser Weise unterstützt gerade das moderne Wissen der Biotechnologie die Position von Paulus. Was Men‐ schen biotechnologisch erreichen können, hat sehr viel zu tun mit der bi‐ blischen Behauptung, dass das Leben aus dem Tod entsteht und aus dem Tod erwächst. Ich möchte dazu ein Beispiel einer biotechnologischen Innovation geben. Damit möchte ich belegen, was im Argument des Paulus außerdem enthalten ist. Denn er zeigt nicht nur, dass ein Mensch zuerst sterben muss, bevor er aufersteht wie Getreide aus dem Samen. Sondern Paulus zeigt auch, dass Leben nicht nur individuelles Leben ist. Mein Leben ist nicht nur einfach mein Leben. Sondern mein Leben ist mit dem Leben von anderen unzer‐ trennbar verbunden. Und mein Leben hängt an dem Leben und Sterben von anderen. Jeder von uns hat sogenannte „pluripotente Zellen“ in seinem Körper. Das sind Zellen, die man herausnehmen und im Reagenzglas neu kultivieren könnte, wobei die Zellteilung neu angeregt werden könnte. Dabei könnten aus solchen pluripotenten Zellen völlig unterschiedliche Körperzellen ge‐ züchtet werden: Blut- oder Hautzellen, sogar Hirnzellen oder Zellen der Netzhaut, so dass nach einer erfolgreichen Implantation dieser Zellen das entsprechende Körperteil wieder instandgesetzt werden könnte – also etwa ein sehbehinderter Mensch wieder sehen könnte. Man vermutet darüber hinaus, dass es prinzipiell möglich ist, solche Zellen so zu verändern, dass dabei sogar neues menschliches Leben entsteht. Grundsätzlich ist es also möglich, dass sich aus einer Zelle aus meinem Körper ein anderer Mensch entwickeln und geboren werden könnte. Wenn das zutrifft, könnte man also sagen, dass in meinem Leben das Le‐ ben anderer Menschen schlummert, die es auch geben könnte. Folgerichtig heißt das, dass mein Leben nicht individuell ist. Vielmehr schlummert in meinem Leben Leben ganz allgemein, auch das Leben von anderen. Aber eben: Es schlummert, dieses Leben. Wir wenden diese Technik (noch) nicht an. Wir programmieren nicht all unsere Zellen um, dass daraus andere Menschen entstehen. Wenn man meinen Körper so konsequent um‐ programmieren würde, dass alles schlummernde Leben erwachen würde, dann hätte ich keinen Körper mehr. Ich kann also überhaupt nur deshalb
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einen lebendigen Körper haben, weil ein anderes Menschenleben nicht ent‐ steht. Insofern hängt mein Leben daran, dass der Same in mir stirbt. Die hochmoderne Biotechnologie deckt auf, dass Leben mit anderem Le‐ ben unzertrennbar verwoben ist und mein Leben an den Keimen in mir hängt. Aber aus diesen Keimen hätte auch anderes Leben entstehen können. Für diese Keime gilt daher, dass sie mich lebendig machen, weil aus ihnen eben nicht das Andere entsteht, obwohl es entstehen könnte. Oder mit Pau‐ lus: „Was du säst, macht nicht lebendig, wenn es nicht (selber) stirbt.“ Mich fasziniert an dem Bild von Paulus und an dem Bild der Biotechno‐ logie, dass dann auch die Verstorbenen an den gegenwärtigen Lebenspro‐ zessen teilhaben, wenn doch Leben mit anderem Leben verwoben ist. Das liegt an dem Charakter des Lebens selbst, der sich gerade am Bild von den Lebenskeimen in mir zeigt. Mein Leben gibt es nur, weil anderes Leben auf mich verweist. Diese Zellen, aus denen auch etwas anderes werden könnte, machen meinen Körper aus und repräsentieren mich. Ich bin nie ganz ich selbst, sondern verdanke mich dem fremden Leben. Diese Pointe hat nun doch mit der Auferstehung der Toten zu tun. Denn die Toten werden auferstehen, weil auch sie sich dem fremden Leben ver‐ danken. Niemand ist ganz er selbst. Wir verdanken uns immer schon dem anderen Leben. Schon biologisch ist das so. Wenn wir daher Hoffnung su‐ chen für unsere Verstorbenen, dann müssen wir zugleich das fremde Leben mitdenken, aus dem sie gelebt haben und aus dem wir leben. Die Hoffnung für jedes einzelne Leben von uns hängt an der Hoffnung für das Leben ins‐ gesamt. Die Auferstehung von den Toten geschieht nach den Regeln des Schöp‐ fers. Sie geschieht nach der Regel, nach der Gott der Schöpfer das Leben insgesamt eingerichtet hat. Und er hat es so eingerichtet, dass kein Leben isoliert ist, sondern nur mit dem Leben insgesamt besteht. Das gilt auch von den Verstorbenen. Sie haben teil am Leben insgesamt. Auch das möchte ich so, wie es Paulus versucht hat, noch einmal biologisch belegen. Biologisch, sagte ich, lebe ich aus dem fremden Leben in mir. Ich lebe, weil das fremde Leben in mir mich repräsentiert. Das fremde Leben in mir re‐ präsentiert also Leben, obwohl es selbst nicht zur Entfaltung kommt. Die Keimzelle in mir bleibt Keimzelle für mich, damit ich leben kann. Sie reprä‐ sentiert mich, ohne selbst zur Entfaltung zu kommen, ohne also selbst ein ganzer Mensch zu werden. Und wenn wir an Verstorbene denken, dann re‐
34.2 Wie sieht das Leben nach dem Tod aus? (1. Kor. 15, 35-38.42-44)
präsentieren sie uns auch. Ihr Tod hat eine Bedeutung für uns. Mit ihrem Tod sagen sie uns etwas. Wir hören, wie sie uns trösten. Wir hören ein Geräusch in der leeren Wohnung, und deuten es als eine Antwort der Ver‐ storbenen zur rechten Zeit. Das Windspiel auf dem Grab spricht mit mir. Und die Sonne geht gerade jetzt auf, wo ich am Grab stehe. Solche Ereignisse mögen Zufälle sein. Aber dann repräsentieren eben diese Zufälle, was in unserem Leben Bedeutung hat. Sie repräsentieren das Leben der Verstorbenen in uns. Und was für uns Bedeutung hat, das macht unser Leben aus. Wir verdanken eben unsere Bedeutung dem fremden Le‐ ben. Ob es Zufälle sind oder sinnvolle Zeichen: Sie repräsentieren unser Leben in einem Zusammenhang des ganzen Lebens, in dem die Verstorbenen ein Teil bleiben. Denn wenn das Leben nach dieser Regel errichtet ist, dann gilt sie auch für die Verstorbenen. Auch sie verdanken sich dem fremden Leben. Und das bedeutet, dass auch sie im Leben eingebunden bleiben. Auch sie werden repräsentiert von dem fremden Leben in ihnen. Oder wie es Paulus an anderer Stelle ausdrückt: „Denn keiner von uns lebt für sich selbst, und keiner stirbt für sich selbst. Leben wir, so leben wir für den Herrn; sterben wir, so sterben wir für den Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“ (Röm. 14,7 f). Das individuelle Leben verdankt sich stets dem fremden Leben. Wer sich für das fremde Leben öffnen kann, wird eine umfassende Gemeinschaft er‐ leben mit den Lebenden und Verstorbenen. Literatur zur Vertiefung
L. Ohly: Was Jesus mit uns verbindet, Kap. 8. – In diesem Kapitel stelle ich mit den Methoden der Phänomenologie und der Semiotik dar, dass die Toten auferstehen werden und wir ihnen schon jetzt begegnen. U. Volli: Semiotik. – Dieses Buch vermittelt die Grundlagen der Zeichen‐ theorie (Semiotik), auf die ich mich in meinem Modell der Auferstehung beziehe.
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35 Das Reich Gottes (Lk. 13, 22-27) Und er ging durch Städte und Dörfer und lehrte und nahm seinen Weg nach Jerusalem. Es sprach aber einer zu ihm: Herr, ob nur wenige gerettet werden? Er aber sprach zu ihnen: Ringt darum, dass ihr durch die enge Pforte hineingeht; denn viele, das sage ich euch, werden danach trachten, wie sie hineinkommen, und werden's nicht können. Wenn der Hausherr aufgestanden ist und die Tür verschlossen hat, und ihr an‐ fangt, draußen zu stehen und an die Tür zu klopfen und zu sagen: Herr, tu uns auf!, dann wird er antworten und zu euch sagen: Ich kenne euch nicht; wo seid ihr her? Dann werdet ihr anfangen zu sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken, und auf unsern Straßen hast du gelehrt. Und er wird zu euch sagen: Ich kenne euch nicht; wo seid ihr her? Weicht alle von mir, ihr Übeltäter!
Wozu diese Angstmacherei? Warum muss ausgerechnet Jesus, der Bevoll‐ mächtigte, um Sünde zu vergeben, hier eine Drohrede halten? Auch hier29 scheint Jesus wieder mit seiner Provokation darauf hinzuweisen, dass man die Heilsfrage nicht anonym verhandeln kann. Die Heilsfrage kann man nicht so verhandeln, als wäre man selber unbeteiligt. Offenbar hat er die Frage von seinem Gesprächspartner so anonym ver‐ standen: „Herr, ob nur wenige gerettet werden?“ Das klingt so, als ob man eine Information einholt, ohne dass sie einen ernsthaft betrifft. So etwa wie die Frage: „Ob es heute noch regnet?“ Mag es regnen oder nicht, so ist das nicht lebensentscheidend. Aber die Frage: „ob nur wenige gerettet werden?“, muss lebensentscheidend sein, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund leuchtet sofort ein: Rettung betrifft uns immer. Ob nur wenige gerettet werden, betrifft mich genauso stark wie wenn viele gerettet werden. Das hat Konsequenzen für mein Leben. Wenn viele gerettet werden, kann ich beruhigt sein, weil ich dann vermutlich dazugehöre. Wenn aber nur wenige gerettet werden, muss ich mich fragen, ob ich dazugehöre. Und, wenn Ja, warum ausgerechnet ich und andere nicht? Jesus will mit seiner
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Sektion 33. 1.
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35 Das Reich Gottes (Lk. 13, 22-27)
Drohrede also erreichen, dass wir die Frage nach Errettung zu unserer Frage machen. Die Frage, was den Menschen rettet, muss eine Frage werden, was mich eigentlich rettet. Der zweite Grund leuchtet nicht sofort ein. Denn mit seiner Drohrede erzeugt Jesus einen Druck. Und es ist fraglich, ob Menschen unter Druck und Angst wirklich lebensentscheidende Veränderungen vornehmen kön‐ nen. „Ringt darum, dass ihr durch die enge Pforte hineingeht; denn viele, das sage ich euch, werden nicht hineinkommen.“ Die entscheidende Moti‐ vation, um sich anzustrengen, soll Angst sein. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber. Untersuchungen aus der Motiva‐ tionspsychologie bestätigen das. Menschen lassen sich leichter zu einem bestimmten Verhalten motivieren, wenn man Anreize schafft, die sie sehr bald auch erreichen können. Sie lassen sich aber weitaus schwerer motivie‐ ren, wenn man ihnen Angst macht, es sei denn, dass das zu fürchtende Er‐ eignis unmittelbar bevorsteht. Aber auch dann verändern sich Menschen nur insofern, als sie die Angst dadurch vermeiden können, aber nicht weil ihnen das Ziel einleuchtet. Die Angst hat dann nur instrumentellen Zweck, ohne dass Menschen motiviert werden, ihr Leben deshalb zu verändern, weil es veränderungswürdig ist. Das Ziel ist für Jesus aber das Reich Gottes selbst. Und das Reich Gottes muss wichtiger sein, als die Frage, ob ich dabei bin. Denn wenn das die entscheidende Frage wäre, ob ich dabei bin, wäre ich mir wichtiger als das Reich Gottes. Und gerade dadurch würde ich das Reich Gottes verfehlen. Denn damit stelle ich mich in einen Widerspruch zu meinem Ziel, ins Reich Gottes zu kommen. Wenn andere mir nämlich gleichgültig sind, ob sie ins Reich Gottes kommen, weil ich zu sehr mit mir selber beschäftigt bin, dass ich hineinkomme, dann stelle ich mich in Widerspruch zum Reich Got‐ tes. Denn im Reich Gottes ist die Gleichgültigkeit überwunden. Aber so gesehen, könnte der zweite Grund jetzt einleuchten, warum die Heilsfrage für uns lebensentscheidend ist. Es kann uns nämlich nicht gleich‐ gültig sein, „ob nur wenige gerettet werden“. Die Heilsfrage geht mich etwas an, aber nur so, dass mich ebenso alle anderen Menschen etwas angehen. „Ob nur wenige gerettet werden?“ Ich muss darum ringen, dass sie alle ge‐ rettet werden. Ich muss darum ringen, als ob ich dadurch entscheiden könnte, wie viele gerettet werden, und zwar möglichst viele. Niemand kann mir bei dieser Frage egal sein. Die Heilsfrage ist lebensentscheidend für mich und für alle anderen. Denn wenn mir das Schicksal anderer gleichgültig
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wäre, wäre unsere Beziehung zueinander gerade noch nicht geheilt – und wir wären damit noch nicht ins Reich Gottes gekommen. Das Verhalten anderer Menschen können wir aber nicht verändern. Wie können wir für sie ringen? Auch dazu gibt Jesus mit seiner Rede eine er‐ nüchternde Antwort. Sie ist zwar ernüchternd, aber sie kann auch entlasten. Wir können zwar und sollen ringen, als ob wir die Heilsfrage entscheiden könnten. Aber letztlich ist uns der Ausgang der Frage doch entzogen. „Ringt darum! Aber wenn der Hausherr die Tür verschlossen hat“, ist sie eben zu. Sowohl das Verhalten des Hausherrn als auch das Verhalten anderer Men‐ schen können wir nicht steuern. Es bleibt uns entzogen. Die Heilsfrage – wir sollen darum ringen, dass es unsere Frage ist. Aber sie wird doch zugleich woanders entschieden. Christen, die die Heilsfrage zu einer lebensentscheidenden Frage machen, richten also gerade ihren Blick von sich weg. Das Schicksal der anderen Menschen, aber auch das Verhalten anderer Menschen, das uns entzogen ist, betrifft sie. Diese christliche Lebensweise orientiert sich gerade an dem, was uns entzogen ist. Wer aber so von sich selbst absieht und seinen Orientie‐ rungspunkt beim Anderen findet, hat die eigene Heimat schon aufgegeben und lebt in einer fremden Gegend, in der man sich nicht auskennt und in der das Schicksal einem selbst entzogen ist. Das Reich Gottes ist eine solche fremde Gegend. Wer sich mit dem frem‐ den Leben identifiziert, wer für das fremde Leben ringt, ohne dass er ihm beikommt, hat das Reich Gottes gefunden und lässt sich von ihm leiten. Literatur zur Vertiefung
I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 429–431. – Die Verletzung der Menschenwürde trifft nicht nur einen Menschen, sondern die Menschheit in seiner Person. Da Moral jeden Menschen einbezieht, sind auch alle Menschen von der Verletzung nur eines Menschen betroffen. W. Huber/H.E. Tödt: Menschenrechte, 175–181. – Dieses Buch ist die Grund‐ lage des menschenrechtlichen Denkens des ehemaligen EKD-Ratspräsi‐ denten Wolfgang Huber. In der vorgeschlagenen Passage wird ein Zu‐ sammenhang hergestellt zwischen der Endzeiterwartung, dass alle Menschen dem Gericht Gottes entgegengehen, und ihrer Solidarität zu‐ einander. Das Ziel einer universalen Rechtsgemeinschaft liegt in der Hoffnung auf eine endzeitliche Gemeinschaft aller Menschen.
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36 Der Trost des Christentums (2. Kor. 1, 3-7) Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmher‐ zigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott. Denn wie die Leiden Christi auf uns überfließen, so fließt durch Christus auch unser Trost hinüber. Haben wir aber Trübsal, so geschieht es euch zu Trost und Heil. Wenn wir aber getröstet werden, so geschieht es zu eurem Trost, der sich wirksam erweist, wenn ihr mit Geduld dieselben Leiden ertragt, die auch wir leiden. Und unsere Hoffnung steht fest für euch, weil wir wissen: wie ihr an den Leiden teilhabt, so werdet ihr auch am Trost teilhaben.
Elf Mal kommt das Wort „Trost“ oder „trösten“ in diesem kurzen Text vor – so oft, dass man sich schon wundert. Aber je öfter das Wort benutzt wird, desto stärker merkt man auch, wie Paulus mit dem Thema ringt. Auch Paulus kann nicht in einem Satz sagen, was Trost ist. Man spürt, wie wichtig ihm das Thema ist – genauso wichtig wie uns, wenn wir die Traurigen trösten wollen und nicht wissen, was wir sagen sollen. Aber auch Paulus hat kein Rezept dafür zur Verfügung. Ist Trost ein Gefühl? Aber wie fühlt es sich an, getröstet zu sein, wenn das Schicksal doch nicht rückgängig gemacht wird? Und wenn Trost ein Gefühl wäre: Was wäre dann trösten? Das Gefühl der tröstenden Person auf andere übertragen? In den Situationen, in denen mich Menschen getröstet haben, habe ich dabei nicht dasselbe Gefühl gehabt wie sie. Trost ist offenbar etwas, was sich zwischen Menschen ereignet, ohne dass ihre Gefühle sich dabei ähnlich sein müssen. Paulus will beschreiben, was beim Trösten passiert. Und er stellt auch gleich fest: Wer tröstet, kann in einer ganz anderen Situation sein als die, die getröstet werden. Dazu beschreibt er eine merkwürdige Erfahrung. Er sagt von sich, dass er dadurch trösten kann, dass er leidet. Ich glaube nicht, dass es sich hier um eine typische Trostsituation handelt. Normalerweise werden wir nicht dadurch getröstet, dass andere Men‐ schen, von denen wir viel halten, leiden. Das ist eine ganz besondere Situa‐
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tion, die hier merkwürdig tröstet. Das dürfte mit der besonderen Beziehung zusammenhängen, in der Paulus zu seiner Gemeinde in Korinth gestanden hat. In Korinth gab es offenbar etliche Gemeindeglieder, die Paulus in Zweifel gezogen haben und ihn am liebsten los haben wollten. Darunter hat Paulus gelitten. Er war gerade auf einer Missionsreise und hat davon erfahren, dass etliche aus der Gemeinde in Korinth, die er gegründet hatte, ihn fallen lassen wollten. Man erfährt im 2. Korintherbrief, dass Paulus während seiner Mis‐ sionsreise ohnehin schon viel erleiden musste. Und dann noch dieser Ver‐ trauensbruch in Korinth! Offenbar hat die Gemeinde in Korinth bereits vor Erreichen seines Briefes davon erfahren, dass Paulus unter ihr leidet. Anscheinend haben jetzt etliche aus der Gemeinde ein schlechtes Gewissen bekommen und leiden jetzt auch. Die Gemeinde leidet, weil Paulus leidet. Und das wiederum muss Paulus erfahren haben, was ihn jetzt tröstet. Und wenn er getröstet ist, dann will er seine Gemeinde auch wieder trösten. Unter diesen verschränkten Bedin‐ gungen kann er verkürzt sagen: „Denn wie die Leiden Christi auf uns über‐ fließen, so fließt durch Christus auch (mein) Trost hinüber (zu euch).“ So könnte es gewesen sein, warum das Leid von Paulus schließlich seine Gemeinde tröstet. Zumindest meint er, dass sein Leid etwas mit dem Leid der Gemeinde zu tun hat. Weil er leidet, besteht eine Gemeinschaft der Lei‐ denden, in der einige getröstet werden. Diese besondere Situation lässt sich aber nicht verallgemeinern. Es tröstet uns nicht oft, wenn auch andere leiden müssen. Aber vielleicht ist es genau das, was wir allgemein aus diesem Bibeltext lernen können, nämlich dass Trösten immer etwas Besonderes ist. Zum Trösten gibt es keine allgemeinen Sätze und kein Rezept. Sogar was Trösten eigentlich ist und was es bewirkt, kann man immer nur an der besonderen Situation erfahren. Manchmal können eben tatsächlich diejenigen trösten, die am meisten leiden. Aber sicher nicht deswegen, weil sie leiden! Vielmehr vielleicht des‐ halb, weil sie am dichtesten am Leiden stehen und daher manchmal (!) am besten durchschauen können, was auch tröstet. Manchmal sind aber Men‐ schen so verzweifelt, dass sie andere brauchen, die sie trösten. Aber auch diese anderen müssen ganz dicht dabei stehen, um trösten zu können. Man muss sich dem Leid nähern können, um trösten zu können. Wenn uns jemand irgendetwas Allgemeines auf Distanz sagt: „Ist schon nicht so schlimm“ oder: „Wird schon wieder“, tröstet das nicht. Eher scheint
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jemand vor unserem Leid zu flüchten. Es ist sein Wunsch, dass es nicht so schlimm ist, damit er nicht so dicht ans Leid herangehen muss. Wer traurig ist, wird sich bei solchen Sätzen eher verlassen fühlen. Eine billige Vertrös‐ tung ist deswegen billig, weil jemand zu wenig investiert, um zu trösten. Trost hat also etwas damit zu tun, dass jemand mehr investiert. Man muss etwas von sich hergeben und riskieren, um zu trösten. Vielleicht muss man sogar auch etwas von sich preisgeben, weil aufrichtiges Trösten sehr per‐ sönlich ist. Und dann sind unsere Beobachtungen gar nicht mehr so weit entfernt von der Annahme des Paulus: Wer leidet, kann auch trösten. Aber wer trösten kann, muss nicht unter demselben Schicksal leiden wie diejenigen, die getröstet werden. Nicht einmal muss er unter einem anderen Schicksal leiden. – Ich erinnere mich an Worte von Menschen, die mir einmal beigestanden haben und mir gesagt haben: „Ich weiß, wie es dir geht. Ich habe das auch schon erlebt“. Das hat mich nicht getröstet. Wenn ich leide, bin ich als Leidender unvertretbar. Ich möchte von der Person, die mich trösten will, in meiner Unvertretbarkeit respektiert werden. Aber ich wün‐ sche mir zugleich, dass sie mir in meinem Leid nahe kommt. Und irgendetwas passiert dann. Andere stehen mir bei, sie respektieren mich in meinem unvertretbaren Leid. Und irgendetwas passiert dann. Viel‐ leicht ganz unbeabsichtigte Äußerungen können dann tröstlich wirken oder irgendein ungeübtes Stammeln oder vielleicht einfach nur der richtige Zeit‐ punkt, um zu kommen und wieder zu gehen. Trost passiert, ist aber offenbar nicht einfach machbar. Paulus spricht deshalb davon, dass Gott tröstet, wenn sich Trost ereignet. Er ist der Gott „allen Trostes“. Nicht wir trösten – Trost ereignet sich, ist aber nicht einfach machbar. Gott hat allen Trost. Und er hat ihn nach Paulus „durch Christus“, dadurch, dass Gott sich in Christus der leidenden Kreatur angenommen hat – so sehr dass Christus selbst gelitten hat. Es muss uns nicht trösten, dass Christus gelitten hat. Aber dass Gott uns in unserer unvertretbaren Situation nahe gekommen ist, ist zumindest ein günstiger Einstieg, wie Trost möglich wird. Irgendetwas muss dann noch passieren. Und was da passiert, damit wir getröstet werden, kann man nicht erzeugen. Aber Gott hat immerhin einen guten Einstieg gewählt und kommt uns im Leiden nahe. Er respektiert uns in unserer Unvertretbarkeit und leidet selbst unvertretbar. Und wenn dann irgendetwas passiert, was uns tröstet, dann ist es eine Gabe Gottes. Bestimmt hätten es viele von uns lieber, wenn sie wüssten, was genau man machen muss, um zu trösten, und welches Handwerk man dafür be‐
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herrschen muss. Aber alles, was wir als Handwerk ausüben können, tröstet oft überhaupt nicht. Zum Handwerk des Tröstens gehört immerhin, dass wir etwas von uns für die Leidenden riskieren und ihnen nahe kommen, ohne ihnen ihre Unvertretbarkeit wegzunehmen. Das kann man lernen. Und wir Christen sollten uns vornehmen, das zu lernen. Dass dann irgendetwas noch passieren muss, was wir nicht in der Hand haben, lässt gerade deshalb Trösten passieren. Weil Trost eine Gabe Gottes ist, werden Menschen immer wieder getröstet – viel öfter, als wenn wir unserem Handwerk vertrauen würden, wie man tröstet. Das Vertrauen in den Trost ist das Vertrauen in etwas, was nicht einfach gemacht werden kann. Und wir haben Grund, in den Trost Gottes hier zu vertrauen. Denn er hat sich in Christus voll riskiert, um uns nahe zu sein. Literatur zur Vertiefung
M. Josuttis: Gespräche in Atmosphären. – Manfred Josuttis entwickelt aus der Philosophie von Hermann Schmitz eine Theorie der Seelsorge, die Atmosphären des Trauerns aushält, aber auch Atmosphären des Göttli‐ chen evoziert, um zu trösten. G. Langenhorst: Trösten lernen? 269–283. – Trost ist ein Beziehungsge‐ schehen und kann erlernt werden. Dieses Buch setzt daher Trösten zum religionspädagogisches Ziel. Wenn die Gesprächspartner der Trauernden ihre kontrollierten Phasen aufgeben, kommt es zum Trost als Begegnung. L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 197–201. – Im Anschluss an Slavoj Žižek verstehe ich unter Trost die „retroaktive Kausalität“, also das Wi‐ derfahren von Ereignissen, die ihre Bedingungen rückwirkend selbst er‐ zeugen. Wenn in Handlungen oder Äußerungen mit der retroaktiven Kausalität „gespielt“ wird, kann sich Trost ereignen.
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Register Allmacht s. Gott (Eigenschaften) Allwissenheit s. Gott (Eigenschaften) Amt 219, 223 Anwesenheit s. Geist, Heiliger Auferstehung der Toten 47, 50, 93, 112, 161–170, 172–175, 177, 179, 183, 210, 212, 228, 236, 239, 249, 252–255 Bibel s. Schriftprinzip Bund 35, 87 Eschatologie Letzte Dinge 183, 239 Gebet 30, 44, 59–63, 149, 191 Gefühl 29f., 72, 98, 118, 143, 179, 203, 214, 221, 250, 261 Geist, Heiliger 45, 48, 50f., 60, 76, 100f., 180f., 185, 206–208, 211, 213, 221, 235, 237 Anwesenheit 70, 76, 164, 181, 183, 185, 192, 207, 210 Glaube 11–13, 17–21, 25, 29f., 34, 38, 43, 53, 56, 60–62, 75, 85, 89f., 93f., 97, 110, 131, 134, 136f., 140, 147, 166f., 169, 172, 179, 183f., 187–190, 196–199, 203, 206–208, 211–213, 215f., 228, 233, 247 pistis 196f., 199f. Treue 45–48, 89f., 196–200, 207, 224 Gnade 66, 84, 89, 147, 152, 187, 200f., 203, 223–225, 244 Gott (Eigenschaften) Allmacht 56, 59, 67, 83, 245
Allwissenheit 53, 83, 100, 113, 115 Güte 42, 53, 61 Liebe 43, 67, 89, 108–111, 136, 206, 224 Inkarnation s. Jesus Christus Islam s. Muslim Israel 17, 24, 32, 35, 37, 87–90, 124, 135 Juden/Judentum 35, 49, 71, 87–90, 124, 178, 193 Jesus Christus 20f., 25, 28f., 32f., 35f., 38, 46–48, 50f., 57, 60, 67, 71, 87–91, 93, 101, 118f., 123–127, 129–131, 133f., 137–143, 145–147, 149–159, 161f., 164–168, 171, 173–175, 177f., 180, 183–185, 187, 189, 191–195, 201, 206f., 210, 212–214, 216, 220– 225, 227f., 231–233, 235–238, 242– 244–247, 249–252, 255, 257–259, 262–264 Inkarnation 129 Kreuz 20, 51, 91, 127, 130, 149f., 154–156f., 167, 207, 244–246 Ostern 166, 170, 210, 228 Verkündigung 141, 144, 252 Zweinaturenlehre 123 Juden/Judentum s. Israel Kirche 12, 56, 90, 147, 151, 203, 205f., 208–219, 221–225, 227, 233, 237 Leeres Grab 165–169, 172, 177, 212 Letzte Dinge s. Eschatologie Mensch 11, 19, 21, 23–25, 28f., 31–33, 35–38, 41f., 45–51, 53f., 56, 59–61, 65–67, 70–75, 83, 85, 87–97, 99–
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Register
113, 115, 117–119, 123–127, 129– 131, 133–144, 146–152, 154–159, 161–163, 166, 168–170, 173–175, 177–179, 184f., 187–202, 206f., 210, 215–221, 225, 227–229, 231–233, 235–238, 241–245, 247, 249–251, 253f., 258f., 261–264 Gottebenbildlichkeit 95 Muslim 49, 193, 224 Offenbarung 25, 46, 49–51, 69, 72, 159, 185, 192 Ökumene 205, 208 particula veri 187 Paulus 31–33, 88f., 103, 108–110, 162, 166, 174f., 183, 197–199, 215–217, 245, 252–255, 261–263 Phänomenologie/Phänomen 11–13, 17, 76, 79, 82, 92, 105, 118f., 163f., 167f., 193f., 198, 208, 213, 233, 255 pistis s. Glaube Sakrament 227, 229 Abendmahl 134, 227, 229, 235–238 Taufe 124, 206, 220, 227–229, 231– 233 Schöpfung 34, 56, 65, 79, 81, 104, 109f., 159, 175f., 244–246
Schriftprinzip 13, 31f., 35–37 Sünde 84f., 103, 113, 116, 126, 147, 149f., 189, 223, 225, 246f., 257 Taufe s. Sakrament Theodizee 65, 67 Tod 20f., 54–57, 84, 91, 93, 111f., 118f., 149–152, 155, 157–159, 161, 164, 170–172, 176, 183, 206f., 224, 231f., 246, 250, 252f., 255 Treue s. Glaube Trinität-/Dreieinigkeit 13, 45–47, 49, 51 Vorsehung 83, 85f. Wahrheit 27–30, 36, 48, 66, 148, 192, 202 Wahrnehmungswissenschaft 17 Widerfahren/Widerfahrnis 20, 23f., 62, 73, 82, 108f., 111, 198, 211, 228, 250, 264 Wissenschaft 11f., 27, 174, 191 Naturwissenschaft 79–82, 137, 139, 169, 173–175 Theologie 11–13, 17, 20, 38, 45, 51, 79, 82f., 112f., 176, 208, 211, 221, 229, 238 Zweinaturenlehre s. Jesus Christus
Theologie
In seiner systematisch-theologischen Zielsetzung will der Band die Wahrheit des christlichen Glaubens erfahrungsnah und weitgehend ohne Fachsprache begründen. Leserinnen und Leser sollen an ihren Lebenserfahrungen die Plausibilität christlicher Wahrheitsansprüche abgleichen können. Darüber hinaus werden die theologischen Topoi an biblische Texte zurückgebunden, die dabei konsequent als gedeutete Erfahrungen interpretiert werden. Das Buch entfaltet alle Topoi der evangelischen Dogmatik. Die klassische Einteilung in Fundamentaltheologie, Gotteslehre, Schöpfungslehre und Theologische Anthropologie, Christologie, Pneumatologie und Eschatologie wird dabei beibehalten. Am Ende jeder Sektion werden einige Literaturempfehlungen zur Vertiefung gegeben und kommentiert.
Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-5423-0
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