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German Pages 346 Year 2019
Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive
Studies in Spiritual Care
Edited by Simon Peng-Keller, Eckhard Frick, Christina Puchalski, and John Swinton
Volume 6
Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive Herausgegeben von Eckhard Frick und Lydia Maidl
ISBN 978-3-11-063456-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063806-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063506-5 ISSN 2511-8838 Library of Congress Control Number: 2019949329 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die Bände der Studies in Spiritual Care stellen Spiritual Care als interdisziplinäres klinisches Thema in verschiedene wissenschaftliche Kontexte. Häufig ist dabei die Theologie Dialogpartnerin der Gesundheitsberufe, meist aus der Sicht christlicher Autoren, seltener aus jüdischer Sicht (Petery 2017). Die Perspektiven des Islams und der asiatischen Religionen, vor allem aber die spirituellen Suchbewegungen, die sich a- oder transreligiös verstehen, fehlen bisher. Hier hat die Philosophie eine besondere Kompetenz, weil sie Diskurse über die Grenzen von Religionen, Fachdisziplinen und Kulturen hinweg ermöglicht (vgl. Salazar & Nicholls 2019). Für die Vielfalt philosophischer Zugänge zur spirituellen Erfahrung ist kennzeichnend, dass diese die Anstrengung des Begriffs nicht scheuen und damit empirische Studien ergänzen, die von (meist sozialwissenschaftlichen) quantitativen oder qualitativen Daten ausgehen. Auf verschiedene Weisen fragen die Philosophinnen und Philosophen des vorliegenden Bandes kritisch nach der Wahrheitsfähigkeit subjektiver spiritueller Erfahrung und zeigen existenzielle Zugänge auf als anthropologische Möglichkeitsbedingungen von Spiritualität (vgl. die Forderung von Wendel 2017: 854). Die Legitimität dieser philosophischen Zugänge, die von der begrifflichen Klärung ausgehen, ist nicht selbstverständlich. So kann eingewandt werden, dass es keinen Standpunkt außerhalb der Spiritualität gebe, der ein adäquates Erfassen ermögliche, und dass jede Annäherung an Spiritualität, auch die philosophische, von individuellen Glaubenserfahrungen geprägt sei (Dahlgrün 2018). Allerdings: Sofern es um die Klärung von Begriffen geht, geht es „nicht um die mit einem Ausdruck verbundenen subjektiv-individuellen Emotionen, Erfahrungen und Einstellungen, sondern allein um den vorliegenden (regelgeleiteten) Gebrauch des sprachlichen Ausdrucks, der notwendig intersubjektiv ist“ (Wiertz 2017: 819). Weil der philosophische Blick gleichsam „von außen“ und mit möglichst großer Freiheit von Forschungs-Aprioris auf die Spiritualität schaut, werden zwei Klassen von Spiritualitätsbegriffen erkennbar: – Deskriptiv: „grundlegende Art der Einstellung eines Menschen (oder auch einer Institution, wie etwa in der Rede von der ‚Spiritualität eines Unternehmens‘) zur Wirklichkeit. […] die konkrete Weise des Daseins eines Menschen in der Welt. Da jeder Mensch in einer bestimmten Art und Weise in der Welt lebt und diese auf eine bestimmte Weise erfährt, besitzt jeder Mensch in diesem Sinn (eine konkrete) Spiritualität – u.U. völlig implizit – und jeder https://doi.org/10.1515/9783110638066-001
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Vorwort
Mensch führt ein spirituelles Leben, das seine konkrete Spiritualität exemplifiziert – u.U. völlig unbewusst“. Normativ-evaluativ: „weitgehend in einem meliorativen Sinn gebraucht – vor allem und besonders deutlich im Fall des Adjektivs ‚spirituell‘. Jemanden als ‚spirituell‘ zu bezeichnen, beinhaltet gewöhnlich eine positive Wertung“ (Wiertz 2017: 820).
Der Kern von Spiritualität wird – vor allem in klinischen Kontexten – meist mit der Sinnsuche oder mit dem Leiden unter der Sinnlosigkeit gleichgesetzt, ist also sehr mit der spirituellen Suche oder dem spirituellen Ringen verbunden. Dies scheint aus der Begleitung kranker Menschen plausibel und hat den Vorteil, empirisch operationalisierbar zu sein. Allerdings ist die menschliche Sinnfrage grundsätzlich nicht beantwortbar, jedenfalls nicht in der uns vertrauten Immanenz. Dass unsere Alltagserfahrung „Spuren“ der Transzendenz birgt, ist eine zwar empirisch nicht zwingende, philosophisch aber notwendige Deutekategorie dieser Alltagserfahrung: Eine wesentliche, für ‚Spiritualität‘ wohl notwendige Bedingung ist die Anerkennung von Transzendenz, in dem Sinn, dass eine spirituelle Person ihren Blickwinkel über die eigene momentane Befindlichkeit und Bedürfnisstruktur hinaus ausdehnt auf das eigene Leben im Ganzen und das Ganze der Wirklichkeit, deren Teil sie ist (Wiertz 2017: 822).
Entsprechend ist „spirituelle Erfahrung“ nicht nur soziologisch als zentrales Konstitutivum gegenwärtiger Spiritualität von Bedeutung, sondern auch in philosophischer Perspektive. Die nun folgenden Beiträge nähern sich mit verschiedenen philosophischen Werkzeugen, Autorenbezügen und Frageweisen der spirituellen Erfahrung: I.
Existenzielle Zugänge zur Spiritualität
II. Phänomenologie spiritueller Erfahrung III. Erkenntnistheoretische Grundlagen spiritueller Erfahrung IV. Spiritualität und Ethik V.
Spiritualität im gesellschaftlichen Kontext
VI. Philosophische Perspektiven auf Spiritual Care Am Ende unseres Bandes und an der Stelle eines Nachworts steht ein Interview der Herausgeber mit der Kunsttherapeutin Flora von Spreti.
Vorwort
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Wir danken den vielen hilfreichen Händen und Augen, die uns bei der Fertigstellung dieses Bandes unterstützt haben, besonders den Autorinnen und Autoren und den Gutachterinnen und Gutachtern. München, im April 2019
Eckhard Frick SJ und Lydia Maidl
Literatur Dahlgrün C (2018) Christliche Spiritualität: Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Berlin: de Gruyter. Petery M (2017) Die Betreuung Schwerkranker und Sterbender in bayerischen jüdischen Gemeinden heute (Bd. 3): de Gruyter. Salazar H, Nicholls R (2019) (Hg.) The philosophy of spirituality. Analytic, continental and multicultural approaches to a new field of philosophy. Leiden: Brill Wendel S (2017) Analytische Philosophie und Spiritualität. Response auf Oliver Wiertz. In: Gasser G, Jaskolla L, Schärtl T (Hg.) Handbuch für analytische Theologie. Münster: Aschendorff Verlag. 845 – 856. Wiertz O (2017) Analytische Philosophie und Spiritualität. In: Gasser G, Jaskolla L, Schärtl T (Hg.) Handbuch für analytische Theologie. Münster: Aschendorff Verlag. 817 – 843.
Inhalt I. Existenzielle Zugänge zur Spiritualität Luis Fernando Cardona Suárez, Alicia Natali Chamorro Muñoz Krankheit als existenzielle Erfahrung Der hermeneutische Weg der Beziehung zwischen Krankheit und Spiritualität 3 Matthias Friedl Heimatlosigkeit und spirituelle Suche Eine philosophisch-anthropologische Reflexion
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Olivia Mitscherlich-Schönherr Zwischen Ernst und Nichternst Spiritualität in Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie Lydia Maidl Fähigkeit zum Unbedingten und säkulare Spiritualität Verborgene Präsenz der Spiritualität in der Alltagserfahrung
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Klaus Müller Vor Gott stehen Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive am Beispiel 67 Kierkegaards und seiner katholischen Nachfahren Santiago García Mourelo The holiness of reason Philosophy and mysticism in Blondelian perspective
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II. Phänomenologie spiritueller Erfahrung Bruno Niederbacher SJ Der ganze Mensch in der spirituellen Erfahrung Erkenntnis durch Imaginationen, Emotionen und Wünsche in den 97 Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola
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Inhalt
Szczepan Urbaniak SJ Spiritual experience in Jean-Luc Marion’s phenomenology Lydia Maidl Spirituelle Erfahrung Charakteristika und Bezüge zur Alltagserfahrung
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Patricia Schöllhorn-Gaar Theistische und atheistische spirituelle Erfahrungen 143 Versuch einer Deutung und Einordnung Reinhard Blank Ent-täuschung – Spiritualität
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III. Erkenntnistheoretische Grundlagen spiritueller Erfahrung Georg Sans SJ Die Wahrheit der subjektiven Erfahrung Spiritualität mit und ohne Gott 171 Hans Julius Schneider Bringen religiöse Erfahrungen Erkenntnisse?
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IV. Spiritualität und Ethik Susanne Sandherr Spiritualität und die Heiligkeit des – anderen – Menschen Ein Gedanken-Gang mit Emmanuel Lévinas und Hans Joas Michael Huppertz 215 Miteinander
V. Spiritualität im gesellschaftlichen Kontext Éric Charmetant SJ Ecology and spirituality
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Inhalt
Stephan Lipke SJ „Gott“ als Lebensgarant Postsowjetische Spiritualitäten im sibirischen Tomsk
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VI. Philosophische Perspektiven auf Spiritual Care Stephanie Bohlen Erkenne Dich selbst!? Die Grenzsituation der Begegnung mit dem anderen Menschen Eckhard Frick SJ Kenosis Eine Sprache für die verborgene Spiritualität finden
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Traugott Roser Grenzüberschreitung Spiritual Care als Bewährungsprobe einer spirituellen Seelsorge Christiane Stüber Welchen Beitrag leistet das sokratische Gespräch für Spiritual Care?
Anstelle eines Nachworts Lydia Maidl, Eckhard Frick Den inneren Raum beleben. Spirituelle Erfahrung in der Kunsttherapie Interview mit Flora von Spreti 313 Autorinnen und Autoren Index
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I. Existenzielle Zugänge zur Spiritualität
Luis Fernando Cardona Suárez, Alicia Natali Chamorro Muñoz
Krankheit als existenzielle Erfahrung
Der hermeneutische Weg der Beziehung zwischen Krankheit und Spiritualität Illness and existential experience A hermeneutic approach to the relation between illness and spirituality Zusammenfassung: Im vorliegenden Text wird der Zusammenhang zwischen Krankheit und Spiritualität angesprochen. Diese Beziehung wird in den Kontext der philosophischen Anthropologie gestellt. Die Krankheit wird als eine Erfahrung analysiert, die die gesamte menschliche Existenz beeinflusst. Der Fokus dieser Analyse ist hermeneutisch. Die Hermeneutik ermöglicht es, die Erfahrung der Krankheit in ihrer Singularität und den Patienten in seinem situativen Zustand zu behandeln. Zunächst zeigen wir, dass unsere Verwundbarkeit auf unserer besonderen Leiblichkeit beruht. Zweitens stellen wir Krankheit als existenzielle Erfahrung dar, die den Weg zur Spiritualität öffnet. Schlüsselwörter: Krankheit, Verwundbarkeit, Leiblichkeit, existenzielle Erfahrung, Hermeneutik. Abstract: In this paper, we aim to show the relation between illness and spirituality in the field of philosophical anthropology. We consider disease as a total experience that affects all human existence. This work has a hermeneutic approach that will provide a better understanding of illness in its singularity and of the patient in his or her situational condition. First, we indicate how our vulnerability has its roots in our corporality. Second, we describe illness as existential experience that opens new paths to spirituality. Keywords: disease, vulnerability, corporality, existential experience, hermeneutic. Im vorliegenden Text nehmen wir, von einem philosophischen Standpunkt aus, einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Spiritualität an. Wir glauben, dass die Berücksichtigung dieses Zusammenhangs es uns erlaubt, die aktuellen Möglichkeiten der philosophischen Anthropologie in Bezug auf Phänomene aufzuzeigen, die uns alle betreffen, in diesem Fall die Krankheit. Diese philosophische https://doi.org/10.1515/9783110638066-002
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Perspektive betrachtet die Krankheit als eine Erfahrung, welche die gesamte Existenz einschließt. In diesem Sinne wählen wir für unsere Auslegungen einen hermeneutischen Ansatz. Die Hermeneutik erlaubt es uns, die Erfahrung der Krankheit in ihrer Singularität und den Erkrankten in seinem situativen Zustand zu betrachten (Johnson 2018: 61). Sie offenbart außerdem das Enigma unserer Existenz, welche die Leiden einer Krankheit weder vermeiden noch verneinen kann, aber dazu verurteilt ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Umgang mit der Krankheit ist dementsprechend eine existenzielle Erfahrung, bei der wir individuell leiden und gleichzeitig in der Gemeinschaft nach möglichen Formen der Heilung und des Trostes suchen. Diese These entwickeln wir aus zwei verschiedenen Perspektiven. Aus der ersten lesen wir unsere Verwundbarkeit anhand der philosophischen Anthropologie. Diese Lektüre konzentriert sich auf das hermeneutische Verständnis unserer Leiblichkeit. Aus der zweiten geht hervor, wie man Krankheit als existenzielle Erfahrung versteht. Diese Erfahrung hat einen zweideutigen Charakter. Einerseits wird „Kranksein“ mit „sich in Gefahr Befinden“ gleichgesetzt und andererseits wird in ihr ein Bedürfnis nach Heilung und Trost sichtbar. Wir gehen schließlich davon aus, dass in diesem Bedürfnis unsere tiefste Spiritualität verborgen liegt.
1 Hin zu einem anthropologischen Verständnis unserer Verwundbarkeit Seit dem zwanzigsten Jahrhundert hat die Verwundbarkeit im philosophischen Denken, insbesondere in der philosophischen Anthropologie, an Bedeutung gewonnen. Die philosophische Anthropologie hat einen deutschsprachigen, von Scheler, Gehlen und Plessner geprägten Ursprung. Die Frage nach dem Menschen geht auch in eine andere Richtung als das, was innerhalb der englischsprachigen Welt als Kulturanthropologie bezeichnet wird. Die philosophische Anthropologie fragt nach dem menschlichen Zustand, der nicht spezifisch durch die Kulturformen bestimmt ist. Diese Perspektive geht von den von Scheler vorgeschlagenen Zweifeln über den Platz des Menschen im Kosmos (1928/1991) und dem von Plessner (1928/1975) und Gehlen (1940/1972) ausgearbeiteten Vorschlag aus, in welchem sie das Menschliche aus seiner exzentrischen Position und seinem Mängelwesen heraus neu definieren. Dies wird noch deutlicher durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und die wissenschaftlichen, technischen und ökologischen Veränderungen, die sich am Ende des Jahrhunderts vollzogen, Veränderungen, die die menschliche Schwäche hervorheben. Also verstehen wir die Verwundbarkeit als unseren anthropologischen Zustand. Wir distanzieren uns
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von der modernen Vorstellung des Menschen als autonomes, rationales und freies Individuum; diese Ansicht limitiert das Verständnis von Phänomenen wie Schmerz, Krankheit, Gewalt und der Bedürfnisse anderer. Ganz im Gegenteil zeigt der Verlauf unseres Lebens, dass unsere Existenz durch Kontingenz definiert wird. Wir sind fast immer unsere Verwundbarkeit und nur selten unsere Autonomie. Blumenberg beschreibt diese Fragilität als den ursprünglichen Zustand, welcher die Anthropogenese bestimmt (Blumenberg 2014), da die biologische Strukturierung des Bipedalismus ein Zeichen unserer Fragilität und unseres konstitutiven Mangels ist. Nach Blumenberg ist Anthropogenese die Metapher dessen, was wir sind. Es ist jedoch nicht offensichtlich, dass die menschlichen Fähigkeiten an sich der direkte Weg des evolutionären Prozesses wären. Vielmehr sind sie geradezu prekäre Muster des Ausgleiches, Reaktionen auf lebensbedrohliche Situationen. Diese Ansicht betont das Bedürfnis unserer Fragilität nach Gemeinschaft von Geburt an. Das Weinen eines Neugeborenen ist das Verlangen nach Gemeinschaft (Cardona 2016). Der Tod und die Geburt sind immer Ereignisse, welche in Gemeinschaft mit anderen auftreten, insofern der menschliche Raum durch die Interaktion mit diesen anderen, die uns annehmen und bestimmen, definiert wird. Dementsprechend wird unsere Individualität durch die Bedingung des Verwundbar-Seins und der Notwendigkeit der Gemeinschaft vermittelt. Marquard bestätigt: Individuen sind die Menschen nicht durch ihre ursprüngliche Souveränität, sondern durch Gewaltenteilung: indem sie durch mehrere Wirklichkeiten – mehrere Fortschritte, mehrere Geschichten, mehrere Überzeugungen, mehrere Traditionen, mehrere politische, ökonomische und sakrale Gewalten, mehrere Kulturen – determiniert werden, die einander durch Determinationsgedrängel beim Determinieren behindern und einschränken; dadurch – also durch die Pluralität ihrer Wirklichkeiten – gewinnen die Menschen ihre individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden (2000: 43).
Dieses Zitat lässt uns verstehen, dass der Mensch im Gegensatz zu den Tieren ein exzentrisches Wesen ist, was bedeutet, dass er weder mit sich selbst, noch mit seiner Umwelt im Gleichgewicht ist. Nach diesem Gleichgewicht muss er auf künstliche Weise suchen. Das Fehlen einer Nische kompensiert der Mensch mit der symbolischen Welt. Der Mensch verfügt über keine starken Instinkte und ist daher durch seine Unangepasstheit überlastet. Sein eigenes Überleben ist eine Aufgabe für ihn. Jedes Gelingen bedeutet eine Erleichterung. Die Bewältigung sind Entlastungen aus symbolischen und kulturellen Prozessen. Der Mensch versucht also in einer Welt zu überleben, für welche er aus biologischer Sicht nicht angepasst zu sein scheint. Von diesem anthropologischen Standpunkt aus betrachten wir nun die Verwundbarkeit.
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Normalerweise wird die Verwundbarkeit als Machtverlust gegenüber jemand anderem definiert. Zum Beispiel wird mit dem Begriff in einem militärischen Zusammenhang die Unfähigkeit, sich gegen eine Invasion zu verteidigen, beschrieben. Ein vulnerabler Raum impliziert, dass er, bedingt durch seine Schwäche, vom Äußeren durchquert und vom Anderen erobert werden kann (Have 2016). Ein Problem der Verwundbarkeit ist dementsprechend ein Problem der Sicherheit. Die Lösung dieses Problems wäre der Wiederaufbau von Grenzen und die Möglichkeit der Beseitigung dessen, was eine Gefahr darstellt. Wenn wir diese Definition von Verwundbarkeit auf den Bereich der Krankheit übertragen, können wir argumentieren, dass Verwundbarkeit bedeutet, dass wir immer eine schwache Seite haben, die von einem Anderen oder dem Anderen beschädigt werden kann. Dieser Zustand beruht auf unserer Leiblichkeit. Diese Leiblichkeit macht uns zu Wesen mit porösen Grenzen, die beschädigt und verletzt werden können. Ein Beispiel für dieses Verständnis der Verwundbarkeit auf dem Gebiet der Bioethik ist die Arbeit von Patrão Neves: The new vulnerabilities raised by biomedical research (2007). Sie hinterfragt die Beziehung zwischen dem wissenschaftlichen Fortschritt auf dem Gebiet der Biomedizin und den wirtschaftlichen Interessen, die diese Fortschritte bestimmen. Die Verwundbarkeit wird immer größer. Das heißt, der Körper ist dem Eindringen der Medizintechnik gegenüber immer weniger geschützt. Auf dem neuesten Stand der Technik kann damit auf die genetische Ebene eingegriffen werden. Die Medizinisierung des Lebens hat die Verwundbarkeit paradoxerweise beeinflusst, weil der Versuch der medizinischen und biotechnologischen Forschung, die Abwehrkräfte zu verstärken, dazu geführt hat, dass alle Teile des menschlichen Leibes verwundbarer geworden sind (Neves 2007). Viele bioethische Texte beziehen sich nur auf dieser Ebene auf die Verwundbarkeit. Das heißt, sie berücksichtigen die spirituelle Dimension der Verwundbarkeit, auf die wir hier hinweisen möchten, nicht. Nach Levinas tritt der Andere stets als etwas auf, was den Tod bringen kann, und ist deshalb aufgrund seiner Körperlichkeit immer verwundbar und appelliert an das Verantwortungsbewusstsein des Ich. Von dieser Beobachtung ausgehend, können wir unser anfängliches Konzept der Verwundbarkeit vertiefen und dadurch unseren Zustand der Sensibilität und Prekarität radikalisieren, indem diese Verwundbarkeit als etwas Existenzielles verstanden wird (Fuchs 2017). Die existenzielle Verwundbarkeit setzt das Verständnis voraus, dass wir sensibel, körperlich und unvollkommen sind, und dass wir vor jeglicher individuellen Bestimmung das Bedürfnis nach Annahme durch die Anderen verspüren. Das Leiden des Anderen geht uns nahe, weil wir uns verbunden sind. Nicht nur zum Überleben, sondern auch im Bestreben nach einem blühenden Leben. Wie Butler bemerkt, ist das menschliche Leben ein prekäres Leben, da seine Fragilität der Annahme und Pflege bedarf (2006). Dieses blühende Leben verstehen wir im
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Sinne der marquartianischen Perspektive, welche den Menschen als denjenigen versteht, der etwas stattdessen tut: „Menschen sind die, die etwas stattdessen tun: sie kompensieren. Aber bei den Sterblichen endet das immer letal. Das menschenmögliche Glück ist – allein schon durch den Tod – stets nur Glück im Unglück und immer nur: davongekommen zu sein, einstweilen, unwahrscheinlicherweise, und stets nur auf Widerruf“ (Marquard 1995: 36). Daher ist ein blühendes Leben immer ein Leben in Verbindung mit anderen, das von Prekarität und Kontingenz bestimmt wird. Die Verwundbarkeit ist nicht nur ein Versagen oder ein Vakuum, welches durch Verstärkung unserer körperlichen Schwachstellen überwunden werden muss. Diese Verwundbarkeit definiert uns vielmehr als körperliche Wesen und ermöglicht die Öffnung hin zu einer Identität und einem lebenswerten Dasein. Diese Dualität der Verwundbarkeit wird von Corine Pelluchon bei der erneuten Lektüre von Levinas’ Philosophie zum Nachdenken über die Krankheit und die Bioethik hervorgehoben. Pelluchon stellt fest: „Nähe ist nicht Verschmelzung. Nähe heißt, sich dem anderen gegenüber exponieren, d. h. die Subjektivität wird in ihrer Alterität erfasst – jener des Anderen, die weder synthetisiert noch auf dasselbe zurückgeführt wird, aber auch meine Alterität, die durch den Anderen berührt wird, eine Alterität an sich, welche das Zuhören, die Nähe und das Mitgefühl ermöglicht“ (Pelluchon 2009: 171– 172). Obwohl die Verwundbarkeit den Grundzustand des menschlichen Wesens darstellt, sind wir nicht alle weder auf dieselbe Art und Weise noch zum selben Grad verwundbar. Die Verwundbarkeit zeigt die durch soziale und ökonomische Verbindungen bedingten Unterschiede sowie die Positionalität jedes Individuums auf. Wir alle sind fragil und abhängig, jedoch können diese Bedingungen im Verlauf des Lebens variieren und sind von politischen und ökonomischen Faktoren abhängig. Die existenzielle Verwundbarkeit zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass sie sich in jedem Leben episodisch und sporadisch manifestiert. Aus diesem Grund konfrontiert Pelluchon die Philosophie der Identität und Existenz aus der Sicht der Verwundbarkeit in Beziehung mit der Krankheit. Weiter verweist sie darauf, dass Heideggers existenzielle Perspektive des Verständnisses des Menschen als „Sein-in-der-Welt“ und als „Entwurf“ ein Annähern an die Qual eines jeden, der um sein nahes Sterben weiß und den Sinn des Todes überdenken muss, nicht erlaubt (Pelluchon 2009: 173). Die Sterblichkeit ist ein grundlegendes Thema der philosophischen Reflexion, da das Bewusstsein des Todes unser Leben als begrenzte Wesen bestimmt, die mit einer Zukunft des nie mehr und nichts mehr Seins konfrontiert sind (Jankélévitch 2002). Das Verständnis der Verwundbarkeit in der Krankheit stellt uns nicht nur vor die Dimension der Endlichkeit, sondern auch vor die Reflexion über die Sorge des anderen. In diesem Sinne beschäftigt sich die Philosophie angesichts des Todes mit dem Problem der Endlichkeit. Und ange-
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sichts der Krankheiten stellt sie sich den Schmerzen und der Zerbrechlichkeit des kranken Menschen, die mit der Abhängigkeit anderen gegenüber einhergeht (Schumacher 2010: 28 – 38). Mit dem sicheren Ende des Lebens konfrontiert und der Gewissheit, dass wir bald nicht mehr „Entwurf“ sein werden, definieren wir unser Selbstverständnis neu: „Für diejenigen, die eine empfindlichere Seele als andere Menschen haben, ist das Sein-in-der-Welt eine Unsicherheit“ (Pelluchon 2009: 185). Dieses Neudefinieren findet ebenfalls statt, wenn wir mit dem Schmerz Anderer konfrontiert werden: „diese Anteilnahme am Leiden des Anderen, die unerlässlich ist, um „den Blick zu ändern“ und Solidarität freizusetzen, wirft uns auf die grundlegende Verletzbarkeit von uns Menschen an der Schnittstelle von Sinn und Biologie zurück“ (Kristeva 2006/2014: 105). In diesem Raum manifestiert sich die spirituelle Dimension der Verwundbarkeit. Aus dieser Dimension können wir unsere Individualität für die Fürsorge des Anderen öffnen. Pelluchon vermerkt, dass aus diesem Grund das Sein zum Tode in den Momenten vor dem Tod nicht so offensichtlich ist, wie die Notwendigkeit der Sorge des Lebens (Pelluchon 2009). In diesem Kontext wird das Verständnis der Sorge durch das Verständnis der Verwundbarkeit neu definiert. Wie Pelluchon erklärt: „Dieser Zugang zu einer Humanität jenseits der Suche nach dem Selbst oder seiner Authentizität setzt voraus, dass die behandelnde Person oder der Freiwillige sich entblößen, d. h., dass sie vor der Tür des Krankenzimmers alle Vorstellungen zurücklassen, mit deren Hilfe sie die Lebensqualität eines Wesens bewerten und zwar aufgrund seiner Produktivität, seiner Rationalität, seiner Autonomie inklusive seiner Fähigkeit, zu sich zurückzukehren und auf die Zukunft hin zu entwerfen“ (Pelluchon 2009: 182). Diese Charakterisierung der Verwundbarkeit bezieht sich auf die Erfahrung der Krankheit aus zwei Dimensionen: als lebender Körper (Leib) und als physischer Körper (Körper). Nach Plessner können wir festlegen, dass wir einen Körper haben und ein Leib sind (Plessner 1928/1975: 35 – 37). Plessner verweist nicht nur auf die klassische Trennung zwischen dem physischen und dem lebenden Körper, sondern auch auf den Unterschied zwischen den Verben haben und sein (Fuchs 2015). Einen Körper haben bedeutet, dass wir diesen als etwas Fremdes, als Gebrauchsgegenstand wahrnehmen. In diesem Sinn bezieht man sich auf den Körper als der Wissenschaft ausgesetzte Materie oder als ein lokalisierbares und besitzbares Objekt. Das Leib Sein hingegen geht von unserem Zustand der Leiblichkeit aus. Hier manifestiert sich die Einheit mit dem Leib, der wir in jedem Moment sind und mit welchem wir die Welt fühlen und erfahren. Obwohl wir die Beziehung zwischen dem physischen und dem lebenden Körper konzeptuell unterscheiden können, lässt sie sich nicht komplett abgrenzen. Das heißt, wir gehen nicht von einem klassischen Dualismus zwischen Körper und Seele aus (Wandruszka 2009: 282).
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Vielmehr versuchen wir mit dieser Differenzierung einen Ort des Transits zu finden, der unsere Erfahrungen in der Welt als Wesen beschreiben soll, die ein persönliches Bewusstsein ihres Körpers haben. Aber dieses Bewusstsein hat weder eine klare Position, noch wissen wir genau, auf was es sich bezieht. Das heißt, wir sind unser Leib, dieser Leib ist aber gleichzeitig offen für die Welt und kann als ein zusätzliches Objekt angenommen werden (Wandruszka 2009: 258 – 259). Wir können die Polarität und Spannung dieser zwei Dimensionen des Körpers und des Leibes sogar gleichzeitig erfahren. Im Falle der Krankheit, wo diese Halbzugehörigkeit zum Körper selbst sehr deutlich ist, geschieht dies auf besondere Weise. Fuchs meint diesbezüglich: „Zum Körper wird der Leib daher vor allem in den Störungen des gewohnten Lebensvollzugs, etwa bei einer Ungeschicklichkeit oder einem Sturz, in Zuständen der Erschöpfung, Trägheit oder Schwere, schließlich bei Verletzung, Lähmung oder Krankheit. Mit diesem Bewusstwerden wird der zuvor selbstverständlich gelebte Leib andererseits in besonderer Weise zu meinem Körper, an den ich gebunden bin, der meine Existenz ermöglicht, mit dem sie aber auch untergehen kann. In der Angst, Atemnot oder schwerer Krankheit erfahre ich mich als verletzliches, kreatürliches, sterbliches Wesen“ (Fuchs 2015: 145). Nach Blumenberg können wir behaupten, dass unsere normale Körpererfahrung darauf hindeutet, dass diese ein Mittel ist, das uns fühlen und erfahren lässt und in gewisser Weise immer an zweiter Stelle hinter dem steht, was wir fühlen und erleben wollen. Mein Körper, als gesunder Körper, ist ein transparenter Körper, den man nicht fühlt. Aus diesem Grund appelliert Canguilhem, Lerich folgend, an die Metapher des „Schweigens der Organe“ (Canguilhem 1966/1974: 58), um unsere Erfahrung der Gesundheit aufzuzeigen. In dieser Erfahrung haben wir das Gefühl einer direkten Kommunikation zwischen unserer Erfahrung der Welt und unserem lebenden Körper, was uns das Funktionieren jedes einzelnen Organes, aus welchen er besteht, vergessen lässt. Andererseits wird sich der Mensch durch die Erfahrung der Krankheit seines eigenen Körpers bewusst. Hier erfährt er den Körper nicht als Mittel des eigenen Erlebens im Lebensraum. Der Körper wird als Behinderung oder Barriere verstanden. Die Krankheit ist etwas Äußeres, dessen sich der Kranke entledigen sollte. Wandruszka zeigt, dass das Verständnis des lebenden Körpers die Transformation der Vision des Raumes voraussetzt. Sie weicht von der geometrischen Perspektive ab, wo der Raum als etwas Homogenes dargestellt wird. Mit dem Ausdruck Lebensraum ist auch eine symbolische Bewohnbarkeit gemeint, weil sie den Sinn des Menschen manifestiert (2009: 281). In diesem Sinne bezeichnet Körper einen nicht bestimmten homogenen Raum, während Leib die Transformation von Orten aus der symbolischen Konfiguration darstellt. In der Umgangssprache berufen wir uns auf dieses
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Externe, wenn wir zum Beispiel sagen „ich habe einen Tumor“ oder, wenn wir die Ursachen von Schmerzen benennen wollen. Dies im Falle, dass die Ursache von außen kommt. Selbst wenn nur ein Teil des Körpers erkrankt oder beschädigt ist, ist eigentlich der gesamte Organismus erkrankt. In diesem Sinne schwankt die Verwundbarkeit der Krankheit zwischen unserer Wahrnehmung unserer Körperlichkeit als Körper, der sich in medizinischer Behandlung befindet und von der sich das Subjekt distanziert oder abstrahiert fühlt, und unserem Verständnis als Leib. Im letzteren Fall ist der Erkrankte besorgt um sich und daraus ergeben sich wiederum neue Sorgen darüber, wie er weiterleben und seine Identität trotz Krankheit neu gestalten soll. Die Krankheit ist eine Erfahrung des gesamten Organismus als Leib, obwohl die Schmerzen ein Organ oder einen spezifischen Teil des Körpers betreffen. Auf diese Weise stellt die Krankheit eine Grenzsituation dar, während der eine größere Verwundbarkeit der exponierten und bedürftigen Körperlichkeit verspürt wird. Diese Beziehung zwischen Leib und Krankheit nähert uns dem spirituellen Aspekt der Heilung, da die Erfahrung der Betroffenheit über den reinen physischen Schmerz hinausgeht. Wer unter einer Krankheit leidet, fühlt, dass sein gesamtes Leben davon betroffen ist. Deshalb verlangt er nach einer Antwort, welche über die reine Heilung hinausgeht, nach einer spirituellen Antwort also (Kaiser 2017: 40). Unterbrechen wir diesen Gedankengang hier.
2 Die Krankheit als existenzielle Erfahrung und Öffnung zur Spiritualität Wenn das Individuum in der Erfahrung der Krankheit in seiner Gesamtheit betroffen ist, muss auch seine Behandlung diese Totalität umfassen. Um diese Implikationen zu untersuchen, möchten wir zuerst aufzeigen, in welchem Sinn die Krankheit eine totale Erfahrung ist. Danach möchten wir evaluieren, warum diese Erfahrung auf eine spirituelle Dimension der Fürsorge verweist. Auf das vorher über den Vorrang unserer Körperlichkeit als Leib Erwähnte zurückgreifend, können wir die Krankheit in folgenden drei Grundzügen als existenzielle Erfahrung beschreiben: 1) Die Erfahrung der Krankheit ist fundamental und von grundlegender Bedeutung; 2) Die Krankheit ist die Erfahrung des Absurden im Sinne ihrer Fremdheit; 3) diese Erfahrung ist von der Symbolik durchsetzt, ohne dass dieses Symbolische sich notwendigerweise auf eine geordnete und rationalisierte Sprache bezieht. Bevor wir diese Punkte untersuchen, müssen wir die Verwendung des Begriffs Erfahrung einschränken, wenn wir von einer Krankheit sprechen. Genau wie der Tod ist die Krankheit eine singuläre
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Erfahrung. In diesem Sinne stehen wir vor dem Paradox, dass wir alle erkranken, aber jeder seine Krankheit individuell erlebt. Dies zeigt sich auf paradoxe Weise anhand der Wunde als Symbol, welches die Manifestation der Einsamkeit und Unmöglichkeit der Kommunikation des Schmerzes mit dem Bedürfnis nach Pflege und Betreuung verbindet. Die paradoxe Situation der Wunde wird von LacoueLabarthe im Sinne von Celans poetischer Arbeit analysiert. Das Gedicht Psalm analysierend, hält Lacoue-Labarthe fest: „Der Schmerz, mehr als das Leiden, trifft und berührt das ‚Herz‘, das Innigste des Menschen, ein äußerstes Innen, wo der Mensch – und keinen Augenblick das Subjekt – in nahezu absoluter Vereinzelung das (Er)Warten eines Andern ist, Hoffnung auf ein Gespräch, auf einen Weg aus der Einsamkeit“ (Lacoue-Labarthe 1997/2009: 37). Um dieses Paradox zu verstehen ist Lacoue-Labarthes Definition der Erfahrung nützlich. Das Wort Erfahrung kommt aus dem Lateinischen von experiri, was auf das Ausprobieren, auf die Probe stellen und Leiden verweist. Daher stehen alle Erfahrungen in Beziehung mit einer aktiven Ebene, der Selbstgefährdung, und gleichzeitig mit einer passiven Ebene, dem Leiden (Lacoue-Labarthe 1997/2009). Wenn wir an einer Krankheit leiden, sind wir von der Erfahrung tiefer Verletzlichkeit betroffen. Während dieser Erfahrung ist die Existenz bedroht und gleichzeitig eröffnen sich ausgleichende Arten, um mit dieser Verletzlichkeit umzugehen. Wir betrachten diese Vision der Erfahrung der Krankheit als der von Canguilhem in Das Normale und das Pathologische beschriebenen ähnlich: Krankheit ist Erschütterung und Gefährdung der Existenz. Damit verlangt die Bestimmung der Krankheit den Ausgang vom individuellen Wesensbegriff. Krankheit tritt dann auf, wenn ein Organismus so verändert ist, dass es in dem ihm zugehörigen Milieu zu Katastrophenreaktionen kommt (Canguilhem 1966/1974: 124).
Anhand dieses Verständnisses der Krankheit ergibt sich, dass die Krankheit durch die entscheidenden Veränderungen, die sie für den Patienten bedeutet, eine grundlegende Erfahrung in dessen Leben ist. Einerseits befindet sich der kranke Mensch, wenn sich das Individuum über seine Beziehung zur Umwelt definiert, in einem Zustand der Erschütterung, der Disharmonie zwischen dem, was sein Organismus leisten kann, und dem, was sein Medium von ihm verlangt. Die Krankheit ist dementsprechend die Erfahrung der Katastrophe – des Unerwarteten –, als Bruch des Individuums mit seinem eigenen Medium. Andererseits muss der Kranke gleichzeitig seine Mängel kompensieren. Aus diesem Grund sucht er neue Formen der Interaktion, die ihm trotz seiner Verwundbarkeit ein Weiterleben ermöglichen. In diesem Sinne ist der höchste Grad dieser Katastrophe die Fremdheit gegenüber sich selbst. Die Körperlichkeit, die wir als Leib beschrieben
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haben, wird für den Kranken, der sich manchmal selbst als Fremder fühlt, fremd. Durch die Krankheit verschwinden Möglichkeiten, welche man im gesunden Zustand hat. Mit dem Begriff „Gesundheitszustand“ bezeichnen wir die Sicherheitsund Sicherungsprozesse, die ein bestimmtes Lebewesen charakterisieren (Canguilhem 1966/1974). In diesem Sinn besteht der Unterschied zwischen einem gesunden und einem kranken Organismus darin, dass letzterer nicht mehr über die gängigen Möglichkeiten verfügt, um auf sein gegenwärtiges Umfeld zu reagieren und damit eine angemessene Reaktion für die Zukunft sicherzustellen. Wer von einer Krankheit betroffen ist, fühlt sich befremdet, weil er sich in seinem Alltag nicht mehr zurechtfindet. Auf diese Weise sind während Phasen großer Verwundbarkeit die einfachsten Aspekte des Alltäglichen eine Überforderung für den kranken Organismus. Es ist klar, wie ein erkranktes Organ den Alltag des Kranken beeinflusst, seine Routinen und Arten, die einfachsten Aufgaben des Alltags zu erledigen, verändert.Wir verweisen hier auch auf psychische Erkrankungen, zum Beispiel, wie M. Ratcliffe (2015) gezeigt hat, die Transformation der Welt der sozialen Interaktionen von Menschen, die von Depressionen betroffen sind. Eine bessere Herangehensweise an die Depressionen ist möglich, wenn wir die Perspektive einnehmen, die die Phänomenologie von der Welt gemacht hat, wenn sie darauf hinweist, dass die Welt ein Raum der Überschneidung ist, in dem sich das Subjekt inmitten mehrerer affektiver und symbolischer Interaktionen befindet. In den Fällen der Depressionen manifestiert sich eine Unmöglichkeit adäquater Verbindungen mit diesen Interaktionen, des Brechens der Verwurzelung mit der Welt und deshalb eine Schwierigkeit bei der Gestaltung antizipativer Optionen. Untersuchen wir die dritte Charakteristik der Erfahrung der Krankheit: Die Eigenart ihrer symbolischen Manifestation.Wie Frick (1996) sagt, müssen wir vom Verstehen des Symptoms der Krankheit zum Verständnis des Symbols des Krankseins übergehen. Natürlich präsentiert sich der betroffene Körper vor dem wissenschaftlichen Blick eines Arztes als Symptom, welches einer bestimmten Krankheit zugeordnet und behandelt werden kann.Wenn der Kranke aber, wie wir das in diesem Text beschrieben haben, ein Subjekt in seiner Gesamtheit und nicht nur das Organ als solches ist, impliziert die Heilung einen symbolischen Aspekt der vollkommenen Heilung des erkrankten Individuums. Das heißt, dass wir sogar in unheilbaren Krankheiten Möglichkeiten der Heilung entdecken können. Damit wollen wir nicht sagen, dass man das Subjekt als Ganzes heilen muss, wie das im Fall des Übergangs vom Zustand der Krankheit hin zum Zustand der absoluten Gesundheit sein könnte.Vielmehr möchten wir darauf hinweisen, dass der Körper des Erkrankten als Symbol erscheint. Einerseits steht dieser Körper im Austausch mit der Welt und seinem sozialen Umfeld und lässt sich dadurch lesen. Das heißt, der Kranke ist nicht komplett
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isoliert von der Welt, sondern interagiert mit ihr aus seinen Möglichkeiten und Einschränkungen heraus. Andererseits ist er auch immer ein verstecktes Symbol, da es sich nicht komplett entschlüsseln lässt. In dem Maß, in dem jede Lektüre unvollkommen ist, ist die Heilung unsere Möglichkeit, mit dieser Unvollkommenheit umzugehen. Heilung ist ein symbolischer Akt, der die Unmöglichkeit des absoluten Verständnisses der Krankheit anerkennt. Die Krankheit kann das Verstehen der eigenen Existenz verstellen. Der Dialog zwischen Therapie und Philosophie kann hier Orientierung bieten. Frick weist darauf hin, dass die Mentalität des Kampfes gegen Krankheit durch die Förderung der Gesundheit ersetzt werden sollte (Frick 1996: 15). Davon ausgehend, können wir bestätigen, dass Krankheit und Gesundheit weder als Prozess der Polarität noch als einfache Gradänderung definiert werden. Der Weg der Polarität ist nicht möglich, weil die Krankheit ein Teil des Menschseins ist. In diesem Sinn sind wir nie in einem Zustand der Polarität, sondern im Transit. Auch der Weg der Gradänderung bietet sich nicht an. Der Schritt von der Gesundheit hin zur Krankheit ist nicht nur eine einfache Veränderung. Wie wir gesehen haben, transformiert die Krankheit die Umstände der Existenz. In dieser Vision der Krankheit ist es wichtig, sich von der Vorstellung der Krankheit als eine Erfahrung äußeren Leides zu distanzieren, beziehungsweise die Krankheit als etwas Externes, was dem Subjekt widerfährt, zu verstehen. Das Problem mit dieser Vision ist, dass sie, während sie den Kranken von seiner Lebenserfahrung trennt, gleichzeitig den Weg der Heilung als Krieg bestimmt und dazu führt, dass die Ursache der Krankheit als eine Bestrafung verstanden wird. Die Suche nach einem Schuldigen im Zusammenhang mit der Krankheit macht es unmöglich, den Kranken zu verstehen und führt sogar dazu, dass er für sein eigenes Leid beschuldigt wird (Ocaña 1997; Cardona 2013). Die Perspektive der Ursache der Krankheit als etwas komplett Externes wurde auch vom Onkologen Mukherjee (1970/2012) und von Sontag (1978) in ihren Studien über den Krebs untersucht. Beide Autoren sind sich darin einig, den Sprachgebrauch, in dem die Krankheit als etwas Externes angenommen wird, anzuprangern, da dieser Sprachgebrauch den Kranken auf gefährliche Weise in ein Schlachtfeld verwandelt, was bedeutet, dass der Körper ein Raum zur Vernichtung eines Feindes ist. Diese Eliminierungsbemühungen können zur Entmenschlichung der Behandlung führen. Akzeptiert man hingegen die Symbolik ohne theologische Bedeutung der Krankheit, kann eine Heilung gefunden werden, die sowohl das Schuldgefühl, als auch das Gefühl der Äußerlichkeit überwindet. In diesem Sinn wird der Krankheit durch die Akzeptanz des Absurden dieselbe Bedeutung gegeben. Tolstois Roman Der Tod von Ivan Illich aufnehmend, sind zwei Aspekte auffallend: Erstens der Unterschied zwischen dem Bewusstsein
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unserer Sterblichkeit und dem Verständnis, dass wir sterben. In Kapitel 6 des Romans reflektiert Ivan darüber, wie ihm sein eigener Tod unverständlich ist. Er erinnert sich dann an die Klassen der Logik und des Syllogismus über die Sterblichkeit. Jedoch wird in diesem Syllogismus von einem Mann im Allgemeinen, Cayo, gesprochen, von dem angenommen wird, dass er sterblich ist. Dies gilt jedoch nicht für den Charakter, da er einzigartig und von einer Geschichte bestimmt ist. Zweitens kann der Schriftsteller zeigen, wie die Krankheit einen neuen Raum für das kranke Subjekt konfiguriert. Der Ernst, zu wissen, dass man krank ist, und die Nähe des Todes zu verstehen, verändert die Art und Weise, wie Räume wahrgenommen werden (Tolstoi 2008: 178). Dieser Perspektive der Weltveränderung tritt nicht nur bei unheilbaren, sondern auch bei chronischen Krankheiten auf, die zum Überleben eine kontinuierliche Behandlung, wie beispielsweise die Dialyse, benötigen.
3 Spirituelle Bedeutung der Gemeinschaft Vom Verständnis der Krankheit als existenzielle Erfahrung ausgehend, können wir die Bedeutung der Heilung, welche oft auf die rein instrumentale Behandlung der Organe oder von einer Funktionsstörung betroffener Systeme reduziert wurde, erweitern. Bei der Heilung muss vielmehr der Zustand des Kranken, welcher in seiner Kommunikationsunfähigkeit die eigene Spiritualität in Frage stellt, beachtet werden. Die Spiritualität ist eine anthropologische Dimension, durch welche die Frage nach dem Sinn offengehalten wird. Mit anderen Worten: Spiritualität stellt keine zeitlichen oder kausalen Zusammenhänge zwischen Krankheit, Tod und Jenseits her. Wie Ocaña betont, sind spirituelle Fragen nach der Radikalität einer Zukunft eher mit Schmerz und Krankheit als mit Freude verbunden (Ocaña 1997: 225). Außerdem kann Spiritualität theistisch sein oder nicht, das heißt, die Existenz einer transzendenten Verbindung steht für einige im Zusammenhang mit einem bestimmten Verständnis von Göttlichkeit, während sich andere auf eine Verbindung mit ihrer Gemeinschaft beziehen. Abschließend möchten wir grosso modo aufzeigen, wie Therapeutik und Philosophie bezüglich der Nichtmitteilbarkeit des Leidens an der Krankheit zusammenhängen. Wie wir gesehen haben, verbindet uns die existenzielle Verwundbarkeit und macht uns zu voneinander abhängigen Wesen. Sowohl ein blühendes Leben als auch der Verlust desselben sind verwurzelt in den tiefen Verbindungen mit den anderen. Dies zeigt uns eine neue Dimension der Krankheit auf: die spirituelle Verbindung der Gemeinschaft mit dem menschlichen Sinn, die durch die Erfahrung von Krankheit und Tod verloren gehen kann.
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Hier eröffnet sich ein hermeneutischer Weg, der es uns einmal mehr erlaubt, die Erfahrung der Krankheit und des Symbols in dem Maße zu verstehen, als Leiden sich mit Spiritualität verbindet. Eine therapeutische Perspektive, die diesen Standpunkt einnimmt, ist die Einfügung der Erzählung in die Therapie (Frank 2010). Die Nähe zwischen einem gesunden und einem kranken Subjekt basiert auf der Verbindung, die aufzeigt, dass man durch den möglichen Tod einen Teil der Menschheit verliert. Durch jeden Tod verarmt die Welt. In diesem Sinn ist jede Form von spirituellem Verständnis der Krankheit in einer radikalen Individualität des Kranken verankert, der dennoch nach dem Sinn des Lebens in der Gemeinschaft fragt. Das Spirituelle des Heilens führt uns zur Verbindung von Fragen, die nur aus diesem Bewusstsein der Verwundbarkeit, die uns ausmacht, heraus beantwortet werden können. Aus diesem Grund wird jeder Akt des Trostes, der versucht, sich dem Spirituellen zu nähern, durch ein unklares oder unbestimmtes Wort vermittelt: „Kein Akt der Liebe kann das Leiden trösten, wenn ihm nicht das Wort, das Imaginäre, die Übertragung-Gegenübertragung zwischen dem Getrösteten und dem Tröstenden vorausgehen“ (Kristeva 2006/2014: 109). Indem wir die Krankheit als eine existenzielle Erfahrung annehmen, verbinden wir uns mit dem kranken Mitmenschen, während wir gleichzeitig die Spiritualität, die unsere eigene Endlichkeit ausmacht, und die Notwendigkeit, von anderen getröstet zu werden, schätzen.
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Heimatlosigkeit und spirituelle Suche Eine philosophisch-anthropologische Reflexion A sense of homelessness and spiritual longing A philosophical-anthropological contemplation
Zusammenfassung: Als „transzendentale Heimatlosigkeit“ beschreibt Lukács die geistige Situation, in der sich der Mensch im Übergang von der Moderne in die Spätmoderne in der Welt vorfindet, wenn er nach Halt und Orientierung fragt. Plessner u. a. greifen den Begriff der „Heimatlosigkeit“ auf, um damit einen wesentlichen Grundzug des Menschseins zu beschreiben. In diesem Beitrag wird versucht, das spirituelle Suchen des Menschen, das jeder konkreten spirituellen Orientierung vorangeht, mit Hilfe der wesensmäßigen Heimatlosigkeit des Menschen zu beleuchten. Daraus können Impulse für die rechte Grundhaltung im spirituellen Gespräch im Rahmen von Spiritual Care ausgehen, wenn sich Pflegende/-r und Patient/-in als spirituell Suchende begegnen. Schlüsselwörter: Transzendentale Heimatlosigkeit, spirituelle Suche, Helmuth Plessner, Spiritualität, Spiritual Care Abstract: “Transcendental homelessness” – that’s how Lukács describes the spiritual situation in which (wo)man finds herself/himself in the phase of transition from modern times to late modern times – trying to find a sense of security and orientation in this world. Plessner and others take up the term “homelessness” and use it to describe an essential characteristic of human existence. This text examines the spiritual longing/search that precedes concrete spiritual orientation in light of the essential homelessness within human existence. From this, notions can emerge on how to approach spiritual conversations in the context of spiritual care, when caregiver and patient meet as spiritual seekers. Keywords: Transcendental homelessness, spiritual search, spiritual yearning, Helmuth Plessner, spirituality, spiritual care
1 Spiritualität und spirituelle Suche Spiritualität(en) und Religiosität(en) prägen sich in einer großen Vielfalt und Unterschiedlichkeit aus. Und ebenso vielfältig sind die Versuche begrifflich-inhttps://doi.org/10.1515/9783110638066-003
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haltlicher Beschreibungen und definitorischer Abgrenzungen. In Spiritual Care wird ein breit angelegtes Begriffsverständnis von Spiritualität verfolgt, das „verschiedene religiöse Zugehörigkeiten ebenso umfasst wie existenzielle, weltanschauliche oder sogar atheistische Sinnentwürfe“ (Frick 2014: 29). Im direkten Kontakt mit dem Patienten ist nicht der Ort, sich über Begrifflichkeiten und Definitionen auseinanderzusetzen – und doch gilt es, ein eigenes Umgehen mit der angetroffenen Unterschiedlichkeit der Ausprägungen von Spiritualität zu finden. Mit dem Begriff „Spiritualität“ wird zumeist eine bestimmte Einstellung oder Orientierung in Bezug auf existenzielle Fragen in Zusammenhang mit sich selbst, dem Leben, der Welt, „etwas Transzendentem“ und der Beziehung dieser vier Elemente untereinander gefasst. Es soll hier bewusst bei dieser so offenen Umschreibung des Begriffs „Spiritualität“ angesetzt und dabei Bezug genommen werden auf das, was Boeve (2012) und Halik (2014) als „Etwas-ismen“ bezeichnen: Viele Menschen sind der Überzeugung, „dass irgendetwas über uns ist“ (Halik 2014: 8) oder spüren zumindest eine Sehnsucht danach, „dass es ‚etwas mehr geben muss‘ im Leben als Fakten und Zahlen“ (Boeve 2012: 174). In diesem Etwasismus drückt sich eine religiöse Sehnsucht aus, auch wenn sie ihr Ziel oder das Objekt ihrer Sehnsucht nicht näher bezeichnen kann. Bei dieser Sehnsucht und dem aus ihr heraus motivierten Ausgreifen nach „mehr“ möchte ich in diesem Beitrag ansetzen. Die Spiritualität des Einzelnen ist selten etwas Statisches: Nicht nur, dass sich existenzielle Herausforderungen und Fragestellungen im Leben verändern (und damit die Antworten des Einzelnen darauf); es verändert sich auch der Horizont des Suchens, wenn etwa bisher tragfähige Antworten nicht mehr tragfähig sind, oder bisherige Orientierungslinien nicht mehr weiterführen. Die Dynamik, die dahinter liegt, ist die der spirituellen Suche, sei es als offenes Fragen oder als Suche nach Antworten, nach Halt, nach Orientierung. In dieser philosophisch-anthropologischen Reflexion wird der Versuch unternommen, das spirituelle Suchen des Menschen in den Blick zu nehmen. Sie möchte einen Beitrag leisten für das Finden einer offenen Haltung in der Kommunikation über Spiritualität im Rahmen von Spiritual Care. Für diese gilt es, so Frick, die Zweite-Person-Perspektive einzunehmen und den „Dialog mit dem Patienten, (als) die bewusste und unbewusste Kommunikation zweier Suchender“ in den Blick zu nehmen. In Anlehnung an Nassehi verweist Frick auf den wichtigen Aspekt der eigenen Authentizität im Dialog mit dem Anderen, „als dem ‚Experten‘ seiner spirituellen Suche“ (Frick 2014: 29) in „der Form des Gesprächs, in dem die Beteiligten gewissermaßen religiöse Erfahrungen mit der Situation selbst machen …“ (Nassehi 2011: 39). In diesem Sinne sind Grenzziehungen in Frage zu stellen, die sich im Streit um vermeintlich besondere Kompetenzen einzelner Professionen für die spirituelle
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Sorge um den Patienten ergeben. Vorrang hat vielmehr die authentische Präsenz als selber spirituell suchendes Subjekt für den Patienten mit seinen spirituellen Bedürfnissen und Fragen. In der Zweite-Person-Perspektive gilt es, sich an dem zu orientieren, was Roser sehr pointiert ausdrückt, wenn er sagt „Spiritualität ist genau das – und ausschließlich – was der Patient dafür hält“ (Roser 2011: 47). In diesem Beitrag soll also ausdrücklich der Mensch als spirituell Suchender in Blick genommen werden. Das heißt: Noch vor der Frage nach Inhalt oder Form der Spiritualität und was die Menschen in ihrem spirituellen Suchen zu finden trachten, soll in diesem Beitrag ein Schritt zurück gegangen werden. Es soll die Frage beleuchtet werden „Was ist es mit der spirituellen Suche des Menschen?“ Dabei stehen zwei Facetten im Mittelpunkt: Was macht die spirituelle Suche aus? Was ist die Grundverfasstheit des Menschen, die ihn spirituell-suchend sein lässt? In der Philosophie des 20. Jahrhunderts taucht in diesem Zusammenhang immer wieder der Begriff der „Heimatlosigkeit“ auf. Es haben sich verschiedene Denker seiner bedient, um aus je ihrer Perspektive mit „Heimatlosigkeit“ ein grundlegendes Merkmal des Menschseins zu beschreiben: Lukács spricht 1920 von der „transzendentalen Heimatlosigkeit“ (Lukács 1971: 32), Plessner 1926 von der „konstitutiven Heimatlosigkeit des Menschen“ (Plessner 1928/1975: 309). Heidegger verwendet 1926 in „Sein und Zeit“ zunächst in seiner existenzialen Analytik des Daseins den Begriff der „Un-heimlichkeit“ in seiner Doppeldeutigkeit im Sinne des „Nicht daheim Seins“ und wendet ihn 1936 auf den Menschen an, um deutlich zu machen, dass es ganz wesentlich zum Menschen gehört, immer wieder die Grenzen des Heimischen, Gewohnten zu überschreiten „und zwar gerade in der Richtung auf das Unheimliche im Sinne des Überwältigenden“ (Heidegger 1935/1983: 160/116). Es gehört so grundlegend zum Menschsein das un-heimlichste Wesen zu sein, dass dies „der Grundzug des Menschenwesens (ist), in den je und immer alle anderen Züge eingezeichnet werden müssen“ (Heidegger 1935/1983: 160/116). Berger greift den Begriff der Heimatlosigkeit in den 1970er Jahren auf in „The homeless mind. Modernization and consciousness“ (Berger et al. 1974), in dem er die Herausforderungen des Modernisierungsprozesses von Gesellschaft(en) in seinen Auswirkungen, insbesondere in den Wechselwirkungen von Gesellschaft und Individuen analysiert. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, die spirituelle Suche des Menschen in der Korrelation mit dieser Grundverfasstheit der Heimatlosigkeit zu deuten.
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2 Zeitdiagnose Mit dem seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wahrzunehmenden „Spiritual Turn“ ist die Frage nach der Religiosität/Spiritualität des Menschen wieder deutlicher in den Fokus wissenschaftlicher Reflexionen gerückt. Die seit den 60er Jahren von zahlreichen Soziologen vertretene Säkularisierungstheorie mit ihrer Prognose eines nahezu vollständigen Verschwindens des Religiösen in der (post‐) modernen Gesellschaft, hat sich empirisch fassbar widerlegt. So hat sich auch Peter L. Berger, in den 60er und 70er Jahren einer der namhaften Vertreter der Säkularisierungstheorie, von dieser verabschiedet: „Was ihn zur Preisgabe […] bewog, war […] die Einsicht in die ungebrochene Vitalität der Religion, die heute so stark sei wie zu früheren Zeiten und auch durch die zweifellos einschneidenden Veränderungsprozesse der Modernisierung, Technisierung und Rationalisierung nicht gemindert worden sei“ (Pollack 2015: 162). Diese ungebrochene Vitalität der Religion, die sich mit der wieder zunehmenden Relevanz mit ihr verbundener Fragestellungen zeigt, kam im Lauf der Geschichte immer wieder zum Vorschein, auch wenn Religion aus der jeweiligen Zeitperspektive bereits obsolet geworden schien. So auch im Übergang von der Moderne zu dem, was wir seit den 1960er-Jahren als Spät- oder Post-Moderne bezeichnen. Kaufmann verortet diesen Übergang zeitlich: „Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg verschwand die Idee der Moderne wie auch der Fortschrittsglaube im Grauen der Schützengräben, in Inflation und Weltwirtschaftskrise, und schließlich erneut in den Bombennächten“ (Kaufmann 2012: 44). In dieser Zeit, im Jahr 1920, beschreibt Lukács die Zeitsituation aus der Perspektive der Geschichtsphilosophie als gekennzeichnet von einer Erfahrung der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ oder „transzendentalen Heimatlosigkeit“ (Lukács 1971: 32 und 52). Mehr mit dem Blick auf das Individuum gewendet, diagnostiziert zwei Jahre später (1922) Kracauer in seinem Aufsatz „Die Wartenden“ die geistige Situation der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, dass die Menschen der gebildeten Schichten in der Moderne ihre Bindung an tradierte Glaubensüberzeugungen aufgegeben haben, nun aber einen existenziellen Verlust spüren: „Es ist das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum […]. Sie leiden im Kern an ihrem Vertriebensein aus der religiösen Sphäre, an der ungeheuren Entfremdung, die zwischen ihrem Geist und dem Absoluten herrscht“ (Kracauer 1963: 106). Dieses Leiden am „Vertriebensein aus der religiösen Sphäre“, das Kracauer konstatiert, hat seinen Auslöser wiederum in einem Glaubensverlust: Im Verlust des absoluten und so optimistischen Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts, der als eine erneut beschränkte Weltanschauung (wie die vormals hinter sich gelassene) durchschaut wurde. Die
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Vertrautheit der geschlossenen religiösen Weltsicht war in der Moderne aufgegeben worden – und in der neuen Erfahrung eines Mangels an Sinn in der Welt wurde zumindest die religiöse Sphäre als Raum des Fragens und Suchens neu in ihrem Wert erkannt: „Aber die Pforte, durch die sie Einlaß begehrten, öffnete sich ihnen nicht“ (Kracauer 1963: 106 und 107). Was Kracauer und Lukács 1920 und 1922 diagnostizierten, ist die Momentaufnahme einer Entwicklung, die mit dem Beginn der Neuzeit ihren Anfang nimmt und sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Die Menschen halten auch heute in der Postmoderne Ausschau nach einem Zugang zur Sphäre des Religiösen als Raum des Fragens und Suchens, weil sie das Bedürfnis nach Orientierung in einer aufgelösten Weltganzheit haben. Diese Suche hat sich aber von der Anlehnung an institutionalisierten Sozialformen der Religiosität wegverlagert ins Individuelle, ins Private, wie es Luckmann konstatiert. Damit verbunden ist, dass bisher gesellschaftlich etablierte Deutungsmuster an Relevanz und kommunikativer Kraft verloren haben. So zeichnet sich die moderne Sozialform von Religiosität „durch das Fehlen allgemein glaubwürdiger und verbindlicher gesellschaftlicher Modelle für dauerhafte, allgemein menschliche Erfahrungen der Transzendenz aus“ (Luckmann 1996: 28). Fehlen aber gemeinsam getragene, inhaltlich zumindest in Teilen kongruente Modelle und Deutungsmuster für den Bezug zum Transzendenten, so stellt sich nicht nur im Kontext von Spiritual Care die Frage, was die gemeinsame Basis, die Hintergrundfolie oder der gemeinsame Schlüssel zum „Raum für spirituelle Kommunikation“ sein könnte. Dabei kann uns vielleicht auch das Beleuchten der Frage weiterhelfen, ob der Mensch tatsächlich erst durch die pluralistische Entwicklung der spät-/postmodernen Gesellschaft diesen „metaphysischen Verlust von Heimat“ zu erleiden hatte, wie es Berger und andere der vorgenannten Autoren diagnostizieren. Eine alternative Betrachtungsweise könnte sein, dass der Mensch vielmehr schon immer in dieser Grunderfahrung und Grundverfasstheit der Heimatlosigkeit steckt, weil diese zum Menschsein konstitutiv dazugehört, diese aber erst durch die genannten Entwicklungen deutlich ins Bewusstsein rückt. Dazu wollen wir uns im Folgenden dem Ansatz der Philosophischen Anthropologie und insbesondere den Thesen eines ihrer exponiertesten Vertreter, Helmuth Plessner (1892– 1985), zuwenden, der seinerseits von der „konstitutiven Heimatlosigkeit“ des Menschen spricht.
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3 Was kann die Philosophische Anthropologie leisten? 3.1 Plessners Anspruch – Die Sicht der Philosophischen Anthropologie auf den Menschen Plessner versucht mit dem Ansatz der Philosophischen Anthropologie die alte Frage „Was ist der Mensch?“ philosophisch in besonderer Weise unter Einbeziehung anderer Wissenschaften anzugehen, die je für sich eigene Aspekte des Menschen und Menschseins zum Gegenstand haben (Naturwissenschaften, Psychologie, Historie und Soziologie). Dabei nimmt eine so verstandene Philosophische Anthropologie sowohl gegenüber den Einzelwissenschaften, die sie einbezieht, als auch der Philosophie gegenüber eine in besonderer Weise spezialisierte Position ein. Plessner bestimmt den perspektivischen Ausgangs- bzw. Standpunkt der Philosophischen Anthropologie in einer dreifachen Verbundenheit: mit den Einzelwissenschaften, mit der Philosophie und mit der geschichtlichen Situation des je konkreten menschlichen Lebens. In aller Deutlichkeit betont er, dass aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie „[…] jedem Aspekt, von dem aus der Anspruch erhoben werden kann, daß in ihm menschliches Wesen erscheint, ob der physische, psychische, geistig-sittliche oder religiöse, […] der gleiche Wert [Hervorhebung MF] für die Aufdeckung des ganzen menschlichen Wesens zuzubilligen [ist]“ (Plessner 1979: 38). Dies ist für Plessner einer der methodischen Grund(an)sätze der Philosophischen Anthropologie, der diese „von allen materialistischen, idealistischen, existentialistischen Einseitigkeiten [trennt], die in Richtung auf eine Grunddimension, längs oder quer zu der traditionellen Seinsschichtung im Aufbau der menschlichen Natur, einen besonderen Leit-Aspekt dem Menschen vorbehalten“ (Plessner 1979: 38). Diese Einheit in der Zusammenschau der verschiedenen Aspekte des Menschseins kann für Plessner nur existenz-bezogen (im existenzialistischen Sinne) begründet sein und „muss von derselben Ursprünglichkeit sein, wie sie der Mensch in seinem Geschichte werdenden Dasein beweist, in dem er sie sich erringt“ (Plessner 1979: 39). Damit ist nun nicht nur der besondere Standpunkt der Philosophischen Anthropologie Plessners für die Reflexion auf die Frage nach dem Menschen deutlich geworden, sondern auch die Spur dafür gelegt, warum wir uns in diesem Beitrag von Plessner an die Hand nehmen lassen wollen, wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, was es mit dem spirituellen Suchen des Menschen auf sich hat, zu dem wesenhaft gehört, dass es „[…] wünscht und hofft, denkt und will,
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fühlt und glaubt, um sein Leben bangt und in allem den Abstand zwischen Vollkommenheit und seinen Möglichkeiten erfahren muß“ (Plessner 1979: 33).
3.2 Die „Gestelltheit“ des Menschen Plessner sucht in der Frage nach „Wesen und Ziel des Menschseins“ zunächst nach einer angemessenen Beschreibung der Situation des Menschen, in der sich dieser selbst – und zwar jeder Einzelne – vorfindet und verwendet hier den Begriff der „Gestelltheit“. In „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ unternimmt Plessner den Versuch der Einordnung des Lebewesens Mensch in eine Stufenordnung des organischen Lebens. Er versucht vor dem Hintergrund der Vielfalt des organischen Lebens die besondere Seinsweise des Menschen und das besondere Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt und zu sich selbst darzustellen. Anders als eine von der Dimension des Geistigen oder des Seins herkommenden Metaphysik oder Daseinsontologie (Heidegger) besteht „Plessner […] im Ansatz darauf, die ›niederen‹ Kategorien des Lebens gegen die ›höheren‹ Schichten, also gegen die Sprache, den Geist, die Vernunft, ins Recht zu setzen“ (Fischer 2016: 37). Er wendet sich mit einem einheitsstiftenden Blick auf die Welt des Organischen und versucht die Sonderstellung des Menschen aus diesem Blickwinkel abzuleiten. So versucht Plessner „den Dualismus von Natur und Geist zu überwinden, indem er den Doppelaspekt der naturalen und der geistigen Existenz des Menschen auf ein einziges Prinzip zurückführt; näherhin, indem er das Geistige nicht unmittelbar mit dem Bloß-Physischen in Beziehung setzt, sondern mit dem Organischen, also einem Auch-Physischen, und 2. indem er es als Abwandlung (Stufe) dieses AuchPhysischen begreift“ (Grünewald 1993: 272).
3.3 Exzentrische Positionalität Aus dem jeweiligen Verhältnis zu ihrer Grenze und zum Umfeld leitet Plessner zunächst die Unterscheidung zwischen Pflanze und Tier ab. Unterschieden werden beide hinsichtlich ihrer offenen (Pflanzen) bzw. geschlossenen Form (Tiere), die bezüglich des Verhältnisses zu ihrer Umwelt wahrnehmbar ist. Die Grenze der Pflanze zu ihrem Umfeld ist offen und durchlässig, sie ist funktional in ihr Umfeld eingepasst, sie ist von ihm abhängig und sie bewegt sich nicht fort. Die Grenze des Tieres zu seinem Umfeld ist geschlossen, sie bildet für das Tier das Medium zwischen sich und der Umwelt.
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Als weitere Unterscheidung kommt das Moment des Zentrums, der Mitte hinzu: Das Tier erlebt seine Umwelt aus seinem Zentrum heraus, in dem es sich seiner Umwelt gegenüberstellt, sich selbst erlebt es dabei aber nicht. Anhand des „positionalen Moments“, das er begrifflich in die Kategorie der „Positionalität“ fasst, trifft Plessner nun auch die wesensmäßige Unterscheidung zum Menschen: Er sieht die spezifische Form der Positionalität des Menschen in Abgrenzung von der zentrischen Positionalität des Tieres als ex-zentrische Positionalität. Wenn Plessner in Zusammenhang mit der Beschreibung der exzentrischen Positionalität des Menschen von „Gesetztheit“ spricht, so tut er dies mit einer Anspielung auf Fichte ausdrücklich als Umkehrung des Schlüsselbegriffs der „Setzung“ im Deutschen Idealismus (Plessner 1928/1975: 129), indem „Gesetztheit“ eine zunächst passivisch getönte Struktur ausdrückt (Fischer 2016: 126 – 127). Mit der naturphilosophischen Sicht in Absetzung vom Verständnis der „Setzung durch das Subjekt“ im Idealismus auf den Bereich des Organischen führt Plessner „mit „Positionalität“ […] vor dem setzenden ›Ich‹ des Idealismus ein eigendynamisches ›Es‹ ein, das sich grenzrealisierend in Bezug auf Anderes hält, ohne ontotheologisch auf einen setzenden ›Er‹ als vorgängigen Schöpfer zu rekurrieren“ (Fischer 2016: 127). Durch diese Grenzgesetztheit des so charakterisierten Lebewesens „Mensch“ ist es ex-zentrisch in die Lage versetzt „[…] sich von sich zu distanzieren, zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen. Dann ist es diesseits und jenseits der Kluft, gebunden im Körper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit und so ist es Mensch“ (Plessner 1928/ 1975: 290). In der Möglichkeit zur reflexiven Rückwendung des Menschen zu sich selbst, „steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter ihm‘, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften NirgendwoNirgendwann“ (Plessner 1928/1975: 291 und 292). Vor dem Hintergrund dieses Stehens bzw. „Gestelltseins“ in die Ortlosigkeit, ins Nichts ergibt sich die Frage, wie der Mensch dieser seiner Lebenssituation der exzentrischen Positionalität gerecht wird. Für Plessner zeigt schon das Auftauchen der Frage, welche Grundmerkmale die Existenz des Menschen annehmen muss, dass mit der Exzentrizität des Menschen eine Gegenüberstellung des Menschen gegen seine Lebendigkeit und Lebenssituation gegeben ist. Der Mensch muss sich im Laufe seines Lebens in der Gegenüberstellung von sich zu seiner Situation immer und immer wieder die Fragen stellen: „was soll ich tun, wie soll ich leben, wie komme ich mit dieser Existenz zurande?“ Diese Fragen sind wesenstypischer Ausdruck der „Gebrochenheit oder Exzentrizität“ (Plessner 1928/ 1975: 309). In diesem Bewusstsein des Lebensvollzugs aus der Mitte und der Reflexion auf den Lebensvollzug „lebt der Mensch nur, wenn er ein Leben führt“. Der
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Mensch in der exzentrischen Positionsform „steht im Aspekt einer absoluten Antinomie: sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt“ (Plessner 1928/1975: 309 – 310).
3.4 Die „konstitutive Heimatlosigkeit“ Der Mensch steht mit seiner exzentrischen Positionalität im Nichts bzw. auf dem Nichts. Sein Zentrum bildet das absolute Zentrum seines Umfeldes, weil er sich von diesem aus zu seinem Umfeld verhält und sein Umfeld so um sich herum organisiert und zuordnet. Und weil er darum weiß, ist ihm auch die Zufälligkeit, die Kontingenz seines Seins und So-Seins bewusst. Mit künstlichen Mitteln, wie z. B. der Kultur, versucht der Mensch sich nach Plessner nun selbst einen tragfähigen Grund zu schaffen, auf dem er in seiner Ortlosigkeit stehen kann. Damit diese künstlich geschaffenen Grundlagen aber auch tatsächlich tragfähig sind und nicht reine Illusion, können sie ihre Funktion nur leisten, wenn ihnen ein eigenes Gewicht zukommt: „Denn ebenso wesentlich ist für die technischen Hilfsmittel (und darüber hinaus für alle Werke und Satzung aus menschlicher Schöpferkraft) ihr inneres Gewicht, ihre Objektivität, die als dasjenige an ihnen erscheint, was nur gefunden und entdeckt, nicht gemacht werden konnte. Was also in die Sphäre der Kultur eingeht, zeigt Gebundenheit an das menschliche Urhebertum und zugleich (und zwar in demselben Ausmaß) Unabhängigkeit von ihm“ (Plessner 1928/1975: 321).
3.5 Die „Natürliche Künstlichkeit des Menschen“ als Weg in eine zweite Heimat Andere Lebewesen haben aufgrund ihrer zentrischen Positionalität ihren natürlichen Ort in der Welt, weil sich alles um sie in ihrem unmittelbaren Bezug zum Umfeld um ihr Zentrum hinordnet und sie dort „hausen“, also gleichsam „zuhause sind“. Dem Menschen in seiner exzentrischen Positionalität fehlt dieser natürliche Standort, und so findet er sich als „grenzenloses Lebewesen mit einem ‚utopischen Standort‘“ (Fischer 2016: 132) in der Heimatlosigkeit vor und es fehlt ihm die Natürlichkeit und Unmittelbarkeit der anderen Lebewesen: „Dem Menschen dagegen ist mit dem Wissen die Direktheit verloren gegangen, er sieht seine Nacktheit, schämt sich seiner Blöße und muß daher auf Umwegen über künstliche Dinge leben“ (Plessner 1928/1975: 310). Weil dem Menschen durch seine Existenzweise aufgezwungen ist, „das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein
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Komplement nicht-natürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich. Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos [Hervorhebung MF], muß er ‚etwas werden‘ und sich das Gleichgewicht – schaffen“ (Plessner 1928/1975: 310). Die Dinge seines Schaffens können ihm aber nur dann ins Gleichgewicht helfen, wenn sie losgelöst vom Schaffen des Menschen ein eigenes Gewicht haben, das ihnen unabhängig von seinem Schaffen zukommt. „Existenziell bedürftig, hälftenhaft nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet“ (Plessner 1928/1975: 316). Für dieses zweite Vaterland gilt, was oben bezüglich des kulturellen Schaffens gesagt wurde: es zeigt Gebundenheit an das menschliche Urhebertum und zugleich (und zwar in demselben Ausmaß) Unabhängigkeit von ihm. Das aus der „natürliche Künstlichkeit“ Geschaffene gewinnt an Objektivität und Gewicht durch das an ihm, was nicht vom Menschen selbst gemacht werden, sondern gefunden und entdeckt werden kann (Plessner 1928/1975: 321). Hier taucht nun erstmals der Begriff der „Heimat“ auf: als Zielpunkt eines Strebens einerseits, und gleichzeitig als vom Menschen in seiner natürlichen Künstlichkeit selbstgewählter und von ihm selbst grundgelegter Ort, an dem er absolute Verwurzelung findet: „Ortlos, zeitlos, ins Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden. Nicht sofern sie ihn schafft, hat sie ihn, wird sie von ihm getragen. Künstlichkeit im Handeln, Denken und Träumen ist das innere Mittel, wodurch der Mensch als lebendiges Naturwesen mit sich in Einklang steht“ (Plessner 1928/1975: 316).
3.6 Der Standort des Menschen in der Ortlosigkeit, im Nichts Das Schaffen des Menschen findet nie seine endgültige Erfüllung in dem vom Menschen selbst Gemachten, sein Streben findet nie seinen Endpunkt, weil der Grund, der gelegt ist, der Ort, der als Bezugspunkt vom Menschen gesetzt wird, immer wieder in seiner Künstlichkeit und in seiner Vergänglichkeit erkannt wird. Diese Wurzellosigkeit des Menschen sieht Plessner in der Weltgeschichte bestätigt, aber auch im Blick des Menschen auf sich selbst: Die konstitutive Wurzellosigkeit des Menschen „gibt ihm das Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit der Welt“ (Plessner 1928/1975: 341). Mit der Nichtigkeit rückt dem Menschen aber auch die Einmaligkeit und Einzigartigkeit seiner selbst und der Welt ins Bewusstsein. So findet er sich als einmalig und einzigartig vor, als einer der ebenso nicht sein könnte, aber dennoch
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ist. Aus diesem heraus „erwacht er zum Bewusstsein der absoluten Zufälligkeit des Daseins und damit zur Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes. Nur ist dieses Bewußtsein nicht von unerschütterlicher Gewißheit“ (Plessner 1928/1975: 341). Dieses Bewusstsein muss immer wieder errungen werden – und so sind wir wieder nahe beim Thema der spirituellen Suche des Menschen.
3.7 Der Ursprung der Religiosität Im Spannungsfeld zwischen der empfundenen Nichtigkeit und Kontingenz des eigenen Daseins und des gleichzeitigen Bewusstseins der Einmaligkeit des eigenen Lebens, des eigenen Lebensvollzugs und des eigenen Schaffens muss jeder Mensch seine eigene Position suchen und für sich gewinnen (Fischer 2016; Plessner 1928/1975). In diesem Suchen wird der Mensch aber nie eine abschließenden Gewißheit seiner selbst erlangen und so „[…] bleibt ihm nur der Sprung in den Glauben“ (Plessner 1928/1975: 342). Und doch sieht Plessner einen fundamentalen Widerspruch zwischen Exzentrizität und Religion.
3.8 „Heimat schenkt nur Religion“ – Der Widerspruch zwischen Religion und Exzentrizität In den „Stufen des Organischen und der Mensch“ buchstabiert Plessner das Konzept der Exzentrischen Positionalität, der „Natürlichen Künstlichkeit“ und die These der „konstitutiven Heimatlosigkeit des Menschen“ bis zur letzten Konsequenz aus: Er sieht im Menschen das Lebewesen, das ständig über sich hinaus greift, das ein Gegengewicht zu seiner Ergänzungsbedürftigkeit schafft, bei den Ergebnissen seines Schaffens aber nicht stehenbleiben kann, weil er ihre Begrenztheit und nur vorläufige Tragfähigkeit erkennt. Er sieht dieses Lebewesen Mensch in der Versuchung, sich selber einen letzten Bezugspunkt zu setzen und dabei dessen Vorläufigkeit, die allem Menschen-Gemachten eignet, zu vergessen. Plessner sieht in der Exzentrizität und dem Bewusstsein der eigenen Zufälligkeit den apriorischen, mit der menschlichen Lebensform gegebenen Kern aller Religiosität. Er verortet das religiöse Streben und Suchen des Menschen in dessen Wesenskern, der zu ihm so gehört wie die Heimatlosigkeit. Die definitiven Antworten aber, die dem Menschen in der Religion gegeben werden, im Kern die Antwort auf die Frage „wo er steht“, widersprechen der exzentrischen Existenzform. Wo der Mensch den „Sprung in den Glauben“ vollzieht, und sich dem ab-
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schließenden Gedanken eines Weltgrundes, eines Absoluten, eines Gottes, anvertraut, schränkt er seine exzentrische Lebensform ein oder verfehlt sie sogar. Das ist letztendlich die Konsequenz des Gedankengangs von Plessner. Er bezieht sich in der Beschreibung des Religiösen bewusst nicht auf eine konkrete Gestalt von Religion, sondern benennt als gemeinsames Charakteristikum aller Religiosität: „Sie schafft ein Definitivum. Das, was dem Menschen Natur und Geist nicht geben können, das Letzte: so ist es -, will sie ihm geben. Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion“ (Plessner 1928/1975: 342). Und kritisch fährt Plessner fort: „Zwischen ihr [der Religion, Erg. MF] und der Kultur besteht daher […] absolute Feindschaft. Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück“ (Plessner 1928/1975: 342). In diesem Sinn steht nicht nur Religion der Kultur entgegen, sondern alles auf Erfüllung angelegte Streben des Menschen „nach Hause“, nach Heimat, nach letzter Geborgenheit, weil dieses nicht der „konstitutiven Gleichgewichtslosigkeit seiner besonderen Positionalitätsart“ (Plessner 1975: 316) gerecht wird. Für Plessner ist die konstitutive Gleichgewichtslosigkeit „Anlass“ zur Kultur, „[…] und nicht erst die Störung eines ursprünglich normal, harmonisch gewesenen und wieder harmonisch werden könnenden Lebenssystems“ (Plessner 1928/1975: 316). Er wendet sich damit gegen eine rückwärtsgerichtete Sehnsucht nach der Bewahrung eines Status quo oder der Wiedererlangung von bereits Überwundenem – im Gesellschaftlichen und im Religiösen (etwa einem verlorenen Paradies) –, weil er den Menschen in der konsequenten Vorwärtsbewegung eines immer-weiter-Schaffens sieht. Der Natur des Menschen entspricht es nicht, sich irgendwo „einzurichten“, sondern in seinem Tätigsein ist er immer wieder über das Erreichte hinaus verwiesen.
3.9 Der Gedanke des Weltgrundes – „Ein Weltall lässt sich nur glauben“ Und doch genügt dem Menschen dieses strebende Schaffen nicht. Wenn Plessner sich auch gegen das Definitive der Religion wendet, das Heimat gibt, so eröffnet er mit dem Gedanken des Weltgrundes eine neue Tür für die Sphäre des Religiösen: „Das Bewußtsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz der Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander. An der eigenen Haltlosigkeit, die dem Menschen den Halt an der Welt verbietet und ihm als Bedingtheit der Welt aufgeht, kommt ihm die
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Nichtigkeit des Wirklichen und die Idee des Weltgrundes“ (Plessner 1928/1975: 345). Plessner sieht eine Wesenskorrelation zwischen der Exzentrischen Positionalität und Gott als dem absoluten, notwendigen, weltbegründenden Sein. „Die Idee dieses Weltgrundes aufgeben, hieße die Idee der Einen Welt aufgeben.“ Er merkt aber warnend an: „Atheismus ist leichter gesagt als getan“ (Plessner 1928/ 1975: 346). Der Mensch vermag den Gedanken des Weltgrundes zu denken und gleichzeitig zwingt ihn „die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort […] den Zweifel gegen die Einheit der Welt zu richten“ (Plessner 1928/1975: 346). Plessner sieht das existenzielle Paradoxon, dass das Absolute der menschlichen Exzentrizität gegenübersteht, aber gleichzeitig in der Exzentrizität „das innere Recht zur Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts und somit die Leugnung des Absoluten, die Auflösung der Welt verlangt“ (Plessner 1928/1975: 346). So kommt Plessner zu dem Schluss: „Ein Weltall läßt sich nur glauben. Und solange er glaubt, geht der Mensch „immer nach Hause“. Nur für den Glauben gibt es die „gute“ kreishafte Unendlichkeit, die Rückkehr der Dinge aus ihrem absoluten Anderssein. Der Geist aber weist Mensch und Dinge von sich fort und über sich hinaus. Sein Zeichen ist die Gerade endloser Unendlichkeit. Sein Element ist die Zukunft. Er zerstört den Weltkreis […]“ (Plessner 1928/1975: 346). Mit diesem Schlusssatz beschließt Plessner die „Stufen des Organischen“ und lässt offen, ob er den Menschen damit in der eingangs geschilderten Grundstimmung der „metaphysischen Heimatlosigkeit“ ins Offene einer seinsmäßig nicht-gehaltenen Zukunft entlassen oder ob er Zugang zur Pforte der Sphäre einer Religiosität auftun will: Einer Religiosität, die sich aber nicht mit dem Definitiven und Begrenzten dieser Welt zufrieden gibt und es restaurativ bewahren will. Mitscherlich-Schönherr (2019) geht in ihrem Beitrag in diesem Band vertieft auf Plessners spirituelles ethos als einer Grundhaltung ein, die sich aus dem „Zwischen“ religiösem Glauben und kultiviertem Zweifel gewinnen und (be‐)gründen lässt und die den Raum einer Offenheit für den Dialog divergierender spiritueller Grundüberzeugungen eröffnet. In Zusammenhang mit Plessners These „Ein Weltall kann man nur glauben […]“ weiterführend ist der Beitrag von Gabriel (2013) „Warum es die Welt nicht gibt“. Gabriel versucht mit seinem Ansatz des „Neuen Realismus“ einen Schritt über das Zeitalter der Postmoderne hinauszugehen. Er kritisiert ein verengtes Verständnis von Religion, das er als Fetischismus bezeichnet, „der Vorstellungen von einem allumfassenden und ordnenden Weltprinzip hervorbringt“ (Gabriel 2013: 185) und ist damit nahe an Plessners Kritik an der Religion. Gabriel stellt dem ein anderes Verständnis von Religion als „Ausdruck unseres Sinnes und Ge-
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schmacks für das Unendliche“ (Gabriel 2013: 185) gegenüber und lehnt sich damit an Schleiermachers Religionsbegriff an. Gabriels Interpretation von Religion in Zusammenhang mit der Sinnsuche erscheint anschlussfähig an Plessners Ansatz der Exzentrizität und dem, was auf den letzten Seiten der „Stufen des Organischen“ offen bleibt: „[…] Religion sei eine Form der Sinnsuche. Die Religion entspringt unserem Bedürfnis, aus einer maximalen Distanz zu uns zurückzukehren. Der Mensch ist imstande, so weit von sich abzulassen, dass er sich nur noch als verschwindenden Punkt in einem Unendlichen verstehen kann. […] Die RELIGION [Hervorhebung original] ist deswegen eine Rückkehr zu uns selbst aus dem Unendlichen, schlechthin Unverfügbaren und Unveränderlichen, bei der es darum geht, dass wir nicht völlig verlorengehen“ (Gabriel 2013: 203).
4 Heimatlosigkeit, spirituelle Suche und Spiritual Care Mit diesem Bezug auf die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners verorten wir das spirituelle Suchen im Wesenskern des Menschen. Seine kritischen Bemerkungen bezüglich Religion und Glauben beziehen sich auf ein weit verbreitetes Verständnis und Selbstverständnis institutionalisierter Religiosität und können ohne weiteres auch auf andere Formen der Spiritualität bezogen werden, die dem spirituellen Suchen des Menschen ein abschließendes Definitivum geben wollen. Im Alltag von Spiritual Care begegnen uns in den seltensten Fällen Menschen, die ihre definitiven Antworten in existenziellen und spirituellen Fragen gefunden haben. Im Gegenteil: In existenziell bedeutsamen Situationen angesichts von Krankheit, Leid und Tod werden auch vormals „geglaubte Gewissheiten“ wieder brüchig, und das Tor des Fragens und tastenden Suchens nach Halt und Orientierung öffnet sich wieder. In diesem Sinne zeigt sich dort wieder die „konstitutive Heimatlosigkeit“ und der Durchbruch der im Menschen wesensmäßig grundgelegten „suchenden Spiritualität“. In diesem Sinne müssen wir den Begriff des Glaubens beziehen auf das, woran der Mensch sich hängt, worauf er sich in seinem Suchen ausgestreckt hat und was er als je vorläufigen Halt gefunden hat. Die spirituelle Suche ist dabei etwas Fragiles, Verlierbares, nämlich dann, wenn sie sich auf Antworten einlässt, die mehr als nur vorläufigen Halt geben wollen, die endgültige Heimat geben wollen und damit die spirituelle Suche ihrer Dynamik berauben. Eingangs wurde in Aussicht gestellt, dass diese philosophisch-anthropologische Reflexion einen Beitrag leisten möchte, um für die Kommunikation mit
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dem/der Patienten/-in im Kontext von Spiritual Care die rechte eigene Haltung zu finden. Die Bewusstheit der Grundverfasstheit einer transzendentalen Heimatlosigkeit, der sich alle an der Kommunikation Beteiligten ausgesetzt finden, kann hier die Sphäre der Religiosität in einer neuen Tiefe eröffnen, in der sich Suchende in ihrem Suchen begegnen, einander begleiten, einander teilhaben lassen an dem, was sie als (vorläufigen) Halt und Orientierung gefunden haben, und einander den Horizont weiten im Blick auf die existenziell bedeutsame Situation. Dass diese Beziehung wechselseitig bereichernd ist, belegen die Aussagen von Seelsorgenden und Pflegenden, wie sie berührt, angerührt, bereichert und beeindruckt wurden von der spirituellen Grundhaltung von Kranken oder Sterbenden, deren Begleiter/-innen sie waren (Birkholz 2018). Dass sich dieser Raum der spirituellen Kommunikation eröffnen kann, erfordert jenseits der fachlichen Profession die Bereitschaft, sich selber authentisch als Mensch mit seinem eigenen spirituellen Suchen und Fragen auf die Gesprächssituation einlassen zu können.
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Zwischen Ernst und Nichternst Spiritualität in Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie Between faith and doubt Spirituality in Helmuth Plessner’s philosophical anthropology Zusammenfassung: In meinen Überlegungen möchte ich die Spiritualität der Philosophischen Anthropologie von Helmuth Plessner in ihren beiden Aspekten rekonstruieren: sowohl die Theorie über Spiritualität, die sich im Rahmen dieses philosophischen Ansatzes entwickeln lässt, als auch das spirituelle ethos, das Plessners Philosophische Anthropologie ihrerseits trägt. Das theoretische Verständnis von Spiritualität, das sich im Horizont von Plessners Philosophischer Anthropologie erreichen lässt, finde ich in einer Theorie über ein spezifisches, im Dialog ausgeübtes ethos: über die existenzielle Lebenshaltung der Offenheit für das Begegnende in seiner Unvorhersehbarkeit und Unvordenklichkeit, die von Religiösen und Agnostikern miteinander in ihren geteilten Konflikten ausgebildet wird. In diesem Zusammenhang wird zugleich ersichtlich, dass ihr geteilter Konflikt Gläubige und Agnostiker allererst freisetzt, ihr Leben miteinander inmitten und jenseits des eigenen Körperleibs – und damit: unter der spezifisch menschlichen bzw. personalen Lebensform – zu führen. Im Rahmen von Plessners Philosophischer Anthropologie lässt sich jedoch nicht nur eine Theorie über Spiritualität entwickeln; Plessners Philosophieren ist vielmehr seinerseits vom spirituellen ethos der Offenheit getragen. Ich möchte dafür eintreten, dass es in seiner Selbstverpflichtung auf das Leitprinzip der menschlichen Unergründlichkeit unter den Bedingungen des modernen Lebensparadigmas eine besondere Gestalt des spirituellen ethos der Offenheit ausbildet. Schlüsselwörter: Religiöser und atheistischer Glaube, agnostischer Zweifel, spirituelle Offenheit, menschliche Unergründlichkeit, exzentrische Positionalität Abstract: It is my aim to present both aspects of spirituality – the theory of spirituality and the ethos of spirituality – which are present in Helmuth Plessner’s Philosophical Anthropology. On a theoretical level, I want to argue that Plessner’s concept of spirituality is to be understood as the dialogical ethos of openness, as practiced by the religious, atheists and agnostics in their common conflicts. In this context, it becomes apparent that their shared conflict enables believers and agnostics first and foremost to live their lives with each other, https://doi.org/10.1515/9783110638066-004
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both in the midst of and beyond their own bodies – and thereby to live a specifically human or personal way of life. On an ethical level, I want to show that Plessner’s Anthropology itself presents a spiritual projection on the horizon of the modern paradigm of life: the account of viewing human beings in light of their unfathomable depth. Keywords: Religious and atheistic faith, agnostic doubt, spiritual openness, eccentric positionality, human inscrutability
1 Einleitung: Zu der Fragestellung und den Thesen meiner Überlegungen Es mag mindestens auf den ersten Blick überraschen, sich für die philosophische Auseinandersetzung mit spiritueller Erfahrung Aufschluss von Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie zu erhoffen. Plessner gebraucht die Begriffe der Spiritualität, der spirituellen Fragen, einer spirituellen Lebenshaltung oder eines spirituellen ethos nicht. Im Schlusskapitel seiner naturphilosophischen Schrift Die Stufen des Organischen von 1928 ist Spiritualität zwar der Sache nach präsent. Unter dem Titel Das Gesetz des utopischen Standorts. Nichtigkeit und Transzendenz behandelt Plessner das spirituelle Fragen von Menschen nach der Bestimmung ihres Mensch-Seins, dem Umwillen des Weltlaufs und dem Transzendenten. Auch ein ethos der Spiritualität ist hier präsent: eine spirituelle Haltung der Offenheit zweiter Ordnung, die sich einer Verabsolutierung der eigenen Vorstellungen über das Transzendente und über das Umwillen von Mensch und Welt enthält, die spirituellen Fragen offenhält und sich dergestalt dem Begegnendem in seiner Unvordenklichkeit und Unvorhersehbarkeit aussetzt. Eben diese Schlusspassagen der Stufen sind jedoch von einer merkwürdigen Ambivalenz gekennzeichnet. Ihre Ambivalenz speist sich aus dem Umstand, dass sie in ihrem Wortlaut in eine biologistische Metaphysik zu kippen scheinen, die im Widerspruch sowohl zum behandelten Gegenstand als auch zur Gesamtanlage von Plessners großem Werk steht. Plessner scheint die exzentrische Form menschlichen Lebens – inmitten und jenseits des eigenen Körperleibs zu leben – als Substanz des Mensch-Seins in Anspruch zu nehmen. Er scheint dafür einzutreten, dass Menschen – da sie von Natur aus kein festes Fundament für ihre Lebensführung gewinnen können – in die spirituellen Fragen nach einer letzten Bestimmung des Mensch-Seins und des Weltlaufs hineingezogen werden, auf religiöse Vorstellungen über einen Weltgrund kommen, agnostische Zweifel gegen diese Idee richten und zu einer atheistischen Glaubensposition bewegt zu werden, die das Zeitliche verabsolutiert bzw. das Ganze der Wirklichkeit als Zeit bestimmt. „[W]ie die exzentrische
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Positionalität Vorbedingung [Herv,; OMS] dafür ist, daß der Mensch eine Wirklichkeit in Natur, Seele und Mitwelt faßt, so bildet sie zugleich die Bedingung [Herv.; OMS] für die Erkenntnis ihrer Haltlosigkeit und Nichtigkeit“ (Plessner 1928/1975: 346). Des Weiteren scheint Plessner die exzentrische Gebrochenheit in normativer Hinsicht als Maßstab in Anspruch zu nehmen, um den Atheismus als eine dem religiösen Glauben überlegene Lebenshaltung auszuzeichnen: als Lebenshaltung, die der in sich gebrochenen Natur menschlichen Lebens besser entspreche. „Atheismus ist leichter gesagt als getan. […] Und doch vermag der Mensch diesen Gedanken zu denken. Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort zwingt [Herv.; OMS] ihn, den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten“ (Plessner 1928/1975: 346). Aufgrund ihres Wortlauts hat die Plessnersche Theorie über Das Gesetz des utopischen Standorts in der theologischen Rezeption widersprüchliche Reaktionen provoziert. Während Wolfhart Pannenberg dafür eintritt, dass „für Plessner ähnlich wie für Scheler die Exzentrizität oder Weltoffenheit des Menschen letztlich Offenheit zu Gott [bedeute]“ (Pannenberg 1996: 345), bezeichnet Karl Barth die – nicht theologisch fundierte – Philosophische Anthropologie der Moderne als „Feind“, „dem man anders als mit der Entgegensetzung des christlichen Bekenntnisses nicht begegnen kann“ (Barth 1948: 24; vgl. Schirrmacher 2000: 68 ff.). Meines Erachtens ist die Religionsanthropologie, in die Plessners Stufen münden, in ihrem Wortlaut sowohl in anthropologischer als auch in religionsphänomenologischer Hinsicht problematisch. In anthropologischer Hinsicht halte ich die skizzierte Position für problematisch, da sie meint, zu viel zu wissen: indem sie die exzentrische Positionalität als „Vorbedingung“ des religiösen und atheistischen Glaubens und des agnostischen Zweifels in Anspruch nimmt, beansprucht sie Wissen über die letzte Bestimmung des menschlichen Lebens bzw. die Substanz „hinter“ den menschlichen Erscheinungen. Inmitten des Lebens ist uns jedoch unter den Bedingungen der Zeit ein archimedischer Standpunkt der Wahrheitserkenntnis entzogen, von dem aus wir allgemeingültiges Wissen von einer vorgängigen Substanz „hinter“ den Erscheinungen menschlichen Lebens erreichen könnten. In anthropologischer Hinsicht halte ich diese Position mit anderen Worten aus erkenntnistheoretischen Gründen für problematisch: indem sie exzentrische Gebrochenheit und Offenheit als natürliche „Vorbedingung“ der Phänomene in Anspruch nimmt, in denen uns menschliches Leben begegnet, verkehrt sie in ihrer methodologischen Anlage die Einsicht in die Offenheit des Mensch-Seins ihrerseits zur Substanzbestimmung und gibt auf diese Weise ebendiese Einsicht preis. Auf ihren letzten Seiten vertritt Plessner damit – im Widerspruch zur Gesamtanlage der Stufen-Schrift – eine Spielart des atheistischen Glaubens: eine anthropologistische Glaubensposition, die die Grenzen des
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Wissbaren übersteigt. In religionsphänomenologischer Hinsicht gerät diese anthropologistische Glaubensposition in Konflikt nicht nur mit dem religiösen Glauben, sondern auch mit dem agnostischen Zweifeln und mit dem spirituellen Fragen nach einer Bestimmung des menschlichen Seins und des Laufs der Welt. Indem sie allgemeingültige Aussagen über die natürlichen Quellen von religiösem Glauben, agnostischem Zweifeln und spirituellem Fragen aufstellen will, entzieht sich ihr notwendigerweise der Sachgehalt der behandelten Phänomene. Nicht nur stellt sich ihr der religiöse Glaube – phänomenwidrig – als menschliche Konstruktion dar; darüber hinaus entzieht sich ihr auch der Zugang zur Eigenqualität des Zweifelns, indem sie den Zweifel zur natürlichen Bestimmung des MenschSeins erhebt und damit mit dem atheistischen Glauben kurzschließt; und schließlich verschließt sich ihr auch das spirituelle Fragen nach einer Bestimmung des Mensch-Seins und des Weltlaufs, indem sie eine Antwort parat hält – mag diese auch inhaltlich als Offenheit bestimmt sein. Auch wenn ich die letzten Seiten von Plessners Stufen in eine naturalistische Glaubensposition kippen sehe, die kein philosophisches Wissen vermittelt, möchte ich nicht den von Barth gewiesenen Weg verfolgen und Plessner „mit der Entgegensetzung des christlichen Bekenntnisses […] begegnen“ (Barth 1948: 24). Vielmehr ist es mir im Folgenden darum zu tun, in hermeneutischer Absicht das Projekt der Stufen gegen den Wortlaut zu verteidigen, die die letzten Seiten dieses Textes bestimmen. Mein Ziel ist es, eine Lesart des Grundgesetzes des utopischen Standorts vorzustellen, die das Mensch-Sein gegen eine Verabsolutierung der Exzentrizität zur natürlichen Substanz offenhält und die die Phänomene des Glaubens und Zweifelns damit zugleich angemessener verstehen kann als der vordergründige Wortlaut des Textes. In phänomenologischer Hinsicht möchte ich die lebensweltlichen Phänomene des (religiösen wie atheistischen) Glaubens, des kultiviert-agnostischen Zweifelns und des spirituellen Sich-Öffnens in ihrem Eigenrecht in den Blick nehmen. In anthropologischer Hinsicht möchte ich dafür eintreten, dass die exzentrische Gebrochenheit nicht die „Vorbedingung“ dieses Dreigestirns aus Glauben, Zweifeln und Spiritualität bildet, sondern dass vielmehr umgekehrt zentrisch organisierte Lebewesen durch die Ausübung dieser ineinander greifenden Akte existenzieller Selbstverständigung allererst zu einer exzentrischen bzw. personalen Lebensform freigesetzt werden. Diese doppelte Neuaneignung des „Grundgesetzes des utopischen Standorts“ wird mir möglich, indem ich – im Unterschied zu Plessner – bei der Auseinandersetzung mit Glauben, Zweifeln und spiritueller Offenheit an dem Methodenverständnis der Stufen festhalte, das Plessner im Zentrum der Schrift entwickelt und das seinerseits in Gestalt der Selbstverpflichtung auf die Unergründlichkeit der menschlichen Natur eine spezifische Form spiritueller Offenheit darstellt.
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In der näheren Ausführung meiner Überlegungen werde ich im Folgenden in drei Schritten vorgehen. In einem ersten Schritt möchte ich auf die methodologische Gesamtanlage der Stufen blicken, die den Rahmen für Plessners Auseinandersetzung mit den menschlichen Phänomenen des (religiösen und atheistischen) Glaubens, des agnostischen Zweifelns und des spirituellen Fragens absteckt. In einem zweiten Schritt möchte ich auf das Schlusskapitel der Stufen blicken und meine Thesen näher ausführen, dass für eine konsequente Durchführung von Plessners Philosophischer Anthropologie Glauben, Zweifeln und spirituelles Fragen in ihrem Eigenrecht und ihrer wechselseitigen Verschränkung in Erscheinung treten; und dass das Dreigestirn aus Glauben, Zweifeln und spiritueller Offenheit eines der Lebensmodale bildet, die zentrisch organisierte Lebewesen instand setzen, miteinander die spezifisch menschliche Lebensform auszuüben. Im dritten Teil meines Beitrags möchte ich schließlich zeigen, dass Plessners Philosophische Anthropologie ihrerseits von einem ethos der Spiritualität getragen ist und unter den Bedingungen der Moderne für ebendieses ethos politisch Verantwortung übernimmt.
2 Die doppelseitige Deduktion des Begriffs der exzentrischen Positionalität und der Wesensmerkmale menschlichen Lebens Von ihrer methodologischen Gesamtanlage her möchte ich Die Stufen des Organischen – im Unterschied etwa zu Gehlens Schrift Der Mensch – als den Ansatz einer negativen Anthropologie rekonstruieren. Orientiert wird Plessners negative Anthropologie in ihrer methodologischen Anlage von der Selbstverpflichtung auf die Unergründlichkeit der menschlichen Natur (vgl. Plessner 1931/1981: insb. 175 – 185; Mitscherlich 2007: 45 – 60). Dabei ist die Orientierung an der menschlichen Unergründlichkeit nicht als Veto gegen das philosophische Streben nach Wissen über das Mensch-Sein zu verstehen (vgl. Mitscherlich 2008). Vielmehr zielt Plessners Vorgehen auf eine Erkenntnishaltung, der es allererst möglich wird, eigene Vorurteile zu transzendieren und philosophisches Wissen über das menschliche Leben zu erreichen (vgl. Mitscherlich 2008; Mitscherlich-Schönherr & Schlossberger 2015). Orientiert am Gedanken der menschlichen Unergründlichkeit entwickelt Plessner in den Stufen das Methodenprogramm einer „doppelseitigen Deduktion“, das sich in seiner Anlage grundlegend von dem einleitend kritisierten Vorgehen unterscheidet, Wesensqualitäten der menschlichen Lebensform aus einer verabsolutierten Bestimmung des Mensch-Seins abzuleiten (vgl. Mitscherlich 2007: 102– 111 und 188 – 241; Mitscherlich-Schönherr 2017).
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Darin sollen der durch rationale Überlegung erreichte Begriff der exzentrischen Positionalität auf der einen und die in lebensweltlicher Anschauung aufgefundenen Phänomene menschlichen Lebens auf der anderen Seite aneinander aufgewiesen werden – um philosophisches Wissen vom menschlichen Sein zu erreichen. Das Methodenprogramm der doppelseitigen Deduktion lässt sich im Ausgang von seinen beiden Aspekten und deren wechselseitiger Verwiesenheit erläutern. Blicken wir zunächst auf den Gedanken der exzentrischen Positionalität, der im begrifflichen Zentrum von Plessners Philosophischer Anthropologie steht (vgl. Fischer 2000). Innerhalb des Kompositums der „exzentrischen Positionalität“ bezeichnet zunächst der Begriff der Positionalität die ganzheitliche Erscheinung von Lebewesen: dass Lebewesen nicht nur – wie alle physischen Dinge – an einen bestimmten Ort in Raum und Zeit sind, sondern dass sie für die lebensweltliche Erfahrung vielmehr als solche Dinge in Erscheinung treten, die in ihren Lebensakten auf ihren Ort in Raum und Zeit ausgreifen und einen Eigenraum und eine Eigenzeit ausbilden (vgl. Mitscherlich-Schönherr 2017: 92 f.). Die Positionalität bzw. das ganzheitliche In-Erscheinung-Treten wird nach Plessner von Pflanzen, Tieren und Menschen nun in verschiedenen Formen ausgeübt. Exzentrizität meint die besondere – doppelte gegen sich gewendete – Form der Positionalität, die menschliches Leben auszeichnet. „Positional liegt“ – so Plessner – „ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt“ (Plessner 1928/1975: 293). „Ihm ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung“ (Plessner 1928/1975: 292). Exzentrische Positionalität bezeichnet damit die in sich gebrochene Lebensform des menschlichen PersonSeins, zugleich inmitten und jenseits des eigenen Körperleibs zu leben. Für das Verständnis der Architektonik und der methodologischen Anlage der Stufen ist es nun von zentraler Bedeutung, dass Plessner die Grenzen begrifflicher Erkenntnis reflektiert: dass durch begriffliche Überlegung zwar theoretische Hypothesen, jedoch kein Wissen über die Form menschlichen Lebens erreicht werden kann (vgl. Mitscherlich 2007: 102– 111; Mitscherlich-Schönherr 2017). Vor dem Hintergrund dieser Reflexion auf den hypothetischen Status des Begriffs der ex-
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zentrischen Positionalität weiß Plessner, dass er ebendiesen Begriff nicht in Anspruch nehmen darf, um aus ihm Wesensmerkmale des menschlichen Lebens abzuleiten (vgl. Schürmann 1997; Wunsch 2014: 222 und 228 ff.). „Und hier machen wir eine Anmerkung die genauer Beachtung empfohlen sei: das Verfahren der traditionellen Philosophie, mit einem Generalnenner zu arbeiten, auf den alles Sein (sic!), alle Gegebenheit (!) zu bringen ist, darf nicht dazu verführen, an die Realität dieses Nenners unbesehen zu glauben. Sonst zerstören die unvermeidlich vorgefaßten Grundkategorien des Philosophierens Lösungsmöglichkeiten der Probleme, die nur mit Hülfe jener Grundkategorien gefunden werden wollten. Muß denn die Formidee schon „sein“, bevor sie in einer Ausprägung am Lebendigen sichtbar geworden ist?“ (Plessner 1928/1975: 152). Um angesichts des allein hypothetischen Status des Exzentrizitätsbegriffs Wissen vom Mensch-Sein zu erreichen, ist nach Plessner verlangt, das tatsächliche Stattfinden dieser erdachten Strukturbestimmung nachzuweisen (vgl. Plessner 1928/1975: 105 – 120 und 127– 132). Um diesen Nachweis zu erbringen, gilt es nach Plessner, nicht in der Sphäre des begrifflichen Denkens zu verbleiben und rationale Ableitungen zu leisten, sondern sich vielmehr der lebensweltlichen Anschauung zuzuwenden und in der Sphäre der Anschauung die Qualitäten „auf[zu]lesen“ (Plessner 1928/1975: 113), die menschliches Leben lebensweltlich anzeigen. Als Qualitäten, die lebensweltlich spezifisch menschliches Leben anzeigen, führt Plessner insbesondere die Künstlichkeit der menschlichen Lebensführung, die Mittelbarkeit – insbesondere die sprachliche Vermitteltheit – des menschlichen Ausdrucks, die Ausdifferenzierung des geteilten Lebens in Formen der Gemeinschaft und der Gesellschaft sowie die bereits erwähnten Phänomene des spirituellen Fragens, des religiösen und atheistischen Glaubens sowie des agnostischen Zweifelns vor Augen. Ebendiese anschaulich gegebenen Merkmale menschlichen Lebens seien Schritt für Schritt als die Modi aufzuweisen, die zentrisch organisierten Lebewesen ein Leben als Person unter der exzentrischen Form möglich machen – um auf diese Weise philosophisches Wissen von der exzentrischen Positionalität als der Strukturbestimmung zu erreichen, die die lebensweltliche Erscheinung menschlicher Lebewesen tatsächlich ordnet (vgl. Plessner 1928/1975: 106; 122). Wenn wir nun näher auf die anschaulich gegebenen Qualitäten des MenschSeins blicken, dann zeigt sich, dass Plessner angesichts der Grenzen des begrifflichen Denkens das Heil seiner Philosophischen Anthropologie auch in keinem Mythos des Gegebenen sucht. Vielmehr reflektiert Plessner ebenfalls den problematischen Status der Einsichten, die die lebensweltliche Anschauung vermitteln: dass sich in der lebensweltlichen Anschauung zwar unmittelbar Merkmale auffinden lassen, die menschliches Leben anzeigen; dass sich in der Anschauung der Wahrheitsstatus der geschauten Qualitäten jedoch nicht mehr einsehen lässt: ob letztere menschliches Sein verbürgen oder nur vorgaukeln (vgl.
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Plessner 1928/1975: 114 f.). Angesichts des problematischen Erkenntnisstatus der geschauten Eigenschaften menschlichen Seins ist nach Plessner verlangt, deren Wahrheitsstatus mit Bezug auf die spezifische Strukturbestimmung menschlichen Seins – und d. h.: mit Bezug auf den Begriff der exzentrischen Positionalität – nachzuweisen (vgl. Plessner 1928/1975: 123 f). Innerhalb beider Deduktionsprogramme verweisen Denken und Schauen folglich wechselseitig aufeinander. Die Pointe seiner negativen Lebensphilosophie besteht in methodischer Hinsicht nun darin, dass Plessner die wechselseitige Verwiesenheit des Denkens und Schauens ins Positive wendet und das Methodenprogramm einer doppelseitigen Deduktion entwirft: die Methode keiner einseitigen Ableitung, sondern eines doppelseitigen Aufweises der gedachten Strukturprinzipien und der geschauten Wesensmerkmale aneinander. Mit dem Unternehmen, die anschaulich aufgefundenen Merkmale menschlichen Lebens als die Modi aufzuzeigen, die zentrisch organisierten Lebewesen ein personales Leben unter der exzentrischen Form möglich machen, will Plessner einen doppelten Nachweis erbringen: dass Exzentrizität tatsächlich im menschlichen Leben stattfindet, das uns hier und jetzt begegnet; und dass die lebensweltlich aufgefundenen Eigenschaften, in deren Modi das exzentrisch positionierte Leben möglich wird, dem exzentrisch positionierten Mensch-Sein wesensnotwendig zugehören und der Anschauung Mensch-Sein solcherart nicht nur vorgaukeln, sondern verbürgen. Zugleich wird damit ersichtlich, dass Plessner mit diesem Ansatz einer doppelseitigen Deduktion die Unergründlichkeit des menschlichen Lebens wahrt. In methodischer Hinsicht wahrt er die menschliche Unergründlichkeit, indem er im wechselseitigen Aufweis von begrifflicher Reflexion und lebensweltlicher Anschauung beider Verabsolutierung unterläuft und den archimedischen Standpunkt der Wahrheitserkenntnis offenhält. Inhaltlich hält er die Substanz des Mensch-Seins „hinter“ oder „unter“ seinen Erscheinungen offen, indem er sich mit seinem Deduktionsunternehmen in der Ebene des menschlichen In-Erscheinung-Tretens bewegt – und damit zugleich die Frage präsent hält, was oder wer es denn ist, der zugleich als physisches Ding unter Dingen da ist und in seinen Qualitäten als Mensch in Erscheinung tritt. Für unseren Zusammenhang ist es schließlich von zentraler Bedeutung, auf den Erkenntnisstatus zu reflektieren, den Plessner – im Falle einer erfolgreichen Durchführung seines Deduktionsverfahrens – für den Begriff der exzentrischen Positionalität beanspruchen darf. Da Plessner Exzentrizität als Strukturprinzip des menschlichen In-Erscheinung-Tretens, nicht jedoch als Strukturprinzip des menschlichen Seins aufweisen kann, darf er ebendiesen Begriff nicht als Substanz des Mensch-Seins „hinter“ den Erscheinungen menschlichen Lebens bzw. als „Vorbedingung“ in Anspruch nehmen, um daraus wesentliche Qualitäten des menschlichen Erscheinens abzuleiten. Genauso wenig hat er sich mit seinem
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Deduktionsprogramm die Berechtigung erworben, ebendiesen Begriff als Umwillen oder natürliche Bestimmung in Anspruch nehmen, um normative Aussagen darüber zu fällen, ob bestimmte Lebensformen – bzw. bestimmte Formen des InErscheinung-Tretens – von Menschen so sind, wie sie aufgrund ihrer menschlichen Natur sein sollen. Der Aussage, dass Agnostizismus oder Atheismus der exzentrisch gebrochenen Lebensform eher entspreche als Religiosität, fehlt das anthropologische Fundament. Vielmehr ist im Sinne der menschlichen Unergründlichkeit – im Zweifel auch gegen Plessner – darauf zu bestehen, dass genauso wenig wie Goethe sein Mensch-Sein vollkommener ausgeübt hat als ein an starker Demenz erkrankter Patient, ein religiöser Fanatiker in der Verwirklichung seines Mensch-Seins hinter Agnostikern zurückbleibe.
3 Religiöser Glaube, agnostischer Zweifel und spirituelle Offenheit als Ermöglichungsbedingungen exzentrisch positionierten Mensch-Seins Vor dem Hintergrund der Gesamtanlage von Plessners Philosophischer Anthropologie möchte ich nun auf deren Schlusskapitel blicken. Aus der Skizze der doppelseitigen Deduktion sollte deutlich geworden sein, dass sich das Methodenprogramm der Stufen dem Ansatz einer biologistischen oder anthropologistischen Religionsanthropologie widersetzt, in den die Schlusspassagen des Textes immer wieder zu kippen drohen. Im Widerspruch zu dem anthropologistischen Wortlaut des Kapitels über das Grundgesetz des utopischen Standorts möchte ich im jetzigen Schritt meiner Überlegungen die Theorie skizzieren, die Plessner meines Erachtens eigentlich hätte entwerfen müssen, wenn er das Methodenprogramm seiner Lebensphilosophie bis zuletzt konsequent durchgeführt und den Konflikt von Glauben und Zweifeln nicht aus der zur vorgängigen Natur verabsolutierten Exzentrizität abgeleitet, sondern vielmehr als eine Qualität nachgewiesen hätte, in der zentrisch organisierte Lebewesen als Exzentriker bzw. als Personen in Erscheinung treten können: die Theorie über den Konflikt von Glauben und Zweifeln als einem – sozio-kulturell unterschiedlich ausgeprägten – Lebensmodal, in dessen Ausübung Menschen einander Distanz zu den Hypostasierungen ihrer existenziellen Lebenshaltungen vermitteln und auf diese Weise eine Lebensform ausbilden, in der sie miteinander einen utopischen Standort ausbilden. Im Geiste von Plessners Philosophischer Anthropologie darf es nicht darum gehen, die exzentrische Positionalität als „Vorbedingung“ in Anspruch zu nehmen, um daraus die Natürlichkeit des spirituellen Fragens nach der Bestimmung
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des Mensch-Seins und des Weltlaufs, des Errichtens von religiösen Systemen, des agnostischen Zweifels an letzteren und des Durchbruchs zum Atheismus in Form eines anthropologistischen Systems herzuleiten – wie Plessner dies auf den letzten Seiten der Stufen unternimmt (vgl. insb. Plessner 1928/1975: 346).Vielmehr verpflichtet das Methodenprogramm der Stufen auch die Religionsanthropologie auf ein begrifflich-phänomenologisches Vorgehen, das die unterschiedlichen Phänomene des religiösen und atheistischen Glaubens, des agnostischen Zweifelns sowie des spirituellen Fragens und Sich-Öffnens in der lebensweltlichen Anschauung „aufliest“ und sie als „Modi“ verständlich macht, „in welche[n] der Kontakt zwischen Idee und Körper erfolgt“ (Plessner 1928/1975: 152): als Modi, die zentrisch organisierten Lebewesen ein personales Leben unter der exzentrischen Form der Positionalität allererst (mit)eröffnen. Drei Aspekte sind an diesem – gegenüber dem Wortlaut der Stufen revidierten – Ansatz einer Religionsanthropologie von zentraler Bedeutung. Zunächst gilt es, sich einer normativen Beurteilung zu enthalten und das Phänomen in den Blick zu nehmen, das sich der lebensweltlichen Anschauung zeigt: das Phänomen des Konflikts von Glauben und Zweifel, der in unterschiedlichen sozio-kulturellen Ausgestaltungen in Erscheinung tritt. Ins Auge zu fassen ist der Konflikt zwischen dem Glauben an Vorstellungen über die Wirklichkeit überhaupt, über das Verhältnis von Zeitlichem und Ewigem auf der einen Seite, der – unter religiösem oder atheistischem Vorzeichen – „das Letzte: so ist es“ (Plessner 1928/1975: 342) vermittelt, und dem kultiviert-agnostischen Zweifeln an dem Wissensstatus eben dieser Theorien auf der anderen Seite. In Bezug auf diesen Konflikt spricht Plessner meines Erachtens zurecht von „absolute[r] Feindschaft“ ( Plessner 1928/ 1975: 342). Wenn der Begriff der exzentrischen Positionalität nun – im Sinne der doppelseitigen Deduktion und im Unterschied zum Wortlaut des Textes – nicht als normativer Maßstab in Anspruch genommen wird, um den Agnostizismus mit einer atheistischen Glaubensposition und den Konflikt zwischen Glauben und Zweifel mit dem Konflikt zwischen Religiosität und Atheismus kurzzuschließen und um innerhalb dieses Konflikts für letzteren Partei zu ergreifen und „die Gerade endloser Unendlichkeit“ (Plessner 1928/1975: 346) normativ gegenüber der „‚gute[n]‘ kreishafte[n] Unendlichkeit“ (Plessner 1928/1975: 346) als das eigentlich menschliche ethos bzw. als „Zeichen“ des menschlichen „Geistes“ (Plessner 1928/ 1975: 346) auszuzeichnen – dann tritt die Gleichursprünglichkeit der beiden existenziellen Grundhaltungen des (religiösen wie atheistischen) Glaubens und des agnostischen Zweifelns hervor. Glauben und Zweifeln stellen sich nun als zwei ineinander verwobene Grundhaltungen dar, die einander in den verschiedenen soziokulturellen und individuellen Ausgestaltungen des menschlichen Lebens auf unterschiedliche Weise dominieren, sich wechselseitig aus dem interpersonal geteilten Mensch-Sein jedoch nicht ganz verdrängen können. Dabei müssen die
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Konfliktparteien nicht auf unterschiedliche Personen verteilt sein; vielmehr durchdringt der Konflikt von Glauben und Zweifeln auch einzelne Personen. Hat man ihre Gleichursprünglichkeit im Blick, dann zeigt sich zweitens die Funktion, die der Konflikt von (religiösem und atheistischem) Glauben und agnostisch-kultiviertem Zweifeln seinerseits für das menschliche Leben ausübt: ein ethos der Spiritualität zu eröffnen. Im religiös-kulturellen Konflikt hinterfragen die Kontrahenten immer aufs Neue die unterschiedlichen Dogmatismen, in die der religiöse oder atheistische Glaube auf der einen Seite und der agnostische Zweifel auf der anderen Seite kippen können: religiöse oder atheistische Theorien über das Verhältnis von Ewigem und Zeitlichem als „‚gute[r]‘ kreishafter Unendlichkeit“ (Plessner 1928/1975: 346) oder als „Gerade endloser Unendlichkeit“ (Plessner 1928/1975: 346) zu entwerfen, die die Grenzen des inmitten des Lebens erreichbaren Wissens übersteigen; oder in agnostische Stumpfheit bzw. in einen Nihilismus zu verfallen, der das Zeitliche de facto zum Ganzen verabsolutiert. Damit eröffnet ihr geteilter Konflikt Gläubigen wie Agnostikern die Möglichkeit, miteinander inmitten des zeitlichen Lebens einen utopischen Standort der Spiritualität auszubilden, den beide Seiten im Monolog nicht erreichen könnten. Inmitten des religiös-atheistisch-agnostischen Konflikts tritt damit Spiritualität als ein dialogisch geteiltes ethos hervor: die existenzielle Grundhaltung, die sich in Anschluss an eine Formulierung, die Plessner in einem Brief an Josef König wählt, als ethos charakterisieren lässt, „zwischen Ernst und Nichternst zu bleiben“ und „aus einer Distanz zum Ernst, zur Notwendigkeit, zum Legitimen kein Kapital [zu] schl[agen]“ (König & Plessner 1994: 179). Für dieses ethos werden nicht nur die spirituellen Fragen „hinter“ den religiösen und atheistischen Theorien – nach dem Transzendenten, sowie nach der Bestimmung und der Nichtigkeit des Mensch-Seins und des Weltlaufs – allererst zugänglich. Für dieses ethos laufen diese Fragen auch nicht nihilistisch ins Leere, sondern bleiben als Fragen im Leben erhalten. Dergestalt erreicht dieses ethos des „Zwischen“ inmitten des Lebens einen utopischen Standort, für den sich – jenseits der stillgestellten Zeit und des ins Unendliche fortlaufenden Immer-Weiter – „die selige Fremde auf[tut]“ (Plessner 1928/1975: 346; vgl. Krüger 2017: 223), in die die Stufen in ihrem Schlusssatz münden: das in das gegenwärtige Leben einbrechende Zukünftige in seiner Unvordenklichkeit und Unvorhersehbarkeit, das Andere, der Andere oder die Anderen, das, der oder die im Lauf der Welt, in Ereignissen der Offenbarung oder in zwischenmenschlichen Begegnungen entgegentreten können. Als Position des „Zwischen“ transzendiert der utopische Standpunkt der Spiritualität den Konflikt von Glauben und Zweifeln nicht; vielmehr bleibt das spirituelle ethos in der Distanz von den religiösen, atheistischen und agnostischen Haltungen an diese zugleich rückgebunden. Träger des spirituellen ethos der Offenheit sind religiös bzw. atheistisch Gläubige und agnostisch Zweifelnde im geteilten Dialog.
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Dabei müssen die beteiligten Einzelpersonen die sich ihnen bietenden Möglichkeiten des spirituellen Fragens und Erlebens nicht ergreifen und können ihre Antworten auf die spirituellen Fragen und ihre Deutungen der spirituellen Erfahrungen wiederum nur in propositionellen Aussagen im Rückgriff auf die ihnen sozio-kulturell zur Verfügung stehenden Begrifflichkeit leisten. In anthropologischer Hinsicht lässt sich schließlich drittens einsehen, dass es sich bei dem Dreigestirn von religiösem bzw. atheistischem Ernst, kultiviertagnostischem Nicht-Ernst und spirituellem Zwischen – aus der Perspektive von Plessners Philosophischer Anthropologie – um ein Wesensmerkmal menschlichen Lebens bzw. um ein anthropologisches Grundgesetz handelt. Indem das spirituelle ethos nämlich ein geteiltes Sich-Öffnen inmitten des Konflikts darstellt, den Gläubige und Zweifelnde miteinander ausüben, setzt es zentrisch organisierte Lebewesen frei, miteinander einen zentralen Aspekt der exzentrischen Lebensform auszuüben: unter den existentiellen Sinnhorizonten, die die eigene Lebensführung orientieren, von selbigen noch Distanz zu haben – und auf diese Weise als Personen inmitten und jenseits des eigenen Leibzentrums zu leben.
4 Das spirituelle Ethos von Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie Im letzten Teil meiner Überlegungen möchte ich zeigen, dass sich das spirituelle ethos des „Zwischen“ nicht nur zusammen mit Glauben und Zweifeln im Ausgang von Plessners Philosophischer Anthropologie als ein Wesensmerkmal einsehen lässt, das menschliches Leben für die lebensweltliche Anschauung verbürgt, sondern dass Plessner mit seiner Philosophischen Anthropologie darüber hinaus positiv für spirituelle Offenheit als existenzielle Lebenshaltung eintritt. Vor dem Hintergrund des Methodenprogramms der doppelseitigen Deduktion kann solch ein Einstehen für Spiritualität ganz offensichtlich nicht die Gestalt eines anthropologisch begründeten Ansatzes normativer Ethik annehmen. Solch ein Unternehmen würde nämlich die exzentrische Positionalität – im Widerspruch zum Methodenprogramm der Stufen – nicht nur zur Substanz des Mensch-Seins und zum Umwillen individueller Lebensführung verabsolutieren. Auch würde es – mit Plessner gesprochen – eine „Suprematiestellung gegen andere Kulturen als Barbaren und bloße Fremde“ (Plessner 1931/1981: 161) beanspruchen, die gerade im Widerspruch zur spirituellen Offenheit für das Begegnende steht. In Abgrenzung gegen solche Versuche eines anthropologistisch fundierten Ansatzes normativer Ethik möchte ich zeigen, dass Plessner für das spirituelle ethos eintritt, indem er
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es unter den Bedingungen seiner Zeit in seinem Philosophieren ausübt und für es Verantwortung übernimmt. Die besondere Gestalt des Konflikts zwischen Glauben und Zweifeln findet Plessner in seiner Zeit in der Begeisterung für das Paradigma des Lebens, in dem das beginnende 20. Jahrhundert „ihr erlösendes Wort [findet]“ – wie er zu Beginn der Stufen schreibt (Plessner 1928/1975: 4; vgl.Wunsch 2017). Unter dem modernen Paradigma des Lebens bemüht sich Plessner um einen utopischen Standpunkt der Spiritualität. Im Sinne solch einer Distanzierung von innen heißt es auf den ersten Seiten der Stufen programmatisch: „Das Leben […] Mit dieser neuen Zauberformel […] folgt und verfolgt sich die Zeit. Eine Philosophie des Lebens entstand, ursprünglich dazu bestimmt, die neue Generation zu bannen […], nunmehr dazu berufen, sie zur Erkenntnis zu führen und aus der Verzauberung zu befreien“ (Plessner 1928/1975: 5). Dabei ist sich Plessner der Tradition bewusst, in der er mit seinen Anstrengungen steht, unter den religiös-atheistisch-agnostischen Konflikten im Zeichen des Lebens eine spirituelle Haltung „zwischen Ernst und Nichternst“ (König & Plessner 1994: 179) auszubilden. Er weiß sich darin getragen von dem „von Griechentum und Christentum, von Humanismus und Reformation Geschaffenen“ (Plessner 1931/1981: 219) – und d. h.: von der Tradition, in der in Europa immer aufs Neue der Konflikt zwischen Glauben und Zweifel ausgefochten worden ist und in deren Mitte sich das spirituelle ethos hat ausbilden können (vgl. Plessner 1931/1981: 218 f.). Unter dem Paradigma des Lebens übt Plessner das spirituelle ethos in Gestalt seiner – oben skizzierten – Methode der doppelseitigen Deduktion aus. Wie gesehen setzt diese „neue Form einer Verbindung von Apriori und Aposteriori“ (vgl. Plessner 11931/1981: 165 – 175) nämlich dazu instand, die Verabsolutierungen sowohl der begrifflichen Strukturbestimmungen zu Letztbestimmungen als auch der geschauten Qualitäten zu einem bloßen Spiel der Erscheinungen zu unterlaufen. Weder wird in der Form des philosophischen Erkenntnisstrebens aus der erdachten Hypothese der exzentrischen Positionalität in Gestalt einer positiven Anthropologie Kapital für eine neue, religiöse oder atheistische Gesamttheorie über das Ganze der Wirklichkeit geschlagen; noch wird umgekehrt aus dem Erscheinungsstatus der menschlichen Qualitäten Kapital für eine Spielart eines ins Leere laufenden Agnostizismus bzw. Nihilismus geschlagen. Wie oben gesehen wird in diesem doppelseitigen Aufweis der erdachten Strukturbestimmung und der geschauten Qualitäten menschlichen Lebens die Frage nach der Substanz des Mensch-Seins vielmehr offen- und festgehalten. Unter dem modernen Paradigma des Lebens gewinnt Plessner dergestalt von diesem Distanz (vgl. Mitscherlich 2007: 45 – 60 und 241– 252). Die spirituelle Haltung der Offenheit übt Plessner damit aus, indem er die Frage nach dem Menschen „hinter“ seinen Erscheinun-
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gen offenhält, bzw. – wie er in der Machtschrift fordert – die Unergründlichkeit der menschlichen Natur verbindlich nimmt (vgl. Plessner 1931/1981: 175 – 185). Schließlich wird nun auch die ethisch-politische Stoßrichtung von Plessners Philosophischer Anthropologie ersichtlich. Plessners – Schritt für Schritt durchgeführter – doppelseitiger Aufweis der Exzentrizitätshypothese und der geschauten Qualitäten des Mensch-Seins stellt sich in ethisch-politischer Hinsicht als Unternehmen dar, die Leserinnen und Leser der Stufen in ein spirituelles Fragen, Denken und Schauen des Mensch-Seins im Lichte seiner Unergründlichkeit einzuführen. Auf Subjektseite tritt Plessner auf diese Weise in seiner Zeit für den Erhalt des spirituellen ethos ein; und auf Objektseite steht er für das menschliche In-Erscheinung-Treten aus der Unergründlichkeit der menschlichen Natur ein. Dergestalt stellt er sich der „neue[n] Verantwortung“, die dem Menschen – wie er in der Machtschrift schreibt – „zugefallen ist, nachdem ihm die Durchrelativierung seiner geistigen Welt den Rekurs auf ein Absolutes wissensmäßig abgeschnitten hat: das Wirkliche gerade in seiner Relativierbarkeit als trotzdem Wirkliches sein zu lassen“ (Plessner 1931/1981: 163). In Gestalt seiner Anstrengungen, seine Leserinnen und Leser in ein Denken und Schauen einzuführen, in dem die Frage nach dem Menschen offengehalten wird, fungiert Plessner damit als Lehrer in allgemeiner Menschenliebe als der besonderen Form der Spiritualität, noch fremde Lebensformen als Formen personalen In-Erscheinung-Tretens „sein zu lassen“ (Plessner 1931/1981: 163). Als Lehrer in allgemeiner Menschenliebe tritt Plessner in den politischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts – wie er in seiner Göttinger Antrittsvorlesung von 1952 betont (vgl. Plessner 1953/ 1983) – den Tendenzen zu Menschenverachtung entgegen: sich in die eigenen Lebensgemeinschaften abzuschließen und fremden und befremdenden Formen menschlichen Lebens das Mensch- oder Person-Sein abzusprechen.
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Fähigkeit zum Unbedingten und säkulare Spiritualität Verborgene Präsenz der Spiritualität in der Alltagserfahrung Capacity for unconditional and secular spirituality Everyday varieties of hidden presence of the Divine Zusammenfassung: „Säkulare Spiritualität“ stößt bei vielen Menschen heute auf Resonanz. Der Beitrag stellt Anliegen Thomas Metzingers, Spiritualität im Interesse von intellektueller Redlichkeit säkular zu konzipieren, in den Kontext philosophischer Reflexionen zur Spiritualität aus der christlichen Tradition (bei Thomas von Aquin). Es zeigen sich ähnliche Schlüsselthemen: die existenzielle Spannung von menschlicher Sehnsucht und Selbsterhaltungswunsch einerseits und Endlichkeit und Verletzlichkeit des Menschen andererseits. Untersucht wird, wie Spiritualität, nimmt man spirituelle Erfahrungen ernst, eine „Säkularität“ transzendiert, die sich auf Materie reduziert. Menschliche Sehnsucht und die Erfahrungen plötzlicher Einsicht, die Authentizität der Person werden als Formen verborgener Präsenz des Göttlichen im Alltag angeboten. Es wird deutlich, wie Ethik in Spiritualität gründen kann und gleichzeitig Spiritualität intellektuell zu verantworten ist. Das abschließende Plädoyer und Konkretionen für Spiritual Care gelten einem Spiritualitätsverständnis, das die Sehnsucht des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Schlüsselwörter: Säkulare Spiritualität, Sehnsucht, Spiritual Care, Gewissen, Achtsamkeit Abstract: Nowadays, the idea of “secular spirituality” strikes a chord with many people. This paper places Thomas Metzinger’s concept of secular spirituality – as seen from the viewpoint of intellectual integrity – in the context of philosophical reflexions within Christian spirituality (Thomas Aquinas). Both notions take similar key issues into account: the existential tension of human longing and the instinct of self-preservation on the one hand, and finiteness and vulnerability on the other. It will be examined how spirituality transcends a “secularity” which is reduced to matter. Human longing and experience of sudden insight, the authenticity of a person can be seen as everyday varieties of hidden presence of the Divine. This paper illustrates how ethics can be based on spirituality and how https://doi.org/10.1515/9783110638066-005
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spirituality can be accounted for intellectually at the same time. In conclusion, a final appeal for spiritual care and its reification is made to underline an understanding of spirituality that centers around human spiritual longing. Keywords: Secular spirituality, longing, spiritual care, mindfulness, conscience Zu Beginn eine kleine Geschichte: Ins Haus eines Derwischordens kommt Besuch. Der Besucher möchte wissen: Was für einen Namen gebt Ihr Gott? Man antwortet ihm: Er hat keinen Namen … Gott kann man nicht in einen Namen pressen. Der Name ist ein Gefängnis, Gott ist frei. Aber der Besucher lässt nicht locker. Wenn Ihr ihn aber rufen wollt? Wenn es notwendig ist, wie ruft Ihr ihn? „Ach“, antwortet der Vorsteher. „Nicht: Allah. Ach! werde ich ihn rufen.“ (Werbick 2007). „Oje“, „Oh Gott“ – sprachliche Formen, in die sich spirituelle Erfahrung zurückgezogen hat, so weit, dass sie darin nicht mehr sichtbar ist (s. Frick in diesem Band). Andererseits unsere so alltäglichen Interjektionen wie „Ah“, „Oh“, „Ach“. Die Forschung sagt uns, dass sie uns als spontane Ausrufe einfach entfahren, unmittelbar der leiblichen Dynamik entspringen und ihrem Ausgleich dienen (Fuchs 2000: 119) In den semitischen Sprachen ist dies auch in der Artikulation fassbar: Es ist anzunehmen, dass im Urtext dieser Erzählung der erste Buchstabe, das Aleph steht. In den semitischen Sprachen ist dies kein eigentlicher Vokal, sondern ein Knacklaut aus der Kehle: der erste Laut, der aus dem Innersten herausbricht. In dieser leibhaften unmittelbaren Resonanz (auf Erleben) erkennt der Derwisch seine Anrufung des Göttlichen. Diese Geschichte zeigt zwei Spuren für eine verborgene Präsenz von Spiritualität im Alltag: – In unserem „Ah“ und „Ach“ drückt sich eine Sehnsucht aus, in Situationen der Not. Es schwingt ein Ahnen und Staunen mit. – Spiritualität hat zu tun mit den Grenzen menschlichen Erkennens und Benennens, somit mit den Grenzen menschlicher Macht und Machbarkeit. Ich möchte nun zwei Reflexionsansätze miteinander ins Gespräch bringen, die anhand dieser Spuren Charakteristika ihres Spiritualitätsverständnisses entwickeln: 1. Sehr prominent votiert in der Gegenwart der Philosoph Thomas Metzinger für eine „säkulare Spiritualität“. Die größte theoretische Aufgabe heute sieht er darin, „ob und wie angesichts unserer neuen Situation intellektuelle Redlichkeit und Spiritualität jemals miteinander vereinbart werden können“ (Metzinger 2015: 375).
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Als Kontrapunkt zu Metzinger wähle ich eine klassische Position philosophisch-spiritueller Reflexion aus dem Christentum, aus einer Zeit noch vor der Trennung von Spiritualität und Philosophie bzw. Theologie und vor der Konfessionalisierung, nämlich den Ansatz des Thomas von Aquin.
1 Thomas Metzingers Anliegen einer „säkularen Spiritualität“ Thomas Metzinger hat seine Thesen vor acht Jahren in einem Schlussvortrag beim Ersten Kongress „Meditation und Wissenschaft“ 2010 in Berlin vorgetragen. Er sieht uns als Spezies Mensch in einer herausfordernden Situation, insbesondere angesichts des Klimawandels. Er erwartet ein Scheitern auf kollektiver Ebene, da es ein hartnäckiges Handeln wider besseres Wissen gebe, wider die intellektuelle Einsicht in die zu erwartenden Folgen. „Das kollektive Selbstbild der Gattung Homo sapiens wird immer stärker auch das eines in evolutionär entstanden Mechanismen der Selbsttäuschung gefangenen Opfers des eigenen Verhaltens werden.“ (Metzinger 2015: 374). Mit seinen Überlegungen zu einer „säkularen/säkularisierten Spiritualität“ will er wenigstens auf der individuellen Ebene beitragen zur „Selbstachtung“ des Menschen, unabhängig von äußerem Erfolg (Metzinger 2015: 411). Dazu nun einige Erläuterungen in Thesenform, bezogen auf die Fragestellung:
1.1 Säkulare Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit: „eine Ethik des inneren Handelns um der Selbsterkenntnis willen“ Metzingers Suche nach einer „säkularisierten Spiritualität“ bedeutet Suche nach einer Spiritualität, die „so etwas wie ‚inneren Anstand‘ und damit eine „Unbestechlichkeit sich selbst gegenüber“, also „eine klar benennbare geistige Qualität der Redlichkeit“ darstellt. Darin treffe sie sich mit der wissenschaftlichen Einstellung der „intellektuellen Redlichkeit“. Diese bedeutet für ihn wesentlich: dass man nicht vorgibt, etwas zu wissen oder auch nur wissen zu können, was man nicht wissen kann, dass man aber trotzdem einen bedingungslosen Willen zur Wahrheit und zur Erkenntnis besitzt, und zwar selbst dann, wenn es um Selbsterkenntnis geht, und auch dann, wenn Selbsterkenntnis einmal nicht mit schönen Gefühlen einhergeht oder der akzeptierten Lehrmeinung entspricht (Metzinger 2015: 385).
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Letztlich gehe es nicht um eine neue Synthese, sondern darum zu sehen, was bereits da ist (Metzinger 2015: 412). Metzinger ist überzeugt, dass unsere westliche Kultur hier einen Nachholbedarf hat. Philosophie sei auf Spiritualität, die abendländische Kultur im Geist der Aufklärung auf die Entwicklungen spiritueller Praxis in Asien angewiesen. Denn, wie empirische Befunde zu Achtsamkeitsmeditation und anderer Meditationstechniken zeigen, kultiviert Meditation mit ihrem Anliegen des anstrengungslosen inneren Gewahrseins die geistigen Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität. Es geht nämlich um die innere Fähigkeit, nicht zu handeln, um die sanfte, aber sehr präzise Optimierung von Impulskontrolle und eine schrittweise Bewusstwerdung der automatischen Identifikationsmechanismen auf der Ebene unseres Denkens als einer Form zur Erhöhung der mentalen Autonomie (Metzinger 2015: 386).
Beide sind für ihn nicht zwei Weisen des Wissens, zwischen denen man sich entscheiden müsse, sondern sie „können überhaupt nur gemeinsam realisiert werden. Es gibt eine Ethik des inneren Handelns, eine normative Grundidee, die sowohl einer säkularisierten spirituellen Praxis als auch dem wissenschaftlichen Ideal der intellektuellen Redlichkeit zugrunde liegt“ (Metzinger 2015: 412). Vor Augen hat Metzinger verschiedene meditative Wege, wie: Achtsamkeits- und Einsichtsmeditation, Yoga, Tai Ji, Zen, Kinhin, auch Exerzitien. Diese versteht Metzinger als weitgehend weltanschaulich neutrale formale Praktiken; d. h. sie können auch ohne den religiösen Kontext praktiziert werden. „Die spirituelle Einstellung ist eine Ethik des inneren Handelns um der Selbsterkenntnis willen“ (Metzinger 2015: 382).
1.2 Warum eine „Säkularisierung“ der Spiritualität? Religionen stehen im Dienst der Selbsttäuschung über die Sterblichkeit Wurde das Wissen-wollen und -sollen und die intellektuelle Redlichkeit in früheren Jahrhunderten als religiöse Pflicht gegenüber Gott verstanden (bei Locke und Kant), so ist sie für Metzinger in Entsprechung zum gegenwärtigen Wissensstand als „säkularisierte Spiritualität“ zu entwickeln. Basis sind ihm Modelle der evolutionären Psychologie hinsichtlich der Evolution von Religion (Metzinger 2015: 394– 401): Es gebe „eine Evolution der Selbsttäuschung“ im Dienste des Selbstschutzes und der Kontrolle anderer Menschen. Dazu wurden uns verschiedene Formen systematischer Fehlrepräsentationen der Wirklichkeit, auch in Bezug auf unsere Sterblichkeit, in die funktionale Struktur unserer Gehirne einprogrammiert. Die organisierten Religionen aller couleur sieht er im Dienst dieser
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Selbsttäuschung stehen: In der Weise der Verdrängung der eigenen Sterblichkeit durch verschiedene Coping-Strategien (Bestattungsriten, Grabbeigaben, Ahnenkult) werde das eigene Selbstwertgefühl kurzfristig stabilisiert. Religionen nehmen dabei immer schon Wissen in Anspruch über etwas, das man nicht wissen kann (Metzinger 2015: 439 f Anmerkung 6). Sie opfern die Vernünftigkeit der emotionalen Stabilisierung und Geborgenheit; sie sind ein „Angstpuffer“. Wahrnehmung des Konfliktes zwischen Selbsterhaltungstrieb und Sterblichkeit und Aushalten einer existenziellen Angst Das heutige Wissen um diese Selbsttäuschungen fordere von uns als ethische Verpflichtung, diese aufzugeben, die Religionen als „adaptive Wahnsysteme“ zu enttarnen (Metzinger 2015: 394– 399). Es gelte „den eigentlich zugrunde liegenden existentiellen Konflikt“ zwischen Selbsterhaltungstrieb und Sterblichkeit wahrzunehmen und die existenzielle Angst, die dies in uns auslöst, auszuhalten (Metzinger 2015: 447). Erlösung als innerweltliche Erlösung: im gelebten Augenblick der Achtsamkeit Metzinger fragt sich, wie Befreiung und Erlösung als zentrale Themen der Religionen heute verstanden werden können. In seiner Antwort verbindet er die These der aktuellen modernen Bewusstseinsforschung, dass es kein Leben nach dem Tod geben könne (weil es dann kein neuronales Korrelat mehr für Bewusstsein gebe; Metzinger 2015: 400), mit einer Einsicht der spirituellen Praxis: Es sieht im Moment so aus, als ob Befreiung immer nur innerweltliche Befreiung sein kann und Erlösung immer nur innerweltliche Erlösung. Es geht dann nicht mehr um ein Jenseits oder eine mögliche Belohnung in der Zukunft, sondern immer nur um den gelebten Augenblick der Achtsamkeit, den Moment des Mitgefühls, um das aktuelle Jetzt. Wenn es so etwas überhaupt noch gibt, dann ist der eigentlich sakrale Raum immer nur das bewusst erlebte Jetzt (Metzinger 2015: 401).
Säkularisierung der Spiritualität Am Thema „Erleuchtung“ macht er das „Säkularisierte“ gegenüber „Spiritualität“ deutlich. „Erleuchtungserfahrungen“ seien zu ignorieren, zum einen aufgrund der logischen Selbstwidersprüchlichkeit, zum anderen weil es empirisch unmöglich sei, „objektive Merkmale“ aufzuweisen (Metzinger 2015: 402– 404). Was bedeuten diese Ausführungen für unsere Fragestellung? – ein kleines Fazit: Positiv aufnehmen möchte ich Metzingers rationales Verständnis von Spiritualität: Spiritualität (und Wissenschaft) steht für ihn im Dienst der Redlichkeit, d. h. eines Wahrnehmens der Wirklichkeit, wie sie ist; darin gehört sie in das Projekt der Aufklärung: sie hilft zu einer Distanzierung und Befreiung von den psychi-
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schen Mechanismen der Selbsttäuschung. Er trifft sich darin mit Grundanliegen von Mystik und Spiritualität in vielen Religionen: das immer neue Loslassen der Bilder, die wir uns von uns selbst, dem Leben, der Welt, von Gott machen; so biblisch in der zweiten Weisung des Dekalogs und christlich in Jesu Aufforderung in Mk 8,34– 38 (Bendel-Maidl 2017). Mit dem Anliegen einer „Säkularisierung“ der Spiritualität wendet er sich pauschal gegen alle Religionen. Der Anspruch festen Wissens, den er kritisiert, ist als Gefahr immer neu ernst zu nehmen. Nicht nur dem Lebensgefühl von Moderne und Postmoderne entspricht es, wenn er uns in seinem Ansatz radikal mit der existenziellen Grundsituation des Menschen konfrontiert: Sehnsucht nach Bleiben einerseits und Erfahrung von Endlichkeit andererseits. Seine Antwort ist freilich naturalistisch: Er reduziert menschliches Dasein auf die biophysische Endlichkeit, menschliche Sehnsucht auf den Selbsterhaltungstrieb, Transzendenz-Erfahrungen werden barsch abgelehnt. Spiritualität zeigt sich als eine Form der Auseinandersetzung des Selbst mit sich selbst, und zwar insbesondere mit den eigenen Repräsentationen. Meditative Praxis, insbesondere die Achtsamkeitsmeditation, wird rationalistisch und repräsentationalistisch verengt: Auch die vorrangige Handlungsorientierung von Spiritualität und Achtsamkeit entspricht dem naturwissenschaftlichen Paradigma. Es gerät etwas für Spiritualität Zentrales nicht in den Blick: unser (inneres) Erleben, da zu sein, sich dessen gleichzeitig bewusst zu sein (Vgl. Brüntrup 2017: 44), die innere Erfahrung von Präsenz und Lebendigkeit. Ob sein säkularer Ansatz von Spiritualität trägt, ob das Konzept in sich konsistent ist, stellt Metzinger zumindest am Rande selbst in Zweifel: Er fragt, ob eine Säkularisierung des Erlösungsideals der Religionen überhaupt möglich sei ohne Sterblichkeitsverleugnung (Metzinger 2015: 411). Anders formuliert: Lässt sich Erlösung für den Menschen vorstellen, ohne über seine biophysische Endlichkeit hinauszugehen? Die Achtsamkeitsmeditation, der Metzinger so zentrale Bedeutung zumisst, ist m. E. eine wesentliche Fährte: Nimmt man sie nicht nur als Methode der Selbstdistanzierung, sondern bezieht man die spirituellen Erfahrungen ein, die Menschen dabei machen, so zeigt sich die Sprengkraft über die reine „Säkularität“ hinaus. Denn Achtsamkeit führt nicht nur zur inneren Distanzierung von eigenen Konzepten und Emotionen und früher oder später bei regelmäßiger Übung zu Entspannung, Gelassenheit, Ruhe (daher der therapeutische Einsatz: vgl.z.B: Coleman & Davidson 2017), sondern meditative Praxis in kontinuierlicher Übung führt in der Regel noch weiter. Egal in welcher der vielen Formen Achtsamkeit geübt wird, „so kann früher oder später die Achtsamkeitspraxis zu einem Zustand führen, in dem die Alltagsstruktur der Sorge in den Hintergrund tritt und sich existenzielle Grunderfahrungen von Zeit, Raum, Selbst, Kontakt verändern. Wir gelangen zu einer Erfahrung der Befreiung, der Verbun-
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denheit, der Zeitlosigkeit, der Offenheit, der Dankbarkeit, der Daseinsfreude“ (Huppertz 2016b; vgl. Beitrag Huppertz in diesem Band), Erfahrungen, die man als spirituell beschreiben kann. Mit der ihm zentralen Achtsamkeitsmeditation hat Metzinger in seinen Ansatz einer „säkularen Spiritualität“ eine Dynamik eingetragen, die Praktizierende zu Erfahrungen eines „Mehr als“ mein Selbst und eines „Anders als“ Zeit und Raum führt. Darin erleben sie etwas von „Erlösung“ aus der Daseinsangst. Der Verdacht, den Metzinger selbst seinem Ansatz gegenüber formulierte, ist in dieser Hinsicht berechtigt. Daher nun ein vergleichender Blick auf ein anderes Spiritualitätsverständnis: Wie deutet Thomas von Aquin, der die menschliche Sehnsucht in die Mitte seiner Anthropologie stellt, deren Dynamik? Welchen Zusammenhang von Erkenntnis und Spiritualität zeigt er auf? Welche Bedeutung misst er der Erfahrung zu?
2 Sehnsucht und Bewusstheit. Philosophische Grundlagen der Spiritualität bei Thomas von Aquin (ca. 1225 – 1275) Mit Thomas von Aquin machen wir einen Sprung in das 13. Jahrhundert. Wir treffen auf eine Schwellenzeit, die in markanten Umbrüchen durchaus den Umwälzungen unserer Gegenwart verwandt ist: die neu aufkommenden Wissenschaften in den Universitäten, ein beginnender Kapitalismus, die zunehmende Verstädterung und ein wachsendes bürgerliches Bewusstsein, das Streben nach Demokratisierung auch im Religiösen. Es gelang „Thomas und seinen Leuten inmitten einer feudalen Gesellschaft eine nicht anders als revolutionär zu nennende Erneuerung der Spiritualität, der Verkündigung und der theologischen Lehre“ (Peters 1992). Thomas von Aquin gehört zur zweiten Generation der sich formierenden Bettelorden im Hochmittelalter. Sie greifen die breite spirituelle Sehnsucht der Menschen auf und suchen ihnen durch intellektuelle und spirituelle Unterweisung Nahrung zu geben, die sie vielfach in den institutionalisierten Formen nicht mehr für sich fanden. In seiner Anthropologie finden sich sensible psychologische Beobachtungen verbunden mit philosophischen und theologischen Reflexionen (Bendel-Maidl 2012: 48 – 53).
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2.1 Die menschliche Sehnsucht: verborgene Präsenz des Göttlichen Die menschliche Sehnsucht als die Urenergie des Lebens ist für Thomas die Weise, in der Spiritualität immer verborgen präsent ist (Maidl 2018). Dass der Mensch sich sehnt, gehört für ihn konstitutiv zur Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen. Der Mensch erlebt dieses Streben einerseits als Bedürftigkeit, es entspringt ja einem Mangel, andererseits auch als Entfaltung, denn es geht darum, schlummernde Potenziale zu realisieren (vgl. Summa contra Gentiles III 20). Das desiderium ist gleichsam der Instinkt des Menschen zur Entfaltung seines Wesens (Seckler 1961), seine natürliche Neigung hin auf sein Ziel (De malo 3,3). Eindrucksvoll zeigt Thomas auf, dass der Mensch zwar in irdischen Gütern immer wieder zeit- und ansatzweise Erfüllung findet (Lust, Ruhm, Reichtum, Macht, Ehre, Klugheit, sittliche Tugenden usw.), dass diese aber nie ganz sättigen (Summa contra Gentiles III 27– 36). Unsere Sehnsucht zielt darüber hinaus. Das menschliche Streben nach einem nächstliegenden Ziel ist immer schon durchzogen von einer umfassenderen Dynamik (Manzo 1999; Mayer 2009): vom Streben nach Vollendung des Ganzen, also von der Sehnsucht nach einem universalen Guten, nach einem vollkommenen Glück, in dem alles Streben zur Ruhe kommt (Summa Theologiae I 83,1 ad 5; I-II 5,8 ad 3). Vorsichtig formuliert Thomas: „Dies ist es, was alle Gott nennen“ (Summa Theologiae I 1,2c). Daher gilt: „Alles strebt natürlicherweise implizit nach Gott.“ Omnia naturaliter appetunt Deum implicite (De veritate 22,2). Philosophisch lässt sich diese Dynamik erkennen, doch zeigt sich auch eine klare Grenze: Dem Menschen legt es sich durch die Erfahrung eigener Verletzlichkeit und Endlichkeit eher nahe, die Erfüllung seiner Sehnsucht für unwahrscheinlich zu halten (Schenk 1989: 370; Maidl 1994: 131). Der Aquinate und Metzinger sehen eine ähnliche Problematik. Nur auf den Menschen geschaut wird die Sehnsucht zu einer beängstigenden Kraft: Eine der emotionalsten Stellen bei Thomas ist, wenn er bedauert, in welche Angst und Enge (angustiae) ein Aristoteles und andere antike Denker gekommen sind, weil sie sich der Spannung bewusst waren zwischen unendlicher Sehnsucht einerseits und Verletzlichkeit, Irrtum, Sterblichkeit andererseits, und keinen Ausweg wussten (Summa contra Gentiles III 48).
2.2 Eine sich empfangende Spiritualität Thomas geht davon aus, dass es der Initiative Gottes bedarf, damit die Sehnsucht nicht mehr zu existenzieller Angst führt. Zur Natur des Menschen gehört – in
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scholastischer Terminologie gesprochen – von Anfang an, dass sie von Gnade umfangen und umworben ist; diese Grundüberzeugung macht Thomas in einer Entwicklung seiner Lehre immer mehr stark (Maidl 1994: 135 f). Dass der Mensch seiner Sehnsucht trauen darf, auch wenn sie seine eigenen Kräfte übersteigt, sowohl hinsichtlich der Erfüllung als auch der Fähigkeit, um sich danach auszustrecken, erlebt er als Geschenk, als „Umsonst“. Thomas sieht als Ermöglichungsgrund menschlichen Daseins eine Bewegung, die von Gott ausgeht und zu ihm zurückführt und in sich eine einzige Bewegung ist: das Liebes-„Sehnen“ Gottes, das geschöpflich dem Menschen in seiner Sehnsucht als bleibende Tendenz innewohnt und je neu vom göttlichen Geist aufgenommen wird, gerade im Seufzen und Bitten (Röm 8,25 f). Thomas’ Spiritualitätsverständnis hat also eine gewisse Asymmetrie. Es ist eine sich empfangende Spiritualität: Offenheit, Anerkennen der eigenen Bedürftigkeit, Bitten. Der Weg des Bittens ist es, der den Menschen voranführt, denn darin vollzieht er seine wesensmäßige Bedürftigkeit: Wohl als Reflexion seines eigenen spirituellen Weges formuliert Thomas, dass es zu einem Perspektiv- und Haltungswechsel kommen kann: weg vom Bitten um Konkretes, von dem wir doch nie wirklich wissen, was jetzt gut für uns ist, hin zum Vertrauen auf den, der das Sehnen in uns gelegt hat (Maidl 1994: 193 – 204, 233 – 243). Sehnsucht kann so das Gepräge von Vertrauen und Hoffnung gewinnen, nicht als Besitz, sondern stets von neuem im Empfangen (Maidl 1994: 139; 183 – 214). So formuliert Thomas nicht das Prinzip der Selbsttäuschung, sondern das Gegenteil: Desiderium inane esse non potest (Summa Theologiae I 75, 6c): „Die menschliche Sehnsucht kann nicht ins Leere gehen.“ Für den Menschen bedeutet dies, seinem Verlangen nach Glück zu trauen, es nicht zu „kappen“ aus Verzweiflung heraus, vielmehr den Horizont offen zu halten: Nihil minus sperare quam Deum ipsum (Summa Theologiae II-II 17, 2c): „Nichts Geringeres erhoffen als Gott selbst“. Die Sehnsucht versteht Thomas daher als einen spirituellen Grundakt. Auf spirituellen Wegen erfahren Menschen ein Gehaltensein, das über die Angst hinausreicht und Vertrauen und Hoffnung eröffnet. Auch für Menschen heute ist Spiritualität die Ermutigung und „der Versuch, die existenziellen Rahmenbedingungen zu verschieben – so zu verschieben, dass die Erfahrungen der Endlichkeit und des existenziellen Mangels relativiert und in einem erweiterten Horizont neu eingeordnet werden können“ (Huppertz 2009: 79). „Achtsamkeit fördert die Bereitschaft, die Unberechenbarkeit, die zum Vertrauen gehört, zu akzeptieren und sie nicht um jeden Preis zu vermeiden. Auf einer spirituellen Ebene entspricht dies dem Sinn für die Abgründigkeit des Lebens. Die Hinfälligkeit, die Gefährlichkeit und die Unübersichtlichkeit des Lebens zu akzeptieren und gleichzeitig all das zu sehen, was trägt und verbindet, ist ein
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wesentlicher Bestandteil achtsamkeitsorientierter Spiritualität und findet auch in den Religionen vielfältigen Ausdruck“ (Huppertz 2009: 123). Thomas von Aquin weist auf ein wichtiges Fundament hin, das die Spiritualität „erdet“, sie materiell und leiblich verankert: Entscheidend für jeden spirituellen Weg ist, dass wir Menschen immer schon, wenigstens anfanghaft, erfahren können, dass unser Leben glückt und glücken soll: Pointiert formuliert Thomas: Nur wer erfährt, dass ihm das tägliche (Bettel‐)Brot geschenkt wird, kann um das Kommen des Reiches Gottes bitten (Maidl 1994: 218 f). Es verweist uns auf die Verantwortung füreinander: Als Bettelmönch hat sich Thomas besonders in den existenziellen Vollzug dieser sozialen Bedürftigkeit gestellt.
2.3 Eine spirituell fundierte Erkenntnistheorie und Ethik Ist die Sehnsucht die Grundenergie, so hat der Mensch für sein Erkennen und Wollen nach Thomas auch einen inneren Kompass, um das, was er selbst ist und sein soll, zu realisieren. Thomas von Aquin bildet ein Spiritualitätsverständnis aus, das eng verbunden ist mit der Ethik und als Kern die unhintergehbare Autorität der Gewissensentscheidung des Einzelnen in großer Stringenz vertritt, als Vorbereitung des neuzeitlichen Prinzips der Gewissensfreiheit. Er greift dazu auf zwei Begriffe aus der Tradition zurück: syndéresis und conscientia. Diese Differenzierung ist ihm wichtig, denn sie bezeichnen zwei unterschiedliche Formen des Erkennens: die synderesis – der Begriff ist wohl die griechische Form zur conscientia – eine Einsicht, die mir sofort und ohne Nachdenken aufgeht. Dagegen ist die conscientia – das lateinische Wort bedeutet Mitwisser, auch Zeuge sein – das mühsame Abwägen, indem man Argumente sucht, sie hin und her wälzt und dann zu einer Entscheidung findet. Beide gehören zur psychischen Grundkonstitution des Menschen, zur intellektuellen Seite der Seele. Auch moderne Kognitionswissenschaft unterstreicht diese beiden Formen des Erkennens: Zum einen „die schrittweise Erkenntnis“, die auf der Anwendung von Regeln, Schlussfolgerungen etc. beruht, zum anderen „die plötzliche Einsicht, die einem geschieht, subjektiv zweifelsfrei ist, Befriedigung und Freude hervorruft und das Gefühl des einfachen ‚Genau so ist es.Wieso habe ich das nicht gleich gesehen?’“ (Huppertz 2016b: 182 f; vgl. zu diesen beiden Formen bei Platon: Uhlmann 2016). Thomas beschreibt diese beiden Formen nicht nur, sondern er reflektiert ihren Zusammenhang. Das ständige Hin und Her, der Wechsel und die Bewegung unseres schlussfolgernden Denkens entspricht der menschlichen Grundkonstitution als zeitlichem Wesen. Woher kommt Festigkeit in das Hin und Her? Was ist
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die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass wir uns festlegen können? Es ist die beschriebene plötzliche „Ein-sicht“, ein blitzhaftes und ein-faches, d. h. mit einem einfachen Blick (intuitive) Erfassen von Wahrheit, Die Synderesis zeigt den Menschen als Wesen an der Grenze und verbindet ihn im obersten, edelsten Teil seiner Seele mit einer anderen Art des Erkennens, eine Art, die Thomas nach damaligem spirituellen Weltbild den Engeln zuspricht, womit er besondere Vollkommenheit signalisieren will. Anderes als bei den Engeln bleibt dieses Erkennen des Menschen immer rückgebunden an die Sinne, leiblich. Die synderesis ist festes Fundament, weil sie ein Gehalten-Sein (habitus) im Wahren (spekulativ) und Guten (praktische Vernunft) ist, von Geburt an und unverlierbar. Der Mensch erkennt darin die Dinge, wie sie von Gott erkannt sind, nicht nur allgemein, sondern als Ausrichtung auf ein Glücken und Gelingen in seinem konkreten Sosein, darin auch verbunden mit allem Sein und seiner Ausrichtung. Das kann wie mit einem Hinschauen, mit einem einfachen Blick immer wieder aufgehen. Intentional ist es immer gegeben als eine unbestimmte Art der Selbsterkenntnis. In der Begrifflichkeit zeigt Thomas vielfach die Verankerung dieser Aussagen in der spirituellen Praxis (Bendel-Maidl 2013: 92 f). Metzinger weist auf diese Zusammenhänge als wichtigen, auch begrifflich roten Faden in vielen frühen Schriften der abendländischen Philosophie hin. „Bewusstsein, conscientia, ist ein Teil des bewussten Menschen als innerer Raum […]; es ist also der Berührungspunkt zwischen dem idealen und dem tatsächlichen Menschen. […] Der zweite […] relevante Punkt ist also, dass es auch in der westlichen Philosophietradition nicht nur vielfältige und tiefe Verbindungen zwischen dem moralischen Gewissen und der Bewusstheit, sondern auch zwischen der präreflexiven Achtsamkeit und der Bewusstheit als solcher gibt. Dabei geht es […] [um] das ‚Achthaben auf die Veränderungen der Seele‘ – eine Form von innerer Aufmerksamkeit, die uns dann auch unmittelbar mit der Welt verbindet“ (Metzinger 2015: 442). Während Metzinger eine rein kognitive und propositionale Lösung sucht, und diese auf dem Weg nach Innen, kann für Thomas der Weg nur ganzheitlichexistenziell sein; er kennt so etwas wie eine existenzielle Wahrheit.
2.4 Die Authentizität der Person als verborgene Spiritualität Als Gehaltensein im Guten und Wahren geht die synderesis nicht in die Irre. Der Mensch erlebt darin eine Klarheit und Sicherheit. Alle Formen der Abwägung in den konkreten Entscheidungsprozessen sind jedoch irrtumsanfällig, denn es handelt sich immer um irdische und kontingente Güter.
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Thomas ist radikal konsequent: Weil die ganz konkreten Gewissensentscheidungen in der Einsicht der synderesis gründen, kommt auch diesen absolute Verbindlichkeit zu, selbst wenn sie sich in der Konkretheit als Irrtum und Fehler herausstellen. Denn das ist nach Thomas die Grundkonstitution unserer Endlichkeit und entsprechend auch das unvermeidbare Risiko. Dies ist von allen zu achten. Freilich erwartet Thomas, dass der Einzelne durch gewissenhafte Abwägung und Gespräch mit Anderen zu seiner Entscheidung kommt. Wie ernst Thomas das nimmt, zeigt ein Beispiel, das er wählt: Wenn ein Mensch zur Überzeugung kommt, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist, dann muss er dieser Überzeugung folgen, nicht der Autorität der Bibel und der Kirche. Ja, Thomas spitzt die Frage soweit zu, dass er sogar von einer Trennung zwischen der Wahrheit und Gott ausgeht. Auch dann sei der Mensch gehalten, sich an die Wahrheit zu halten. „Die Wahrheit ändert sich nicht aufgrund der Verschiedenheit der Personen; wenn jemand die Wahrheit sagt, kann er also nicht besiegt werden, mit wem auch immer er das Streitgespräch führt.“ – Dies gilt auch für ein Streitgespräch mit Gott, wie es Hiob führt (In Job c. 13; vgl. Hoye 1996: 422 f). Um nicht die Wahrheit seiner Person zu verlieren, müsse ein Mensch auch bereit sein, gegebenenfalls sein irdisches Leben zu geben. Diese Aussagen sind markant für das Glaubensverständnis des Aquinaten: es geht nicht um die Übernahme von Sätzen, sondern um ein Überzeugtsein von innen: Das impliziert eine wie auch immer geartete Erfahrung eines absolut Verbindlichen (vgl. Bendel-Maidl 2012: 55 f). Für den Gegenwartsdiskurs in Spiritual Care (s. Beitrag Frick in diesem Band) haben diese Aussagen große Relevanz: Wenn Thomas unterstreicht, dass der Prüfstein auch für Religion und Glaube in der Lebenspraxis jeweils die Gewissensüberzeugung des Einzelnen (synderesis) ist, dann bedeutet dies, dass Religion und Spiritualität ganz gebunden werden an die Authentizität der jeweiligen Person. Was Nassehi als differentia specifica zwischen der religiösen und der spirituellen Kommunikation festhält, begründet Thomas philosophisch mit der Unmittelbarkeit des und der Einzelnen zu Gott: „dann ist Spiritualität jene Form, die auf noch weniger Bestimmtheit setzt und sich ganz auf die Authentizität des Sprechers verlässt“ (Nassehi 2011: 40). Die Authentizität der Person ist es, in der Göttliches verborgen welthaft präsent ist, denn darin vollzieht sich das innere Geheimnis der Verbundenheit von Gott und Mensch. Insofern es diese Verbundenheit gibt, kann in der authentischen Gestalt eines Menschen auch das Göttliche „aufleuchten“. Alle religiöse Bestimmtheit in Dogmen und Ritualen steht im Dienst und ist relativ zu dieser Präsenz des Göttlichen. In der Weise menschlicher Kontingenz verantwortet sich solche Spiritualität auch intellektuell: Zu ihr gehört das kritische Hinterfragen, Revision, Neuanfang. Sie ist auf Vergebung und Versöhnung, auf Barmherzigkeit verwiesen.
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2.5 Spirituelle Praxis: die Bedeutung der Kontemplation Für Thomas ist ähnlich wir für Metzinger sowohl die Wissenschaft – als Kultivierung des schlussfolgernden Denkens – wie der spirituelle Weg zentral für die Wahrheitserkenntnis des Menschen. Für den spirituellen Weg hat er für sich persönlich denjenigen gewählt, der in besonderer Weise die synderesis, die Einsicht übt, nämlich den Weg der Kontemplation. Dies war die spirituelle Mitte des neuen Ordens der Dominikaner. Vielleicht war die Wendung zur Kontemplation weg von den Formen religiöser Übung in Stundengebet, Gottesdiensten u. ä. damals ähnlich revolutionär wie der Spiritual Turn heute. Kontemplation bedeutete die Übung des erwähnten In-tuitus: die Sammlung aus dem Diskursiven, dem Vorher und Nachher, in die Konzentration des einen Blicks, in die Ruhe und Sicherheit des Hier und Jetzt. Bittgebet und Kontemplation gehören als spirituelle Praktiken zusammen wie conscientia und synderesis im Erkennen. Sie münden bei Thomas im Verstummen. Am Nikolaustag 1273 kommt er seltsam verändert von der heiligen Messe zu seiner Arbeit zurück. Er schweigt, schreibt nicht, diktiert nicht. „Reginald, ich kann nicht. Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Spreu“ – so antwortet er seinem langjährigen Freund und Sekretär Reginald von Piperno. „Alles … kommt mir vor wie Spreu – verglichen mit dem, was ich geschaut habe.“ Thomas von Aquin reflektiert als Bedingung der Möglichkeit von plötzlicher Einsicht, dass der Mensch darin an das göttliche Wissen rührt, dass er einen „Funken“ dieses Wissens in sich trägt, ein „Seelenfünklein“ (scintilla animae). In einer besonderen Erfahrung hat Thomas etwas davon erfahren. Diese „Erleuchtungserfahrung“ – so der heute interreligiös dafür gebräuchliche Begriff – macht in einer Intensivierung offenbar, was Thomas als das die menschliche Erkenntnisfähigkeit bedingende Prinzip zeigt. Das Denkmodell des Aquinaten trifft sich mit Reflexionen von Michael Huppertz: Dessen philosophische Hypothese ist, dass „Erleuchtungserfahrungen“ eine „kognitive Infrastruktur“ haben, die sie als einen Spezialfall der plötzlichen Einsicht zeigen (Huppertz 2016a). Was den Kern jeder Einsicht ausmacht – und uns meist verborgen bleibt, wird in der Erleuchtungserfahrung intensiviert und bewusst erfahren: eine Unmittelbarkeit im Sein; ein Ineins-Schauen und darin Verbundenheit, Zeitlosigkeit, Aufgeben der Sorge, die immer ein Morgen und Gestern im Blick hat. Die unbedingte Verbindlichkeit, die Thomas der synderesis zumisst, erfahren Menschen in den „Erleuchtungserfahrungen“, als unbedingten An-Spruch, im eigenen Leben auf diese Erfahrung zu antworten, wobei immer eine Differenz bleibt; was erfahren wird, bleibt kontingent nicht einholbar.
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3 Ein kurzes Fazit Eine „Säkularisierung“ der Spiritualität in der Weise einer Reduktion auf die menschliche biophysische Endlichkeit – auf Natur und Materie (s. auch Beitrag Sans in diesem Band) – und auf die existenzielle Grundsituation der Angst verkennt die Grunddynamik von Spiritualität. Wir können unsere Sehnsucht zum Selbsterhaltungstrieb reduzieren und als Selbsttäuschung bezeichnen und in diesem Sinn „säkularisieren“. Das verweist uns mit radikalem Ernst auf die Grenzen unserer Machbarkeit angesichts unserer Endlichkeit und Verletzlichkeit, auch auf die Versuchungen zur Machbarkeit in religiösen Sätzen, Ritualen, Systemen. Wir können der Dynamik der Sehnsucht auch trauen. Dann geht es ebenso um ein Aufgeben von Selbsttäuschungen, jedoch in einer anderen Weise. Menschen auf den unterschiedlichen spirituellen Wegen betonen, dass sie ihr Alltagserleben, ihre Sicht von Wirklichkeit, das emotionale Hängen an den irdischen Dingen in seiner Relativität entdecken. Die Täuschung besteht darin, dass der Mensch diese Dinge als ganze Wirklichkeit nimmt und ihnen seine ganze Sorge zukommen lässt (s. Beitrag Blank in diesem Band). So drückt es auch Jesu zentrale Weisung in der Bergpredigt aus: „Euch aber muss es zuerst um die Gegenwart des Göttlichen und die Gerechtigkeit gehen; dann wird Euch alles andere dazugegeben“ (Mt 6,33; freie Übersetzung LM). Verborgen präsent ist das Göttliche, wenn Menschen ihren inneren Einsichten und ihrer Sehnsucht folgen, authentisch ihren Weg gehen. In der Authentizität von Menschen vollzieht sich das innere Geheimnis der Verbundenheit von Gott und Mensch. Das Transzendente wird so unbestimmt präsent in der Immanenz (vgl. Beitrag Frick in diesem Band). Gleichzeitig gilt: Insofern es diese Verbundenheit gibt, kann in der Authentizität eines Menschen auch ein Transzendentes, das Göttliche aufleuchten. Spiritualität schafft Bewusstsein und Wahrnehmung für das Transzendente in der Alltäglichkeit unseres Lebens: in unseren Aha-Erlebnissen, in unserer Sehnsucht. Mir scheint, der Begriff der „säkularen Spiritualität“ fasst beide Dynamiken in eine für heute attraktive Sprachgestalt: radikale Diesseitigkeit („säkular“) – bei gleichzeitiger Offenheit und Sehnsucht nach einem Darüber … hinaus („Spiritualität“), einer Sehnsucht danach, dass die vielen „Ahs“ und „Achs“ unseres Lebens liebevoll gehalten sind in einem größeren Ganzen. Spiritualität ist eine unstillbare Sehnsucht und (mehr oder weniger starkes) Vertrauen in diese Dynamik (s. Beitrag Müller in diesem Band).
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4 Konsequenzen für Spiritual Care Spiritual Care wird häufig mit der Sinnfrage verbunden. Damit kommt die eher rationale Seite in den Blick. Spiritual Care gerät damit auch eher in den Sog der Instrumentalisierung, insofern die Erwartung gehegt wird, dass spirituelle Begleitung die spirituelle Krise durch Sinnantworten zu lösen vermöge (vgl. Beitrag Bohlen in diesem Band). Mein Plädoyer gilt einem Spiritualitätsverständnis, das die Sehnsucht des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Einige mir wichtige Facetten: 1. Der ganze Mensch ist so im Blick, mit seinen vielfältigen konkreten Bedürfnissen und einer letzten „Unersättlichkeit“ (Frick & Baumann 2017), die das Geheimnis jedes Menschen und das Geheimnis Gottes birgt und umschließt. 2. Weil diese Unerfüllbarkeit bewusst ist, erhalten Klagen, Anklagen, das Kämpfen mit Leid und Krankheit eine besondere Würde. Spiritualität in der Dynamik der Sehnsucht kann in Klage und Kampf dabei bleiben, weil sie die irdische Unerfüllbarkeit nicht als letzte und definitive Frustration menschlicher Sehnsucht zu sehen wagt. Sie wird zur Anwältin der offenen Dynamik der Sehnsucht über die irdische Begrenztheit (biophysisch und vorstellungsmäßig) hinaus. 3. Das Antizipatorische in der spirituellen Begleitung: Spirituelle Begleitung nimmt in das Unerfüllte bereits die Wirklichkeit der (verheißenen und erhofften) Erfüllung hinein: sie ist antizipatorisch und öffnet damit (priesterlich) den Raum. Damit vertraut sie der Dynamik der Sehnsucht: sie sieht diese nicht als Selbsttäuschung, vielmehr hilft sie, den Ermöglichungsgrund dieser Dynamik wahrzunehmen: Nur weil die Sehnsucht immer schon gehalten ist vom Guten und vom Glück, auf das sie zielt, kann sie zeitlich danach streben. 4. Wichtig ist das Wechselspiel mit der Erdung: Der Perspektivwechsel von der Angst angesichts irdischer Frustrationen der Sehnsucht hin zum Vertrauen in ihre Dynamik des „Darüber … hinaus“, ins Transzendente, zum Göttlichen hin, ist möglich, wenn ein Mensch im Hier und Jetzt etwas von dieser Erfüllung erfährt oder erfahren hat. Dies kann ganz unterschiedlich geschehen: durch das Vertrauen ins Leben, das wächst im Erhalten „des täglichen Brotes“; durch die menschliche Nähe im aufmerksamen Blick und Dabeisein; durch ein gemeinsames Nachsinnen und Nachspüren: miteinander in die gleiche Richtung schauen (s. Beitrag Huppertz in diesem Band); durch ein Einstehen mit der eigenen Hoffnung: Sie kann spürbar werden in der Kraft des Begleitenden, dabei zu bleiben, oder auch als explizites Zeugnis, wenn danach gefragt wird.
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Eine besondere Quelle der Kraft, um der Sehnsucht zu trauen, sind spirituelle Erfahrungen einer Patientin oder eines Patienten (s. auch Beitrag Huppertz in diesem Band). Vielfach fehlt uns heute eine Wahrnehmungs- und Sprachkultur dafür. Das Spirituelle ist oft verborgen im Existenziellen, z. B. in der hohen Bedeutung der Familie in Krisensituationen: Gerade im FüreinanderDasein, im Erleben von Liebe und Getragen-Sein kann erfahren werden, dass hier „mehr“ ist als von Menschen machbar (vgl. Hanson et al. 2008). Diese „säkulare“ Präsenz des Göttlichen wahrzunehmen und ins Wort zu heben, kann hilfreich sein. Seelsorge kann als Spezialkompetenz eine sensible Mystagogie in das multiprofessionelle Spiritual Care-Team einbringen: Worte der Deutung anbieten, ohne zu missionieren oder zu tabuisieren, mit Ritualen, Meditationen, Imaginationen, Musik etc. spirituelle Erfahrungsräume öffnen (Frick & Maidl 2019), besonders in der Einzelbegleitung. Alles hier setzt eine Haltung des Hörens voraus; es gilt, sich selbst dezidiert ein Diskutieren, Werten, Ratschläge-Geben zu verwehren (Mayr 2019).
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Fähigkeit zum Unbedingten und säkulare Spiritualität
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Klaus Müller
Vor Gott stehen Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive am Beispiel Kierkegaards und seiner katholischen Nachfahren Standing before God Spiritual experience in a philosophical perspective using the example of Kierkegaard and his Catholic descendants Zusammenfassung: Philosophie und Spiritualität sind oft weit intensiver verschränkt als gemeinhin unterstellt. Besonders markant greifbar wird das an den Werken Sören Kierkegaards, Peter Wusts und Eugen Drewermanns. Immer geht es darum, die Objektivität der christlichen Botschaft in ein erstpersönlich geführtes bewusstes Leben einzuschmelzen und es so zu verwandeln. Auffällig ist, dass das anscheinend nicht ohne Intervalle des Zweifelns und der Verzweiflung geschehen kann. Jedoch öffnet beides die Tür zur wahren Freiheit des Menschen in Gott. Schlüsselwörter: Spiritualität, Christlicher philosophischer Existenzialismus, Zweifel, Verzweiflung, Freiheit. Abstract: Philosophy and spirituality often are more entangled than common sense presupposes. Especially you can see that in the writings of Sören Kierkegaard, Peter Wust, and Eugen Drewermann. The objectivity of Christian message should melt in the conscious first-person-perspective of a subject. It is striking that in these processes are present always moments of doubt and desperation. But they open the door for true freedom of persons in God. Keywords: Spirituality, Christian existential philosophy, doubt, desperation, freedom
1 Kleines Prolegomenon Sören Kierkegaard war der mit Abstand spirituelleste der modernen Philosophen. Und er hat Hegel nicht gemocht. Der Grund dafür ist so einfach wie verstörend: Die Glutkerne des Denkens beider waren nur um Haaresbreite voneinander entfernt: der Gedanke des Selbstseins, der Subjektivität. Und beide waren überzeugt, dass das Zu-einem-Selbst-Werden, das Führen eines bewussten Lebens, mit allem, was dazu gehört, zutiefst an den Gottesgedanken gebunden ist. Beiden ging es https://doi.org/10.1515/9783110638066-006
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darum auch um eine Reinigung, eine Erneuerung der christlichen Religion, von der sie überzeugt waren, dass sie wie keine andere auf dieses Selbstsein des Menschen ausgeht. Beide waren darum auch scharfe Kritiker der Kirchentümer ihrer Zeit, denen sie vorwarfen, eben das, was ihre vornehmste Aufgabe wäre, durch Veräußerlichung zu verraten. Aber beide haben diese Erneuerung auf einander völlig entgegengesetzten Wegen gesucht: Hegel in einer auf das Ganze des Wirklichen ausgreifenden Philosophie der Vermittlung, Kierkegaard in einer existenzialistischen, der Vitalität konkreten Lebens verpflichteten Philosophie der Unmittelbarkeit. Hegel war der Systemphilosoph par excellence. Ihm galt die selbstbezügliche Andersheit, also das ins Andere seiner selbst sich weggebende und aus ihm dann auf sich zurückkommende Seiende, als die paradigmatische Grundfigur alles Wirklichen – und Wirklichkeit insgesamt als das Zu-sich-Kommen des Absoluten. Kierkegaard hat einen solchen Holismus oder Monismus vehement zurückgewiesen. Sein Leitmotiv ist das scharf geschnittene „EntwederOder“. Nur im Durchgang durch „Angst“ und „Verzweiflung“ – zwei Kernbegriffe des Kierkegaard’schen Denkens – findet das Subjekt zu einem Stehen vor Gott, das ihm ein wahres Bei-sich-Sein ermöglicht. Das Religiöse, das Hegel noch als mehr oder weniger mythische Vorstufe der Philosophie behandelt, schlägt bei Kierkegaard sozusagen senkrecht ein als das Heterogene schlechthin, das alle in Eigenregie versuchte Selbstverständigung bewussten Lebens aushebelt und die Schleusen für das öffnet, was später einmal „Dialektische Theologie“ heißen und untrennbar mit dem Namen Karl Barths verbunden sein wird. Subjektivität war in der Tat für Kierkegaard das leitende theologische Prinzip. Aber er stand damit nicht allein. Es gab und gibt nämlich auch katholische Autoren, in deren Schriften die spirituell-existenzialistische Dimension ähnlich zentral ist. Auf zwei von ihnen möchte ich nachfolgend näher eingehen.
2 Denker der Glaubensnot und des Menschwerdens: Peter Wust In Peter Wust – aufgewachsen unter ärmlichen Verhältnissen in einer Familie mit elf Kindern – regte sich früh ein unstillbarer Durst nach Wissen. Er sehnte sich nach Büchern, wollte gern zur höheren Schule gehen. Jahre lang legte man ihm Stein um Stein in den Weg. Als es dann endlich doch gelang und er nach dem Gymnasium zu studieren begann, entfremdete er sich des katholischen Glaubens seiner Herkunft. Die Eltern, die erwartet hatten, dass er – wenn er denn schon studiere – Priester werde, verstießen ihn. In dieser biographischen und existen-
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ziellen Heimatlosigkeit begegnete er dem damals berühmtesten evangelischen Religionsphilosophen Ernst Troeltsch. Gespräche mit ihm öffneten ihm wieder den Blick für das Christliche. Später kam er in Köln mit dem Husserl-Schüler Max Scheler in Kontakt, den der eben erwähnte Troeltsch einmal den „katholischen Nietzsche“ genannt hatte. Scheler holte Wust gleichsam wieder in den Raum des katholischen Glaubens heim, prägte ihn philosophisch zutiefst und führte ihn auf eine Bahn, die ihn zum christlich-katholischen Existenzialisten werden ließ. Das Ringen um den Glauben in erster Person führte ihn immer neu zu den Schriften eines Augustinus und – Kierkegaards. Aus erster Hand wusste er, was Verzweiflung ist und wo dann doch Trost zu finden wäre. Peter Wusts letzte große Veröffentlichung, zugleich eine Summe seines Denkens und das bekannteste seiner Bücher in der Folgezeit, hieß nicht von ungefähr „Ungewißheit und Wagnis“ (1937). Es war sein auch biographisch motivierter Versuch, die Erfahrung der menschlichen Endlichkeit – in ihrer typisch neuzeitlichen Zuspitzung – im Horizont der großen Tradition der Seinsmetaphysik durchzubuchstabieren. Eine „christliche Anthropologie des Geistes“ (Westhoff 1990: 127) bildet den Kern seines Philosophierens, entfaltet in der entschiedenen Überzeugung, alle modernen Häresien, wie er Kommunismus, Sozialismus und Nationalsozialismus titulierte, entsprängen einer falschen Anthropologie. Seine Alternative umreißt er en miniature, wenn er den Weg des eigenen Menschwerdens in spiritueller Nomenklatur folgendermaßen beschreibt: Zuerst versuchte ich es mit der grenzenlosen Wissbegier, und dann stürzte ich aus der Nacht des anfänglichen Kinderglaubens in die so andere Nacht des Zweifelns. Ich wurde Philosoph, um Mensch zu werden. Aber eines Tages entdeckte ich dann, daß man erst Mensch werden muß, um überhaupt Philosoph werden zu können. Welch ein unseliger Zirkel also! – Wie aber wird man Mensch? Nicht anders, so will mir heute scheinen, gar nicht anders, auf dem Gott es selbst geworden ist. Mit dem Leiden fängt es an, das Menschwerden; mit dem Leiden und dem geduldigen Bewußtsein, wie groß es ist, überhaupt leiden zu dürfen. – Und was folgt dann? Nun, dann folgt der vollkommene Bruch mit dem bloßen Stolz des Wissens und der unfrommen Wissensarroganz. Dann folgt jenes ganz andere, mit dem die kleinen Menschen, die ‚kleinen‘ in den Augen dieser Welt, zu beginnen pflegen. Nach einem langen Umweg entdeckt man dann, wie wahr es ist, was Thomas von Kempen einmal gesagt hat: ‚Es ist besser, Reue zu haben, als das Wesen der Reue zu ergrübeln:‘ – und dann? Ja, dann kommt schließlich das Händefalten an die erste Stelle, und alles bloße Spekulieren rückt an die zweite Stelle; und immer mehr rückt es an die zweite Stelle, und auf einmal, nachdem man den weiten Umweg über alle Weisheit der Welt vollendet hat, entdeckt man dann, was es eigentlich heißt, Mensch zu werden, um ganzer Mensch zu sein (Westhoff & Wust 1954: 325).
Leiden, Demut, Reue, Gebet – Konturen einer Anthropologie, die damals zur Zeit ihrer Formulierung querstand zur Siegertyp- und Übermensch-Ideologie des Na-
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tionalsozialismus und dadurch Hörerscharen in Bann schlug. Eine Anthropologie, die genauso quersteht zur heute gängigen, zur Propaganda der allzeit Fitten, Hippen und Schönen – und ungehört verhallt wie der Akkord von einem anderen Stern. Ob sie deswegen falsch ist oder in Wahrheit nochmals hellsichtig ihrer Zeit voraus, das wäre zu erwägen. 1930 war Wust an die Universität Münster berufen worden. Die Hörerschaft spürte etwas von der Tiefe und Echtheit seines Ringens, strömte ihm darum in Scharen zu, doch in der akademischen Community der Professorenschaft und der Honoratioren blieb er gleichwohl isoliert und einsam. Neun Jahre später erlebte er erneut am eigenen Leib, was Verzweiflung heißt: Eine unheilbare Krankheit mit schlimmsten Schmerzen – Gaumenkrebs – zwangen ihn in die Knie und zum Abschied von der Lehre. Obwohl todkrank, gab er dem Drängen seiner Schüler nach und richtete mit Datum vom 18. Dezember 1939 „Ein Abschiedswort“ an sie. Dieses geistige Testament ging damals von Hand zu Hand, tausende von Soldaten nahmen es im Tornister an die Fronten des II. Weltkriegs mit. Ich kann aus einem Original von damals zitieren, das mir vor Jahren einer meiner Senior-Hörer geschenkt hat, der bei Wust in den Vorlesungen war. Diese paar Seiten reißen gleichsam eine geschichtstheologische Sicht auf die damalige Gegenwart auf, erweisen sich aber zugleich – von heute aus gesehen – als regelrecht prophetisch. Eine der zentralen Passagen lautet: Eine ganze Schar von Scheiternden wird seit der Romantik in Europa sichtbar, und die Zahl dieser scheiternden Intelligenzen mehrt sich, je näher wir herankommen an die Schwelle unserer Zeit. Diese Scheiternden aber scheitern alle an dem Problem ‚Gott und Geist‘, sei es nun, dass sie am Geiste und an Gott zugleich verzweifeln und so schließlich an Gott selbst scheitern, oder sei es, dass sie schließlich, die Ohnmacht des irdischen Geistes erkennend, sich so oder so in die Arme Gottes werfen. Nietzsche kann als Repräsentant der ersten Gruppe dienen, soweit wir seine Laufbahn verfolgen können. Kierkegaard gehört zu den Repräsentanten der zweiten Gruppe. Es kommt deshalb auch nicht von ungefähr, dass gerade der Begriff des Scheiterns in der Philosophie der Gegenwart eine so große Rolle spielt und zwar in der schwer durchschaubaren Doppelsinnigkeit, in der er zwischen den beiden Gruppen der an Gott oder in Gott hinein Scheiternden hin- und herspielt (Wust 1939: 2).
Scheitert einer an Gott oder in Gott hinein? Eigentlich nur sprachlos kann man zur Kenntnis nehmen, dass gut 50 Jahre nach Peter Wust erneut ein geistiger Bruder Kierkegaards auftritt, an dessen Biografie exakt diese Frage aufbricht: Ein im Grunde konservativer Priester und Theologe tritt mit einem Aufsehen und Bewunderung erregenden Mammutwerk hervor, bei dem es sich systematisch betrachtet um eine Subjekttheologie handelt, die sich ausdrücklich als Kierkegaard verpflichtet erklärt. In den Folgejahren wird dieser Ansatz vertieft in den Perspektiven der Exegese, der Moraltheologie und der Dogmatik entfaltet. Die Werke
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bekommen (wie bei Kierkegaard) immer markantere kirchen- und amtstheologiekritische Züge, bis es schließlich zur Suspendierung des Betroffenen kommt, der sich schließlich aus Verbitterung – wie er es selbst formulierte – 2005 zu seinem 65. Geburtstag den eigenen Kirchenaustritt schenkte. Ich spreche von dem ehemaligen Paderborner Priester und Theologen Eugen Drewermann.
3 In der Angst um das Vertrauen ringend: Eugen Drewermann Eugen Drewermann ist 1940 geboren (vgl. Görres & Bürkle 1988: 169 – 170 sowie mündliche Mitteilungen Drewermanns in Interviews und Gastvorlesungen in Regensburg), studierte Philosophie in Münster, Theologie in Paderborn und Psychologie (vgl. Drewermann & Marz 1989: 179 – 180) in Göttingen. Er war Priester der Erzdiözese Paderborn und hatte 1968/69 – also der Zeit des Ausbruchs der Studentenrevolte – die Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten an der Paderborner Theologischen Fakultät inne, war dann auch Präfekt im Priesterseminar und Studentenpfarrer. Aus dieser Zeit ist heute noch bekannt, dass es Drewermann gelang, der in der unmittelbaren Nachkonzilszeit in einen profillosen Ökumenismus geratenen Katholischen Hochschulgemeinde wieder Zugang zur kirchlichen Dimension des Glaubens geöffnet zu haben. Seine Dissertation schrieb Drewermann unter Moderation des Dogmatikers Heribert Mühlen; aufgrund der Qualitäten und des Umfangs dieser Arbeit, die 1977– 78 in drei Bänden erschien, wurde Drewermann 1978 zwei Jahre nach der Promotion mit dieser Arbeit im Fach Dogmatik auch habilitiert. Es gehört zu den beinahe schon regelmäßigen Phänomenen im akademischen Betrieb, dass die wissenschaftlichen Erstlingswerke späterer Kapazitäten weitgehend unbeachtet bleiben oder von den Autoren selbst mit der Qualifikation „Jugendsünde“ der untersten Schublade überantwortet werden. Bei Heidegger etwa war das so, ähnlich bei Karl Rahner. Der hat sich mit einer theologischen Dissertation die Lehrbefugnis erworben, deren Titel nur eine Minderheit selbst unter der Heerschar derer erwähnt, die ihre eigenen akademischen Sporen mit einer Arbeit über Rahner zu erwerben versuchen: Die Dissertation behandelte das Thema E latere Christi. Eine Untersuchung über den typologischen Sinn von Jo 19,34 (vgl. Imhof & Biallowons 1985: 34). Gänzlich anders bei Eugen Drewermann. Sein Erstling, die Dissertation und gleichzeitige Habilitationsschrift Strukturen des Bösen. Die Jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht, erschienen als Bände 4– 6 der Paderborner Theologischen Studien, muss als sein Hauptwerk
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gelten. Alle nachfolgenden Publikationen, zumindest alle großen theologischen Werke, setzen dieses 1500-Seiten-Opus in einem Maß voraus und bauen auf es auf, dass mehr oder weniger zwangsläufig das Spätere missverstehen wird, wer die Strukturen des Bösen nicht wenigstens in Grundzügen kennt. Dieses Werk wurde 1977/78 zunächst in einer Auflage von 500 Stück gedruckt, hat aber dann sechs Auflagen samt einer Ausgabe als Taschenbuch-Kassette erreicht und die Auflagenhöhe von 15000 überschritten. Obwohl selbst ein so renommiertes und unbestechliches Organ wie die Biblische Zeitschrift über den ersten Band der Strukturen des Bösen urteilte, Drewermanns Interpretation der jahwistischen Urgeschichte werde besonders in den redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen der theologischen Aussageabsicht der Erzählung besser gerecht als der für jede Genesisexegese schlechthin normative Kommentar von Claus Westermann (vgl. Drewermann 1977), kam es zu Reaktionen auf Drewermanns Studien einzig in Form einiger wissenschaftlicher Rezensionen. Der Untertitel des Buches benennt prägnant, was den Leser erwartet: Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht. „Jahwistische Urgeschichte“ ist der Fachterminus für den zweiten und älteren Schöpfungsbericht aus der Bibel, der im Buch Genesis innerhalb des Abschnitts 2,4b – 11,1– 9 – versetzt mit Teilen anderer Traditionsstränge – festgehalten ist, jene Erzählung also von der Erschaffung des Menschen aus Lehm und göttlichem Geisthauch, der Bildung Evas aus Adams Rippe, dem Sündenfall bis hin zum Turmbau von Babel, die auf einen Theologen der salomonischen Zeit, also um etwa 900 v.Chr. zurückgehen dürfte. Was bewegt einen Theologen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, sich auf eineinhalbtausend Seiten mit einer knapp 3000 Jahre alten Erzählung auseinanderzusetzen? Immanuel Kant schrieb in der Einleitung zu seiner „Logik“ aus dem Jahr 1800: Vier Fragen gebe es, denen keiner ausweichen könne, der sich seiner Vernunft bedient. Sie lauten: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? (Kant 1923: 25)
Wobei sich die ersten drei auf die vierte Frage bezögen und also auf dieser der Akzent liege. Philosophie heißt für Kant – sehr bündig gesagt –, sich darüber klar zu werden, dass sich solche letzten Fragen nicht einfach mit verfügbaren Antworten erledigen lassen, dass aber trotzdem diesen Fragen nachzugehen ist und dass Antworten versucht werden können und müssen, die in existenziellen
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Konstellationen menschlicher Existenz wie Glück und Not, Liebe, Leid und Sterben Orientierung gewähren. Drewermanns Basisthese: Exakt in diesem Sinne lässt sich die jahwistische Urgeschichte verstehen. Auf den systematischen Nenner gebracht: Diese uralte biblische Überlieferung spricht von Gott und der Welt, vom Menschen und seinem Leben einschließlich seiner dramatischen Grundkonflikte auf eine Weise, in der sich Leser oder Hörerinnen auch noch und gerade nach Kant, also unter den Bedingungen kritisch-aufklärerischen Denkens, wiederfinden können. Um das zu entdecken, braucht man eigentlich nur der Eigenbedeutung der Symbolzusammenhänge zu folgen, an denen entlang sich die Erzählung Gen 2– 11 entfaltet.Wie das möglich ist, dass eine so uralte, weitgehend mythische Erzählung menschlicher Selbstverständigung heute dienen kann, wird durch die Aufdeckung der psychischen Dynamismen hinter diesen Symbolgeflechten klargemacht; dass die jahwistische Urgeschichte solches leistet, erhellt aus ihrer Konfrontation mit den zentralen Theoremen der radikalsten Existenzauslegungen der Moderne und jüngsten Vergangenheit, d. h. der Philosophie Sören Kierkegaards und Jean-Paul Sartres. Eben dies – exegetische Aufschlüsselung der Symbole, Offenlegung ihres psychischen Hintergrundes und philosophische Härtung der vorausgehenden Ergebnisse – sind die drei Teile von Strukturen des Bösen. Ohne mich bei Einzelheiten aufzuhalten, versuche ich jetzt kurz, einen Eindruck von seiner Art der Genesis-Lektüre zu vermitteln und gleichzeitig bereits auf die theologischen wie methodischen Konsequenzen hinzuweisen, die er selbst daraus zieht: Der Mensch findet sich gratis – aus Gnade – in den Lebensgarten der Welt gesetzt, den ihm ein gönnender Gott geschenkt hat. Eines Tages erkennt er sich – obwohl das Unendliche denkend und fühlend – als endlich: Er verfügt nicht über das Ganze. Da springt ihn (in der mythischen Gestalt der Schlange) die Angst an: Ist Gott wirklich der gönnende oder enthält er mir doch Leben vor? Angesichts dieser Frage bleibt nur ein Zweifaches: Der Mensch kann seinem Gott auf alle Selbstabsicherungen verzichtend trauen – oder er muss ihm misstrauen. Vertrauend kann er mit seiner selbsterkannten Kontingenz versöhnt leben. Misstrauend muss er mit der Kraft der Verzweiflung sich selbst absolut setzen und dadurch alle Bindungen zerstören, die sein Leben tragen. Die zu Gott: Vor ihm versteckt er sich, empfindet ihn als Konkurrent und strafend; was die Natur betrifft, verkehrt sich in der Perspektive des Misstrauens der Paradiesgarten in ein Jammertal; und das zwischenmenschliche Zueinander, ursprünglich auf gegenseitige Hilfe und Freude aneinander angelegt – siehe Adam und Eva – wird in Machtverhältnisse pervertiert, die geradewegs in Gewalt, Zerstörung und Mord führen. Die Angst zu erfahren, ist unentrinnbar mit dem Sich-bewusst-werden des Menschen verbunden. Angst treibt ihn in das Böse. Aber Angst kann durch vertrauenden Glauben überwunden werden. In der Verweigerung des Glaubens aber
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verfestigt sich die Angst zur Gottesferne – klassisch gesprochen: zur Erbsünde. Erlösung aus ihrem Fluch gewährt nur die Gnade des Glaubens, deren Angebotenwerden und dramatisches Angenommen- und Abgelehntwerden in der Heilsgeschichte seit Abraham gegenwärtig gehalten wird. Die ursprüngliche Entscheidung zwischen Vertrauen und Misstrauen, die über das Umkippen der Angst in Sünde entscheidet, setzt notwendig voraus, theologisch so klar wie möglich Gott und den Menschen einander als verschiedene Personen und verschiedene Freiheiten gegenüberzustellen (Drewermann 1978: 577).
Entsprechend strukturiert sich die Wiedergewinnung des Vertrauens, das Leben wieder menschenwürdig und menschenmöglich macht: Klar, dass aufgrund der Bedeutung der Angst im Fundament menschlichen Selbstverständnisses die Psychologie ins Spiel kommen muss. Aber – so Drewermann –, psychoanalytisch lassen sich „[…] allein die Gründe wegräumen, die sich […] [der] Grundhaltung des Vertrauens in den Weg stellen“ (Drewermann 1987: 77). Das Vertrauen selbst kann nur aus dem Glauben kommen, dass Gott, der Ursprung meines Lebens, wahrhaft ein gönnender Gott ist, der es gut meint mit mir. Und dieser Glaube kann einzig im radikal subjektiven, selbstbewussten, freien Gegenüber zu einer Person entstehen, die jenes Gottvertrauen mit der Grammatik und dem Vokabular ihrer eigenen subjektiven Persönlichkeit auf menschliche Weise glaubhaft macht und darum für ihr Gegenüber in singulärer Beziehung zu jenem sein Leben tragenden Geheimnis steht, das wir Gott nennen. Für den Christen ist dieses Gegenüber Jesus von Nazaret. Das schlechthin Unterscheidende des christlichen Glaubens gegenüber allen anderen religiösen Traditionen besteht gerade in der radikalen Konzentration allen von der menschlichen Selbstvergewisserung angetriebenen religiösen Suchens und Ahnens in der und auf die Subjektivität eines menschlichen Individuums. In ihm und nur in ihm muss der Glaube seinen Anhalt finden. Anders gewendet: Dass er Vertrauen haben soll, dazu will – und muss auch oft – die Psychologie den Menschen ermuntern; dass und warum er Vertrauen haben darf, kann ihm nur die Theologie vermitteln, indem sie den Grund solchen Vertrauens glaubhaft macht. Das ist die fundamentaltheologische Grundverfassung der Drewermann’schen Theologie. Sie unternimmt eine Glaubensbegründung nicht nach von außen herangetragenen Maßgaben (weil es solche gar nicht gibt), sondern von innen, von der Stimmigkeit der in den Bildern und Symbolen des Glaubens artikulierten Botschaft her. Die Begründung besteht darin, dass der angesprochene Mensch eben diese Stimmigkeit der Botschaft von seinem Eigenen, seinem Innern, d. h. von seiner Verfasstheit und deren Ansprüchen her identifiziert. Daher rührt auch die Notwendigkeit der Tiefenpsychologie in der Theologie, weil allein diese heute
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[…] über Verfahren (verfügt), das scheinbar Fremde, von außen Kommende der religiösen Botschaft im Widerschein der Seele zu betrachten (Drewermann 1989: 28).
So gewinnt sich das Subjekt integral als befriedetes, erlöstes, versöhntes oder wie immer man sagen will im dramatischen Prozess seiner Selbstwerdung im Gegenüber zwischen seinem Gott und sich selbst. Dass solche Versöhntheit eines Menschen mit sich, solange er auf Erden lebt, angefochten und fragil bleibt, Versöhnung mitten im Streit ist, gehört zur Grunderfahrung einer und eines jeden, die ihr Leben bewusst führen und im Licht des Glaubens deuten. Innerhalb dieses aufs Äußerste verkürzten Längsschnitts durch Drewermanns Ausgangspunkt ist von selbst schon mit zur Sprache gekommen, wie und warum Drewermann in sein theologisches Projekt die Psychologie mit einbezieht: Es geht ihm zentral um einen Brückenschlag zwischen dem objektiven Gehalt der religiösen Tradition und der subjektiven Befindlichkeit des Menschen in dem Sinn, dass das Wort der Bibel für seinen Hörer oder seine Leserin als konsistente Existenzdeutung erkennbar ist und ihnen darum begründet für seine Selbstbestimmung, also das praktische Handeln, wie für ihr Denken über Gott, die Welt und sich selbst etwas zu sagen hat. Die Stimmigkeit der religiösen Überlieferung lässt sich dabei deswegen erkennen, weil dem Menschen im Wort der Religion, das von außen auf ihn zukommt, nicht radikal Fremdes begegnet, sondern das, was er zumindest ahnungsweise in sich findet, wenn er nur radikal genug seiner innewird. Insofern handelt es sich bei Drewermanns Ansatz strukturell um eine Variante der von Karl Rahner begründeten Transzendentaltheologie. Genau in jene Dimension buchstäblicher Radikalität aber dringt der Mensch aus sich nicht vor, sondern nur dadurch, dass er mit der auf letzte Wahrheit ausgehenden Existenzdeutung konfrontiert wird, wie sie Religion vornimmt. Formal gewendet: Religiöse Gehalte, die existenziell wahr sind, können nicht aus menschlichem Selbstbewusstsein abgeleitet werden, aber genauso wenig ohne es zustande kommen und erst recht nicht außerhalb seines Horizontes verstanden werden. Von diesem Punkt her lassen sich drei der brennendsten Problemgefüge heutiger Theologie relativ einfach beherrschen, so (1) eine Theologie der Religionen, (2) die in der Religionskritik gern in Anspruch genommene Projektionshypothese Ludwig Feuerbachs sowie (3) die Frage nach Geltung, Gestalt und Grenze des durch Rudolf Bultmann in Gang gesetzten Entmythologisierungsprogramms – alle drei Problembestände, aus denen faktisch die wichtigsten Leitfragen im Hintergrund vieler Veröffentlichungen Drewermanns kommen und die ich an diesem Ort natürlich nicht weiter erläutern kann (vgl. Müller 1994). Wohl aber lässt sich von der obigen Beschreibung des Drewermann’schen Ausgangspunkts her ein sehr bündiger Überblick über sein Gesamtprojekt gewinnen, wie es sich bislang in Publikationen niedergeschlagen hat. Um es
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nochmals zu wiederholen: Drewermann liegt alles daran, die Schrift so auszulegen, dass Menschen unmittelbar verstehen können, dass in der Bibel von ihnen die Rede ist und dass sie darum aus dem dort niedergelegten Fundus von Einsicht, Weisheit und Erfahrung her ihr eigenes Leben gestalten und die großen, nie zum Verstummen zu bringenden Fragen über Gott und die Welt in Radikalität stellen und zu beantworten versuchen. Methodisch gesprochen will Drewermann damit auf eine Wiederzusammenführung von Exegese, Moraltheologie und Dogmatik hinaus, ein Anliegen, das im Zeitalter der Spezialisierung der theologischen Disziplinen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, solange die Theologie den Anspruch erhebt, auch noch etwas zu sagen zu haben, „was dem Heile dient“ (Rahner 1970: XVI). Warum aber wird für Drewermann das Denken Kierkegaards so wichtig? Antwort: Wegen des Begriffs der Angst. Denn: Der Begriff der Angst ist der Schlüsselbegriff, in dem Exegese, Psa [Psychoanalyse; K.M.] Existenzphilosophie und Sozialphilosophie zentral übereinstimmen; der Begriff der Angst allein taugt auch dazu, die Psa mit ihrer kausalen Betrachtung äußerer Angstsituationen und Angstquellen sowie die Sozialphilosophie mit ihrer äußerlichen Bestimmung des Mangels innerlich zu lesen, indem die Angst dem menschlichen Bewusstsein und der menschlichen Freiheit selbst zuinnerst ist (Drewermann 1978: 584).
Und genau dafür findet Drewermann Anhalt bei Kierkegaard, weil dieser zeigt, wie der Ansturm der Angst, der ein inneres Konstitutivum erlebter Freiheit ist, ohne einen Glauben an Gott als Existenzgrund den Menschen in jene Fehlformen des Daseins treibt, die durch die vier Hauptformen der Neurose geprägt sind, also Zwangsneurose, Hysterie, Depression und Schizoidie. Sie alle sind […] Erscheinungsformen und Spielarten der Verzweiflung, und die Notwendigkeiten und Zwangsgesetze der Angst, vor allem die Widersprüchlichkeiten von Geist und Sinnlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit, Ewigkeit und Zeitlichkeit. […] Die Tragödie des menschlichen Daseins […] bestand, mit den Augen Kierkegaards gelesen darin, dass die Menschen aus Angst in ein falsches Verhältnis zu sich selbst geraten, indem sie Gott aus den Augen verlieren; und sie, die aus Angst vor der Sünde in die Sünde verfallen, verwickeln sich schließlich in die Angst vor dem Guten; sie steigern ihre Verzweiflung in einen vollkommenen Selbsteinschluss damit zur Dämonie (Drewermann 1978: 575).
Nur im Wagnis des Glaubens kann dem verzweifelten Versuch einer Selbsterlösung entkommen und die eigene Existenz als einzig von Gott gerechtfertigt verstanden werden: Nicht das „Du musst“ ist das christliche Grundwort, sondern das „Du bist“. Obwohl der erzprotestantische Kierkegaard menschliche Natur und
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Sünde so gut wie ineins setzt, deutet sich dahinter und sehr verborgen ein urkatholisches Motiv an. Um es nochmals mit Worten Drewermanns zu sagen: Nur wer nicht anklagt, beruhigt; nur wer beruhigt, versteht; und nur wer versteht, mildert das Böse (Drewermann 1978: 584).
Was für eine menschenfreundliche Theologie! Dennoch ist Drewermann mit ihr genauso gescheitert wie seine Vorgänger aus der Riege der katholischen Selbstdenker aus dem 19. Jahrhundert – und wie ein Kierkegaard auch. Am schonungslosesten hat solches Scheitern Peter Wust autobiographisch kurz vor seinem Sterben ausgesprochen: Alles ist mir im Leben daneben gegangen. Überall habe ich Fiasko gemacht. […] Alles, was ich gesagt habe, ist Spreu, nicht das Wesentliche. Ich habe religiös nichts erreicht. […] Ich stehe auf meiner zerschossenen Bastion und hisse die weiße Flagge. Ich kann mich nur auf Gnade und Ungnade der Barmherzigkeit Gottes ergeben. Gott mag nun kommen. Er mag mit mir fertig werden (Wust zit. n. Westhoff 1990: 112).
Aber vielleicht kommen die Zeiten dieser katholischen Kierkegaardianer erst noch, wenn der ganze politische, kirchliche und verblasen akademische Krempel einmal abgeräumt sein wird, der ihnen allen zum Anstoß und zum Verhängnis wurde. Und das kann schneller geschehen, als wir es uns versehen.
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Santiago García Mourelo
The holiness of reason Philosophy and mysticism in Blondelian perspective Die Heiligkeit der Vernunft Philosophie und Mystik in der Perspektive Maurice Blondels Zusammenfassung: Dieser Beitrag bietet einen philosophischen Zugang zur Mystik, inspiriert von der Philosophie der Handlung von Maurice Blondel und vielen Kommentatoren zur mystischen Frage bei Blondel. Die Weisheit, nach der die philosophische Reflexion strebt, ist in höchstem Maße eine der Gnaden des mystischen Pfades. Maurice Blondels Philosophie der Handlung eröffnet nicht nur die Möglichkeit, sie rational zu erreichen (Philosophie), sondern liefert auch einen entscheidenden Vorschlag zur Verarbeitung der erhaltenen Gabe (Theologie). Schlüsselwörter: Maurice Blondel, Philosophie, Mystik Abstract: This article offers a philosophical approach to mysticism inspired by Maurice Blondel’s Philosophy of Action, as well as various commentators of Blondel’s mystical question. The wisdom to which philosophical reflection aspires is one of the graces of the mystical path, in its highest form. Maurice Blondel’s Philosophy of Action offers not only a rational way of attaining this wisdom (philosophy), but it also proposes a vital means of assimilating the received gift (theology). Keywords: Maurice Blondel, Philosophy, Mysticism “True Philosophy is the Holiness of Reason” ~ M. Blondel
1 Introduction In 1976, the first edition of Alphabet was published, a work entrusted to the poet Paul Valéry decades earlier, in 1924. Every chapter, according to the agreement with the editor, had to start with each letter of the alphabet, accompanying Louis Jou’s typographical illustrations. In this work, always incomplete and subject to many corrections and reworkings, Valéry wanted to cover each of the https://doi.org/10.1515/9783110638066-007
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twenty-four characters of the alphabet – except for the letters K and W, for their infrequency in the French language –, according to the cadence of the twentyfour hours of a journey. Near the end of the alphabet – at the end of the day – the poet’s meditation raises its look to the starred sky. The contemplation of the constellation of the Orion’s Belt inspires Valéry for his poetic meditation about the letter X. Then he writes: X!, I say to myself: is there anything more admirable? Is there any worthier idea in man than to have named the unknown? Thanks to her, I can introduce the enigma between the constructions of my mind and make of the unknown a gear of my thought. I drop my forehead on the frozen glass; before my silence, the question of knowing and not knowing seems to me forever suspended, and a kind of immobile balance is established between the man and the spirit (Valéry 2017: 103).
“Name the unknown”, “introduce the enigma in the constructions of my mind”, “make the unknown a gear of my thought”. Fine words that could subscribe any poet, any philosopher, any mystic. After all, this enigma is what arouses the original astonishment of the philosophical question (in Greek, θαυμάζειν, “thaumazein”), as Aristotle pointed out, and in which any mystic is introduced in his pilgrimage towards his union with the Mystery. Against all narrow rationalism and against all irrational mysticism, philosophy and mysticism can go hand in hand. Evidently, the philosophical astonishment or admiration of literature is not a mystical experience, but in both this special opening towards the infinite and absolute is revealed. Every speculative exercise is a prospecting towards the unknown and Absolute, a search towards the foundations of life, in all its orders and levels: the world that surrounds us, the subjectivity that constitutes us, the relationships we establish, social phenomena, ethical aspirations are the paths to the enigmatic wisdom that attracts the life of philosopher. Similarly, mysticism tends to bring together the heterogeneity of the phenomena of life around the God revealed. When the Mystery breaks into the life of subject, it participates in a new form of knowledge, called wisdom, and a new form of relationship, called communion, where, without disregarding the identity of any surrounding reality, everything is intimately linked, both in the knowledge itself as in the consistency of reality. In effect, philosophy and mysticism can go hand in hand, although they differ in their method and content. After all, all speculation tends to acquire the wisdom of the mystics and these are graced by an understanding of the world and life that all philosophers long for. In the following lines we want to base this relationship from the thought of Maurice Blondel, a man with a spiritual depth, typical of the mystics, who knew
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how to trace a speculative path towards assimilation with God. However, as we will see below, it is not the only or the last word on this issue, although in it diverse contemporary voices can be reflected and solidly grounded.
2 Mystical opening of reason “We would like it, no doubt, but we are not completely transparent to ourselves. Maybe you have to start there to understand well. Man is that being in perpetual search for his identity and the secret that she conceals” (Gesché 1993: 15). Thus, began the Belgian theologian Adolphe Gesché one of the volumes of his work Dieu pour penser. With them he wanted to situate us, not only in front of the enigmatic reality that surrounds us and that we are ourselves, but in the way of facing it: to think it from God. The reason has always been directed to unravel the enigmas raised by the original impression suffered. An impression in the subjectivity itself that is a claim of the world to be interrogated, and that reveals the special human sensitivity to receive the background that beats in all reality. An intelligent passivity (pathos-logos) that, before expanding towards that which affects it, seeks to read (intus-legere) in the own affection, the intimate essence of the phenomena. Faced with this demand, the scientific and positive use of reason is always insufficient and, although this form of rationality does not fail to recognize it, there are still those who perpetuate themselves in the narrow corridors of Auguste Comte. Kant, to whom he owes so much, knew how to show this insufficiency by having to elaborate his Critiques, although, unfortunately, he left the question that unified them unfinished. Because the question is not just asking “What can I know?”, “What should I do?”, “What may I hope?”, or “What is man?” but to go to the depth, the question that regulates them. An “imperative of questioning” (Steiner 2010: 248) that is beyond the immediate questions to be resolved and that demands not so much a transcendental knowledge, as a condition of the possibility of knowing, but a trans-as-cendental attitude, in Jean Wahl’s words, who raises the march of reason beyond the positively experimental. Transascendance is the formulation of Jean Wahl to mean the religious ascension from the immanence, proposed along with the concept of transdescendance, with which the God’s movement is indicated towards the man (Wahl 1944: 37– 40). Rather than a reflection on the a priori conditions of knowledge, the transcendental evokes an ascension journey (trans-scando) in the abyss of admiration, towards its ultimate meaning. As Levinas recalled, astonishment is that “disproportion between cogitatio and cogitatum” (Levinas 1995: 27). It is something that, being originated from
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the outside, originates from the human. Astonishment provokes it, summons it, but its origin is located outside of external experience, in the human inadequacy, because the important thing is not the disproportionate – cogitatio in Levinas or volonté in Blondel –, but the same disproportion. As Gabriel Marcel said, pointing out this “great indetermination” (Marcel 1944: 99), “we are here at the precise point in which a loyal thought becomes a De profundis, and with it opens itself to transcendence”. For that reason, the reason must unfold in a multiform way, beyond any scientific reductionism, along the paths of meaning and destiny, only transited by philosophy and theology. In this sense, the philosophical contributions of the French phenomenology are a timely opening towards the irreducible, towards the excess of meaning that claims us (Capelle 2009; Gutting 2011). They are a speculative exercise pilgrimage for alterity (E. Levinas), subjectivity (J.-Y. Lacoste), the event (C. Romano), the call and the revelation (J.-L. Marion and J.-L. Chrétien), towards the impossible of positive experience, towards the finitude of understanding and the infinity of meaning. Theology, in its autonomy and solidarity with Philosophy, follows a different path. His specific reflection on God (theo-logic) is based on the revelation of the Trinitarian God. It is a second movement initiated by the unveiling of the Infinite that exceeds the ordinary forms of knowledge. The following two examples illustrate this aspect: Saint Augustine recalled, “if you understand, it is not God” (Augustine of Hippo, Sermo 52, 16), or St. Anselm, “that-than-which-a-greater-cannot-be-thought” (Anselm, Proslogion), but, on numerous occasions, such statements have been locked in an “academicist” rationalism, forgetting the founding meeting of its own logos. In this sense, perhaps it would be opportune to remember that the Augustinian’s speculation was born of the search for his famous cor inquietum, and the Anselmian’s Proslogion began with an invitation to contemplative prayer, concluding with a confident dialogue with the Trinity, waiting for the desired fullness. For these reasons, a mystical opening of the rationality that advances from the original disproportion – declared by the philosophy as the originator of its speculation, towards the assimilation with the full Truth and Goodness –, may be opportune; fullness that the divine revelation offers in the conditioned forms of existence without destroying them (P. Tillich). In short, a reflection that bases the structural constants of the spiritual life and provides the appropriate criteria for its successful achievement. In this sense Blondel said that “the true philosophy is the holiness of reason” (Blondel 1995a: 476; Blondel 1961: 104), since it could offer, following the demands of reason, the itinerary towards the desired union with God. Even though the context in which Blondel thought is
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developed, as well as his spiritual experience, given the nature of this essay, we will approach its fundamental lines.
3 The Blondelian itinerary The Blondelian project and, more specifically, L’Action (1893), can be analyzed from different perspectives. For example, as a response to Schopenhauer’s pessimism, Nietzsche’s nihilism, Comte’s positivism, Kantian criticism, extrinsic apologetics, neo-scholastic rationalism, etc. (for example: Saint-Jean 1965; Jouhaud 1970; Troisfontaines 1993). Approaches can also be made from theological-spiritual or philosophical influences (for example: McNeill 1966; Leclercq 2001). Also, from the epistemological point of view, phenomenological perspectives or metaphysical considerations can be observed (see Henrici 1990). Given the nature of this essay, we cannot go into each of the plans that are often confused in Blondel’s first work. Following the example of X. Tilliette (1986), we will only present the line of argument of L’Action (1893). “Philosophy of Action” departs from an apologetic intention: to show the plausibility of Christian revelation in a rationalist context where everything coming from the field of faith was rejected. For this reason, Blondel, adhering to the philosophical epistemology, begins his reflection from immanence. It’s more part of the subjectivity itself: “it is to myself and to everything mine what I put into experience […] This organism of flesh, of appetites, of desires, of thoughts, whose continuous and dark work I experience, is a living laboratory” (Blondel 1995a: 20). With this affirmation Blondel introduces the practical method to solve the moral problem. This epistemology, later, will have metaphysical implications, although initially it does not depart from any budget of this nature. This approach, of great philosophical relevance, does not express any metaphysical option that could be rejected, nor any theological or supernatural budget, but it is offered as accessible to any restless heart by the meaning and destiny of one’s own life. From here, Blondel will show how the scientific or rationalist epistemology, predominant in its time, is incapable of responding to the requirements of practical life as they appear in consciousness; Situation that will lead Blondel, some years later, to formulate the “method of immanence” (see Blondel [Aimat] 1894: 61– 88); method that, from the drafts of L’Action (1893), was trying to prepare: I try to organize a method, not new in the order of practice, but entirely original from the scientific point of view: and for this adaptation of the background and form, it is a discipline of a different character, the most intimate fusion of practice and doctrine. This aspect is decisive, the approach must be fruitful. A complete example in the course of life, sum-
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marized, synthesized in action (Blondel 1961: 321; This annotation of the Carnets intimes is written between Premier Brouillon and Dictée, 07.02.1890).
In the personal experimentation Blondel discovers a disturbing reality that the action manifests: we want, we act. This reality is imposed because we don’t choose to want and, even when we renounce any will, the will manifests itself as incoherent, because it chooses not to want. This is the incoherence of nihilism and dilettantism. The will is unstoppable and permanent. In this first moment, the will and its action refer to an irreducible origin to its present denial in every voluntary act. In effect, everything done expresses a will that does not stop at any concrete action, because the distance between the intention and its execution is insurmountable. As he says repeatedly at the beginning of L’Action (1893), “there is something” (Blondel 1995a: 74– 75) that cannot be denied, and that is shown in sensory knowledge. There is a drive, a desire, a tension that, although it is materialized in each act, is irrepressible and disproportionate in each act that seeks to express it. This inadequacy of the will is what provokes the speculative exercise that Blondel will initiate in his own subjectivity. In it, he will seek his understanding and a possible destiny that can satisfy his most intimate demands. Not only rational, but also vital, because the question of action transcends the idea of the action itself. This principle is not exempt from rationality, but it will not dictate its final verdict. With this pretension, Blondel flees from all intellectualist abstraction and distinguishes between the idea of action and action in itself. This has its own rationality, its own logic, which is not adapted to the aporias that the thought finds in its development. Because the truth is that what appears as contrary in reason, is not contradictory in action. The action resolves the paradox, although it maintains it in a dynamic synthesis always open, despite its concretion. A clear example on this question is observed in the relationship between immanence and transcendence. In the reason, both elements are shown as contrary, however, the action reconciles them. Despite a possible negation of transcendence, every immanent act is crossed, from beginning to end, by the transcendent. The origin of each act is obscure and beyond our determination, its realization is always disproportionate to the original intention and, like a waiting time, its inadequate synthesis refers, beyond itself, to the full achievement. Transcendence and immanence seemed contrary and irreconcilable to reason, but the action shows that they are not contradictory. It reconciles its dilemma, maintains its paradox and claims an action consistency with its infinite demands. What will be this perfect action?
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After the extensive third part of L’Action (1893), where Blondel makes a deep and detailed study of the phenomenon of action; from its origin in conscious activity in the sensitive certainty, to its expansion in the social and religious field, it concludes with the impossibility of every phenomenon to satisfy the demands of the will: “it’s impossible not to recognize the insufficiency of the whole natural order and not to experience a subsequent need; it is impossible to find in oneself the way to satisfy this religious need. It is necessary and it is impracticable” (Blondel 1995a: 353; see Blondel 1997: 125 – 126). Epistemologically, the consequences are greater, because in this third part the insufficiency of philosophy is shown, as it was understood. Blondel aspired to an integral philosophy, as opposed to a separate philosophy, as he qualified rationalism. At the end of the action he writes: “any doctrine that does not lead to “l’unique necessaire”, any separate philosophy, will remain deceived by false appearances” (Blondel 1955: 522). At the bottom of every finite act persists an infinite restlessness. This implies that, in each act of the will, it must face an alternative: deposit its will in the finite, which would lead to the death of the action, or risk to want the infinite, taking action towards the full life that claims. In short, adapt the inadequacy of the will to “l’unique nécessaire”. To give consistency to his proposal, the philosopher of Dijon will reformulate the classic arguments of God’s existence, summoning the reader to its global consideration and its definitive verification in the action. Even so, voluntary action never stops imposing its limit. In spite of directing their will towards “l’unique nécessaire”, the action is always limited and nothing that the human being realizes resembles the infinite divine. Therefore, the rational demands of will demand a full action that does not depend on it first of all, but of a divine revelation. When the human receives this revelation is when the will can find rest. In this sense, the positive elements of revelation (dogmas and literal practice), can help to put in contact the infinite inscribed in man with the divine Infinite, as long as the will adheres, not so much to the forms concrete aspects of revelation – being indispensable – but to the divine will that provokes and sustains them. At this point, Blondel, perhaps exceeding the philosophical epistemology, affirms that the meaning and destiny of life “exists” (Blondel 1995a: 526), and this meaning and destiny consists in the assimilation of the divine will in the human will. This rapid and imperfect tour of the Blondelian philosophy, lacking in many important details, shows us how the philosophical speculation of the action is able to show the rational and vital plausibility, not only of the supernatural, but of the spiritual journey that leads towards union with God. As we can imagine, the philosophy of action was subject to multiple criticisms, both from philosophy and theology. For that reason, and by the turbulent context of the mod-
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ernist crisis, Blondel had to refine his thinking in later writings. In reference to the mystical question and its underlying philosophical option, we can stop on two, although it emerges in many others, as well as on some fundamental concept for the subject that concerns us.
4 Mystical significance of philosophy of action A text that usually goes unnoticed in Blondelian work is titled “Of assimilation”. Published posthumously, it was written in the decade of the 20s and is presented as a complementary study to Exigences philosophiques du christianisme (Blondel 1950). The value of this text is twofold: to be confirmed twenty years after its first elaboration and to be constituted as a synthesis of the mystical path proposed to every Christian. Blondel begins his study commenting on the classic Thomistic adagio, “omnia intendunt assimiliari Deo”. The two interpretations that have been given, Thomistic and Augustinian, are insufficient in themselves and claim their solidarity. The first accentuates the rational component, the second the vital and intimate dimension. But the important thing is the disproportion of both approaches to the divine incommensurability. In front of incommensurability, neither intelligence nor will can stop her tension towards assimilation with God, an inevitable aspect that reveals “the supernatural in what is free, inalienable, unmistakable with no natural gift” (Blondel 1950: 271; see English 2007: 48 – 52). In the realm of the will, so that this tension towards God is consumed, so that the supernatural is fully assimilated, a double convergence is necessary where the existing energies are united and ordered in response to the God who raises and attracts them. This process of assimilation of the received gift demands a new birth (see Joh 3,1– 21), the step towards a new life that leaves behind the previous one, estimated as trash and foolishness (see Phil 3,8). Its development does not suppose a renunciation to all the forms of knowledge and to all the alternatives of the will, but a reordering of all of them towards “l’unique nécessaire”, towards God. Obviously, this intentional sincerity will require resignations. Everything that is situated as the centre and end of the will, not being God himself, must be surpassed, disproved, relativised according to the assimilating theogony. As Blondel says: Love God is to renounce everything for Him, except Him and what He is and wants in all and for all, for each and each one. Not to admit this deifying mortification, neither of heart nor of will, is to radically ignore the Christian way, the greatness of the divine gift, the sense
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of charity, the supernaturally integral plan: charity truly generating in God and in us, creator and begetter of God in us (Blondel 1950: 244).
When one is capable of this exercise of freedom and of choice, of renunciation and adhesion, divine grace promotes motives and motives of the will in an ascension towards perfect communion, towards full assimilation. This symbiosis is described on numerous occasions by Blondel with a Saint Bernard’s text, to whom he owes many theological and spiritual intuitions: Grace excites free will with the seeds of desires; he heals it changing the feelings; it gives him vigor guiding him while he acts; and continues to attend to him so that he does not faint. Collaborate with free will in the following way: first, anticipate him, and then accompany him. And he anticipates him so that later he can be his collaborator. In this way, what only grace began, they do after the two: they advance at the same time, not separately. Not one before and another after, but at the same time. Grace does not do one part and free will does another. Each one does it in the same and only work. The two do everything. Everything is done with free will and everything is done by grace (Blondel 1995a: 438; see Blondel 1935: 282; Blondel 1944: 267; Blondel 1997: 166).
The free exercise of resignation and reordering of the will also has its correlation in the field of reason. This, although it is treated in a multitude of writings by Blondel, for the subject that occupies us, a collaboration that he wrote in dates close to the text “Of assimilation”, has special relevance. It is an article published in Cahiers de la Nouvelle Journée, entitled “Le problème de la mystique” (Blondel 1925: 2– 63). Without being able to go deeply into its development, its fundamental pretension is to establish the fundamental criteria for a philosophical study of the mystical experience (see Saint-Jean 1990: 77– 88; Wilmer 1992: 25 – 115; Périco 2003; García Mourelo 2014: 443 – 450; Conway 2015: 14– 36). After criticizing various ways that are inadequate for the study of mysticism, which consider it as irrational, reduce it to scientific-positive studies, or subject it to theological presuppositions, Blondel proposes three prolegomena for a philosophy of mysticism: the failure of the life as an opportunity for experience and its reflection, the relationship between acquired and infused contemplation, and the survival of reason in the highest degrees of mystical union. In the last consideration of the article, Blondel affirms a continuity in the reason that surpasses the ordinary forms of knowledge, beyond psychology and regardless of those who consider the reason lost or annulled in the mystical union. To some extent, the preceding images and configurations are overcome in the highest degrees of contemplation, but there is no total rupture. Its presence is not irrelevant because its concepts and images are precursors, like John the Bap-
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tist, of the received contemplation. In this state the reason is not directed to know the objects according to a controlling or conceptual rationality, nor to know their causes, but it is directed towards its ultimate goal. It is a reason attracted by the contemplation of the divine logos that floods it and exceeds it with its wisdom. In this sense, as Blondel writes in the commentary to the voice “Sagesse” in Vocabulaire edited by A. Lalande, wisdom “is the union of the intellectus in its essential object, but by the main operation of this same object” (Blondel 1991b: 942). That is, it’s a knowledge that transcends the analogy of concepts and is attracted towards anagogical, spiritual, ultimate, mystical knowledge. Hence, following Saint John of the Cross, Blondel concluded his article stating that “the mystic is even the most reasonable of men” (Blondel 1925: 60). In the mentioned Vocabulaire’s commentary, a relation is observed, from the scope of the intellectual knowledge (wisdom), with one of the keys of vault of the Blondelian thought: The Vinculum Substantiale hypothesis. On him it realized its Latin thesis (Blondel 1995b: 538 – 685). This hypothesis arisen in a controversy of Leibniz about Eucharistic transubstantiation, will serve to Blondel to solve the aporias of the heterogeneity and the solidarity in diverse questions (the phenomena, the Being and the beings, transcendence and immanence, in vital and conceptual knowledge, etc.). For Blondel, the Vinculum is Christ (see Troisfontaines 2003). This relationship is understood as follows: As we have seen, in the mystical itinerary, the reason, after leaning towards full knowledge by its connaturality with the divine, and of submitting itself to successive purifications, is not only attracted by God, but he’s left to possess, insofar as it is suffered, anagogically, by us: “Non solum discens, sed et patiens divina” (Blondel 1991b: 492). From the concept of connaturality, Worgul establishes a nexus between L’Action (1893), “Le problème de la mystique” and de article “Le procès de l’intelligence” (Worgul 1985: 110). This aspect reveals a demand of reason and, at the same time, a confirmation of Christian revelation: there is something in us that is capable of God and there is a God who is capable of us. In other words, reason demands a certain consonance with what it knows, and the will certain reciprocity with what it chooses. Blondel will say it repeatedly with other words: “nothing can enter the man who does not leave him and does not correspond in any way to a need for expansion, [… no] there is truth to him that counts and admissible precept without being, of some autonomous and autochthonous way” (Blondel 1997: 124). Conversely, as we have seen, perfect action is configured from the divine initiative, insofar as it is made assimilable by us. These demands imply, a parte Dei, an exercise of divine condescension by which God is accessible to a vital participation with him. That is, to share the
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human, in all its orders, without being confused with us. This is one of the applications of the Leibnizian hypothesis of the Vinculo Substantiali, which is none other than Christ, true God and true man. A parte hominis, this second birth is inevitable, this passage through the dark night, this renunciation that, in the realm of reason, implies passage through apofatism. Not as a term of mystic compression, but as the silence that precedes the definitive word, like the night that announces the dawn, like the humility of one who expects the Truth to manifest itself, beyond its own certainties.
5 The Blondelian understanding of mysticism This set of considerations that we have indicated, can give the impression of a particular reading, but they acquire full coherence and unity in the commentary on the voice “Mystique et Mysticisme” that Blondel brings to the Vocabulaire; one of him most extensive contributions, where he expresses his understanding of mysticism (Blondel 1991a). Blondel’s contribution is divided into three paragraphs of varying length. The first involves an approximation to the mystical phenomenon by attending to issues discussed in its time (Conway 2015: 18 – 27; Tourpe 2005). In the second, inspired by the pseudo-Dionysius, he delves into the term, already from a theological perspective. It ends with an adjusted and balanced synthesis, supported by some of the great Christian mystics. Regardless of the judgment and value of mysticism, we must recognize in it – explains Blondel – a series of psychological phenomena that can be the object of study and classification. It is observed in these words the legitimacy that Blondel gives to any science to study the mystical phenomenon, even from the positively observable facts. What can be extracted from them are two fundamental moments: the depreciation of the sensitive and of intellectual notions, and “the direct contact and immediacy of the spirit without any interposition” (Blondel 1991a: 662). Therefore, the understanding acquired in mystical contemplation is different from that of the articulated word, proper to rational discourse. To illustrate the difference, Blondel proposes the analogy of music which, although it does not have the clarity of words – with all its logical force –, can never express what sounds transmit, and quotes Beethoven when he said: “music is a higher revelation than wisdom and philosophy” (Blondel 1991a: 662). Because of this specificity of mystical knowledge and the understanding attained in it, Blondel distinguishes it from theological, metaphysical or physical knowledge. Between them there is a separation like that which exists between the artist, who delights
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in a symphony, and the knowledge attained by his commentator, however cultivated. Music is one thing and a treatise on it is another. In the following paragraph, Blondel gathers a synthesis of mysticism, following the doctrine of the Areopagite. In the gnoseological order Blondel affirms that in the mystical itinerary there is an overcoming of “sensitive images, conceptions and reasonings” (Blondel 1991a: 663) and that “this incomprehensible union” is obtained “not by reasonings, but by the full union in love”, but this does not imply an a-rational knowledge, or an absence of knowledge. The new degree of consciousness is described as “perfect knowledge of God”, “obtained science”, “doctrine”, “supra-intellectual contemplation” (Blondel 1991a: 663), thus indicating not only the inevitable ascetic-purgative moment of the itinerary, but also the apophatic moment in enlightenment. This is negative, because it denies the apparent and affirms the dissimilarity of the created and of itself with respect to God; and, mystical, because by abandoning all sensible and mental phenomena, the mystic is thrown towards the union. In the ontological order, pseudo-Dionysius marks distances with neoplatonism. Although he uses his forms and part of his schemes, his divergences are clearly noted in the understanding of the union between God and his creature. Far from fusion or dissolution, the mystical union is considered from the nature of divine Peace. With this, we can see that the Christian understanding that Blondel tries to offer about mysticism and, more specifically, about its last degree – union or contemplation – is solidly grounded from the first developments of mystical theology. Here one can observe the analogous convergence between the mode of union realized by divine Peace and the understanding of Blondel’s Vinculum Substantiale that we have briefly developed. The last paragraph is a summary of the mystical process described, without following any author or facing any controversy. Blondel synthesizes the question by saying that the mysticism begins with the overcoming of “sensitive things and intellectual representations” – the passage through the dark night – and culminates with the revelation of the fullness of a life that is only hidden from those who follow in the “region of shadows” (Blondel 1991a: 664). With Tauler, St. John of the Cross and St. Teresa as examples, he ends up stating that “the highest degree of human activity consists in reaching this state of nakedness or interior passivity which is the only one that leaves the field free to the sovereign liberality of the infinite being” (Blondel 1991a: 664). Valuable formulation that combines two of his concerns: to point out contemplation or mystical union as the activity par excellence of the human being, and the irreplaceable role of the Grace of God, beyond purgative and ascetic efforts.
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6 Mysticism and charity After having delineated the philosophical foundation of mysticism, according to Blondel’s proposal, and having considered the philosophical implications of mystical experience in the realm of will and reason, there remains one final consideration to be made. So far, it seems that the journey towards union with God is played exclusively in an intimate relationship between God and the human being, without further implications. Even it could be thought that the scope of immanence, the world, people, society, are an obstacle to be renounced for full assimilation. Far from this solipsistic and, in a certain way, misanthropic consideration, as we show below the Blondelian mystic proposes high degrees of ethical implication. The same dynamic of the action claims it in its necessary expansion. The volonté voulante, in its irrepressible tension towards “l’unique nécessaire”, requires an external collaboration, because its realization is not played in the ideal or transcendental scope, but in the daily and concrete exercise of the volonté vouloue. This concrete desire, driven, sustained and guided by its transcendent nature, moves away from any form of selfishness because the action we carry out is not only an expression of what we want, but it also keeps within itself a claim to welcome and hospitality. Otherness is not an instrument at the service of our fulfilment, but the necessary mediation for the elevation of our will. Within the insufficiency of the concrete action and of everything immanent, a synergy of the wills presided over and guided by love and devotion towards “l’unique necessaire” is necessary. When this happens, it is when the shared action, each completed work, becomes an expression of definitive love, concretized in the supreme common good. In this solidary and altruistic dynamic, as we can imagine by the Blondelian understanding, the principle of renunciation is a requirement. Dismissing oneself from love is the greatest expression of volonté voulante and is the obligatory step to be what we want to be. This is how metaphysics and charity are linked, and how radical charity is viaticum of the supreme union. Therefore, each small act, each small gesture, without having to be supported by the highest metaphysical speculations, can be an expression of the ontological solidity of the human being and constitute a stage in its mystical elevation. Therefore, the question is not so much doing what you want but wanting what you do. To put into it all the energies of the will that it wants, overcoming the expected limitation, overcoming the possible dangers it can involve by placing our heart exclusively in what has been done, overcoming the renunciations and sufferings that it may demand. When this happens, it is when our existence
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takes the form of a seed that is sown so that it will bear fruit. Its transformation is inevitable, its death a demand, its fruit the patient waits for the gift received in its potentiality. In this sense, as Mario Antonelli has shown, the full existence for Blondel is the Eucharistic existence (Antonelli 1991). It condenses morality and metaphysical consistency. In it, the Vinculum Substantiale, “l’unique nécessaire”, becomes accessible and assimilable. In it, communion with the divine will and its essential participation is possible. In the Eucharistic existence, the only condition is “not to consider each step as definitive” (A, 516), because this would suppose to restrain the transnaturel nature that characterizes the human condition. When we want to affirm ourselves, we sign the death of the action, the death of what we are. Instead, when we renounce ourselves, we subscribe to the full life that drives us and beats in every gesture, towards the definitive life that only God gives.
7 Philosophy as holiness of reason As we said at the beginning of these lines, mysticism and philosophy go hand in hand. The genius of Blondel is in having traced a path in immanence, without having imposed its limits and being faithful to its demands, towards divine wisdom. The reason is open, because the reality that interrogates it is involved and contains an excess of intelligibility that claims other forms of knowledge. A knowledge only acquired by the teachers of the interior life, who knew how to read the divine action in their own affection and exposed the “brutality of everyday experience” (Blondel 1995a: 18) before what Christian revelation shows in the Gospel. In it, as the young Blondel wrote in his Carnets, “power is attributed to action alone to manifest love and to win God” (Blondel 1961: 85). Is not this, perhaps, what we intimately desire?
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II. Phänomenologie spiritueller Erfahrung
Bruno Niederbacher SJ
Der ganze Mensch in der spirituellen Erfahrung Erkenntnis durch Imaginationen, Emotionen und Wünsche in den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola The Spiritual Experience of the whole person Knowledge through imagination, emotion, and desire in the Spiritual Exercises of Ignatius of Loyola Zusammenfassung: In diesem Aufsatz wird die spirituelle Erfahrung, zu welcher Ignatius von Loyola in den Geistlichen Übungen (Exerzitien) anleitet, unter erkenntnistheoretischer Rücksicht untersucht. Dabei werden Imaginationen, Emotionen und Wünsche, die während einer Ignatianischen Kontemplation operativ sind, in den Blick genommen. Die Frage lautet: Wie können derartige mentale Prozesse Erkenntnisse darüber liefern, wie man leben soll? Schlüsselwörter: Geistliche Übungen, gerechtfertigte Überzeugung, Imaginationen, Emotionen, Wünsche Abstract: From an epistemological point of view, this article reflects the spiritual experiences that people can undergo when doing the spiritual exercises designed by Ignatius of Loyola. The focus is on mental processes involving imagination, emotions and desires. The question is: How can such processes lead to justified moral beliefs, that is: beliefs about how one should live? Keywords: Spiritual exercises, justified belief, imagination, emotion, desire Ich werde mich in diesem Aufsatz auf spirituelle Erfahrungen beziehen, zu denen Ignatius von Loyola (1491– 1556) in seinen Geistlichen Übungen anleiten will. Nach einer Verortung dieser Übungen im Leben des Ignatius werde ich auf zwei ihrer Methoden eingehen: Ignatianische Kontemplation und Unterscheidung der Geister. Schließlich werde ich versuchen, die darin involvierten Prozesse herauszuarbeiten und erkenntnistheoretisch zu deuten.
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1 Ignatius von Loyola Ignatianische Spiritualität ist eine in den Erfahrungen des Ignatius wurzelnde Weise der Vertiefung und Verlebendigung der persönlichen lebenstragenden Überzeugungen (Muck 2016: 159). Für Spiritual Care dürfte besonders interessant sein, dass Ignatius diese Spiritualität entdeckte, als er dem Tod ins Auge geschaut hatte und rekonvaleszierend im Bett lag. Aber der Reihe nach: Iñigo López Oñaz de Recalde y Loyola – so hieß er eigentlich – hatte eine militärische Laufbahn eingeschlagen, war Offizier des Vizekönigs von Najera und 1521 bei der Verteidigung von Pamplona gegen die Franzosen von einer Kanonenkugel getroffen und schwer verwundet worden (Maron 2001: 13). Ins heimatliche Schloss von Loyola gebracht, befanden die Chirurgen, sein Bein müsse noch einmal auseinandergenommen und die Knochen neu eingerichtet werden. Aber es stand nicht gut um ihn, und „sein Zustand verschlechterte sich noch weiter, er konnte nicht essen und hatte die sonstigen Anfälle, die ein Anzeichen des Todes zu sein pflegen“ (Bericht des Pilgers, BP 3). Die Ärzte meinten am 28. Juni 1521, seine Lage sei sehr kritisch. Er müsse mit dem Tod rechnen, wenn er bis Mitternacht keine Verbesserung verspüre. Tatsächlich trat eine Wende ein, sodass er wenige Tage darauf bereits außer Todesgefahr war. In der Genesungszeit war er gezwungen, im Bett zu bleiben. Er verlangte nach Ritterromanen wie etwa „Amadís de Gaula“, ein Roman von Garcí Ordóñez de Montalvo, aber auf Schloss Loyola gab es nichts dergleichen. So musste er sich mit einem Werk über „Das Leben Jesu Christi“ des Ludolf von Sachsen (1300 – 1378) und der Sammlung von Heiligenlegenden „Legenda aurea“ des Jacobus de Voragine (1230 – 1298) zufrieden geben. Ignatius hatte offensichtlich eine lebendige Vorstellungskraft. Er beschreibt, wie er auf dem Krankenlager stundenlangen Phantasien über Waffentaten und Frauen nachhing: „Er stellte sich vor, was er im Dienst einer Dame zu tun habe, welche Mittel er anwenden würde, um in das Land ihres Aufenthalts gelangen zu können, welche Sprüche und Worte er ihr sagen und welche Waffentaten er in ihrem Dienst vollbringen würde. Und darin gefiel er sich so sehr, dass er nicht darauf achtete, wie unmöglich es war, dies erreichen zu können. Denn die Dame war nicht von gewöhnlichem Adel, weder Gräfin noch Herzogin, sondern ihr Stand war viel höher als diese beiden“ (BP 6). Diese Phantasien wechselten ab mit religiösen Phantasien, die sich aus seiner neuen Lektüre nährten: „Wenn er das Leben unseres Herrn und der Heiligen las, hielt er inne und dachte bei sich: ‚Was wäre, wenn ich täte, was der hl. Franziskus und was der hl. Dominikus getan haben?‘ Und so durchdachte er viele Dinge, die er gut fand, und nahm sich immer schwierige und schwere Dinge vor“ (BP 7). Ignatius wechselte zwischen den weltlichen und religiösen Betrachtungen hin und her. Dabei machte er eine in-
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teressante Beobachtung, die er so beschrieb: „Doch gab es dabei folgenden Unterschied: Wenn er an weltliche Dinge dachte, empfand er großes Vergnügen; sobald er aber ermüdet davon abließ, fand er sich trocken und unzufrieden.Wenn er jedoch daran dachte, barfuß nach Jerusalem zu gehen und nichts als Kräuter zu essen und alle übrigen Strengheiten zu üben, die er bei den Heiligen wahrnahm, da war er nicht nur getröstet (se consolaba), solange er sich bei solchen Gedanken aufhielt, sondern blieb auch zufrieden und froh, nachdem er davon abgelassen hatte. Doch achtete er nicht darauf und hielt nicht inne, diesen Unterschied (diferencia) abzuwägen, bis sich ihm auf einmal ein wenig die Augen öffneten und er begann, sich über diesen Unterschied zu wundern und über ihn nachzudenken. Durch eigene Erfahrung (por experiencia) begriff er, dass er bei den einen Gedanken traurig blieb und bei den anderen froh. Allmählich kam er dazu, die Verschiedenheit der Geister, die sich hin und her bewegten, zu erkennen, der eine vom Teufel und der andere von Gott. Dies war die erste Überlegung, die er über die Dinge Gottes anstellte. Als er später die Übungen verfasste, begann er von hierher Klarheit über die Verschiedenheit der Geister zu gewinnen“ (PB 8). Nach seiner Genesung beschloss Ignatius, nach Jerusalem zu pilgern. Auf dem Weg dorthin machte er weitere prägende spirituelle Erfahrungen, besonders in Manresa, einer kleinen Stadt nordwestlich von Barcelona. Er wurde dort von Skrupeln geplagt, erlebte häufige Stimmungswechsel, die bis zu Selbstmordgedanken reichten (BP 22, 23). Seine Vergangenheit holte ihn ein, er hatte den Zwang, wieder und wieder zu beichten. „Doch am Schluss all dieser Gedanken überkam ihn Abscheu vor dem Leben, das er führte, und zugleich ein heftiger Antrieb, es ganz aufzugeben. Damit wollte der Herr ihn wie aus einem Schlaf (Traum) aufwecken“ (BP 25). Von da an ging es aufwärts, und Ignatius erlebte unter anderem am Fluss Cardoner „wie sich die Augen des Verstandes“ öffneten: „Nicht, dass er eine Erscheinung (visión) gehabt hätte, vielmehr verstand und erkannte er viele Dinge, sowohl geistliche als auch solche des Glaubens und der Wissenschaft; und dies mit einer so großen Erleuchtung (ilustración), dass ihm alle Dinge neu erschienen“ (BP 30). Er setzte seine Pilgerreise nach Jerusalem fort, kehrte dann nach Spanien zurück und studierte in Barcelona, Alcalá und Paris Grammatik, Philosophie und Theologie. In Paris fand er jene Freunde, mit denen er 1540 in Rom die Gesellschaft Jesu gründete. Aufgrund seiner spirituellen Erfahrungen verfasste Ignatius die Geistlichen Übungen, eine Sammlung von Methoden und Regeln, um im spirituellen Leben Fortschritte zu machen. Auf zwei Aspekte möchte ich nun näher eingehen: auf die Betrachtungsmethode der Ignatianischen Kontemplation sowie auf die so genannte „Unterscheidung der Geister“.
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2 Ignatianische Kontemplation Am Krankenlager begann Ignatius, über das Leben Jesu und der Heiligen zu meditieren, indem er sich mit seiner Vorstellungskraft in bestimmte Situationen hineinversetzte. Diese Methode geht in die Geistlichen Übungen ein, besonders wo man als Übender aufgefordert wird, das Leben Jesu zu betrachten. Man kann diese Methode „Ignatianische Kontemplation“ (IK) nennen (Niederbacher & Thorer 2017). Die betrachtende Person soll sich den Stoff, der zu betrachten ist, vergegenwärtigen, sich in der Vorstellung die Bühne aufbauen, auf der sich die Geschichte abspielen soll: „die Personen sehen“ (Geistliche Übungen, GÜ 11), „schauen, beachten und betrachten, was sie sagen“ (GÜ 115), „schauen und erwägen, was sie tun“ (GÜ 116). Die betrachtende Person soll aber nicht nur die Szene beobachten oder wie einen Film ansehen, sondern sich in der Vorstellung in die Geschichte hineinbegeben, wie wenn sie sich in ihr „gegenwärtig fände“ (GÜ 114), ihren Ort darin suchen und auf ihre Weise an der Handlung teilnehmen. Diese Teilnahme am Geschehen soll nach Ignatius letztlich in ein Gespräch münden, das die betrachtende Person mit Christus oder Gott Vater führt. Nach der Betrachtung folgt eine Reflexion darüber, wie es ihr während der Betrachtung ergangen ist, welche affektiven Zustände da waren und nun da sind (GÜ 77, 62). Bezüglich der affektiven Zustände und Wünsche, die bei der Ausübung der IK auftauchen, kommt ein zweiter Aspekt zum Zug, der ebenfalls in der Biographie des Ignatius wurzelt: die Unterscheidung der Geister.
3 Unterscheidung der Geister Bereits am Krankenlager wurde sich Ignatius des Wechsels seiner affektiven Zustände bewusst und begann, darüber nachzudenken. Seine Erfahrungen in Manresa führten zu einer weiteren Schulung und flossen bei der Verfassung der Geistlichen Übungen in die Regeln zur Unterscheidung der Geister (GÜ 313 – 336) und in die Überlegungen darüber, wie man eine „gesunde und gute Wahl“ trifft (GÜ 175 – 189), ein. Dabei geht es vor allem um die affektiven Bewegungen von geistlichem Trost und Misstrost. Die übende Person soll lernen, auf sie aufmerksam zu werden, sie zu verstehen und mit ihnen umzugehen (GÜ 313). Unter geistlichem Trost versteht Ignatius positiv erlebte affektive Zustände wie „Liebe“ zu Gott, „alle Zunahme an Hoffnung, Glaube und Liebe“, „alle innere Freudigkeit, die zu den himmlischen Dingen ruft und hinzieht“, „Ruhe und Frieden“ (GÜ 316). Geistliche Trostlosigkeit hingegen liegt vor bei „Dunkelheit der Seele, Verwirrung in ihr“, „Unruhe von verschiedenen Bewegungen und Versuchungen, die zu
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Unglauben bewegen, ohne Hoffnung, ohne Liebe, wobei sich die Seele ganz träge, lau, traurig und wie von ihrem Schöpfer und Herrn getrennt findet“ (GÜ 134). Die Wahrnehmung dieser inneren Regungen ist nach Ignatius ein erster Schritt. Dann folgt die eigentliche Unterscheidungsarbeit. Denn nicht jedes positive oder wohlige Gefühl kommt vom Guten und führt zum Guten, genauso wenig wie jedes negative Gefühl vom Bösen kommt, zum Bösen führt oder anzeigt, dass jemand falsch unterwegs ist. Um die Emotionen richtig deuten zu können, muss man wissen, welche Grundhaltungen, Gewohnheiten und Neigungen man hat. Ignatius’ These ist folgende: Wer vom Guten zum Besseren unterwegs ist, wird von Gottes Geist bestärkt, vom bösen Geist jedoch irritiert. Umgekehrt: Wer von Gott weggeht, wird vom bösen Geist bestärkt, von Gottes Geist irritiert (GÜ 314, 315 und 335). „Mild, leicht und sanft, wie ein Wassertropfen, der in einen Schwamm eintritt“ (GÜ 335) – so werden wir berührt, wenn wir vom Guten zum Besseren voranschreiten. Und das Böse berührt dann „scharf und mit Geräusch und Unruhe, wie wann der Wassertropfen auf den Stein fällt“ (GÜ 335). Umgekehrt ist es, wenn wir in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sind. Das heißt: Man muss die Emotionen relativ zur Art von Person deuten, die man ist. Ignatius unterscheidet ferner drei Weisen, eine gute Wahl zu treffen: Die erste Weise zu wählen beruht auf einer unmittelbaren Klarheit darüber, was zu tun ist; die zweite auf der Erfahrung von Trost und Trostlosigkeit; die dritte Weise darauf, dass man Handlungsalternativen miteinander vergleicht, Gründe und Gegengründe dafür sucht und sie vernünftig abwägt. Ignatius schreibt zur zweiten Weise zu wählen: „Die zweite: Wann man aus der Erfahrung von Tröstungen und Trostlosigkeiten und aus der Erfahrung der Unterscheidung verschiedener Geister genug Klarheit und Erkenntnis gewinnt“ (GÜ 176). Er sieht diese Weise, eine Entscheidung zu treffen, nicht isoliert. In seiner Praxis der Entscheidungsfindung kombiniert er die zweite mit der dritten Weise. Er sucht oft nach Bestätigung der Richtigkeit einer rational getroffenen Entscheidung, indem er auf die sich einstellenden Regungen von Trost oder Trostlosigkeit aufmerksam wird. Affektive Zustände spielen also nach Ignatius eine wichtige Rolle. Sie sind Indikatoren dafür, was dem Willen Gottes entspricht; oder allgemeiner formuliert: Indikatoren dafür, was in einer Situation zu tun richtig oder besser ist. Ignatius zufolge kann man aufgrund dieser spirituellen Erfahrungen und Unterscheidungen zu Erkenntnissen gelangen: über sich selbst, über die eigene Beziehung zu Gott, über Jesus Christus, aber auch darüber, wie man sein Leben besser führen kann, was zu tun in einer Situation das Richtige ist. Da taucht die Frage auf, wie man aus Imaginationen, Emotionen und Wünschen zu derartigen Erkenntnissen gelangen kann. Darauf suche ich eine Antwort. Ich beginne mit einer sehr kurzen Einführung in die Grundlagen der Erkenntnistheorie.
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4 Das ABC der Erkenntnistheorie Erkenntnistheorie ist jenes Fach der Philosophie, das sich hauptsächlich mit den Fragen beschäftigt, was Wissen und was eine gerechtfertigte Überzeugung ist. Täglich bilden wir viele Überzeugungen: über uns, unsere Umgebung, über andere Menschen, über die Welt, über das, was moralisch richtig oder falsch ist, etc. Nehmen wir an, Susi ist überzeugt, dass Tante Paula raucht. Kürzen wir Susi mit „S“ ab und „dass Tante Paula raucht“ mit „p“! Nun ist es entweder wahr oder falsch, dass p. Dies hängt schlicht und einfach von den Tatsachen ab. Es ist wahr, wenn Tante Paula raucht; es ist falsch, wenn sie nicht raucht. Zweitens ist die Überzeugung von S, dass p, gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt. Dies hängt von den Gründen ab, auf denen die Überzeugung von S beruht. Es müssen angemessene Gründe sein: Gründe, die dafür sprechen, dass die Überzeugung wahr ist. Nimmt S selbst wahr, dass p, so ist dies ein angemessener Grund für ihre Überzeugung, dass p. Ihre Überzeugung ist gerechtfertigt durch ihre visuellen Eindrücke plus Hintergrundüberzeugungen. Oder erzählt ihr der vertrauenswürdige Hans, dass p, dann ist dies ebenfalls ein angemessener Grund für ihre Überzeugung, dass p. Oder zieht sie einen Schluss aus anderen Überzeugungen, die sie hat, z. B. folgenden: In der Toilette riecht es nach Zigarettenrauch; Tante Paula hat diese Toilette gerade verlassen; Wenn es in einem Raum nach Zigarettenrauch riecht, nachdem eine Person den Raum verlassen hat, ist es wahrscheinlich, dass sie dort geraucht hat; also hat Tante Paula wahrscheinlich dort geraucht; so hat S ebenfalls angemessene Gründe für ihre Überzeugung, dass p. Ihre Überzeugung ist durch Schlussfolgerungen, also inferenziell (von „inference“: Schlussfolgerung) gerechtfertigt. Bildet sie jedoch die Überzeugung, dass Tante Paula raucht, aufgrund eines Gänseblümchenorakels (sie raucht, sie raucht nicht, sie raucht …), so ist dies kein angemessener Grund für ihre Überzeugung. Ihre Überzeugung ist dann nicht gerechtfertigt. Freilich kommt es auch vor, dass wir einen angemessenen Grund für eine Überzeugung haben und sich später herausstellt, dass unsere Überzeugung dennoch falsch ist. Viele Menschen hatten beispielsweise lange Zeit angemessenen Gründe zu glauben, dass die Erde steht und sich die Sonne am Himmelszelt von Osten über Süden nach Westen bewegt, war dies doch ihr täglicher Eindruck. Doch heute wissen wir, dass es sich anders verhält. Aufgrund derartiger Erfahrungen sagen wir:Viele unserer Überzeugungen sind bis auf Weiteres – prima facie – gerechtfertigt. Diese Rechtfertigung kann
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durch neue Informationen zunichte gemacht werden. Diese Zunichte-Macher von Rechtfertigung nennt man im Englischen „defeaters“. Wissen liegt vor, wenn eine Überzeugung wahr ist und ihre Rechtfertigung nicht zunichte gemacht werden kann. Soviel sei zum ABC der Erkenntnistheorie gesagt. Kommen wir nun zur Anwendung auf unseren Bereich! Meine Frage lautet: Können Imaginationen sowie dabei auftretende Emotionen und Wünsche angemessene Gründe für bestimmte Überzeugungen sein? Sind derartige Gründe geeignet, bestimmte Überzeugungen, die Menschen im Rahmen der IK bilden, prima facie zu rechtfertigen?
5 Imaginationen In den letzten Jahren beobachtet man wachsendes Interesse an der Philosophie und Epistemologie der Imagination (Currie 1995; Currie & Ravenscroft 2003; McGinn 2004; Nichols 2006; Dorsch 2016; Kind & Kung 2016; Dorsch & MacPherson 2018). Die zentrale Frage lautet: Kann Imagination nicht nur zur Entstehung von Überzeugungen beitragen, sondern sie auch rechtfertigen? Wer diese Frage bejaht, unterscheidet gewöhnlich zwischen verschiedenen Arten von Imaginationen und Überzeugungen. Die Imagination dürfe nicht bloße Tagträumerei sein, sondern müsse mit dem Ziel eingesetzt werden, etwas Wahres herauszufinden. Sie müsse, um erkenntnismäßig relevant zu sein, unter bestimmten Einschränkungen stattfinden (Dorsch 2015; Kind 2018). Die resultierenden Überzeugungen werden unterschieden in modale Überzeugungen, Überzeugungen über faktische kontingente Sachverhalte, Überzeugungen über affektive Zustände anderer Personen, moralische Überzeugungen. In der Philosophie wurde Imagination häufig eingesetzt, um modale Überzeugungen zu rechtfertigen: Überzeugungen darüber, welche Sachverhalte möglich oder notwendig sind. In letzter Zeit haben einige Autoren überzeugend dafür argumentiert, dass Imaginationen auch Überzeugungen über faktische kontingente Sachverhalte rechtfertigen können. So hat z. B. Nikola Tesla viele elektrotechnische Erfindungen gemacht, indem er Visualisierungen in seinem Bewusstsein vornahm. Auch die Tierwissenschaftlerin Temple Grandin erfand stressreduzierende Anlagen für Nutztiere, indem sie in ihrer Vorstellung die Perspektive des entsprechenden Tiers einnehmen konnte (Kind 2018). Dass Imagination ein Mittel ist, um affektive Zustände anderer Personen aufzuspüren, wird in der Philosophie ebenfalls verhandelt. Aufgrund der Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen, können Menschen schnell und relativ verlässlich herausfinden, wie es einer anderen Person geht (Goldman 2006). Über Imagination können auch moralische Überzeugungen gebildet und gerechtfertigt werden, z. B. worin Treue, Nächstenliebe, Gerechtigkeit besteht, welche Charak-
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terzüge man haben soll, wie man leben soll, wie man eine Person behandeln soll usw. (Carroll 2002). Nun ist die IK im Rahmen von Exerzitien nicht bloßes Tagträumen, sondern ein methodisch zielgerichtetes Verfahren, das unter bestimmten Einschränkungen ablaufen soll. Das Ziel dieses Verfahrens ist es, sein eigenes Leben zu ordnen, sodass man sich nicht von ungeordneten Anhänglichkeiten bestimmen lässt, sondern sich darauf einstellt, „den göttlichen Willen […] zum Heil der Seele zu suchen und zu finden“ (GÜ 2). Die mentalen Prozesse, die in einer Person während einer IK ablaufen, können wie folgt beschrieben werden: (1) Imaginatives Vorstellen: Man stellt sich eine Begebenheit, die in der Bibel erzählt wird, vor; man nimmt in der Vorstellung selbst daran teil. (2) Erinnern: Durch das Vorstellen können Erinnerungen an eigene Erlebnisse wach gerufen werden. (3) Vergleichen: Man vergleicht Charaktere und Episoden aus der Bibel mit dem eigenen Charakter und eigenen Erfahrungen. (4) Schlüsse ziehen: Man zieht Schlüsse induktiver, deduktiver, abduktiver Art. (5) Verspüren und verkosten: Durch die Vorstellung von biblischen Ereignissen und die imaginäre Teilnahme daran werden Emotionen ausgelöst und Wünsche wach. Ähnliche Prozesse werden auch bei der Lektüre von wahren oder erfundenen Geschichten, Erzählungen, Romanen sowie beim Hören von Hörbüchern und Sehen von Theaterspielen und Filmen ablaufen (Novitz 2004). Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass Ausübende der IK die Bibeltexte im Glauben betrachten, dass es sich um Gottes Wort handelt, welches auch für die betrachtende Person hier und jetzt Botschaften enthält, die sie mit Gottes Hilfe erkennen können. Die Bibeltexte weisen unterschiedlichste literarische Gattungen auf: historische Berichte, Erzählungen, Gleichnisse, Aufforderungen, Gebete etc. Entsprechend können auch die aus der IK resultierenden Überzeugungen sehr unterschiedlicher Art sein. Wenn angezielt ist, das eigene Leben in Ordnung zu bringen, geht es auch um Entscheidungen. Entscheidungen beruhen auf Überzeugungen darüber, wie man leben soll, was man tun soll, was wichtig und richtig ist, welcher Mensch man sein soll. Derartige Überzeugungen nenne ich moralische Überzeugungen. Ich werde mich hier auf moralische Überzeugungen beschränken und versuchen darzulegen, wie Imaginationen, Emotionen und Wünsche, wie sie während der IK auftreten, zu ihrer Bildung und Rechtfertigung beitragen können. Noël Carroll hat gegen eine Reihe von Einwänden dafür argumentiert, dass durch die Lektüre von Romanen in den Lesern moralisches Wissen erzeugt werden kann, vor allem begriffliches moralisches Wissen: „Literary fictions then can afford know-
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ledge of concepts, such as concepts of virtue, by stimulating the reader to an awareness, through reflective self-analysis, of the conditions, rules, and criteria for her application of said concepts“ (Carroll 2002: 14). Durch das Lesen eines Romans wie z. B. „Howards End“ von E. M. Forster würden verschiedene Charaktertypen zu Bewusstsein gebracht, für die Sympathie oder Antipathie erwache. So könnten Lesende auf ähnliche Weise zu begrifflichem Wissen gelangen wie Philosophierende, wenn sie Gedankenexperimente durchführen. Zu Überzeugungen dieser Art kann auch die IK führen, wenn die Begebenheiten des Lebens Jesu meditiert werden. Da treten Personen mit verschiedenen Tugenden und Lastern auf. Die meditierende Person betrachtet sie, malt sie sich in ihrer Vorstellung aus, schlüpft in sie hinein, zieht sie wieder aus, identifiziert sich mit den einen, distanziert sich von den anderen, sucht ihren eigenen Platz in der Erzählung. Dadurch erwachen Emotionen wie Bewunderung, Abscheu, Mitleid etc., und Wünsche und Überzeugungen können gebildet werden wie: Ein solcher Mensch sollte man sein; darin besteht wahre Nächstenliebe; so zu leben ist besser; auch ich sollte so handeln wie X. Wie können Imaginationen zur Bildung und Rechtfertigung derartiger Überzeugungen führen? Um die kognitive Rolle der Imagination besser zu verstehen, stütze ich mich auf eine Arbeit von Alvin Goldman (Goldman 2006). Er fragt, welche kognitiven Prozesse ablaufen, wenn Menschen Romane lesen und Filme oder Theaterstücke sehen. Er unterscheidet zwei Arten von Vorstellung: supposition-imagination, die rein begrifflich ist und darin besteht, einen Sachverhalt anzunehmen, und enactment-imagination, die darin besteht, durch das Vermögen der Vorstellung im eigenen Bewusstsein einen bestimmten mentalen Zustand hervorzubringen. Dabei denkt er an sinnliche Formen der Vorstellung, durch die wahrnehmungsähnliche Zustände erzeugt werden wie etwa Zustände, die dem Sehen und Hören ähnlich sind, aber auch handlungsorientierte repräsentationale Zustände, freilich ohne die Absicht, diese Handlungen auszuführen. Ferner weist Goldman darauf hin, dass derartige Vorstellungen willentlich, aber auch nichtwillentlich hervorgebracht werden können (Goldman 2006: 47). Er argumentiert dafür, dass enactment-imagination (kurz: E-imagination) auch beteiligt ist, wenn sich jemand in die Charaktere einer Geschichte einfühlt, sich mit ihnen identifiziert, in ihren Schuhen geht. Man simuliert die Charaktere einer Geschichte. Goldman zeigt mit Hilfe von Beispielen aus Verhaltensstudien und kognitiver Neurowissenschaft, dass diese durch Vorstellung generierten Zustände tatsächlich den Zuständen echter Wahrnehmungen und Repräsentationen echter Handlungsausführungen gleichen. Damit erklärt er, warum sie ähnliche emotionale Reaktionen und Handlungsbereitschaften auslösen wie echte Wahrnehmungen. „The reason why imagining the episode and really experiencing the episode trigger the same psychological mechanisms (which in turn yield the af-
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fective responses) is that the real experience and the E-imagining of it (when accurate) are intrinsically pretty similar. With their neural similarities, the imagining state is wired into many of the same neural circuits as the state that would occur if the episode were real“ (Goldman 2006: 48). Besonders häufig werden in der Literatur Überzeugungen über die mentalen Zustände anderer Personen untersucht, z. B. Susis Überzeugung, dass Tante Paula zornig ist (Shanton & Goldman 2010). Wie sind derartige Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt? Vertreter der sogenannten Theorietheorie nehmen an, dass jede und jeder von uns eine alltagspsychologische Theorie hat. Zu dieser Theorie gehört die Überzeugung, dass Menschen sich in der Regel so und so fühlen, wenn sie sich so und so verhalten oder sich in einer bestimmten Situation befinden. Aufgrund dieser Überzeugung plus der Beobachtung oder Beschreibung des Verhaltens einer Person gelangen wir zu Überzeugungen über den mentalen Zustand dieser Person. Wir ziehen also Schlüsse aus gesetzesmäßigen Verallgemeinerungen und Beobachtungen oder Beschreibungen über die Verhaltensweisen der anderen. In dieser Theorie hat die Vorstellung keine kognitive Rolle, und die Rechtfertigung resultierender Überzeugungen ist rein inferenziell. Anders verhält es sich gemäß der sogenannten Simulationstheorie. Ihr zufolge bilden wir Überzeugungen über mentale Zustände anderer, indem wir uns in der Vorstellung in ihre Lage versetzen, auf diese Weise herausfinden, wie es für uns wäre, in der gleichen Lage zu sein, und dann einen Schluss von uns auf die andere Person ziehen. Shanton und Goldman schreiben: „A mentalizer simulates another person by first creating pretend states (e. g., pretend desires and beliefs) in her own mind that correspond to those of the target. She then inputs these pretend states into a suitable cognitive mechanism, which operates on the inputs and generates a new output (e. g., a decision). This new state is taken ‘off line’ and attributed or assigned to the target“ (Shanton & Goldman 2010: 527). Mit Hilfe der Vorstellung würden wir zweierlei in Erfahrung bringen: erstens, dass die andere Person in einem bestimmten Zustand ist, und zweitens, wie es sich anfühlt, in einer derartigen Situation zu sein. In der Simulationstheorie spielt Vorstellung eine wesentliche kognitive Rolle, und die Rechtfertigung der resultierenden Überzeugung geschieht, je nach Theorie, nur zum Teil oder gar nicht inferenziell. Manche Vertreter von Simulationstheorien nehmen an, dass es noch eines Schlusses von uns auf den anderen bedarf; andere hingegen verneinen dies (Gordon 1995). So könnten Menschen auch aufgrund der Imagination in einer IK zu Überzeugungen darüber gelangen, in welchen inneren Zuständen die beschriebenen Personen sind und wie es sich anfühlt, in solchen Zuständen zu sein. Meditiert jemand z. B., wie Maria und die anderen Frauen bei dem Kreuz Jesu standen, können durch Simulation die Überzeugungen gebildet und gerechtfertigt werden, dass Maria als Mutter sehr gelitten hat, dass Jesus in seiner Agonie große Schmerzen hatte etc.
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6 Emotionen Mit dem Stichwort „Anfühlen“ sind wir bei einem weiteren Element im Mechanismus der IK angekommen: die durch Imaginationen erwachenden Emotionen. Man empfindet etwa Bewunderung für den Charakter einer Person oder Abscheu, empfindet Trost beim Gedanken an ein Vorhaben oder Misstrost. Emotionen gehören mit Empfindungen und Stimmungen zu den affektiven Zuständen. Im Unterschied zu Empfindungen und Stimmungen haben Emotionen aber ein intentionales Objekt. Sie richten sich auf etwas. Man liebt etwas oder jemanden, man hasst etwas oder jemanden, man fürchtet sich vor etwas oder jemandem, man ekelt sich vor etwas, man schämt sich einer Sache, man bewundert jemanden. Ferner bestehen Emotionen aus mehreren Komponenten: aus der Bewertung einer Situation, aus einem charakteristischen Gefühlserlebnis, aus körperlichen Veränderungen und aus einer Verhaltenstendenz (Goller 2009). Wer sich z. B. vor etwas fürchtet, bewertet die Situation als bedrohlich, hat ein für Furcht charakteristisches, unangenehmes Gefühl, Körperveränderungen wie verstärktes Herzklopfen, Zittern usw. treten auf sowie die Verhaltenstendenz, davonzulaufen. Wie können Emotionen angemessene Gründe für Überzeugungen sein? Um diese Fragen zu beantworten, ist es nötig, näher auf die Deutung der ersten Emotionskomponente einzugehen: die Bewertung der Situation. Man könnte geneigt sein anzunehmen, diese Bewertung sei eine Überzeugung, welche die entsprechende Emotion auslöst, z. B.: Paula ist überzeugt, dass sie sich in einer gefährlichen Situation befindet. Diese Überzeugung löst dann die Furcht und alles weitere aus. Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass die kognitive Bewertung der Situation nicht eine Überzeugung sein muss, welche der Emotion vorausgeht und diese auslöst, sondern ein anderer mentaler Zustand sein kann, welcher konstitutiver Teil der Emotion selbst ist. So zeigen bestimmte Phobien, dass sich Emotionen nicht nach Überzeugungen richten. Jemand kann Furcht vor Mäusen haben, obwohl er überzeugt ist, dass Mäuse völlig harmlos sind. Derartige Erlebnisse stützen die Annahme, dass Emotionen eigenständige Bewertungen sind, die nicht auf Überzeugungen beruhen (Niederbacher 2012: 125). Emotionen präsentieren uns Situationen unter einer wertenden Beschreibung. Im Zustand der Furcht erscheint uns eine Situation als gefährlich, durch die Emotion der Bewunderung erscheint uns eine Person als bewundernswert, durch die Emotion des Mitleids erscheint uns eine Person als bemitleidenswert. Dieser mentale Zustand des Erscheinens ist eine Art nichtsinnlicher Wahrnehmungszustand (Zagzebski 2012: 77; Roberts 2007; Roberts 2013). Wenn Emotionen uns Situationen auf wertende Weise präsentieren, so können sie prima facie angemessene Gründe für die Überzeugung sein, dass die Situation diesen Wert hat. Emotionen können
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angemessene Gründe für Wertüberzeugungen sein, so ähnlich wie visuelle oder auditorische Wahrnehmungen angemessene Gründe sein können für Überzeugungen darüber, was wir sehen oder hören. Durch die Angst erscheint mir eine Situation als gefährlich. Dieses Erscheinen kann als prima facie angemessener Grund für die Überzeugung fungieren, dass die Situation gefährlich ist, dass man sie meiden sollte. Durch die Bewunderung erscheint mir eine Person als bewundernswert. Dieses Erscheinen kann als prima facie angemessener Grund für die Überzeugung fungieren, dass diese Person bewundernswert ist, dass sie die richtigen Charakterzüge hat und man so leben sollte wie sie (Niederbacher 2017). Meditiert jemand z. B., wie Maria und die anderen Frauen bei dem Kreuz Jesu standen, so kann die Emotion der Bewunderung für diese Frauen aufkommen. Diese Bewunderung kann ein angemessener Grund sein und zumindest zur prima facie Rechtfertigung der Überzeugung beitragen, dass diese Frauen bewundernswert waren, dass ihr Tun und Zulassen angesichts des Todes Jesu richtig waren.
7 Wünsche Ein weiteres Element der IK sind schließlich Wünsche. Die betrachtende Person kann in der Betrachtung starke Wünsche erleben, z. B. sich für Menschen in Not einzusetzen, oder nicht mehr so hektisch und erfolgsorientiert zu leben wie bisher, sondern mehr im Augenblick usw. Wünsche haben intentionale Objekte. Wir wünschen uns, dass etwas der Fall ist, z. B. dass morgen die Sonne scheint, dass ich gesund werde, dass ich gerne besser wäre als ich bin. Kürzen wir die Inhalte von Wünschen wieder mit „p“ ab, und schreiben: Eine Person wünscht, dass p. Die für unsere Zwecke relevante Frage lautet nun wieder, wie sich Wünsche zur Bewertung von etwas verhalten. Zwei Möglichkeiten der Deutung sind schnell genannt: (1) Wünsche setzen immer Bewertungsüberzeugungen voraus. Wünsche sind Reaktionen auf Überzeugungen darüber, was unter irgendeiner Rücksicht wertvoll oder gut ist. (2) Wünsche sind Erfahrungen von Wert. Auf diesen Werterfahrungen können Wertüberzeugungen beruhen. Damit wird nicht behauptet, dass Wünsche überhaupt keine Überzeugungen voraussetzen oder nie auf Bewertungsüberzeugungen beruhen. Es wird lediglich behauptet, dass das Erfassen von Werten auch durch Wünsche erfolgen kann. Es gibt Gründe, welche die Deutung (2) vorteilhaft erscheinen lassen. So kann man den Wunsch haben, dass p, ohne zu glauben, dass es wertvoll ist, dass p; und
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umgekehrt kann man die Überzeugung haben, dass es wertvoll ist, dass p, ohne einen entsprechenden Wunsch zu spüren (Niederbacher 2012: 131– 136). Vertritt man die Deutung (2), so kann man die Frage, wie Wünsche angemessene Gründe für Überzeugungen sein können, folgendermaßen beantworten: Durch Wünsche erleben wir, dass etwas unter einer bestimmten Rücksicht wertvoll ist. Wünsche sind Werterfahrungen. Wünsche präsentieren uns Sachverhalte als gut oder schlecht. Wünsche ich, dass p, dann übt p eine bestimmte Anziehung auf mich aus. Es erscheint als etwas, das herbeigeführt bzw. vollzogen werden soll. Dieses Scheinen kann wiederum als ein der Wahrnehmung ähnlicher Bewusstseinszustand gedeutet werden, welcher ein angemessener Grund für die Überzeugung sein kann, dass p herbeigeführt werden soll (Oddie 2005; Tenenbaum 2007). Jemandes Erfahrung eines Wunsches kann also nicht nur seine Überzeugung rechtfertigen, dass er den entsprechenden Wunsch hat, sondern mehr: Der Wunsch kann ein prima facie angemessener Grund dafür sein, dass das Gewünschte wertvoll ist und dass eine Person es herbeiführen soll, wenn sie kann. Meditiert jemand z. B., wie Maria und die anderen Frauen bei dem Kreuz Jesu standen, so kann der Wunsch erwachen, auch so zu sein, wie die Frauen bei dem Kreuz, nicht vor schwierigen Situationen zu flüchten, sondern Menschen in ihrem Leiden beizustehen, die Ohnmacht mit ihnen auszuhalten usw. Dieser Wunsch kann ein angemessener Grund sein und zumindest zur prima facie Rechtfertigung der Überzeugung beitragen, dass es richtig ist, Menschen so im Sterben beizustehen.
8 Kritische Reflexion Ignatius war sich der Täuschungsanfälligkeit bei geistlichen Prozessen bewusst und formulierte eine Reihe von Regeln zur Unterscheidung, welchen geistlichen Erfahrungen man trauen kann und welchen nicht. Die Anwendung dieser Regeln setzt Erfahrung voraus. Daher ist die Begleitung durch erfahrene Personen und die Selbstreflexion für die verlässliche Anwendung dieser Methode unerlässlich. Wie gesagt, ist die Rechtfertigung von Überzeugungen, welche im Rahmen der IK gebildet werden, prima facie. Sie kann durch weitere auftauchende Gesichtspunkte außer Kraft gesetzt werden. In den Regeln zur Unterscheidung der Geister lenkt Ignatius die Aufmerksamkeit unter anderem auf die Dispositionen der Übenden (GÜ 314, 315 und 335). Wer aus Erfahrung weiß, dass er leicht emotional überreagiert oder häufig übertriebene Wünsche bildet, hat Gegengründe für seine Überzeugungen, die prima facie durch seine Emotionen oder Wünsche gestützt wurden. Umgekehrt können aber auch Emotionen oder Wünsche als Gegengründe auftreten. So könnte jemand die Gründe für und wider eine Handlung
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erwägen und zur Überzeugung kommen, dass es richtig ist, diese Handlung zu vollziehen. Würde sich aber längerfristig kein Trost, sondern eher Misstrost einstellen, so könnte diese emotionale Reaktion selbst ein Gegengrund für die „rational“ erworbene Überzeugung sein. Ignatius nimmt den ganzen Menschen ernst: die so genannten „rationalen“ Anteile, aber auch Imaginationen, Emotionen und Wünsche. Ich habe vorgelegt, wie man erkenntnistheoretisch verstehen kann, dass in unseren Imaginationen, Emotionen und Wünschen Klugheit steckt.
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Spiritual experience in Jean-Luc Marion’s phenomenology Spirituelle Erfahrung in Jean-Luc Marions Phänomenologie Zusammenfassung: Der Beitrag beschreibt die Methode der Phänomenologie Jean-Luc Marions im Kontext der Suche nach einem philosophischen Ansatz für das Phänomen der spirituellen Erfahrung. Phänomenologie der Gegebenheit wird als Möglichkeit des philosophischen Zugangs und Interpretation spiritueller Erfahrung vorgeschlagen. Die Phänomenologie kann die spirituelle Erfahrung nicht a priori ablehnen, aber nach dem gleichen Prinzip kann sie auch keine Erfahrung annehmen, ohne sie zuerst zu reduzieren – indem sie deren Voraussetzungen insgesamt in Klammern setzt. Die phänomenologische Methode Marions wird hier als charakteristisches Beispiel philosophischer spiritueller Übungen und der damit verbundenen Bekehrung verstanden. Philosophie als Bekehrung (spirituelle Übung als Methode) hängt von einer Bekehrung der Philosophie ab, in der es die gegebene Tatsache und nicht das transzendentale Subjekt ist, welche die Bedingungen der Möglichkeit des Phänomens bestimmt. Das Phänomen ist nicht mehr ein Objekt oder Sein, sondern ein „gesättigtes Phänomen“, während die Methode eher eine „Gegenmethode“ ohne jegliches a priori wird. So kann sich spirituelle Erfahrung nun als gegeben in ihrer Gabe zeigen. Schlüsselwörter: Neue Phänomenologie, Marion, Methode, phänomenologische Reduktion, Spirituelle Erfahrung Abstract: The article presents Jean-Luc Marion’s phenomenological method in the context of a philosophical approach to spiritual experience, and claims that Marion’s method offers a means for philosophy to acknowledge the very idea of spiritual experience, and to describe and interpret it. Phenomenology cannot a priori deny the possibility of a spiritual experience; equally, it cannot take it at face value without “reducing” it, without bracketing all the presuppositions associated with it. Marion’s phenomenological method is understood here as a distinctive example of philosophical spiritual exercises and the conversion they entail. Philosophy as conversion (spiritual exercise as a method) depends on a conversion of philosophy, in which it is the given reality which sets the phenomenon’s conditions of possibility rather than the transcendental subject. The phenomenon is no longer an object or a being, but a “saturated phehttps://doi.org/10.1515/9783110638066-009
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nomenon”; the method becomes, as it were, a “counter-method”, devoid of all a priori. Thus, spiritual experience can now show itself as given in its givenness, inviting its own distinctive form of interpretation. Keywords: new phenomenology, Marion, method, phenomenological reduction, spiritual experience
1 Introduction If philosophy in general, and phenomenology in particular, is about experience, it should have no problem describing and understanding spiritual experience. But to add the word “spiritual” to the word “experience” suggests that there is something very particular here. What makes this experience so different, that it has to be particularized and interpreted by the adjective “spiritual”? Perhaps that special quality somehow excludes “spiritual experience” from the sphere of “universal” or “common” experience, and thus from universal concepts of philosophy? How can we establish what a spiritual experience actually is, how it differs from experience as such and whether it is universally accessible? The answer to these questions from a phenomenological point of view requires some preliminary clarifications. On the one hand, phenomenology is not concerned simply with experience, but with reduced experience. Otherwise, it would be some version of logical positivism, dealing with “states of facts”. In this sense any version of phenomenology implies that adjectives have been applied to the notion of “experience”, adjectives concerned with experience’s absolute and true dimension and significance, separated from mere appearance, ideology, presumption, misinterpretation, etc. The method of reduction entailed in phenomenology means that phenomenology cannot a priori reject a “spiritual” experience, or any given experience for that matter. However, by the same principle, it cannot assume any experience, without reducing it – taking all presumptions of it into brackets in search of its own and true meaning. Phenomenology may, therefore, prove in fact to be the best philosophical approach for describing and understanding spiritual experience – as we will try to show with the example of Jean-Luc Marion’s phenomenology, particularly in the context of the question of its method. Especially since, as we will try to present below, it itself contains an element which is usually associated with spiritual experience: spiritual exercises (asceticism) and conversion.
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2 The conversion of philosophy The development of philosophy understood as a “purely abstract-theoretical activity” (in particular in its transcendental form) leads ultimately, according to Marion (2002a: 1), to its downgrading or being abandoned in favour of science and technology. In this situation, philosophy then plays only a supporting role – investigating, for example, the correct use of language. Here science and technology themselves are understood as related with metaphysics, which puts beings (Seiende) in permanent presence, as an object under the control of the subject. From the perspective of such metaphysics, the spiritual experience would be reduced solely to its biological, neurological or psychological substrate. The problem of compatibility of this scientific third-person perspective description with the first-person perspective of lived experience and its meaning would be thought as only temporary lack of science advancement (if one would even take the irreducibility of the first-person perspective into account). But for phenomenology this division of the subjective and the objective as such is questionable. Primarily because it stems from transcendentalism, where the subject with its a priori categories constitutes the object of experience. It is often misunderstood that phenomenology would like to emphasise the first-person perspective, the subjective side of the experience, whereas in fact it is rather the search for the truth of experience as such, the “things themselves” that is in its focus. Therefore in De surcroît Marion first shows why it is not possible to return to philosophy as metaphysics, and then why phenomenology, a “new beginning”, offers a way of thinking that “overcomes metaphysics” (Heidegger 2000: 67– 99; Marion 2002a: 14). The concepts of cause and substance, previously the raison d’être central to metaphysics, can no longer ground philosophy. But their replacement by noetic terms in the period from Descartes to Kant led only to further aporiai: those inherent in all transcendental philosophy. It is only with the birth of phenomenology, for Marion (2002a: 13), that one can avoid the metaphysical aporiai of substance, cause, and subjectivity (transcendentalism), without capitulating to the natural sciences. This understanding of phenomenology marks in some sense philosophy’s own conversion, a rebirth through a return to “otherwise than” metaphysical sources. And its method is distinctive: something which could be called a “spiritual exercise”. The practice of philosophy as a spiritual exercise and not simply as a theoretical undertaking is not something new, however problematic it may be for the contemporary mentality. According to Peter Sloterdijk (2009, 2012), the simple division of activity into theoretical and practical, vita contemplativa and vita activa, does not do justice to their particular unity in a broader perspective of “the
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life of practice”. Pierre Hadot points out that ancient philosophy should be interpreted primarily as offering spiritual exercises – “a method for training people to live and to look at the world in a new way. It is an attempt to transform mankind” rather than the “purely abstract-theoretical activity” philosophy has tended to be since the beginning of modernity (Hadot 1995: 107). A historical perspective may help us see what is at stake here. The ancient philosophical practice of different kinds of spiritual exercises of thought and will (“asceticism”, a term originally denoting athletes’ exercises) was taken up by early Christianity. Here, reflection on Christian revelation was often understood as the practice of “true” philosophy, and the monks considered themselves “the athletes of Christ”. It was in the Middle Ages that distinctions began to be made between theology and philosophy. In modernity, philosophy secularized, and the connections with asceticism seem to be lost. It is therefore evident, that philosophy can use spiritual exercises as its legitimate method as we will see is the case nowadays in phenomenology. One more important concept needs to be added: “conversion”. For Hadot, the concept is marked by a conflict: The Latin word conversio in fact corresponds to two Greek words with different meanings: on the one hand epistrophe, which means a change of orientation and implies the idea of a return (return to the origin, return to the self), on the other hand metanoia, which signifies a change of thinking, repentance, and which implies the idea of a mutation and of a rebirth. Thus, in the notion of conversion, there is an internal opposition between the ideas of “returning to the origins” and “rebirth” (Hadot 1968: 979 my translation).
In the phenomenological tradition, however, the ideas of “returning to the sources” and “change of thinking” are not in opposition, but interdependent. The exercise of “return to the things themselves” itself depends on a preceding “rebirth” of philosophy – a change in its manner of thinking and selfunderstanding. Philosophy as a conversion (what happens when spiritual exercise is the philosophical method) depends on an earlier conversion of philosophy. Together they give access to phenomena – such as spiritual experience – previously written off as irrational or reduced to alien to them horizons of interpretation.
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3 Philosophy as conversion – principle and method 3.1 “As much reduction, as much givenness” For Marion getting beyond metaphysics is connected with the basic intuition behind Husserl’s phenomenology: the principle of givenness, which is an absolute in the etymological sense, and needs no qualification: “Überall ist die Gegebenheit, mag sich in ihr bloß Vorgestelltes oder wahrhaft Seiendes, Reales oder Ideales, Mögliches oder Unmögliches bekunden, […] und ü b e r a l l i s t i n d e r We s e n s b e t r a c h t u n g d i e s e r z u n ä c h s t s o w u n d e r b a r e n K o r r e l a t i o n n a c h z u g e h e n ” (Husserl 1973: 74). The primacy of the principle of givenness is further confirmed, says Marion (Marion 2015), by another key text of Husserl, “the principle of all principles”: “daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt […]” (Husserl 1976: 51). In his analysis of phenomenon in its givenness (Gegebenheit) Marion also refers to Heidegger’s definition of the phenomenon: “das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare” (Heidegger 1967: 28). For Marion this idea of a phenomenon which gives itself without any other conditions of possibility enables us to get beyond the transcendentalism which bedevils other philosophy. Instead of traditional intentionality, we are dealing here with “counter-intentionality”, where the “subject” has to make an effort to see the phenomenon in its own givenness. Instead of constituting it, he is himself constituted by it as a “witness” (Marion 2002b: 175). In Marion’s view (2016: 19), we reach the givenness (the task of phenomenology) through a process of phenomenological reduction, leading to what is irreducible. However, there has been divergence on the notion of what is irreducible in the history of phenomenology. Husserl developed the notion, and Heidegger radicalized it. According to Marion (1989: 304 – 305), the historically first “transcendental” reduction reaches irreducible subject that constitutes objects and therefore excludes everything that is not an object. The second “existential” or “ontological” reduction reaches irreducible “being” (Sein) and excludes what cannot be reduced to the horizon of being. However, if it is givenness that is absolute, then reduction must be whatever responds to givenness. Hence Marion’s pithy formulation in Being given: “As much reduction, as much givenness” (Marion 2002b: 14).
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3.2 Phenomenology’s counter-method Whereas the methods of metaphysics aim at guaranteeing certainty and clarity regarding an object through an analysis of a priori conditions, phenomenology adopts a “counter-method”: “The initial and final paradox of phenomenology stems precisely from this: that it takes the initiative in losing it” (Marion 2002b: 9). The phenomenological reduction is an effort to hear and respond adequately to the call from within the givenness itself. Thus a phenomenologist seeks not to disturb, or – borrowing Heidegger’s (1989) formulation, to endure (in the sense of “reservedness” – “verhaltenheit”) – the event of the phenomenon. The principle of “back to the things themselves” thus necessarily involves a struggle to discount what is not the “thing itself”, although it may appear as such. Reduction “leads the visible toward givenness; it leads scattered, potential, confused, and uncertain visibles (mere appearances, outlines, impressions, vague intuitions, supposed facts, opinions, ‘absurd theories’ etc.) to givenness, according to which it assesses their degree of phenomenality” (Marion 2002b: 15). A reduction can never in fact be fully achieved; however well it is carried out, there will always be an excess of givenness (Marion 2002b: 60). One cannot presuppose a priori the way (method) in which the phenomenon will be given, but must discover it from the givenness itself. Each time a reduction strives to see the unique and unpredictable, “there is no givenness that does not pass through the filter of a reduction; there is no reduction that does not work toward a givenness” (Marion 2002b: 16). Thus, a phenomenon which gives itself may deploy its full meaning and appearance if one finds the right point of view. Marion calls this requirement of phenomenalization by drawing an analogy with a device in painting “anamorphosis” (Marion 2002b: 119). In the case of spiritual experience, there is a danger both of adding something to the givenness (“supposed facts”), and, conversely, of subtracting something from it – for example, by denying its rationality or possibility of its description. To achieve such approach to the given, the concept and the institution of “subject” must be altered. Husserl spoke about the transcendental I, while Heidegger spoke about Dasein. Marion, on the other hand – just as he radicalizes the reduction to givenness – now radicalizes the reduction of the “operator” of reduction, and speaks of “the gifted” as the one “who comes after the subject” (Marion 2002b: 4). He can and must “come after” because he no longer has any transcendental role. The gifted receives himself together with the given (le donné) – as one who “receives himself from what he receives” (Marion 2002b: 262). The gifted is the place of the given’s appearance, its “screen”. The question here is not just about the passivity of the empirical I relative to the activity of the transcendental I, but rather about getting beyond this metaphysical dichotomy with-
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in the subject. Thus the gifted is, paradoxically, both active (he phenomenalizes the phenomenon …) and passive (… by receiving it, see Marion 2002a: 41– 49).
3.3 Phenomenalization as resistance and interpretation Marion describes this active passivity (or passive activity) also as a structure of call and response. The response to the call of givenness is its phenomenalization. Moreover, this response is already the result of noticing, accepting and withstanding the very call that has affected me personally. Therefore that which, from what is given, shows itself does so according to the degree of what the gifted can bear – according to his resistance (Marion 2016: 89). As with Heidegger’s “resoluteness” (Entschlossenheit), this is not simply a theoretical matter, although the truth is at stake. Access to spiritual experience depends on the gifted. When spiritual experience is lacking, this can be due to a failure to conduct the reduction, an insufficient response to the call of givenness (closing one’s eyes to the experience or misinterpreting it). In this case the subject attains only to the aspectual visibility of the phenomena. We find only “poor” and “common” phenomena (Marion 2002b: 221– 225). Otherwise, the excess of givenness is accepted. In Kantian terms, there is an excess of intuition over the gifted person’s concepts (their intentionality and interpretations). This is what we refer to as “saturated phenomena” (Marion 2002b: 225 – 234). Moreover, “it belongs essentially to what gives itself to show itself” (Marion 2002b: 69), and everything that shows itself must be given. But not everything that is given necessarily shows itself. Thus, again because of the limitations of the gifted, some phenomena initiate a “phenomenology of the unapparent” (Marion 2002a: 109). Above, common and saturated phenomena were characterized in terms of the relation between intuition and concept. But there is another way of characterizing the distinction as well: “when givenness no longer gives an object or a being, but rather a pure given, it is no longer carried out by intuition; or rather, the alternative between a shortage and a saturation of intuition becomes undecidable” (Marion 2002b: 245). Examples of such saturated phenomena, i. e. paradoxes, are the event of birth, or the phenomenon of the Other’s face: “What I see of them, if I see anything of them that is, does not result from the constitution I would assign to them in the visible, but from the effect they produce on me. […] Hence the para-dox, inverted doxa” (Marion 2002a: 113). It is important that saturated phenomena – and it is under this heading that spiritual experience would fall – are not some “exception” to phenomenality – Marion even speaks of their “banality” (Marion 2008: 119). All things are essen-
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tially “saturated phenomena”. It is due to the demands of practical life that we are most commonly in contact with them as “common” phenomena, where – as for example in the case of traffic lights – their excess of intuition disappears “to the point that it becomes insignificant, pointless, and even dangerous to concentrate one’s attention on the exact form of the colored spots, their intensity, or their nuances” (Marion 2008: 127). A given thing can thus be seen as a common or a saturated phenomenon depending on the current orientation of the “subject”. The subject may be oriented to “seeing” what is in front of it (Vorhandensein), or to its use (Zuhandenheit), or finally to contemplating and accepting the event of the given (saturated phenomena). It is this last which would apply to a spiritual experience. It is in this context that we might adduce William James’s claim that religious experiences are simply “special cases of kinds of human experience of much wider scope. Religious melancholy, whatever peculiarities it may have qua religious, is at any rate melancholy. Religious happiness is happiness. Religious trance is trance” (James 2002: 24). Given that saturated phenomena are “banal”, one and the same experience can appear and be interpreted differently depending on what the “subject” can “bear” and on the point of view he takes (anamorphosis). It follows that any experience could, in principle, be interpreted as “spiritual”. Spiritual experience is an experience tout court. But on the other hand – since we should not apply any universal horizons of interpretations and try to see the given experience in its uniqueness and singularity – it could be misleading to say, that spiritual experience is simply experience as such, because one would have first to clarify, what the experience itself actually means. What matters is to find the description and the point of view imposed by the matter itself – even if there are many interpretational horizons (scientific, religious etc.). A priori reductionisms of whatever kind are to be avoided. But one can ask: is phenomenology – marked by a reduction to the phenomenon’s unconditional and unique givenness – compatible with the interpretation of this phenomenon, with hermeneutics? Though the givenness is absolute, it does not identify itself with the gift. The access to the phenomenon’s givenness demands an effort of reduction, which is also an effort of interpretation. Thus reduction, far from excluding hermeneutics, positively demands it. Though with common phenomena interpretation may seem superfluous, saturated phenomena, involving an excess of intuition, as such set in motion endless processes of hermeneutics, processes never fully contained within our concepts. Hermeneutics is thus part of the response to the call, part of the phenomenon’s phenomenalization: “Hermeneutics manages the gap between what is given and what shows itself by interpreting a call (or, often, intuition) through an answer (concept or meaning)” (Marion 2016: 89 my translation). Hermeneutics is thus a
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rejection of all ideological interpretations, and it would be the role of interpretation as part of phenomenological reduction to see if and how given phenomena show itself as “spiritual”.
4 The third order of truth If philosophy’s method is understood in terms of spiritual exercises it then becomes possible to take seriously phenomena that otherwise appear irrational, and in particular the phenomenon of love: “[…] broaching what ethics cannot attain: the individuation of the Other. […] This individuation has a name: love. But we have for a long time now been without the concept that would do it justice, and this name remains the most prostituted of words. Could the phenomenology of givenness finally restore to it the dignity of a concept?” (Marion 2002b: 324). In turn, love and its truth may turn out to be – following the anamorphosis principle – the appropriate point of observation and description of the spiritual experience. Marion’s In the Self’s Place evokes St. Augustine, for whom seeing (knowing the truth) was dependent on love: “Pascal limits the epistemological condition of charity solely to ‘divine things’ in opposition to ‘human things’ […]. In contrast, Saint Augustine’s text suggests that every truth and the whole truth depends on love as an epistemological condition” (Marion 2012: 134). In phenomenology, cognition depends on a reduction which Marion here calls “erotic”. The “erotic phenomenon” and “erotic reduction” imply a univocal concept of “love”, more fundamental than the different kinds of love, especially polarities such as eros – agape. Erotic reduction leads to “erotic truth”, a third order of truth, distinct from the other two degrees: the classic correspondence between things and the intellect, and Heidegger’s openness of things (entdeckend-sein as preliminary condition of possibility for truth as adaequatio). For Marion this third order of truth is ultimate and primordial: it is concerned not with getting facts right, or uncovering the reality of things, but rather the truth about myself: […] a third figure comes up here, precisely in a possibility heretofore ignored or rather denied – one in which I would not decide the truth […] but in which I must myself make up my mind, deciding myself, as it were, in relation to it. I must do so because without such a decision (refusal or acceptance), no manifestation will appear to me. […] love and hate thereby assuming a resolutely epistemic (indeed phenomenological) function, that of making visible and therefore intelligible the manifestation of a phenomenon. That is, when the thing (no matter what thing) manifests itself in an evidential excess (of whatever type of excess might be at issue), its truth can make itself (seen, unveiled) only as long as I myself can gaze on it—which means keep it under my eyes, endure it, and bear it. […] Truth can
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give itself only by doing the truth, even and especially upon me, who receives it. […] Only love gives the resistance sufficient for receiving the blow of truth in its inevitable shock. So is sketched, following Saint Augustine, the erotic figure of truth (Marion 2012: 131– 132).
Truth is first and foremost the truth about myself. Its setting is that of love, engaging me in my particular and inalienable individuality. The Other, given (in the radical sense) through the erotic phenomenon, enables the individuation, enables him or her to appropriate what is distinctively their own. There is here a sense of individual identity as given, far removed from the solipsism of the transcendental ego. Love here becomes a requirement for true knowledge – both as anamorphosis and as the resistance of the gifted to the event of truth (about myself in context of the crucial question of love). Love opens up access to the Other, and then – and only then – the Other in return gives me a place of my own, and the truth about myself. Love is “the impossibility of impossibility” of loving and being loved – As a transformation, or the “most advanced development and, perhaps, its completion” (Marion 2002b: 323) of phenomenology and the saturated phenomenon. It is a sort of “facticity” – not so much referring me to “authenticity” (and therefore to myself), as rather by definition beyond me. I cannot escape the truth of love, which gives me to myself by the other and without the assurance of metaphysics – both amor sui and causa sui are excluded by “erotic reduction” but the call of love and necessity of answer is irreducible.
5 Conclusion Thus we can answer the questions posed in the introduction. How can we establish what a spiritual experience actually is? By applying the method of reduction, in which one can find that experience of some specific phenomena – or every phenomena in contemplative approach – is best described and interpreted as “spiritual”. It may be that experience of such phenomena doesn’t differ from experience as such, but it is rather another mode of experiencing the same things. And this capacity of seeing things in a different light – imposed by the things themselves – is the possibility of accessibility (anamorphosis) and rationality (hermeneutics) of these experiences. Jean-Luc Marion’s phenomenology is also showing that ultimately the horizon of interpretation of the saturated phenomena is that of the phenomenon of love, described as the “erotic phenomenon”. Thus erotic reduction maintains the dynamics of cognition at other levels. We move from the presented gift to a sense of its givenness; which is accessible only if the transcendental subject becomes “gifted” by the gift, and thus in a sense receive himself as the gift. But erotic reduction also radicalizes these pro-
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cesses. We might speak of an ultimate hermeneutical horizon of “intergivenness” – I receive myself from the other. And this horizon applies also to spiritual experience, that is not primarily about an object that we see, but about ourselves (and the sense of ourselves comes from the other in love). Through it we are generally led to some change or decision as regards the sense and meaning of who we are (see Frankl 2000). Such experiences seem to operate primarily within the “third order of truth” as spiritual experience and spiritual exercises.
Literatur Frankl VE (2000) Man’s search for ultimate meaning. New York: MJF Books. Hadot P (1968) Conversion. In: Encyclopaedia Universalis. Paris: Encyclopædia Britannica. 979 – 981. Hadot P (1995) Philosophy as a way of life. Spiritual exercises from Socrates to Foucault. Oxford: Blackwell. Heidegger M (1967) Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer. Heidegger M (1989) Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Heidegger M (2000) Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Husserl E (1973) Die Idee der Phänomenologie. Haag: Martinus Nijhoff. Husserl E (1976) Ideen zu Einer Reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. Haag: Nijhoff. James W (2002) Varieties of religious experience: A study in human nature. London: Routledge. Marion J-L (1989) Réduction et donation: recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie. Paris: PUF. Marion J-L (2002a) In excess: studies of saturated phenomena. Horner R, Berraud V, translators. New York: Fordham University Press. Marion J-L (2002b) Being given: toward a phenomenology of givenness. Kosky JL, translator. Stanford: Stanford University Press. Marion J-L (2008) The visivle and the revealed. Gschwandtner CM, translator. New York: Fordham University Press. Marion J-L (2012) In the Self’s place: the approach of Saint Augustine. Kosky JL, translator. Stanford: Stanford University Press. Marion J-L (2015) Figures de phénoménologie: Husserl, Heidegger, Levinas, Henry, Derrida. Paris: Vrin. Marion J-L (2016) Reprise du donné. Paris: PUF. Sloterdijk P (2009) Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sloterdijk P (2012) The art of philosophy: wisdom as a practice. Margolis K, translator. New York: Columbia University Press.
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Spirituelle Erfahrung Charakteristika und Bezüge zur Alltagserfahrung Spiritual experience Characteristics and relations to everyday experience Zusammenfassung: Der Begriff „Spirituelle Erfahrung“ besteht aus zwei Worten, die je eine sehr große Bedeutungsbreite haben. Nach einer Begriffsdifferenzierung zeigt der Beitrag anhand verschiedener Zugänge (philosophisch-phänomenologisch, historisch, religionsvergleichend) Charakteristika spiritueller Erfahrungen auf. Insofern die spirituelle Erfahrung zentrales Konstitutivum der spirituellen Suche der Gegenwart ist, wird von ihren Merkmalen aus nach Konsequenzen für den Spiritualitätsbegriff gefragt. Ein Augenmerk liegt auf Zusammenhängen von außergewöhnlichen spirituellen Erfahrungen und Alltagserfahrungen. Schlüsselwörter: Charakteristika spiritueller Erfahrung, religiöse Erfahrung, Alltagserfahrung, Spiritualitätskritik, Mystik der Kindheit Abstract: The concept of “spiritual experience” consists of two words, each of which have their own broad spectrum of meaning. After differentiating some of the relevant concepts, this article demonstrates certain characteristics of spiritual experience by means of various approaches (philosophical-phenomenological, historical, comparative). Inasmuch as spiritual experience is central to a present spiritual quest, the characteristics of this experience are used to examine the concept of spirituality. Particular attention is focused on the relation between exceptional spiritual and everday experiences. Key words: Characteristics of spiritual experience; religious experience; everyday experience; criticism of spirituality; mysticism of childhood Über den Begriff „Spiritualität“ wird im Kontext Spiritual Care oft und vielfältig reflektiert. Ich wähle den Zugang über den Begriff der „Erfahrung“.
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1 Was „Erfahrung“ meinen kann Aus dem breiten Feld dieses komplexen Phänomens möchte ich wenige Facetten aufgreifen. „Erfahrung ist der komplexe Modus der Genese menschlicher Einsichten“ (Mieth 1992) sowie der Genese und Formung seines Verhaltens und Fühlens. Ihr Resultat ist ein Können bzw. Wissen. Diese ganzheitliche Formung des Menschen durch Erfahrung hat Michel Foucault gebündelt in der Aussage: Erfahrung ist das, woraus ich verändert hervorgehe. Zentral ist die Begegnung mit Wirklichkeit. Dies umfasst immer den Aspekt des „Anderen“ meiner selbst und des „Nichtmachbaren“, der Unverfügbarkeit: Was mir begegnet und geschieht, reicht über meinen Verfügungs-, Vorstellungsund Gestaltungsradius hinaus. Sprachgeschichtlich meinte das deutsche Wort „erfahren“ soviel wie „durchreisen; im Gehen erreichen, erlangen“ (Haeffner 2003: 165). Das Partizip „erfahren“ ist seit dem 15. Jahrhundert bezeugt, im Sinne von „bewandert, klug“ (Kluge 1989: 185). Persönliche Entwicklung geschieht auf den Wegen von Erfahrung, im komplexen Modus des Zusammenspiels der vielfältigen Möglichkeiten/Potenziale eines Individuums und dessen, was ihm begegnet. Es zeigt sich ein Doppelcharakter von Erfahrung als Ereignis und als Prozess. Es gibt Erfahrenheit, die zustande kommt als Ergebnis eines Durchlaufens vielfältiger Möglichkeiten eines bestimmten Könnens. Es gibt aber auch Erfahrung als Einzelheit, als concretissimum, als singuläres „Widerfahrnis“ (Vgl. Mieth 1992: 3). Erfahrungen bringen ein Transzendieren des Ist-Zustandes und sind zugleich zutiefst gebunden an das Konkrete: die jeweilige bio-psycho-sozial-spirituelle Konkretheit der Person und der Situation. Wegen des Charakters der persönlichen Entwicklung können Erfahrungen nicht wie Wissen weitergegeben; es braucht das eigene Erfahren. Weitergeben lassen sich Formen geronnener Erfahrung (Regeln, Rituale, Lebensformen, Anleitungen …). Zu „Erfahrung“ gehört konstitutiv, was Thomas Luckmann als die „kleinen“ und die „mittleren Transzendenzen“ des Alltags beschreibt, in Unterscheidung von den „großen“ Transzendenzen (Luckmann 1996: 20): Schon in der alltäglichen Einstellung wird die Welt als eine Wirklichkeit erfahren, zu der wir gehören, mit der wir aber nicht eins sind. Die Unterscheidung von ich-bezogenen und ichüberschreitenden Erfahrungen, die stillschweigend hingenommen wird, liegt dem Wissen um die Transzendenz der Welt zugrunde. Jede jeweils gegenwärtige Erfahrung hat einen vergegenwärtigten Kern und einen Horizont von gegenwärtig Nicht-Erfahrenem: Der Erfahrungskern verweist automatisch auf Noch-Nicht und Nicht-Mehr-Erfahrenes. Diesem Umstand entstammt die ursprüngliche und allgemeine „Miterfahrung“ von Transzendenz. Darauf beruhen verschiedene Stufen der eigentlichen Transzendenzerfahrung, und zwar je nachdem, wie sich das Nicht-Erfahrene zum Erfahrenen verhält. Wenn das in der gegen-
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wärtigen Erfahrung angezeigte Nicht-Erfahrene grundsätzlich ebenso erfahrbar ist wie das gegenwärtig Erfahrene, spreche ich von ‚kleinen‘ Transzendenzen, den raum-zeitlichen Abwesenheiten innerhalb des Alltäglichen.Wenn jedoch etwas als anwesend – und zwar als im gemeinsamen Alltag anwesend – und zugleich abwesend, als ein Anderes erfahren wird, will ich von ‚mittleren‘ Transzendenzen sprechen. Wenn schließlich etwas überhaupt nur als Verweis auf eine in jeder Hinsicht andere, und als solche überhaupt nicht erfahrbare Wirklichkeit erfasst wird, als eine wesensmäßige Abwesenheit, spreche ich von ‚großen‘ Transzendenzen.
Ich beziehe diese philosophische Reflexion des Religionssoziologen insofern ein, als sie eine strukturelle Zusammengehörigkeit von Alltagserfahrung und anderen Transzendenzerfahrungen zeigt (zur Unterscheidung von „horizontalen“ und „vertikalen Transzendenzen“ in der Gegenwart s. Bohlen in diesem Band). Ein Anliegen dieses Beitrages ist es auch, auf Strukturgleichheiten zu achten und nachzudenken, wie spirituelle Erfahrungen (auch Nahtoderfahrungen möchte ich dazu rechnen, ohne darauf eingehen zu können) Erschließungsfunktion haben, Tore sind für eine tiefere Wirklichkeitswahrnehmung.
2 „Spirituelle Erfahrungen“: eine erste Annäherung durch eine historische Verortung Der Blick in die Geschichte zeigt, dass die Rede von „spirituellen Erfahrungen“ zumeist mit außergewöhnlichen, besonderen Erfahrungen „großer“ Persönlichkeiten, Heiliger assoziiert wird bzw. mit besonderen Erfahrungen, die Menschen zu großen spirituellen Persönlichkeiten werden ließen, also Wendecharakter in ihrem Leben hatten, wie z. B. bei den biblischen Prophetenberufungen, bei der Berufung des Paulus, bei Franziskus von Assisi, Teresa von Avila oder Ignatius von Loyola. Sie schenken ihnen eine Unabhängigkeit von äußeren Autoritäten. So formulierte etwa Ignatius von Loyola nach seiner Erfahrung bei Manresa: „Wenn es nicht die Heilige Schrift gäbe, die uns diese Dinge des Glaubens lehrt, so wäre ich doch bereit, für sie zu sterben, allein aufgrund dessen, was ich geschaut habe“ (vgl. Theobald 2007). Die spirituelle Suche der Gegenwart zeigt, dass viele Menschen sich nach solchen Erfahrungen sehnen. Dies impliziert, dass man spirituelle Erfahrungen nicht nur einem kleinen Kreis „Auserwählter“ vorbehalten sieht, sondern einem jeden Menschen zugänglich. Es gilt das Augenmerk einer „Demokratisierung“ (Bendel-Maidl 2012). Die „Legitimations- und Kontrollinstanz für die Wahrheitsfrage wird grundsätzlich in das religiöse Erleben im Innenraum des Subjekts“ verlagert. Spirituelle Wanderer erfahren das Göttliche weit mehr, als dass sie
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daran glauben (Bochinger 2009: 147). Die Übernahme von individueller Verantwortung erfolgt auch in der Suche nach Rückbindung an die göttliche Tiefenstruktur des Lebens. Sehr vielfältig sind die Wege, auf denen nach spirituellen Erfahrungen gesucht wird (Engelbrecht 2009).
3 Zur begrifflichen Differenzierung Spirituelle Erfahrung – religiöse Erfahrung In der Literatur findet sich eine breite terminologische Vielfalt, wie z. B. spirituelle Erfahrung, religiöse Erfahrung, „Erfahrung des Heiligen“, Transzendenzerfahrung, mystische Erfahrung, Erleuchtungserfahrung, existenzielle Erfahrung, „Grenzerfahrung Gott“ (Renz 2004), x-Erfahrung (Erich Fromm). Der Begriff „spirituelle Erfahrung“ scheint eng verbunden mit der großen Bedeutungsbreite des Begriffs Spiritualität. Oft wird zwischen beiden Begriffen wenig differenziert, sondern sie werden wie Synonyme verwendet, auch in einigen Beiträgen dieses Bandes. Dies lässt den Rückschluss zu, dass Spiritualität als Begriff heute für viele den Erfahrungsbezug konnotiert, bei aller Weite, die ihm ansonsten anhängt; dies entspricht den Ergebnissen religionssoziologischer Forschung (Bochinger et al. 2009; Knoblauch 2009). „Religiöse Erfahrung“ markiert hingegen stärker ihren Kontextbezug: Erfahrung, egal welcher Art, ist nicht losgelöst vom kulturellen und religiösen Kontext, d. h. verbunden mit konkreten Religionen, auch in der Form des religiösen Synkretismus, wie er sich individuell und gesellschaftlich findet; sie sind auch noch eingeschrieben in die Negativform der Distanzierung von konkreten religiösen Formen und Institutionen. Haeffner unterscheidet die Rede von „religiöser Erfahrung“ aus der externen Perspektive der Religionstheorie, wahrscheinlich prägend durch William James mit seinem Werk „The varieties of religious experience“ (1901/02) mit dem deutschen Titel „Die Vielfalt religiöser Erfahrungen“ (1907/2014), von der religionsimmanenten Rede, die oft nicht diesen Begriff verwendet, sondern von „Gottes Nähe“ oder „brannte nicht unser Herz“ o. ä. spricht (Haeffner 2003: 183 – 187). Wie heterogen die Termini verwendet werden, zeigt die Studie von Esterbauer (2002: 189 – 250); er spricht von „religiöser Erfahrung“ nur, wenn es um Erfahrungen innerhalb des Rahmens von verfasster Religion geht. „Erfahrung des Heiligen“ ist für ihn Erfahrung, die auf diesen Rahmen nicht angewiesen sei und besonders der Gegenwartssituation in westlichen Kulturen entspreche. Im Diskurs von Spiritual Care erhielt der Begriff des Heiligen durch Kenneth I. Pargament Bedeutung: „searching for the sacred“ sei charakteristisch für Spiritualität (Par-
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gament 2013a). Er ermutigte dazu, Patient/-innen nach den „Zielen, die dem Menschen heilig sind“ (Übersetzung E. Frick), zu fragen (Pargament 2013b). Als Fazit ist festzuhalten, dass es keine einheitliche Terminologie gibt. Es findet sich auch der Begriff „religiöse Erfahrung“ (z. B. Haeffner, Mieth) in einer Weise, die „religiös“ nicht auf institutionalisierte Religion noch gar auf theistische Religionen einengt. Zu achten ist daher unabhängig von den Begriffen auf die Akzente, die jeweils gesetzt werden. Der Begriff „Spirituelle Erfahrung“ ist in der Gegenwart breit anschlussfähig, kann auch das Religionen Übergreifende markieren. Zugleich ist er besonders geeignet, um spirituelle Erfahrung im Alltag zu verankern, im weitesten Sinn verstanden als all diejenigen Erfahrungen, die mich atmen (lat. spirare) lassen.
4 Phänomenologische Zugänge Zentrale Charakteristika einer „Erfahrung des Heiligen“ In der inhaltlichen Beschreibung gibt es wichtige Basisfragen: 1. Ist die „spirituelle Erfahrung“ eine qualitativ neutrale Erfahrung, die dann religiös oder spirituell gedeutet wird? Kommt also das Religiöse/Spirituelle als Interpretament dazu? Oder: 2. Gibt es eine spezifische spirituelle Erfahrung? Und falls es diese gibt: Lässt sich dabei eine spezifische „raw experience“ – ähnlich wie dies auch für Nahtoderfahrungen herauskristallisiert wird (Kuhn & Kuhn 2017) –in aller religiösen, spirituellen, kulturellen Prägung annehmen? Wie die bisherigen Differenzierungen zeigen, folge ich der zweiten These. Hermeneutisch ist es unmöglich, hier nach dem einfachen Schema von Kern und Hülle zu denken, die feinsäuberlich voneinander zu trennen wären. Thomas Schärtl (2007: 136) versucht die Differenzierung auf folgende Art: Es gebe Erfahrungen, die auf einen Pfad führen, uns in eine Offenheit hinein schicken, uns auch zur kognitiven Verantwortung führen, der Erfahrung einen Namen zu geben. Unter Bezug auf Karl Rahner unterstreicht er: Es gibt existenzielle Erfahrungen, die einen Verweischarakter haben. Diesen haben sie nicht in jeder Situation und für jeden. Es sind aber nicht einfach spezielle Erfahrungen und es sind andererseits auch nicht einfach dazu kommende Interpretationen, sondern es sind Deutungen, die zu einem Ereignis passen, und zwar aus einer Vielzahl von Fertigkeiten, Dispositionen, Einstellungen und Überzeugungen. Schärtl unterstreicht, dass es
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sich um ein hochkomplexes Passen von hermeneutischen Parametern handelt, nicht nur um das Resultat einer Ereigniskonstellation (Schärtl 2007: 124). Vergleichende philosophisch-phänomenologische sowie historische und empirische Studien arbeiten formale und inhaltliche Grundstrukturen heraus. Ich nehme einige davon auf.
4.1 Charakteristika einer „Erfahrung des Heiligen“ nach R. Esterbauer Esterbauer setzt sich in seinem phänomenologischen Zugang ab von religionsphilosophischen Ansätzen, die das Religiöse als Interpretament einer qualitativ neutralen Erfahrung sehen. Dagegen unterstreicht er, dass es bei „Erfahrungen des Heiligen“ einen Anspruch in der Wirklichkeit selbst gebe, der als religiös bedeutsam erfahren werde (Esterbauer 2002: 195 f). Nach Esterbauer geschieht eine Erfahrung des Heiligen quer zu allen anderen Erfahrungstypen. Jede der anderen Erfahrungen (er unterscheidet ethische, ästhetische, empirisch-wissenschaftliche und religiöse Erfahrungen) kann Momente enthalten, die ihrer Struktur nach auf eine Erfahrung des Heiligen hinweisen. Erst wenn diese aber eine entsprechende Ausprägung haben, werden sie wirklich zu einer Erfahrung des Heiligen. Als charakteristische Faktoren arbeitet er heraus (Esterbauer 2002: 200 – 250): Der Anspruch der Wirklichkeit Für die Erfahrung des Heiligen ist ihre spezifische Form des Anspruchs (nicht ein bestimmter Inhalt) charakteristisch: Während Wirklichkeit oft als Forderung und Appell erfahren werde, der in unterschiedlicher Intensität und bezogen auf unterschiedliche Bereiche des Lebens herausfordert, führt eine „Erfahrung des Heiligen“ zu einer Unterbrechung des Lebens als ganzem und einem Appell an die Person in ihrer Totalität. Es stellt sich der Anspruch, das Leben überhaupt zu überdenken. Haeffner (2003: 186) ergänzt den „Anspruch“ um das Wort „Zusage“, um das Typische zu beschreiben. Ermächtigung zur Antwort – Ehrfurcht Zugleich erfährt sich die Person ermächtigt, das eigene Leben in seiner unaustauschbaren Bedeutung selbst zu gestalten; der tiefe Ernst der Entscheidung wird deutlich. Die Erstantwort auf das Unterbrechen, auf das Geheimnisvolle kann ein Verstummen sein; das Lösen aus der Befangenheit geschieht nicht durch erfassendes Denken oder durch Dank, sondern durch Respekt vor dem Geheimnis, durch Ehrfurcht, die nicht einfach ein Gefühl, sondern eine Haltung ist. In Ehr-
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furcht anerkennt die Person die „Instanz“, die zu solcher Überantwortung des eigenen Lebens in der Entscheidung über die eigene Lebensform ermächtigt. Entzug und Unausschöpfbarkeit – „Übermacht“ und Wandlungsfähigkeit Die sich zusprechende Wirklichkeit lässt sich zwar sinnlich fassen, aber nur partiell, d. h. der intentionale Zugriff kommt nie an sein Ende, und die Konsequenz ist, dass sie sich verschiedenen Personen oder auch derselben Person zu verschiedenen Zeiten anders zuspricht. Dies hängt nicht allein mit den Interpretationen oder dem unterschiedlichen Erleben und den unterschiedlichen Dispositionen zusammen (damit hängt es auch zusammen, aber nicht ausschließlich): „Es wird die Wirklichkeit in ihrer Unauslotbarkeit erfahren und erst sekundär die eigene Unzulänglichkeit, die sich aus subjektiven Bedingungen ergibt. ‚Übermacht‘ und ‚Wandlungsfähigkeit‘ der Wirklichkeit sind Inhalte, die Wirklichkeit von sich aus über sich zu erfahren gibt und durch die sie sich als unerschöpflich erweist“ (Esterbauer 2002: 205). Das kann auch bedeuten, dass sie sich an einem anderen Tag anders zeigt als Teil ihrer Unauslotbarkeit, und erst sekundär wegen meiner unzulänglichen und sich wandelnden Erfassungsweisen. Die Frage nach dem Grund ihrer Unausschöpfbarkeit bleibt unbeantwortbar. Wirklichkeitserfahrung trägt daher auch den Charakter einer Grenzerfahrung. Responsive Differenz Die Unausschöpfbarkeit der Wirklichkeit hat zur Konsequenz, dass eine Vielfalt/ Diversität von Antworten möglich ist und dass die jeweilige Antwort, so sehr sie auf das eigene Leben als ganzes bezogen ist, den Anspruch nie ganz einholen kann, d. h. es bleibt eine „responsive Differenz“. Entsprechend kann es bei neuen Erfahrungen oder im Gehen des Weges auch zu Revisionen und Relativierungen bestehender Antworten kommen (Esterbauer 2002: 239). Die Bedeutung von Kultur und Gesellschaft Esterbauer unterstreicht, dass die Entscheidungssituation und die frei zu treffenden Entscheidungen vielfältig kontextualisiert sind, d. h. sie werden auch bestimmt von den konkreten Lebensformen und Lebensgestaltungsmöglichkeiten, die in einer Kultur/Gesellschaft gängig oder ungebräuchlich sind. Eine bestimmte Erfahrungsqualität sucht daher nach Konkretisierung im Dialog mit angebotenen Symbolisierungs- und Lebensformen. Doch gelte immer auch, dass eine solche Erfahrung zu persönlich-individuellen Aneignungen von Traditionen, auch zu ganz neuen Formen führte (vgl. Franz von Assisi). Darin konkretisiert sich der Ernst der Tiefenerfahrung (Esterbauer 2002: 240 f).
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Zeugnis Die Form, in der der Anspruch einer Erfahrung weitergegeben wird, ist nicht die Information, sondern das Zeugnis, in Gestalt der Lebensform, aber auch in der Artikulation der Erfahrung, die die eigene Betroffenheit und Entschiedenheit deutlich macht. Esterbauer differenziert: Das Zeugnis entspricht der Erfahrung des Heiligen; das Bekenntnis entspricht einer religiösen Erfahrung. Weitergabe im Miteinander-Leben Bedeutsam für weitere Erfahrungen sind die schon gemachten eigenen Erfahrungen. Denn: „Letztlich ist Erfahrenheit nicht übertragbar.“ Es geht immer um das konkrete Gelingen des Lebens einer individuellen Person. Erfahrung im Sinne von Erfahrenheit wird nicht „objektiv“ mitgeteilt, sondern weitergegeben, indem man miteinander lebt (Esterbauer 2002: 242 f). Grundlegend gilt: All dies ist nicht machbar, sondern unverfügbar. Und: Der Erfahrungsweg ist offen.
4.2 Wesentliche Faktoren von „religiösen Erfahrungen“ im Christentum nach D. Mieth (1992) Zentrale Charakteristika, wie eben beschrieben, arbeitet auch Dietmar Mieth – auf der Basis historischer Zeugnisse christlicher Mystik – heraus. Eigengesetzlichkeit Er unterstreicht, dass die „religiöse Erfahrung“ – sein Terminus für besondere spirituelle Erfahrungen, die er in der Geschichte des Christentums untersucht – eine Eigengesetzlichkeit habe als spezifische Tiefenerfahrung (Mieth 1992: 2). „Widerfahrnis“ und Entscheidung „Tragende religiöse Erfahrungen“ seien Kontrasterfahrungen. Sie tragen den Charakter eines Widerfahrnisses. Es mache sich etwas geltend, „sei es gegen den Erfahrungsträger, wenn nötig, gegen die ganze Welt.“ Dadurch werden sie Entscheidungsträger“ (Mieth 1992: 5). Phänomenologisch unterstreicht er, dass dieser Kontrast am deutlichsten im Kommen und Schwinden erfahren werde: im Kommen als bedrängend und als Aufruf zur Änderung des Handelns oder Seins; im Schwinden als „dunkle Nacht“, in der Menschen „im bestürzenden Zweifel ihre fortschreitende Widerspenstigkeit erleben“. Hingegen gilt: „sind wir mit ihnen [sc. den Widerfahrnissen] identisch, verspüren wir nichts mehr davon, weshalb die Mystiker ‚Einheit‘ nicht mehr im Modus des Erlebens fassen können“ (Mieth 1992: 5).
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Unverfügbar Der Widerfahrnischarakter macht auch deutlich, dass sie unverfügbar, unverrechenbar sind, sie erscheinen als Erfahrungen „von oben“. Sie werden zu „Gnaden“-Erfahrungen. Auf Offenheit hin Die notwendig kontingente Weise unserer Erfahrung auch des Widerfahrnisses des Absoluten bringt mit sich als tragende Gestalt, dass religiöse Erfahrungen nicht abgeschlossen sind, sondern „auf Offenheit und Hoffnung hin in Bewegung bleiben“ (Mieth 1992: 6). Dies ist auch zentral für die Weitergabe von religiösen Erfahrungen. Sie zu erhalten und weiterzugeben scheint „an die Erweiterung und Intensivierung von Erfahrungen gebunden“ – dieses Gesetz sieht Mieth sich historisch abzuzeichnen (Mieth 1992: 2). Einzelerfahrung und Prozessualität Biographisch bedeutsam ist das Zueinander von einzelnen spirituellen Erfahrungen und dem Prozess des Lebensweges. Dietmar Mieth arbeitet unter der Überschrift „Widersprüche und Vermittlungen“ diesen Doppelcharakter von Erfahrung als Prozess und als Ereignis heraus. Für religiöse Erfahrungen spiele die Intensität einer einzelnen Erfahrung, ihre Prägekraft eine größere Rolle als ihre Dauer und Wiederholung (Mieth 1992: 4). Unmittelbarkeit und Vermittlung Mieths Fokus liegt darauf, bei allem Wissen um die sprachliche, soziale und psychische Vermittlung und Kontextualität von Erfahrung ihre unaufhebbare Spontaneität und Unmittelbarkeit zu betonen. „Wenn man die Liebe zweier Menschen dadurch ‚erklärt‘, dass man aufzeigt, wie gut sie zueinander passen, so hat man sie damit noch nicht verstanden. Die Vermitteltheit der Erfahrung, die vor allem durch den Gebrauch der Humanwissenschaften gut zu analysieren ist, lässt doch zugleich der menschlichen Erfahrung ihr Geheimnis. Dies Geheimnis beruht auf der Unverfügbarkeit tragender Erfahrungen, die man weder herbeizwingen noch wissen, noch herstellen kann. Eben dies wird gelegentlich als Unmittelbarkeit ausgelegt“ (Mieth 1992: 4). Sie zeigt sich auch darin, dass tragende spirituelle Erfahrungen zu gänzlich Neuem drängen können.
4.3 Idealtypus einer Erleuchtungserfahrung nach M. Huppertz Michael Huppertz hat seine These aus Sicht der Phänomenologie und der Kognitionswissenschaft entwickelt (Huppertz 2016). Zwar unterstreicht auch er die
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jeweiligen soziokulturellen Prägungen in den Schilderungen und Sinngebungen des Erlebnisses einer „Erleuchtung“, wie dies viele Religionswissenschaftler tun (Renger 2016), doch geht er von Ähnlichkeiten der „kognitiven Infrastruktur“ aus. Diese „kognitive Infrastruktur“ zeigt zudem „Erleuchtungserfahrungen“ als einen Spezialfall der plötzlichen „Einsicht“, die wir alle als Form des Erkennens kennen. Hermeneutisch rekonstruiert er im Zirkulieren zwischen auslegenden Begriffen und Erleuchtungsberichten aus verschiedenen Religionen und Kulturen einen Idealtypus: Zentral ist eine plötzliche Einsicht. Diese ist kein Zugewinn an propositionalem Wissen, auch nicht eine Verwendung von Repräsentationen wie gewöhnlich im Alltag, sondern „eine plötzliche Einsicht auf der Ebene des Könnens, des sogenannten impliziten Wissens.“ In der spirituellen Erleuchtung/ Einsicht handelt es sich „aber nicht um ein Können im Sinne einer bestimmten Fertigkeit (wie Radfahren), sondern im Sinne eines Anders-Sein-Könnens. Die Einsicht der Erleuchtung besteht nicht im Erwerb eines Wissens, sondern ist ein plötzliches Gelingen im Sinne einer anderen Existenzweise“ (Huppertz 2018: 3). Das Anders-Sein-Können der Erleuchtung besteht in einem Dasein, das nicht mehr repräsentiert und daher nicht vermittelt ist. Es wird plötzlich der Hintergrund des nicht-repräsentationalen Daseins zum Vordergrund. Deshalb tritt das Erlebnis des ‚Immer-schon-gewusst-Habens‘ ein. Konsequenz ist eine andere Lebenspraxis und Daseinsform. „In Erleuchtungserfahrungen wird die Sorgestruktur, die unseren normalen Alltag prägt, transzendiert. Die Angst vor dem Tod, die Sorge um die eigene Existenz, die Bedürfnisse nach Sicherheit und Optimierung treten in den Hintergrund. Die Überwindung der Sorgestruktur macht das Gefühl der Befreiung, der Freude, der Heiterkeit, der Gelassenheit, der Dankbarkeit, des anlasslosen spirituellen Glücks, da zu sein, die ich ‚Daseinsfreude‘ nenne, aus“ (Huppertz 2018: 3 f; ähnlich 2016: 186 – 195).
5 Bündelung: Kriterien für das sensible Wahrnehmen spiritueller Erfahrungen 5.1 Charakteristika spiritueller Erfahrungen Zur Bündelung von Charakteristika beziehe ich mich auf die erwähnten Forschungen und auf weitere Studien (Renz 2006; Grom 2007: 236 – 248), wohl wissend um die jeweilige Kontextgebundenheit (vgl. zur Diskussion zwischen Perennialisten und Konstruktivsten Baatz 2006: 313 – 315).
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„Orte“: 1. Es sind Erfahrungen, kein Denken. 2. Sie geschehen im Unscheinbaren und im Außergewöhnlichen: Sie geschehen mitten im Dasein und werden zu einem „Mehr als“. 3. Sie geschehen bei klarem Bewusstsein. Art des Geschehens 4. Sie sind „Widerfahrnisse“: es geschieht mir. 5. Sie geschehen plötzlich und unerwartet, sind also unberechenbar, unverfügbar. 6. Sie sind vorübergehend, dauern Minuten, Stunden, maximal wenige Tage. 7. Es sind intensive Erfahrungen. Sie gehen mit starken Gefühlen einher: bisweilen geht Furcht voraus (durch das Menschenübersteigende); mündend in Schaudern und Ergriffensein sowie Freude, Dankbarkeit, Liebe, Frieden, Gelassenheit, selten Angst. 8. Es ist ein energetisches Geschehen: sie wirken, bewirken, drängen, sprengen auf, versöhnen. 9. Sie gehen einher mit einem veränderten Zeiterleben, einem intensiven Präsent-Sein. 10. Sie bringen ein verändertes Selbsterleben (präsent, fließend, offen, weit). 11. Sie machen frei vom engen Erleben im Ich, frei, nur man selbst zu sein. 12. Sie schenken eine Erfahrung der Verbundenheit mit der Umwelt/Mitwelt und mit einem „Grund“ von Wirklichkeit. Sie machen hörend und bezogen. 13. Sie haben die Eigenschaften von Aha-Erlebnissen und den Charakter einer Einsicht. 14. Sie gelten als in besonderer Weise unsagbar. 15. Es sind Grenzerfahrungen: Sie geschehen an der Grenze des Ich und der vertrauten Welt, und sie geschehen an der Grenze zu anderen Wahrnehmungsweisen. 16. Sie sind persönlich, und doch gibt es wiederkehrende Inhalte und Strukturen. 17. In ihnen wird von manchen Menschen „(personale) Beziehung“, von anderen „Sein“, von wieder anderen werden beide Aspekten erlebt. Wirkungen: 18. Sie führen zu einer Intensivierung der Wirklichkeitserfahrung (prägnanter, farbiger, reichhaltiger). 19. Sie können immer nur teilweise integriert werden (übersteigend, Geheimnis). 20. Sie lassen Beheimatung andernorts spüren. Sehnsucht findet Stillung und drängt zugleich nach Intensivierung. Es gibt daher auch ein Festhalten-wol-
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len an diesen Erfahrungen. Levinas formulierte, die Gottsuche „sättigt mit neuem Hunger“ (Levinas 1983: 220). 21. Sie drängen zu einer Neuausrichtung, werden als subjektiv folgenreich, geradezu als Erschütterung beschrieben, und sie schenken die Kraft zur Neuorientierung. 22. Sie sind subjektiv zweifelsfrei.
5.2 Kritik und Gefahren Ob ein Mensch eine Erfahrung als spirituell/religiös erlebt, ist ganz individuell. Ein Urteil von außen ist hier nicht möglich (Haeffner 2003: 185 f). Bewährt hat sich das Kriterium: „An den Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Insbesondere ist wichtig darauf zu achten, welche Balance in der Lebensgestaltung entsteht zwischen der Hingabe an die ansprechende Wirklichkeit und der Selbstachtung einer Person. Denn ein Zeichen echter spiritueller Erfahrung ist, dass sie öffnen im Beisich-Sein der Person. Dies bedeutet, dass beides gestärkt wird: die Offenheit und Verbundenheit mit anderem / mit allem und das ganz persönliche Bejahtsein (mit allem, auch von Schuld). Der ethische Impuls kommt aus dem Erkennen, was sein kann, bedeutet aber gerade keine moralische Verurteilung dessen, was ist, vielmehr den Handlungsimpuls. Das kritische, selbstkritische Element gehört freilich zur Spiritualität von ihrem inneren Wesen her. Wie aufgezeigt, hängt dies zusammen mit dem begrenzten Maß, diese Erfahrung zu fassen (ad modum recipientis), und mit dem Nie-Ausschöpfen können in der persönlichen Antwort im Handeln und Leben. Zwei Gefahren sind hier zu wehren entsprechend den aufgezeigten Polen: die Gefahr eines Leistungsdenkens, einer Selbststeigerung ohne Demut vor der Verwiesenheit auf die größere Wirklichkeit („Tyrannen des Himmelreichs“). Oder das „Zu-kurz-Greifen der Kleinmütigen“: der Mensch, der der Ermächtigung und seiner Erfahrung nicht traut (Esterbauer 2002: 284– 286). Es braucht Gnade und Mut, Gnade und Entschiedenheit für den spirituellen Weg. Zugleich können spirituelle Erfahrungen auch Gelassenheit schenken, ein Sein mit dem, was ist, eine Selbstrelativierung. Für die Begleitung von spirituellen Erfahrungen und ihren Wirkungen in der Psychotherapie braucht es große Sensibilität (van Quekelberghe 2017).
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5.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft Christoph Theobald (1998: 382– 385; 483 – 486)) spricht von der Eigenart und Notwendigkeit eines „prophetischen Unterscheidungsvollzuges“; im Hintergrund steht eine lange spirituelle Tradition der „Unterscheidung der Geister“. Dabei kommt einer persönlichen Begleitung besondere Bedeutung zu, durch einen erfahrenen Menschen oder auch in einer Gruppe, in einer dienenden Weise voll Respekt vor dem Raum des göttlichen Geheimnisses in jedem Menschen, selbst im Gehen von Irr- und Umwegen (Bendel-Maidl 2012). Einzelner und Gemeinschaft stets neu angewiesen auf den Erweis in der Zukunft. Die Erfahrungen vieler Menschen in der Gegenwart zeigen, dass der prophetische Unterscheidungsvollzug heute im Suchen quer durch alle Religionen und sonstigen Angebote geschieht. Dabei vertrauen sich Menschen vielfach der Begleitung und Führung durch erfahrene Menschen und alte Traditionen an.
6 Zum Zusammenhang von außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen und Alltagserfahrungen Die Frage nach dem Zusammenhang von Alltagserfahrungen und außergewöhnlichen spirituellen/religiösen Erfahrungen ist aus mehreren Perspektiven bedeutsam: mystagogisch, anthropologisch, als spezieller Aspekt philosophischer Reflexion in der Religionswissenschaft. Dazu wenige Andeutungen: Aus der Perspektive des spirituellen Weges nehme ich mit dieser Frage eines seiner zentralen Propria auf: Eine spirituelle Erfahrung führt einen Menschen dazu, das, was er in besonderer Intensität in einem Augenblick (oder auch öfters) erfahren hat, im Alltag und in sich selbst als immer schon und immer neu präsent wahrzunehmen und zu leben. „Natürliche“ Transzendenzerfahrungen im Alltag können dann eine einfache Form haben, wie das Staunen über eine Blume, das „Ah“ der Freude über eine Begegnung, die Dankbarkeit für die Genesung. Immer neu bedeutet es, im Alltag einzuholen, was die spirituelle Erfahrung eröffnete: den Wert seiner selbst und von allem aus einem tieferen Grund wahrzunehmen, sich nicht mehr mit den Dingen und Personen zu identifizieren und hängen zu bleiben. Christoph Theobald (2007: 389 – 437) und Dietmar Mieth (1992) arbeiten eine Doppelstruktur heraus, die alle religiösen Erfahrungen kennzeichne: „Tragende religiöse Erfahrungen werden nun in dem Sinne bedeutsam, dass sie das Ganze und die Tiefe der menschlichen Existenz erfassen. Es scheint der tragenden religiösen Erfahrung eigentümlich, dass sie so etwas wie das konkrete Allgemeine
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darstellt, dass sie auf der einen Seite als unwiederholbar konkret, auf der anderen Seite als allgemeine menschliche Wirklichkeit verstanden werden kann“ (Mieth 1992: 4). Religiöse Erfahrungen sind nicht vor allem von ihrer Nichtidentität mit jeder anderen Erfahrungswirklichkeit her zu verstehen sind. Mieth sieht vielmehr „strukturelle Entsprechungen“. Er zieht Philosophen und Theologen heran, die „weniger vom Widerspruch als von einer in sich gespannten, gleichsam ‚innenkritischen‘ Einheit“ ausgegangen sind, von einer „relatio“, von Reziprozität. Basis für ein solches Denken der verschiedenen Erfahrungen in Relation sei eine Metaphysik, die Sein in relationaler Analogie denkt (Mieth 1992: 5 f). Als eine solche strukturelle Entsprechung zeigte Michael Huppertz die Ähnlichkeit der „kognitiven Infrastruktur“ von Erleuchtungserfahrungen und Einsichtserkenntnissen auf (Huppertz 2016). In einem Forschungsprojekt in der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen widmete sich Monika Renz u. a. den „Merkmalen oder Wesenszügen“ spiritueller Erfahrungen (Renz 2004: 16). Es ging ihr um „Erfahrung und Haltung inmitten von Realität“ (Renz 2004: 15). Dabei begegnete sie sowohl „außergewöhnlichen (großartigen) Erfahrungen“ als auch spirituellen Erfahrungen im Alltag, Aha-Erlebnissen, wenn sich in den letzten Lebenswochen ein Gesamtzusammenhang des Lebens auftut, oder auch besonderen Inspirationen, Energieschüben, „Blitzen“ im Kreativen. Oft kommt solchen spirituellen Erfahrungen in der Situation des Leidens Wendecharakter zu (Renz 2004: 120 – 126).
7 Spirituelle Erfahrung – Spiritualitätsbegriff – „Mystik der Kindheit“ Nimmt man die spirituelle Erfahrung als zentrales Konstitutivum der heutigen spirituellen Suche und entsprechend auch des Spiritualitätsbegriffs, so scheint es angemessen, von den Charakteristika spiritueller Erfahrung aus den Spiritualitätsbegriff näher zu bestimmen. Spiritualität könnte dann bestimmt werden als die Erfahrung einer Antwort auf existenzielle Fragen im Sinne einer veränderten Daseinsweise, die den alltäglichen Rahmen der Existenz sprengt: die Sorgestruktur, das Zeit- und Selbsterleben, den gewohnten Kontext der eigenen Existenz. Erfahrungen wie Verbundenheit, Vertrauen, Dankbarkeit und Daseinsfreude gehen damit einher. Gleichzeitig bleibt Spiritualität immer auf dem Weg, ist nie Besitz. Spirituelle Suche lebt dann – wie jede Suche, die schon in irgendeiner Weise um das Gesuchte weiß, um suchen zu können – von einem zumindest impliziten
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Wissen um diese Qualitäten des Daseins, und sei es durch das, was Dorothee Sölle die „vergrabene Mystik der Kindheit“ nennt: In ihr gibt es für sehr viele von uns, fast möchte ich sagen: für alle und jeden, Augenblicke des intensiven Erlebens, die uns mit einer merkwürdigen, unumstößlich scheinenden Gewissheit ergreifen. Mystiker der verschiedenen Zeiten haben sich auf diese vergrabene Erfahrung berufen.“ „Wenn wir anfangen, die vergrabene Mystik der Kindheit auszubuddeln, so taucht dieses Gefühl des Einsseins und der Überwältigung neu auf: Das Gedächtnis klammert sich an kleine, unscheinbare Details. ‚Ich weiß noch wie heute‘, sagen wir dann und verbinden den Ort, die Tageszeit und die Jahreszeit mit einem bestimmten Erlebnis der überwältigenden Freude, des Glücks, am Leben zu sein, oder auch der Sehnsucht und des Schmerzes, getrennt zu werden (Sölle 1999: 28 f).
Implizit bestimmen sie die menschliche Suche. Die Begriffe „Sinn“ und „Sehnsucht“ können als Chiffren für dieses implizite „Wissen“ verstanden werden. A. v. Gontard (2016) beschreibt, welche Ressource solche spirituellen Erfahrungen sowohl für die Erwachsenen als auch für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen in der Psychotherapie sein können und wie behutsam mit ihnen umzugehen ist. „Fast alle Erwachsenen erinnern sich an spirituelle Situationen in der Kindheit. Diese Erlebnisse können positiv wirken, spätere Lebenskrisen zu bewältigen helfen, können aber auch negative Auswirkungen haben, wenn sie nicht anerkannt werden. Bei den Kindern entsteht dann Scham, Trauer. Sie versuchen die Erfahrungen zu rationalisieren, beiseitezuschieben, zu verdrängen und zu verleugnen. Die säkulare, materielle Welt der Erwachsenen ist nicht förderlich für die offene, aber verletzbare Spiritualität von Kindern“ (Gontard; zitiert von Warns 2015: 86 f). Spirituelle Erfahrung trägt auf diese Weise bei zu einer Näherbestimmung des Spiritualitätsbegriffs, begründet auch seine „meliorative“ Verwendung (Wiertz 2017: 820). Die Rückbindung in den Alltag wertschätzt die kleinen Spuren (vgl. Engel 2018; Maidl 2018). So sehr richtig ist, dass sich spirituelle Erfahrungen nicht machen lassen, sondern geschehen, so ist ebenso richtig: Wir Menschen können uns disponieren. Es gibt die Verheißung: Gott findet und lässt sich finden. Es geht bei Spiritual Care darum, Menschen auf diesem Weg zu begleiten und ihnen Möglichkeiten anzubieten und Räume zu eröffnen, ihr spirituelles Sehnen, Ahnen und ihre spirituellen Erfahrungen wahrzunehmen und ihnen Ausdruck zu geben.
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Patricia Schöllhorn-Gaar
Theistische und atheistische spirituelle Erfahrungen Versuch einer Deutung und Einordnung
Theistic and atheistic spiritual experience Attempt of an interpretation and explanation Zusammenfassung: Der Beitrag befasst sich mit theistischer und atheistischer Spiritualität und möchte einerseits das Vorurteil aus dem Raum schaffen, Atheismus und Spiritualität seien nicht miteinander vereinbar, und andererseits die These des Religionspsychologen Bernhard Grom veranschaulichen, dass allen spirituellen Erfahrungen ein gemeinsamer Kern zugrunde liegt. Durch den Vergleich der spirituellen Erfahrung eines Atheisten (André Comte-Sponville, ein zeitgenössischer französischer Philosoph) und einer Theistin (Lucie Christine, eine französische Katholikin aus dem 19. Jh.) lässt sich feststellen, auf welche Weise beide im Grunde tatsächlich Gemeinsames erleben. Der Unterschied liegt lediglich im jeweiligen kognitiven und motivationalen Kontext, und zwar vor, während und nach dem Erlebnis, so dass die Absicht, die Erwartung und die Deutung des Erlebens jeweils unterschiedlich sind. Mit der hier aufgestellten These soll dazu ermutigt werden, den Dialog zwischen diesen beiden Parteien auszubauen, da sie sich, vielleicht gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen, gegenseitig zum Reflektieren über ihre spirituellen Erfahrungen anregen und damit voneinander profitieren können. Schlüsselwörter: Theismus, Atheismus, Spirituelle Erfahrung, Einheitserleben, André Comte-Sponville Abstract: This article addresses theistic and atheistic spirituality. It argues against the view that atheism and spirituality are incompatible. In doing so, it draws on the thesis of the religious psychologist Bernhard Grom, who states that all spiritual experiences are based on a common core. By comparing the spiritual experience of an atheist (André Comte-Sponville, a contemporary French philosopher) and a theist (Lucie Christine, a 19th-century French Catholic), it is possible to determine to what extent these two individuals actually share a common experience. The difference lies merely in the respective cognitive and motivational context – before, during and after the experience – so that the inhttps://doi.org/10.1515/9783110638066-011
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tention, expectation and interpretation of the experience are different. The thesis presented here is intended to encourage the development of a dialogue between theists and atheists. It may be precisely these differing worldviews that could encourage both to reflect on each other’s spiritual experience and, thus, benefit from one another. Keywords: theism, atheism, spiritual experience, mystic experience, André Comte-Sponville
1 Bernhard Grom: ein gemeinsamer Kern im spirituellen Erleben Allen spirituellen Erlebnissen liegt ein gemeinsamer Kern zugrunde: das Erleben einer Einheit und ein veränderter Bewusstseinszustand. Dabei ist es unerheblich, ob die Erfahrung theistischer oder atheistischer Natur ist und in welcher Religion sie gemacht wird. Der Unterschied in den mystischen Erfahrungen liegt erst in der konkreten Ausprägung und in der Deutung. Diese These stellt Bernhard Grom, ein Religionspsychologe, auf. Sie soll in der folgenden Arbeit näher betrachtet werden. Bernhard Grom (2007: 236 – 248) erklärt dazu weiter: Im veränderten Bewusstseinszustand erfährt der Betroffene das spirituelle Erlebnis als eine Offenbarung und erlebt sie als ein „ichentgrenzendes Absorbiertsein“ (Grom 2007: 236) – das ist ein Zustand, in dem die Subjekt-Objekt-Dualität aufgehoben und das IchBewusstsein aufgelöst wird. Die Auflösung der Individualität erklärt weitere Phänomene wie Sprachlosigkeit, Einsicht in Zusammenhänge, Gewissheit über die gerade erlebte Offenbarung, Zeitlosigkeit, Schwerelosigkeit. Man kann „annehmen, dass ein ichentgrenzendes Absorbiertsein als solches ein nach Inhalt und Bedeutung variabler Bewusstseinszustand ist, der in unterschiedlichen Kontexten erlebt werden kann“ (Grom 2007: 246). Laut Bernhard Grom erklärt sich die Vielfalt mystischer Einheitserlebnisse aus zwei Kontexten heraus: dem kognitiven (weltanschaulichen) und dem motivationalen: „Wovon wird – kognitiv – die Aufmerksamkeit total beansprucht? An was vergisst sich das Ich? Womit fühlt es sich eins? Und […] was bedeutet – emotional und motivational – dem Betreffenden eine solche Ich-Entgrenzung im Ganzen seiner Ziele und Werte?“ (Grom 2007: 246). Ein Erleben ist immer schon in einem Deutungskontext verwoben. Grom schreibt, dass die Deutung nicht erst nach dem Erleben geschieht, wie man denken könnte, sondern dass dem Erleben bereits zuvor, währenddessen und danach seine Prägung anhaftet. Diese Prägung beeinflusst nämlich Absicht, Erwartung und Deutung der spirituellen Erfahrung. Insofern gibt es innerhalb religiöser Erlebnisse unterschiedliche Auslegungen, je nach
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Weltanschauung. Aber das bedeutet auch, dass eine solche Erfahrung in einem nichtreligiösen, atheistischen Kontext erlebt werden kann und dementsprechend interpretiert wird. Absicht, Erwartung und Deutung fallen in religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen unterschiedlich aus – auch wenn sie Gemeinsames erleben. Generell ist klar: Es kann kein reines Erleben geben, das nicht in einem Kontext stehen würde. Der Religiöse sucht (im christlichen Sinne) die Vereinigung mit Gott, will die Endlichkeit und Sünde überwinden und der Nichtreligiöse fühlt sich zwar auch mit einem Umfassenden vereint, aber es wird anders verstanden – beispielsweise als Ruhe, als das All-Eine, als Hochgefühl, Energie oder als Natur, was oft als das kosmische Bewusstsein genannt wird (Grom 2007: 246 – 248).
2 Theistische und atheistische spirituelle Erfahrung Weil immer noch das Vorurteil herrscht, Atheismus und Spiritualität seien nicht vereinbar und Atheisten und Theisten hätten nichts gemeinsam und sich daher nichts zu sagen, will sich der vorliegende Beitrag mit diesen beiden Parteien näher befassen. Wir wollen uns dazu Bernhard Groms These über einen gemeinsamen Kern in spirituellen Erlebnissen veranschaulichen: mit Berichten spiritueller Erfahrungen von André Comte-Sponville (einem Atheisten) und von Lucie Christine (einer Theistin). Anhand ihrer Erfahrungen können wir den gemeinsamen Kern an bestimmten Merkmalen erörtern.
2.1 André Comte-Sponville: atheistische spirituelle Erfahrung Mit André Comte-Sponville begegnet man einem zeitgenössischen Philosophen aus Frankreich. Er wurde 1952 in Paris geboren und unterrichtete viele Jahre an der Universität Sorbonne Philosophie. Seit einiger Zeit widmet er sich ausschließlich dem Schreiben und war von 2008 – 2016 Mitglied der nationalen Ethikkommission Frankreichs (Comte-Sponville o. J.). Er bezeichnet sich selbst als „bekennenden undogmatischen Atheisten“: „Bekennend“ nennt er sich, weil er sich zur jüdisch-christlichen Tradition und deren Werten bekennt; „undogmatisch“, weil er nur glaubt, dass Gott nicht existiert, es aber nicht sicher weiß (Comte-Sponville 2013: Minute 44:10). Über seine Überzeugungen bezüglich der Gottes- und Religionsfrage und über seine Spiritualität schreibt er in seinem Buch
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„Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott“ (französisches Original: „L’esprit de l’atheism“).
2.1.1 Seine Einstellung zu Glaube und Religion Bis André Comte-Sponville achtzehn Jahre alt war, glaubte er, wenn auch von Zweifeln geplagt, an einen Gott; dann verlor er den Glauben und seither fühlt er sich freier. Er räumt ein, dass das nicht für jeden so sein muss, manche fühlen sich freier im Glauben, brauchen Gott vielleicht als Trost, zur Sicherheit, als Zuflucht vor Sinnlosigkeit oder damit das Leben in sich einen Zusammenhang bekommt. Das, was die Religion dabei aber dem Ungläubigen voraus hat, sind Trauerbewältigung und Rituale. Nicht bezüglich des eigenen Todes, sondern bezüglich des Todes von Familienangehörigen, Freunden, Bekannten. André Comte-Sponville bekennt, dass er im Vergleich zu Gläubigen keinen Trost finden kann und auch die religiösen Rituale vermisst, weil die weltlichen Pendants für ihn keinen vergleichbaren Effekt haben. Religiöse Zeremonien, insbesondere der Konfrontation mit dem Tod, helfen dabei, sich dem Verlust und dem Schmerz zu stellen und stückweise darüber hinwegzukommen (Comte-Sponville 2008: 20 – 26). Hoffen nennt Comte-Sponville, neben der Trauer und den Ritualen, als den größten Vorteil der Gläubigen, denn Atheisten können auf nichts (nichts Absolutes und Ewiges) hoffen. Atheisten können nur versuchen, auf das zu hoffen, was in ihrer Macht steht, um sich nicht in zu große Verzweiflung zu stürzen. Sie können die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nicht aufheben, aber sie können versuchen, sie anzunehmen und das Glück im Hier und Jetzt zu finden und zu leben. Weil man die Verzweiflung möglichst fröhlich in einer lebensbejahenden Weise annehmen sollte, nennt er sie „fröhliche Verzweiflung“ (Comte-Sponville 2008: 67– 71).
2.1.2 Spiritualität für Atheisten Auch wenn Comte-Sponville keine Erfahrungen mit Gott macht, macht er dennoch andere Erfahrungen, die er als spirituell bezeichnet. Das dritte Kapitel seines Buches „Woran glaubt ein Atheist?“ beschäftigt sich deshalb mit der Spiritualität eines Atheisten. André Comte-Sponville möchte mit dem Vorurteil aufräumen, dass sich Spiritualität und Atheismus widersprechen würden. Er meint, dass Atheist zu sein nicht bedeutet, dass man keinen Geist („spiritus“) hat. Im Gegenteil, der Geist ist die höchste Funktion des Menschen, die uns im Besonderen von den Tieren unterscheidet. Geist zu haben, bedeutet also einfach Mensch-
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lichkeit und die unterscheidet nicht zwischen Menschen, die an Gott glauben oder nicht (Comte-Sponville 2008: 159). Wir sind endliche, für das Unendliche offene Wesen […]. Und vergängliche, für die Ewigkeit offene, sowie relative, für das Absolute offene Wesen […]. Dieses Offene – das ist der Geist. Die Metaphysik beschäftigt sich damit, es zu erfassen; Spiritualität besteht darin, es zu erfahren, zu praktizieren, zu leben (Comte-Sponville 2008: 161).
Das Absolute von dem er hier spricht, ist nur durch eine Kehr nach Außen zu erreichen, man muss also aus seinem Ich heraustreten und sich für das Unbekannte öffnen. „Spiritualität ist das Gegenteil von Introspektion“ (Comte-Sponville 2008: 233) für Comte-Sponville. Spiritualität bedeutet für ihn, den Blick für das große Ganze des Universums zu öffnen; so wird „das Ego endlich auf seinen Platz verwiesen [und nimmt] nicht mehr den ganzen Raum ein […]“ (ComteSponville 2008: 173). Das ist unter anderem Comte-Sponvilles Ziel: Er möchte das Ich aus seiner Begrenztheit befreien, ihm seine Kleinheit bewusst machen und sie dadurch hinter sich lassen. Letztlich möchte er das Ich für das Unbekannte öffnen. Warum hält er dieses Ferne und Unendliche für so gut und heilsam? Dazu schreibt er sehr persönlich und emotional: Meine Ängste […] sind fast alle egoistisch, jedenfalls egozentrisch: Ich habe nur Angst um mich und um die, die ich liebe, um mich und meine Familie. Deshalb tut mir das Ferne so wohl: Es hält die Ängste ab. Durch die Betrachtung des Unermesslichen schrumpft das Ego so sehr, dass der Egozentrismus (und mit ihm die Angst) abnimmt, weniger lastet und manchmal sogar für Momente ganz verschwindet (Comte-Sponville 2008: 175).
Das Absolute ist für Comte-Sponville etwas Unermessliches, Mysteriöses, der Zugang zu etwas Unbekanntem, aber dennoch immanent und naturalistisch. Damit in Kontakt zu kommen, nennt er eine mystische Erfahrung: Spiritualität. Er versucht, diese Erfahrung an neun Merkmalen zu beschreiben (Comte-Sponville 2008: 190 – 219): 1. Mysterium und Evidenz: Beide Begriffe beschreiben dasselbe, nämlich die Welt. Den Begriff Mysterium gebraucht er im Sinne von: Es ist etwas Neues, Einzigartiges, Besonderes, Unerklärliches. Die Evidenz beschreibt, dass nur noch das Sein, ohne Fragen, Probleme und Mutmaßungen existiert. Alles Vertraute und Alltägliche ist aufgehoben – es gibt nur noch dieses Unerklärliche, das aber wirklich ist. 2. Fülle: Hoffnungen, Sehnsüchte, Mängel sind plötzlich verschwunden, man will nicht mehr als das, was man schon hat und kann alles so nehmen und akzeptieren, wie es ist.
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Einfachheit: Man ist befreit von allem, das Ego ist ausgeschaltet, es gibt kein Bewusstsein mehr, keine Dualität zwischen dem Tun und dem reflektierenden Bewusstsein. Der Mensch achtet auf nichts mehr und ist selbst weder Substanz noch Wesen. Er empfindet einen bloßen „Strom der Wahrnehmungen“ (Comte-Sponville 2008: 195), ein Ausdruck, den Comte-Sponville von Hume übernimmt. 4. Einheit: Diese Lektion ist leicht zu verwechseln mit dem der Einfachheit, doch wo Einfachheit das Ausgeschaltetsein einer inneren Dualität meint, beschreibt die Einheit das Ausgeschaltetsein einer Dualität im Äußeren. Es ist die Erfahrung der Einheit mit der Welt. Die Trennung zwischen sich selbst und dem großen Ganzen ist aufgehoben. Insofern wird auch das Ego ausgeklammert. 5. Schweigen: Sprache, Diskurs und Vernunft sind in dieser Erfahrung unnötig. Sie bleiben möglich, aber sie sind sinnlos geworden, denn man sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. „Wir sind fast immer von der Wirklichkeit getrennt, und zwar eben durch die Wörter, die uns dazu dienen, sie auszusprechen oder uns zu schützen (Deutung, Rationalisierung, Rechtfertigung)“ (Comte-Sponville 2008: 200). 6. Ewigkeit: Es stellt sich das Gefühl ein, dass die Zeit aufgehoben ist. Man spürt nur mehr die Gegenwart – Vergangenheit und Zukunft sind ausgeblendet. Die Gegenwart jedoch bleibt und so kann man von einem ewigen Augenblick reden. Man fühlt sich „ewig im Hier und Jetzt“ (Modehn 2009). 7. Gelassenheit: Ähnlich wie im Punkt „Fülle“ beschrieben, lebt man in diesem Zustand ohne Hoffnung und Furcht, denn es fehlt nichts. Es gibt nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste. In anderen Sprachen wird Gelassenheit auch beschrieben mit der Abwesenheit von Aufruhr (ataraxia, griechisch), mit Seelenfrieden (pax, lateinisch), mit Ruhe (quiétude, französisch). 8. Annahme: Ideale, Normen, Urteile etc., die uns im alltäglichen Leben beständig begleiten, existieren in der spirituellen Erfahrung nicht mehr. Theoretisch gesehen, gibt es kein Gut und Böse, weil diese Unterscheidung in der Natur nicht vorkommt. Die Wirklichkeit ist vollkommen. Ethik ist weiterhin möglich und nötig, aber es entsteht daraus keine Metaphysik. Man nimmt das Wirkliche so an, wie es ist. 9. Unabhängigkeit: Abgesehen von der Wahrheit sind wir nichts und niemandem verpflichtet und daher unabhängig. Dieses Gefühl stellt sich in einer mystischen Erfahrung ein, darf jedoch nicht mit dem freien Willen verwechselt werden.
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2.2 Lucie Christine: theistische spirituelle Erfahrung Lucie Christine ist eine Mystikerin des 19. Jh.s. Sie gibt in ihrem Tagebuch Zeugnis von eindrucksvollen Gotteserfahrungen, die in ihrer Authentizität außergewöhnlich sind, da sie dort von persönlichen Erlebnissen spricht, die ursprünglich nie für die Öffentlichkeit gedacht waren. Ihr eigentlicher Name ist Mathilde Bertrand; ihr Name wurde von Poulain, dem Herausgeber ihres Tagebuchs, zur Bewahrung ihrer Anonymität in Lucie Christine („Licht Gottes“) geändert (O’Brien 2004: 146). Sie lebte von 1844 bis 1908, wurde katholisch erzogen und wird von ihren Mitmenschen als sehr fromm, intelligent, liebenswürdig, vernünftig, bescheiden und unterhaltsam beschrieben (Christine 1952: XXVIf.). Sie war eine recht unscheinbare Frau, verheiratet, hatte fünf Kinder und musste in ihrem Leben viele Schicksalsschläge hinnehmen – ihr einziger Halt in solchen Situationen war Gott (O’Brien 2010: 193 – 195). Über ihre außergewöhnlichen Gebete, ihre gnadenhaften Erscheinungen erfährt niemand (Christine 1952: X) – nur ein Pfarrer, der zu ihrem persönlichen geistlichen Begleiter wird. Er versucht, ihr zu erklären, was in ihr vor sich geht, gibt ihr aber keine Weisungen, die sie in eine bestimmte Richtung lenken, sondern überlässt sie Gottes Führung (Christine 1952: XVIf.).
2.2.1 Gegenwart Gottes und geistige Schauung Während ich solchen Gedanken nachhing und in meinem Zimmer mit einer Näharbeit allein war, wurde meine Seele plötzlich durch das Gefühl von Gottes Gegenwart ergriffen und gleichsam überflutet. Ich empfand sie so, wie das Gefühl vom Wirklichen. Gott war da, nahe bei mir; ich konnte ihn nicht sehen, aber ich empfand die Gewißheit seiner Gegenwart so, wie ein Blinder sicher ist, jemanden neben sich zu haben, den er berührt und reden hört. […] So habe ich zum ersten Male Gottes Gegenwart gefühlt, und es sollte nicht das letzte sein. Es dauerte, glaube ich, etwa eine Stunde, und meine Seele ging aus dieser himmlischen Gunst sehr gestärkt und getröstet hervor (Christine 1952: 11 f., 16. Juli 1874).
Lucie Christine beschreibt hier etwas, das sie immer wieder erfahren wird: das Gefühl der realen Gegenwart Gottes. Sie ist durch ihre Näharbeit in einer konzentrierten fokussierten Haltung, durch die sie quasi spontan von diesem Gefühl überwältigt wird. Sie ist sich dieser Gegenwart Gottes überdeutlich sicher und kommt gar nicht auf den Gedanken, sie in Frage zu stellen und zu überlegen, ob diese Erfahrung von ihr mit initiiert ist. Der Gott, der sich ihr zeigt, ist ein personaler, sehr liebevoller, starker, beschützender und zärtlicher Gott. Er ist wie ein Vater für sie, mit dem sie eine Ich-
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Du-Beziehung inne hat, die sich durch das gesamte Tagebuch zieht und durch die sie immer wieder Ermutigungen und Liebesversicherungen erhält. Eine besondere Erfahrung ist für Lucie Christine die geistige Schauung Gottes; sie gibt ihr die Gewissheit über das, was sie bisher geglaubt hat, da sie es in diesen Momenten sieht (Christine 1952: 162).Was heißt Sehen in diesem Zusammenhang? Lucie Christine schreibt: Plötzlich zeigte sich mir der gute Meister und durchflutete mich mit seinem Licht. Ich schaute ihn nicht mit den Augen des Leibes (damit habe ich nie etwas Übernatürliches gesehen), auch nicht mit denen der Seele, sondern mit einer sehr klaren, durchdringenden, geistigen Schauung, jener Schauung, deren Sicherheit sich stärker aufdrängt als das Zeugnis der Sinne (Christine 1952: 162, 12. März 1884).
Es ist schwer zu beschreiben und zu erklären, wie diese Schauung und die daraus resultierende Gewissheit aussieht. Dennoch geben ihre Worte eine Ahnung von dem Gefühl wieder, das sie erlebt haben muss. Ein Gefühl, das ihr ohne Rationalitätsbezug und ohne sinnlich wahrnehmbaren Beweis auf einer anderen Ebene Sicherheit gibt. Anders als in der Erfahrung der Gegenwart Gottes erlebt sie in der geistigen Schauung etwas, das noch viel weniger mit Worten beschreibbar ist, weil Lucie Christine darin keine Gedanken, Wünsche, Gefühle mehr in sich trägt, sondern nur mehr Gottes Dasein schaut. Dieses Erlebnis ist ein Einheitserlebnis, das sie an anderen Stellen in ihrem Tagebuch auch direkt mit dem Wort „Vereinigung“ (Christine 1952: 55, 16. März 1882) mit Gott, Jesus, dem Heiligen Geist beschreibt. Oft spürt sie in diesen ekstatischen Erlebnissen Benommenheit, Atemnot, ihre Hände und Füße werden kalt, ihr Körper fühlt sich nicht mehr stofflich an, sie vergisst Zeit und Ort (Grom 2008: 120), sie hört nichts mehr (Christine 1952: 34).
2.2.2 Merkmale ihrer Einheitserlebnisse Ihre Erfahrungen sind mit einem unübertrefflichen Gefühl von Liebe, Zärtlichkeit und Freude verbunden und sie fühlt sich von Gottes Licht durchdrungen. Darüber hinaus zeichnet auch die große Sprachlosigkeit den besonderen Moment ihrer Erfahrungen aus: „[S]o werde ich zwanzigmal mit verschiedenen Ausdrücken von dieser Gnade reden müssen, ohne daß es mir je gelingen könnte, sie gut zu erklären“ (Christine 1952: 137, 10. September 1883). Ein weiteres Merkmal ist die Abspaltung der Seele. Wenn Lucie Christine von ihren Erfahrungen spricht, dann ist es ihre Seele, die Gott begegnet.
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Durch diese Gnade kommt es der Seele im Gebet so vor, als ob sich ihr höherer Teil von dem übrigen scheide und in Gott eingesenkt verharre. Die Seele ist natürlich unteilbar, trotzdem hat sie diese Empfindung, und das in diesem Zustand verrichtete Gebet ist sehr fruchtbar. Selbstverständlich wird die Scheidung nicht durch eigene Anstrengung der Seele, sondern durch Gott bewirkt (Christine 1952: 45, Januar und Februar 1882).
Es bleibt offen, ob Lucie Christine wirklich meint, dass sich die Seele in einem metaphysischen Sinne abspaltet oder ob sie nur bildhaft beschreibt, was sie erlebt. Poulain spricht hierzu in einem Kommentar von einem ekstatischen Gefühl, weil sie keine Sinneseindrücke mehr wahrnimmt und nur aus Demut den Begriff der Ekstase nicht verwenden möchte (Christine 1952: 45, Anm. 1). Die Zeit der Abspaltung der Seele erlebt sie als Vergessen des Ich-Bewusstseins. Sie nimmt ihre Umgebung nicht mehr wahr, da ihre Aufmerksamkeit nur bei Gott liegt. „Sie [Seele, Anm. d.Verf.] weiß nicht mehr, wie sie lebt, noch wie sie liebt; […] sie kann nicht einmal denken, daß sie Dich schaut und anbetet, […] sie [sieht] nur Dich“ (Christine 1952: 38, 27. September 1881). Dabei vergisst sie ebenso die Zeit beziehungsweise erlebt nur noch ein Gegenwartsbewusstsein (Christine 1952: 49) und hört nicht mehr, was um sie herum geschieht (Christine 1952: 34). Lucie Christine fühlt sich nach ihren intensiven Erfahrungen immer sehr geborgen, beschützt, friedvoll, mit Liebe erfüllt und ausgeruht. Sie erzählt beispielsweise im Mai 1880, wie sie von Zweifeln, Ängsten und Beunruhigungen gequält ist und diese nach einer Bitte von ihr genommen werden – für zwei Wochen oder sogar für zwei Monate (Christine 1952: 24). Auch nach dem Tod ihres Mannes kann Gott ihr die Gewissheit geben, dass seine Seele im Frieden ist. Das beruhigt und tröstet sie (Christine 1952: 226). Lucie weiß und vertraut darauf, dass sie ihren Weg nicht alleine gehen muss, da Gott immer bei ihr ist (Christine 1952: 49).
2.3 Analyse und Vergleich der beiden spirituellen Erfahrungen Auf den ersten Blick scheinen die Erfahrungen von Lucie Christine und André Comte-Sponville sehr unterschiedlich zu sein. Beide befinden sich in verschiedenen Weltanschauungskontexten – zwar lebt auch André Comte-Sponville in einem christlichen Umfeld, aber dennoch erklärt er sich die Welt und die Dinge darin anders als Lucie Christine. Bei genauerem Hinsehen lässt sich jedoch bei beiden ein gemeinsamer Kern, wie Bernhard Grom ihn postuliert, entdecken. Worin bestehen nun diese Gemeinsamkeiten? Beide, Lucie Christine und André Comte-Sponville, erzählen, dass sie von der spirituellen Erfahrung plötzlich und ohne eigenes Zutun ergriffen werden. Beide fühlen sich vereinigt mit
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etwas (mit Gott oder der Natur) und spüren damit die Dualität im Äußeren aufgehoben. Beide beschreiben innerhalb der spirituellen Gipfelerfahrung dasselbe Erleben: Sprachlosigkeit, Staunen, Vergessen des Ichs/der Gedanken/Gefühle, Einheitsgefühl, Frieden, Gegenwartsgefühl. Und beide begegnen sich selbst auf eine besondere Weise. Die Tatsache, dass beide alles als Eins erfahren und alltägliche Gedanken und Gefühle nicht mehr wahrnehmen, zeigt, dass auch ihre innere Dualität schwindet, woraus sich die Sprachlosigkeit über ihre Erfahrung erklären lässt. Ebenso gemeinsam ist beiden das Erleben einer außergewöhnlichen Erkenntnis, die sie in Staunen versetzt und auch nachhaltig Wirkung auf sie ausübt, was man daran erkennt, dass sie anders über die Welt, die Kunst, die Literatur nachdenken und sich auch ihr Gemütszustand etwas verändert. Ein weiterer, nun sprachlicher Hinweis auf Gemeinsamkeiten zeigt sich in der ähnlichen Verwendung von Metaphern oder abstrakten Begriffen. Unterschiede zeigen sich hauptsächlich im alltäglichen Trost und dass Lucie Christine wesentlich häufiger spirituelle Erfahrungen erlebt als Comte-Sponville. Dennoch mindert der Hinweis auf diese Diversitäten die Annahme des Gemeinsamen in deren beider Erleben nicht. Einige dieser Gemeinsamkeiten sollen nun näher beleuchtet werden, da sie vielleicht auf den ersten Blick nicht als solche erkannt werden mögen.
2.3.1 Einheitserfahrung André Comte-Sponville definiert die Einheitserfahrung in seinen spirituellen Erfahrungen als ein Ausgeschaltetsein einer Dualität im Äußeren. Ihm zufolge erfährt man die Einheit mit der Welt. Es gibt also keine Trennungen mehr, keine Grenze zwischen Subjekt und Objekt, alles fühlt sich an wie eins. Kennzeichnend ist bei seiner Beschreibung auch, dass es in dieser kein Ego mehr gibt, da es sich in der Einheit auflöst. Lucie Christine beschreibt diese Einheitserfahrung immer als eine Vereinigung mit Gott, Jesus oder dem Heiligen Geist. Gott teilt sich dabei in einer geistigen vereinenden Weise der Seele mit und wird mit dieser eins. Auch wenn Lucie Christines Erfahrung einen sehr personalen Charakter hat, den man bei ComteSponville nicht finden kann, schreiben beide, dass sie sich mit etwas vereint fühlen – mit Gott oder der Welt. Lucie Christines Erfahrung kann man zudem ebenso als ein Ausgeschaltetsein einer Dualität im Äußeren beschreiben. Auch sie spürt keine Trennung mehr zwischen Seele und Gott, was Comte-Sponville die Trennung zwischen Subjekt (der Seele entsprechend) und Objekt (Gott entsprechend) nennt. Auch wenn Gott in ihr, Lucie Christine, ist, steht er auch für das Äußere, für das, was die Welt zusammenhält und der Ursprung der Welt ist; und damit sind sich Lucie Christines und Comte-Sponvilles Einheitserfahrungen näher
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als man anfangs denken möchte. Beide fühlen sich in dieser Einheitserfahrung aufgelöst in etwas, das über sie hinausgeht – in Gott oder der Welt. Und dennoch ist dieses Etwas nicht etwas völlig Anderes, Fremdes, sondern gehört immer schon zu ihnen. Aber sie zerreißen die Fesseln des Ichs und können sich einlassen auf eine Transzendierung ihrer selbst – sie ruhen jedoch immer noch in sich, vielleicht sogar noch mehr als sonst.
2.3.2 Begegnungen Der vermeintlich größte Unterschied bezüglich beider spiritueller Erfahrungen ist, dass die von Lucie Christine – im Gegensatz zu André Comte-Sponvilles – immer in das Verhältnis zu einem persönlichen Gegenüber eingeordnet sind. Während Comte-Sponville in seinen Erlebnissen einer unpersonalen Immanenz beziehungsweise der Natur begegnet, hat Lucie Christine Bezug zu einer personalen Transzendenz, zu Gott. Sie versteht den „Gegenstand“ und Inhalt ihrer Einheitserfahrungen hauptsächlich als Erfahrung mit Gott. Immer ist er mit dabei und ist derjenige, der sie ihr als Gnade eingibt und gleichzeitig derjenige, der ihr in diesen Erlebnissen gegenüber steht, mit dem sie verbunden ist und mit dem sie spricht. Im Gegensatz dazu steht Comte-Sponville niemandem und nichts gegenüber, zu dem er Bezug hätte. Einzig berührt er in seinen Erfahrungen die Unendlichkeit, das Absolute und sich selbst – verstanden als ein Prinzip des Weltganzen, des Weltzusammenhangs. Wenn man diese beiden Zugänge jedoch näher betrachtet, erkennt man in ihnen etwas Gemeinsames. Erstens macht Lucie Christine eine Welterfahrung, bei der sie in der Welt Gott erfährt, wie auch Comte-Sponville eine Welterfahrung macht, bei der er freilich nicht Gott in der Welt, sondern das Weltganze erfährt. Zweitens steckt hinter Lucie Christines Interpretation ihrer Erfahrungen dasselbe Erleben, das Comte-Sponville schildert. Auch wenn sie die spirituelle Erfahrung immer als ein Erleben mit Gott deutet – im Moment der Erfahrung beschreibt sie dasselbe wie Comte-Sponville. Beide erzählen von einem Zustand, der durch Schweigen gekennzeichnet ist – ein Zustand, den man nicht versprachlichen kann, weil es keine Worte dafür gibt, ohne das eigentliche Erleben zu verfehlen oder nicht ausschöpfend erklären zu können. Beide berichten von einem Staunen, von Frieden, von Einheit und von einem Vergessen des Ichs und der Gedanken, Wünsche und Sorgen, die einem im normalen Bewusstsein immer präsent sind. Lucie Christines Interpretation, also ihr dualistisches Denken über diese Erfahrung, geschieht erst im Nachhinein beziehungsweise erklärt sich aus ihrem weltanschaulichen Kontext, in dem sie sich stets befindet. Im Moment der spiri-
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tuellen Einheitserfahrung selbst besteht keine Dualität, sie beschreibt dasselbe Erleben wie André Comte-Sponville. Auffällig ist, dass beide in ihren spirituellen Erfahrungen auch sich selbst auf eine besondere Weise begegnen. André Comte-Sponville schreibt in seinem Buch sogar sehr konkret, dass Spiritualität für ihn bedeutet, dass er mit dem Unendlichen, Absoluten und mit sich selbst in Berührung kommt. Spiritualität hat für ihn damit zu tun, sich selbst für das zu öffnen, was sich dem Ich zeigt, offen zu sein für Neues, für das Weite und sich nicht durch sein eigenes Ich beschränken zu lassen aufgrund von Gewohnheiten, Zwängen, Erziehung etc. In der spirituellen Erfahrung begegnet er offenbar genau dieser Weite des Geistes, die sich durch nichts beschränken lässt, weil sie ja gar nicht denkt. Er ist in Kontakt mit der Natur, dem großen Ganzen, was für ihn etwas Unendliches darstellt und kann somit in neuer und ganz anderer Weise sich selbst wahrnehmen. Weg von all den Zwängen, Gedanken und Gefühlen des Alltags kann man sich in einer ganz reinen, unbedingten Erfahrung neu kennenlernen. Lucie Christines Begegnung mit sich selbst zeigt sich auf eine andere Art und Weise. Zum einen findet der Mensch aus christlicher Sicht zu seinem ursprünglichen Wesen, wenn er sich Jesus und Gott anvertraut und sich nach dessen Geboten richtet, denn Gott hat den Menschen geschaffen. Zum anderen ist ihren Berichten zu entnehmen, dass sie eine große Begabung hat, sich selbst ganz genau wahrzunehmen und das sogar über die Zeit immer mehr optimiert. Sie lernt sich selbst und ihre Seele, die zu Gott emporsteigt und sich mit ihm vereint, in immer neuen Facetten kennen.Wie André Comte-Sponville übt sie in ihren spirituellen Erfahrungen die Offenheit ihres Geistes, indem sie sich von ihren alltäglichen Schuldgefühlen, Wünschen, Ärgernissen und Problemen befreit und sich in die Weiten des Göttlichen fallen lassen kann. Sie lernt dadurch ein stärkeres Bewusstsein für sich selbst zu entwickeln. Auch wenn sie im Alltag immer wieder in Zweifel, Unsicherheiten und Gefühlsausbrüche zurückfällt, versucht sie stetig, sich in mehr Tugendhaftigkeit zu üben.
2.3.3 Loslassen und verändertes Selbsterleben Lucie Christine und André Comte-Sponville fühlen nicht nur die äußere Dualität aufgehoben, sondern auch ihre innere Dualität schwindet in ihren spirituellen Einheitserfahrungen. In unserem alltäglichen Leben befinden wir uns immer in einer inneren Dualität, in der sinnliches Wahrnehmen und Erleben in ständigem Kontakt mit unserem reflektierenden Bewusstsein steht. Ohne diese Dualität könnten wir nichts versprachlichen, identifizieren, planen, wünschen etc. In den spirituellen Gipfelerfahrungen, die die beiden Autoren erleben, ist diese Dualität
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aufgelöst beziehungsweise ist das reflektierende Bewusstsein entweder ausgeschaltet oder fällt mit dem Erleben zusammen. Deshalb ist es auch so schwer, diese Erfahrung in Worte zu fassen. Sowohl Lucie Christine als auch Comte-Sponville beschreiben ein verändertes Selbsterleben. Sie sind sich ihrer selbst nicht mehr bewusst, befinden sich nur noch im Augenblick. Comte-Sponville bezeichnet diesen Zustand als „Einfachheit“, Lucie Christine nennt analog ein Bild, bei dem sich ihre Seele von ihrem fühlenden und denkenden Ich löst: „Sie [Seele, Anm. d. Verf.] weiß nicht mehr, wie sie lebt, noch wie sie liebt; […] sie kann nicht einmal denken, daß sie Dich schaut und anbetet, […] sie [sieht] nur Dich“ (Christine 1952: 38, 27. September 1881). Ebenfalls schreiben beide, dass sie damit auch keine Sehnsüchte,Wünsche, Hoffnungen und Ängste mehr verspüren. Alle alltäglichen, häufig negativen Gedanken und Gefühle sind in dem Moment unwichtig und vergessen.
2.3.4 Wirkung: verändertes Bewusstsein Sowohl bei André Comte-Sponville als auch bei Lucie Christine lässt sich nach ihren Erlebnissen ein veränderter Blickwinkel auf die Welt feststellen – und das in sehr ähnlichen Lebensbereichen: bezüglich des Gemütszustandes – beide fühlen sich glücklicher und weniger schwer; und bezüglich des Verhältnisses zur Welt, Kunst, Literatur und Philosophie – sie erscheinen ihnen plötzlich oberflächlich und leer. Beide sind nicht mehr so abgelenkt durch weltliche Dinge wie äußere Schönheit und bewerten emotionale Ausbrüche anders, denn sie haben erkannt, wie flüchtig und unwichtig diese Dinge im Vergleich zu Gott oder der Natur beziehungsweise dem großen Ganzen sind. Ihr Blick wird weg von diesem Äußeren hin auf sich selbst gelenkt. Deshalb finden sich beide nach ihren Erlebnissen in einer größeren Harmonie und einem größeren Frieden wieder.
2.3.5 Sprachlosigkeit und sprachliche Bilder Ein wesentliches Merkmal dieser spirituellen Erfahrungen ist die Sprachlosigkeit und das Staunen, womit sich beide, Comte-Sponville und Christine, konfrontiert fühlen. Sie schreiben, dass ihnen die Worte fehlen, um ihr Erlebnis adäquat zu erklären, sie haben Bedenken, sich missverständlich auszudrücken oder dem Erlebten sprachlich nicht gerecht werden zu können. Sie erfahren etwas so Persönliches, dass es nie für jemand anderen dieselbe Bedeutung haben kann wie für sie selbst. Auch wenn niemand wirklich verstehen würde, was sie ausdrücken wollen, bemühen sie sich in ihren Werken dennoch und nehmen sich verschie-
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dene metaphorische Mittel zu Hilfe. Dabei bedienen sich beide unter anderem einiger Bilder aus der Natur, um ihre Erlebnisse zu beschreiben. Und auch innerhalb der Natur, die ja sehr vielfältig ist, wählen sie bemerkenswerterweise recht ähnliche Bilder. Sie schreiben jeweils von der Bewegung des Meeres oder der Blätter im Wind, vom Sternenhimmel, von Licht und von Blumen. Darüber hinaus verbinden beide die Begegnungen in ihren spirituellen Erfahrungen – Gott und Natur – mit den Begriffen „Unendliches“, „Absolutes“, „Einfachheit“ und „Ewiges“. Es mag scheinen, dass das nur sehr geringe Gemeinsamkeiten sind. Und doch ist es ungewöhnlich, wenn zwei Personen etwas, das einen so großen Eindruck auf sie macht und von dem sie gar nicht genau wissen, wie sie es mitteilen sollen, mit den gleichen Ausdrücken beschreiben.
3 Resümee Trotz auffälliger Gemeinsamkeiten könnte man entgegnen, dass doch der Fokus der beiden jeweils ein ganz anderer sei. Lucie Christine fokussiert sich auf Gott und ihr Näherkommen zu ihm und Comte-Sponville auf das Leben des Geistes, das sich zur Offenheit hinbewegt. Lucie Christine richtet sich nach innen, wie sie in sich Gott findet – und Comte-Sponville offensichtlich nach außen, weil er die Beschränkungen des Ichs auflösen möchte und sich daher zur Weite hinaus öffnen will. Auch wenn diese zwei Bewegungen auf den ersten Blick gegensätzlich zu sein scheinen, sind sie doch eigentlich dieselben Bewegungen auf dasselbe Ziel hin: Beide richten ihre Konzentration auf etwas, das außerhalb ihres Ichs liegt (Gott und das Weite) und doch hat dieses Etwas vielmehr mit ihnen selbst zu tun, als man vermuten würde. Es veranlasst beide, über sich in veränderter Weise nachzudenken und sich selbst durch das Reflektieren neu kennenzulernen, mehr in das zu vertrauen, was auf sie zukommt und ihr Schicksal voll und ganz anzunehmen, weil es entweder Gottes Wille ist oder einfach zur Welt dazu gehört. Im Sinne der unbegrenzten Offenheit und Weite des Geistes meinen also selbst die Deutungen der Erlebnisse im Kern dasselbe. Obwohl Theisten und Atheisten oft der Überzeugung sind, dass sie einander nicht viel erzählen können, weil sie an Gegensätzliches glauben, muss das nicht richtig sein. Denn wie eben gezeigt wurde: Nicht an einen Gott zu glauben, versperrt keinesfalls die besondere Erfahrung eines spirituellen Erlebnisses. Die vorliegende Arbeit möchte daher dazu motivieren, dass beide Parteien miteinander in Dialog treten, da sie sich, vielleicht gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen, vielmehr gegenseitig zum Reflektieren über ihre spirituellen Erfahrungen anregen und damit voneinander profitieren können.
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Literatur Christine L (1952) Geistliches Tagebuch. (1870 – 1908). Poulain A (Hg.), übers. v. Guardini R. Mainz: Matthias-Grünewald. Comte-Sponville A: André Comte-Sponville. Accueil (online) o. J. (Zitierdatum: 23. 03. 2019), abrufbar unter: http://andrecomte-sponville.monsite-orange.fr/ Comte-Sponville A (2008) Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott. Zürich: Diogenes. Comte-Sponville A (2013) Sternstunde Philosophie. André Comte-Sponville. Über Gott, Moral und Kapital (online). Zürich: SRF Kultur, 15. 12. 2013 um 11 Uhr (Zitierdatum: 23. 03. 2019), abrufbar unter: https://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-philosophie/andre-comtesponville-ueber-gott-moral-und-kapital Grom B (2007) Religionspsychologie. München: Kösel. Grom B (2008) „Ich sprach zu Dir, ohn’ alle Worte.“ Die Mystikerin Lucie Christine (1844 – 1908). Geist und Leben 81:112 – 24. Modehn C (2009) André Comte Sponville. Atheistische Spiritualität (online). Berlin: Religionsphilosophischer Salon, 07. 04. 2009 (Zitierdatum: 23. 03. 2019), abrufbar unter: http://religionsphilosophischer-salon.de/66_andre-comte-sponville-atheistischespiritualitat_mystik-und-atheismus O’Brien A (2004) Lucie Christine. Nineteenth-Century Wife, Mother, and Mystic. In: Miller P, Fossey R (Hg.) Mapping the Catholic cultural landscape. Lanham: Rowman & Littlefield. 145 – 156. O’Brien A (2010) A Mysticism of Kindness. The Biography of „Lucie Christine“. Scranton and London: University of Scranton Press.
Reinhard Blank
Ent-täuschung – Spiritualität Dis-illusionment – Spirituality Zusammenfassung: In dem Beitrag wird versucht, die Quelle der Spiritualität aufzuweisen, die auch als Ursprung unseres wissenschaftlichen Denkens gilt. Diese Quelle kann symbolisch in Platons Höhlengleichnis gesehen werden. Auf dieses soll ein Blick aus der Perspektive des ästhetischen Denkens der japanischen Teezeremonie geworfen werden. Durch diesen Blickwinkel können wir in diesem Gleichnis auch den Ursprung der Spiritualität und der spirituellen Erfahrung finden, die in einer ästhetisch-sinnlichen Dimension liegt. Schlüsselwörter: Spiritualität, Phänomenologie, japanische Teezeremonie, Platon Abstract: The essay seeks to demonstrate the source of spirituality, which is considered the source of our scientific thinking. This source can be seen symbolically in Plato’s Cave Allegory. Plato’s cave allegory is examined more closely from the perspective of aesthetic thinking that can be found in the Japanese tea ceremony. From this perspective we can discover the source of spirituality and spiritual experience in this parable, which lies in an aesthetic-sensual dimension. Keywords: Spirituality, phenomenology, Japanese tea ceremony, Plato Als freischaffender Künstler lasse ich mich in den Pausen des beruflichen Alltags von dem japanischen Teeweg inspirieren, bei dem Ethik, Ästhetik und Spiritualität zu einer Einheit finden sollen. Die Teezeremonie verweist uns auf ein Spezifikum ostasiatischer Spiritualität. Es komme darauf an, so Horst Hammitzsch über die Kultur Japans „[…] das Ganze in seiner Gesamtheit zu erfassen, die Ewigkeit zu erleben, nicht aber die einzelnen Erscheinungsformen. Man darf nicht ‚entdecken‘ wollen im europäischen Sinne, sondern muss ‚erleben‘ im ostasiatischen Sinne“ (Benl & Hammitzsch 1956). Man kann in dem Weg der japanischen Teezeremonie das Bemühen sehen, sich von oberflächlichen Täuschungen des Alltags zu befreien, um sich dadurch zu achtungsvollen zwischenmenschlichen Beziehungen fähig zu machen. Meine Ausdrucksgestalt als Künstler ist eine konkrete-konstruktive Kunst: Ihr programmatisches Anliegen – vor allem durch Vertreter in ihrer zweiten Generation – ist es, nur das bedeuten zu wollen und zu zeigen, was man sieht: ein https://doi.org/10.1515/9783110638066-012
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Reinhard Blank
Quadrat oder eine andere geometrische Figur oder Struktur und dergleichen. Dahinter verbirgt sich eine antimetaphysische Einstellung und eine Haltung intellektueller Redlichkeit, die man metaphorisch zu den gegenwärtigen Diskussionen über intellektuelle Redlichkeit stellen kann. Dabei muss jeder für sich selbst prüfen, ob diese intellektuelle Redlichkeit wie eine Art Besitz verhandelt wird. In Erich Fromms Buchtitel ‚Haben oder Sein‘ kann ich deshalb auch Denkbewegungen erkennen, die letztlich auf die spirituelle Ebene verweisen. Ich gehe meine Frage über den Begriff ‚Täuschung‘, Möglichkeiten der Erkenntnis und unsere Einsicht in die Begrenztheit unseres Wissens an und werde mit ‚Sein‘ – als Erlebnis von Wandel und Vergänglichkeit sowie der Erfahrung der Einheit von Geist und Zeit – abschließen. Dazu will ich zwei Stellen der Philosophie Platons, seine Schilderung über den Tod des Sokrates und das Höhlengleichnis, interpretieren, indem ich Bezug nehme auf Heraklits Philosophie. Anschließend will ich beschreiben, welchen Gesichtspunkt die Teezeremonie zu Platons Gedanken aus ostasiatischer Perspektive hinzufügt. Ich wähle Platons Denken auch aus einem biografischen Grund, denn die Begegnung mit seinem Denken setzte bei mir eine Art Heilungsprozess in Gang: Als Kind und auch später war mir meine Unwissenheit darüber, in welcher Beziehung Sprache zur Wirklichkeit steht, was man wirklich wissen kann und was Wissen bedeutet, eine ernste seelische Belastung. Mich in diesen Rätseln nicht allein zu wissen, sondern in Gesellschaft von Sokrates und Platon, war mir heilsam. Als bildender Künstler gehöre ich zu jener Berufsgruppe, die Platon am geringsten schätzte, und zwar deshalb, weil der bildende Künstler seine Anerkennung aus seinem Vermögen beziehe, nur oberflächlich einen Spiegel der Realität vorzutäuschen (Kultermann 1987).
1 Dem Asklepios einen Hahn opfern In Platons Überlieferung zum Sterben des Sokrates spielt der Gedanke der Heilung eine bedeutsame Rolle: Er findet sich im Motiv, dem Asklepios einen Hahn zu opfern. Kurz eine Nacherzählung der Szene (Platon, Phaidon 117a-118a; vgl. Dumézil 1989): Ein älterer Herr nimmt einen für ihn zubereiteten Trank zu sich, der ihm in einer Schale gereicht wird. Anschließend legt er sich auf einer Pritsche nieder. Der Raum ist wohl wenige Quadratmeter groß, das Licht dürfte durch einen kleinen Schacht in den Raum gekommen sein. Wenige Stunden zuvor tauschte er wichtige Worte mit seiner Frau und seinen Kindern. Danach führte er einen Dialog mit seinen Freunden, denen es diesmal schwerfiel, ihre Haltung zu bewahren und nicht von Emotionen überwältigt zu werden. Zum Abschied gab er einem Freund noch den eindringlichen Auftrag: „Mein Kriton!
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Wir müssen dem Asklepios einen Hahn opfern. Spende ihn, und versäume dies nicht!“ (Platon A 118a. 1988).
Es waren die letzten Worte des Sokrates, nachdem er das todbringende Getränk zu sich nahm, welches ein Gerichtsurteil für ihn vorgesehen hatte. Asklepios war der griechische Gott der Heilkunde, dem man einen Hahn opferte, wenn man von einer Krankheit geheilt wurde. Der Raum, in dem dies stattfand, war eine Gefängniszelle. Die Frage, von welcher Krankheit sie denn geheilt wurden, bleibt offen. Wichtig zur Deutung ist meines Erachtens das „wir“ in den letzten Worten des Sokrates: Wir schulden dem Asklepios noch einen Hahn. Er betont damit eindeutig, dass er und seine Freunde nun von einer Krankheit geheilt sind. Dies liegt in einer Linie mit seinem Lehren, seiner Hebammenkunst, die Menschen immer neu und tiefer erkennen lässt, wie schnell geglaubtes Wissen in Unwissenheit umschlägt, wie die Möglichkeit der Täuschung und die Unmöglichkeit eines Verständnisses des ‚Ganzen‘ verdrängt wird.
2 Platons Höhlengleichnis (Platon, Politeia VII 514a-517b) Ich gebe es ebenfalls mit eigenen Worten wieder. Meine hermeneutische These ist, dass Platons Höhlengleichnis noch verborgen die Botschaft des Vorsokratikers Heraklit, „Alles ist im Fluss“, mittransportiert. Dieser Satz wie auch Heraklits Aussage „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“ ist ein bedeutsamer Schlüssel für das Verständnis und zugleich spricht er auch einen Kern der japanischen Teezeremonie an. In einer Höhle, die tief im Erdreich liegt, leben Menschen, die an Händen und Beinen gefesselt sind und auch ihren Kopf nicht wenden können. Ihr beschränktes Blickfeld ist nichts weiter als eine Höhlenwand, auf der sich Schattenfiguren bewegen. Auch seltsame Geräusche hallen von der Wand, die die Gefangenen – da sie sonst nichts sehen können – den Schattenfiguren zuordnen. Hinter den Gefangenen ist eine Mauer mit einer Brüstung, wo gleich von Gauklern Figuren hin und her getragen werden. Hinter diesen brennt ein Feuer, dessen Licht die Schatten der Figuren an der Wand verursachen. Zugleich gibt es ein anderes Licht, das von ganz oben – dem Eingang zur Höhle – in das Dunkle dringt, welches aber die Gefesselten ebenfalls nicht sehen können. Diese Höhlenbewohner haben in ihrem Leben nie etwas anderes wahr-
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genommen als nur diese Schatten, die sie immer besser zu unterscheiden glauben. Sokrates stellt seinen Schülern die Frage, ob diese Menschen ihre Schattenwelt für die wahre Realität halten? Und sie sagten: Ja natürlich, wie denn sonst, sie kennen doch nichts anderes! Daraufhin gibt Sokrates die bedenkenswerte Antwort: Diese Menschen ähneln uns. Wie in der bereits zitierten Erzählung verwendet er das „Wir“. Er bezieht sich selbst – als Erzähler dieses Gleichnisses – ausdrücklich mit ein. Wie soll das gehen, dass die Schattenmenschen – zu denen sich der Erzähler selbst zählt – die nie etwas anderes zu Gesicht bekommen haben – erkennen können, dass ihre Welt eine vorsätzlich zur Täuschung geschaffene Schattenwelt ist? Gemäß Platons Erzählung bekommen die Höhlenbewohner Besuch von Fremden, von dem Ort ganz oben, woher Licht in die Höhle dringt. Sie binden einen Gefangenen los und wollen ihn nach oben bringen, zu dem Ort des Lichtes. Der Gefangene wehrt sich mit allen Kräften und will zurück an seinen Platz, zu seinen Mitbewohnern in der Höhle, da das Licht ihn blendet und er nun nichts mehr erkennen kann. Die Fremden zwingen den Gefangenen gewaltsam nach oben. Je mehr sich nun seine Augen den neuen Lichtverhältnissen anpassen, erkennt er seine frühere Behausung mit den Schattenfiguren als eine Welt der Täuschung. In der abendländischen Philosophie – so scheint es mir – hat man den Worten, dass Sokrates ausdrücklich sagt: ‚sie gleichen uns‘, kein besonderes Gewicht gegeben, was die Interpretation des Gleichnisses vereinfachte. Dadurch konnte es einseitig für den Paradigmenwechsel vom Mythos zum Logos stehen, woraus unsere Wissenschaftskultur hervorgegangen ist. Auf die Bedeutung der Redewendungen des Sokrates hingewiesen hat der französische Denker Georges Dumézil in seiner Schrift „Divertissement über die letzten Worte des Sokrates“ (Dumézil 1989). Die Schattenmenschen ringen um ein diskursives Verständnis der Welt und können letztlich ihre Symbiose mit den Gauklern auf begrifflicher Ebene (den Schatten) nicht klären. Wenn wir uns als Schattenmenschen wissen, so relativiert sich unser diskursives Bemühen, denn wir ringen dort um Gegenstandsformen der Schattenwelt – um Projektionen, Abbildungsformen. Die abendländische Geistesgeschichte hat Platons Gleichnis zum Ausgang, wenn sie Wahrheitssuche versteht als „etwas ans Licht bringen“. Der Satz ‚wenn man etwas ans Licht bringt, sieht man es klarer‘ ist einer der Charakterisierungen, mit denen die wissenschaftliche Aufklärung umschrieben wird. Und er bezieht sich auf Platons abschließende Worte im Höhlengleichnis, wo es Platon um die
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Einsicht in das Licht der Sonne, ihre Bewegung und die Gesetze der Gezeiten geht, um die Ideen – ähnlich den zwingenden Gesetzen der euklidischen Geometrie – die hinter den Erscheinungen stecken (Platon B 1988). Es geht also darum, dass man die Dinge unterm richtigen Licht betrachtet, um sie dadurch möglichst genau begrifflich erfassen zu können. Vielleicht hat auch das Streben nach licht-durchfluteten Räumen im Abendland mit diesem symbolischen Inhalt des Lichtes zu tun. Dass dies nicht interkultureller Konsens ist, können wir zum Beispiel Schriften zur japanischen Ästhetik entnehmen, wozu ich nur auf das Buch von Tanizaki Jun’ichiro verweisen möchte, mit dem schönen Titel: „Lob des Schattens“ (Tanizaki 1989). Wie die Lichtmetapher der Aufklärung auch zu einer Verengung unserer Weltwahrnehmung führen kann, können wir in der bildenden Kunst sehen, wo es fast ein Jahrhundert lang ein Diktum war und oft auch heute noch ist, dass Kunstwerke nur bei bestimmtem Tageslicht in Räumen mit weißen Wänden richtig gesehen und beurteilt werden können. Hingegen erfahren wir eine breite Fülle an Wahrnehmungsmöglichkeiten, wenn wir bewusst wahrnehmen, wie sich der Ausdruck und die Wirkung der Bilder, Skulpturen, Architektur und Landschaft mit der Wanderung der Sonne wandelt und verändert und unser Gemüt auch ganz unterschiedlich darauf reagiert und antwortet. Kann man wirklich denken, dass Sokrates diesen Reichtum an realen Wirklichkeiten, die mit und durch uns gegeben sind, die durch uns im Dialog mit den Dingen entstehen ausschließen wollte und es um ein „objektives“ Ans-Licht-Zerren geht? Das halte ich für ausgeschlossen. Meiner Meinung nach hängen die Aussageabsichten der beiden erwähnten Erzählungen zusammen: Sie zielen beide darauf, dass wir jeweils unsere methodischen Erkenntnisse und Begriffsstrukturen für die richtige Wahrheit halten – und darin sind wie die Schattenmenschen. Die begriffliche Ebene erzwingt die Frage nach der Wahrheit. Dies ist vermutlich die Krankheit, von der Sokrates-Platon uns Menschen immer wieder befallen sieht. Für Nietzsche ist diese Krankheit ein Bestandteil unseres Daseins, es ist für ihn derjenige Irrtum, ohne den eine gewisse Gattung von Lebewesen nicht zu leben vermag (von Weizsäcker 1986). Bereit zu sein, in den Tod zu gehen, wie Sokrates dies tut, bedeutet, bewusst für das Wissen darum einzustehen, dass uns diese Krankheit immer wieder befällt und wir maieutisch uns davon befreien können.
3 Kleines Fazit Das Gleichnis bringt einen Konflikt zur Sprache, der zu einer Quelle seelischen Leidens werden kann: Einerseits nämlich der Glaube an die Macht begrifflichen
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Wissens und der Wissenschaften, das ans ‚Licht‘ bringt – womit ja auch gesellschaftliche Anerkennung verbunden ist. Andererseits das Erlebnis unserer Freiheit im Denken, Wahrnehmen und Handeln, auch mit unserem nicht-diskursiven Zugang zur Welt, dem sinnlichen Empfinden, dem wir keinen Wert wie einem Wissensstatus beimessen können. Gleichwohl hat dieses Empfinden für unser seelisches Gleichgewicht eine Vorrangstellung. Der Begriff des Geistes selbst ist nicht denkbar ohne den Begriff der Freiheit und der spontanen Kreativität im Entwerfen von Sichtweisen auf unsere Welt und dessen Ausdruck in symbolischen Formen. Diesen Schöpfungsakt bei sich zu erleben und immer wieder einmal zu erneuern, ist wohl ein wichtiger Bestandteil der Erfahrung und Modellierung eines Selbst als Person. Wie kann man nun das für Platon so wichtige Licht, welches ganz von oben kommt und von wo aus die Fremden als Befreier des Gefangenen in die Höhle gelangen, deuten? In Platons Gleichnis sind zwei erkenntnistheoretische Fragen nicht getrennt: Erstens: Welche Bedeutung kommt fremden Sichtweisen und Kulturen für unsere eigene Selbstbestimmung, unseren Reflexionsprozessen, Standpunktwechsel und damit der Entwicklung unseres eigenen Weltdenkens zu? Zweitens die Frage: Wie eröffnet sich ein fundamentalerer Zugang zum Wesen unserer Welt? Die erste Frage betrifft das Abwägen und Reflektieren der unterschiedlichen Bedeutungsstrukturen von Sprachen und Denksystemen, ihre Konsequenzen für die Lebenswelt und setzt bereits Bedeutungsstrukturen und ein rationales Denken voraus. Dieses Denken beruht auf freien Setzungen, die sich in der täglichen und wissenschaftlichen Praxis in ihrem Geltungsbereich bewähren, ohne dass dies zur Begründung ihrer Wahrheit hinreichend ist, aber durchaus unsere Überzeugungen zunehmend verfestigen kann. Sokrates hat mit seinem kritischen Fragen – auch politisch gesehen – ein vorgebliches Wissen hinterfragt. Die Krankheit, von der er und seine Schüler geheilt waren, nachdem er das Giftgetränk zu sich genommen hatte, war – so möchte ich es sehen – dass er die Einsicht hatte, dass auch er und seine Schüler von der Krankheit potenziell bedroht und ihr auch verfallen waren, eigene Überzeugungen für wahr und richtig zu halten – und damit auch sie selbst immer wieder zum Täuscher wurden und werden könnten. Kann sein, dass seine Flucht – die seine Schüler hätten ermöglichen können – seine philosophische Überzeugung in Frage gestellt hätte. Die zweite Frage dreht sich für mich um die Quelle, aus der sich unsere Welt für jeden Einzelnen eröffnet, die also begrifflichen Einordnungen und Bewertungen vorangeht und die etwas mit der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Existenz, also auch mit elementaren Empfindungen zu tun hat.
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4 An unseren Sinnen und am Raum orientierte Reflexionsansätze Im Grunde genommen sind die beiden Fragen die zwei Seiten der einen Medaille für unsere Seinsweise. Dies lässt sich auch anhand anderer Metaphern und Unterscheidungen verdeutlichen:
4.1 Verschiedene Formen des Schauens François Jullien, dem es in seinem Buch „Von Landschaft leben oder das Ungedachte der Vernunft“ um die Verdeutlichung der Unterschiede zwischen westlichem und östlichem Denken geht, hat dafür ein eingehendes Beispiel geschaffen. Er schreibt: Entweder schaue ich ‚mit den Augen‘, wobei die Augen Agierende sind: ich ‚beobachte‘ und suche die Dinge mit dem Blick zu bestimmen, die ‚Objekte/Gegenstände‘ zu beschreiben, oder die Augen sind nur Mittel und Wege (ich schaue ‚vermittelst der Augen‘), sie sind Schwelle oder Fenster, ich betrachte nicht mehr etwas, sondern schaue. […] Die Augen sind dann weniger Agenten als vielmehr Vermittler: Vektoren oder Schleusen, durch die hindurch Landschaft in uns dringt (Jullien 2016: 33).
Dieses ‚Schauen‘ setzt einen wahrnehmenden Geist voraus.
4.2 Spirituelle Räume Was wir als einen spirituellen Ort erfahren, kann sich in unseren verschiedenen Lebensphasen wandeln. Für eine grundlegende Unterscheidung sind mir zwei Charakteristika wichtig: 1. Räume, die davon durchdrungen sind, dass erkennbar Zeichen gesetzt sind, deren Bedeutungen die Betrachter ergreifen sollen, es sind dann Kulturräume. 2. Dagegen stehen Räume, die etwas von einem leeren Blatt Papier haben und uns die Möglichkeit geben, durch uns jetzt zu einer Bedeutung zu gelangen. Es ist also der leere und offene (göttliche) spirituelle Raum, der durch mich zu einem dialogischen Vorkommnis wird.
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Was geschieht, ist vergleichbar einem ersten Pinselstrich. Der für Ostasien bedeutende chinesische Maler Shitao würde sagen, dass mit dem ersten Pinselstrich auf dem weißen Blatt Papier das Unendliche durchbrochen wird (Shitao 2009). Es ist kein Zufall, dass ein japanischer Philosoph und Islamforscher – Toshihiko Izutsu – in seinem Buch „Bewusstsein und Wesen“ den Leser darauf aufmerksam macht, dass Gott gemäß dem Alten Testament, die Finsternis zu seiner Behausung macht: „die göttliche Realität, wie sie der Psalmist [gemeint ist Psalm 18,12] besingt, ist Finsternis“ (Izutsu Toshihiko 2006: 244); – und dies können wir verstehen wie das leere Blatt Papier. Für den Zen-Buddhismus ist dies auch der Sinn des Satzes von Laotze, dass der Anfang von Himmel und Erde ohne Namen ist. Was Namen – durch uns – bekommt, ist der Anfang der zehntausend Dinge (Laozi 2009; Okakura & Sen 1997).
5 Die japanische Teezeremonie als Weg zu einer harmonischen Erfahrung von Selbst und Welt Ausdruck finden diese Einsichten auch in der ästhetischen Konzeption der spirituellen Form der japanischen Teezeremonie. Sie entstand im 16. Jahrhundert und ist fest mit den Namen Murata Jukó, Takeno Jóó und Sen no Rikyú verbunden (Okakura & Sen 1997; Hennemann 1994). Als ideales Vorbild für einen geeigneten Ort wählten sie eine moosbedeckte, schlichte Berghütte, mit etwa neun Quadratmeter Grundfläche, die durch ihre Schlichtheit ohne Rang ist. Sie zeigt Spuren der Zeitlichkeit und hintergeht jedes Ansinnen von gesellschaftlichen Repräsentationsformen. An diesem Ort sollen Unterscheidungen von sozialen Hierarchien, von Bedeutsamem und Alltäglichem aufgehoben werden. So wird der Weg dafür frei, Hochachtung und Ehrfurcht allen Dingen entgegen zu bringen, den anderen so anzunehmen und zu achten wie ein reines, leeres Blatt Papier. Durch die Begegnung mit den Dingen und von Mensch zu Mensch findet die innere Gestaltung statt. Gesellschaftliche Symbole wie Schmuck oder das Samurai-Schwert waren im Teeraum unerwünscht. Die Teegeräte sind einfachen Ursprungs und schlicht wie die moosbedeckte Hütte. Eine besondere Achtung wird auch speziellen Teewerkzeugen entgegen gebracht, wenn durch ihre natürlichen Alterungsspuren der Fluss der Zeit erfahrbar wird, weshalb z. B. angeschlagene oder zerbrochene Teeschalen nach Möglichkeit repariert werden und dadurch in der Wertschätzung steigen. Der
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Innenraum erhielt früher nur gedämpftes Licht von einem kleinen Fenster, welches mit Wachspapier bespannt war. In dieser ‚schattigen‘ Lichtstimmung ist man dann auch dem Ursprung oder dem Geist der Schöpfung nahe. Hier sollen die Dinge nicht durch Begriffe zum ‚Stillstand‘ gebracht, erfasst werden (im Zen würde man sagen ‚die Dinge töten‘), sondern wir können unseren Geist selbst als Fluss, als Spiegel der Zeit wahrnehmen (Heraklit). Mir legt sich die Verbindung zu Platons Höhlengleichnis nahe: Können wir es nicht auch so sehen, dass der befreite Gefangene aus Platons Höhlengleichnis genau diesen Fluss der Zeit bei der Betrachtung der Natur und des Weges der Sonne wahrnimmt und damit in die Weisheit des Sokrates eintaucht, der unseren begrifflichen Bestimmungen ihre Schattenhaftigkeit aufzeigte und immer seine Gesprächspartner zu der Einsicht führte – sie ent-täuschte – dass ihre begrifflichen Erkenntnisse unzureichend sind für diese Wirklichkeit? Solche Einsicht führt uns zum Schweigen und in die Stille. Wenn wir über unseren Geist nachdenken ist es also, wie wenn wir in der Dunkelheit (der Höhle) nach dem Ausgang tasten. „Aus diesem Grund bedienen wir uns der Formen und Abläufe“ (Sen 2004: 28). Und weil es so ist, da errichtet man einen kleinen Raum im Schatten eines Bambushaines oder unter Bäumen, legt Wasserläufe an und Felsen, pflanzt Gräser und Bäume, legt Holzkohle auf, hängt einen Kessel darüber, ordnet Blumen an und bereitet das Teegerät vor. Und indem wir all dies, Flüsse und Berge, die Natur der Wasserläufe und Felsen in diesen einen Raum hineinverpflanzen, erfreuen wir uns an den Landschaften der Jahreszeiten, des Schnees, des Mondes und der Blumen, erleben die Zeiten des Blühens und Welkens an den Gräsern und Bäumen, und unsere Gäste begrüßend lassen wir Ehrfurcht walten. Wir lauschen dem Wasser im Kessel, das wie der Wind in den Kiefern singt, vergessen die Sorgen und Kümmernisse der irdischen Welt, und in dem wir die Wellen des Wei-Flusses aus unserem Wasserschöpfer fließen lassen, spülen wir allen Staub von unserem Herzen. So wohl ist hier wahrhaftig das Gefühl heiliger Einsiedler unter den Menschen (Benl & Hammitzsch 1956: 203).
Literatur Benl O, Hammitzsch H (1956) Japanische Geisteswelt. Baden-Baden: Bertelsmann Lesering. Dumézil G (1989) Der schwarze Mönch in Varennes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hennemann HS (1994) Chasho. Geist und Geschichte der japanischen Teekunst. Wiesbaden: Harrassowitz. Jullien F (2016) Von Landschaft Leben oder das Ungedachte der Vernunft. Berlin: Matthes & Seitz. Kultermann U (1987) Kleine Geschichte der Kunsttheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Laozi (2009) Daodejing. Stuttgart: Reclam.
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Okakura K, Sen S (1997) Ritual der Stille. Freiburg: Herder Spektrum. Sen S (2004) Der Geist des Tees. Berlin: Theseus. Shitao (2009) Aufgezeichnete Worte des Mönchs. Bittermelone zur Malerei. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung. Tanizaki J (1989) Lob des Schattens. Zürich: Manesse. Toshihiko I (2006) Bewusstsein und Wesen. München: Iudicium. Weizsäcker C-F von (1986) Die Logik zeitlicher Aussagen und die Grundlagen der Physik. Information Philosophie 14:7 – 22.
III. Erkenntnistheoretische Grundlagen spiritueller Erfahrung
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Die Wahrheit der subjektiven Erfahrung Spiritualität mit und ohne Gott The truth of subjective experience Spirituality with and without God Zusammenfassung: Von der Wahrheit der subjektiven Erfahrung lässt sich nur sinnvoll sprechen, wenn die Erfahrung auch falsch sein könnte. Das erfordert, wie in Bezug auf Hegels Philosophie der Religion gezeigt werden soll, die Rückbindung unserer Gefühle und Vorstellungen an das begriffliche Denken. In der spirituellen Erfahrung übersteigt das endliche Subjekt seine eigenen Grenzen und erfährt sich als eins mit dem Absoluten. Die spirituelle Erfahrung ist wahr, wenn der Mensch das Absolute als das auffasst, was es in Wirklichkeit ist. Hier unterscheidet sich die Religion von einer Spiritualität ohne Gott. Für diese bleibt die Materie oder die Natur die Wahrheit der subjektiven Erfahrung. Die Religion hingegen deutet das Absolute selbst als etwas Geistiges, mit dem sich der spirituelle Mensch als eins erfährt. Schlüsselwörter: Erfahrung, Geist, Religion, Subjektivität, Unendlichkeit Abstract: To talk about the truth of subjective experience only makes sense if experience could, indeed, be wrong. This requires that our feelings and ideas rely on conceptual thought, as will be shown using Hegel’s philosophy of religion. In the spiritual experience, the finite subject transcends its own boundaries and experiences its unity with the absolute. Spiritual experience is true to the extent that one conceives of the absolute as what it really is. In this respect, religion differs from spirituality without God. For the latter, nature or matter is the truth of subjective experience. Religion, though, interprets the absolute itself as spirit with whom man can merge in oneness. Keywords: experience, infinity, religion, spirit, subjectivity
Der Ausdruck ‚Spiritualität‘ ist chronisch unklar. Das zeigt ein Blick auf die Etymologie. Dem Duden zufolge stammt das Wort vom mittellateinischen spiritualitas und bedeutet so viel wie „Geistigkeit“. Bei dem zugehörigen Adjektiv spiritualis handelt es sich um die Übersetzung des griechischen pneumatikos. Wenn der Apostel Paulus etwa im ersten Korintherbrief von ‚spirituell‘ spricht, meint er https://doi.org/10.1515/9783110638066-013
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die Gläubigen, die vom Geist Gottes erfüllt sind (vgl. 1 Kor 2,13). Verfolgt man den Begriff weiter zurück, stößt man auf das hebräische Wort ruach. Es bedeutet ursprünglich ‚Wind‘ oder ‚Atem‘, wird aber auch in Bezug auf Gott gebraucht und meint dann seine lebendige Kraft. Diese göttliche Lebenskraft überträgt sich auf alle Geschöpfe, weshalb der Psalmist sagen kann: „Nimmst du ihnen den Atem (ruach), so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde. Sendest du deinen Geist (ruach) aus, so werden sie alle erschaffen und du erneuerst das Antlitz der Erde“ (Ps 104,29 – 30). Wer von Spiritualität spricht, muss also die Frage beantworten, ob er oder sie mit ‚spiritus‘ den menschlichen Geist oder den Geist Gottes meint. Bedeutet Spiritualität die Weise, wie der Mensch zu sich selbst findet? Oder bezeichnet Spiritualität die Beziehung des Menschen zu Gott? Ist derjenige spirituell, der im Einklang mit sich lebt? Oder sollen wir besser diejenige spirituell nennen, die nach der Vereinigung mit Gott strebt? Hat Spiritualität, modern gesprochen, mit Authentizität zu tun? Oder ist Spiritualität eher ein neumodisches Wort für das, was früher Frömmigkeit hieß? Ein Mittelweg, der die beiden Auslegungen miteinander verbindet, mag darin bestehen, dass man Spiritualität als eine Haltung der Offenheit begreift (zur Mehrdeutigkeit des Begriffs vgl. Beitrag Bohlen in diesem Band). Im Bewusstsein der eigenen Begrenztheit und Verletzlichkeit verschließt sich der spirituelle Mensch nicht in sich selbst, sondern macht seinen Frieden mit dem Ganzen der Wirklichkeit. Spiritualität hilft, die Spannungen zu überwinden zwischen Seele und Körper, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen dem endlichen Subjekt und der Wirklichkeit im Ganzen. Spiritualität stünde somit für eine Sicht, welche die Gegensätze hinter sich lässt, die unser alltägliches Leben und Denken bestimmen. So wird leichter verständlich, warum Spiritualität für die einen Religion einschließt, während sie für die anderen Religion gerade ausschließt. Betrachtet man Religion nämlich als einen Weg zur Vereinigung mit dem Unendlichen, ist Spiritualität die der Religion zugrundeliegende Haltung. Sieht man in der Religion dagegen eine ganz bestimmte Auffassung vom Wesen der Welt und vom Sinn des menschlichen Lebens, wird die Religion schnell selbst zur Quelle der Art von Gegensätzen, die durch Spiritualität gerade überwunden werden soll. Dann wäre die Absage an religiöse Überzeugungen und religiösen Eifer die Voraussetzung von Spiritualität. Die Frage nach einer Spiritualität ohne Gott werde ich im zweiten Teil meiner Überlegungen wieder aufgreifen. Zuvor soll es aus philosophischer Perspektive um den Sinn gehen, in dem von der Wahrheit der subjektiven Erfahrung überhaupt die Rede sein kann. Dabei werde ich mich großenteils an Überlegungen orientieren, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion entwickelte. Der Bezug auf Hegel ist aus zwei Gründen reizvoll. Auf der einen Seite steht der Philosoph in dem Verdacht, der
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subjektiven Erfahrung kaum Beachtung geschenkt und alle seine Folgerungen aus bloßen Begriffen gezogen zu haben. Dass dem keineswegs so ist, soll im ersten Teil meiner Überlegungen mit Blick auf Hegels Abhandlung vom religiösen Gefühl gezeigt werden. Wie sich ergeben wird, verbindet Hegel in seiner Psychologie das lebendige Fühlen mit dem begrifflichen Denken. Als Mittelglied zwischen beiden dient ihm seine Theorie der Vorstellung. Vermittels Vorstellungen kommt das menschliche Fühlen zu seinem begrifflichen Gehalt. Der andere Grund meines Interesses an Hegel liegt in seiner Philosophie des Geistes. Im dritten und letzten Teil seines philosophischen Systems unterscheidet Hegel zwischen dem endlichen Geist des einzelnen Subjekts sowie einer Gemeinschaft von Menschen einerseits und dem absoluten Geist andererseits. Unter Religion versteht Hegel die Erscheinung des Unendlichen im endlichen Bewusstsein. Wie in der Spiritualität, so lässt sich bei Hegel von der Wahrheit der subjektiven Erfahrung nur sinnvoll sprechen, wenn die Erfahrung auch falsch sein könnte. Das erfordert die Rückbindung unsere Gefühle und Vorstellungen an das begriffliche Denken (zur erkenntnistheoretischen Dimension vgl. Beitrag Niederbacher in diesem Band). In der spirituellen Erfahrung übersteigt das endliche Subjekt seine eigenen Grenzen und erfährt sich als eins mit dem Absoluten. Die spirituelle Erfahrung ist wahr, wenn der Mensch das Absolute als das auffasst, was es in Wahrheit ist. Hier unterscheidet sich die Religion von einer Spiritualität ohne Gott. Für diese bleibt die Materie oder die Natur die Wahrheit der subjektiven Erfahrung. Die Religion hingegen deutet das Absolute selbst als etwas Geistiges, mit dem sich der spirituelle Mensch als eins erfährt.
1 Die ‚Wahrheit‘ der Gefühle Kaum weniger vieldeutig als der Begriff der Spiritualität ist die Rede von der Erfahrung. Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass manche meinen, bereits das Reden von ihr verfälsche die Erfahrung. Da es sich um etwas ganz Persönliches und Individuelles handle, gehe jeder Versuch, die Erfahrung in Worte zu fassen und anderen mitzuteilen, auf Kosten ihres ureigenen Gehalts. Dieses Problem stellt sich nicht erst in Bezug auf das Unendliche oder Gott, sondern schon bei der sinnlichen Wahrnehmung. Wie lässt sich zum Beispiel jemandem erklären, wie das Rot des Sonnenuntergangs aussah, das mich gestern Abend ganz besonders anrührte? Noch schwerer fällt die Beschreibung der spirituellen Erfahrung. Sie bezieht sich auf keine äußeren Gegenstände, sondern spielt ganz im Inneren des Subjekts. Sobald ich anderen davon zu berichten versuche, bleibe ich hinter meinem eigentlichen Erleben zurück.
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Ironischerweise ziehen die Verfechter und die Verächter der Spiritualität aus dem Problem der Mitteilbarkeit entgegengesetzte Folgerungen. Für die einen reicht der Hinweis auf die Subjektivität der Erfahrung als Begründung, warum sie nicht auf allgemeine Begriffe gebracht und in Theorien gegossen werden kann. Dass die spirituelle Erfahrung keine wissenschaftlich anerkannten Einsichten hervorbringt, versteht sich für sie von selbst. Dem Wert der subjektiven Erfahrung geschieht dadurch keinen Abbruch. Für die anderen hingegen hängt der Sinn jeder Erfahrung an ihrer Mitteilbarkeit und Überprüfbarkeit. In der Annahme, etwas könne nur für ein bestimmtes Subjekt wahr sein, sehen sie ein Einfallstor der Willkür. Solange die Spiritualität keine objektive Wahrheit vermittelt, handelt es sich für sie um keine echte Erfahrung. Gibt es ein Entrinnen aus dieser Aporie? Wie lässt sich an der Subjektivität der Erfahrung festhalten, ohne zur Sprachlosigkeit verurteilt zu sein? Welcher Anspruch auf Wahrheit ist möglich, ohne dass die Erfahrung zu etwas Unpersönlichem wird? Der Schlüssel zu einer Lösung liegt, wie so häufig, in einer Klärung der Terminologie. Dasjenige, was die spirituelle – wie jede andere – Erfahrung zu etwas Einmaligem und Unwiederholbarem macht, kann das Gefühl genannt werden. Hegel erklärt das Wesen des Gefühls so, dass ‚im Gefühl haben‘ nichts ist, als dass ein Inhalt der meinige ist, und zwar der meinige als dieses besonderen Individuums – dass er mir angehört, dass er für mich ist, dass ich ihn habe, wisse in seiner Bestimmtheit und zugleich mich in dieser Bestimmtheit; es ist Gefühl eines Inhalts und zugleich Selbstgefühl. Der Inhalt ist so, dass meine Besonderheit zugleich mit ihm verknüpft ist (Hegel 1983: 285 – 286).
Im Gefühl sind Subjekt und Objekt nichts Getrenntes. Ich bin ganz bei dem Gegenstand, der mein Bewusstsein unmittelbar erfüllt. Dabei verkennt Hegel keineswegs den ganzheitlichen Charakter von Gefühlen. Wie er in seiner Anthropologie ausführlich darlegt, liegt jedem Gefühl ein körperlicher Vorgang zugrunde (vgl. Stederoth 2006). Gefühle sind sozusagen die einfachste Weise, wie ein lebendiges Wesen sich seiner selbst und der materiellen Natur bewusst wird. Im Gefühl drückt sich die ursprüngliche Befindlichkeit eines Organismus aus. Beim Gefühl, so Hegel, „kommt auch das Blut in Wallung“ und „es wird uns warm ums Herz“ (Hegel 1983: 286). Daneben hätte er auch die feuchten Hände oder das Ziehen im Magen erwähnen können. Ein Sinn für psychosomatische Zusammenhänge lässt sich dem Philosophen also schwerlich absprechen. Das Spektrum der Gefühle endet nicht mit der Empfindung des eigenen Körpers oder der Wahrnehmung unserer Umgebung. Hegel kennt auch moralische und religiöse Gefühle. Genauso, wie mir etwas unmittelbar als rot oder blau, süß oder scharf, angenehm oder unangenehm, schön oder hässlich erscheinen kann, erlebe ich manche Dinge als Recht und andere als Unrecht. Das religiöse Gefühl
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schließlich beschreibt Hegel als „dies Geheime, diesen innersten Boden, auf dem uns schlechthin gewiss ist, dass Gott ist“ (Hegel 1983: 175). Zeitgenössische Autoren wie Alvin Plantinga weisen darauf hin, dass die religiöse Erfahrung nicht mit der abstrakten Überzeugung anhebt, dass Gott existiert. Für den Gläubigen unmittelbar gewiss seien vielmehr Überzeugungen wie ‚Gott spricht zu mir‘ beim Lesen der Bibel, ‚Gott hat das alles geschaffen‘ beim Anblick der Schönheit der Natur, ‚Gott missbilligt, was ich getan habe‘, wenn mich ein schlechtes Gewissen plagt, oder ‚Gott vergibt mir‘, wenn ich meine Verfehlungen einsehe (Plantinga 1983: 81). Wie die Beispiele Plantingas belegen, lassen sich religiöse Gefühle nur schwer beschreiben, wenn wir ihnen nicht einen bestimmten Gehalt beilegen. Nehmen wir die Erfahrung des Getragenseins durch Gott. Um sie nicht auf die bloße Empfindung von Annehmlichkeit zu reduzieren, muss ich von Geborgenheit oder Halt sprechen. Darin wiederum liegt das Moment einer höheren Macht, die mich stützt, oder eines größeren Ganzen, das mich bewahrt. Bevor nun der reine Gedanke eines göttlichen Wesens ins Spiel gebracht werden kann, ist die Aufmerksamkeit auf die Metaphern zu lenken, in denen hier vom Absoluten die Rede ist. Etwas oder jemanden tragen, stützen, bei sich bergen sind Ausdrücke für alltägliche Erfahrungen. Die Mutter trägt das Kind auf dem Arm; der Mann stützt seine gebrechliche Frau; der kleine Junge birgt in seiner Hand einen verletzten Vogel. Solche und ähnliche Erfahrungen mögen im Hintergrund stehen, wenn religiöse Menschen sich als von Gott gehalten erleben. Hinzu kommt, dass der oder die Gläubige ihre religiösen Erlebnisse vor dem Hintergrund der jeweiligen Tradition, der sie angehören, deuten und beschreiben werden (vgl. Antes 2002). Hegel spricht in diesem Zusammenhang von Vorstellungen. Unter Vorstellungen versteht er eine Art innerer Bilder. Anders als Anschauungen müssen sie nicht durch irgendein äußeres Geschehen gegeben, sondern können auch vom Subjekt selbst hervorgebracht sein, sei es kraft der Erinnerung an früher einmal Angeschautes, sei es durch das produktive Wirken der Einbildungskraft. Hier ist nicht der Ort, um Hegels Theorie der Vorstellung in allen ihren Einzelheiten zu entfalten (vgl. Rometsch 2007: 174– 217). In dem gleichnamigen Abschnitt seiner Philosophie des subjektiven Geistes erörtert er nicht bloß die inneren Bilder, die Erinnerung und die Einbildungskraft, sondern behandelt auch die Verwendung von Zeichen und Wörtern in der menschlichen Sprache. Auf die Weise gelingt Hegel der Brückenschlag vom Gefühl zum begrifflichen Denken. Die Sprache beruht auf unserer Fähigkeit, eine Vielzahl einzelner Gegenstände oder Vorstellungen miteinander zu verbinden, indem wir uns durch eine gemeinsame Vorstellung auf sie alle beziehen. Wir fassen etwa eine Menge von Sitzmöbeln mit dem Piktogramm eines Stuhls zusammen. Während das Piktogramm immerhin die sichtbare Form der gemeinten Gegenstände abbildet, besitzt
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die Zeichenfolge oder die Lautfolge ‚Stuhl‘ überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten. Die Beziehung zwischen Wort und Gegenstand wird allein durch den menschlichen Geist gestiftet, der sich unter ‚der Stuhl‘ ein Möbelstück vorstellt, auf dem jemand sitzen kann. Gleichwohl besitzen Wörter wie Stuhl einen Bezug auf Anschauungen und bildliche Vorstellungen. Bei Begriffen wie ‚das Ganze‘, ‚die Wirklichkeit‘ oder ‚das Unendliche‘ ist ein solcher Zusammenhang weniger leicht ersichtlich. Umso wichtiger ist die Einsicht Hegels, dass sich unser Vermögen, Begriffe zu bilden, überhaupt aus der Einbildungskraft und dem Umgang mit allgemeinen Vorstellungen entwickelt hat. Wer sowohl Tische als auch Stühle ‚Möbel‘ nennen kann, der wird auch den Unterschied zwischen den Einrichtungsgegenständen einerseits und einer Immobilie andererseits verstehen. Wer den Gegensatz zwischen beweglich und unbeweglich erfasst hat, dem wird irgendwann auch der Unterschied zwischen endlichen Dingen und dem Gedanken des Unendlichen aufgehen (vgl. Sans 2016). Halten wir fest: Gefühle sind für Hegel mit Vorstellungen verbunden. Ein Gefühl stellt sich zwar unwillkürlich ein und wird unmittelbar erlebt, aber es braucht Vorstellungen, damit von einem Gehalt des Gefühls gesprochen werden kann. Hegel legt ferner Wert auf die Feststellung, dass Gefühle als solche keine Gewähr für ihre Wahrheit bieten. Für sich genommen ist das Gefühl weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, weder wahr noch falsch. Mit den Worten Hegels: Ob mein Gefühl wahrhafter Art, gut ist, kommt auf seinen Inhalt an. Dass dieser Inhalt im Gefühl ist, macht es nicht aus, denn auch das Schlechteste ist darin. Ob der Inhalt existiert, hängt ebenso nicht davon ab, ob er im Gefühl ist, denn Eingebildetes, das nie existiert hat und nie existieren wird, ist darin. Das Gefühl ist demnach eine Form für allen möglichen Inhalt, und dieser Inhalt erhält darin keine Bestimmung, die Form ist jeden Inhalts fähig (Hegel 1983: 177).
Eine Mörderin kann denselben Drang spüren, jemanden zu töten, wie ein Altruist das Bedürfnis, seinen Mitmenschen zu helfen. Verstünde man unter der subjektiven Erfahrung nichts anderes als das bloße Gefühl, hinge die Wahrheit der Erfahrung allein von der Befindlichkeit des Einzelnen ab. ‚Wahr‘ hieße dann so viel wie ‚wahr für mich‘.Wenn ich mich von Gott getragen fühle, dann trägt mich Gott, weil ich mich so fühle; erlebe ich mich dagegen als von Gott verlassen, bin ich von ihm verlassen, weil ich mich dafür halte. Aus philosophischer Sicht wäre ein derartiges Verständnis von Wahrheit wenig attraktiv. Wenn wahr genau das ist, was jemand dafür hält, erübrigt sich jede weitere Diskussion. Auf die Rückfrage ‚Stimmt das denn?‘ könnte man lediglich noch erwidern ‚Wenn ich es dir doch sage!‘ Weil jeglicher Unterschied zwischen Wahrheit und subjektiver Gewissheit entfiele, verlöre die Frage nach der Möglichkeit des Irrtums oder der Täuschung ihre Bedeutung.
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Wenn das wahr ist, was ich für gewiss erachte, kann ich streng genommen noch nicht einmal mich selbst fragen, ob meine Überzeugungen zutreffen. Denn entweder bin ich mir meiner Sache sicher; dann ist die Überzeugung definitionsgemäß war. Oder ich bin mir unsicher und zweifle; dann kann ich mir freilich noch nicht einmal meines Zweifels gewiss sein. Sowohl die Wahrheitsfrage als auch der vernünftige Zweifel setzen voraus, dass von etwas überzeugt zu sein nicht dasselbe ist wie die Wahrheit der Überzeugung. Diese Einsicht ist übrigens nicht nur eine Frucht philosophischen Scharfsinns, sondern sie gilt auch in einem seelsorglichen oder therapeutischen Setting. Wie soll ein Klient jemals sich selbst besser verstehen, wenn immer genau das wahr ist, was er gerade dafür hält? Hat man erst einmal eingesehen, dass Wahrheit nicht dasselbe ist wie unmittelbare Gewissheit, lässt sich der Rede von der subjektiven Erfahrung ein genauerer Sinn geben. Erfahrung ist im Gegensatz zum Gefühl kein Zustand unmittelbarer Gewissheit, sondern ein Ergebnis der Reflexion. In der Erfahrung werden die einzelnen Gefühle miteinander verbunden, indem das Subjekt ihnen bestimmte Vorstellungen zuordnet. So mag jemand ein regelmäßig auftretendes Gefühl der Unsicherheit und des Bedrohtseins mit der Vorstellung verbinden, böse Mächte hätten sich gegen ihn verschworen. Fragt man nun nach der Wahrheit der Erfahrung, richtet sich das Interesse weniger auf das Gefühl der Gewissheit als auf den Gehalt der Vorstellungen. Ob die Angst vor Geistern wahr ist, entscheidet sich erst, wenn die betreffenden Vorstellungen zu begrifflicher Klarheit gebracht werden. Zu diesem Zweck muss eine Verständigung etwa darüber gesucht werden, ob es übernatürliche Mächte, die unser Leben beeinflussen, überhaupt gibt; inwiefern solche Mächte moralische Eigenschaften wie gut oder böse besitzen; ob sich mehrere dieser Mächte gegen einzelne Personen zusammenschließen können; woran sich eine derartige Verschwörung gegebenenfalls erkennen lässt und so weiter. Meine erste These lautet deshalb: Die Wahrheit der subjektiven Erfahrung muss in ihrem begrifflichen Gehalt gesucht werden. Ich hätte keine Einwände, meine Ansicht als Rationalismus oder auch als Konzeptualismus zu bezeichnen, solange darunter die Auffassung verstanden wird, dass nur das entweder wahr oder falsch sein kann, was sich vernünftigerweise in Begriffen denken und ausdrücken lässt. Damit will ich nicht andeuten, dass der Glaube beispielsweise an übernatürliche Kräfte etwas von vornherein Unvernünftiges und folglich Unwahres darstellt. Ich plädiere im Gegenteil für eine großzügige Auslegung dessen, was denkbar und vorstellbar ist. Über die Wahrheit religiöser Gefühle, Vorstellungen und Gedanken darf nicht einfach das Diktat derjenigen entscheiden, die ohnehin nichts außer der materiellen Natur als wirklich anerkennen. Ebenso wenig genügt freilich die Versicherung des Betroffenen, er spüre die bösen Mächte
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ganz genau. Die Entscheidung über die Wahrheit der subjektiven Erfahrung kann nur in einem begrifflichen Diskurs gefällt werden.
2 Der ‚Geist‘ der Spiritualität Das bisher über die subjektive Erfahrung Ausgeführte gilt für jede Art von Empfindungen oder Gefühlen. Um Wahrheit zu beanspruchen, braucht es einen begrifflichen Gehalt. Was macht nun die spirituelle Erfahrung und ihre Wahrheit aus? Die Antwort hängt, wie eingangs angedeutet, davon ab, was man unter ‚Geist‘ und demzufolge unter ‚Spiritualität‘ versteht. Verdient lediglich dasjenige Subjekt ‚Geist‘ genannt zu werden, welches die spirituelle Erfahrung macht? Oder ist der Geist etwas, das den einzelnen Menschen übersteigt? Bezöge sich der ‚Geist‘ in dem Wort ‚Spiritualität‘ nur auf das Subjekt der Erfahrung, wäre damit nichts anderes gemeint als die Begegnung mit sich selbst. Der Ausdruck stünde für eine Weise, wie jemand mit sich in Kontakt ist. In der Regel gelten Menschen als spirituell, die mit ihrem Körper, mit ihren Gefühlen und mit ihren Gedanken vertraut sind. Sie haben gelernt, auf sich selbst zu achten und ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie lassen sich nicht einfach von äußeren Widerfahrnissen aus dem Gleichgewicht werfen. Alles das sind verdienstvolle Eigenschaften und jedem zu wünschen. Spricht man in diesem Sinn von spiritueller Erfahrung, handelt es sich aber nur um ein anderes Wort für Selbsterfahrung. Der Geist der Spiritualität ist das eigene Selbst, verstanden als der ganze Mensch. Bevor ich im Folgenden für ein umfassenderes Verständnis von Spiritualität werbe, will ich zumindest erwähnen, dass die Wahrheit der Selbsterfahrung nicht leicht zu erkennen ist. Das wird jeder bestätigen, der sich irgendwann auf den mühsamen Weg zu sich selbst gemacht hat oder andere auf ihrem Weg zu sich selbst begleitet. Sobald wir mit uns allein sind, melden sich alle möglichen Gefühle und Gedanken zu Wort.Was sagen sie über mich aus? Welche von ihnen soll ich zulassen und gegen welche muss ich mich schützen? Selbst die einfache Grundregel aller spirituellen Übungen, nämlich die Aufmerksamkeit immer wieder auf mich selbst zurückzulenken, ist nur begrenzt wahr. Dem Geschrei der spielenden Kinder im Nachbargarten brauche ich vielleicht keine Beachtung zu schenken. Wenn die Sirene des Brandmelders ertönt, werde ich dagegen nicht weiter seelenruhig auf meinem Meditationskissen sitzenbleiben. Diese Beispiele mögen manchen wie eine Parodie vorkommen, aber es lassen sich leicht ernsthaftere Fälle finden. Was ist etwa mit der Alkoholikerin, die eifrig Yoga praktiziert und der dabei immer wieder die Mahnung ihrer Tochter in den Sinn kommt, sie solle sich therapeutische Hilfe suchen? Welches ist die Wahrheit ihrer subjektiven Erfahrung?
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Oder betrachten wir den Geschäftsmann, der wegen eines Burnouts aus dem aktiven Berufsleben scheidet. Genügt es, wenn er bei der Meditation ganz neue Seiten an sich entdeckt? Muss er sich nicht auch seiner Vergangenheit stellen, in der er andere schamlos ausgenommen und rücksichtslos übervorteilt hat? Oder nehmen wir an, ich stünde unter dem Eindruck, meine derzeitigen Lebensumstände verhinderten, dass ich richtig zur Ruhe komme und zu mir selbst finde. Habe ich dann eine wahre subjektive Erfahrung gemacht, die mich gegebenenfalls berechtigt, die Beziehungen zu anderen Menschen abzubrechen? In allen drei Fällen gilt: Von Wahrheit kann erst dann die Rede sein, wenn die subjektive Erfahrung zu begrifflicher Klarheit gebracht ist. Die Beispiele zeigen außerdem, dass sich die spirituelle Erfahrung nur selten auf mich ganz allein bezieht. Von jemandes Spiritualität sind meistens die anderen mitbetroffen – genau wie übrigens auch von einem Mangel an Spiritualität. Aus solchen Überlegungen erwächst zwanglos die Frage, ob Spiritualität tatsächlich schon angemessen erfasst ist, wenn man darunter lediglich die Erfahrung versteht, die jeder und jede mit sich selbst macht. Ein wesentlicher Bestandteil der allermeisten Formen von Spiritualität ist das Bewusstsein unserer Endlichkeit. Häufig wird die spirituelle Erfahrung als ein Überschreiten der eigenen Grenzen beschrieben. Das Subjekt tritt in Kontakt mit einer Dimension des Daseins, die sich nicht dem alltäglichen Bewusstsein zeigt. Der Gegenstand einer so verstandenen spirituellen Erfahrung heißt manchmal das Absolute oder das Unendliche, manchmal das All oder das Ganze, bisweilen das Göttliche oder auch Gott. Im letzteren Fall besagt der Ausdruck ‚Spiritualität‘, dass das Erfahrene selbst etwas Geistiges ist. Das ist die Sicht der Religion. Für den religiösen Menschen bedeutet Spiritualität mehr als eine Art menschlicher Selbsterfahrung. Spiritualität ist die Erfahrung des Göttlichen oder Gottes als Geist. Im religiösen Kontext bezieht sich der Ausdruck ‚spirituell‘ also nicht bloß auf die Geistigkeit des erfahrenden Subjekts, sondern auf den Gegenstand der Erfahrung. In seiner Streitschrift L’esprit de l’athéisme (wörtlich übersetzt „Der Geist des Atheismus“) tritt der französische Philosoph und Essayist André Comte-Sponville für das Recht der Ungläubigen auf Spiritualität ein. „Atheisten haben nicht weniger Geist als andere. Warum sollten sie sich weniger für das spirituelle Leben interessieren?“ (Comte-Sponville 2008: 11). Keine Religion zu besitzen sei „kein Grund, auf spirituelles Leben zu verzichten“ (Comte-Sponville 2008: 160). Spiritualität bedeutet laut Comte-Sponville ganz allgemein die Offenheit für das Absolute. Unter dem Absoluten versteht der Franzose etwas, das „von jeder Bedingung, jeder Relation und jedem Gesichtspunkt unabhängig existiert“. Mit Religion dagegen meint Comte-Sponville den Glauben an ein jenseitiges geistiges Wesen und einen personalen Gott. Daraus kann er ohne weiteres folgern: „Atheist sein
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heißt nicht, die Existenz des Absoluten zu verneinen, sondern nur dessen Transzendenz, Spiritualität, Personalität, also zu verneinen, dass dieses Absolute Gott sei“ (Comte-Sponville 2008: 162). Die Möglichkeit einer Spiritualität ohne Gott ergibt sich bei Comte-Sponville, wie man leicht sieht, aus der Definition Gottes als unendliche Person. Wenn Spiritualität die Offenheit für das Absolute bedeutet, und wenn Gott nur eine von mehreren Weisen ist, wie wir uns das Absolute vorstellen oder denken können, gibt es Spiritualität klarerweise auch ohne Gott. Ausdrücklich erwägt ComteSponville die Möglichkeit, das materielle Universum oder die Natur als das Absolute anzusehen. Ein solches Absolutes wäre das größere Ganze, das den menschlichen Geist hervorbringt, ohne deshalb selbst ein geistiges Wesen zu sein (vgl. Comte-Sponville 2008: 162– 164). Comte-Sponville erinnert an Baruch de Spinoza, der Gott mit der wirkenden Natur gleichsetzt. Im fünften Buch seiner Ethik führt der Niederländer die geistige Liebe zu Gott (amor Dei intellectualis) ein. Sie entspringt einer Art intuitiver Erkenntnis, worin sich der Mensch als eins mit seinem göttlichen Ursprung und dadurch zugleich mit dem Ganzen der Wirklichkeit erfährt (vgl. Spinoza 1677/2015: 577). Die Spiritualität Spinozas unterscheidet sich nach gängiger Ansicht dadurch von dem religiösen Glauben an einen personalen Gott, dass Spinoza dem Absoluten weder Intelligenz noch Willen zuschreibt. Alles Denken und Streben setzt Bewusstsein voraus und somit die Fähigkeit eines Subjekts, sich selbst von seinem Gegenstand zu unterscheiden. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte schloss daraus, dass es sich bei dem göttlichen Wesen unmöglich um eine Person handeln kann. Gegen die Verteidiger der Personalität Gottes machte er geltend, alles Bewusstsein beruhe auf dem Gegensatz zu etwas anderem und widerspreche der Unendlichkeit Gottes. „Ihr macht sonach dieses Wesen [sc. Gott] durch die Beilegung jenes Prädikats [sc. von Persönlichkeit und Bewusstsein] zu einem endlichen, zu einem Wesen euresgleichen, und ihr habt nicht, wie ihr wolltet, Gott gedacht, sondern nur euch selbst im Denken vervielfältigt“ (Fichte 1845/1971: 187). Diese Überlegung trug Fichte den Vorwurf des Atheismus ein und kostete ihn seinen Lehrstuhl an der Universität Jena (vgl. Danz 2012). Bis heute gelten Verstand und Wille vielfach als wesentliche Kennzeichen Gottes. Demnach hätte Spinoza den Ausdruck ‚Gott‘ zu Unrecht gebraucht. Seiner Ethik läge in Wahrheit eine Art von Spiritualität ohne Gott zugrunde. Lässt sich das Absolute als Geist begreifen, ohne dass es auf eine ihm unangemessene Weise verendlicht würde? Am nachdrücklichsten bejaht hat Hegel diese Frage. In seiner Logik entwickelt er den Begriff einer „übergreifenden Subjektivität“ (Hegel 1830/1991: § 213 Anm.). Auch Hegel geht von der Beziehung des Geistes auf anderes aus. Um eine subjektive Beziehung handelt es sich für Hegel nur, wenn das Subjekt in dem Anderen auf sich selbst bezogen bleibt. Eine
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derartige negative Selbstbeziehung kennzeichnet in seinen Augen nicht bloß jedes endliche Bewusstsein, das etwas denkt oder will, sondern auch das wahre Unendliche. Um nämlich nicht seinerseits dadurch verendlicht zu werden, dass ihm das Endliche als etwas Fremdes gegenübersteht, muss das Unendliche selbst als die Einheit Entgegengesetzter, das heißt des Endlichen und des Unendlichen aufgefasst werden. Hegel prägt dafür den Ausdruck von einem das Endliche übergreifenden Unendlichen, einem das Sein übergreifenden Denken und einer die Objektivität übergreifenden Subjektivität. Indem Hegel das Absolute als etwas denkt, in dem jeweils der eine Pol der genannten Gegensätze den anderen in sich fasst, vermeidet er das Problem der Verendlichung des Unendlichen. Betrachtet man das hegelsche Absolute als Gott, entgeht man der Vorstellung eines der Welt abgewandten, jenseitigen Wesens. Ebenso wenig macht man das Absolute zu einem bloßen Gegenüber des menschlichen Bewusstseins. Dennoch wurden an Hegels Metaphysik der Subjektivität immer wieder zwei Fragen gestellt, die eng mit meinem Thema zusammenhängen. Die erste Frage richtet sich auf das Verhältnis zwischen dem Absoluten und dem endlichen Subjekt. Ein Subjekt ist dann endlich, wenn sich die Gegenstände seines Erkennens und Wollens seinem Einfluss zumindest teilweise entziehen. Die endliche Intelligenz ist auf die sinnliche Wahrnehmung des Gegebenen angewiesen; der endliche Wille zielt auf die Veränderung des Bestehenden. Beides bestimmt die Subjektivität – man könnte auch sagen: Perspektivität – der menschlichen Erfahrung. Indem ich etwas erkenne oder will, geht dieses Andere ein in die Bestimmung meiner selbst. Rein strukturell spricht auf den ersten Blick nichts dagegen, die Beschreibung auf das Absolute als die alles Endliche übergreifende Subjektivität zu übertragen. Der Unterschied zum Endlichen bestünde darin, dass sich das Absolute unabhängig von allem anderen selbst bestimmt, während der Selbständigkeit des Endlichen Grenzen gesetzt sind. Aus dieser Überlegung ergibt sich die zweite Rückfrage an Hegels Theorie der übergreifenden Subjektivität. Besteht tatsächlich eine Analogie zwischen dem endlichen Subjekt und dem hegelschen Absoluten? Oder entzieht sich das allumfassende Ganze jedem Vergleich, weil es durch ihn wiederum verendlicht würde? Weiter gefragt: In welchem Sinn können dem Absoluten Intelligenz und Willen zukommen, wenn es nichts von der übergreifenden Subjektivität Unabhängiges gibt? Wenn Gott alles und in allem ist, bleibt nichts übrig, das er nicht vollständig erkannt und uneingeschränkt gewollt hätte. In Bezug auf Gott verlieren die Begriffe des Erkennens und Wollens ihren normativen Gehalt. Weil es nichts gibt, von dem Gott nichts wüsste, kann er nichts hinzulernen; weil Gott nichts will, von dem nicht feststeht, dass es das Beste ist, kann er sich niemals anders entscheiden. Demnach kann Gott sich weder irren noch Böses tun. Nun ist leicht zu sehen, dass die Vertreter der herkömmlichen Auffassung von Gott als
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transzendenter Person genau das gleiche behaupten. Auch sie betrachten Gott als ein vollkommenes Wesen, das in seiner Allwissenheit weder etwas dazulernen noch sich irren und in seiner Güte nichts Schlechtes wollen kann. Obwohl keines von beidem für uns Menschen gilt, schreiben die Theologen Gott Intelligenz und Willen zu. Hegel zufolge ist die spirituelle Erfahrung subjektiv nicht nur in dem Sinn, dass es sich um die Erfahrung handelt, die ein endliches geistiges Wesen, sprich: ein Subjekt macht. Die spirituelle Erfahrung ist außerdem in dem weiteren Sinn subjektiv, dass die Wirklichkeit im Ganzen als etwas Subjektartiges aufgefasst wird. Damit bin ich bei meiner zweiten These angelangt: Die spirituelle Erfahrung ist dann wahr, wenn das Subjekt in seinem Anderen auf sich selbst bezogen bleibt. Bei Hegel ist die Selbstbeziehung dadurch gewährleistet, dass er das Ganze der Wirklichkeit wiederum als etwas Geistiges begreift. Indem sich das endliche Subjekt in der Religion zu Gott erhebt, erkennt es im Absoluten sein eigenes Wesen. Die Religion in ihrem Begriff ist die Beziehung des Subjekts, des subjektiven Bewusstseins auf Gott, der Geist ist; oder ihren Begriff spekulativ genommen, so ist sie der Geist, der seines Wesens, seiner selbst bewusst ist. Der Geist ist bewusst, und das, dessen er bewusst ist, ist der wahrhafte wesentliche Geist; dieser ist sein Wesen, nicht das Wesen eines Anderen. Insofern ist die Religion sogleich für sich Idee, und der Begriff der Religion ist der Begriff dieser Idee. Die Idee ist die Wahrheit, die Realität des Begriffs, so dass diese Realität mit dem Begriff identisch, durchaus nur durch den Begriff bestimmt ist (Hegel 1983: 86).
Übersetzt man den Gedanken eines personalen Gottes in die Begrifflichkeit der spekulativen Philosophie Hegels, erscheint Gott einerseits als der umfassende Ursprung aller Dinge. Insofern der Mensch ein endliches Subjekt bleibt, sieht er in Gott andererseits ein Gegenüber, an dessen Vollkommenheit er Maß nehmen kann. Drittens schließlich erlebt sich der Mensch trotz seiner Unvollkommenheit als mit Gott vereint (vgl. Wagner 1971: 280 – 282). In der Religion beruht die Wahrheit der subjektiven Erfahrung auf der Gemeinsamkeit des geistigen Wesens, das Endliches und Unendliches miteinander verbindet. Der Spiritualität ohne Gott hingegen fehlt ein vergleichbarer Grund der Erfahrung. Wenn das Absolute, wie Comte-Sponville mutmaßt, nicht mehr ist als die Materie, hätte diese als die Wahrheit der subjektiven Erfahrung zu gelten. Die Spiritualität wäre ein auf den Menschen beschränktes Epiphänomen der Natur (zur säkularen Spiritualität Thomas Metzingers vgl. Beitrag Maidl in diesem Band). Ob und wie die spirituelle Erfahrung in die Natur passt, bliebe unausgemacht. Von einer Wahrheit der subjektiven Erfahrung jenseits der natürlichen Gegebenheiten könnte jedenfalls keine Rede sein – ganz gleich, welche Vorstellungen sich der einzelne Mensch
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sonst vom Absoluten machen und welche Gefühle er oder sie damit verbinden mag.
Literatur Antes P (2002) What Do We Experience If We Have Religious Experience? Numen 49 336 – 342. Comte-Sponville A (2006) L’esprit de l’athéisme. Introduction à une spiritualité sans Dieu. Paris: Michel. Comte-Sponville A (2008) Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott. Übers. Große B. Zürich: Diogenes. Danz C (2012) Der Atheismusstreit um Fichte. In: Danz C, Essen G (Hg.) Philosophischtheologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 135 – 213. Fichte JG (1845/1971) Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung [1798]. In: Sämtliche Werke. Hg. Fichte IH. Berlin: Veit. 177 – 189. Hegel GW (1830/1991) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 3. Aufl. Heidelberg: Oßwald. Hegel GW (1983) Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Der Begriff der Religion. Hg. Jaeschke W. Hamburg: Meiner. Plantinga A (1983) Reason and belief in God. In: Plantinga A, Wolterstorff N (Hg.) Faith and Rationality, Notre Dame: University of Notre Dame Press. 16 – 93. Rometsch J (2007) Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes. Würzburg: Königshausen & Neumann. Sans G (2016) Philosophische Begriffe ohne religiöse Vorstellungen sind leer. Hegel über das Wissen vom Unbedingten und den Glauben an Gott. In: Resch F (Hg.) Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als genuines Thema der Philosophie. Dresden: Text & Dialog. 385 – 400. Spinoza B (1677/2015) Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Übers. Bartuschat W. Hamburg: Meiner. Stederoth D (2006) Gefühl. In: Cobben P, Cruysberghs P, Jonkers P, Vos L (Hg.) Hegel-Lexikon. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 220 – 222. Wagner F (1971) Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel. Gütersloh: Mohn.
Hans Julius Schneider
Bringen religiöse Erfahrungen Erkenntnisse? Do religious experiences allow claims to knowledge? Zusammenfassung: Der erste Teil des Beitrags bietet eine philosophische Erläuterung der Ausdrücke ‚Religion‘ und ‚religiöse Erfahrung‘. Dazu wird zunächst eine Abgrenzung zwischen Erfahrungen einerseits und Stimmungen und Gefühlen andererseits vollzogen. Dies ist nötig, um dem mehr-als-subjektiven Charakter von Erfahrungen gerecht zu werden, ohne den ein Erkenntnisanspruch nicht zu rechtfertigen wäre. In der folgenden genaueren Bestimmung der religiösen bzw. spirituellen Erfahrung folgt der Beitrag dem Vorgehen von William James, zunächst die Rolle zu erörtern die Religionen im menschlichen Leben spielen. Die Frage, ob und in welchem Sinne z. B. transzendente Personen existieren, wird für den vorliegenden Ansatz erst zugänglich, wenn die Besonderheiten der Artikulationsformen religiöser Erfahrungen verstanden sind. Dem entsprechend behandelt der zweite Teil die sprachlichen Form, in der Erfahrungen der religiösen Art typischerweise artikuliert werden, d. h. die Form der Geschichte. Hier zeigt sich, dass es im erörterten Bereich nicht auf die wörtliche Wahrheit einzelner Sätze ankommt.Was Geschichten der einschlägigen Art zu verstehen geben gehört einer zweiten Inhaltsebene an. Die Erörterung ihres Anspruchs, eine Art von Wissen zu artikulieren, ist deshalb eine Untersuchung, ob die einschlägige Geschichte eine mehr oder weniger angemessene Darstellung der ‚Conditio Humana‘ ist. In dem Maße, in dem wir hierüber urteilen können, bringen religiöse Erfahrungen in der Tat Erkenntnisse. Schlüsselwörter: Religiöse Erfahrung, Spiritualität, William James, Artikulation, Literalismus Abstract: This paper offers a philosophical elucidation of the terms ‘religion’ and ‘religious experience’. It formulates a proposal for defining the term ‘experience’ in such a way that it captures its more-than-subjective meaning, as opposed to moods and feelings. This is necessary in order to justify claims to knowledge
Der vorliegende Text ist eine stark überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Verfasser im November 2014 an der Evangelischen Akademie im Rheinland gehalten hat. Die ältere Fassung erschien gedruckt als Schneider (2015). https://doi.org/10.1515/9783110638066-014
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and insight. For a more detailed account of religious experience, the paper follows William James’ strategy of first describing the role of religions in human life and postponing the question of whether or not and to what extent transcendent beings exist. This second question can only be taken up when the particular forms of articulating spiritual experience are understood. Consequently, the second part of the paper examines the linguistic form in which experiences are typically articulated: the form of stories. Interestingly, what matters here is not the literal meaning of sentences; the meaning of the stories is communicated on a second, deeper level. Therefore, in order to examine the claims to knowledge within a given story, one must determine to what extent it gives a more or less truthful depiction of the ‘human condition’. To the extent to which we can make judgements in this domain, religious experience can indeed justify knowledge claims. Keywords: religious experience, spirituality, William James, articulation, literalism
1 Die Begriffe ‚Religion‘ und ‚religiöse Erfahrung‘ Der hier zugrunde gelegte Vorschlag für die Bestimmung des Begriffs der Religion lautet: Es handelt sich bei den Religionen um historisch gewachsene Artikulations- und Praxisformen, die ihrem Selbstverständnis und Anspruch nach eine wahrhaftige Einstellung zum Leben im Ganzen zugleich artikulieren und ihren Angehörigen praktisch ermöglichen, wobei das ‚Ganze‘ sich mit den Stichworten Geburt, Liebe, Sexualität, Schuld, Krankheit und Tod andeuten lässt (Schneider 2008: 13). Diese Definition enthält die These, das charakteristische Merkmal der Religionen, das sie u. a. von Philosophien und von Ideologien unterscheidet, sei nicht die Tatsache, dass sie einen ‚Blick auf das Ganze‘ zu artikulieren versuchen. Was sie auszeichne, sei vielmehr ihr besonderer Charakter einer ‚Praxisform‘. Damit ist gemeint, dass in der Religion nicht nur geredet und geschrieben wird. Auch der Vollzug ritueller Handlungen genügt allein nicht. Vielmehr geht es um die Gewinnung und Aufrechterhaltung einer ‚Einstellung‘ und der sich daraus ergebenden Handlungsweisen. Diese Einstellung soll praktisch ermöglicht werden, d. h. sie soll in einem sozialen Kontext eingeübt, gepflegt und bestärkt werden. Nun gab es zwar auch Philosophen, die die Welt nicht nur interpretieren oder verändern wollten, sondern die durch ihr Philosophieren auch sich selbst verändern wollten. So sagt Ludwig Wittgenstein in einer Bemerkung von 1931, die Philosophie sei eine „Arbeit an Einem selbst“ (Wittgenstein 1977: 38). Er be-
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trachtet sich aber als einen einsamen Denker. Er hat die akademischen Institutionen stets als problematisch empfunden und in ihnen keine Hilfen bei seiner Arbeit an sich selbst gesehen. Die Religionen dagegen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich in Gestalt sozialer Gruppen verwirklichen, deren Mitglieder sich gegenseitig dazu verhelfen wollen, eine bestimmte Einstellung zum Leben sowohl zu erwerben (in der religiösen Erziehung) als auch aufrecht zu erhalten (im sozialen religiösen Leben). Wir wenden uns zunächst einer Bestimmung des Begriffs der Erfahrung zu und seiner Abgrenzung gegen die eher subjektiven Begriffe Erlebnis und Empfindung. Denn wenn es um die Möglichkeit geht, einen Bericht über eine religiöse Erfahrung mit einem Erkenntnisanspruch zu verbinden, dann benötigen wir einen Erfahrungsbegriff, der es auf der einen Seite gestattet, von persönlichen Erfahrungen zu sprechen, der es aber vermeidet, in den Bereich der rein individuellen Stimmungen und Gefühle geraten. Einen Fingerzeig in diese Richtung gibt uns bereits die Tatsache, dass auch in der Sprache des Alltags Erfahrungen von Erlebnissen unterschieden werden. Wer von einer Erfahrung berichtet, der beansprucht etwas anderes als derjenige, der von sich berichtet, er hätte jüngst in dieser oder jener Situation ein ‚komisches Gefühl‘ gehabt. Für unser Thema sind nun diejenigen Fälle entscheidend, in denen der Bericht über eine Episode mit dem Ansinnen verbunden ist, die Zuhörer/-innen könnten aus ihm auch etwas für das Verständnis ihrer eigenen Lage lernen, denn es gehe auf der gewählten Beschreibungsebene um eine Situation oder Lage, die beiden gemeinsam sei, im umfassendsten Fall gehe es um die conditio humana. Auf ein Beispiel bezogen: Wer von sich sagt, er oder sie habe die Erfahrung gemacht, das Geben sei tatsächlich seliger als das Nehmen, der beansprucht mit seinem Bericht mehr als nur die Schilderung eines Erlebnisses. Es geht ihm oder ihr nicht um eine Episode, in der es ihm oder ihr z. B. einen besonderen ‚Spaß gemacht hat‘, etwas zu verschenken. Vielmehr möchte der Sprecher oder die Sprecherin den Zuhörern die eigene Sicht als eine vermitteln, die diese für sich selbst übernehmen könnten und sollten. Es geht um eine Sehweise, die sich die Person dauerhaft angeeignet hat und für die sie Angemessenheit beansprucht. Dieser Unterschied lässt sich durch die folgende Aussage präzisieren: Nur manche unserer Erlebnisse werden zu Bestandteilen von Erfahrungen, und zwar dadurch, dass wir sie auf eine bestimmte Weise verarbeiten, sie uns zu Eigen machen. Diese besteht darin, das fragliche Erlebnis in unsere Sicht auf den jeweiligen Lebensbereich so zu integrieren, dass das Resultat dieser Integration unser Verständnis dieses Lebensbereichs nachhaltig prägt. Dieses Verständnis wiederum halten wir für verallgemeinerbar. Das zeigt sich insbesondere dort, wo wir versuchen, unseren Kindern unser Verständnis bestimmter Lebensbereiche zu
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vermitteln, z. B. des Tagesablaufs, des Umgangs mit anderen Menschen oder mit eigenen Krankheiten. Wenn wir uns nun dem Begriff der religiösen Erfahrung zuwenden, ist zunächst der Punkt wichtig, dass dieser Begriff im philosophischen Kontext nicht dadurch definierbar ist, dass ein bestimmter religiöser Gegenstand angegeben wird, auf den sich eine solche Erfahrung beziehen müsste, z. B. die Person Gottes. Denn der hier vorgeschlagene Zugang unterstellt, dass die Philosophie für sich allein keinen Gegenstand als religiös ausweisen kann, auf den gestützt sie die Besonderheit religiöser Erfahrung bestimmen könnte. Ferner gilt empirisch, dass religiöse Erfahrungen mit Gegenständen verschiedenster Arten verbunden sein können, sie können aber auch, wie in manchen Zweigen des Buddhismus, gerade die Abwesenheit aller Gegenstände beinhalten. Es ist also nicht das Auftauchen spezifischer Personen oder Gegenstände, das den religiösen Charakter einer Erfahrung ausmacht. Bildlich gesprochen: Es geht in der religiösen Erfahrung nicht um eine ‚Begegnung mit Außerirdischen‘, um deren Existenz man zunächst zu streiten hätte, wenn der Erkenntnisanspruch der einschlägigen Erfahrungen zur Debatte steht. Religiöse Erfahrungen sind keine Wahrnehmungen. Dies übersieht z. B. Ansgar Beckermann (2013) und deshalb geht seine Kritik aus der Sicht der hier vertretenen Position an der Sache vorbei (Schneider 2014). Hier liegt auch eine Schwäche in der Bestimmung der Religion bei Ernst Tugendhat (2003). Da er das Religiöse durch einen Bezug auf außerirdische personale Wesen definiert, für die Ausbuchstabierung dessen, was damit gemeint ist, aber nur alltägliche oder wissenschaftliche Arten des ‚sich sprachlich auf ein Ding oder Wesen Beziehens‘ erwägt, kommt er zu dem Resultat, Religion (in seinem Sinne) sei ein Ausdruck intellektueller Unredlichkeit, weil solche Wesen sich alltäglich oder wissenschaftlich nicht feststellen ließen. Beide Autoren versuchen also, die Frage nach der Existenz philosophisch bestimmbarer Gegenstände an den Anfang ihrer Überlegungen zu stellen, sie wählen dann als Mittel zu ihrer Beantwortung eine ‚objektive‘, an den Wissenschaften orientierte Perspektive und stellen fest, die religiöse Erfahrung habe keinen Gegenstand, die zugehörigen Äußerungen gingen also ins Leere. Diese Parallelisierung von religiöser und wissenschaftlicher bzw. alltagsweltlicher Erfahrung überzeugt nicht. Sprachphilosophisch gesprochen: Wir müssen mit Artikulationsformen von Erfahrungen rechnen, die sich von Aussagen über wissenschaftlich oder alltäglich zugängliche Gegenstände grundlegend unterscheiden. Es erscheint daher nicht aussichtsreich, die Frage nach der Verlässlichkeit spezieller Wahrnehmungen an den Anfang einer religionsphilosophischen Diskussion zu stellen und das Weiterdenken davon abhängig zu machen, ob sich die Existenz eines Wahrgenommenen mit Methoden, die an denen
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der Wissenschaft orientiert sind, nachweisen lässt, mit der Unterstellung, wenn dies nicht der Fall sei, dann erübrigten sich alle weiteren Schritte. Die hier vertretene Sicht behauptet: Umgekehrt wird ein Schuh draus. Man sollte mit einer Untersuchung von besonderen Erfahrungen beginnen, die in Richtung unseres Vorverständnisses vom Religiösen oder Spirituellen weisen, um erst dann zu schauen, auf welche Weisen solche Erfahrungen artikuliert werden. Erst wenn dies verstanden ist, lässt sich entscheiden, was die Behauptung heißen kann, dieser oder jener ‚Gegenstand‘ (z. B. diese oder jene göttliche Person, die in einem Artikulationsversuch auftritt) würde existieren (vgl. Schneider 2016a). Für eine genauere Charakterisierung dieser besonderen Erfahrungen soll hier auf das bekannte Buch von William James (1902/1979) ‚Die Vielfalt religiöser Erfahrungen‘ zurückgegriffen werden. Dieser spricht durchweg von ‚religiösen Erfahrungen‘, auch wenn er klar macht, dass es ihm um keine bestimmte Religion geht, sondern um menschliche Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt. Obwohl es in interkulturellen Kontexten empfehlenswert ist, von spirituellen statt von religiösen Erfahrungen zu sprechen, wird im Folgenden aber der Sprachgebrauch von James beibehalten. Diese besonderen Erfahrungen, so James, haben mit dem ‚Ganzen‘ des menschlichen Lebens zu tun. Dies bedeutet insbesondere, dass darin die leidhafte Seite und die Übel des Lebens (wie Misserfolg, Verlust, Krankheit, Tod) ausdrücklich eingeschlossen sind. Die nüchterne Wahrnehmung, die Akzeptanz und die gelingende Integration dieser leidhaften Seite in die Haltung zum Ganzen ist bei James der Kern der religiösen Erfahrung. Es ist wichtig zu sehen, dass hier das Leidvolle nicht wegerklärt oder verdrängt oder von den betroffenen Menschen auf wunderbare Weise ferngehalten wird; es wird gesehen und in die Einstellung zum Leben integriert. Betrachtet man diese Wendung zur Integration des Leides genauer, dann zeigt sich nach James im typischen Fall eine Abfolge von drei Einzelschritten. Ihr Ausgangspunkt ist die Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit dem Leid und dem Übel gegenüber, oft verbunden mit einer ‚Entzauberung‘ oder einer völligen SinnEntleerung der Welt. Das volle Eingestehen dieser Machtlosigkeit als einer Realität des Lebens führt in einem zweiten Schritt dazu, dass die Person ihre Bemächtigungsversuche aufgibt. Der sich anschließende dritte Schritt ist dann entscheidend dafür, solche Erfahrungen ‚religiöse‘ zu nennen, nämlich die subjektiv oft überraschende Erfahrung, durch diese Art der Selbstaufgabe nicht unterzugehen, nicht endgültig ins Bodenlose zu fallen. Die Person erfährt sich vielmehr als aufgehoben in einer „unsichtbaren Ordnung“, in der ihren Platz einzunehmen sie nicht als Joch empfindet, als etwas, das ‚die anderen‘ ihr zumuten, sondern als „höchstes Gut“ (James 1902/1979: 63). Diese positive Tönung, gleichgültig ob und wie sie mit
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konkreten Inhalten verbunden ist, gehört zur religiösen Erfahrung unbedingt dazu. Wegen ihres überraschenden Charakters kann man sagen, hier finde eine ‚Erfahrung gegen alle Erfahrung‘ statt. Für den religiösen Charakter dieser Veränderung ist der Umstand entscheidend, dass es gerade das Loslassen ist, das zu dem führt, was die Person als ihre Rettung empfindet. Daher wird diese Wandlung häufig so beschrieben als seien Kräfte außerhalb des eigenen Ich am Werke. (Vgl. die Bemerkung von Sans in diesem Band, es gehe um mehr als eine Begegnung mit sich selbst.) Der Betroffene erlebt seine ‚Rettung‘, d. h. etwas, das er als eminent sinnvoll und hilfreich erfährt, das aber weder aus seiner eigenen Handlung erwächst, noch aus der eines Mitmenschen, der ihm zu Hilfe käme. Der auf diese besondere Weise sinnvolle Charakter des Geschehens kann es nun aber insgesamt als handlungsartig erscheinen lassen. Dies kann (muss aber nicht) artikuliert werden mit einem Satz wie: Es ist, als ob jemand mit guten Absichten eingegriffen hätte.Wir sehen daran, wie naheliegend es sein kann, hier von einem ‚unsichtbaren Akteur‘ zu sprechen, einem handelnden Wesen, dem man diesen Umschwung verdankt. Wie ist dieser Umstand nun aber zu interpretieren? Wer auf diese Weise von seiner Rettung spricht, von dem können wir zunächst feststellen, dass er eine reale Erfahrung artikuliert, und zwar tut er dies im hier unterstellten Fall mit Hilfe eines Vergleichs, so wie wenn wir beim Arzt sagen, eine bestimmte Partie unseres Rückens fühle sich an, als ob eine Nadel darin stecken würde.Wir behaupten damit nicht, es müsse sich eine solche Nadel finden lassen. Trotzdem ist unsere Beschreibung sachhaltig und wird vom Arzt in ihrem Aussagegehalt ernst genommen. Es ist nun für ein Verständnis des religiösen Falls wichtig, das Folgende zu berücksichtigen. Es bedeutet einen großen zusätzlichen Schritt, wenn wir vom personalen Beschreibungsmodus zu der Frage übergehen, ob ein solcher handelnder Akteur tatsächlich und in einem Sinne existiert, der sich vom Kontext der vorliegenden Erfahrung und der in ihm gegebenen Artikulationstradition ablösen lässt. Statt uns auf die Realität der Erfahrung zu beschränken, d. h. auf den tatsächlich stattfindenden oder nur erhofften Umschwung im Leben der betroffenen Person, würden wir dann nämlich an einem Spezifikum ihrer Beschreibung anknüpfen, was wir so nicht könnten, wenn in der Artikulation nicht von einem göttlichen Wesen die Rede gewesen wäre, sondern wenn wir von einer anderen Beschreibung des umwälzenden Charakters der Erfahrung ausgingen, die z. B. vom ‚Erwachen‘ oder einer besonderen ‚Helle‘ sprechen würde. (Vgl. den Hinweis von Niederbacher in diesem Band.) Wenn wir den Schritt zur Frage nach der Existenz eines Akteurs allerdings getan haben, dann stehen wir vor einer zweiten wichtigen Weichenstellung. Es erscheint nämlich heute vielen Menschen als naheliegend, sich für die Beant-
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wortung der genannten Existenzfrage an die Wissenschaft zu wenden, d. h. den religiösen Kontext zu verlassen. In unserer eigenen Tradition waren Fragen der Kosmologie und Fragen der Religion lange Zeit miteinander verbunden, nur deshalb konnte es einen ‚Fall Galilei‘ geben. Am Beispiel des Buddhismus können wir aber sehen, dass weder die Unterstellung eines Akteurs für alle Kulturen zwingend ist (nicht alle Religionen haben Götter im christlichen Sinn). Noch ist es für alle Kulturen zwingend, dass man einer Naturwissenschaft wie der Kosmologie oder der Physik eine Mitsprache bei der Beantwortung religiöser Fragen zugesteht. Der historische Buddha soll kosmologische Fragen stets als für die Lebenspraxis irrelevant zurückgewiesen haben. Und für unsere heutige Zeit scheint es geboten, die Ausdrucksformen der Religionen von denen der Wissenschaften streng getrennt zu halten, wenn Kategorienfehler und Scheinprobleme vermieden werden sollen. Der den oben genannten Religionskritikern Beckermann und Tugendhat gemeinsame Hauptfehler liegt nämlich darin, diese Trennung der Ausdrucksformen unterlassen zu haben. Doch zurück zu James. Das genannte Widerfahrnis der gelingenden Integration wird wie eine „zweite Geburt“ (James 1902/1979: 156) erfahren, nämlich als Schritt vom unwirklichen (d. h. vom naiven, verblendeten und von Täuschungen durchzogenen) zum realen Leben. Charakteristisch für diesen Zustand ist u. a. der Verlust aller Sorge und die Überzeugung, dass es gut um einen steht, unabhängig davon, was einem geschieht (James 1902/1979: 238). Das eigene Leben, so wie es der oder die Betroffene im Kontext der von ihm/ihr erfahrenen Welt erlebt, erscheint nach dieser zweiten Geburt als sinnvoll, ohne dass sich ‚objektiv‘ etwas geändert hätte. Das soll hier heißen: Aus der Perspektive einer anderen Person und der von ihr ‚äußerlich‘ feststellbaren angenehmen oder unangenehmen Ereignisse erscheint die Welt unverändert, obwohl ihre ‚Gestalt‘ sich für die betroffene Person wie bei einem Vexierbild grundlegend verändert hat. Hier wird erneut sichtbar, in welchem Sinne die Besonderheit der religiösen Erfahrung für James nicht darin besteht, mit einem neuartigen (‚metaphysischen‘) Gegenstand konfrontiert zu sein, von dem der Betroffene bis dahin nichts wusste. Trotzdem wird der genannte Schritt vom unwirklichen zum realen Leben (buddhistisch: das Erwachen, vgl. Schneider 2016b) als ein Erkenntnisgewinn erlebt, nämlich als eine Überwindung von Täuschungen. Man sieht hier, dass dieser Erkenntnisgewinn von anderer Art ist als ein Erkenntniszuwachs in den Wissenschaften. Ein falsches Bild vom Leben gehabt zu haben, bedeutet für die zurückblickende Person meist eine Katastrophe. Bei einem falschen Bild von der Milchstraße lässt sich das normalerweise nicht sagen. Als viertes Merkmal nennt James schließlich den Umstand, dass dieser Wandel bei religiösen Erfahrungen in der Mehrzahl der Fälle nachhaltig ist, er vermittelt den betroffenen Personen eine bleibende seelische Standfestigkeit. So
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kommt er zu der Bewertung, dass uns diese Erfahrungen eine Möglichkeit des Menschen vor Augen führen, „… die das Beste ist, was die Geschichte zu zeigen hat“ (James 1902/1979: 248). Auch sagt er: „Diese Art Glückseligkeit im Absoluten und Immerwährenden ist, was wir nirgends sonst finden als in der Religion“ (James 1902/1979: 58).
2 Wie kommen Erfahrungen zur Sprache und was folgt daraus für die mit ihnen verbundenen Erkenntnisansprüche? Wenn wir nun fragen, wie Erfahrungen vom Typus der Lebenserfahrung zur Sprache kommen, dann lautet die Antwort in vielen typischen Fällen: durch das Erzählen einer Geschichte. Anders als eine wissenschaftliche Beschreibung eines Sachverhalts oder Ablaufs (wie z. B. die Entstehung der Alpen oder die Entwicklung des Universums seit dem Urknall) ist eine Geschichte im hier gemeinten Sinne einer story stets eine menschliche Geschichte. Sie erzählt, wie es uns Menschen mit unseren Bedürfnissen, Ängsten, Hoffnungen und Glücksmomenten ergehen kann, sie erzählt, worauf es in bestimmten Situationen oder im Leben überhaupt ankommt und macht uns mit typischen Fehlern und ihren Folgen bekannt. Damit ist schon angedeutet, dass Geschichten der hier einschlägigen Art exemplarischen Charakter haben. Sie erzählen Erfahrungen, aus denen die zuhörenden Personen für ihr eigenes Leben etwas lernen sollen. Dies kann auf zwei Weisen geschehen, die im Bewusstsein der erzählenden Personen und ihrer Zuhörer nicht immer getrennt werden. Entweder handelt es sich um Erfahrungen einer historischen Person die von einer Art sind, die es den Zuhörern gestattet, sich mit dieser Person ein Stück weit zu identifizieren, auch wenn sie vor sehr langer Zeit gelebt hat. Oder es wird (wie z. B. im Märchen) von vornherein verstanden, dass es beim Erzählen solcher Geschichten auf historische oder buchstäbliche (‚literale‘) Wahrheit gar nicht ankommt, vergleichbar der erwähnten Situation beim Arzt, in der ein Patient sagt, es sei als ob in seinem Rücken eine Nadel stecke. Nicht immer lassen sich diese beiden Fälle klar unterscheiden. Man denke an Aussagen über den legendären ‚gelben Kaiser‘ im frühen China oder an die Aussage von Herodot, die alten Ägypter hätten noch die wirklichen Namen der Götter gekannt (Assmann 2000: 26). Es ist allgemein bekannt aber trotzdem bemerkenswert, dass Kinder in der Lage sind, aus einem Märchen etwas für sie Wichtiges zu lernen ohne die Frage nach der buchstäblichen Wahrheit der Ge-
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schichte aufzuwerfen. Der Psychotherapeut Bruno Bettelheim (1977) erörtert das u. a. an dem Problem der Kinder, in einer bestimmten Lebensphase mit ihren gemischten Gefühlen klarzukommen. Die Geschichte hilft ihnen z. B. böse Gefühle der Mutter gegenüber bei sich selbst erstens wahrzunehmen, und zweitens zu lernen, dass sie selbst und die Mutter zusammen einen Weg finden können, auf dem das Kind damit fertig wird. Im Idealfall kann das Kind mit Hilfe der Mutter, die selbst das Märchen erzählt, die eigenen bösen Gefühle in sein Verständnis vom Leben integrieren ohne zu befürchten die Mutter werde es verstoßen. Das Märchen von Schneewittchen z. B. erbringt diese Leistung durch die Aufspaltung einer Mutterfigur in eine liebevolle echte Mutter und eine böse Stiefmutter. Das Kind kann dieses Märchen für sich nutzen, obwohl es sehr gut weiß, dass seine eigene Mutter nur eine Person ist. Bettelheim berichtet, dass die Kinder die für sie wichtigen Märchen zielstrebig auswählen können und dabei sogar in der Lage sind, eine historisch gewachsene Fassung einer geglätteten Version vorzuziehen, obwohl sie natürlich außerstande sind, ihre Wahl zu begründen, oder zu erläutern, was die nicht geglätteten Märchen für sie leisten. Und sie können die Märchen als ein Vehikel z. B. für die genannte Gefühlsintegration benutzen, bevor sie sich die Frage stellen, ob die betreffende Geschichte im buchstäblichen Sinne wahr ist oder nicht und ob ihre eigene Situation mit der im Märchen verglichen werden kann. Dies kann man durch die Formulierung ausdrücken, die Kinder verstünden diese Geschichten auf einer zweiten Inhaltsebene, sie erfassten eine ‚übertragene‘ oder ‚sekundäre‘ Bedeutung, bei der es gar nicht um die buchstäbliche Wahrheit gehe, sondern um eine Wahrheit über ihre Lage, im betrachteten Fall um den Zwiespalt ihrer Gefühle der Mutter gegenüber. Diese Lage lässt sich offenbar auch dann durch eine Geschichte artikulieren und kommunizieren, wenn diese im buchstäblichen Sinne von vornherein keine Wahrheit beansprucht. Die Lage des Kindes kann so beschrieben werden, als ob es bei der Mutter um zwei Personen ginge. Wenn man den Unterschied zwischen den beiden Inhaltsebenen deutlich sichtbar machen will, kann man für das Treffende auf der zweiten Inhaltsebene den Ausdruck ‚Angemessenheit‘ verwenden. Man kann auch sagen, das Kind erkenne etwas mit Hilfe der Geschichte, aber diese Art der Erkenntnis wird nicht durch das Erfassen einer Wahrheit auf der ersten (d. h. der ‚wörtlichen‘) Inhaltsebene gewonnen, sondern durch die intuitive Einsicht in die Angemessenheit der Geschichte als Artikulation der betreffenden kindlichen Lage, d. h. auf einer zweiten Inhaltsebene. Positionen, die eine solche zweite Inhaltsebene leugnen, werden heute auch als ‚literalistisch‘ bezeichnet. Wir können nun sehen, dass manche Religionskritiker, z. B. schon die Figur des Cleanthes in David Humes Dialogen über natürliche Religion (Hume 1779/1981), aber auch zeitgenössische Philosophen wie Beckermann und Tugendhat durch ihr
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Insistieren auf einem quasi-wissenschaftlichen (‚objektiven‘) Blick die Möglichkeit einer zweiten Inhaltsebene ignorieren. Humes Cleanthes behandelt die christliche Schöpfungsgeschichte wie eine naturwissenschaftliche Theorie, Tugendhat und Beckermann behandeln Artikulationen religiöser Erfahrungen wie Berichte über sinnliche Wahrnehmungen von Gegenständen bzw. Personen.Wenn es bei solchen Erfahrungen aber, wie William James meinte, um die Gewinnung einer integrierenden Perspektive auf das menschliche Leben als einer Ganzheit geht, einer Perspektive, in der die Person das Leiden anerkennt und trotzdem den Lebensmut nicht verliert, dann kann die Artikulation einer solchen Sicht nicht von der Art einer wissenschaftlichen Theorie und nicht von der Art eines Berichts über einzelne sinnliche Wahrnehmungen sein. Wenn wir sagen, auch im Bereich der Artikulation religiöser Erfahrungen gehe es, wie für die Kinder beim Märchen, um eine Integrationsaufgabe, dann ist von vornherein zu erwarten, dass die Erfüllung dieser Aufgabe eine ‚menschliche Geschichte‘ verlangt, die nicht buchstäblich wahr zu sein braucht. Es geht nicht um eine wissenschaftliche Theorie oder Hypothese, die im Experiment Falsifikationsversuchen standhält und deshalb vorläufig als angemessen bezeichnet werden darf. Damit sind wir bei der Titelfrage: Bringen religiöse Erfahrungen Erkenntnisse? Können wir sagen, Geschichten des hier betrachteten Typus könnten den Anspruch erheben, eine Erkenntnis auszudrücken? Mit Blick auf James fragen wir speziell: Kann ein Bericht über die Erfahrung, dass eine Integration der leidhaften Seiten des Lebens gelingen kann, als Formulierung einer Erkenntnis gelten, eines Zuwachses an Verständnis oder kann man hier nur von Veränderungen einer Sehweise sprechen? Im zweiten Falle könnten wir dann zwar sagen, die Ansichten eines Menschen hätten sich gewandelt. Wenn wir aber von einem Zuwachs an Erkenntnis sprechen wollen, scheinen wir Kriterien zu brauchen, nach denen wir die neue Sicht angemessener oder realistischer als die alte nennen können. Hier soll dafür plädiert werden, den Blick des Kindertherapeuten Bettelheim auf die hilfreiche Rolle der Märchen auf uns Erwachsene auszudehnen. Auch wir haben Geschichten, die uns dabei helfen sollen, nötige Integrationen zu vollziehen, um eine Einstellung zum Leben zu gewinnen, bei der wir seine leidhaften Seiten realistisch sehen, aber so, dass wir trotzdem ein innerlich friedliches und, soweit möglich, freudiges Leben führen können. Dies erscheint durchaus erstrebenswert. Der Erwachsene, der nicht in Selbsttäuschungen stecken bleiben will, sollte zu seiner Sterblichkeit, zu seiner Anfälligkeit für Krankheiten und zu den Beschwerlichkeiten des Alters schon in ‚guten Zeiten‘ ein Verhältnis entwickeln. Er sollte bei dem spontanen Stoßseufzer ‚ich will gar nicht daran denken‘ und bei dem verbreiteten Wunsch, möglichst plötzlich und schmerzfrei zu sterben, nicht stehen bleiben. In der praktischen Hilfe bei der Entwicklung einer ganzheitlichen, handlungsleitenden und wahrhaftigen Einstellung zu diesen ‚Fakten des Lebens‘
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besteht die spezifische Aufgabe der Religionen. Die religiöse Erfahrung, wie James sie versteht, sagt uns, dass die Gewinnung einer solchen Einstellung möglich ist. Hier lässt sich von der Notwendigkeit einer Korrektur sprechen, von der größeren oder kleineren Angemessenheit der verschiedenen Bilder von unserer Lage und demgemäß auch von einem Zugewinn an Erkenntnis. Die zentrale Weichenstellung des hier verfolgen Ansatzes einer Religionsphilosophie bestand darin, eine Erörterung des Begriffs der religiösen Erfahrung an den Anfang zu stellen und nicht einen Begriff von Gott oder von einem transzendenten Bereich, so dass zuerst in einer distanzierten, d. h. alltagsweltlichen oder wissenschaftlichen Weise zu klären wäre, ob diese Begriffe etwas real Existierendes bezeichnen oder nicht. Die These hinter dieser Weichenstellung lautet: Theistische Redeweisen werden als eine von mehreren religiösen Artikulationsformen erst dadurch verständlich, dass sie auf spirituelle Erfahrungen bezogen werden. Und was damit gemeint ist, muss sich umreißen lassen in einer Sprache, die noch nicht auf eine spezifische Artikulationstradition (auch nicht auf ein spezifisches ‚Personal‘) einer einzelnen Religion festgelegt ist. In der Bestimmung des Begriffs der religiösen Erfahrung folgte die hier vorgetragene Argumentation William James mit der Aussage: Es ist möglich, eine Einstellung zum Leben als Ganzem zu gewinnen in die seine leidhaften Seiten integriert sind und die trotzdem akzeptierend und zustimmend ist. Das Gewinnen dieser Einstellung wird als das Ablegen von Täuschungen erfahren. Solche Erfahrungen sind zweifellos real; ihre theistische Artikulation ist möglich aber nicht zwingend. Wenn dies richtig ist, können diejenigen, die sich z. B. eine christliche Artikulationsform angeeignet haben auch sagen ‚Gott existiert‘. Dies ist dann eine Aussage, die aus dem Inneren einer Religion gemacht wird, z. B. um sie zu verteidigen. Es handelt sich nicht um eine philosophische Aussage. Wer sie im philosophischen Zusammenhang macht, muss deshalb bereit sein, sie mit philosophischen Mitteln verständlich zu machen, was nach den hier vorgetragenen Überlegungen einen Rekurs auf spirituelle Erfahrungen verlangt.
Literatur Assmann J (2000) Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten. München: Beck. Beckermann A (2013) Glaube. Berlin: de Gruyter. Bettelheim B (1977) Kinder brauchen Märchen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Hume D (1779/1981) Dialoge über natürliche Religion. Stuttgart: Reclam. James W (1902/1979) Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Olten: Walter. Schneider HJ (2008) Religion. Berlin: de Gruyter.
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Schneider HJ (2014) Das Geistige und die Geister. Oder: Wovon handelt der religiöse Glaube? Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62:336 – 341. Schneider HJ (2015) Über den Erkenntnisanspruch religiöser Erfahrungen. In: Frank Vogelsang, Johannes von Lüpke (Hg.) Wie geht Glauben? Diskussion um einen theologischen Zentralbegriff. Bonn: Evangelische Akademie im Rheinland. 9 – 28. Schneider HJ (2016a) Sprachliche Kreativität und ontologische Verpflichtungen. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Paul Lorenzen und die konstruktive Philosophie, Münster: mentis. 189 – 210. Schneider HJ (2016b) Empirische Metaphysik? Sprachphilosophische Anmerkungen zur Interpretation buddhistischer ‚Erleuchtungserfahrungen‘. In: Renger AB (Hg.), Erleuchtung. Kultur- und Religionsgeschichte eines Begriffs. Freiburg: Herder. 159 – 176. Tugendhat E (2003) Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München: Beck. Wittgenstein L (1977) Vermischte Bemerkungen. Frankfurt: Suhrkamp.
IV. Spiritualität und Ethik
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Spiritualität und die Heiligkeit des – anderen – Menschen Ein Gedanken-Gang mit Emmanuel Lévinas und Hans Joas Spirituality and the holiness of the – other – person Threading the path with Emmanuel Lévinas and Hans Joas Zusammenfassung: Heiligkeit, Schlüsselwort von Religion? Kennzeichnet die Problematisierung des Heiligen nicht unumkehrbar den Säkularisierungsprozess? Oder revitalisiert der Rückgriff auf Mana und Tabu, auf das mysterium tremendum et fascinans (R. Otto) die Rede vom Heiligen; gar dieses selbst? Der Soziologe H. Joas lenkt die Aufmerksamkeit auf Émile Durkheims Hinweise auf eine sich historisch manifestierende Sakralisierung der Person. Es ist Joas’ Anliegen, jenen historischen Prozess als eine Fortführung jüdisch-christlicher Motive kenntlich zu machen. Der Philosoph E. Lévinas deutete, mit einem rabbinisch geprägten Judentum, Heiligkeit anti-numinos – und, gerade angesichts der politischen ReMythisierungen und Re-Sakralisierungen des 20. Jahrhunderts, anti-totalitär: Beziehung durch Trennung. „Erwachsenenreligion“ lautet hier das den faulen, hoch-toxischen Zauber der Zeit entzaubernde Losungswort. Es geht nicht allein um die Erziehung zur, sondern um die Erziehung der Mündigkeit. Der verletzliche andere Mensch ist heilig, ist mir heilig. Um seinetwillen bin ich zur Heiligkeit, Gastlichkeit, Mütterlichkeit, zur umfassenden, also nicht vereinnahmenden Sorge um den Anderen erwählt. Es ist die Verantwortung des nackten, kindlich verletzlichen, bedürftigen und begehrenden, genießenden, sinnlich-sensiblen, sterblichen Ich für den nackten, kindlich verletzlichen, bedürftigen und begehrenden, genießenden, sinnlich-sensiblen, sterblichen Anderen. Warum sorgen? Sorget nicht ängstlich! Befremdend-befreiende Inspiration für eine Spiritualität der Gastfreundschaft des Ich; gefährliche Erinnerung an die Heiligkeit des gefährdeten Anderen. Schlüsselwörter: Heiligkeit im Säkularisierungsprozess; Sakralisierung der Person; Erwachsenenreligion; Spiritualität der Gastfreundschaft; Heiligkeit des Anderen; Menschenrechte. Abstract: Holiness: keyword of religion? Does the problematization, even the loss, of holiness irreversibly mark the process of secularization? Or could the rehttps://doi.org/10.1515/9783110638066-015
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course to Mana and Taboo, to the mystery tremendum et fascinans (R. Otto) revitalize the discourse of holiness, even holiness itself? The sociologist H. Joas draws attention to É. Durkheims references to a historically manifesting sacralization of the person. It is Joas’s concern to identify this historical process as a continuation of Judeo-Christian motives. The philosopher E. Lévinas, coming from a rabbinical Judaic background, interprets holiness as “anti-numinous” and – in view of the collective re-enchantments and re-sacralizations of the 20th century – anti-totalitarian: relationship through separation. “Adult religion” is the keyword that disenchants and breaks the idle and highly toxic spell of the time. It is not just about growing up, but about growing in maturity. The vulnerable other person is holy, is sacred to me. For his or her sake, I am chosen for holiness, hospitality, and Text maternalism, for an encompassing – that is non-possessive – care for the Other. It is the responsibility that the naked, vulnerable, needy and desiring, sensually-sensitive, mortal I has for the naked, vulnerable, needy and desiring, sensually-sensitive, mortal Other. Why should we care? Strange and liberating inspiration for a spirituality of hospitality in myself, dangerous reminder of the holiness of the endangered Other. Keywords: Holiness in the process of secularization; sacralization of the person; adult religion; spirituality of hospitality; holiness of the Other; human rights. Heiligkeit – das schlechthinnige Schlüsselwort von Religion? So jedenfalls sagt es der schwedische lutherische Theologe und Erzbischof von Uppsala, Nathan Söderblom (1866 – 1931), Religionswissenschaftler, in seinem bekannten Enzyklopädieartikel „Holiness“ (Söderblom 1913).
1 Rückzug des Heiligen? Die Problematisierung des Heiligen gilt als wesentlicher Aspekt des modernen Säkularisierungsprozesses. Doch schwindet das Heilige bzw. der Sinn für Heiliges mit dem Rückgang verfasster Religion radikal aus unserem Leben? Was ist das überhaupt, das Heilige? In der religionswissenschaftlichen Diskursivierung werden das Heilige und seine Erfahrung weniger definiert denn mit einem Netz von Begriffen überzogen. Dem metasprachlichen Diskurs der Religionswissenschaft über das Heilige geht es „um ein phänomenologisches, hermeneutisches und genealogisches Verständnis seines Geltungssinns“ (Schlette 2014: 204). So postulierte der Oxforder Philosoph und Religionsethnologe Robert Ranulph Marett 1909 die Korrelation der Erfahrung des Heiligen mit einem „basic feeling of Awe“, die den Menschen in eine persönliche Beziehung mit dem Übernatürlichen
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zwinge (Marett 1909: 16). Der Gegenstand dieser Ehrfurcht sei eine namenlose Über-Macht, die unbedingten Respekt, Verehrung und Dienst verlange. Der Rückgriff auf das melanesische Begriffspaar des „Mana“ und des „Tabu“ sollte dazu beitragen, das archaische Phänomen des Heiligen phänomenologisch, nicht normativ, zu erfassen. Entfaltete Religion wäre die symbolische, institutionelle und praktische Ausdifferenzierung von Vorstellungen von dieser Macht (Marett 1909: XII), die, so der Autor pointiert, von präanimistischen Ausdrucksgestalten bis zur Geistphilosophie des deutschen Idealismus reichten (Marett 1909: 32). Noch bekannter, jedenfalls im deutschen Sprachraum, ist Rudolf Ottos Definition des Heiligen, in Nähe und Distanz zu F. D. E. Schleiermachers Reden „Über die Religion“ (Schleiermacher 1997), als des numinosen Objekts einer Scheu, das schaudern lässt (tremendum) und zugleich anzieht (fascinans), das als ganz Anderes, als übermächtige Erhabenheit (maiestas) und Geheimnis (mysterium) erfahren werde (Otto 1917/2004). Für unseren philosophisch an Emmanuel Lévinas orientierten und von Hans Joas’ soziologischen Studien zur Heiligkeit der Person angeregten Gedankengang ist hier zudem Émile Durkheim zu nennen, der Religion vom Phänomen des Heiligen bzw. der religionskonstitutiven Distinktion zwischen Heiligem und Profanen her systematisch erforschte und Religion als „ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken“ definierte, „die sich auf heilige, das heißt abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören“ (Durkheim 1984: 7. Hervorhebung im Original). Hans Joas bietet die neuere Übersetzung von Günter Thomas: „Eine Religion ist ein gemeinschaftliches System von Glaubensvorstellungen und Praktiken, bezogen auf heilige Dinge, das heißt abgetrennte und verbotene Dinge – Glaubensvorstellungen und Praktiken, die in der gleichen moralischen Gemeinschaft, genannt Kirche, alle vereinigen, die ihnen anhängen“ (Joas 2011: 91, mit Anm. 28). Vor allem aber sind für uns Durkheims Hinweise auf eine geschichtlich sich manifestierende „Sakralisierung der Person“ bedeutsam. – Emmanuel Lévinas’ sachliche und sprachliche Differenzierung und Distanzierung, „Vom Sakralen zum Heiligen“ (s.u.) scheint bei Hans Joas (Joas 2011) keine tragende Rolle zu spielen. Auch die neuere Monographie (Joas 2017) verwendet beide Begriffe synonym. Pointiert notiert Durkheim, und zwar, wie Hans Joas bemerkt, „im Getümmel des Dreyfus-Skandals 1898“ (Joas 2011: 82): „Diese menschliche Person … wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes. […] Und genau daher kommt der Respekt, der der menschlichen Person entgegengebracht wird. Wer auch immer einen Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem
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Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profaniert sieht“ (Durkheim zit. nach Joas 2011: 82 f.). Einerseits wird heute westlichen Gesellschaften die Scheu, ja die Hemmung, diagnostiziert, vom Heiligen zu sprechen. Dies könnte sowohl im Schwinden der Bindungskräfte positiver Religion gründen als auch der Inflationierung der Rede vom Heiligen im 19. Jahrhundert und ihrem Missbrauch im Jargon der politischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts geschuldet sein (Schlette 2014: 208). Die Sakralisierung der Nation, der Revolution, der Rasse, der klassenlosen Gesellschaft sind relativ junge, nachaufklärerische Phänomene. Die aufklärerischen Abwertungen der christlichen und aller im engeren Sinne religiösen Traditionen als Evidenzquelle des Heiligen hatten gleichsam ein Vakuum produziert. Sie hatten dennoch nicht zur Preisgabe des Begriffs geführt und vor allem nicht zum Verschwinden der entsprechenden Dispositionen in der menschlichen Psyche, sondern erst den Bedeutungstransfer des Heiligen, nicht allein, aber hier mit schwersten Folgen, in den Bereich von Kollektivideologien ermöglicht.
2 Hans Joas’ These von der Sakralisierung der Person In seinem Werk „Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte“ greift Hans Joas Émile Durkheims Auffassung auf, dass, unter anderem ablesbar an Veränderungen der Strafjustiz, in der Ächtung von Folter und Körperstrafen, im Kampf gegen die Todesstrafe, in der gewachsenen Wahrnehmung des Unrechtscharakters sexualisierter Gewalt, aber auch im Prinzip des nicht autoritäts-, sondern wahrheitsorientierten wissenschaftlichen Diskurses, in den letzten 200 bis 300 Jahren im Westen eine Sakralisierung des Individuums bzw. der Person stattgefunden habe. „Sakralität der Person“ meint, so Joas, die „Annahme eines heiligen, nicht durch eigene Leistungen erworbenen, aber auch nicht verlierbaren und zerstörbaren Kerns jedes menschlichen Wesens“ (Joas 2011: 224). Die Genese der Überzeugung von der Heiligkeit des menschlichen Lebens und der unbedingten Schutzwürdigkeit der leiblichen und seelischen Unversehrtheit eines jeden Menschen, die Entwicklung des Gedankens unveräußerlicher Menschenrechte und unveräußerlicher Menschenwürde sind für Hans Joas wie für Émile Durkheim wesentliche Etappen jenes Sakralisierungsprozesses. Es ist Joas’ Anliegen, den historischen Prozess der Sakralisierung der Person als eine Fortführung „jüdisch-christlicher Motive“ kenntlich zu machen (Joas 2011: 106). Denken wir, pars pro toto, aber doch grundlegend, an die Gottesbildlichkeit, die in Gen 1,26 – 27, anders als in vergleichbaren altorientalischen Kulturen, nicht
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nur dem Einen, dem Herrscher, dem Pharao, sondern dem Menschen als Menschen, Mann und Frau, Kind oder Greis, Anzugträger oder nicht, Bedeutungsträger oder nicht, zugesprochen wird – während die Erklärung der französischen Revolution die vermeintlichen Menschenrechte vorrangig, z.T. exklusiv, dem freien, weißen, männlichen Besitzbürger und Steuerzahler zuerkannte. Eine andere Frage ist die, ob das real existierende Christentum, um diese Frage nur an die die dominante westliche „Leitkultur“ zu richten, diesen Schatz in seiner Geschichte treu gehütet, ob es mit dem ihm anvertrauten Pfund mutig gewuchert, oder ob es die Gabe verschreckt vergraben, wieder und wieder verraten und mit immer neuen Argumenten verleugnet hat. Es ist bekannt, dass die Menschenrechte bei allen, wie Joas darlegt, nachweisbaren Spuren tatkräftiger christlicher Geburtshilfe schließlich doch gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft werden mussten und dass erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts sich hier eine neuerliche Wende vollzog. Die Sakralisierung der Person ist nicht einfach Folge oder Symptom der Säkularisierung, auch wenn, wie Joas konstatiert, „einzelne Aufklärer vor allem den Bruch mit der religiösen Tradition akzentuierten und die Kirchen entsprechend sich gegen sie stellten“ (Joas 2011: 106). Émile Durkheims große Entdeckung war, dass die Sakralisierung der Person in religiösen, in biblisch inspirierten, jüdisch-christlichen Traditionen gründet. Diese sind für Durkheim jedoch in jener, gleichsam im Hegelschen dreifachen Sinne, aufgehoben: bewahrt, auf eine neue Ebene gehoben und somit als religiöse Traditionen überflüssig gemacht, liquidiert. Hans Joas erhebt an dieser Stelle Einspruch, da er hier Durkheims dogmatischen bzw. programmatischen Atheismus unkontrolliert am Werk sieht. „Mit dem Nachweis der Fruchtbarkeit des Gedankens der Sakralität der Person hat er ja keinesfalls gezeigt, dass der Mensch auch der Quell seiner eigenen Heiligkeit sei.“ Durkheim verschließe sich so vielmehr „gegen den möglichen Weiterbestand religiöser Stützungen der Menschenrechte“ (Joas 2011: 87). Die Heiligkeit des Menschen ersetzte dann nicht und setzte sich nicht an die Stelle der Heiligkeit Gottes, sondern entspränge und entspräche, antwortete ihr, partizipierte, auf eine nicht parasitäre, auf eine verwickelte, herausfordernde Weise an ihr. Das geläufige theologische Stichwort für diese Teilhabe oder Teilgabe ist Gnade. Der Mensch erbte also nicht einfach Gottes Heiligkeit, nach dem Tode Gottes. Der Gott, der den Menschen zu seinem Bilde, imago Dei, als seinen Repräsentanten, nicht nur schuf, sondern schafft, creatio continua, wäre kein Erblasser. Der Mensch wäre heilig als „Wort des lebendigen Gottes“. In der Formel von der Sakralität / Heiligkeit der Person wird versucht, eine Unverfügbarkeit jedes einzelnen Menschen zu denken, für die der Mensch nicht selbst aufzukommen vermag, sondern nur jener Gott, der wesentlich unsichtbar und unsagbar
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ist, den ein hörender Glaube aber, stets rufend, und widerrufend, immer tastend und tappend, zur Sprache, zu den Sprachen, zu bringen wagt.
3 Die philosophische Anthropologie der ältesten der monotheistischen Religionen Emmanuel Lévinas’ Studie „Eine Religion für Erwachsene“, 1957 auf einer Tagung über Erziehungs- bzw. Bildungsfragen vor jüdischem, christlichem und muslimischem Publikum vorgetragen, nimmt sich vor, „die philosophische Anthropologie der ältesten der monotheistischen Religionen“ (Lévinas 1992a: 23. Übersetzung leicht verändert) in ihren Grundzügen darzustellen. Das Judentum sei in seiner wesentlichen rabbinischen Prägung philosophisch. Erziehung / Bildung ziele darauf, „zwischen dem Menschen und der Heiligkeit Gottes eine Beziehung herzustellen und den Menschen in dieser Beziehung zu erhalten“ (Lévinas 1992a: 24. Übersetzung leicht verändert). Lévinas zufolge hat in biblischer wie in talmudisch-rabbinischer Tradition der Begriff der Heiligkeit keinerlei numinose Bedeutung. Ähnlich heißt es in Lévinas’ 1961 publiziertem sog. erstem Hauptwerk „Totalität und Unendlichkeit“: „Das Unendliche hat keinen numinosen Charakter: Das Ich, das an es herantritt, wird weder bei seiner Berührung vernichtet noch außer sich gebracht, sondern bleibt getrennt und wahrt seine Selbständigkeit“ (Lévinas 1987: 105). Das Judentum entzauberte Gottesbild, Kult und Welt. Programmatisch ist der Titel einer Sammlung zwischen 1969 und 1975 von Lévinas vorgetragener Kommentare talmudischer Texte: „Du sacré au saint“ (Lévinas 1977). Die Quellen der Religion sind im Judentum nicht Enthusiasmus und ein numinos Heiliges. Die Katharsis und Entmythisierung des Religiösen als genuine Leistung der jüdischen Weisheit zum Klingen zu bringen, ist das erklärte Ziel des Autors (Lévinas 1977: 10). Das Judentum muss eine magische Macht des Göttlichen als Anschlag auf die menschliche Freiheit verwerfen. Als Bestandteil göttlicher Erziehung, die immer als Einwirkung auf ein wesentlich freies Wesen begriffen wird, ist sie undenkbar. Ist die Freiheit kein Ziel an sich, so bleibt sie doch die Bedingung aller dem Menschen erreichbaren Werte. Lévinas stellt die heilige Nüchternheit des Judentums den unkontrollierbaren Exzessen eines religiösen Enthusiasmus gegenüber, der die Menschen über ihr persönliches Wollen und Können hinaustrage, die zwischenmenschlichen Beziehungen auflöse und die Subjekte zu Mitspielern in einem entfremdenden Drama mache (vgl. Lévinas 1992a: 25).
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4 Monotheismus, Mythos, Atheismus Ein unerwartetes Motiv für die vehemente Abgrenzung gegen Rudolf Ottos Bestimmung des Heiligen als des Numinosen – den beträchtlichen Einfluss von Ottos Religionspsychologie auf die Philosophie seiner Zeit hebt der Autor ausdrücklich hervor (Lévinas 1991: 63 f.) – benennt Lévinas in seinem späteren Beitrag „Gott und die Philosophie“ (Lévinas 1981: 81– 123): Das Numinose erschöpft das Wesen des Heiligen darum nicht, weil es das Gleichgewicht des souveränen menschlichen Bewusstseins nicht nachhaltig zu stören vermag (Lévinas 1981: 92 f.). Dieses Motiv begründet jedoch nicht die Ablehnung des Numinosen in „Eine Religion für Erwachsene“ bzw. in „Totalität und Unendlichkeit“. Die nun vorgetragene Begründung zeigt vielmehr eine signifikante Akzentverschiebung an (anders Hentschel 1990:196). Ist es noch in „Totalität und Unendlichkeit“ vorrangig die Sorge um die Wahrung der Integrität des Ich, um das „quant à soi“ des Subjekts, die zur Abweisung des Begriffs des Numinosen führt, so werden später die Regungen von „Furcht und Zittern“ des Menschen vor dem Numinosen relativiert, ja als illusionär entlarvt: „Sie bleiben Erfahrung“ (Lévinas 1981: 93). Gegen die religiöse Bedeutung des Numinosen wird nun vorgebracht, dass dessen Erleben das Subjekt des Bewusstseins nicht zu erschüttern vermag. Der zur Bewegung der Transzendenz unabdingbare Selbststand des Subjekts wird hier durch das verführerisch-gewaltsame Numinose, dort durch das alles Fremde, Andere angleichende und vereinnahmende Bewusstsein in Frage gestellt. „Séparation“, „Trennung“, „Scheidung“, ist darum ein Schlüsselwort der Erwachsenenreligion. Diese Betonung der Korrespondenz zwischen dem Bruch der Unmittelbarkeit im Gottesverhältnis und der Herausbildung menschlicher Subjektivität findet sich in verwandter, wenn auch nicht identischer Weise bei Sören Kierkegaard. Das unmittelbare Verhältnis zu Gott ist für ihn Heidentum; ein wahres Gottesverhältnis beginne erst dann, wenn der Bruch vollzogen ist. „Aber dieser Bruch ist gerade der Durchbruch der Innerlichkeit, der Akt der Selbsttätigkeit, die erste Bestimmung dessen, dass Wahrheit Innerlichkeit ist“ (Kierkegaard 1957). Eben dies, Trennung, Scheidung, Absonderung, ist auch die Grundbedeutung des biblischen Verständnisses von Heiligkeit. In Émile Durkheims Religionstheorie und im antitotalitären Affekt seiner Theorie der Sakralisierung des Individuums kann man deren Nachhall vermuten. Erst die menschliche Akzeptanz der Unterscheidung, die Gottes Heiligkeit setzt, macht in biblischer Perspektive das Überschreiten der Grenze, die Begegnung mit dieser Heiligkeit möglich. Und erst die Getrenntheit, in der sich das einsame Ich als freies und autonomes Subjekt setzt und Selbststand gegenüber einem vereinnahmenden Ganzen er-
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langt, erst der Bruch der Totalität bietet die Voraussetzung dafür, dass sich die Beziehung von Selbstheit und Alterität entfalten kann. Der jüdische Monotheismus, zumal in seiner rabbinischen Ausprägung, bezeichnet für Lévinas, wie dargelegt, die Stelle des Bruchs mit einer numinosen Vorstellung des Heiligen, das Ende des Besessenseins von einem Sakralen, dessen Verehrung Götzendienst ist. Gegenüber dem Göttlichen, das die numinos überwältigenden Götter verkörpern, ist der Monotheismus barer Atheismus. Gott als Numinosum zu begreifen, heißt für Lévinas, nicht nur Grenzen und Integrität des Menschen, sondern auch Gottes absolute Alterität zu missachten. Der Gott der Juden ist keine Mutation mythischer Götter (Lévinas 1992a: 25), sondern wesentlich „(u)nbekannter Gott, der nicht Fleisch annimmt und sich der Leugnung durch den Atheismus aussetzt“ (Lévinas 1995b: 190, Übersetzung verändert, denn der Übersetzer verkehrt den Sinn des Satzes in sein Gegenteil: „… und sich keiner Leugnung durch den Atheismus aussetzt“). Lydia Maidl hat unter dem Stichwort „Implizite Spiritualität“ (Maidl 2018) eben diese Hoch-Spannung im Ausgang von der Anthropologie Thomas von Aquins und zugleich im Gespräch mit Emmanuel Lévinas differenziert und luzide dargelegt. Im Mittelpunkt steht hier der Begriff des „desiderium“, bei Lévinas: „désir“. Überzeugende Konvergenzen der beiden Denker werden betont. Divergenzen, und deren Hintergründe, wären, ohne jene überzeugend dargelegte Nähe aufzulösen, wohl noch zu erheben. Das Schlüsseldatum ist hier zweifellos die Zäsur der Schoa. Die Dialektik von Bedürfnis und Begehren, die, in der Philosophie von E. Lévinas entscheidend, nicht ausdrücklich im Zentrum dieses Beitrags steht, wird weiterverfolgt in Frick & Baumann (2017).
5 Remythisierungen und Resakralisierungen im 20. Jahrhundert Mit dieser Positionierung ist ein bedeutender Akzent gesetzt. Lévinas’ Denken der Subjektivität steht in engstem Zusammenhang mit dem antimythischen Charakter des jüdischen Monotheismus. Monotheismus, Entmythisierung und Subjektivität bilden eine enge, aber verletzliche Verbindung. Welche Gefahren eine Verletzung dieser prekären Verbindung birgt, lehrt der Blick auf das Europa des 20. Jahrhunderts. Hier hat die moderne Remythisierung / Resakralisierung einer entzauberten Welt in Nationalsozialismus und Faschismus unter den Vorzeichen von Volk und Rasse, von „Blut und Boden“ furchtbare Folgen gezeitigt. In seinen 1934 publizierten „Quelques réflexions sur la philosophie de l’hitlérisme“ (Lévinas 1994) zeigt der Autor hellsichtig den geistigen Hintergrund des radikalen Bruchs
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mit dem westlichen Humanismus und Liberalismus im nationalsozialistischen Denken und seinen Gläubigen auf. Lévinas legt in seinem Nach-Schoa-Text „Eine Religion für Erwachsene“ den Akzent auf die Bildung und Erhaltung der mündigen, verantwortlichen Person, auf den Schutz der Innerlichkeit, des Einzelnen, vor jeder absorbierenden Totalität. Die Absicht, religiöse Gewalt, für Lévinas mit den Begriffen des Enthusiasmus, des Besessenseins, des sakral Heiligen, des Numinosen verknüpft, zu denunzieren und als deren Gegenpart die gewaltlose Ordnung des – unendlich anspruchsvollen – jüdischen Monotheismus aufzuzeigen: „difficile liberté“, die der „menschlichen Unabhängigkeit“ verpflichtet bleibt, ist bestimmend. Der Weg zum Monotheismus, darauf besteht Lévinas, führt nicht über vermeintliche Zwischenstufen mythischer Gottheiten, sondern allein über die ausgehaltene Erfahrung der Gottesferne; über die ertragene Trennung von Ich und Gott (Lévinas 1992a: 25). Der Monotheismus ist in dieser Deutung eine Erwachsenenreligion, nur dem zugänglich, der das „Alter des Zweifels, der Einsamkeit und der Auflehnung erreicht“, kurz, sich den Anfechtungen des Atheismus ausgesetzt hat (Lévinas 1992a: 27). Der Gott des jüdischen Monotheismus vermag sich zurückzuziehen und dem Menschen Raum zu lassen. Lévinas knüpft hier – wie durchgängig in seinem Werk – an ein Motiv der lurianischen Kabbala an, das „Zimzum“, die Kontraktion Gottes (Scholem 1995: 77; Scholem 1988: 285 – 290). Die Erschaffung eines Wesens, das sich von Gott zu trennen und ihn aus der Ferne zu hören und zu suchen vermag, ist Gottes Ehre (Lévinas 1992a: 27).
6 Erwachsenenreligion Den dunklen geschichtlichen Hintergrund dieser Erwachsenenreligion, die Schoa, bringt Lévinas in dem 1955 im Rundfunk vorgetragenem Essay „Die Thora mehr lieben als Gott“ zur Sprache (Lévinas 1992a: 109 – 113). Der Essay zitiert und kommentiert eindrückliche Passagen eines „verschollenen Jahrhunderttextes von vier Seiten, der immer wieder verloren geht“, eines 1946 verfassten, fiktionalen Textes, dessen damals noch nicht 30jähriger Autor wie Lévinas aus Litauen stammt. Die mehr als wechselvolle Rezeptionsgeschichte rekonstruiert Paul Badde im Vorwort der deutschen Ausgabe (Kolitz 1994:11– 39, 12). Emmanuel Lévinas erkannte früh die Bedeutung dieses Textes. Die normalste Reaktion angesichts des namenlosen Leidens Unschuldiger wäre, so Lévinas, das Bekenntnis zum Atheismus. Dieser aber entwerte sich dadurch, dass ihm passgenau ein allzu schlichtes, den Menschen infantilisierendes Gottesbild entspricht. Jener Gott hingegen, dessen Partner erwachsene Menschen
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sind, werde durch den leeren Kinderhimmel nicht widerlegt, sondern erwiesen (Lévinas 1992a: 110). Worin besteht nun dieser Erweis? Lévinas findet ihn darin, dass der allein gelassene, die Tröstungen seiner Kinderreligion entbehrende, gottverlassene Mensch erkennt, dass er göttliche Verantwortung trägt. Gerade in der ethischen Reife des Menschen zeige sich Gott als Gott. Gott, der nur seine „Rückseite“ sehen lassen kann (Ex 33,12– 22), vertraut dem Menschen den Menschen an. Doch dieses Anvertrauen erweist die Geschichte der Menschheit immer neu als unverantwortliches, als unbegreifliches Ausliefern. Ludwig Wenzler legt in seinem Beitrag den Akzent auf das „Anvertrauen“, das eine neue Nähe Gottes eröffne (Wenzler 1993: 315). Aber jede von Lévinas inspirierte Rede von der Nähe Gottes muss sich vor der traumatischen geschichtlichen Erfahrung verantworten, dass Menschen Menschen schutzlos ausgeliefert waren und ausgeliefert sind.
7 Das Lösegeld ihrer Mündigkeit Wie sich zeigte, vermag für Lévinas die Antwort auf diese Erfahrung aber nicht der Atheismus zu geben. Lévinas stellt die entscheidende Frage, ob der abendländisch-philosophische Geist sich nicht als Position einer Menschheit beschreiben lasse, die das Risiko des Atheismus als Lösegeld ihrer Mündigkeit annehmen muss. Der schwierige Weg des Monotheismus kreuzt den Weg des Abendlandes, die Philosophie. „La voie difficile du monothéisme rejoint la route de l’Occident.“ Eva Moldenhauer übersetzt hier mit einiger Freiheit: „Der schwierigste Weg des Monotheismus mündet in die Straße des Abendlandes“ (Lévinas 1992a: 27). Diese erstaunlich ‚eurozentrische‘ bzw. ‚logozentrische‘ Übersetzung verfehlt exakt die Lévinas’sche Pointe: Der anspruchsvolle Weg des jüdischen Monotheismus, Religion Erwachsener, kreuzt, trifft oder stößt auf die Straße der griechischen Philosophie, aber mündet nicht in ihr; er geht nicht in griechischem Geist auf wie ein kleiner Fluss in einem größeren Strom oder im Ozean. Im Gegenteil kennt Lévinas im Blick auf die abendländische Philosophie eine bleibende monotheistische Sendung! Verloren geht in der Übersetzung auch die hintergründig ironische Logik, der Lévinas’ Verwendung von Majuskeln folgt: „monothéisme“, aber „Occident“. Die dem Atheismus sich öffnende Philosophie ist ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg des Menschen zur Mündigkeit. Aber die Erfahrung des Atheismus ist nicht das letzte Wort der Philosophie.Wenn sie sich im Atheismus verschließt und diesen als das letzte dem mündigen Menschen mögliche Wort betrachtet, so sei dies kein Fortschritt, sondern Regression, ein Ausweichen vor dem Anspruch der schwierigen Dialektik zwischen Gott und mündigem Menschen. „Umfassender und strenger Humanismus, verbunden mit einer schwierigen Verehrung! Und
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umgekehrt, Verehrung, die mit der Erhebung / Erhöhung des Menschen zusammenfällt“ (Lévinas 1992a: 113). Den vielschichtigen Begriff der „exaltation“, hier mit „Erhebung / Erhöhung“ wiedergegeben, übersetzt Moldenhauer psychologisierend mit „Hochgefühl“.
8 Von der Heiligkeit des (anderen) Menschen Das Werk Emmanuel Lévinas’ lässt sich lesen als unabschließbaren Versuch, jenen Satz, der für diesen Denker der theo-logische Satz schlechthin ist, philosophisch zu verantworten: Der Mensch trägt als Subjekt göttliche Verantwortung. „Das Universum tragen – erdrückender Auftrag, aber göttliche Mühsal“ (Lévinas 1992b: 272). „Supporter l’univers – charge écrasante, mais inconfort divin“ (Lévinas 1986: 157). Diesen unablässig erneuerten und bereicherten philosophischen Weg können wir hier nur skizzieren; wir können bestenfalls, unbefriedigend genug, auf Marksteine hinweisen. Die unbedingte Verantwortung des, wie Lévinas in ebenfalls immer neuen phänomenologischen Anläufen erweist, nackten, kindlich verletzlichen, bedürftigen und begehrenden, genießenden, sinnlich-sensiblen, sterblichen Ich für den nackten, kindlich verletzlichen, bedürftigen und begehrenden, genießenden, sinnlich-sensiblen, sterblichen Anderen (Sandherr 1998: 93 – 122) nennt Lévinas, vor allem im Spätwerk, Heiligkeit (sainteté). Ich und der Andere, einerseits scheinen wir, und sind wir, Zwillinge. Und doch ist meine Rolle unverwechselbar, unersetzlich, unvertretbar, einzig. Das ist die Heiligkeit des Ich. Ein anderes Lévinas’sches Schlüsselwort für diese Rolle, für diese Heiligkeit ohne Scheinheiligkeit, ist, neben den Termini der Verantwortung (Sandherr 2001), der Gastlichkeit, der Empfänglichkeit und Mütterlichkeit und der Erwählung: Inspiration. Es geht um die Spiritualität des Menschen! Das inspirierte, das beseelte, das mit Gottes eigenem Atem beatmete – das meint in der Lévinas’schen Lektüre der Bibel und der talmudischen Tradition das zur Gastfreundschaft befähigte, das um den Anderen mehr als um sich selbst besorgte Subjekt. Die Subjektivität, das Ich, so Lévinas weiter, ist, in unaufgelöster Zweideutigkeit „Tempel oder Theater der Transzendenz“ (Lévinas 1981: 119). Unzweideutig aber ist es nicht das Ich, das in diesem Tempel verehrt wird. Im Zentrum des Denkens des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas steht die Überzeugung von der Einzigkeit eines jeden Menschen, einzig erschaffen nach dem unabbildbaren Bilde des einen und einzigen Gottes, und ebenso der Gedanke, dass es den Menschen nicht gibt, sondern den Menschen nur als Ich und Anderen, und dass der Andere stets den Vorrang vor dem Ich hat, genauer: vor mir, der ich der Mörder, und der Hüter, meines Bruders bin; reziproke Bezie-
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hungen kommen erst in einem späteren Schritt durch die Figur des „Dritten“ ins Spiel. Von daher ist für Lévinas das Menschenrecht par excellence das Recht des anderen Menschen. „Das Menschenrecht, absolut und ursprünglich, gewinnt nur im Anderen einen Sinn, als Recht des anderen Menschen. Recht, dem gegenüber ich nie quitt bin! Also unendliche Verantwortung für den Anderen: radikale Unmöglichkeit der Immanenz! Unendliches, das im schweigenden Gebot des Gesichts ‚ins Denken einfällt‘. Wort Gottes? Dasjenige jedenfalls, das der Offenbarung in den positiven Religionen vorausgehen muss, wenn die Menschen, die es hören, wissen möchten, wer sie ruft, und eine Stimme erkennen wollen, die sie schon gehört hätten“ (Lévinas 1995a: 135. Eigene Übersetzung).
9 Das Ich ist Gastlichkeit Biblisch gesagt: wenn uns in Luk 6,36 das Jesuswort überliefert ist: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“, dann enthält dies den in jüdischer wie in christlicher Tradition zentralen Gedanken, dass der Mensch zu einer Güte fähig ist, deren Maß nicht der Mensch, sondern „Gott“ ist. „Durch das Gute an mich – Anweisung, Vorladung: Beziehung, die den ‚Tod Gottes‘ ‚überlebt‘“ (Lévinas 1992b: 274). „Empfänglichkeit“ als die Fähigkeit, den Anderen zu empfangen, und „Gastlichkeit“ – es geht um eine Beherbergung, deren Maß nicht der Gastgeber, sondern der Gast ist – dies kennzeichnet auch den Lévinas’schen Schüsselbegriff der „maternité“, erweisen sich hier als Kennzeichen von Subjektivität überhaupt (Sandherr 1998, 123 – 186). Im ersten Vorwort von „Totalität und Unendlichkeit“ heißt es: „Dieses Buch stellt die Subjektivität als etwas dar, das den Anderen empfängt, es stellt sie als Gastlichkeit dar“ (Lévinas 1987: 28). Eine äußerste Dimension von Gastlichkeit als zurückgenommener, als für den Anderen offener, geöffneter Gegenwart scheint auf in dem Motiv eines Schöpfer-Gottes, der sich zurückzieht, um der Schöpfung Raum zu geben. „Das Unendliche ereignet sich, indem es in einer Kontraktion auf die Ausbreitung zu einer Totalität verzichtet und damit dem getrennten Seienden Platz lässt“ (Lévinas 1987: 148).
10 Vom Sakralen zum Heiligen Es geht nicht um Selbstanbetung des Menschen nach dem Tode Gottes, es geht weder um megalomane Selbstvergrößerung noch um masochistisches Kleinmachen des Ich; es geht weder um Selbstsakralisierung des einen noch um die Heiligsprechung des anderen Menschen. Heiligkeit der Person ruft in Erinnerung,
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dass der eine Mensch für den Anderen gleichsam Gottes Verantwortung trägt, dass mir das Leben des Anderen heilig und dass das Ich um des Lebens des Anderen willen, „vom Sakralen zum Heiligen“, zur Heiligkeit berufen ist. Sowohl Heiligkeit als auch Gastlichkeit und „maternité“ werden bei Lévinas zu philosophischen Begriffen, die das Ich charakterisieren. „Heiligkeit“ kennzeichnet aber zugleich, und anders, den anderen Menschen. Denn im Gast wird Gott empfangen, der mir den Anderen auf den Hals schickt. Derjenige, der mir als Gast anvertraut ist, ist heilig. Ja, Gott schickt mir den Anderen auf den Hals, Lévinas zitiert aus dem biblischen Buch Numeri, um das Ich zu charakterisieren, das mütterlichleiblich, umfassend, unabschließbar, und gerade darum nicht vereinnahmendentmündigend,Verantwortung für den Anderen trägt, den von mir Getrennten, der mir nicht gleicht. Ihn, diesen Fremden, den ich, mit einem Wort aus Num 11,12, „‚weder in meinem Schoß getragen noch zur Welt gebracht habe‘“, unausweichlich habe ich ihn „auf dem Hals, trage ich ihn schon, wie es in der Bibel heißt, ‚an meinem Busen, wie die Amme den Säugling trägt‘“ (Lévinas 1992b: 204 f.).
11 Ermutigung zum Umweg Zwischen religiös gänzlich Indifferenten und Heiligen Kriegern, zwischen rationalistischen und irrationalistisch-fundamentalistischen Angriffen auf das Heilige der biblischen, der jüdischen und der christlichen Traditionen, auf die sich unser Blick hier richtet, gibt es vermutlich keinen goldenen Mittelweg. Aber vielleicht zeigt sich umrisshaft ein Ausweg an, ein, wie es scheinen mag, unzeitgemäßer, dritter Weg, der aber doch an der Zeit ist. Emmanuel Lévinas könnte hier ein unerbittlicher, anspruchsvoller und anstrengender, und doch befreiender Impulsgeber sein. Einerseits gälte es, das Gespräch über Was-mir-heilig ist, über Gott und die Welt, zu wagen, Fragen zu wagen, Respekt zu wagen, auch und gerade vor dem Befremdlichen, dem Fremden. Vor allem hält das Denken Emmanuel Lévinas’ dazu an, gängige und eingängige Absolutsetzungen, gesellschaftlich anerkannte oder sehr private Sakralisierungen, heimliche und unheimliche, an der Heiligkeit des schutzlosen Menschen zu messen, der allein meine Offenheit, meine Aufmerksamkeit, meine Achtung, meinen Sachverstand, meine Zuneigung, meine persönlichen und professionellen Qualitäten verdient. Oder anders, und im Blick auf das Ich, auf mich, gesagt, im präzisen Sinne der Religion für Erwachsene, die Lévinas im vollen Bewusstsein des Faktums, des Datums, dass der Mensch, „vom Scheitel bis zur Sohle, bis in das Mark seiner Knochen, Verwundbarkeit“ ist, ausruft: Heiligkeit wagen, nicht im Sinne der Selbstsakralisierung, sondern im Sinne des von dieser philosophischen Anthropologie her nahege-
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legten Selbstverständnisses: Das Ich ist Gastlichkeit, und der Andere, der Gast, ist mir heilig.
12 Warum sorgen? Sorget nicht ängstlich Warum sorgen? Warum sich um den anderen Menschen sorgen? Warum sich um ihn „spirituell“ sorgen? Hans Joas hat als Soziologe, in der Spur Émile Durkheims, den historischen Prozess der „Sakralisierung der Person“ und deren Verwurzelung und bleibende Plausibilisierung in biblischen Intuitionen überzeugend herausgearbeitet, aber er konstatiert auch nüchtern: „Nicht einmal in den Kernbereichen des Westens kann … von einer sichereren Festigung der Sakralisierung der Person die Rede sein“ (Joas 2011: 104). Das war noch einige Jahre vor einer Ära beispielloser Tabubrüche als neuer Normalität – Verabschiedung des Wahrheitsanspruchs, Salonfähigkeit von Nationalismus, Sexismus, Rassismus und hassgenerierender Xenophobie, lautes Nachdenken über die Nützlichkeit von Folter, nicht an irgendeinem Stammtisch, sondern im Weißen Haus. Und in vielen, von populistisch-nationalistischen Agitatoren beherrschten Staaten, von denen wir uns zuvor nicht alpträumen ließen. Denken wir an das Antasten dessen, was wir lange für unantastbar hielten, mitten in Europa: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Kontrolle der Exekutive. Denken wir an den lauter werdenden Ruf nach der Todesstrafe, denken wir an das Aufkommen nationalistischer, populistischer Bewegungen, denken wir an eine noch vor wenigen Jahren unvorstellbare Internationale der Autokraten. Es gibt vermutlich keine Garantie. Die historische Errungenschaft der „Sakralisierung der Person“ war und ist auch in Europa unvollständig und gefährdet, sie war und ist porös und prekär. Vermutlich war sie schon immer auch Selbstbetrug. Der offene und respektvolle Diskurs darüber, was uns heilig ist, und die möglichst präzise und tief greifende, tief grabende, ich möchte mit J.-B. Metz angesichts des idolatriekritischen, antitotalitären Potenzials dieser Wurzeln sagen, die „gefährliche Erinnerung“ an die biblischen, die jüdischen und die christlichen Wurzeln der Überzeugung von der Heiligkeit der Person, im Sinne der Erwachsenenreligion und des zur Sorge um den Anderen inspirierten – und inkarnierten – Subjekts bei E. Lévinas. Gefährliche Erinnerung angesichts der gerade mächtigen Sakralisierungen (nationale Einheit und Reinheit, Bruttosozialprodukt, Wirtschaftsstandort, Wahlbarometer …) an die Heiligkeit des Ich als Gastlichkeit und an die Heiligkeit des Anderen, der mir ausgeliefert und mir, meiner Gastfreundschaft, anvertraut ist, sind keine Wundermittel, aber vermutlich unverzichtbare Mittel gegen diesen Erosionsprozess. Gegen das Vergessen.
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Spiritual Care? Warum sorgen? „Sorget nicht ängstlich …“ Die Gedanken, die wir in diesem Gedanken-Gang mit Emmanuel Lévinas skizziert haben, sie sind und waren immer auch fremd im eigenen Haus. Gerade so bleiben sie inspirierende Impulsgeber für eine Spiritualität der Gastfreundschaft des Ich; gefährliche Erinnerung an die Heiligkeit des gefährdeten Anderen.
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Michael Huppertz
Miteinander Togetherness
Zusammenfassung: Empathie ist wesentlich für ein gelingendes soziales Leben. Der Text behandelt die Stärken und Schwächen der Empathie. Er beschreibt aber vor allem eine andere Form von Intersubjektivität, die nicht so sehr die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem betont und sich daran abarbeitet, sondern der Idee der Ähnlichkeit folgt und Differenz unproblematisch akzeptiert. Sie wird im Text als Miteinander bezeichnet und ist sowohl eine Einstellung als auch eine Praxis diesseits der Bemühungen um Empathie und Mitgefühl. Das bewusste Miteinander kann für die eigene Lebensgestaltung, die politische Einstellung und die spirituelle Dimension des Lebens bedeutsam sein. Schlüsselwörter: Empathie, Schattenseiten der Empathie, Ähnlichkeit, Miteinander, Spiritualität des Miteinander Abstract: Empathy is essential for a successful social life. This text deals with the strengths and weaknesses of empathy. In particular, it describes another form of intersubjectivity that does not so much emphasize and work out the distinction between oneself and others, but rather follows the idea of similarity and accepts difference as unproblematic. This form is described in the text as togetherness and is both an attitude as well as a way of showing empathy and compassion. Conscious togetherness can be significant for one’s own way of life, one’s political attitude and the spiritual dimension of life. Keywords: Empathy, Shady sides of empathy, Similarity, Togetherness, Spirituality of togetherness
1 Einleitung In den gegenwärtigen privaten und öffentlichen Diskursen spielen Erlebnisse, Gefühle, Meinungen, Verstehen und Beziehungsgestaltung eine große Rolle. Psychologie, Psychotherapie und Pädagogik haben sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt und prägen die Alltagskultur. Fragen nach dem Befinden und wie es so ist, das und das zu erleben, sind alltäglich geworden. Subjektives Erleben, eigene Erfahrungen oder Erinnerungen gelten nicht nur als unterhaltsam, sondern auch als moralisch wünschenswert und als Zugänge zu besonders gesihttps://doi.org/10.1515/9783110638066-016
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cherten Wahrheiten angesichts einer zu komplexen Realität. Es gibt inzwischen einen verbreiteten Wunsch und sogar Anspruch, als Person gesehen, anerkannt, verstanden und möglichst sogar in seiner Sichtweise bestätigt zu werden. In diesem Wunsch fließen tiefe Sehnsüchte mit dem Zeitgeist zusammen. Empathie ist gefordert und wird auch geleistet. Sie trägt wesentlich zu einem humanen und rücksichtsvollen Umgang in unserer Gesellschaft bei. Empathie und Verstehen beruhen auf der Vorstellung eines Gegenübers. Wir wollen den anderen verstehen wie einen Text, wir wollen ihn lesen, erfassen, entschlüsseln. Manchmal erleben wir uns auch selbst als Rätsel, das wir erforschen und lösen wollen. Empathie wird derzeit intensiv beforscht. Einigermaßen gesichert erscheint, dass sie zunächst einmal auf den früh erworbenen Fähigkeiten beruht, Aufmerksamkeit und Gefühle zu teilen, Mimik und Gestik zu verstehen. Wir teilen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Gewohnheiten und Sprache, ohne uns dessen in der Regel bewusst zu sein. Dies alles geschieht intuitiv und beansprucht keine inneren Vorstellungen (Repräsentationen) des oder der Anderen, keine Hypothesenbildung über das, was in dem Anderen vorgeht. Dieses intuitive Teilen und Verstehen ist zwar eine Voraussetzung für Empathie, reicht aber zu ihrer Bestimmung nicht aus. Erst wenn wir uns bemühen, den Anderen in seiner Andersartigkeit zu verstehen, sprechen wir von „Empathie“. Empathie in diesem Sinne bedarf in der Regel einer stärkeren Aktivität, einer zielgerichteten Bemühung. Empathie besteht in dem Bemühen, die Situation des Anderen mitzuerleben bei gleichzeitigem „Verständnis der Unterscheidung von Ich und anderen“ (Breithaupt 2017: 17). Tendenziell geht es um die Frage, wie man ein Gefühl oder eine Handlung aus dem Kontext einer Person, „wie man ihr inneres Lebens insgesamt versteht“ (Stueber 2017: 18). Richard Sennett beschreibt Empathie als „die Neugier darauf, was andere Menschen für sich genommen sein mögen“ (Sennett 2014, S. 41). „Empathie ist […] mit dem dialogischen Austausch verbunden. Obwohl Neugier den Austausch in Gang hält, erleben wir nicht dieselbe Befriedigung eines runden Abschlusses [wie bei der Sympathie, M. H.]. Dafür birgt Empathie ihren eigenen emotionalen Lohn“ (Sennett 2014, S. 39). Dieser Begriff von Empathie impliziert Individualismus und Distanz. Weniger individualistische Konzeptionen der Empathie wie das buddhistisch inspirierte Verständnis von Mitgefühl bedürfen dagegen nicht notwendigerweise des Dialogs und legen auch keine Unabgeschlossenheit nahe. Das Bemühen, die Erlebniswelt des Anderen zu erfassen, unterscheidet Empathie auch […] von Gefühlsansteckung, die darin besteht, dass wir (z. B. bei einer Party oder aus einem Film) spontan ein Gefühl übernehmen, ohne dass wir eine Differenz wahrnehmen. Es gibt verschiedene Theorien, wie dieser elaboriertere Bestandteil der Empathie möglich ist (Stueber 2017). Theorie und Praxis der „Mentalisierung“ gehen davon aus, dass wir im Alltag über Theorien und Hypothesen verfügen („theory of
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mind“) oder sie entwickeln, die uns das Erleben oder Handeln des Anderen plausibel machen. Eine andere Erklärung geht eher davon aus, dass wir uns in die Situation des anderen Menschen hineinversetzen, sie quasi simulieren („Simulationstheorie“), und dadurch seine Erfahrung nachvollziehen. Es gibt weitere Erklärungsansätze, aber welchem man auch folgt, diese differenzierteren Vorgehensweisen sind erst notwendig, wenn das reibungslose Erfassen des Erlebens des Anderen auf Grenzen und Widerstände stößt. Möglicherweise spielen viele verschiedene Prozesse bei der Empathie eine Rolle und sie werden je nach Situation in unterschiedlichem Maße eingesetzt (Stueber 2017: 30). Bei dem heute oft auf dem Gebiet der Lebenskunst und der Therapie verwendeten Begriff „Mitgefühl“ liegt übrigens nach allgemeinem Verständnis die Betonung stärker als bei „Empathie“ auf der emotionalen Anteilnahme, und „Mitgefühl“ beinhaltet daher auch deutlicher den Impuls, den Anderen in irgendeiner Weise zu unterstützen. Für diesen Text ist die Unterscheidung von Empathie und Mitgefühl nicht wesentlich und so verwende ich beide synonym. Empathie beinhaltet also eine Differenz zwischen Eigenem und Fremden, Ich und Du. Wenn wir das Verstehen betonen, steht der Andere als Anderer im Fokus unserer Aufmerksamkeit und wir gehen davon aus, dass er uns teilweise unverständlich ist. Fremdheit und Empathie bedingen einander. Empathie fördert Kategorien der Identität („Wer ist der Andere? Wer bin ich?“) und Nicht-Identität („Was ist anders an dem Anderen? Was ist anders an mir?“). Empathie dient zur Überbrückung eines mit ihr gesetzten Grabens. Gelingt der Brückenschlag, so kann man sich über Orientierung, Sicherheit, neue Verbundenheit freuen, gelingt er nicht, kann das zu Verunsicherung, Enttäuschung und Aggressivität führen. Es scheint uns selbstverständlich, dass wir den Anderen verstehen wollen. Weniger selbstverständlich ist es, Unverständlichkeit zu akzeptieren. Manchmal sind wir geradezu besessen von der Idee eines Gegenübers, das es zu verstehen gilt. Bereits Schleiermacher schrieb 1799 von der „Wut des Verstehens“ (Schleiermacher 1799/ 1997: 70, Hörisch 1988), Bhattti und Kimmich sehen einen „Zwang zum Dialog“ (2015: 17). Wir haben aber Menschen nicht nur vor uns, sondern auch neben uns und mit uns. Wir sitzen uns nicht immer gegenüber, sondern wir sitzen auch nebeneinander, wir schauen uns nicht ständig an, wir sehen uns auch aus den Augenwinkeln, wir begegnen uns nicht nur, sondern wir gehen auch Hand in Hand. Wir befinden uns miteinander in einer gemeinsamen Situation. Die wichtigste These dieses Textes ist: Es gibt ein Miteinander diesseits von Empathie und Mitgefühl. Das Bewusstsein dieses Miteinander kann für die eigene Lebensgestaltung, die politische Einstellung und die spirituelle Dimension des Lebens bedeutsam sein. Das Miteinander verlangt nicht nach explizitem und bemühtem Verstehen oder Integration. Es braucht nur ein minimales Erfassen von Ähnlichkeit, die
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immer auch Differenz beinhaltet. Diese Differenz wird nicht überbrückt, sondern einfach nur akzeptiert und gelebt. Miteinander und Verstehen unterscheiden sich nicht durch die psychologischen Mechanismen selbst, sondern durch ihren Gebrauch. Auch für das Miteinander ist ein Minimum an intuitivem Verstehen und elaborierteren Strategien notwendig. Anders könnten wir weder Ähnlichkeit noch Differenz erfassen. Miteinander und Empathie sind unterschiedliche Haltungen oder Einstellungen gegenüber dem oder den Anderen. Das paradigmatische Spiel für das Miteinander ist nicht Schach, sondern ein Mannschaftsspiel, bei dem wir blinde Pässe spielen, im Vertrauen darauf, dass der Andere schon da ist, wo er sein soll. Ich werde zwar im 4. Abschnitt eine Lanze für dieses Miteinander brechen, mein Engagement ist aber keine Parteinahme gegen das Verstehen. Es geht mir nicht um ein Entweder-Oder, sondern nur darum, eine Form achtsamer Zwischenmenschlichkeit hervorzuheben, die unserem Bewusstsein leicht entgleitet, aber unserem Zusammenleben möglicherweise zu mehr Gelassenheit und Weite verhilft.
2 Warum uns Empathie so sympathisch ist In der Regel heißen wir Empathie und Mitgefühl gut, weil sie die Grundlage von Hilfsbereitschaft, Fürsorge und gefühlvoller Kommunikation bilden. Wenn wir jemanden sympathisch finden und wenn wir ihm vertrauen, mögen wir es in der Regel auch, wenn er sich für uns interessiert und uns versteht.Verstehen bedeutet Nähe und Bindung und eine Form der Anerkennung. Oft kommt es jemandem, der von Gewalt oder Missbrauch betroffen ist, weniger auf eine reale Entschädigung an als darauf, dass sein Leid und seine Sichtweise anerkannt werden. Aber es geht nicht nur um die Anerkennung von Leid: Wenn Menschen sich einander öffnen, haben sie die Chance, eine intensive, beglückende und bereichernde Mischung aus Nähe und Distanz, Bindung und Freiheit, Übereinstimmung und Auseinandersetzung, Bemühung und Geschenk zu erleben. Es gibt auch pragmatischere Vorteile der Empathie: Wenn ich jemanden verstehe, kann ich mich besser auf ihn einstellen. Ich kann ihn unterstützen, schützen, seine Wünsche erfüllen, besser mit ihm leben und gemeinsam mit ihm Ziele verwirklichen. Mit Empathie können wir das Verhalten des Anderen besser voraussehen.Wir wissen, woran wir mit ihm sind, fühlen uns sicherer und können auch Gefahren, die uns von ihm drohen, besser einschätzen. Wenn z. B. jemand eifersüchtig ist, zeigt er in der Regel zwar nur ein selektives und selbstbezogenes Interesse. Er oder sie ist aber motiviert, sich so weit wie notwendig ein Bild von dem zu machen, was der Partner oder die Partnerin plant, unternimmt, empfindet. Wenn wir den Anderen verstehen, können wir ihn kontrollieren, beeinflussen
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und lenken. Das Kontrollbedürfnis führt dazu, dass wir möglichst viel von dem oder den Anderen wissen wollen und ggf. sogar eine Offenlegung seiner Gefühle und Gedanken fordern. Eine solche explizite Forderung ist gar nicht unbedingt notwendig. „Eine Studie […] hat gezeigt, dass der Algorithmus von Facebook schon heute Persönlichkeit und Dispositionen von Menschen besser einschätzt als deren Freunde, Eltern und Partner“ (Harari 2018: 522). Was für Einzelne gilt, gilt auch für Völker und Kulturen. Die amerikanische Ethnologie hat sich nach dem 2.Weltkrieg in besonderer Weise für die japanische Kultur interessiert, weil es galt zu verstehen wie es zu dem japanischen Imperialismus kommen konnte und wie dieses seltsame Volk an die Demokratie herangeführt werden kann.
3 Schattenseiten der Empathie Mit dem Hinweis auf die Macht, die Empathie verleiht, kann der Verdacht aufkommen, dass Empathie nicht per se ein moralisch legitimes Bemühen ist. In jüngerer Zeit sind in der Empathieforschung die Schattenseiten der Empathie thematisiert worden (Breithaupt 2017), von denen manche auch und sogar erst recht für das Mitgefühl gelten: Experimente zeigen, dass Empathie parteilich macht. Wir bevorteilen Menschen, die uns nahe stehen und mit denen wir durch Empathie verbunden sind. Ein Beispiel für dadurch bedingtes ungerechtes Verhalten sind Ärzte, die dafür sorgen, dass ihre eigenen Patienten bei Transplantationen bevorzugt werden. Wir übersehen auch leicht die zweifelhafte moralische Dimension des Verhaltens von Menschen, mit denen wir empathisch sind. Wir sind bevorzugt empathisch mit Menschen, die leiden. Da Empathie als Bindungserleben für die meisten Menschen eine positive Erfahrung ist, kann sie zu einem Ziel an sich werden und sich sozusagen verselbstständigen. Das kann dazu führen, dass Menschen eine Opferhaltung entwickeln oder in ihr verharren, um mehr Empathie oder Mitgefühl zu erfahren oder umgekehrt empathische Menschen mental oder faktisch das Leiden anderer Menschen verstärken, um empathisch sein zu können: „empathischer Sadismus“ (Breithaupt 2017). Empathie kann dazu führen, dass der empathische Mensch sich selbst vergisst. Wenn die Aufmerksamkeit sehr stark bei dem Anderen ist, führt das bei manchen Menschen dazu, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle nicht spüren bzw. vernachlässigen. Menschen können auch unter Druck setzen oder gesetzt werden, ständig und überall empathisch oder mitfühlend sein zu müssen. Ein Mensch kann mittels Empathie versuchen sein Erleben zu erweitern. Das muss nicht schlecht sein, kann aber – wie Breithaupt am Beispiel der „HelikopterEltern“ oder „Bühnen-Mütter“ zeigt – zu besitzergreifendem Verhalten führen
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(„empathischer Vampirismus“, Breithaupt 2017). Etwas Ähnliches (den Ersatz „realer“ Beziehungen durch „Helfer-Beziehungen“) hat schon Schmidbauer (1992) beschrieben. Die Freude an der Rolle des Helfers kann sogar das Mitgefühl mit dem Notleidenden überdecken. Empathie kann schließlich eine übermäßige Beschäftigung mit der Subjektivität des Anderen und Selbstmitgefühl zu einer übermäßigen Beschäftigung mit sich selbst nach sich ziehen. Subjekte sind Fässer ohne Boden und sie sind Irrgärten. Die Gefahr ist groß, dass wir aus der eigenen wie fremden Subjektivität nicht mehr auftauchen. Wenn Empathie per se als hoher Wert angesehen und gesucht wird, kann es sein, dass sie die Energie, Zeit und Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt, die z. B. für rasches und konsequentes Handeln gebraucht werden. Indem wir die fremde und evtl. die eigene Subjektivität hoch ansetzen, kann das objektiv Notwendige und moralisch Nützliche unterbleiben. Ich halte dieses Problem in unserer Gesellschaft, in der die Subjektivität flächendeckend öffentlich geworden ist und der Diskurs der Therapie und der Selbsterfahrung sich durchgesetzt haben, für erheblich. Wenn wir ständig nach unseren Erlebnissen und Gefühlen fragen und darüber sprechen statt über die Wirklichkeit, die wir miteinander teilen können und die unsere Subjektivität sowohl überschreitet als auch formt, kommt es zu einer allgemeinen Sinnkrise. Das Verstehen der eigenen wie der fremden Subjektivität stiftet alleine keinen Sinn. Damit folge ich Martin Buber (1948/1998) und Viktor Frankl (1946/2015): Sinnfindung ist nur möglich, wenn die Subjektivität transzendiert wird. Sinn ist etwas, was zwischen uns und der Welt entsteht (Buber) oder etwas wozu uns die Welt beauftragt, wozu wir uns verpflichtet fühlen (Frankl). Wir können Sinn nicht in uns selbst finden, auch wenn wir ihn selbst erfassen müssen. Schließlich wird gerne übersehen, dass Empathie nicht nur leicht scheitern kann, sondern auch irrtumsanfällig ist. Sie bezieht sich nicht nur, aber oft auf Narrationen der Betroffenen, aus denen der empathische Mensch wiederum eine weitere Narration gestaltet. Narrationen unterliegen dem Kausalitätsbedürfnis, dem Wunsch nach Konsistenz und Evidenz und Projektionen. Verstehen ist auch eine Einigung auf eine Erzählung (Breithaupt 2009). Auch das Selbstmitgefühl hat einige dieser Schattenseiten: Parteilichkeit, Opferhaltung, Irrtumsanfälligkeit, Empathie als Selbstzweck und übermäßige Beschäftigung mit sich selbst, vielleicht sogar empathischer Sadismus. Die Schattenseiten der Empathie, des Mitgefühls und des Selbstmitgefühls machen deutlich, dass sie je nach Situation kritisch beurteilt und eingesetzt werden müssen. Empathie, Mitgefühl und Selbstmitgefühl sind nicht per se „richtig“ oder „gut“.
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4 Miteinander Wir sprechen in achtsamkeitsorientierten Gruppen zu Beginn über die Übungspraxis in der Zeit seit dem letzten Treffen. Das ist ein zentraler Teil unserer Arbeit, weil es uns auf die Achtsamkeitspraxis im Alltag ankommt. Wir schlagen den Teilnehmern in unseren Gruppen eine tägliche Achtsamkeitspraxis von 10 Min. vor. Obwohl diese 10 Minuten-Praxis nicht am Stück erfolgen muss, hören wir ab und zu: „Dafür habe ich keine Zeit.“ Einmal schilderte eine Teilnehmerin, dass sie keine Zeit hätte für die Achtsamkeitspraxis, weil die Kinder sie davon abhalten würden. Diese Teilnehmerin schilderte, dass die Kinder sehr lebhaft wären und sie ständig nach ihnen schauen und sich um sie kümmern müsse. Insbesondere kämen sie oft mit irgendwelchen Wünschen auf sie zu. Dann müsse sie reagieren. Sie schilderte das so dramatisch, dass ich zuerst dachte, sie arbeite im Kindergarten. Als ich sie danach fragte, meinte sie „Nein, nein, ich habe drei kleine Kinder zu Hause.“ Wie es bei uns üblich ist, fing die Gruppe an, ihr Vorschläge zu machen, die sich aus der Haltung der Achtsamkeit ergeben. Ergebnis: Sie möge einfach weniger tun, nicht alle Wünsche sofort erfüllen, sondern sie erst einmal in Ruhe zur Kenntnis nehmen, mehr zuschauen, zuhören, das Geschehen auf sich wirken lassen und vielleicht mitspielen, ohne damit irgendwelche weitergehenden Ziele zu verbinden. Schließlich könne man von den Kindern immerhin das Gegenwärtigsein und die Verspieltheit lernen. Die Teilnehmerin berichtete schon in der nächsten Sitzung, wie gut ihr die Achtsamkeitspraxis im Zusammensein mit den Kindern gelungen sei und um wieviel entspannter sie sich im Zusammensein mit den Kindern fühlen würde. Ich interpretiere es so: Es war ihr gelungen, aus der Situation des Gegenüber und des Darüber, das von Sorge, Mitgefühl und pädagogischen Anliegen geprägt war in eine Situation des Miteinanders zu wechseln, in dem das Absichtsvolle auf ein Minimum geschrumpft war. Sie entdeckte, was sie mit den Kindern teilen konnte. Sie verbrachte einfach Zeit mit ihnen. Wie wichtig kann es sein, dass Eltern die wenige Zeit, die sie oft mit ihren Kindern verbringen, einfach mit ihnen zusammen sind, spielerisch, offen, dankbar, statt sich z. B. als verlängerter Arm der Schule zu betätigen! Unsere Wahrnehmungen gemeinsamer Situationen und Herausforderungen sind verschieden, aber ähnlich. Ludwig Wittgenstein sprach von „Familienähnlichkeit“ (1953/2003, Bhatti & Kimmich 2015). Die Mitglieder einer Familie können sich äußerlich ähneln, ohne dass sie irgendeine Eigenschaft ihres Aussehens miteinander teilen. Was sich ähnelt, ist nicht weit voneinander entfernt, es braucht nur wenige Schritte, um das eine in das andere zu transformieren. Es gibt zwischen Ähnlichem kein Entweder-Oder, sondern nur ein Mehr-oder-Weniger.
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Daher gibt es keine Dramatik, keine Gräben, die überbrückt werden müssten. Die Ränder des Ähnlichen sind unbestimmt, Ähnliches kann gleichzeitig nebeneinander existieren und macht sich keinen Platz streitig. Ähnlichkeit ist in der Regel kein Problem und stellt keine Herausforderung dar. Miteinander nenne ich die Form von Zwischenmenschlichkeit, die Ähnlichkeiten und Differenzen wahrnimmt und nicht zu verändern versucht. Die Ähnlichkeiten werden mit sozialer und historischer Entfernung immer geringer, verschwinden aber nie völlig. Es gibt Bedürfnisse, die alle Menschen nicht in gleicher, aber in ähnlicher Weise artikulieren wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Nahrung, Bewegung, Lernen, Bindung, Entscheidungsfreiheiten. Sie sind die Grundlagen einer minimalen universellen Vorstellung eines guten Lebens und universeller Menschenrechte. Das Miteinander ist in manchen Kulturen ausgeprägter als in anderen, aber es ist für das menschliche Zusammenleben unentbehrlich. Es ist eine sehr praktische und leibliche Angelegenheit und gerade deswegen taugt es als ein universelles ethisches Fundament. Der Sinn der „Nächstenliebe“: Der Nächste steht uns nahe, nicht notwendigerweise gegenüber. Miteinander kann sich in wohlwollender Vernachlässigung und gemäßigtem Interesse zeigen – im Umgang mit Fremden, Kindern, Freunden. Es ist lateral, nicht vertikal oder diametral. Sicher braucht es oft mehr, aber Miteinander bringt Gelassenheit, Entspannung, Absichtslosigkeit, Großzügigkeit, Offenheit und Kreativität in unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Bewusstsein des lateralen Miteinanders schafft einen Freiraum im Alltag, von dem wir nicht immer, aber oft Gebrauch machen können. Es ermöglicht eine Stille in der Flut der Kommunikation, der viele von uns ausgesetzt sind. Wir verzichten im Miteinander auf das Ergründen und Optimieren des Anderen, unserer Selbst oder der Beziehung. Wir verzichten auf Orientierung und Kontrolle. Wir messen dem Nicht-Verstehen die gleiche Bedeutung zu wie dem Verstehen. Das Neben- und Miteinander ist keine Aufgabe, sondern – wenn alles gut geht – ein gemeinsames Dasein in einer spielerischen Annäherung oder Entfernung, in einer akzeptierenden Leichtigkeit, einer schwachen Kommunikation. Im Miteinander beziehen wir uns nicht vorrangig aufeinander, sondern auf die gemeinsame und gleichzeitig unterschiedliche Erfahrung einer Situation. Es ist welthaltig. Deshalb bieten Kooperationen, gemeinsame Reisen, Kunsterlebnisse, politische Engagements usw. reichhaltige Gelegenheiten für Erlebnisse des Miteinander. „Wenn alles gut geht“ setzt voraus: Es gibt keine elementaren Interessenskonflikte oder Bedrohungen, die diese absichtslose Haltung unmöglich machen. Wenn wir gezielt handeln müssen, muss die Absichtslosigkeit der Achtsamkeit und des Miteinander in den Hintergrund treten.Wir können nicht einfach an dem,
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was gerade in einer gemeinsamen Situation geschieht, teilnehmen, wenn es in unseren Augen grobes Unrecht ist oder wenn wir bedroht werden. Der spielerische, akzeptierende, anstrengungslos interessierte Umgang ist auch der Spirit, der „Liebe“ ermöglicht.Wir spüren im Alltag, wenn die Liebe geht, wenn das Spiel und das Miteinander enden, wenn das Aushandeln von Interessen und die wechselseitige Kontrolle das Zusammensein bestimmen und wenn wir uns nicht mehr so leicht in ein unbefangenes Miteinander fallen lassen können. Eine zweite Anregung, die aus meinen Ausführungen folgt, betrifft daher Paare: Bevor sie sich mit ihren Problemen, ihrer gemeinsamen Geschichte, ihren Vorwürfen und Erwartungen beschäftigen, sollten sie erleben – und hoffentlich wiedererleben – wie es ist, miteinander zu sein, also miteinander ins Kino zu gehen, in die Natur, zu den Kindern oder sich gemeinsam zu engagieren – und zwar ohne sich selbst, den anderen oder die Beziehung zu thematisieren und ohne Bedingungen zu stellen. Viele Paare verschlimmern ihre Probleme, in dem sie versuchen, sie auf direktem Wege zu lösen. Miteinander bedeutet nicht Übereinstimmung und Harmonie. Unstimmigkeiten in Perspektive und Zeitlichkeit, auch Widersprüche gehören dazu. Ähnlichkeit beinhaltet Differenz.Wenn wir im Miteinander bleiben, brauchen wir aber nur ein minimales, kein maximales Verstehen, ein Verstehen in einer ausreichenden Form – „good enough“ – nicht invasiv, nicht verfügend, aber ausreichend interessiert. Mehr als diese gemäßigte Anonymität ist angesichts der unendlichen Vielfalt von Lebensentwürfen und kulturellen Unterschieden auch gar nicht möglich, wenn wir uns ihr denn aussetzen. Die Idee eines solchen leichten Miteinander enttäuscht möglicherweise diejenigen, die die Dramatik der Begegnung mit dem Höchsten oder dem Tiefsten in dem Anderen oder in sich, die große Liebe, eine absolute Gewissheit oder ein endgültiges Ankommen suchen. Nebeneinander und Miteinander sind weniger dramatisch als das Gegenüber, sie können daher „Strategien der Entdramatisierung“ (Bhatti, Kimmich 2015: 15) sein. Diese Strategien – oder sagen wir lieber diese „Haltung“ – enttäuscht wahrscheinlich auch dann, wenn man an dem expliziten „Wir“ einer bewussten Zugehörigkeit interessiert ist. Dieses „Wir“ beginnt bei Paaren und Familien und geht über Gemeinschaften jeder Art bis zu Nationen. Oft ist dieses „Wir“ nur eine Vision, aber sie kann sehr wirksam sein und sei es nur, indem man sich über Zugehörigkeiten streitet. Paarbeziehungen werden dramatisch begonnen und beendet, sie sind Gegenstand von Definitionen, definieren sich z. B. in der Regel durch den mehr oder weniger ausgeprägten Ausschluss Dritter. Kulturen werden aus gewachsenen Verflechtungen, Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten nach Sprachen, Abstammungen und Religionen definiert und separiert (Feichtinger 2015). Das explizite „Wir“ bringt daher die Fragen nach Integration und Toleranz mit sich. Toleranz braucht man nur, wenn man zuvor die Andersartigkeit betont.
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Ein viertes praktisches Anliegen meines Textes ist es daher, dafür zu plädieren, den Diskurs der kulturellen Identitäten und damit auch der Integration und der Toleranz auf das notwendige Minimum zu beschränken.
5 Spiritualität des Miteinander Der Nutzen der Vermeidung von Interaktion und Kommunikation – wie sie z. B. in Zen-Retreats üblich ist – für die spirituelle Suche ist leicht zu verstehen. Die Entlastung von Handlungsanforderungen, Kommunikation und Gewohnheiten ist für die Entwicklung einer absichtslosen Haltung und die Öffnung für neue existenzielle Erfahrungen förderlich. Zur Meditation ziehen sich Menschen schon immer gerne in Wüsten, auf Berge, in Wälder oder klösterliche Gemeinschaften zurück. Wenn die irdischen Stimmen verstummen, ist die Stimme des Transzendentalen leichter zu vernehmen. Neue Erfahrungen nenne ich spirituell, wenn sie eine gelebte und erlebte Antwort auf existenzielle Herausforderungen wie Leid, Tod, Vergänglichkeit, Glück, Freiheit, Sinn, Liebe darstellen. In spirituellen Erfahrungen tritt die Alltagsstruktur der Sorge in den Hintergrund und existenzielle Grunderfahrungen von Zeit, Raum, Selbst, Kontakt verändern sich. Wir gelangen zu einer Erfahrung der Befreiung, der Verbundenheit, der Zeitlosigkeit, der Offenheit, der Dankbarkeit, der Daseinsfreude. Sich aus sozialen Zwängen zurückzuziehen, um zu meditieren hat aber das Unbefriedigende an sich, dass man wieder zurückkommen muss, wenn man sich für das, was in der Welt geschieht, mitverantwortlich fühlt oder wenn man auf die Fülle des Lebens nicht verzichten möchte. Häufig scheitert die Rückkehr in den Alltag oder die neuen Einsichten und Fähigkeiten verlieren sich bald wieder (Kornfield 2003). Eine besondere Herausforderung ist es, sich wieder mit den vertrauten Menschen zusammenzufinden, die nicht meditativ unterwegs waren. Dieses Problem stellt sich weniger, wenn die spirituelle Praxis von Beginn an die zwischenmenschliche Dimension der menschlichen Existenz einbezieht oder spirituelle Erfahrungen in einem Dialog oder einer Hinwendung an eine göttliche Instanz verstanden werden. Dazu dienen Gebete, Liturgien, Rituale, praktizierte Nächstenliebe und auch Achtsamkeitspraktiken, die die Interaktion selbst zum Gegenstand der Achtsamkeitspraxis machen, z. B. meditativ geprägte Kampfsportarten, tantrische Praktiken oder Übungen achtsamer Interaktion und Kommunikation (Huppertz 2015). Für eine dialogische spirituelle Praxis steht paradigmatisch Martin Bubers Vorstellung von „Beziehung“ oder „Begegnung“. In der Begegnung entfalten sich die Beteiligten miteinander aus dem Gespräch heraus. Im „Du“ liegt das Unendliche verborgen und es wird durch die Offenheit des Zwischen und der ent-
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sprechenden Einstellung des „Ich“ ans Licht gebracht, wobei jede Begegnung von unauflöslicher Urdistanz und Verborgenheit begleitet wird (Buber 1923/1995, 1951/ 2008). „Ich“ und „Du“ sind im Kern spirituelle Erfahrungen, in denen Buber die taoistische und die chassidische Tradition verknüpft. Die Erfahrung des Miteinander ist weniger fokussiert als die Erfahrung des Du und impliziert von Beginn an eine weiter verteilte, aber ebenso unabschätzbare Vielfalt. Um sie bewusst zu erleben, ist es hilfreich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit in einer achtsamen, d. h. absichtslosen, gegenwärtigen und offenen Weise, auf die Situation als Ganze lenken. In einer weiten und offenen achtsamen Haltung bewegen wir uns in der Horizontalität des Alltäglichen, die immer unabgeschlossen ist, nicht in der Vertikalität der Metaphysik. Wir erweitern unser Bewusstsein, nicht über die Realität hinaus, sondern in Bezug auf die Situation, in der wir uns befinden. Wir interessieren uns für die Fülle der Gegenwart auch jenseits dessen, was uns unsere Wahrnehmungs- und Denkmuster nahelegen. Oft wird dadurch der Hintergrund zum Vordergrund, das Allzu-Selbstverständliche wird beachtet. Wenn wir spüren, dass wir uns zu sehr fokussieren, zu sehr an Definitionen, an identitären Konzepten des Eigenen oder Fremden festhalten, wenn wir merken, dass wir zu sehr herausfinden wollen, wer der Andere oder wer wir selbst sind, kann es sinnvoll sein, in diese Haltung weiter Achtsamkeit zu gehen und wahrzunehmen, was es bedeutet, einfach eine Situation zu teilen. Eine Herausforderung liegt darin, dass das Miteinander vage, unfasslich und unbegrenzt ist. Es besteht aus fließenden Übergängen, die sich zudem ständig verändern können. Wir riskieren im bewussten Miteinander Desorientierung und Kontingenzerfahrungen. Aber gerade dadurch touchieren wir – wie in der Begegnung mit dem „Du“ – die Unendlichkeit. Ob wir dies als spirituelle Erfahrung erleben, hängt auch davon ab, ob wir sie als solche interpretieren (Huppertz 2016). Die folgenden Beispiele sollen zeigen, dass eine solche Interpretation möglich und sinnvoll ist. Wenn wir in einem Achtsamkeitskurs nach spirituellen Erfahrungen fragen, so beziehen sich die allermeisten Berichte auf zwischenmenschliche Grenzsituationen: eine Geburt miterleben, einen Sterbenden begleiten, überraschend Hilfe in einer sehr schwierigen Situation bekommen, Geborgenheit in der Fremde finden oder intensiv zu lieben. Solche Grenzsituationen zeigen, was jenseits des alltäglichen Geschiebes und Gedränges die Menschen existenziell miteinander verbindet. Existenzielle Grenzsituationen erzeugen einen unverstellteren Blick auf das, was allen Irrungen und Wirrungen zu Grunde liegt. Sie machen uns auch die Kontingenz des Lebens bewusst.Wenn es so ist, könnte auch alles anders sein. Wir könnten nie geboren oder längst gestorben, verloren, vereinsamt oder unendlich glücklich sein. Wenn wir Menschen in Grenzsituationen begleiten, so besteht das Wesentliche der Begleitung darin, diese Situationen zu teilen (Frick 2018). Warum aber soll dies genügen? Ein tieferer Blick auf das Miteinander ver-
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mag die Frage zu beantworten. Wenn wir mit einem anderen Menschen eine existenzielle Situation durchleben, so teilen wir nicht nur das, was ohnehin geschieht, sondern wir kreieren eine neue Situation.Wir erweitern den Horizont und laden den Anderen ein, seine Sichtweise ebenfalls zu erweitern. Wenn jemand unglücklich verliebt ist, so ist uns das vielleicht auch schon in ähnlicher Weise passiert, was wir nicht dadurch ausdrücken, dass wir von uns erzählen, sondern dass wir die Andere erzählen lassen (auch wenn wir nicht verstehen, was sie an XY findet). Auch im Umgang mit einer psychotischen PatientIn ist es nicht entscheidend, ob wir wirklich verstehen, was sie sagt. Das ist zwar nicht per se unmöglich, aber es ist doch manchmal sehr schwierig und anspruchsvoll. Wohl aber ist es entscheidend, ob wir die PatientIn aus sozialen Situationen ausschließen. Wenn jemand stirbt, so geht er uns nur etwas früher als wir selbst. [Ja!] Er geht uns voran und wir werden ihm nachfolgen. „Stark wie zwei, du bist wie schon so oft ein Pionier. Du reist jetzt schon mal vor und irgendwann, dann folg ich dir.“ (Udo Lindenberg in „Stark wie zwei“). Der Sterbende geht dahin, wohin seine und meine Angehörigen und Freunde und zahllose Generationen bereits sind, wie immer dieser Ort beschaffen oder nicht beschaffen sein mag [gerne mit „auch“]. Natürlich können wir das auch ausdrücken, aber entscheidender ist, dass wir dieses gemeinsame Schicksal akzeptieren und dies durch unsere Anwesenheit in der gemeinsamen fragilen Lebendigkeit beglaubigen. Dies gilt auch für die Trauer. Ein Mensch war ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens und nun ist er es nicht mehr. Dennoch bleiben wir mit ihm verbunden. Thornton Wilders Roman „The Bridge of San Luis Rey“ behandelt die Schicksale von fünf Menschen, die gemeinsam bei dem Zusammenbruch einer Brücke ums Leben kommen. Ein Mönch versucht, diesem Ereignis einen religiösen Sinn abzugewinnen, indem er die unabhängigen Schicksale der Toten erforscht. Wäre ihr gemeinsamer Tod Zufall oder Willkür, so wäre sein Glauben in höchster Gefahr. Mit seinen Mitteln der Recherche scheitert er. Wilder lässt aber die Äbtissin Madre Maria, die in allen Einzelschicksalen eine Rolle spielt, seine Erzählung mit den Worten beenden: „But soon we shall die and all memory of those five will have left earth, and we ourselves shall be loved for a while and forgotten. But the love will have been enough; all those impulses of love return to the love that made them. Even memory is not necessary for love. There is a land of the living and a land of the death and the bridge is love, the only survival, the only meaning“ (Wilder 1927/2000: 124). Grenzsituationen müssen nicht mit Verlusten, sie können auch mit der Erfahrung von Fülle und Sinnlichkeit verbunden sein, z. B. wenn wir uns dem Miteinander unserer Körper überlassen. Es ist häufig Empathie notwendig, um das Weinen eines Säuglings richtig zu verstehen und zu beantworten, wenn ein Kind getröstet, der richtige Abstand zu einem Menschen oder der rechte Tonfall
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gefunden werden soll. Diese elementare Form der Verbundenheit kann, so sie denn reibungslos gelingt, beglückend sein und ebenso verwirrend und verunsichernd, wenn sie misslingt. In der Sexualität bringen wir uns – nicht notwendigerweise, aber potenziell – besonders umfassend und offen, ungeschützt und frei ein. So sinnvoll es ist, die Sexualität aktiv, bewusst und empathisch zu gestalten, ihr Kern ist nicht das wechselseitige Verstehen, sondern das gemeinsame Geschehenlassen. Wenn Sexualität die Form eines bewussten gemeinsamen absichtslosen Spiels bekommt, kann sie einen spirituellen Aspekt entfalten. Durch die Aufgabe einer Zielorientierung, das Erleben eines Miteinanders, das sich aus sich selbst heraus entwickelt, durch die intensive Körperlichkeit, die Gegenwärtigkeit und die Verbundenheit treten die festgefügten Schemata von Raum, Zeit, körperlicher Wohltemperiertheit, sozialer und biographischer Identitäten in den Hintergrund. Im Vordergrund entsteht ein ortloses und zeitloses, emotionales und sinnliches Miteinander, in dem die Konzeptionen des narrativen Selbst und die Ängste um die eigene individuelle Existenz für eine Weile zerfließen. Selbst im Hinterkopf hat die Angst vor dem Tod nichts mehr verloren. Ein anderes Beispiel für das spirituelle Potenzial des Miteinander ist der Altruismus. Unter „Altruismus“ verstehe ich ein Verhalten, dessen Intention auf das Wohlergehen Anderer gerichtet ist, unabhängig davon, ob auch das eigene Wohlbefinden dadurch befördert wird (Monroe 1998). Ein persönlicher Gewinn mag also durchaus der Fall sein, aber er ist nicht das Ziel des Verhaltens. Kristen Renwick Monroe sieht in der Art, andere Menschen zu sehen, die Grundlage des Altruismus: „I will argue that altruists simply have a different way of seeing things. Where the rest of us see a stranger, altruists see a fellow human being“. (1998: 3). Der Altruismus widerspricht dem utilitaristischen Alltagsdenken. Dies umso mehr, wenn alltagsnahe Interpretationsschemata wie die Mutterliebe, die Familien- oder Clansolidarität, Ehre, Verpflichtung und andere Ideale für das Verhalten nicht von Bedeutung sind, sondern weil im altruistischen Blick wirklich „a fellow human being“ auftaucht. Die extremen Fälle des Altruismus beinhalten einen hohen Preis und berühren uns, weil sie nicht von dieser Welt zu sein scheinen und vielleicht auch nur möglich sind, wenn ein Mensch nicht nur in dieser Welt lebt wie die berühmten Vorbilder des Altruismus Maximilian Kolbe oder Janus Korzak und Stefania Wilczyńska. Aber wenn wir genauer hinschauen, erleben wir den Altruismus in vielen kleinen alltäglichen Zeichen der Hilfsbereitschaft und der Rücksicht, in denen ein Mensch zeigt, dass er sich nicht als Zentrum der Welt sieht und fühlt (Wallace 2016). Wir müssen im Altruismus nicht mehr sehen als ein erlerntes zivilisiertes Verhalten, aber wir können es auch so sehen, dass der altruistische Mensch sich und den Anderen als Teile eines größeren Kontexts behandelt, sei es einfach, weil er eine elementare Solidarität mit
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einem Zeitgenossen – und wie erstaunlich ist die Zeitgenossenschaft! – oder eine religiös begründete Verbundenheit erlebt. Wir können auch mit der Natur sein. Die Natur, wie wir sie erleben, wenn wir uns ihr – wie heute in industriellen Gesellschaften üblich – erholungssuchend und betrachtend nähern, hat verschiedene Eigenschaften, die unsere alltäglichen existenziellen Muster überschreiten: eigene Rhythmen, Formen, Räumlichkeiten, Dimensionen der Größe, Form und Lebendigkeit, Geheimnisse, Absichts- und Meinungslosigkeit u. a. (Huppertz & Schatanek 2015). Dazu gehören auch starke Atmosphären, die einen spirituellen Charakter haben können (Huppertz 2007). Es gibt eine erlebbare existenzielle Verbundenheit zwischen der Natur und uns. Ich meine die Rhythmen des Tages, der Jahreszeiten, der Pflanzen und Tiere, die mit unseren Rhythmen verflochten sind. Natürlich erleben wir das stärker, wenn wir in engerem Kontakt mit der Natur leben, wenn wir in einem Zelt oder einer Hütte schlafen oder einen Garten pflegen. Dann hören wir die Geräusche der Nacht oder wir sehen, was die Trockenheit anrichtet. Wir folgen dem Flug der Vögel und haben eine Idee, wie es sich anfühlen würde zu fliegen, vielleicht weil wir es aus unseren Träumen kennen. Oder wir sehen den scheinbar ewig dahinfließenden Strom und er ist uns Trost oder Grund zur Melancholie, je nachdem wie wir gerade zu unserer eigenen Vergänglichkeit stehen. In diesem Mit-der-Natur-Sein erleben wir uns ebenfalls nicht mehr als Zentrum der Welt. Wir weiten unser Selbst und überwinden die Sorgestruktur des Daseins. Wenn wir solche Naturerfahrungen miteinander teilen, bedeutet dies eine gemeinsame Öffnung für die unfassliche vielfältige Wirkung der Welt. Im gemeinsamen Erleben von Atmosphären z. B. schwingen wir nicht nur mit der Situation, sondern auch mit anderen Menschen mit. Atmosphären sind keine Gegenstände, sie entziehen sich in der Regel der handlungsbezogenen Wahrnehmung. Man muss sich einer Atmosphäre rezeptiv überlassen, sie laden von sich aus zu achtsamer Präsenz ein. Das gemeinsame Erleben von Atmosphären findet natürlich nicht nur in der Natur statt, sondern auch in Liturgien, Ritualen, Festen. Spirituelle Erfahrungen sind nicht leicht verbal darzustellen. Am Ende dieses Abschnitts möchte ich daher noch ein filmisches Beispiel zitieren, dass das Miteinander visuell, akustisch und narrativ auf wunderbare Weise darstellt. Ich verstehe das Wasser in Guillermo del Toros Film „Shape of Water“ (2017) als Metapher für das Miteinander. Es ist auf berauschende Weise durchgehend in dem Film präsent und leitet den Fortgang der Geschichte. Das selbst gestaltlose Wasser ermöglicht dem rätselhaften Fischmensch das Leben, sichert der stummen Elisa die Existenz und ermöglicht beiden Wesen, die so unterschiedlichen Natur-, Kultur- und Körperwelten erwachsen sind, die körperliche Vereinigung und die rettende Apotheose. Guillermo del Toro, der Regisseur war sich der spirituellen Dimension seines Films bewusst. Er lässt am Ende des Films den Erzähler aus
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dem Off ein Gedicht zitieren, das sich eigentlich auf eine Gotteserfahrung bezieht. Es handelt sich um Zeilen von Hakim Sanai (1080 – 1131), einem afghanischen Dichter der Sufi-Tradition „Unable to perceive the shape of you, I find you all around me. Your presence fills my eyes with your love. It humbles my heart, for you are everywhere.“ (Zur Recherche dieses Zitats s. Armenti 2018)
Schluss Das Miteinander, die elementare Solidarität, ist weniger komplex als die Empathie. Es ist vager, geheimnisvoller und apodiktischer. Es ist weniger gefährdet für Übergriffe, Parteilichkeiten und Funktionalisierungen als die Empathie. Aber es kann auch scheitern, wenn es Ähnlichkeiten unterstellt, wo keine sind. Es ist irrtumsanfällig wie die Empathie – etwas weniger insofern sie einen geringeren Anspruch erhebt, etwas mehr insofern sie ihre Vermutungen weniger überprüft. Das Miteinander sollte aber weder ein erweiterter Monolog noch ein dumpfes Nebeneinander sein. Mitgefühl und Empathie sind in einem dialogischen, riskanten Sinne unverzichtbar. Empathie ist notwendig, wenn wir vermeiden wollen, dass das Miteinander sich in Projektionen und Unwissen beruhigt oder dass wir naiv werden und Gefahren übersehen. Miteinander ist auch kein Wert an sich. Es gibt Interessenskonflikte, die es unmöglich oder unmoralisch machen, sich im eigenen Handeln an der Ähnlichkeit zu orientieren statt an den Unterschieden. Aber das erlebte Miteinander ist die erlebbare Basis des Universalismus, der Verteidigung der vielfältigen Möglichkeiten, wie ein gutes Leben aussehen kann, und der Anerkennung der Menschenrechte. Das Miteinander ermöglicht uns in Gemeinschaften und Gesellschaften auf seine Weise eine gelassene, ausreichend interessierte, undramatische humane Koexistenz. Für uns als Einzelne ist die Erfahrung des grundlegenden Alleineseins, die sich aus unserer Körperlichkeit, unserer Subjektivität und unserer Individualität ergibt, unvermeidlich. Andere Menschen verstehen wir selten wirklich, und dass wir selbst verstanden werden, ist genauso selten, auch wenn wir beides gerne glauben. Aber das Miteinander bleibt, hält stand, ist da, wenn wir von unseren einsamen Wegen zurückkehren. So jedenfalls verstehe ich Hilde Domins „Die schwersten Wege“ (2009: 51): Die schwersten Wege werden alleine gegangen, die Enttäuschung, der Verlust, das Opfer, sind einsam. Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet und sich keiner Bitte versagt
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steht uns nicht bei und sieht zu ob wir es vermögen. Die Hände der Lebenden, die sich ausstrecken ohne uns zu erreichen sind wie die Äste der Bäume im Winter. Alle Vögel schweigen. Man hört nur den eigenen Schritt und den Schritt, den der Fuß noch nicht gegangen ist aber gehen wird. Stehenbleiben und sich Umdrehen hilft nicht. Es muß gegangen sein. Nimm eine Kerze in die Hand wie in den Katakomben, das kleine Licht atmet kaum. Und doch, wenn du lange gegangen bist, bleibt das Wunder nicht aus, weil das Wunder immer geschieht, und weil wir ohne die Gnade nicht leben können: die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags, du bläst sie lächelnd aus wenn du in die Sonne trittst und unter den blühenden Gärten die Stadt vor dir liegt, und in deinem Hause dir der Tisch weiß gedeckt ist. Und die verlierbaren Lebenden und die unverlierbaren Toten dir das Brot brechen und den Wein reichen – und du ihre Stimmen wieder hörst ganz nahe bei deinem Herzen.
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V. Spiritualität im gesellschaftlichen Kontext
Éric Charmetant SJ
Ecology and spirituality Ökologie und Spiritualität Zusammenfassung: Die spirituelle Dimension der Ökologie wird oft minimiert, indem man sich nur auf wenige Stimmen der radikalen Ökologie bezieht. Doch die Tiefenökologie trägt durch ihren scharfen Blick auf die Zusammenhänge zwischen den Lebewesen eine Spiritualität im weiteren Sinne in sich, wie sie von H.U. von Balthasar definiert wird. Durch die Auseinandersetzung mit den Gedanken von Arne Naess, Aldo Leopold, Baird Callicott und Hans Jonas werden wir die Grundwerte der Tiefenökologie und ihrer Spiritualität identifizieren: Dezentrierung, der Wert des nichtmenschlichen Lebens, asymmetrische menschliche Verantwortung und eine Aufforderung zu nachhaltigem Lebensstil. Auf diese Weise können die Spiritualitäten der Tiefenökologie inspirierende Quellen sein, um die integrale Ökologie, wie sie Papst Franziskus in der Enzyklika Laudato si’ entwickelt, zu leben, auch wenn sie die Sorge um die Natur und die Sorge um die Ärmsten nicht ausreichend verbinden. Schlüsselwörter: Spiritualität, Ökologie, Laudato si’, Ökosophie, Tiefenökologie Abstract: The spiritual dimension of ecology is often minimized by referring only to a few voices of radical ecology. Yet deep ecology, through its acute view of the interrelationships between living beings, carries a spirituality in the broad sense defined by H.U. von Balthasar. Through the examination of the thoughts of Arne Naess, Aldo Leopold, Baird Callicott and Hans Jonas, we will identify the fundamental values of deep ecology and its spirituality: decentring, the value of nonhuman lives, asymmetrical human responsibility, and an injunction to sustainable lifestyles. In this way, the spiritualities of deep ecology can be inspiring sources for living the integral ecology of Pope Francis’ Laudato si’, even if they do not sufficiently link concern for nature and concern for the poorest. Keywords: spirituality, ecology, Laudato si’, ecosophy, deep ecology The links between ecology and spirituality may seem very ambivalent. On the one hand, ecological concern invites a renewed attention to the cycles of nature, to the relationships between living beings and to the place of human being in this whole, and thus opens up to a process of contemplation, meaning and action that could easily be described as “spiritual”. The recent encyclical Laudato https://doi.org/10.1515/9783110638066-017
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si’ (2015) by Pope Francis, who develops a spirituality of integral ecology to overcome the ecological, social and theological crises of our societies, or the writings of ecology actors such as Aldo Leopold (1949) or Rachel Carson (1962), who invite us to take a different look at human and non-human life, are witnesses to the alliance between “ecology and spirituality”. Yet ecological militancy can in some cases lead to a hypertrophy of speeches and actions at the expense of a spiritual journey (Naess 2008: 123 – 124), just as the hypertrophy of man’s place in nature and his economic success in certain forms of Christianity can lead to a form of ecological and spiritual insensitivity to the poverty of the earth and its inhabitants. Historian Lynn White, in his famous article “The Historical Roots of Ecologic Crisis” (White 1967) had seen Western Christianity and its support for a relationship of natural domination by science and technology as a major source of the contemporary ecological crisis, while philosopher Luc Ferry was quick to condemn the anti-humanity of ecological currents in The New Ecological Order (Ferry 2012). Yet beyond these ambivalences, the currents of deep ecology carry a true spirituality whose facets are significant for Christian spirituality and resonate with the integral ecology of Laudato si’ as this essay will seek to demonstrate.
Defining spirituality In 1965, in a very inspiring text, the Swiss theologian Hans Urs von Balthasar proposed defining spirituality in the broad sense as “the basic practical or existential attitude (Grundhaltung) of man, which is the consequence and expression of the way in which he understands his religious – or more generally, his ethically committed – existence” (Balthasar 1965: 7). In a Christian context, spirituality is a way of being in relationship with God and of addressing Him in prayer, but also a way of considering, of looking at others, human or not. In this sense, Christianity breaks down barriers and hierarchies of race, gender, and social status (Gal 3,28). Spirituality is embedded in a vision of the world, a sense of history and salvation. In a broader context, following the example of Hans Urs von Balthasar, we can find a spirituality of Eros leading to the love of wisdom (philosophia) and the absolute in Plato, or a spirituality of action and its ultimate end in Aristotle with the place of happiness and friendship, or a spirituality of welcoming what happens in the silence of passions (apatheia) among the Stoics but with a cosmogony that situates the place and future of the human being in a cyclical universe. Spirituality links physics (in the sense of cosmology, theogony and anthropogony) and ethics in this ancient context.
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This is why ecological spirituality in the light of HU von Balthasar’s definition cannot be decoupled from an ethics associated with a world view that is sensitive to the interdependence of living beings and ecosystems. The integral ecology of Laudato si’ highlights not only this interdependence of the living, but also the question of a more just society that respects human and nonhuman beings.
The deep ecology The Norwegian philosopher Arne Naess (1912– 2009) coined the term “deep ecology” at a conference in Bucharest in 1972. Influenced by Spinoza’s philosophy as a teenager and later by Gandhi’s philosophy of non-violent action, his philosophical works focused on the philosophy of language and logic up to the perception of ecological urgency following the 1967 reading of Rachel Carson’s Silent Spring (Carson 1962) and the decision to stop his academic career early at Oslo University to devote himself to the philosophy of ecology and the formulation of an “ecosophy”. Shallow ecology fights pollution and resource depletion, but without questioning current lifestyles. On the other hand, deep ecology, while not disregarding the concrete means of limiting the damage of superficial ecology, challenges the ideology of unlimited growth and the Baconian utopia of a society that would eliminate all evils through the development of science and technology. Deep ecology reintegrates the human being into nature as a member of an ecosystem that must be preserved. Man and woman are invited to become aware of the interdependence of their lives with the rest of the biosphere. An ecosophy is “a philosophical world-view or system inspired by the conditions of life in the ecosphere” (Naess 1989: 38). We can recall here that the ecosphere is “the system where biological phenomena are deployed, a system composed of the Earth (lithosphere, hydrosphere, atmosphere), living organisms (biosphere stricto sensu) and the Sun, source of energy necessary for life (photosphere)” (Barbault 2008: 21, personal translation). While Naess invented the terms “deep ecology” and “ecosophy”, these realities existed long before him and animated the wilderness movement with the birth of national parks in the United States in the 1870s and the figures of John Muir (1838 – 1914), Arthur Carhart (1892– 1978), Aldo Leopold (1887– 1948) and Rachel Carson (1907– 1964).
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The spirituality of “the ethics of the earth” (Aldo Leopold, Baird Callicott) Aldo Leopold, ornithologist, hunter, employee of the U.S. Forest Service and professor of game management at the University of Wisconsin, is the great figure of deep American ecology, who makes attention to wilderness the true path to inner transformation. His posthumous book A Sand County Almanac (1948) evokes attention to seasonal variations in the ecosystem, the return of wild goose migration or woodcock dances. Leopold follows in the footsteps of writer, poet, naturalist and philosopher Henry David Thoreau (1817– 1862), who spent two years by Walden Pond in the Massachusetts forests, explaining that nature is humanity’s greatest resource and that it must be preserved so that man can flourish (Thoreau 1854). In both Thoreau and Leopold, man is invited to become aware of the complex balance of ecosystems and the interdependence of living things. He is encouraged to change his view of what surrounds him and to modify his relationship with the ecosphere in which he lives. Man reopens his network of relationships with nature and can therefore change his behaviour, entering into an attitude of respect and dynamic preservation of nature, protecting it from the damage of unlimited expansion of cities and mass tourism which carries with it urban behaviour. All ethics so far evolved rest upon a single premise: that the individual is a member of a community of interdependent parts. […] The land ethic simply enlarges the boundaries of the community to include soils, waters, plants, and animals, or collectively: the land (Leopold 1949: 203 – 204).
This earth ethic is an ethic of respect for territorialized biotic communities, an ethic of the proper use of nature at the local level. In this context, the only general principle is that of respect for the biotic community even if it has no utility value for human beings: One basic weakness in a conservation system based wholly on economic motives is that most members of the land community have no economic value. Wildflowers and songbirds are examples. Of the 22,000 higher plants and animals native to Wisconsin, it is doubtful whether more than 5 per cent can be sold, fed, eaten, or otherwise put to economic use. Yet these creatures are members of the biotic community, and if (as I believe) its stability depends on its integrity, they are entitled to continuance (Leopold 1949: 210).
The values of integrity, stability and beauty are central to the ethics of Leopold’s land. The most recognized interpreter of Leopold’s legacy, the American philos-
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opher John Baird Callicott, born in 1941, deployed its metaphysical and ethical foundations: the ecological and evolutionary vision of the world requires a rejection of a mechanical vision of the world, a shift from an atomist vision of the world to an organicist and holistic vision. This conviction leads him to develop a multi-level communitarian ethic for which membership of each community generates a set of specific duties to protect the interests of the community. Thus, as a member of the human species, human beings must ensure that the interests of the human community are preserved, and as a member of a global biotic community, they must ensure that their integrity, stability and beauty are preserved. Leopold’s Earth Ethics is the moral code of one of the levels of Callicott’s communitarian ethics. Without wanting to be anthropocentric, Callicott’s ethics is anthropogenic by making man the source of moral values. To arbitrate possible conflicts between levels and community affiliations, Callicott defends a priority of duties from the closest communities. This spirituality of attention to the wilderness was rooted in Leopold’s experience of the day when he and other hunters killed a wolf and its pups on a mountain, without the slightest hesitation. The look of this dying wolf with her young was an awareness that the mountain did not have the same look as him on this death (Leopold 1949: 129 – 133). The destruction of wolves also led to deer outbreaks and faster soil deterioration. Here again, Leopold’s fundamental existential attitude is rooted in a shift in his gaze and an ability to think from the point of view of the animal or the ground, or more broadly from the Earth. This path of transformation passes through the gaze, the attention and a way of living in the wilderness that is not cannibalized by technology and urban rhythms.
Ecosophy T or the realisation of Arne Naess’ Self Naess’ philosophy of life, his fundamental existential attitude, is linked to his personal experience of the relationship to the ecosphere, to his “T-ecosophy”. The “T” refers to Tvergastein, the name of the refuge hut that Naess had built in 1937 at an altitude of 1,500 m in Norway’s Hallingskarvet mountain range, and in which he spent about ten years in cumulative time, often alternating with his philosophy courses at the University of Oslo on which he concentrated one or two days of the week. Deeply marked by his practice of the mountains – at 17 years old, he had already climbed the 106 highest peaks in Norway – Naess’ spirituality is that of a Self with a capital “S” being realised (Selv-realisering in
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Norwegian), that is to say a process of opening up from the self to the whole ecosphere (Rothenberg 1993). This movement of openness involves learning about social life, relating one’s desires to those of others, developing the ability to understand others to the point of understanding oneself as part of the adventure of life, of the biosphere, of the ecosphere. The individual self expands to the dimension of a Self, that is, a living being who has become aware of the relational depth of his existence, a depth that goes far beyond relationships with his relatives. Naess summons Spinoza’s perseverare in suo esse, Bergson’s vision of life in The Creative Evolution, and finally the unity of beings and non-violence brought about in Gandhi by the Bhagavadgita (Song of the Blessed). But Naess’ approach is fundamentally open to all traditions that are likely to promote a relationship with nature, made of relationship, welcome and respect, and that do not seek to dominate and get their hands on nature for the sole benefit of human beings. Naess also evokes the Bible as a possible source for this process of transformation of self-awareness in the universe with the biblical emphasis on the goodness of creatures. Naess explained the realisation of Self – understood as a process and not an outcome – in the form of two fundamental norms (N1, N2) and three hypotheses (H1, H2, H3) that are the foundation of his spirituality: N1: Self-realisation! H1: The higher the Self-realisation attained by anyone, the broader and deeper the identification with others. H2: The higher the level of Self-realisation attained by anyone, the more its further increase depends upon the Self-realisation of others. H3: Complete Self-realisation of anyone depends on that of all. N2: Self-realisation for all living beings!” (Naess 1989: 197)
Setting out other sets of norms and assumptions, Naess then explains other aspects of his ecosophy, emphasizing in particular that the increase in biodiversity is a potential for the highest realisation of Self through the extension of possible relationships with other forms of life, and by opening up questions on the forms of societal organization best suited to the realisation of Self for oneself and for all living beings, by emphasising the decentralization of decisions and respect for the autonomy of local communities. These norms are to be understood, in my opinion, as the ultimate values of Naess’ “ethically committed existence” (see HU von Balthasar’s definition above). The hypotheses H1 to H3 are guidelines, rules of discernment to evaluate if one is well engaged or not in this process leading to the realization of Self for oneself and for all living beings.
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If these norms of self-realisation apply to all living beings and equality among all living beings is affirmed, it must be recognised that the voluntary, deliberate implementation of these norms requires such a level of consciousness and reflexivity that it is accessible only to the human being. One could undoubtedly seek a certain reciprocity in the concern for the realisation of the Self of the other in the relationship between a man and a domestic animal such as the dog, but these remain exceptions among living beings. Even if helping behaviours between different species are well documented, they are finally quite few compared to the N2 standard: “Self-realisation for all living beings”! “.
The spirituality of Hans Jonas’ “limitation of power” The German philosopher Hans Jonas (1903 – 1993) is the thinker of deep ecology who has most analysed the change brought by modern technology in the spatial and temporal scope of human action, even if he is not usually integrated in this current but should be due to his metaphysics of life. Faced with the development of man’s technical power and the limits of moral philosophies to take into account the distant future in moral judgments, Hans Jonas proposes a revision of Kantian moral philosophy to include the maintenance of the conditions of possibility for the development of a human life. “An imperative responding to the new type of human action and addressed to the new type of agency that operates it might run thus: ‘Act so the effects of your action are compatible with the permanence of genuine human life’; or expressed negatively: ‘Act so that the effects of your action are not destructive of the future possibility of such life’; or simply: ‘Do not compromise the conditions for an indefinite of humanity on earth’, or again turned positive: ‘In your present choices, include the future wholeness of Man among the objects of your will’” (Jonas 1984: 11). The technical power of the human being confronts him with the double threat of physical annihilation and existential decline (Jonas 1996: 99 – 112). But Hans Jonas’ philosophy is not limited to reflections on an ethic adapted to the current technological power of man. He develops a metaphysics of life in which freedom plays a central role (Jonas 1996: 59 – 74). Freedom appears at an elementary level in the metabolism of the simplest organisms, is enhanced in animals capable of perceiving, feeling and moving, and takes its full scope in humans. However, the technical power applied to humans, namely anthropotechnics, could reintroduce more enslavement into human life by seeking to “en-
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hance” its functioning. It is in this metaphysics of freedom unfolding in the heart of life that Hans Jonas’ ecological spirituality is rooted.
Values and limits of deep ecological spiritualities These different spiritualities of deep ecology highlight four fundamental values: a decentring in human existence, a value of non-human lives that goes beyond their usefulness to the human being, an asymmetric responsibility of man to carry ecological concern, and an injunction to change the unsustainable lifestyles of many societies today. The ecological spiritualities proposed by Leopold, Callicott, Naess or Jonas all invite us to integrate human life into a network of interrelationships and interdependencies between life forms. To become aware of these interdependencies passes especially to Leopold, Callicott or Naess in another relationship to time and a contemplative look at the cycles of life according to the seasons. The ideal of wild nature is not to “relax” in beautiful landscapes by importing all the comfort and technologies that prevent being affected by “thinking like a mountain” (Leopold 1949: 129 – 133) or non-human living beings. Rather, it is a question for these thinkers of deep ecology to let themselves be affected by wild nature in order to change their way of being urban and to be more attentive to all the interdependencies of life forms in cities as well. This existential shift leads to a reassessment of the value of non-human life forms, sometimes using the notion of “intrinsic value”. While it is common to criticize the relativization in return for human life and all forms of biocentric egalitarianism, Leopold, Callicott, Naess or Jonas are all aware of asymmetric human responsibility and are critical of both Paul Taylor’s egalitarian biocentrism and of the excesses of the radical movement Earth First! which in the 1980s justified forms of violent ecological militancy and shocking abstentions from self-help in the name of reducing the human population. Human responsibility is to adapt lifestyles to a sustainable use of resources and the development of other forms of life, not to voluntarily reduce the human population so that current lifestyles become sustainable. A first limitation of these ecological spiritualities lies in how to deal with the urgency of ecological conversion and the impending disaster. Too much quietism in Naess or too much anxiety in Jonas: such a judgment would of course be very reckless and show too little respect for nuance. But, this indicates two tendencies to deal with the slowness of change and ecological insensitivity. On the one hand, take the path of personal ecological conversion and local communi-
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ties for lifestyle changes on a larger scale. On the other hand, show the impending disaster and, using fear as a spur, generate a societal and political response that is equal to the challenges. Unfortunately, fear can paralyse and cause inaction rather than lead to courage and action adjusted to the challenges of the current ecological crisis. A second limitation is the lack of articulation between land abuse and human abuse. The encyclical Laudato si’ strongly emphasizes that “everything is linked” between environmental degradation and social degradation, between the misdeeds of the technocratic paradigm of natural domination and social exploitation (LS, chapter 3, “The human root of the ecological crisis”). The deviant anthropocentrism denounced by ecological spiritualities is also the one that justifies the exploitation of man by man in the name of growth and a “better” future.
Conclusion Beyond these few limits, these spiritualities of deep ecology as “ethically committed existence” with their values of decentring, wider evaluation of life, asymmetrical responsibility and lifestyle conversion are a profound interpellation, anterior and at the same time resonating in parallel with that of Laudato si’, addressed to theology and Christian spirituality to open itself resolutely to a theology and spirituality of the ecosphere. The Brazilian theologian Leonardo Boff in Ecology, Globalization and Spirituality – The Emergence of a New Paradigm (Boff 1993) already called for a rediscovery and deepening of Christian spirituality, integration and communion with nature already well established in Francis of Assisi or Teilhard de Chardin, but also in the great traditions of Augustine, Bonaventura and Pascal. Boff invited the development of a Christian pantheism according to which God is present in everything and everything is present in God, and to distinguish it from the pantheism in which everything is God. Such a vision can also be found in Ad amorem (contemplation to awaken spiritual love in us) of the Spiritual Exercises of Ignatius of Loyola. The spirituality of integral ecology to which Laudato si’ invites us is not only not an antinomy of the spiritualities of deep ecology, but can be nourished by their ways of helping each person shift to better perceive and live the interrelationships in the ecosphere. In the opposite sense, the spirituality of integral ecology can be a stimulus for the spiritualities of deep ecology to give more space to concern and care for misery in human relationships in interaction with concern for the earth.
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Stephan Lipke SJ
„Gott“ als Lebensgarant Postsowjetische Spiritualitäten im sibirischen Tomsk „God“ granting life Post-Soviet spiritualities in Tomsk, Siberia Zusammenfassung: Ausgehend von einem Gedicht von J. Jewtuschenko und von Definitionen von Spiritualität bei Chr. Rutishauser und M. H. Crosby wird in diesem Aufsatz untersucht, wie Menschen in klassischen und neuen religiösen Gemeinschaften im westsibirischen Tomsk versuchen, spirituell zu leben, indem sie die schwierige und widersprüchliche Alltagsrealität auf eine größere Tiefe hin transzendieren, wie sich dadurch Kontrollstreben in Vertrauen wandelt und wie Menschen auf diese Weise zu echteren und tieferen Beziehungen finden. Das geschieht durch ein Sich-Einlassen auf traditionelle oder neue religiöse Formen. Viele Menschen bleiben allerdings bei einem punktuellen festlichen Erleben stehen. Andere tauschen Selbst- gegen Fremdkontrolle ein. Sowohl in den traditionellen Konfessionen Orthodoxie und Katholizismus als auch in Pfingstkirchen, evangelikalen Gemeinschaften und in Gemeinschaften mit hinduistisch oder buddhistisch geprägter Spiritualität kann jedoch der Weg hin in die Tiefe im Ansatz gelingen und können Menschen Lebensmöglichkeiten finden, die sie sich selbst nicht geben können. Schlüsselwörter: J. Jewtuschenko, Spiritualität, postsowjetische Epoche, Vertrauen, Kontrolle. Abstract: Taking as starting point a poem by E. Evtushenko and two definitions of spirituality – one by Chr. Rutishauser, the other by M. H. Crosby – this essay explores how people in traditional and modern religious communities in Tomsk (Western Siberia) try to lead a spiritual life, in which they transcend the complex and contradictory reality of everyday life towards a greater depth, how they transform control into trust, and how people can live in deeper and more authentic relationships. They achieve this by opening themselves up to traditional or new religious customs. For many people, however, this is limited to moments of brief religious or spiritual experience during religious festivals. Other people exchange control over themselves with control from outside themselves. And yet in traditional denominations (Orthodoxy, Catholicism), new Christian communities (Evangelicals, Pentecostals), and in communities with a Hindu or Buddhist https://doi.org/10.1515/9783110638066-018
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Stephan Lipke SJ
spirituality, there are ways that can lead to greater depth, at least in part, so that they might find a life larger and deeper than if they were on their own. Keywords: E. Yevtushenko, spirituality, post-soviet era, trust, control Das 1000-jährige Jubiläum der „Taufe der Rus“ unter dem Kiewer Fürsten Wladimir, begangen im Jahr 1988, war zweifellos ein Wendepunkt: Bis dahin wurde Religion in der Sowjetunion praktisch nur privat gelebt, Spiritualität war etwas für kleine Kreise, in der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt. Ab diesem Zeitpunkt trat beides ans Licht der Öffentlichkeit. Nachdem der Kommunismus keinen Sinn mehr zu bieten vermochte, begann für viele Menschen eine Suche nach spiritueller Beheimatung. Um zu verstehen, warum genau Menschen sich auf diese Suche machten, kann ein Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko (1932– 2017) helfen, einem Poeten, der die Mitte und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr bewusst miterlebt hat und dessen Besuch in Tomsk im Mai 2014 für viele ein Erlebnis war, weil sie ihn als ihresgleichen, als Menschen aus der sibirischen Region empfinden, da er einen Teil seiner Jugend bei Irkutsk verbracht hat (TV 2 2014). Neben vielen anderen Gedichten, in denen Religion und Spiritualität eine Rolle spielen, schreibt Jewtuschenko 1989: „Geb’ Gott“ (Jewtuschenko 2017: 224– 225). Hier nun der vollständige Text des Gedichts im Original und in einer Arbeitsübersetzung von mir: Дай бог! Дай бог слепцам глаза вернуть и спины выпрямить горбатым. Дай бог быть богом хоть чуть-чуть, но быть нельзя чуть-чуть распятым. Дай бог не вляпаться во власть и не геройствовать подложно, и быть богатым – но не красть, конечно, если так возможно. Дай бог быть тертым калачом, не сожранным ничьею шайкой, ни жертвой быть, ни палачом, ни барином, ни попрошайкой. Дай бог поменьше рваных ран, когда идет большая драка. Дай бог побольше разных стран, не потеряв своей, однако.
„Gott“ als Lebensgarant
Дай бог, чтобы твоя страна тебя не пнула сапожищем. Дай бог, чтобы твоя жена тебя любила даже нищим. Дай бог лжецам замкнуть уста, глас божий слыша в детском крике. Дай бог живым узреть Христа, пусть не в мужском, так в женском лике. Не крест – бескрестье мы несем, а как сгибаемся убого. Чтоб не извериться во всем, Дай бог ну хоть немного Бога! Дай бог всего, всего, всего и сразу всем – чтоб не обидно… Дай бог всего, но лишь того, за что потом не станет стыдно. Geb’ Gott! Geb’ Gott den Blinden die Augen wieder und den Gebeugten gerade Rücken. Geb’ Gott, ein bisschen Gott zu sein, nur: ein bisschen gekreuzigt sein geht nicht. Geb’ Gott, nicht mit der Pfote in der Macht hängenzubleiben und nicht verlogen den Helden zu spielen, und reich zu sein – bloß nicht zu stehlen, natürlich nur, falls das möglich. Geb’ Gott, geriebenes Weißbrot zu sein, das nicht gefressen wird, von niemands Bande, nicht Opfer zu sein, nicht Henker, nicht Gutsherr, doch auch nicht Bettler. Geb’ Gott möglichst wenig aufgerissene Wunden, wenn es zur großen Prügelei kommt. Geb’ Gott möglichst viele Länder, ohne dabei das eigene zu verlieren. Geb’ Gott, dass dein Land dich nicht trete mit dem Stiefel. Geb’ Gott, dass deine Frau dich liebe, sogar als Bettler.
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Geb’ Gott, dass sich der Lügner Lippen schließen, wenn sie die Stimme Gottes hör’n im Kinderschrei. Geb’ Gott den Lebenden Christus schau’n, nicht mit männlichem, dann halt mit weiblichem Antlitz. Nicht Kreuz – wir tragen Kreuzlosigkeit, doch wie wir uns erbärmlich beugen. Damit wir nicht den Glauben an alles verlieren, Geb’ Gott halt wenigstens ein bisschen Gott! Geb’ Gott von allem, allem, allem, und sofort allen, damit nicht kränkend… Geb’ Gott von allem, nur bloß von dem, wofür man sich hinterher nicht schämt.
Zur Interpretation dieses Gedichtes muss man wissen, dass „Gebe Gott“ im Russischen grundsätzlich eine feststehende Redewendung für „Möge es so sein“ ist. In diesem Gedicht handelt es sich aber bei „Gebe Gott“ keineswegs um eine Phrase: Zunächst einmal wiederholt sich die Bitte, Gott möge „Gott“ geben, oder die Möglichkeit geben, so zu sein wie Gott. Die Bitte darum, „ein bisschen Gott“ zu sein, ist zugleich mit der Einsicht verbunden, dass man nicht „ein bisschen gekreuzigt“ sein kann. Außerdem wünscht das lyrische Ich „den Lebenden, Christus zu schauen (andere mögliche Übersetzung: Christus als Lebendigen zu sehen)“, „nicht mit männlichem, dann halt mit weiblichem Antlitz“. Mit der Sehnsucht nach Gott ist es Jewtuschenkos lyrischem Ich also ernst. Dass das im Perestroika-Jahr 1989 wichtig ist, hat zunächst einmal mit der schonungslosen Analyse des eigenen seelischen Zustandes und dessen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu tun: „Wir“ tragen kein „Kreuz“, sondern „Kreuzlosigkeit“ und „beugen uns“ gerade darunter „erbärmlich“ – eine Anspielung darauf, dass im Jahr 1989 die meisten Kirchen noch zweckentfremdet und der Kreuzessymbolik beraubt waren und dass nur wenige das kleine Kreuz am Halsband als – in der russischen Tradition wichtiges – Zeichen der Getauften trugen. Diese Abwesenheit von (sichtbarem) Glauben ist einer der Gründe, warum der Sowjetmensch gebeugt geht, d. h. in Angst lebt, seine Überzeugungen versteckt, sich vor Vorgesetzten und Machthabenden erniedrigt. Daher fleht das lyrische Ich: Damit wir nicht den Glauben an alles verlieren, Geb’ Gott halt wenigstens ein bisschen Gott!
Die Eindringlichkeit der Bitte wird dadurch unterstrichen, dass mit „Geb“ das einzige Mal im Gedicht eine Zeile mit einem Großbuchstaben anfängt, obwohl ihr
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kein Punkt vorausgeht. Auch ist es die einzige Bitte (außer der Überschrift), die mit einem Ausrufezeichen abschließt. Das Entscheidende ist also tatsächlich nicht, einzelne Gaben zu empfangen, sondern „halt wenigstens ein bisschen Gott“. Andererseits ist die Hinwendung zu Gott untrennbar verbunden mit der Bitte um das, was wohl wirklich nur Gott geben kann: um Erleuchtung der Blinden, Aufrichtung der Gebeugten. Besonders deutlich ist, dass nur Gott geben kann, dass der Mensch sich nicht in Einseitigkeiten verliert. Das lyrische Ich bittet nicht um ein Maximum an Gaben, sondern um die Gabe, das Unvereinbare vereinen zu können: um Distanz von der Macht ohne unehrliches Heldentum, Reichtum ohne Diebstahl, Vertrautheit mit vielen Ländern, „ohne dabei das eigene zu verlieren“. Schließlich bittet es um einen Anteil an „allem, allem, allem und sofort allen, damit nicht kränkend“, aber nur um das „wofür man sich hinterher nicht schämt“. Berühmt geworden ist das Gedicht jedoch v. a. durch die Bitte darum, „nicht Opfer zu sein, nicht Henker“. Diese „goldene Mitte“ ist unter den Bedingungen eines Lebens, in dem nichts Bestand hat, so schwer zu erreichen, dass tatsächlich nur „Gott“ diese Bitten erfüllen kann. „Gott“ steht also hier als Garant für ein Leben als ehrlicher Mensch ohne unnötige Leiden, als aufrichtiger Mensch und umgeben von Wohlwollen. Deshalb soll hier die Frage gestellt werden: Auf welche Weise suchen seit der Perestroika Menschen Wege, um zu erfahren, dass „Gott gibt“, was der Mensch sich nicht geben kann? Es geht darum, einige Suchbewegungen nachzuzeichnen: An welche menschlichen Erfahrungen knüpfen sie an? Wie bewegen sie sich auf ihrer Suche nach „Gott“ im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen Emotionalität und Rationalität, zwischen Autorität und Selbstverantwortung, zwischen Sozialität und Innerlichkeit, zwischen dem nationalen und dem universalen Element? Um einschätzen zu können, inwiefern wir die Menschen, deren inneres Leben wir hier zu verstehen suchen, als „spirituell“ bezeichnen können, ziehen wir zwei Definitionen von „Spiritualität“ heran, die sich gegenseitig ergänzen. Diese beiden Definitionen haben gemeinsam, dass sie nicht von einem konfessionell gebundenen Verständnis von Spiritualität ausgehen. Vielmehr gebrauchen sie ein „weites und inklusives Verständnis, das Spiritualität mit existentieller Sinnsuche, Suche nach sich selbst und Ganzheitlichkeit gleichsetzt“ (Schaupp 2017, 289). Nach Christian Rutishausers (2017) Definition ist Spiritualität Orientierung auf einen „Geist, der nicht im Alltäglichen und Oberflächlichen steckenbleibt“, „der verbindet und der Beziehungen tief und echt macht“. Die zweite Definition stammt von Michael Crosby. Er bestimmt die Bedeutung von Spiritualität im Rahmen seiner Untersuchungen zum Thema „Macht“ (power), die stark von der Krise um sexuellen Missbrauch und mehr noch um dessen Vertu-
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schung innerhalb der katholischen Kirche geprägt ist. Seiner Analyse stellt er ein „Machtdiagramm“ voran (Crosby 2008: 8):
Oben ist in diesem Diagramm dargestellt, wie „Macht“ sich als Wunsch nach „Kontrolle“ (control) ausdrücken kann, was dann zu „Furcht“ (fear) und „Einschüchterung“ (intimidation) und vielen Formen von Gewalt führt, aus denen Menschen üblicherweise allenfalls einen Ausweg finden, indem sie sich in „Gleichgültigkeit“ (indifference) zurückziehen. Umgekehrt – im Schema unten dargestellt – kann Macht sich auch ausdrücken als Wunsch, „Sorge“ zu tragen für andere (care) – wobei Crosby sich sehr wohl bewusst ist, dass oft scheinbares Sorgetragen verborgenen Machtmissbrauch in sich enthält (Crosby 2008: 61– 62). Authentische „Sorge“ hingegen kann durch „Vertrauen“ (trust) und „Freiheit“ (freedom) zu heilsamen Beziehungsdynamiken führen. Im Zusammenhang dieser Interpretation versteht Crosby Spiritualität als „täglichen Prozess, [uns] wegzubewegen von der Dynamik im oberen Teil des Machtdiagramms hin zu unserer schrittweisen Transformation hinein in die Dynamik der Jüngerschaft, die ein Leben ausmacht, das bestimmt ist durch die ‚Frucht des Geistes’, wie zu finden im unteren Teil des Diagramms“ (Crosby 2008: 40).
Diese Definition ist nun durch das Wort „Jüngerschaft“ ausdrücklich christlich grundiert. Mir scheint jedoch, dass sie in mancher Hinsicht auch anschlussfähig ist für Menschen, die ihren spirituellen Weg außerhalb des Christentums suchen.
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Beide Definitionen zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie sich von spirituellem Egozentrismus fernhalten und doch ein positives Verhältnis des Menschen zu sich selbst beinhalten. Vor dem Hintergrund des Gedichts von Jewtuschenko und den Definitionen von Rutishauser und Crosby bestimmen wir Spiritualität in unserem Zusammenhang ebenfalls ausdrücklich christlich grundiert, aber hoffentlich gleichfalls anschlussfähig für Menschen anderer Religionen und spiritueller Traditionen, mithilfe eines Wortes aus dem Lukasevangelium. Dort ist die Rede von der „Bekehrung“ des Simon Petrus im Sinne seiner gegen einen inneren Widerstand errungenen und als Gnade erlebten Neuorientierung nach einer inneren Krise (Wahl 2006: 166). Diese „Bekehrung“ geschieht, nachdem ihn Jesus aufgefordert hatte, mit dem Boot „auf das Tiefe“ hinauszufahren. Dies tut Simon, so dass ihm und seinen Gefährten völlig wider Erwarten ein reicher Fischfang zuteilwird. Daraufhin fällt Simon vor Jesus auf die Knie mit den Worten: „Geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mann, Herr!“ (Lk 5,4– 8). Für uns von zentraler Bedeutung ist hier der erste Teil. Zur Spiritualität gehört es dann, von (hoffentlich begründetem) Vertrauen geleitet in die Tiefe zu gehen. Somit können wir Spiritualität in unserem postsowjetischen Zusammenhang vor dem Hintergrund aller genannten Quellen wie folgt bestimmen: Sie ist das (1) Hinausgehen des Menschen über die Schwierigkeiten, die Oberflächlichkeit und Widersprüchlichkeit des Gewöhnlichen hinaus (2) auf ein „Mehr“, in dem die Wandlung von Kontrolle zu Vertrauen zu größerer Tiefe führt, woraufhin (3) wiederum der Mensch in den Alltag mit seinen Schwierigkeiten und Widersprüchen zurückkehren und dort tiefere und echtere Beziehungen gestalten kann. Unsere Methode zum Verstehen geistlicher Suchbewegungen im postsowjetischen Raum orientiert sich an einigen Beispielen aufgrund von Gesprächen und Begegnungen. Um das Material übersichtlich zu halten, beschränken wir uns dabei auf das Gebiet Tomsk in der westsibirischen Taiga. Mit einer Fläche von 317 000 km2 und ca. 1,1 Mio. Einwohnern kann es durchaus als Russland im Kleinen gelten, denn wie im ganzen Land leben etwas über 70 % der Bevölkerung in der Stadt (viele von ihnen sind gut ausgebildet), die anderen auf dem Land, und zwar zum Teil von der Infrastruktur abgeschnitten. Deutlich über 80 % sehen sich selbst als ethnische Russen, die nächstgrößten Gruppen sind, wie in ganz Russland, Tataren und Ukrainer. Dem entspricht, dass etwa 80 % der Bevölkerung sich als orthodox positionieren, etwa 15 % als Muslime, kleine Gruppen von 1 % oder weniger als Katholiken, Lutheraner, Juden (Bulatowa et al. 2012: 229). Bei unserer Untersuchung gehen wir auf drei Gruppen nicht ein, mit denen zu beschäftigen sich lohnen, aber den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde: (1) die Gruppe der bewusst säkular eingestellten Menschen, für die ein Transzendieren des Alltags in einer Hinwendung zu Wissenschaft oder Kunst bestehen
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könnte; (2) die Gruppe derjenigen, für die Politik und Ideologie einen Religionsersatz bietet; (3) schließlich die Gruppe der Zyniker, für die es kein Problem ist, zu stehlen, um reich zu werden, oder „Henker“ zu sein, um nicht „Opfer“ zu werden. Auch die Frage, ob manche aus den beiden letzten Gruppen aus instrumentellen Gründen den Eindruck vermitteln wollen, religiös und spirituell zu sein, kann hier außen vor bleiben. Für viele Menschen besteht die Antwort auf die Ungewissheiten des Lebens darin, sich der Traditionen ihrer Vorfahren zu vergewissern (Bulatowa et al. 2012: 232). Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Menschen als orthodox, katholisch oder lutherisch definieren, sogar ohne getauft zu sein. Ein eindrucksvolles Beispiel für bedingungslose Identifikation von Tradition, Nation und Religion ist das orthodoxe Fest der Taufe des Herrn (19. Januar). Für viele Menschen gehört es mittlerweile fest dazu, ins eiskalte Wasser eines Sees oder Flusses zu steigen, das zuvor gesegnet wird. 2018 waren es allein in der Stadt Tomsk nach Angaben der Polizei etwa 4300 Menschen, d. h. etwa 0,6 % der Bevölkerung – bei Frost von etwa -35 °C (Tomsk bez formata 2018). An diesem Tag können Menschen bewusst in eine jahrhundertealte, teils vorchristlich-slawische, teils christliche Tradition „eintauchen“ und dieses Erlebnis gerade auch in seiner Härte als Initiation am Anfang eines neuen Jahres empfinden (Stroganowa 2016). Hier ist natürlich auch der Aspekt der Reinigung unübersehbar, weshalb viele Menschen meinen, wer am 19. Januar ins Wasser eintauche, dessen Leben ändere sich im neuen Jahr zum Besseren. In ähnlicher Weise ist auf dem Dorf der samstägliche Besuch der Banja, des Dampfbads, quasireligiös aufgeladen. Auch hier empfinden Menschen einen Zusammenhang zwischen körperlicher Reinigung, Loslassen (durch die Entspannung) und moralischer Reinigung. Auch bei anderen Gebräuchen, wie der Segnung der Osterspeisen, oder der polnischen Tradition, das Weihnachtsbrot zu teilen und sich dabei gegenseitig Gutes für das neue Jahr zu wünschen, stehen an erster Stelle Tradition und Zugehörigkeit, die inhaltliche „Aufladung“ ist demgegenüber nachgeordnet. Kann man Menschen, für welche diese Traditionen eine wichtige Rolle spielen, als spirituell bezeichnen? Zunächst einmal lässt sich festhalten: Sie sehen für sich keinen Ausweg aus den Dilemmata, welche Jewtuschenko anspricht, sie fühlen sich z. B. gezwungen, in der einen oder anderen Form zu stehlen, zu betrügen oder Steuern zu hinterziehen, um sich und ihre Familien vor Armut zu bewahren. Ein sich regelmäßig wiederholendes Beispiel dafür ist, dass Lehrerinnen das Gefühl haben, für ihre berufliche Zukunft sei es unverzichtbar, an Wahlfälschungen teilzunehmen (Jurasowa 2018). Viele Menschen kommen auch aus dem Teufelskreis von Alkohol, Gewalt und Perspektivlosigkeit nicht heraus. Alle diese Menschen empfinden religiöse Traditionen als Möglichkeit, sich über die Komplexität des Lebens für die Dauer eines Festes zu erheben. Diese Men-
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schen versuchen also, über den Alltag hinauszugehen in ein „Mehr“, in dem sie für einen kurzen Moment die Kontrolle über ihr Leben abgeben und sich der Tradition anvertrauen. Dies wirkt sich zwar scheinbar auf ihre konkret gelebten Beziehungen nicht aus; hier können wir uns allerdings täuschen, denn vielleicht würden Menschen noch viel schlimmer miteinander umgehen, wenn sie nicht wenigstens an wichtigen Festen einen Zugang zu dem fänden, was ihren Alltag transzendiert. Insofern gibt es Ansätze von Spiritualität, aber nur punktuell und, soweit sich das von außen beurteilen lässt, ohne den für uns wichtigen Aspekt, die Tiefenerfahrung in den Alltag mitzunehmen und ihn von daher umzugestalten. Eine verbreitete Meinung unter Geistlichen ist nun, dass diese Volksfrömmigkeit durch immer regelmäßigere Einbindung in ein Leben nach den Geboten und in den Empfang der Sakramente vertieft werden sollte (Bulatowa et al. 2012, S. 231– 232). Hier wird die Rolle des Konventionellen und Sozialen eher noch verstärkt (Karpizki 2014). Für die Bedeutung dieser Tendenz spricht, dass allein die Suchanfrage „Frag den Priester“ Dutzende von Seiten angibt, die eine Plattform anbieten, auf der Menschen einem (orthodoxen) Priester genaueste Fragen zu ihrer Lebensgestaltung stellen können. Jede dieser Plattformen hat wiederum Hunderte von Fragen und Antworten. Auf einer Website sind es z. B. 16 441, mit der Bitte um genaueste Anweisungen in Fragen des Gebets und der Lebensführung, auf die Priester teilweise detailliert eingehen. Auf dieser Website ist allerdings seit Ende 2014 die Fragefunktion nicht mehr aktiv, auf zahlreichen anderen aber sehr wohl (Sprosi u batjuschki 2019). Ein konkretes Beispiel mag zeigen, wie dort gefragt und geantwortet wird: Eine Frau fragt, ob sie die kirchliche Trauung mit ihrem Mann aufheben kann, auch wenn sie mit ihm zusammenlebt. Als Grund gibt sie an, dass sie ihrem Mann nicht vertraut. Das wirft natürlich die grundsätzliche Frage auf, ob es sinnvoll ist, solche persönlichen Fragen im Internet zu stellen. Der Priester könnte also antworten, dass es besser ist, einen Gesprächspartner zu suchen. Insofern ist bereits die Tatsache, dass Ressourcen auf solche Websites anstatt z. B. auf eine Telefonseelsorge verwendet werden, ein Hinweis darauf, dass viele Orthodoxe grundsätzlich von der Möglichkeit ausgehen, auf die Probleme des menschlichen Lebens allgemeingültige Antworten zu finden. Die Antwort des Priesters in diesem konkreten Fall beinhaltet mehrere Aspekte: Zunächst sagt er ihr direkt: „Das ist eine unglaubliche Bitte!“ Danach stellt er (kirchenrechtlich zutreffend) fest, dass es keine Aufhebung der kirchlichen Trauung gibt, sondern nur eine zivile und anschließende kanonische Scheidung. Sodann gibt er einige Hinweise, wie sie in der Paarberatung üblich sind: er schlägt vor, miteinander zu reden, klare Bedingungen für das Zusammenleben zu vereinbaren, notfalls zeitweilig getrennt zu leben. Und schließlich sagt er der Frau auf den
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Kopf zu, dass sie möglicherweise einfach eifersüchtig ist und zur Beichte oder zur Therapie gehen sollte (Zakon Bozhij 2014, 3, 27. Oktober 2014). Die Widersprüchlichkeit des Lebens besteht hier darin, dass die Frau offensichtlich den Wert der Ehe und der Treue achtet. Aber gerade deshalb fühlt sie sich den Anforderungen des Ehelebens nicht gewachsen und deshalb der kirchlichen Trauung nicht würdig. Der Ausweg, der ihr durch das Format als solches angeboten wird und der offensichtlich für manche Menschen attraktiv ist, besteht in einem unbedingten Gehorsam in Fragen der Ethik. Gleiches gilt in anderen Texten für die Regeln des Gebets- und des sakramentalen Lebens. Das entlastet den Einzelnen von Verantwortung für seinen Umgang mit der Realität. Auf unsere Definition von Spiritualität zurückgreifend, können wir hier von einem Transzendieren des eigenen Bewusstseins hin auf ein „Mehr“ sprechen, und zwar in objektiver Form, durch Hinwendung zu Wissen und Erfahrung, die dem Menschen im Alltag nicht zugänglich sind. Hier geht es aber nicht darum, Kontrolle in Vertrauen zu wandeln, sondern Selbstkontrolle durch Fremdkontrolle zu ersetzen. Entsprechend führt diese Erfahrung beim Weg zurück in den Alltag zu unterschiedlichen Resultaten: Zunächst einmal führt die harsche Einleitung des Priesters dazu, dass sich das Gefühl verstärkt, unreif zu sein und sich unterordnen zu müssen.Wir bewegen uns also im oberen Teil des Schemas von Crosby. Die Vorschläge selbst sind teilweise in sich nicht schlecht, zielen aber nicht auf die Tiefe der Person, sondern auf rein äußeres Verhalten und bleiben daher auf Dauer fruchtlos. Allerdings kann diese Antwort des Priesters zu einer Stärkung der Eigenverantwortung führen, dies allerdings nur, wenn die Frau in der Lage ist, selbständig aus den vorgeschlagenen Schritten den richtigen auszuwählen oder wenn sie aufgrund der Antwort zu einem Beichtvater oder Therapeuten geht, der sich im unteren Bereich des Schemas von Crosby bewegt und seine Vollmacht als Dienst an ihrer Freiheit versteht. In der Tat gibt es sowohl bei Orthodoxen als auch bei Katholiken und Lutheranern Tendenzen zur persönlichen und geistlichen Vertiefung des Glaubens (Schulbajewa 2013; Schulbajewa 2014). Diese ermöglichen es dann auch, spirituelle Wege gemeinsam zu gehen, wovon immer wieder ökumenische Exerzitien oder Wallfahrten mit Katholiken und Orthodoxen zeugen. Hier kann tatsächlich ein Transzendieren des Alltags und der in sich widersprüchlichen Realität durch persönliche Gebetserfahrungen stattfinden. Menschen können sich vertrauend einlassen auf eine Tiefe, die sich der Kontrolle entzieht. Dadurch können dann, wenn es glückt, Beziehungen tief und echt werden. Es gibt auch nicht wenige Menschen, die ihre spirituelle Suchbewegung in eine Konfession führt, zu der sie und ihre Familien traditionell keinen Kontakt hatten. Für manche ist das der Katholizismus (in den neunziger Jahren etwa 30
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Erwachsene im Jahr, seitdem regelmäßig 3 – 5). Aus Gesprächen mit diesen Menschen lässt sich sagen, dass sie stärker als die „traditionellen“ Katholikinnen und Katholiken auf der Suche nach einer persönlichen Glaubenserfahrung sind. Für manche ist diese wichtig, um einen Ausweg aus einer Sucht zu finden. Für diese Menschen ist es hilfreich, dass die katholische Liturgie in der Muttersprache gehalten wird und deshalb einen Weg zur spirituellen Vertiefung durch Verständnis bietet. Bei Menschen aus dieser Gruppe und der zuvor genannten können wir davon sprechen, dass Spiritualität für sie die Suche nach persönlicher Gottesbegegnung bedeutet, aus der sie sich Kraft und Weisheit versprechen, um dann selbstverantwortet ihren Weg aus den von Jewtuschenko beschriebenen Dilemmata zu finden. Eine wichtige Rolle spielt hier aber auch die Möglichkeit, nach einem Scheitern auf diesem Weg neu anzufangen – bei der ersten Gruppe: immer wieder, bei der zweiten Gruppe: einmal, im Moment der Bekehrung, und dann immer wieder. Auch dies kann Schritt für Schritt Beziehungen tiefer und echter machen. Mehrere hundert Menschen, im Schnitt mittleren Alters, schließen sich jedes Jahr in Tomsk Pfingstkirchen oder evangelikalen Kirchen an (Bulatowa et al. 2012: 231). Für sie spielt die Bekehrung eine wichtige Rolle. Diese geschieht nach einer Krise, welche das Resultat des Scheiterns an den Widersprüchen des Lebens ist, zu Arbeitslosigkeit oder Ehescheidung führt und sich oft in Form einer Suchtkrankheit manifestiert. Die Frömmigkeit, zu der diese Menschen nach ihrer Bekehrung finden, ist nicht traditionell, aber streng normiert und gemeinschaftsorientiert. Persönliche Verantwortung steht nicht im Mittelpunkt. Dafür ist Pflichterfüllung mit einem Akzent auf Orthopraxie (Familienleben, Hilfe für Obdachlose und Suchtkranke) sehr wichtig. Diese Menschen sehen Gott als Lebensgaranten, indem sie – im Rückblick – ihr Bekehrungserlebnis als Befreiung aus dem Netz empfinden, in dem sie sich in den Komplexitäten des Lebens seit den 1990er Jahren verheddert hatten; nach vorne orientiert sehen sie Gehorsam gegenüber dem Wort als sichere Orientierung in schwierigen Situationen an. Hier lassen sich Menschen zweifellos auf das ein, was die Widersprüchlichkeiten des Alltagslebens übersteigt, nämlich auf den allmächtigen Gott, der in Jesus Christus Befreiung und Ausweg aus diesen Widersprüchen anbietet. Entsprechend tief empfinden viele ihre Bekehrung. Diese führt allerdings nicht unbedingt zu einer Wandlung von Kontrolle in Vertrauen, sondern eher von der (biographisch gescheiterten) Selbstkontrolle zur Fremdkontrolle – nicht durch den Priester, wie bei manchen Orthodoxen, sondern durch das Wort der Bibel. Der Akzent auf Orthopraxie führt oft dazu, dass Beziehungen ernsthafter gelebt werden. Allerdings wird die Einmaligkeit und Unumkehrbarkeit der Bekehrung manchmal so sehr betont, dass kein Weg bleibt, um damit umzugehen, dass noch nicht alle Widersprüche aufgelöst sind und der Mensch erneut an ihnen scheitern kann. Auch
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führt die Heteronomie gegenüber dem Wort dazu, dass Menschen nur allgemeine und keine individuellen Antworten auf ihre Lebensfragen finden. Deshalb ist in dieser beeindruckend großen Gruppe (gemessen an der Zahl derjenigen, die ernsthaft ein geistliches Leben führen wollen, sind Evangelikale und Pfingstler sicher die größte Konfession in Tomsk) auch die Quote derer besonders hoch, die ihren geistlichen Weg nach einiger Zeit aufgeben und dann oft in ihre Süchte zurückfallen. Eine Rolle spielen im universitären Milieu auch Konversionen zum Buddhismus und zur waischnawischen Tradition des Hinduismus (Bulatowa et al. 2012: 231). Diese Bewegungen bilden zwar keine großen Gemeinschaften, sind aber aktiv und spielen eine wichtige Rolle dabei, Religionsgemeinschaften zu vernetzen und zu gemeinsamer Sorge um das Wohl der Gesellschaft zu ermuntern. Sie sind universalistisch orientiert und speisen sich aus Traditionen, die nicht die Traditionen der Familien ihrer Mitglieder sind, sind jedoch auch gegenüber christlichen Traditionen aufgeschlossen. Darauf, dass sie in den Jahren 2011– 2012 von Staatsgewalt und Teilen der orthodoxen Kirche bedroht wurden (Versuch, die Bhagavadgita zu verbieten, Abriss von Häusern und Überfälle auf Häuser durch einen Mob), reagieren sie mit Pazifismus und bewusster Aufgeschlossenheit zum Dialog – zum Teil aus Selbstschutz, in der Hoffnung, von Vertreterinnen und Vertretern anderer Konfessionen beschützt zu werden, die sich tatsächlich erfüllt hat; so wurde z. B. das Verbot der Bhagavadgita in einem Gerichtsprozess abgewendet, in dem auch Vertreter anderer Religionen sich dagegen einsetzten (Karpizki 2014; Schulbajewa 2014). Die Spiritualität dieser Menschen ist, dogmatisch gesehen, synkretistisch, z. B. erkennen sie Franz von Assisi als geistlichen Lehrer an. Das ist folgerichtig, denn die Messlatte des Geistlichen ist für sie die Orthopraxie. Ihr Umgang mit den Widersprüchlichkeiten des Lebens ist nicht punktuell, sondern prozessorientiert. Sie hoffen, durch Meditation geistliche Tiefe und den nötigen Abstand von den Problemen des Lebens zu gewinnen, versuchen, Kontrolle in Vertrauen gegenüber dem eigenen Inneren und klassischen Weisheiten zu wandeln und dadurch auch in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen die Dilemmata des postsowjetischen Alltags zu überwinden. Somit bietet – wenigstens in Ansätzen vorhandene – Spiritualität verschiedenen Menschen auf unterschiedliche Weise einen Weg aus den von Jewgenij Jewtuschenko benannten Dilemmata der postsowjetischen Realität und zu einem Leben mit einem Mehr an Vertrauen und zu tieferen und echteren Beziehungen an. Zunächst einmal nehmen viele Menschen die Widersprüchlichkeit des Alltags hin, versuchen sie aber durch das Fest und das Eintauchen in die Tradition zu transzendieren. Manche dieser Menschen gehen einen Schritt weiter, indem sie aus der Transzendenz konkrete Anweisungen für die Bewältigung des Alltags mitbringen. Andere suchen in ihr durch persönliche Gottesbegegnung Weisheit
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für eine selbstverantwortete Bewältigung der Realität. Wiederum gibt es den Zugang der Bekehrung, bei dem ein Mensch die Begegnung mit der Transzendenz als Auflösung der Widersprüche erlebt, in die er sich bisher verwickelt hatte; das kann dann für ihn ein Aufruf zum Gehorsam gegenüber konkreten Anweisungen sein. Schließlich gibt es Menschen, die Transzendieren als Abstand zu den Dilemmata des Alltags und dies wiederum als Quelle von Weisheit erleben können. Allen diesen Menschen ist gemeinsam, dass nach ihrer Überzeugung die Antwort auf die Widersprüche des Lebens nur „Gott geben“ kann.
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VI. Philosophische Perspektiven auf Spiritual Care
Stephanie Bohlen
Erkenne Dich selbst!? Die Grenzsituation der Begegnung mit dem anderen Menschen Know thyself!? The liminal situation of the encounter with the other person Zusammenfassung: Spiritual Care hat sich als Aufgabe, der sich alle Gesundheitsberufe stellen sollten, etabliert. Dennoch ist der Begriff der Spiritualität nicht wirklich geklärt. Gängig ist die Anwendung des Begriffs auf die Sehnsucht des Menschen nach dem Erleben eigener Identität. Die Funktionalisierung von Spiritual Care auf das Erleben von Sinn, das mit dem Identitätsgefühl verbunden ist, wird kritisiert. Das, was dem Leben Sinn geben könnte, ist nicht nur empirisch unzugänglich und daher wissenschaftlich nicht zu beweisen. Es muss auch ausgehalten werden, dass die Bewegung des Transzendierens ins Leere gehen könnte. Unbeschadet dessen erweisen sich der Rückgang in den eigenen Ursprung (Jaspers) und die Grenzsituation der Begegnung mit dem anderen Menschen (Levinas) dennoch als sinnkonstitutiv. Daraus ergeben sich Anforderungen an ein Medizinstudium, das zu Spiritual Care befähigen will. Schlüsselwörter: Sinn des Lebens, Kohärenz, Grenzsituationen, Verantwortung für den Anderen, hörende Medizin Abstract: Spiritual care has established itself as a domain that all health care professions should engage in. Nevertheless, the concept of spirituality is not quite clear. The term often refers to a human longing for the experience of identity. However, spiritual care as a means of finding meaning in one’s life, which is also connected to one’s own identity, must be viewed critically. From a scientific point of view, it is not possible to study aspects of the meaning of life; these remain empirically inaccessible. The possibility that our spiritual longing may never be fulfilled must also be considered. Irrespective of this, the retreat into one’s own origin (Jaspers) and the liminal situation of encounter with other people (Levinas) themselves constitute meaning. Consequently, the requirements for a medical degree should include qualifying students for spiritual care. Keywords: Sense of life, coherence, liminal situations, responsibility for the other, listening medicine
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1 Der Spiritual Turn im Gesundheitswesen Erkenne Dich selbst! – In Form eines Imperativs kommt die Sehnsucht des Menschen zur Sprache, zu wissen, wer man ist. Der Weg, den man gehen soll, um zu solchem Wissen zu kommen, ist der Weg der Reflexion: Kehre ein bei Dir selbst! Finde Deine Mitte! Anstelle des Wissens setzt man zwar in unserer Zeit in der Regel eher auf das Fühlen. Doch die Sehnsucht bleibt: Geh in Dich! Spüre Dir nach und erlebe Dich selbst! „Spiritualität“ – das ist der Begriff für jene menschliche Sehnsucht, die auf Selbsterfahrung, auf erlebte Identität ausgreift. Und der „Spiritual Turn“ ist auch ein Zeichen dafür, dass die Sehnsucht der Erfahrung, mit sich selbst identisch zu sein, in unserer Zeit zunimmt. Dass auch im Kontext der Medizin die menschlichen Sehnsüchte von Bedeutung sind, ist einer der Gründe dafür, dass sich Spiritual Care als eine Querschnittsaufgabe der Gesundheitsberufe etablieren konnte (Frick 2014). Dadurch nimmt auch das Interesse an der theoretischen Reflexion der Spiritualität zu. Dabei wird der wissenschaftliche Diskurs zum Thema Spiritualität durch seine interdisziplinäre Ausrichtung der Kooperation von Ärzten, Pflegekräften, Seelsorgern und anderen Fachkräften in Bezug auf Spiritual Care gerecht. Die Philosophie kann den Diskurs fördern. Denn sie hat sich unter anderem die Arbeit an der Klärung von Grundbegriffen zur Aufgabe gemacht. Es braucht Zeit, bis Begriffe, die Karriere machen, geklärt sind. Das gilt auch für den Begriff der „Spiritualität“. Was kann man unter der Spiritualität eines Menschen verstehen? Worum geht es in jener Sorge, die man Spiritual Care nennt? Und welche Kompetenzen muss ein Mensch haben, der professionell in der spirituellen Begleitung tätig werden will? Die Beantwortung der genannten Fragen erfolgt in fünf Schritten. Ausgehend von Beobachtungen, die ich an der Hochschule mache, möchte ich auf die Bedeutung von Spiritualität im Gesundheitswesen zu sprechen kommen. Ich werde dann den Begriff der Spiritualität klären, und zwar in Abgrenzung von den Begriffen der Religion und Religiosität. Im dritten Schritt wird es darum gehen, das Spiritualitätsverständnis, das die Forderung nach Spiritual Care im Gesundheitswesen begründet, kritisch zu reflektieren. Dass dort auf das Konzept der Salutogenese zurückgegriffen wird, um die Wirkungen von Spiritual Care zu erklären, verbindet sich nicht selten mit der These, es komme darauf an, der Sehnsucht, sich selbst zu erleben, dadurch gerecht zu werden, dass man die Identitätsfrage beantwortet. Im Rückgriff auf Karl Jaspers und Emmanuel Levinas möchte ich verdeutlichen, dass es nicht darum geht, die Identitätsfrage zu beantworten, sondern darum, die Sinnfrage offen zu halten. Und ich möchte schließen mit einem Hinweis darauf, was sich aus dem Gesagten für die Ausbildung in Spiritual Care ergeben könnte.
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2 Spiritualität und Spiritual Care im Gesundheitswesen – auf dem Weg zu einer nicht reduktionistischen Medizin Der ganzheitliche Blick auf den Menschen ist ein konstitutiver Aspekt des professionellen Selbstverständnisses der Pflege (Knoll 2015: 42– 64).Von daher ist zu verstehen, dass die Sorge der Pflegenden nicht nur den körperlichen, sondern auch den seelischen Bedürfnissen gilt. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass ein bedeutender Anteil der Pflegekräfte die Verantwortung für Spiritual Care nicht nur auf Seiten der Seelsorger/-innen verortet. Auch für die Gesundheitsberufe sehen Pflegekräfte Spiritual Care als Aufgabe an, der sie sich prinzipiell auch stellen wollen (von Dach & Osterbrink 2013). Ein Grund dafür, dass sie ihr faktisch aber nur bedingt gerecht werden können, ist der Mangel an Zeit, der die Möglichkeiten der Pflege begrenzt. Wo Pflegekräfte auf die Frage nach ihrem Selbstverständnis den ganzheitlichen Blick der Pflege thematisieren, verbindet sich ihre Antwort nicht selten mit einer impliziten Abgrenzung zu den Ärzten/-innen. Ihnen unterstellen sie einen Blick auf den Menschen, der einseitig auf den Körper fokussiert ist und den Zugang zu den spirituellen Bedürfnissen von Menschen verstellt. Eckhard Frick konstatiert eine „spirituelle Zurückhaltung“ auf Seiten der Ärzte, die ihre Wurzeln im Medizinstudium haben dürfte (Frick 2016). Ein Grund für diese Zurückhaltung könnte auch jenes Menschenbild der Medizin sein, das den Menschen auf den Körper und die körpergebundenen Prozesse reduziert, um diese dann nach dem Modell einer „Maschine mit Bedürfnissen“ (Frick 2009: 9) zu deuten. Aber der Mensch ist nicht nur sein Körper. Die Medizin ist im Begriff, ihr reduktionistisches Menschenbild zu überwinden. Die Einführung von Spiritual Care in das Gesundheitswesen ist auch eine Kritik an einer Medizin, die nur auf den Körper, aber nicht auf den ganzen Menschen sieht (Heller & Heller 2014: 24). Sofern gewollt ist, dass künftige Ärzte und Ärztinnen sich der Aufgabe Spiritual Care stellen, muss das Medizinstudium zu einer ganzheitlichen Sicht auf den Menschen anregen. Spiritual Care ist eine Aufgabe, die alle im Gesundheitswesen Tätigen angeht. Eine Delegation an die Seelsorger und Seelsorgerinnen in den Kliniken ist nicht möglich. Denn Spiritual Care ist auch nicht einfach nur ein anderer Begriff für Klinikseelsorge (Frick 2012: 68; Heller & Heller 2014: 25 – 34; Peng-Keller 2017). Für die Arbeit der Seelsorger und Seelsorgerinnen, die im Gesundheitswesen tätig sind, ist die Bindung an eine bestimmte Glaubensgemeinschaft, an deren Glauben und Glaubenspraktiken konstitutiv. Die Entkirchlichung, die in unserer Gesell-
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schaft im Gange ist, hat zur Folge, dass die Anzahl der Menschen, die nach einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin fragen, abnimmt. Denn diese stehen für eine Glaubensgemeinschaft, von der man glaubt, sie könne mit anderen Glaubensoder Lebensstandpunkten nicht offen umgehen. Von der modernen Krankenseelsorge her gesehen, mag es sich dabei zwar um einen Irrglauben handeln. Aber auch als solcher wirkt er sich aus.
3 Der Begriff der Spiritualität Wo es um die Bindung an eine bestimmte Glaubensgemeinschaft mit ihren theoretischen Annahmen, Praktiken und Institutionen geht, spricht man von Religion. Klinikseelsorge geschieht in der Regel auf der Basis einer Religion. Von der Religion eines Menschen muss man dessen Religiosität unterscheiden. Der Begriff der Religiosität verweist auf das, was sich in der Religion äußert: die innere Bindung des Menschen an ein göttliches Wesen oder auch die Fähigkeit zu einer solchen Bindung. Der Mensch ist religiös und kann daher einer Religion angehören, muss es aber nicht. Er kann an Gott glauben, ohne sich einer Glaubensgemeinschaft zuzuordnen. Strittig ist die Unterscheidung von Religiosität und Spiritualität (Körtner 2009; Utsch & Klein 2011). Ein Mensch ist religiös, sofern er die Fähigkeit hat, sich an (einen) Gott zu binden. Spiritualität wird dann zu einem anderen Wort für jene Religiosität, die sich nicht in der Bindung an eine bestimmte Glaubensgemeinschaft konkretisieren muss. Unstrittig ist, dass die Unterscheidung von Transzendenz und Transzendieren bedeutsam ist (Ruschmann 2013). „Transzendieren“ benennt einen menschlichen Vollzug. Sprechen sich die einen aus für eine Begrenzung der Anwendung des Begriffs der Spiritualität auf jenen Vollzug des Transzendierens, die den Menschen über die Grenzen der Welt hinausführt auf Außerweltliches zu, auf alles das, was man „Göttliches“ nennen kann (Schaupp 2014: 19; Heller & Heller 2014: 59 – 61), verwenden andere den Begriff auch für eine Bewegung des menschlichen Ich auf solches zu, was in der Welt erfahrbar ist. Denn auch Innerweltliches kann für einen Menschen das sein, was ihm Halt gibt oder auch eine Perspektive, die für sein Leben sinnkonstitutiv ist. Ein spiritueller Mensch ist dann einer, der unterwegs ist zu sich selbst und dabei in einer Bewegung der Selbsttranszendenz ausgreift nach dem, was letztlich Sinn geben könnte, wobei es nicht von Bedeutung ist, ob der Ausgriff auf Außerweltliches oder Innerweltliches zielt (Bucher 2007: 56; Ruschmann 2013: 258). Man wird an der Stelle kritisch fragen müssen, ob die Unterscheidung eines Transzendierens, das auf Außerweltliches zielt, von einer Bewegung, die auf Innerweltliches ausgreift, zur Klärung des Spiritualitätsbegriffs erforderlich ist.
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Denn es ist die Unterscheidung des Außerweltlichen von dem, was in der Welt ist, die dann die Unterscheidung jener Vollzüge ermöglicht, die man auch als „horizontale und vertikale Transzendenz“ benennen kann (Ruschmann 2013). Sie wird nur dort verständlich, wo auch geklärt ist, was denn „Welt“ bedeutet. Sofern „Welt“ das Ganze des empirisch Zugänglichen ist, verbindet sich doch der Weg des Menschen zu sich selbst mit der Erfahrung, nicht auf einen Teil der Welt reduziert werden zu können – eine Erkenntnis, die Kant ausgearbeitet hat. Darauf werden wir an anderer Stelle noch zu sprechen kommen. Von Kant her stellt sich auf alle Fälle die Frage, ob das, was außerhalb des empirisch Zugänglichen ist, nicht auch in einer Bewegung, die horizontal genannt werden kann, angezielt wird oder – anders gesagt: ob das Außerweltliche nicht auch in der Welt erlebbar ist.
4 Spiritualität als Health-Faktor Die Frage, ob die Bewegung des Transzendierens, die mit dem Begriff der Spiritualität angedeutet ist, auf Außerweltliches oder Innerweltliches zielt, ist für die Medizin eher eine nachrangige Frage. Vorrang dürfte die Tatsache haben, dass Spiritual Care die Gesundheit des Menschen nachweislich fördert (Knoll 2015: 203 – 232). In philosophischer Perspektive ist dabei interessant, dass die empirischen Forschungen zu den Wirkungen von Spiritualität in einem eigenen Verständnis des Begriffs ihren Grund haben. Die empirischen Daten zur Wirkung von Spiritualität auf die Gesundheit werden nur verständlich dadurch, dass die Verursachung von Gesundheit durch Spiritualität auch eine theoretische Begründung erfährt. Eine Theorie, die in dem Kontext von Bedeutung ist, ist Aaron Antonovskys Konzept der Salutogenese. Der Name Antonovsky steht für einen Paradigmenwechsel in der Medizin. An die Stelle der Frage nach den Faktoren, die als Ursachen für Erkrankungen in Betracht kommen, sollen solche Faktoren in den Blick genommen werden, die Gesundheit befördern. Die Frage lautet nicht: Was macht einen Menschen krank? Gefragt wird nun, was stärkt seine Gesundheit. Dabei geht es aber nicht nur um seelisches Wohlbefinden, nicht nur darum sich wohl zu fühlen. Es geht auch um den Körper, für den es nachweislich förderlich ist, wenn die Seele sich wohlfühlt, wobei noch zu fragen sein wird, was denn unter seelischem Wohlbefinden verstanden werden kann. Im Fokus der Antwort, die Antonovsky auf die Frage, was denn gesund macht, gegeben hat, steht der Begriff des „sense of coherence“ (SOC), in Deutschland spricht man in der Regel vom „Kohärenzgefühl“. Antonovsky versteht unter „Kohärenzgefühl“ ein Gefühl des Vertrauens (Antonovsky 1997). Das Gefühl hat
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unterschiedliche Aspekte: Bei einem hohen Kohärenzgefühl werden Herausforderungen, die einem das Leben stellt, als Aufgaben gedeutet, denen man sich stellen kann, da das, was getan werden muss, aufgrund der Verständlichkeit der Welt und mit den Ressourcen, auf die man zurückgreifen kann, auch zu schaffen ist. Dazu kommt, dass man das Engagement, zu dem das Leben herausfordert, als lohnend betrachtet, also in eine Sinnperspektive einordnet. Der Ansatz Antonovskys wird auch von der modernen Identitätsforschung, unter anderem von Heiner Keupp (1997) rezipiert. Danach ist Identität das Produkt von Identitätsarbeit. Der Mensch erarbeitet sich die Antwort auf die Frage, wer er ist, indem er das, was geschehen ist und geschieht, in den Blick nimmt. Er verschafft sich Identität, indem er die Fragmente des Lebens synthetisiert zu einer Lebensgeschichte, die dann als sinnvoll gedeutet werden kann. Durch die Synthese entsteht ein Gefühl der Stimmigkeit des eigenen Seins, das Keupp mit dem Kohärenzgefühl in eins setzt. Auch Tatjana Schnell nimmt Bezug auf das Konzept der Kohärenz. Religiosität und Spiritualität, die als vertikale Transzendenz gelebt werden, werden von ihr in eins mit einer horizontalen Selbsttranszendenz als Wurzeln des Sinnerlebens verstanden. Schnell konstatiert: „Religiosität und Spiritualität sind in besonderem Maße dazu geeignet, Kohärenz zu stiften“ (Schnell 2011: 268). Spiritualität und auch Religiosität ermöglichen Sinnstiftung. Sie bekommen die Bedeutung von Coping-Strategien, die sich förderlich auf die Gesundheit auswirken (Klein & Lehr 2011). Dieses Verständnis von Spiritualität ist auch in den Fragebogen der WHO zur Lebensqualität (Angermeyer et al. 2000) greifbar. Von einem solchen Spiritualitätsverständnis her kann Spiritual Care sich dann verstehen als Begleitung bei der Stiftung von Kohärenz, die sogar die Krankheit, das Leiden, das nie nur ein körperliches ist (Bozzaro 2016), in eine Sinnperspektive integriert. Der Imperativ „Erkenne Dich selbst!“ kann dann verstanden werden als Appell: Arbeite daran, dass Du Deine Existenz als stimmig erleben kannst! Verschaffe Dir selbst die Kohärenz, das Gefühl von Stimmigkeit, nach dem Du Dich sehnst! Ich halte das für ein Missverständnis. Spirituelle Praktiken sind keine effektiven Methoden, um in sich ein Kohärenzgefühl zu erzeugen. Auch andere kritisieren die Annahme eines Automatismus in Bezug auf die Auswirkungen von Spiritual Care auf Gesundheit (Frick 2002) oder sprechen sich gegen eine Funktionalisierung von Spiritualität aus (Heller & Heller 2014: 40; Kohli Reichenbach 2016: 50). Wo Spiritual Care nur mit dem Ziel effektiver Auswirkungen auf Lebensqualität und Gesundheit angeboten wird, geschieht das in der Regel auf der Grundlage eines mechanistischen Menschenbildes. Dort wird am seelischen Wohlbefinden gearbeitet Hand in Hand mit dem Arzt, der sich die effektive Reparatur des Körpers zur Aufgabe gemacht hat. Solche Arbeit kann nur geschehen
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in jener Grundhaltung des Machens, die der Medizinethiker Giovanni Maio zu Recht als nicht mehr zukunftsfähig kritisiert (Maio 2012: 376 – 390). Dabei richtet sich der Blick nicht nur auf die Ärzte und Ärztinnen oder die Studierenden der Medizin. Es geht auch um die Erkrankten. Es kann nicht von ihnen erwartet werden, dass sie sich jenes Kohärenzgefühl selbst verschaffen, welches mit dem Erleben von Sinn verbunden ist. Kohärenz kann man nicht herstellen, sie muss sich einstellen. Und wo es nicht zum Gefühl der Kohärenz kommt, da sich die Einheit in dem, was geschehen ist, nicht zu erkennen gibt, wo die eigene Geschichte nur als Abfolge von Fragmenten erlebt wird, bleibt die Sinnfrage unbeantwortet. Man muss anerkennen, dass nicht jedes Leben und nicht jede Lebenslage mit dem Erleben und Erkennen von Sinn verbunden ist (Kohli Reichenbach 2016: 51). Es bleibt das Leid an den Brüchen des Lebens, die das Vertrauen auf Sinn unmöglich gemacht haben. Die Forderung, dass jeder Erkrankte seinem Leben Sinn geben soll, reproduziert jene „Tyrannei des gelingenden Lebens“ (Schneider-Flume 2008), die in unserer, von einer Machbarkeitsutopie gesteuerten Gesellschaft allerorts zu greifen ist. Darum ist Birgit und Andreas Heller zuzustimmen: Spiritual Care darf nicht zum „Überforderungsprogramm für alle Beteiligten ausarten“ (Heller & Heller 2014: 38; Nauer 2015: 119). Wenn es aber nicht möglich ist, Spiritual Care als Methode zu begreifen, mit der man durch die Herstellung von Sinn Gesundheit effektiv fördert, stellt sich die Frage, worum es denn dann in der spirituellen Begleitung geht. Ich vertrete die These, dass Spiritual Care keine Methode ist, um ein Sinnerleben zu bewirken, sondern eine Ermutigung, die Sinnfrage zu stellen und offen zu halten, eine These, die auch für Theorie und Praxis der Seelsorge in einer modernen Gesellschaft konstitutiv ist (Nauer 2015: 177). Dies möchte ich nun im Rückgriff auf die philosophischen Ansätze von Karl Jaspers und Emmanuel Levinas erläutern.
5 Der Mensch auf dem Weg zu sich selbst – vom Dasein zur Existenz Nach Jaspers ist der Mensch nicht als in sich verschlossenes Subjekt zu verstehen, das die Grenzen des eigenen Seins zu Zeiten transzendiert. Der Mensch ist in seinem Dasein aufgeschlossen für die Kontexte, in denen er lebt. Jaspers spricht davon, dass der Mensch sich stets in Situationen vorfinde. Unter den Situationen gibt es Grenzsituation. Dabei handelt es sich um solche Situation, „über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können“ (Jaspers 1950/1973: 18). In der Regel sind wir uns dessen nicht bewusst, dass es Bedingungen für unser Dasein gibt, die wir nicht ändern können. Aber unser Sein kann uns hell
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werden. Es mag unbedeutende Krankheiten geben, doch es gibt auch solche, die dem Menschen das In-der-Welt-sein selbst in seiner ganzen Fraglichkeit erhellen und bewusst machen. Die Erkrankung konfrontiert einen mit der Tatsache, dass es nichts ist mit der Macht, die man über das eigene Dasein zu haben glaubte, nichts ist mit den Erwartungen, die man an das Leben hatte. Das Altern konfrontiert uns mit den Grenzen unserer Möglichkeiten. Im Leiden spüren wir die eigene Ohnmacht. Wo wir das Sterben eines Menschen erleben müssen, wo es nicht nur darum geht, dass jeder einmal sterben muss, sondern dass der Tod unabänderlich auch mich betrifft, verwandelt sich das implizite Wissen um die Endlichkeit des Daseins in das explizite Bewusstsein der eigenen Zeitlichkeit. Menschsein wird hell als endliche, sterbliche und im Grunde ohnmächtige Existenz. Das Erleben von Ohnmacht, das sich im Zugehen auf den Tod noch einmal verdichtet, im Grunde aber mit jeder Erkrankung, jeder Krise, jedem Bruch des Lebenswegs verbunden ist, wird zum Ursprung einer „Erschütterung“, die den ganzen Menschen betrifft. Dabei hellt sich uns in solchen Situationen der Krise aber im Grunde nur auf, dass unser Dasein Zeit unseres Lebens unabänderliche Grenzen hat. Menschliches Dasein gibt es nur als endliches Sein, als Dasein zum Tode, als Altern und Schuldigwerden. Gegen die Verzweiflung, die uns in Anbetracht der Unabänderlichkeit der Grenzen ergreifen könnte, spricht, dass unsere Endlichkeit „sinnkonstitutiv“ (Rentsch 2012) ist. Nur aufgrund der Tatsachen, dass wir altern, dass die Zeit unabänderlich vergeht und wir nicht unendlich leben werden, kommt es auf die rechte Entscheidung zur rechten Zeit an. Es ist die Endlichkeit, die dem Entscheiden die Bedeutung gibt, die es braucht, damit der Mensch ein Leben als sinnvoll erleben kann. Die Erschütterung des Daseins kann zum Ausgangspunkt eines Weges der Selbstfindung werden, eines Übergangs vom Dasein zur Existenz. „Situation wird zur Grenzsituation, wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt“, gibt Jaspers (1932/1973: 56) zu bedenken. Es bietet sich an, sich auch in der Medizin von Jaspers Existenzphilosophie anregen zu lassen. Die Grenzsituation wird dann zu einer Situation der Krise, die durch die Erkrankung, das Sterben bedingt ist. Und Spiritual Care wird zur Begleitung in Zeiten der Krise, die als therapeutische Intervention darauf angelegt ist, der radikalen Erschütterung ein Ende zu machen (Fuchs 2016). Eine solche pathologisierende Deutung der Grenzsituation ist von Jaspers her gesehen aber ein Missverständnis. Denn Jaspers geht es nicht um die Frage nach dem Ausweg aus der Erschütterung. Für Jaspers ist die Grenzerfahrung eine Ursprungserfahrung der Philosophie neben dem Staunen und Zweifeln. Bewegt vom Erleben der Endlichkeit des eigenen Seins in der Grenzsituation wird der Sprung in die Philoso-
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phie, der Übergang von der wissenschaftlichen zur philosophischen Weltanschauung möglich. Die Frage muss daher sein, was denn die philosophische Weltorientierung ausmacht, in welcher Grundhaltung, man kann auch sagen: welcher Spiritualität, das Philosophieren verwurzelt ist, und zwar im Unterschied zu den anderen Wissenschaften. Die modernen Wissenschaften sind begründet in der Zuwendung zu dem, was man mit den Methoden der Empirie erforschen kann: die Dinge und die Verbindung der Dinge zu Sachverhalten. Das empirisch Zugängliche wird erforscht, ohne dass das Forschungsstreben ein Ende kennen würde (Jaspers 1949/1983: 112 – 117). Empirisch zu forschen bedeutet, die Erarbeitung von Wissen in Relation zu Hypothesen zu setzen, Hypothesen als nur mögliche zu betrachten, über das, was man im Kontext einer Hypothese erforschen kann, hinauszugehen. Dennoch hat das Forschen eine Grenze. Alles, was empirisch nicht zugänglich ist, kann für die modernen Wissenschaften grundsätzlich nicht zur Frage werden. Kant hat nachgewiesen, dass dies für alles das gilt, was das Forschen selbst möglich macht. Die Bedingungen der Möglichkeit von Forschung können nicht empirisch erforscht werden. Das gilt zum einen für das Faktum, dass es überhaupt Dinge gibt, die empirisch zugänglich sind. Sie alle sind in der Welt, ohne Welt wäre uns kein Ding zugänglich, aber die Welt selbst ist kein Ding. Außerdem kann der Mensch auch sich selbst als empirisch zugängliches Objekt betrachten. In solcher Betrachtung weiß der Mensch darum, dass er selbst das Subjekt ist, von dem solche Objektivierung ausgeht. Und er weiß, dass das, was Subjekt und Objekt umgreift, für ihn nicht zugänglich ist. Die Grenze der Wissenschaften ist die Unmöglichkeit der Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, die Forschung ermöglicht. Wo die Wissenschaften daher ihrer eigenen Grenze bewusst werden, stellt sich die Frage nach „dem Umgreifenden“, jenem „Sein selbst“, in dem alle Spaltung aufgehoben wäre (Jaspers 1950/1973: 101– 111). Und „das Umgreifende“ gibt sich zu denken als Welt und auch in der Reflexion auf unser eigenes Dasein. Wir selbst sind in die Subjekt-Objekt-Spaltung verstrickt. Aber das Bewusstsein unserer Grenzen ist der Impuls zur Bewegung der Transzendenz, die eine Bewegung der Sehnsucht ist nach dem, was man „Sein selbst“ nennt. Es ist das, was letztlich Grund und Halt, Perspektive und Sinn geben könnte. Die Grenzsituation fordert zu dieser Bewegung auf. Denn sie konfrontiert den Menschen mit dem eigenen Sein. In der Krankheit, im Sterben wird bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, zu sein, dass man in sich selbst weder Grund noch Halt hat. Es stellt sich die Frage, was denn noch Halt geben könnte. Und man spürt, es wird kein Ding in der Welt sein, worauf man letztlich setzen kann. Sofern die Transzendenzbewegung auf das zielt, was letztlich Halt geben könnte, lebt sie von der Sehnsucht nach dem, was selbst kein Teil der Welt, kein Ding unter den Dingen ist.
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Jaspers kennt, was Halt verspricht: Familie und Freunde, die Natur und die Landschaft, der Glaube und die Dichtung. Doch all das bietet keine absolute Verlässlichkeit. Halt geben kann es nur, solange der Mensch in der Welt fraglos zu Hause zu sein glaubt. Wo aber das In-der-Welt-sein fraglich wird, wo das Gehäuse zerbricht, wird deutlich, dass es keine absolute Verlässlichkeit gibt, sondern nur Geborgenheit auf Zeit. Dabei muss jeder als er selbst erkennen, was ihm Geborgenheit geben könnte. „Jederzeit muß der Mensch im Blick auf sich aus eigenem Ursprung finden, was ihm Gewißheit, Sein, Verläßlichkeit ist“ (Jaspers 1950/1973: 19). Spirituelle Begleitung, die die Unsicherheit nicht nur verdrängen will, könnte sich konkretisieren in der Einladung zur Rückkehr in den eigenen Ursprung. Ich bin mir dessen bewusst, dass es Methoden gibt, um eine solche Rückkehr zu begleiten. Aber auch in dem Fall gilt: Ob sich aber im Ursprung Verlässliches gibt, kann man nie sicher sagen. Denn „das Sein selbst“ ist kein Ding unter den Dingen. Für den, der nur die Dinge und Sachverhalte kennt, ist das Sein nichts. Das, dem die Sehnsucht gilt, könnte also anders sein als alles, was begreifbar ist, oder doch nur nichts.
6 Die Grenzsituation der Begegnung mit dem anderen Menschen Das Denken von Emmanuel Levinas kann als eine Antwort auf die Philosophie von Karl Jaspers interpretiert werden. Bislang haben wir den Erkrankten im Blick gehabt, dem die Grenzsituation des Leidens zum Impuls werden kann, der zur Bewegung der Transzendenz herausfordert. Blicken wir nun auf die, die Erkrankte behandeln oder pflegen, auf die, die Spiritual Care anbieten könnten. Ihre Arbeit ist kontextualisiert durch eine Grenzsituation, die eigens bewusst werden kann, und zwar dann, wenn in der Rückkehr des Erkrankten in den eigenen Ursprung deutlich wird, dass er ein ganz anderer ist, einer, dessen Sein Anderheit bedeutet (Levinas 1986: 64; Levinas 1987: 44). Ich behandle oder pflege einen erkrankten Menschen. Ich sehe alles das, was mir aufgrund seines leibhaftigen In-der-Welt-seins empirisch zugänglich ist. Ich sehe seinen Körper, der für mich Objekt ist unter all den Objekten, die ich erblicke. Die Wahrnehmung ermöglicht ein Verstehen: das ist ein Mensch, der leidet, der erkrankt ist. Das Verstehen kann zum Fallverstehen werden. Der andere Mensch wird dann zum Fall für eine Erkrankung. Nun weiß ich, wo ich dran bin mit ihm und was ich zu tun habe. Das Verstehen ist bis dahin gekommen, dass ich nun den anderen Menschen als einen Fall von … im Griff habe. Wo nur der Körper im Blick ist, wo körperliche Erkrankungen erforscht werden und alles darauf ankommt, die
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Erkrankung in den in den Griff zu bekommen, wird der Mensch reduziert auf das, was man verstehen kann. Der Mensch kann nicht anders. Er will verstehen. Denn nur der, der alles beherrscht, kann seiner selbst sicher sein. Nur er kann mit Souveränität handeln. Nur er ist Herr der Lage.Wer nun aber die Rückkehr des Erkrankten in den eigenen Ursprung begleiten will, muss hören können auf das, was der andere von sich erzählt. Und falls das Hören nicht nur ein Überhören ist, wird er durch die Erzählung des Erkrankten konfrontiert mit einer Lebensgeschichte, in der deutlich wird, dass der andere aus eigenem Ursprung lebt, das sein Selbstsein gedacht werden muss als Ursprünglichkeit, an der alles Fallverstehen eine Grenze hat. Wo mir bewusst wird, dass der andere mehr ist als nur das, was ich empirisch greifen kann, dass er, der er aus eigenem Ursprung existiert, mir stets auch unverständlich sein wird, kommt es zur Verunsicherung. Ich, die ich glaubte, alles im Griff zu haben, erlebe die Grenzen meines Verstehens, meiner Macht, meines Könnens. Damit das nicht geschieht, reduzieren wir den anderen auf das, was man empirisch wahrnehmen kann. Wir vernichten ihn in seiner Ursprünglichkeit, seinem Selbstsein, um der eigenen Souveränität willen. Levinas weiß darum, dass es in jeder Begegnung die Versuchung gibt, den anderen als Selbst zu vernichten. Es gibt die Möglichkeit, zu überhören, was der andere zu sagen hat. Aber nach Levinas geht von dem Anderen auch ein Appell aus, der sich uns zuspricht, ob wir ihn hören wollen oder nicht: der Appell, Verantwortung zu übernehmen dafür, dass der Andere er selbst sein kann (Casper 1984; Levinas 1987: 283 – 289). Dem Appell folgt, wer willens ist zum Hörenden zu werden. Dazu braucht es Mut. Denn wer sich dessen bewusst wird, dass der andere Menschen anders ist als jeder andere Mensch (nie nur ein Fall von …), erlebt sich im Hören auf dessen Lebensgeschichte konfrontiert mit einer anderen Ursprünglichkeit, an der alles Fallverstehen und mit ihm die Selbstsicherheit, die man zu haben glaubte, zerbricht. Um ein Hörender zu werden, muss man lernen, die Grenzen der eigenen Souveränität, die durch die Ursprünglichkeit des Anderen gesetzt sind, zu achten. Dazu ermutigen könnte ein Gedanke von Levinas. Der Andere teilt sich mit. Und dann kommt alles auf den an, der die Mitteilung hört: Er muss im Hören die Verantwortung übernehmen dafür, dass der Leidende auch im Leiden, im Sterben, in der Verzweiflung er selbst sein darf. Nun ist aber nicht jedes Hören wirklich ein Hören. Man kann die Mitteilung des Selbst, die geborgen und auch verborgen ist in dem, was der Andere sagt, auch überhören. Man kann der Mitteilung aus dem Weg gehen, indem man von sich selbst spricht, statt dem Anderen die Zeit zu geben, die er braucht, um sich mitzuteilen. Gadamer erinnert an die routinierten Formulierungen des Arztes, die verwendet werden, um sich der Verantwortung zu entledigen, einer Verantwortung, die darin besteht, „den Patienten in seine Le-
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benswelt zurückzuführen“ (Gadamer 1993: 130). Wer den anderen Menschen in seine Lebenswelt führen möchte, wer ihn in der Rückkehr in den eigenen Ursprung begleiten will, muss dem Anderen Zeit geben, von sich zu erzählen. Darum konkretisiert sich die Grundhaltung des wirklichen Hörens auch im Schweigen. Wer ein Hörender werden will, muss schweigen lernen. Dabei ist das Schweigen, um das es mir geht, ein beredtes Schweigen insofern als sich in ihm der Verzicht auf Souveränität, auf Herrschaft ausspricht. Was könnte dazu bewegen, auf Herrschaft zu verzichten? Indem der Hörende erlebt, dass es auf ihn ankommt, auf sein schweigendes Hinhören, erhellt sich ihm die Grenzsituation der Begegnung mit dem anderen Menschen als „sinnkonstitutiv“ (Rentsch 2012). In der Erzählung, in der sich der Leidende mitteilt, kommt auch zur Sprache, dass es gut ist, dass es den gibt, der die Verantwortung übernimmt. Wer einem Leidenden, Erkrankten, Sterbenden in die Augen schaut, dem kann sich von dem Anderen her zusprechen: „Gut, dass es dich gibt, dass du da bist und dass ich deine Betroffenheit durch das, was ich zu sagen habe, spüren darf.“ Und indem sich zuspricht, „es ist gut, dass du da bist“ spricht sich vom Anderen her der Sinn von Sein zu. Das Zerbrechen der Selbstsicherheit, die man zu haben glaubte, wird zum Ursprung einer Identität, die sich vom Anderen her konstituiert. In der Explikation des Anspruchs, der vom Anderen ausgeht, als eines Appells wird deutlich, dass das Geschehen der Begegnung als ein Sprachgeschehen verstanden werden kann, von dem her sich dann auch ein Weg zur Beantwortung die Frage nach der Sprache der spirituellen Erfahrung erschließen könnte. Das erste Wort geht aus von der Verletzlichkeit des Anderen. Auch dort, wo der Andere nicht von sich spricht, sondern sein Leiden nur in einem Seufzen andeutet, teilt er sich in seiner Verletzlichkeit mit. Das erste Wort richtet sich an den, der das Seufzen hört und im Hören zum Du wird. Und dann hat das Du das Wort: „Da bin ich. Ich halte Dein Leiden aus. Und ich höre in Deinem Seufzen auch die Fragen, die Du nicht aussprechen willst“.
7 Spiritual Care, eine Querschnittsaufgabe der Gesundheitsberufe, und das Medizinstudium Kann man in einer Ausbildung zur Pflegefachkraft oder in einem Medizinstudium lernen, ein Hörender, eine Hörende zu werden? Mit Gedanken, in denen sich eine Antwort auf die Frage andeutet, möchte ich schließen. Der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio hat sich an unterschiedlichen Stellen gegen eine Medizin ausgesprochen, die vom Glauben lebt, alles sei machbar. Er fordert dazu auf, den leidenden Menschen nicht nur als Objekt zu
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betrachten, dessen Leiden man in den Griff bekommen muss. Stattdessen solle man sich dem Anderen „in seiner ganzen personalen Existenz“ zuwenden (Maio 2016: 59). Dazu sei eine Grundhaltung des Hörens unabdingbar (Maio 2016: 64– 67). Ich stimme dem zu, gebe aber zu bedenken, dass die Zuwendung zum anderen „in seiner ganzen personalen Existenz“, das Hören in der eigentlichen Bedeutung des Begriffs, nur möglich ist unter Aufgabe jener Souveränität, die ich mir im Studium dadurch aneigne, dass ich lerne, im Anderen den Fall von … zu sehen. Die Praxis, auf die das Studium zielt, erfordert Sicherheit, Souveränität. Keiner will auf den Mediziner treffen, der nicht souverän ist in seinem Tun und Machen. Und dennoch glaube ich: Um in die Grundhaltung des Hörens zu kommen, müsste ein Studierender der Medizin lernen, die Souveränität, auf die er als Arzt angewiesen ist, zu Zeiten aufzugeben. Denn nur dann, wenn er willens ist, im Andern nicht nur den Fall von … zu sehen, kann er hören, was der Kranke von sich selbst mitteilt. Und dann kann es geschehen, dass sich das Fallverstehen als brüchig erweist. Der Kranke ist nicht nur ein Fall von … Er ist er selbst, personale Existenz, Vollzug einer Ursprünglichkeit, die nur die seine ist. Sie zu achten, bedeutet, sich der Grenzen des eigenen Verstehens und Wissens bewusst zu werden. Das Medizinstudium muss daher nicht nur auf Souveränität im Tun zielen, sondern auch die Reflexion der eigenen Grenzen fördern. Um der Zuwendung zum Menschen willen, sollten Studierende der Medizin daher auch die Grenzen der empirischen Wissenschaften reflektieren. Sie sollten sich dessen bewusst werden, dass die medizinische Forschung Grenzen hat, dass nicht alles machbar ist und nicht alles, was gemacht wird, dem Menschen auch gut tut.Vor allem aber sollten sie erkennen, dass die Fragen, die Kranke oder auch Sterbende stellen, auch ihre eigenen Fragen sind, geht es dabei doch um die Endlichkeit des Lebens, die trotz aller ärztlichen Professionalität unabänderlich ist. Und wer in den Fragen des anderen seine eigenen Fragen hören will, muss gelernt haben, auszuhalten, dass alles, was ihm sicherer Halt ist, nicht nur unsicher, sondern der Möglichkeit nach nichts ist. Sich selbst im Gehäuse des eigenen Machertums zu sichern, mag einfacher sein, als sich der Betroffenheit durch das, was Kranke, Alte, Leidende und Sterbende zu erzählen wissen, zu stellen. Es mag einfacher sein – zukunftsfähig ist es nicht.
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Eine Sprache für die verborgene Spiritualität finden Kenosis Finding a language for hidden spirituality Zusammenfassung: Das Begriffspaar immanent vs. transzendent charakterisiert N. Luhmann zufolge das Religionssystem und unterscheidet es von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, z. B. von der Medizin (Binary gesund vs. krank). Die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam denken Gott transzendent, verschieden von der Immanenz. E. Levinas wählt den christlichen Begriff „Kenosis“, um die Demut Gottes zu denken und damit auch die Verborgenheit Gottes in Sprache, Alltagserfahrung und spiritueller Suche. Theophore Interjektionen sind sprachliche Spuren dieser Verborgenheit. Schlüsselwörter: immanent, transzendent, kenosis, spiritual care, Sprache Abstract: According to N. Luhmann, the binary code immanent vs. transcendent characterizes the system of religion, distinguishing it from other social systems, e. g., medicine (binary healthy vs. ill). The Abrahamic religions of Judaism, Christianity, and Islam think of God as transcendent, differing from immanence. E. Levinas chooses the Christian notion of “kenosis” in order to think about God’s humility and with it his hiddenness in language, daily experience, and spiritual seeking. Theophoric interjections are linguistic traces of this hiddenness. Keywords: immanent, transcendent, kenosis, spiritual care, language
I Kenosis als Gestalt der Unbestimmtheit Grüß Gott, liebe Leserin, lieber Leser! Mit diesem in Süddeutschland und Österreich üblichen Gruß darf ich Sie begrüßen. Dieser Gruß als Ausruf und Redensart nennt Gott und verbirgt ihn zugleich – dazu später mehr. Der Begriff „Kenosis“ stammt aus dem Philipperbrief (2,6 f), in dem es über Jesus Christus heißt, dass er „sich entäußerte [ekénōsen] und wie ein Sklave und den Menschen gleich wurde“. Jesus, „der Gott gleich war, aber nicht daran festhielt, wie Gott zu sein“. Dies heißt nicht, dass Jesus sich selbst vernichtet oder https://doi.org/10.1515/9783110638066-020
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verleugnet, sondern dass er auf ein Objekt verzichtet, nämlich auf das Festhalten an der Gottgleichheit (Oepke 1938). Jesus gehört zum transzendenten Bereich, wird aber Mensch, d. h. immanent. Der deutschsprachige Spiritual-Care-Diskurs war von Anfang an von Bezugnahmen auf die soziologische Systemtheorie (Luhmann 1987) geprägt, die Religion mit Hilfe der Leitcodierung immanent vs. transzendent versteht. Schon früh trägt Karle (2010) Bedenken vor, inwieweit die Medizin mit ihrer binären Codierung gesund vs. krank zur Religion mit ihrer Codierung immanent vs. transzendent passe: „Perspektiven der Krankenhausseelsorge. Eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des Spiritual Care“. Spiritual Care hält sie für ein problematisches, anpasslerisches Hybrid, in dem es um Sinnsuche, Akzeptanz und Lebensqualität geht, nicht um Klage, Transzendenzoffenheit, Aushalten von Sinnlosigkeit. Sie warnt vor einer Medizinalisierung der Klinikseelsorge, vor einer Ausweitung des palliativen Spiritual-Care-Konzeptes auf die gesamte Medizin. In den letzten Jahren hat sich Karle v. a. mit der Entwicklung von Rosers Theorieentwurf auseinandergesetzt und ihre Position jüngst noch einmal nuanciert zusammengefasst (Karle 2018). Schon an den Titeln wird deutlich, wie sich die Akzente verschieben. Hatte Roser (2007) seine theologische Habilitationsschrift noch innertheologisch betitelt: „Spiritual Care. Ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge. Ein praktisch-theologischer Zugang“, so nennt er die 2. Auflage: „Spiritual Care: Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen“ (Roser 2017). Karle titelt 2018: „Chancen und Risiken differenter Systemlogiken im Krankenhaus: Perspektiven einer Kooperation von Seelsorge und Spiritual Care“. Zwar heißt es jetzt nicht mehr „Auseinandersetzung“ wie 2010, sondern „Kooperation“, aber Spiritual Care ist weiterhin kein systemischer Oberbegriff für die gemeinsame, transprofessionelle Verantwortung, sondern ein gegenüber der Seelsorge disjunkter Begriff. Vielleicht eine Besonderheit der innertheologischen Debatte in Deutschland. Südlich des Bodensees kann man dies anders sehen, wozu Peng-Keller (2017) Bedenkenswertes geschrieben hat. Die von Luhmann inspirierte Pointierung des deutschsprachigen Spiritual-CareDiskurses hat sich als anregend erwiesen. Untersuchen wir also die binäre Codierung von Religion näher und fragen wir nach dem philosophischen Gehalt des von Luhmann inaugurierten funktionalen Religionsbegriffs – insbesondere in dessen Bedeutung für eine philosophische Annäherung an die spirituelle Erfahrung. Alle binären Codierungen differenzieren einen bestimmbaren, „markierten“ von einem unbestimmten, „nicht markierten“ Bereich, also: gesund/krank (Medizin), recht/unrecht (Recht), haben/nicht haben (Wirtschaft). Der erste Term ist jeweils der bestimmte, der zweite der unbestimmte (Abb. 1). In der Markierung
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„erster Ordnung“ funktioniert das System, ohne die Codierung selbst zu reflektieren. Das tun wir nun in einer Markierung „zweiter Ordnung“. Die Besonderheit des Religionssystems mit seiner Codierung immanent/ transzendent besteht darin, dass die Religion „auf spezifische Weise die basale und generelle Problematik der Unterscheidung von Beobachtbarem und Unbeobachtbarem“ in jeder Unterscheidung bearbeitet (Thomas 2006: 22). Denn „transzendent“ (im weiteren Sinne) ist jeglicher nicht-markierte Bereich in Bezug auf den markierten: Wie immer die Grenze zwischen marked und unmarked gezogen wird: als Religion kann uns nur eine Sinngebung gelten, die genau darin ihr Problem sieht. Das heißt vor allem: dass jeder Formgebrauch Religion involviert, da jeder Formgebrauch einen unmarked state erzeugt. (Ohne Markierung gäbe es selbstverständlich auch nichts „Unmarkiertes“; die Welt muss immer zuerst durch die Unterscheidung markiert/unmarkiert in einen imaginären Raum transformiert werden.) Aber dennoch hat Religion bei universaler Sinnzuständigkeit eine spezifische Unterscheidung im Auge, eben die von marked/unmarked (beobachtbar/ unbeobachtbar). Doch wie kann dies als eine Unterscheidung bezeichnet, als eine Form markiert werden, wenn sich die andere Seite, die Außenseite der Unterscheidung, der Markierung entzieht und genau dies die Bedingung der Markierung selbst ist? (Luhmann 2002: 53 f).
Emlein (2017) formuliert die These, „dass der Code der Religion noch einmal abstrahiert werden muss und ‚immanent/transzendent‘ durch ‚markiert/unmarkierbar‘ ersetzt werden könnte“ (255) und zieht daraus wichtige Folgerungen für den Trost und die Sprache: Chiffren und Rituale haben als Fremdreferenz Unmarkierbares; sie „verdecken und prozessieren, dass die andere Seite nicht erreichbar ist“ (257), ermöglichen Kommunikation über Nicht-Kommunizierbarkeit.
Abb. 1: Binary immanent vs. transzendent
Eine Gestalt der Beobachtung zweiter Ordnung ist die Figur des „Re-entry“ (Abb. 2). Die Unterscheidung markiert vs. unmarkiert wird auf der markierten Seite wiederholt. Z. B. töten manche Staaten die Rechtsbrecher, um mit ihnen das Unrechte definitiv aus dem „Rechtsstaat“ auszuschließen. Andere eröffnen als Reentry Gefängnisse, in denen Rechtsbrecher in Zellen weggeschlossen werden. Es
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Abb. 2: Re-entry als Beobachtung 2. Ordnung
gibt aber auch innerhalb des Gefängnisses Räume für die „Rechtschaffenen“ (Beamte, Anwälte, Seelsorgende…), die (nach entsprechenden Kontrollen) für diese Personen durchlässig sind gegenüber dem übrigen öffentlichen Raum. Worum geht es analog beim religiösen Re-entry? Religiöse Gebäude und Institutionen (Kirchen, Tempel, Synagogen, Moscheen) gehören zur Immanenz, wiederholen jedoch auf vielfältige Weise die Leitunterscheidung immanent/transzendent: Durch gestuften Zugang, abgetrennte „heiligere“ Bereiche, zu denen nur bestimmte Kultagenten Zutritt haben, Initiationsrituale usw. Die „Weltflucht“ des klösterlichen Re-entrys bringt eine besondere Paradoxie mit sich: „Sie erzeugt unweigerlich, was sie vermeiden will; sie stößt sich von Immanenz ab und produziert sie eben damit. Das Hin zur Transzendenz ist in einem Zuge ein Weg von Welt und Erzeugung dessen, wovor geflohen wird“ (Luhmann & Fuchs 1989: 25). Unbestimmtheit und mangelnde Begriffsschärfe werden häufig als Nachteile des Containerbegriffs („Stopfgans“, Heller & Heller 2014) „Spiritualität“ kritisiert. Andererseits ist es gerade der Umgang mit Unbestimmtheit, der Religion und Spiritualität ausmacht. Im Sinne des Re-entry sind religiöse Institutionen und Gebäude an bestimmten Stellen der Immanenz antreffbar. Hier sieht (Nassehi 2011: 40) die Differentia specifica zwischen der religiösen und der spirituellen Kommunikation: Wenn es stimmt, dass das Besondere der religiösen Kommunikation ihr Potenzial ist, sich indirekt zu äußern, das Unsichtbare gerade in seiner Unsichtbarkeit sichtbar zu machen, Unbestimmtheit mit Bestimmtheit vertreten zu können und immanent einen transzendenten Standpunkt einnehmen zu können, ohne die Differenz selbst einzuziehen, dann ist Spiritualität jene Form, die auf noch weniger Bestimmtheit setzt und sich ganz auf die Authentizität des Sprechers verlässt.
„Bestimmtheit“ könnte in diesem Zusammenhang heißen, dass auf das Leiden und die Fragen kranker Menschen mit definierten religiösen Texten und Ritualen
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geantwortet wird. Noch vor wenigen Jahren waren mehr Krankenhäuser als heute durch die Präsenz „geistlicher“ (Ordens‐) Schwestern/Brüder oder Diakonissen geprägt, die von „weltlichen“ Pflegenden unterschieden wurden. „Geistliche“ Pflegende repräsentier(t)en inmitten der Immanenz des durchaus weltlichen Klinikbetriebs die Offenheit gegenüber der Transzendenz. Eine ähnliche Repräsentationsfunktion kommt den Seelsorgenden mit offiziellem Auftrag der Kirche oder einer anderen Religionsgemeinschaft zu. Die meisten Klinikseelsorgenden verstehen diesen Auftrag heute nicht mehr exklusiv binnenkirchlich oder ritualistisch; sie öffnen sich der vielgestaltigen spirituellen Suche sowohl kranker Menschen, als auch deren Angehöriger und der Gesundheitsberufe. Allerdings besteht im Sinne von Luhmanns Modell der funktional differenzierten Gesellschaft die Gefahr, dass die spirituelle Dimension an „professionell geistliche“ Personen delegiert wird und ggf. systemisch verleugnet wird, wenn derartige Personen nicht (mehr) zur Verfügung stehen. In Bezug auf die verschwindende offizielle „geistliche“ Sichtbarkeit und die spirituelle Kompetenz „weltlicher“ Gesundheitsberufe kann man von einer systemischen Kenosis des Spirituellen sprechen: Das Spirituelle wandert teilweise aus von der sichtbaren Religion in die „unsichtbare Religion“ (Luckmann 1991; Bochinger et al. 2009) des säkular-immanenten Bereichs. Die Unbestimmtheit der Sinnsuche und ebenso vage Unterstützungsversuche und falsche Vereindeutigungen der Sinnsuche kritisiert Karle unter Bezugnahme auf Josuttis: „Die Krankheit an sich hat keinerlei Sinn. Jeder Versuch, ihr einen Sinn zuzuschreiben, will ihr den Schrecken nehmen, der über die körperlichen Schmerzen hinausreicht, den Schrecken der Sinnlosigkeit.“ Deshalb ist der „Glaube […] nicht Kraft zur Sinndeutung, sondern […] zum Verzicht auf Sinndeutung in religiöser Hinsicht.“ Dass diese Art der Sinnvermeidung wiederum eine paradoxe Sinnfindung impliziert, insofern sie Kraft zum Ertragen des Unerträglichen freisetzen kann, soll dabei keinesfalls verneint werden. Ein „religiöses coping“ setzt – aus theologischer Perspektive – aber nicht religiöse Zustimmung oder religiöses Einverständnis voraus, sondern kann auch Protest im Medium der Religion sein, wie ihn beispielsweise die Klage darstellt. Dieses paradoxe coping ist kaum mit dem Konzept des Spiritual Care kompatibel, das auf Akzeptanz abzielt“ (Karle 2010: 547 f). Karles Einwand, Spiritual Care leiste der Entkonkretisierung von Religion Vorschub, liegt ganz auf der Linie von Luhmanns religionssoziologischen Überlegungen. In der Tat kann „Entkonkretisierung“ eine Gestalt der Kenosis des Religiösen sein und sich z. B. durch das Verschwinden von Ritualen, sakralen Räumen und Feiertagen ausdrücken. Derartige Entwicklungen sind ambivalent:
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Man mag sie beklagen, weil lebendige Traditionen und Praktiken verlorengehen, dem suchenden Menschen nicht mehr zugänglich sind, die hohe Qualität der Klinikseelsorge im Zuge der Medizinalisierung des Spirituellen schwindet (Nauer 2016). Andererseits entstehen auch neue Formen der Gestaltung des Spirituellen, freilich nicht immer im Rahmen und unter der Kontrolle von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Auffällig ist, dass Karle als Theologin einen völlig undialektischen Religionsbegriff aus der Soziologie übernimmt, also nicht diskutiert, inwieweit die Religionskategorie auf den christlichen Glauben anwendbar ist: ‚Dem Menschen‘ wird das Bedürfnis unterstellt, seinem Leben Sinn zu geben. Er möchte die Gewißheit haben, ein sinnvolles Leben zu führen oder jedenfalls das Gefühl der Sinnleere, der Sinnlosigkeit seines weltlichen Daseins zu überwinden. Religion wird nun als ‚Angebot‘ begriffen, das auf diesen Sinnbedarf reagiert. Das kann und muß in Formen geschehen, die geschichtlich variieren und ihre Plausibilität aus den jeweiligen sozialen und kulturellen Umständen ziehen. Die Einheitsformel für diese Variation der Formen wird im subjektiven Erleben ‚des Menschen‘ verankert und damit externalisiert. Sie paßt sich damit einer Welt an, die als säkularisiert beschrieben wird, und stellt sich auf eine gesellschaftliche Kommunikation ein, die auch nichtreligiös gebraucht und verstanden werden kann. Entsprechend firmiert die Anthropologie als Philosophie, wenn nicht gar als Wissenschaft. Daß es in der religiösen Zuschreibung eines Sinnbedarfs trotzdem um eine Selbstbeschreibung von Religion geht, ist leicht zu erkennen. Die alte Sorge um Heil und Erlösung kann fast bruchlos entdogmatisiert und in die neu konzipierte Sorge um Sinn überführt werden (Luhmann 2002: 340).
Die hier soziologisch analysierte, aber auch in der Praxis vorherrschende Gleichsetzung von Spiritualität und Sinnsuche hängt mit der Psychologisierung von Religiosität/Spiritualität zusammen (Heller & Heller 2014: 27). Wie kann, so fragen Heller & Heller, Spiritualität „mehr sein als ein Platzhalter für Menschlichkeit“? Was ist die Aufgabe von Spiritual Care, wenn Spiritualität dezidiert abgelehnt wird? Braucht das Gesundheitssystem einen eigenen Versorgungsauftrag für Menschlichkeit, der an die Implementierung von Spiritual Care geknüpft wird? Es bestehe die Gefahr, so Heller & Heller (2014: 28), „dass damit die positive Dynamik, die hinter dem starken Interesse für Spiritual Care steckt“, institutionell eingefroren werde. „Vielleicht wäre es besser, die Sorge um einen konkreten Menschen nicht generell in die Stopfgans Spiritual Care zu packen“.
II Kenosis als philosophische Figur (Levinas) Mit Hilfe von Levinas’ philosophischem Kenosis-Gedanken möchte ich die binäre Gegenüberstellung von Immanenz und Transzendenz im Kontext von Spiritual
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Care problematisieren. Dabei ist zu bedenken, dass der funktionale Religionsbegriff Luhmanns nicht mit einem philosophischen gleichzusetzen ist. Wohl aber ist der Begriff der Unbestimmtheit/Unmarkiertheit (Emlein 2017) anschlussfähig für philosophische und theologische Diskurse, in denen es um die Verschiedenheit Gottes von der Immanenz sowie um Chiffren seiner Unergründlichkeit geht (Gott als Geheimnis der Welt: Jüngel 2010). Judentum und Islam denken Gott radikal transzendent. Deshalb ist ihnen der Gedanke der Inkarnation Gottes, der Menschwerdung in Jesus Christus, fremd. Wenn Levinas Phil 2,6 f, diese berühmte Stelle aus dem Zweiten, dem „Neuen“ Testament zitiert, bleibt er bei seiner Ablehnung des Inkarnationsgedankens, verwendet jedoch den Begriff „Kenosis“, um mit vielfältigen Belegen aus dem „Alten“ Testament, der Bibel Israels, und dem Talmud die Erniedrigung und Demut Gottes auszudrücken. Das hat ihm heftige Kritik von jüdischer Seite eingetragen: Man werfe ihm ein wenig vor, die Kenosis zu verteidigen („On m’accuse un peu de défendre la kénose“, Levinas 1984: 57). Die Kenosis ist mit dem ethischen Handeln des Menschen verknüpft: „Plus important que la toute-puissance de Dieu est la subordination de cette puissance au consentement éthique de l’homme“ (Wichtiger als die Allmacht Gottes ist die Unterordnung dieser Macht unter die ethische Zustimmung des Menschen, Levinas 1985/1988: 145). Levinas wiederholt seine andernorts geäußerte Kritik am Bittgebet als Ausdruck ich-zentrierter Bedürfnisse, die sich noch nicht gegenüber dem echten Begehren öffnen. Die Demut Gottes führt Levinas (1984: 59) mit Bezug auf Ps 91,15 ein, wo es heißt: „Er ruft mich und ich antworte ihm, bei ihm bin ich in der Drangsal, ich schnüre ihn los und ich ehre ihn“ (Buber-Rosenzweig). Die Problematik der Theodizee, die Gott wegen des Leids in der Welt infrage stellte, ist überholt: „Bevor“ (im transzendentalen Sinn) der leidende Mensch Gott anrufen kann, leidet Gott mit dem Menschen, betet mit ihm (Ombrosi 2007). So gelangt Levinas zu der erstaunlichen These: Gott braucht das Gebet der Menschen, menschliches Leiden und göttliches Mit-Leiden sind verbunden: Die Finalität jeglichen Gebetes bleibt das Bedürfnis des Allerhöchsten nach dem Gebet der Gerechten, um die Welten existieren zu lassen, zu heiligen, zu erheben. In dem Maß jedoch, als das Leiden eines jeden bereits das große Leiden Gottes ist, der für ihn leidet, kann das leidende Ich beten für dieses Leiden, das ‚meines‘ ist, aber schon seines, göttliches Leiden und so dann auch für sich beten: Es betet für sich selbst, um das Leiden Gottes zu beenden, der im Leiden des Ichs leidet (1985/1988: 149).
Levinas betrachtet den heidnischen Immanentismus nicht als Atheismus, sondern als Weigerung, die Schöpfung und damit den transzendenten Schöpfer anzuerkennen. Das Heidentum sei „radikale Unfähigkeit, die Welt zu verlassen“. Es bestehe „nicht darin, Geister und Götter zu leugnen, sondern diese in der Welt zu situieren“. Der Heide sei in sich selbst und in seiner Welt eingeschlossen, die er für
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ewig halte (Levinas 1935). Die Kenosis Gottes entspricht für Levinas der Kenosis des Subjektes. Die Verweigerung der Kenosis des Subjektes ist eine Konsequenz aus der Verweigerung der Transzendenz (Faessler 2007). Wenn das Subjekt sich auf Selbststand und Selbstaffirmation beschränkt, ist es unfähig, über sich hinaus zu gehen und in der Beziehung den Anderen als Anderen anzuerkennen. Es kann nicht „pilgern“ (lat. peregrinare: über den eigenen Acker hinausgehen, Rutishauser 2019). Michael J. und Tracy A. Balboni haben den Immanentismus der (US-amerikanischen, in der westlichen Welt führenden) Medizin als „Spiritualität der Immanenz“ beschrieben: If medicine has unconsciously received our deepest human aims, loves, and aspirations, then our nurses and physicians are socialized into this immanence and formed by an immanent spirituality (Balboni & Balboni 2019: 206).
Das Ehepaar Balboni spiegelt der säkularen Medizin die unbewusste Ironie, einerseits ihre religiösen Wurzeln zu verleugnen und andererseits selbst zu einer Quasi-Religion zu werden. Indem sie in aufklärerisch-naturwissenschaftlicher Attitüde die überlegene Rationalität der evidenzbasierten Medizin gegenüber einer supernaturalistischen, magischen, von Geistern und Dämonen bestimmten Religion betone, setze sie das Sekundärziel Gesundheit an die Stelle des primären Transzendenzbezugs. Mit Ignatius von Loyola können wir diesen primären Transzendenzbezug „Geschöpflichkeit“ nennen, der alle vorletzten Ziele untergeordnet sind: Wir sollen also nicht unsererseits mehr wollen: Gesundheit als Krankheit, Reichtum als Armut, Ehre als Ehrlosigkeit, langes Leben als kurzes; und genauso folglich in allem sonst, indem wir allein wünschen und wählen, was uns mehr zu dem Ziel hinführt, zu dem wir geschaffen sind (Spirituelle Exerzitien 21).
Mit Tillich und gegen diese säkulare Religionsauffassung wollen die Balbonis Religion nicht substanzialistisch, sondern funktional als „chief affection“ oder (mit Tillich) als „ultimate concern“ auffassen. Nur mit dieser Perspektive lasse sich die Religions-Feindschaft (hostility) der Medizin in „hospitality“ verwandeln, die Spaltung zwischen Immanenz und Transzendenz überwinden. Inkarnation ist der christliche Weg, um das „Erscheinen“ des transzendenten Gottes in der Immanenz zu denken. Für Levinas’ vom jüdischen Weg geprägte Philosophie ist es der solidarische Gott, der mit den Leidenden leidet. Kenosis heißt Entäußerung, Verborgenheit: Im leidenden Menschen, so Levinas, ist der Allerhöchste verborgen. Aber auch Gebet, Klage, spirituelle Suche des kranken Menschen sind nicht bloße Bedürfniserfüllung durch sich selbst oder durch die
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Spiritual-Care-Providers. Über diese Bedürfnisse und deren immanente Erfüllung hinaus hat der spirituell suchende Mensch ein Begehren (desiderium), das sich gegenüber der Transzendenz öffnet (Frick & Baumann 2017). Kann man diese Öffnung gegenüber der Transzendenz, also gegenüber dem Jenseits der erfahrbaren Immanenz, als Erfahrung bezeichnen? Schwenke (2018: 16 f) spricht vom subversiven Potenzial, wodurch transzendente Erfahrungen das vertraute, wissenschaftsgeprägte Weltbild infrage stellen. Denn transzendente Erfahrungen erzeugen kognitive Spannungen und machen die Fragmentarität menschlichen Wissens deutlich. Sie stören den epistemischen Hegemonieanspruch der modernen Wissenschaft, weil sie von Welten und Dimensionen des menschlichen Lebens sprechen, die den Wissenschaften anscheinend nicht zugänglich sind. Sie stellen auch religiöse und auf ihnen beruhende Autorität infrage, weil sie individuelle Offenbarungen transportieren könnten, die in Konkurrenz zur herrschenden Offenbarung […] treten können.
III Kenosis in der Sprache Das Religionssystem verfügt über eigene sprachliche Codes, die sich mit der dichterischen Sprache überschneiden, in der beschreibenden und feststellenden Alltags- und Wissenschaftssprache jedoch weitgehend fehlen. Gott ist kein Ding unserer Lebenswelt, ontologisch und anti-realistisch gewendet: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“ (Bonhoeffer 1929/1956: 112): Referieren Ausdrücke wie ‚Gott‘ oder ‚Schöpfer der Welt‘ auf ein unabhängig von uns existierendes transzendentes Wesen (wenn es denn existiert)? Religionsphilosophische Antirealisten halten die typisch religionsphilosophische Frage, ob es Gott gibt oder nicht, für grundsätzlich falsch gestellt. Religiöse Sätze seien nicht Tatsachenbehauptungen, sondern ermöglichten es, in einer bestimmten Weise über das Leben im Ganzen nachzudenken und eine bestimmte Einstellung zum Leben und zur Wirklichkeit im Ganzen auszudrücken. Religiöse Handlungen wie Gebete richteten sich nicht auf ein transzendentes Wesen, sondern seien Ausdruck einer hoffnungsvollen Haltung zur Wirklichkeit, die sich in bestimmten Handlungsweisen auswirke (Wiertz 2017: 835).
In der Sprache finden sich Spuren solcher Ausdrucksweisen, etwa in expressiven Interjektionen (Ausrufe- und Empfindungswörtern) wie „O je“ oder „O Gott“, die floskelhaft in Belastungssituationen verwendet werden, ohne dass deren religiöse Herkunft den Sprechenden bewusst ist. Wegen des Verbots, den Namen Gottes missbräuchlich oder gar als Fluch zu gebrauchen (am deutlichsten in der Bibel Israels), bildeten sich zu dem Stoßseufzer „Ach Gott“ Ersatzformeln: „(Gott) o Gott“, „ach du meine Güte“, „my goodness“ (Röhrich 1991: 571).
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Floskelhaft und damit sprachfähiger wird das Wort „Gott“ auch durch das verniedlichende, oft ironisch gebrauchte Attribut „lieb“. So antwortet ein christlicher Politiker auf die Frage, ob er sein Amt auch jenseits der 70 auszuüben gedenke, dies hänge „vom lieben Gott und meiner Frau“ ab. „Der liebe Gott“, Synonym für das post-christliche „Schicksal“ (Frick 2015) ist der breiten Öffentlichkeit und Wählerschaft offenbar eher zumutbar als Gott selbst, den der Mensch oftmals eher als verborgener oder gar böser erlebt denn als lieber. Auch als Vokativ kann „der liebe Gott“ im Munde geführt werden – die ursprüngliche Anrufung wird bei dieser Interjektion nicht mehr mitgehört: Ja, du lieber Gott – es war nicht mehr ‚ihre Zeit‘ – das Mädel klingelte fröhlich mit der Radfahrklingel und hatte Hosen an, Großmama fiel in Ohnmacht, das Rad schwirrte schon in weiter Ferne, Großmama wachte wieder auf … und alles ging weiter (Tucholsky 1923/2000: 2875).
Sprachwissenschaftlich lässt sich der Weg der Interjektionalisierung von der lexikalischen Grundlage einer sekundären Interjektion zur primären, z. B. von der christlichen Anrufung oh (mein) Jesus zu Jesses, Jesses Gott, oje nachvollziehen (Nübling 2001). Bei genauem Hinschauen ist die Interjektion Oh Gott! (noch) lexikalisch transparent und potenziell motivierbar im Sinne einer Anrufung oder eines Stoßgebetes. Vgl. Gysi (2017): Ältere Menschen warne ich gern davor, sich nur noch über Krankheiten zu unterhalten. Denn die Folge dessen besteht – weiß Gott – nicht darin, dass man gesünder wird.
Faktisch werden die Sprechenden bei religiösen Interjektionen oft nicht (bewusst) an Gott denken (Nübling 2004). Ein prominentes Beispiel für individuell und kollektiv verblasste, unbewusst gewordene religiöse Anrufungen ist die spanische Konjunktion ¡ojalá!, mit der Wunschsätze beginnen. Sie leitet sich vom arabischen law sha’a Allah („wenn Gott will“) ab. Über den andalusischen Islam geriet sie ins Spanische, überstand die Reconquista und gehört bis heute auch in Amerika zur spanischen Umgangssprache, von der Südspitze Chiles bis nach Kalifornien. Was geschieht, wenn Gott verballhornt, interjektionalisiert wird? Im gewöhnlichen Lebensgefühl außerhalb des Religionssystems kommt Gott nicht vor: Gott ist eine Ausdrucksgewohnheit für das Außergewöhnliche, für das Wunder, für Glück und Unglück. Gewöhnlich versuchen wir, ohne ihn auszukommen. Gewöhnlich verläuft das Leben zwischen Glück und Unglück. Aber dann passiert etwas: o Gott! Verborgen in den Ereignissen taucht er auf. Er ist das Ereignis schlechthin, er passiert, er geht vorüber. So durchkreuzt er die Welt der Gewohnheit. Gott nehmen wir als den Herrn der Ereignisse. Unvermeidlich verballhornen wir ihn, machen ihn menschlich und gewöhnlich: zum Herrn,
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zum Vater und Sohn, zu einer Person mit Stimme. Gott wird Mensch, gewöhnlich. Aber er durchbricht damit das Gewöhnliche. Es wird Ereignis. Gott zeigt sich im Gewöhnlichen, aber darin verborgen als ungewöhnlich. Er zeigt sich in der Verballhornung und Interjektion. Seine Ankunft ist Störung. Er kommt dazwischen als das Außergewöhnliche, Unwahrscheinliche, aber in der Gestalt der Alltäglichkeit. Er ist der ganz Andere (Levinas) in der Weise des Nichtanderen (Cusanus) (Böhringer 2010: 107 f).
Eine zweifache Bewegung: Einerseits bricht der nicht alltägliche, außergewöhnliche Gott, der „für gewöhnlich“ der im Gewöhnlichen verborgene ist, überraschend in den Alltag ein, was sich in der plötzlichen Anrufung (Stoßgebet, Stoßseufzer, Interjektion) zeigt. Andererseits verblasst diese Anrufung, wird interjektionalisiert, sodass der besondere, ausdrückliche Gottesbezug auf das Alltägliche eingeebnet wird: Man muss wetten, sagt Pascal. Zum Wagnis gezwungen fluchten wir uns wieder in die Sicherheit des Gewohnten. So schleicht sich Gott mit Ogottogott und Ojemine in die Gewohnheit ein. Gott ist Gewohnheit und Ereignis, das, was die Gewohnheit passiert, durchkreuzt, unterbricht und als Interjektion wieder Gewohnheit wird. Gewöhnlich werden aber heißt wiederum alltäglich, menschlich werden. Indem Gott Mensch wird, braucht er keinen Artikel mehr. Die Menschwerdung ist das Verbindungsglied (Artikel) geworden. Gott wird eine ansprechbare Person: mein Gott (Böhringer 2010: 109).
Kenosis heißt, in Anlehnung an den Philipperbrief gesprochen, dass Gott „nicht daran festhält“, etwas Besonderes, Bestimm- oder Definierbares zu sein. Die biblische Tradition bewahrt die Unaussprechlichkeit der Besonderheit Gottes dadurch, dass der Gottesname JHWH nicht ausgesprochen bzw. umschrieben wird. So wird deutlich, dass Gott in der Sprache vorkommt, jedoch kein Objekt ist (das vergegenständlicht werden könnte), sondern gegenüber unseren Tendenzen zur Objektivierung verborgen. Der Gegensatz zwischen dem offenbaren und gepredigten Gott einerseits und dem verborgenen (deus absconditus) andererseits ist ein wichtiger Inhalt der Theologie Martin Luthers (Jüngel 1972/1980). Wenn nun Gott außerhalb des religiösen Sprachspiels nicht mehr gepredigt und seine Offenbarkeit unbewusst wird, so bleibt allein der Bezug zum verborgenen Gott, zur Kenosis. Plessner (1969/ 2003) hat dies anthropologisch als Signatur des heutigen Menschen umgedeutet. Die kenotische Problematik kehrt in der Sprache wieder: „Unbestimmtheit“ heißt auch, dass eine Sprache fehlt, den Transzendenzbezug, das Vertrauen auf Gott, das Hadern mit ihm, das Klagen auszudrücken. Vielleicht drücken die verblassten religiösen Interjektionen diese Unbestimmtheit ebenso stark aus wie das Befremden, das die religiöse Sprache bei vielen Zeitgenossen auslöst.
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IV Konsequenzen für Spiritual Care In einer frühen, auf Litauisch abgefassten Arbeit charakterisiert Levinas (1933/ 2014) die Unterschiede zwischen französischer und deutscher Geistigkeit, und zwar im imposanten Rahmen von Thomas Manns „Zauberberg“. Die deutsche, jüdisch-christlich geprägte Tradition wird durch den konvertierten Juden und Jesuiten Naphta vertreten, der sich nicht darauf beschränkt, gegen den Zauber des Berges zu kämpfen, dem er die Disziplin der Kirche entgegensetzt, sondern mehr noch die zutiefst verhasste französisch-lateinische Kultur bekämpft. Diese Tradition wird durch Settembrini, einen italienischen Journalisten und Freimaurer, vertreten. Er ist ein Mann der Vernunft, diszipliniert. Ein wahrer Schüler von Descartes, der glaubt, dass der Geist den Leib kontrollieren kann, und der biologischen und sozialen Krankheiten keinerlei Sinn unterlegt. Er glaubt, dass die Krankheit durch das Licht der reinen Vernunft überwunden werden muss (85 f).
In Settembrinis Rationalismus begegnen wir der Skepsis gegenüber einer Psychologisierung der Sinnsuche in manchen Spiritual-Care-Konzepten wieder. Naphta hingegen steht für einen religiös normierten und damit bestimmbar gemachten Entwurf von Spiritualität. In der Forschung messen wir Bedürfnisse – spiritual needs – und auch in der klinischen Praxis gehen wir auf derartige Bedürfnisse mit möglichst großer Patientenzentrierung ein. Wir sind uns – hoffentlich – der problematischen Grenzen dieses Messens und Intervenierens bewusst. Der Sprachgebrauch zeigt einiges, z. B. das Binom „Religion/Spiritualität“, das die Begriffsentwicklung offenhält, um keinen unserer Patientinnen und Patienten, aber auch niemanden von den Caregivers aus religiösem oder anti-religiösem Übereifer auszugrenzen. Auf der anderen Seite darf die Gefahr, Spiritual Care zur „Stopfgans“ (Heller & Heller) zu machen, nicht übersehen werden. „Gestopft“ wird dann nämlich nicht nur hinsichtlich begrifflicher Unterschiede, sondern auch hinsichtlich differierender Wertorientierung von kranken Menschen und deren Begleitpersonen. Luhmanns binäre Codierung immanent/transzendent führte uns zur Auffassung der Transzendenz als des Unbestimmten schlechthin, dem wir mit Unwissen oder auch mit Staunen, Ehrfurcht und Respekt begegnen.Wir kamen zu der Frage, wie wir angemessen mit dem Unbestimmten umgehen. Es besteht die Gefahr „zu großer Bestimmtheit“, und zwar in allen Berufsgruppen: So können das ärztliche und Pflegepersonal zu bestimmt mit spirituellen Bedürfnissen umgehen, nach dem Schema der Evidence Based Medicine. Umgekehrt lassen vernünftige Seelsorgende schon seit langem Geduld und Zurückhaltung walten, bevor sie über den
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kranken Menschen den sakramentalen Salbtopf oder das Füllhorn frommer Sprüche ausgießen. Wir kamen zur Problematisierung des Religionsbegriffs, den manche Theologen dem Spiritualitätsbegriff gegenüberstellen, um das Proprium christlicher Seelsorge zu schützen und vor dilettantischer Verwässerung zu bewahren. Nun enthält der Spiritualitätsbegriff, z. B. in der historischen Gestalt der nouvelle spiritualité (Peng-Keller 2014), in der Tat „antireligiöse“ Momente im Sinne einer Betonung des individuell mystischen Weges gegenüber institutionellen und rituellen Vorgaben. Die Spaltung zwischen dem Religions- und dem Spiritualitätsbegriff, z. B. im Sinne einer naturalistischen „Spiritualität der Immanenz“ verdeckt jedoch die religiösen Ursprünge westlicher Medizin und die religiösen Bezüge der säkularen Gesellschaft und ihrer Sprache (Balboni & Balboni 2019). Fasst man, inspiriert durch Levinas, Spiritualität als kenotische Seite der Religion auf, dann ergibt sich auch ein neuer Blick auf „religiöse“, „religionsfreie“ (Oberholzer et al. 2018), insgesamt spirituell suchende Patienten und Mitarbeitende. Wir sehen Religion dann nicht nur als institutionelle, mit Bestimmtheit auftretende Bekräftigung der Transzendenz, sondern auch in ihren verborgenen, entäußerten Gestalten. In Bezug auf Macht und Ethik kann Kenosis unter den Gestalten von De-Institutionalisierung und Säkularisierung verstanden werden (Vattimo 2002/2004; Jobin 2010, 2011). Umgekehrt wird der Bezug vielfältiger, in religiöser Hinsicht oft amorpher oder eklektischer Sinnsuche zu religiösen Traditionen deutlicher, z. B. in der Orientierung an Meistern, Lehrern, Gurus. Das Zueinander von Bestimmtheit und Unbestimmtheit zeigt sich in der mehr oder minder großen Sprachfähigkeit, in der mehr oder minder großen Anschlussfähigkeit der individuellen spirituellen Suche an bestehende Diskurse.Wir sind und bleiben im emic-etic-Dilemma (Frick 2017), zwischen dem hochindividuellen Verständnis der spirituellen Suche der einzelnen Person einerseits und der unaufgebbaren wissenschaftlichen und institutionellen Universalisierung andererseits. Traugott Roser hat für den emic-Pol der Unbestimmtheit das Diktum geprägt: „Spiritualität ist genau – und ausschließlich – das, was der Patient dafür hält“ (Roser 2011: 47). Die Beiträge des vorliegenden Bandes stellen dem emic-Aspekt der Subjektivität des einzelnen Patienten den etic-Aspekt des philosophischen Diskurses an die Seite. Auch mitten in der leidvollen Einschnürung durch die Krankheit weitet die spirituelle Selbst-Transzendenz über die Individualität hinaus: Eine wesentliche, für ‚Spiritualität‘ wohl notwendige, Bedingung ist die Anerkennung von Transzendenz, in dem Sinn, dass eine spirituelle Person ihren Blickwinkel über die eigene momentane Befindlichkeit und Bedürfnisstruktur hinaus ausdehnt auf das eigene Leben im Ganzen und das Ganze der Wirklichkeit, deren Teil sie ist (Wiertz 2017: 822).
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Ein Mindestmaß an Objektivität, Bewusstheit und Reflektiertheit ist Wiertz zufolge ein Aspekt der Beachtung der Transzendenz. Dagegen kann eingewandt werden, dass der Transzendenzbegriff auch ohne religiös-spirituelle Referenz verwendet werden und deshalb den Spiritualitätsbegriff nicht hinreichend bestimmen kann (Wendel 2017). Jedenfalls kommt nach Wiertz der Philosophie in diesem Zusammenhang eine kritische Funktion zu. Spiritualität sei nicht von der Wahrheitsfrage abzukoppeln (s. den Beitrag von Sans in diesem Band), dies ergebe „[…] sich aus ihrem transzendierenden Charakter, dem Versuch der eigenen beschränkten Wünsche und Perspektiven hin auf eine der Realität angemessene Haltung“ (Wiertz 2017: 833). Was Wiertz bezüglich der analytischen Religionsphilosophie fordert, gilt wohl für jegliche philosophische Reflexion über Spiritualität: Sie leistet, […] gerade indem sie auf die präzise und argumentativ begründete Behandlung systematischer Fragen im Zusammenhang mit religiös-weltanschaulichen Positionen beharrt, der Spiritualität einen wichtigen Dienst. Obwohl selbst keine geistliche Übung, ist sie als ‚norma negativa‘ eine wichtige Hilfe für eine authentische und nicht subjektiv-willkürliche Spiritualität (Wiertz 2017: 834).
Kenosis ist der komplementäre Begriff zu Transzendenz, unabhängig davon, ob man als Realist von der Existenz Gottes ausgeht oder eine anti-realistische Position vertritt. „Kenosis“, Entäußerung, gebraucht der Philipperbrief in seinem Bekenntnis zu Jesus dem Christus. Manche nennen ihn einen „Religionsstifter“. E. Levinas hat den Rabbi von Nazaret wohl in tieferer Weise verstanden.
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Spiritual Care als Bewährungsprobe einer spirituellen Seelsorge Crossing boundaries Spiritual Care as a practical test of spiritually oriented pastoral care Zusammenfassung: Ausgehend vom Bericht über die Heilung der zehn Aussätzigen (Lk 17,11 – 19), verortet am Rande einer antiken Grenzstraße, weist der Beitrag auf Spiritual Care als Grenzbereich hin und skizziert die Bedeutung spiritueller Seelsorge als Spiritual Care zwischen Wahrung von Grenzen und Grenzüberschreitung. Schlüsselwörter: Die zehn Aussätzigen (Lk 17,11– 19), Grenzen, Spiritualität, Seelsorge, Spiritual Care Abstract: Based on the story of “The Cleansing of the Ten Lepers” (Lk 17,11– 19), having taken place on the margins of an antique border road, this article refers to spiritual care as a boundary realm. It highlights the importance of pastoral care within the spiritual care domain of respecting boundaries, while at the same time transcending them. Keywords: Ten Lepers (Lk 17:11– 19), boundaries, spirituality, pastoral care, spiritual care Erlauben Sie mir, dass ich meinen Beitrag aus seelsorglicher Perspektive mit einer biblischen Betrachtung beginne. Ich beziehe mich dabei auf die Wundererzählung der Heilung der zehn Aussätzigen (Lk 17,11– 19). Der Evangelist Lukas schildert diese Geschichte, wie von zehn Geheilten am Ende lediglich einer zurückkommt, sich ausdrücklich bei Jesus bedankt, anbetend niederfällt und Gott lobt und preist. Dieser eine verbindet also seinen Dank für die Hilfe und Unterstützung mit einer explizit religiösen Handlungsweise. Bei den anderen neun stellt Jesus die offene und meines Erachtens keineswegs rhetorische Frage: Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben als nur dieser Fremde?
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1 Die Matrix einer Heilungsgeschichte Die Geschichte positioniert der Evangelist Lukas bewusst in mehrfacher Weise in Grenzbereiche:
1.1 Physisches Grenzgebiet Eine Grenz-Überschreitung bildet den Ausgangspunkt: Jesus zieht von Lk 3 bis Lk 19 durch drei politisch differente Gebiete: Galiläa, Samarien und Judäa. Der Neutestamentler François Bovon stellt sich vor, dass der Evangelist Jesus entlang einer antiken Grenzstraße gehen lässt. Ziel seines Weges ist Jerusalem. Jetzt befindet er sich in ‚irgendeinem Dorf‘ (V. 12). Statt eines Ortes beschreibt Lukas das Grenzgebiet zwischen Samaria und Galiläa als Grenze zwischen Ethnien und Religionen. Jesus geht durch das Grenzgebiet hindurch (wörtlich διήρχετο). Er begegnet dabei Menschen, deren Zugehörigkeit nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Einer davon ist ein ‚Fremdstämmiger‘ (V. 18), dessen Verhalten die ethnischen Grenzen transzendiert und von dem Glauben zeugt, der in der Anlage des lukanischen Doppelwerkes (Evangelium und Apostelgeschichte) alle Grenzen sprengen und auf die ganze Erde ausstrahlen wird.
1.2 Soziale Grenzbestimmungen Lukas behandelt die Aussätzigen als Gruppe ohne individuelle Merkmale – heute würden wir sagen: als Patientenkollektiv. Sie werden über ihre Krankheit identifiziert (‚Aussätzige‘), aus der Perspektive der Gesunden ihrer Zeit. In den Leprakolonien spielten Volkszugehörigkeit, Einkommens- oder sozialer Status keine Rolle (vgl. Craddock 1990: 230) – ganz ähnlich wie im heutigen Gesundheitssystem (abgesehen von der Unterscheidung zwischen Privat- und Kassenpatienten). Die Betroffenen wurden mit der Entdeckung der Krankheit in einer rituellen Form, einer Beerdigung nicht unähnlich, aus der Gemeinschaft der Gesunden / Lebenden ausgeschlossen und hielten sich von da an ohne soziale Unterschiede in Kohorten an Orten auf, wo sie aus gebotener Distanz die ‚Lebenden‘ um einen Erweis ihres Erbarmens anflehen konnten. Diesen Grenzraum durchschreitet Jesus, und zwar sowohl als idealer Arzt (als Heiler) wie als Repräsentant des Gottesglaubens (als Heil Verkündigender). Zunächst hält auch Jesus die gebotenen Grenzen ein: anders als sonst kommt es zu keiner körperlichen Berührung. Jesus gebietet den Geheilten, sich – wie es
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die Schrift verlangt (Lev 14,1– 32) – den Priestern zu zeigen. Auf diesem Weg vollzieht sich das Wunder nicht als individuelle Gesundung, sondern als ‚Resozialisierung‘. Die Bewährungsprobe für die körperliche Gesundung ist also die einer religiös bestätigten Wiederaufnahme in die soziale Gemeinschaft der Lebenden. Begleitung und Betreuung erfolgen damit im Rahmen definierter Regeln. Anders formuliert: auch die Begegnung des idealtypischen Arztes und Seelsorgers Jesus ist Bestandteil einer Regelversorgung, wohl auch deshalb, damit im Grenzgebiet zwischen Kranken und Gesunden, Toten und Lebendigen keine Unklarheit bestehen bleibt, die den Geheilten zum Nachteil gereichen könnte.
1.3 Spirituelle Entgrenzung Lukas durchbricht aber dann diese Regeln, indem er einen aus dem Kollektiv löst und seine innere Bewegung angesichts des äußerlichen Geschehens schildert: Sehen / Erkennen, Umkehren und Expression. „Als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder …“ (V. 15). Das leibliche Geschehen erschließt innerpsychisches Geschehen: Erst jetzt bezeichnet ihn Lukas als Samariter, also einen, der außerhalb der Konfessionsgemeinschaft steht. Und jetzt (V. 19) wendet sich Jesus direkt an ihn mit der Aufforderung, aufzustehen und zu gehen. Dem Aufrichten kommt die Funktion zu, den Geheilten „in den Stand zu setzen, ein heiles Leben […] zu leben. Selbständig […] Ein Akt der Positionierung also“ (Huizing 1996: 114 f.). Im Prozess einer Individuation wird einer aus der Gruppe durch seine Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und zu leiblich expressiver Dankbarkeit zu einem aufrechten Leben befähigt. Jesus schließt mit der Feststellung: Dein Glaube hat dich geheilt. Sein Glaube eröffnet ihm in überbietender – die körperliche Genesung überschreitende – Weise das Heil im vollen Sinn; er durchbricht und transzendiert Grenzen, aber er zieht eine neue Grenzlinie ein, die individuelle Einstellung zur Person Jesus Christus.
2 Übertragung in Spiritual Care als Grenzbereich Diese Geschichte bietet mir die Folie für eine knappe Skizze meines Verständnisses von spiritueller Seelsorge als Spiritual Care. Ich möchte das bisher Gesagte nicht doppeln, sondern mit ein paar Fragen verbinden, die der notwendigen und kontextbedingten Grenzüberschreitung in der Seelsorge, v. a. in Einrichtungen des Gesundheitswesens gelten.
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2.1 Grenzbereich Gesundheitswesen Krankenhaus- und Altenheimseelsorge erfolgen in einem Bereich, in dem der Gesundheits- wie der Krankheitsbegriff vermeintlich klar bestimmbar sind – durch diagnostische Verfahren und durch kurative Maßnahmen. Der WHO-Gesundheitsbegriff ist aber wesentlich ein komplexer, indem er auf die Gesamtheit physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Wohlbefindens bezogen wird (vgl. dazu Roser 2017: 376 – 382). Der Beitrag, den Seelsorge zum Gesundheitsdiskurs leisten kann, ist es, die theologische Validität des Gesundheitsverständnisses einzubringen. Wenn in der Heilungsgeschichte die Kuration von der vermeintlich rein physischen Krankheit der Bestätigung durch die Religionsbehörde und den Vollzug eines Reinigungsrituals bedarf, heißt dies, dass Gesundung erst dann vollzogen ist, wenn ein Kranker resozialisiert wird, also als Vollbürger in seine Rechte wiedereingesetzt ist und wenn er psychisch und spirituell die Krankheit und Gesundung verarbeitet hat, wozu das Reinigungsritual einst einen zeitgemäßen Beitrag leistete. Das hätte heute andere Formen der Gestaltung, aber das Prinzip ist das Gleiche. Die Seelsorgeszene hat nur sehr verzögert und meist kritisch den WHO-Gesundheitsbegriff rezipiert. Es ist an der Zeit, sich aktiv und konstruktiv an diesen Diskussionen zu beteiligen. Ich verstehe den biblischen Begriff „Schalom“ als das Äquivalent zum Begriff well-being. Und wie Schalom ein religiös sinnhafter und bedeutsamer Gruß ist, ist der Wunsch nach einem umfassenden Wohlbefinden ein auch religiöser Segenswunsch. Auch eine vermeintlich nur auf religiöse Bedürfnisse fokussierte Seelsorge kann physische, psychische und soziale Befindlichkeiten nicht ignorieren, sondern ist um die Teilnahme am Leben im umfassenden (also auch Physisches, Psychisches und Soziales umfassenden) Sinn bemüht. Anders gesagt: Gerade spirituelle Seelsorge bringt immer wieder ganzheitliche Aspekte von Krankheit und Gesundheit ins Gespräch – genauer: in das multiprofessionelle und interdisziplinäre Gespräch, in dem Grenzen verschwimmen, Zuständigkeiten aber zu klären sind. Sich im Grenzbereich zu bewegen, verlangt die Bereitschaft, sich auf das Denken und die Sprache der angrenzenden Gebiete einzustellen. Nur so gelingt es, das eigene Denken und Deuten in andere Bereiche einzutragen. Seelsorge im Rahmen von Spiritual Care hat hier die Aufgabe der Übersetzung religiöser Denkmuster und Traditionen in andere, nichtreligiöse Gebiete. Der Pastoraltheologe und Systemtheoretiker Günther Emlein hat jüngst für die Seelsorge den Begriff „Hybrid“ verwendet: Seelsorge sei ein Hybrid aus theologischer und aus medizinischer Systemzugehörigkeit – „Keines von beiden und doch beides“ (Emlein 2017: 27; vgl. auch Hauschildt 2017).
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2.2 Grenzbereich Versorgung zwischen stationären, teilstationären und ambulanten Strukturen Ganzheitlichkeit lässt sich auch temporal beschreiben, im Sinne von Zeiträumen, oder medizinisch gesprochen: in Krankheitsverläufen (im Englischen als illness trajectories beschrieben). Für Patient/-innen und Angehörige umfasst Krankheit in der Regel Zeiträume und Zeitpunkte: Wartezeiten bis zur Diagnosestellung. Ab einer Diagnosestellung gibt es ein Davor und Danach, Behandlungsphasen, die als Aus-Zeiten vom Alltag erlebt werden (symbolisiert im Terminus „Krankschreibung“ oder im Deutsch des Wirtschaftssystems „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“), als befristeter stationärer Aufenthalt, als genehmigter Reha-Aufenthalt, als vorübergehende Erholung oder dauerhafte Pflege im häuslichen Kontext in ambulanten Versorgungsstrukturen. Angesichts der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der damit verbundenen beschleunigten Ortswechsel befinden sich Patienten und Patientinnen nicht nur in einem Grenzbereich zwischen krank und gesund, sondern sind Nomaden zwischen stationären, teilstationären oder ambulanten Versorgungsstrukturen. Die Seelsorge, wie sie die christlichen Kirchen gegenwärtig anbieten, ist auf diesen Wechsel nicht eingestellt. Sie hält beharrlich an der Unterscheidung zwischen funktionaler und parochialer Seelsorge fest, zwischen Krankenhaus- und Gemeindeseelsorge. Damit bleiben beispielsweise Tageskliniken oder medizinische Zentren, in denen nicht wenige Kranke regelmäßig und wiederholt behandelt werden, ohne seelsorgliches Angebot. Diese Orte mit ihren getakteten Abläufen sind sicher eine Herausforderung an Seelsorgekonzepte – fremdes Terrain eben. Aus Patientenperspektive ist das eine verpasste Gelegenheit, denn an diesen Orten haben Menschen die Möglichkeit sich intensiv, aber auch zeitlich begrenzt, mit ihrer Gesundheit auseinanderzusetzen. Hier wäre mehr möglich und nötig. Hier wäre ein Grenzgebiet, das es zu entdecken und zu begehen gilt. Ein leitender Arzt eines Dialysezentrums im Ruhrgebiet berichtete mir bei einem Vortragsabend davon, dass pro Jahr etwa 30 seiner Patient/-innen sterben, ein beachtlicher Bestandteil von insgesamt 150 Menschen in regelmäßiger Behandlung. Seelsorgepersonal ist dort ebenso wenig präsent wie in vielen onkologischen oder sonstigen Tageskliniken.Wer leistet dort, wo oft über Jahre hinweg Vertrauensbeziehungen wachsen, Spiritual Care – an Patient/-innen und Mitarbeitenden? Für Seelsorge gibt es wegen des DRG-Systems in Akutkrankenhäusern häufig kaum noch Zeitfenster, Patienten aufzusuchen. Das DRG-System hat eine deutliche Verkürzung der Liegezeiten in Krankenhäusern mit sich gebracht. Für Kontakte über die Diagnose- und Interventionshandlungen hinaus gibt es nur wenig Zeitfenster, in denen die Patienten und Patientinnen in der Lage sind, sich auf
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weitere Kontakte einzulassen. Mehrfachbesuche sind längst nicht mehr die Regel. Kein Wunder, dass das Konzept des seelsorglichen Kurzgesprächs ein Bestseller auf dem Poimenikmarkt ist. Ambulante Versorgung ist, insbesondere im Palliativbereich, die bevorzugte Betreuungsform. Spezialisierte Teams besuchen in Zusammenarbeit mit mobilen Pflegediensten und Hausärzten die Kranken und ihre Familien zuhause. Eine Seelsorge, die hier involviert ist, steht vor den gleichen Anforderungen wie Krankenhausseelsorge, bedarf erheblicher Feldkompetenz und Netzwerkfähigkeit. Entsprechend ist es im Bereich Demenzerkrankung oder chronischer Erkrankungen, die für Patient/-innen und ihre Familien oft eine aktive Teilnahme am Gemeindeleben ausschließen (vgl. Kotulek 2017). Seelsorge in ambulanten Konzepten ist nicht einfach Gemeindeseelsorge, sondern ist genötigt, in multiprofessionellen Teams und in einer regionalen Vernetzung zu arbeiten. Hier eignen sich Seelsorgeverbünde, wie sie zumindest im Bereich der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) inzwischen eingerichtet werden konnten. Für mich stellt sich die Herausforderung für eine Seelsorge im Sinne von Spiritual Care wie folgt dar: Wie kann es gelingen, die Expertise der Krankenhausseelsorge in ambulante Versorgungsformen zu übertragen, also von der Krankenhausseelsorge in die Krankenseelsorge im und zu Hause – wo auch immer das aktuell ist? Wie lässt sich die Zusammenarbeit in Seelsorgeregionen strukturieren? Das Konzept von Caring Communities (vgl. Klie 2013) bietet hier Möglichkeiten.
2.3 Spiritual Care als Herausforderung an die Bereitschaft der Seelsorge, von Gott zu reden In der Geschichte von den zehn geheilten Aussätzigen ist es nur Einer – und noch dazu ein Fremder –, der zurückkehrt und Gott preist. Zu ihm, der Gott anders anbetet als die Mehrheitsgesellschaft (und damit auch Jesus), sagt Jesus – übrigens erst am Ende der Begegnung – anerkennend: dein Glaube hat dir geholfen. In der Intention des Evangelisten Lukas ist mit diesem Glauben freilich ein Veränderungsprozess, ein Transformationsprozess gemeint: der Glaube nach der Begegnung mit Jesus Christus ist ein anderer als davor, ein gewandelter. Es steht aber nichts davon im Text, wie sich der Samaritaner danach zu seiner bisherigen Tradition und Kultur hält oder halten wird. Von Konversion ist im Text jedenfalls keine Rede. Spirituelle Seelsorge ist Seelsorge, die in einer bestimmten spirituellen Tradition verwurzelt ist. Das kann ein besonders ausgeprägtes und gepflegtes geistliches Leben des Seelsorgers oder der Seelsorgerin sein. Es kann aber auch
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die konfessionelle Prägung sein, lutherische Theologie des Kreuzes, reformierte Tradition oder die Tradition eines geistlichen Ordens. Dennoch gehört es wesentlich zu Seelsorge – mindestens in der Tradition der Seelsorgebewegung –, dass sie sich entäußert, dass sie aus dem gewohnten und angestammten Traditionsgebiet herausgeht und sich auf Menschen einlässt, ohne diese vorab nach Konfessionszugehörigkeit zu selektieren. Deshalb begegnen Seelsorger/-innen unterschiedlich ausgeprägten Formen von Spiritualität, mit Offenheit und Mut zu Unbestimmtheit. In der Haltung der Erwartung: „Spiritualität ist, was der Patient dafür hält“ (Roser 2017: 407). In der Begegnung geht es auch nicht gleich und auch nicht automatisch um Fragen des Glaubens. In der Regel geht es um die konkrete Situation, um die Krise, um Krankheit und Leben mit der Krankheit, um Sorgen und Nöte, Freuden und Hoffnungen. Wenn in einem von zehn Gesprächen ein Patient oder eine Patientin schließlich den Mund aufmacht und zu einem Gebet ansetzt, vielleicht Gott lobt wie der Samaritaner, dann ist das eine Gelegenheit, mit Erstaunen festzustellen: Glaube hat geholfen. Der Glaube, zu dem der Patient, die Klientin, das Gegenüber vielleicht in der Begegnung erst gefunden hat. Oder den er oder sie wiedergefunden hat. Es ist spannend zu verfolgen, in welcher Weise in Seelsorgegesprächen von Gott gesprochen wird und wer dabei redet. Wenn Seelsorge eine echte Begegnung und der Ort einer Kommunikation des Evangeliums als „Verständigungsbemühung […] über die gegenwärtige Relevanz der christlichen Überlieferung“ (Lange 1968: 20) im Leben von Menschen ist, dann ist die Rede von Gott Sache beider Seiten. Und dann lassen sich Seelsorgende über Gott belehren, wie sich auch ihre Gesprächspartner belehren lassen. Menschen reden im Gespräch mit einer kirchlichen Seelsorgeperson von Gott, aber sie sprechen vielleicht anders von Gott, als dies kirchliche Lehre ist oder als es dem Stand der Theologie entspricht. Dies lässt sich bereits in Hans-Christoph Pipers Standardwerk „Gesprächsanalysen“ von 1973 studieren. Nachdem Piper Gesprächsprotokolle analysiert hat, zieht er zum Schluss des Bandes „Folgerungen“ für das Begreifen von Störungen in der Seelsorgebeziehung: „Es scheint eine der größten Schwierigkeiten für uns zu sein, zu akzeptieren, wenn der andere anders ist als wir selbst und als wir es von ihm erwarten. Unser Selbstbewußtsein wird dadurch gestört. […] In der Regel ist uns die Ursache unseres Ärgers und unserer aggressiven Abwehr im Augenblick des Gesprächs gar nicht bewußt“ (Piper 1994: 117). Jesus lässt sich in der Heilungserzählung nicht durch den Fremden und seine Weise Gott zu loben, irritieren. Eher schon wundert er sich über das Ausbleiben ähnlicher Reaktionen der anderen. Er nimmt aus dieser Begegnung, wie aus vielen seiner Gespräche und Heilungsbegegnungen etwas mit, nämlich, dass
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seine Botschaft nicht an den Grenzen der Mehrheitsreligion Halt macht. Die Begegnung entgrenzt – und findet gerade darin zu ihrer eigenen Spiritualität. Spirituelle Seelsorge ist, so würde ich abschließend sagen, nicht eine Voraussetzung gelingender Seelsorge, sondern ihre Folge, ihre Wirkung. Wir sind im Moment dabei, Fallgeschichten von Seelsorger/-innen der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evangelischen Kirche von Westfalen zu sammeln. Bei einer ersten beobachtenden Auswertung sind wir darauf gestoßen, dass eine der Wirkungen von Seelsorge darin besteht, dass die Seelsorgenden sich selbst als Reifende, Wachsende empfinden, dass ihre eigene Spiritualität durch die Begegnungen nicht nur herausgefordert, sondern auch vertieft, verändert wird. Ein 50jähriger Pfarrer beschreibt dies in einem Bericht so: „Als Pfarrer bin ich wie ein Resonanzkörper, der den Glauben einer Patientin erst zum Klingen und zu Gehör bringt. Sie ist es, die die Musik macht. Aber die Rolle des Resonanzkörpers kann nur der Pfarrer einnehmen.“ Das Resonieren geht aber nicht spurlos an ihm vorüber. Es ergreift ihn. Es ergreift ihn spirituell. Darin besteht seine Bewährungsprobe.
Literatur Bovon F (2001) Das Evangelium nach Lukas. EKK III/3. Zürich/Düsseldorf: Benziger. Craddock FB (1990) Luke. Louisville: John Knox Press. Emlein G (2017) Das Sinnsystem Seelsorge. Eine Studie zur Frage: Wer tut was, wenn man sagt, dass man sich um die Seele sorgt. Göttingen: V&R. Hauschildt E (2017) Seelsorge – Sinnsystem und Hybrid. Günther Emleins neue systemtheoretische Theorie der Seelsorge. Pastoraltheologie 106:152 – 172. Huizing K (1996) Lukas malt Jesus. Ein literarisches Portrait. Düsseldorf: Patmos Klie T (2013) Caring Community. Leitbild für Kirchengemeinden in einer Gesellschaft des langen Lebens? Kirche im ländlichen Raum 03:16 – 21. Kotulek M (2017) Seelsorge für Angehörige von Menschen mit Demenz. Ein Kursmodell. Spiritual Care 6:423 – 426. Lange E (1968) Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit. In: Lange E, Krusche P, Rössler D (Hg.) Predigtstudien Beiheft 1968. 11 – 46. Piper H-C (1994) Gesprächsanalysen. 6. Aufl. Göttingen: V&R. Roser T (2017) Spiritual Care. Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen. Stuttgart: Kohlhammer.
Christiane Stüber
Welchen Beitrag leistet das sokratische Gespräch für Spiritual Care? What can Socratic Dialogue contribute to Spiritual Care? Zusammenfassung: Philosophieren, verstanden als kritisches Denken, und Spiritual Care werden gewöhnlich nicht zusammengedacht. Tatsächlich kann die Praxis des gemeinsamen Philosophierens im Rahmen der ethischen Aus- und Weiterbildung medizinischer Berufsgruppen aber durchaus Spiritual Care-Kompetenzen wie Zuhören, das Bemühen um gegenseitiges Verstehen, die Bereitschaft und Offenheit sich auf neue Gedanken einzulassen und die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen kultivieren und stärken. Der vorliegende Beitrag stellt unter diesem Gesichtspunkt das neo-sokratische Gespräch nach Leonard Nelson und Gustav Heckmann sowie zwei durch das sokratische Gespräch inspirierte Gesprächsformen vor, die in der ethischen Aus- und Weiterbildung medizinischer Berufsgruppen eingesetzt werden können. Schlüsselwörter: Sokratisches Gespräch, Spiritual Care, Ethik, Community of Philosophical Inquiry, Ethische Fallbesprechung Abstract: Philosophy, understood here as critical thinking, and spiritual care are rarely mentioned in the same context. However, practicing critical thinking within the ethics education of medical professionals can enhance their spiritual care competencies such as listening, striving towards mutual understanding and the willingness and openness to engage with new ideas and existential questions. Proceeding from this point of view, this essay describes the method of neo-socratic dialogue developed by Leonard Nelson and Gustav Heckmann. Moreover, it shows how two methods that have been influenced by socratic dialogue can be used in the ethics education of medical professionals, not least for the benefit of spiritual care. Keywords: Socratic Dialogue, Spiritual Care, Ethics, Community of Philosophical Inquiry, Moral Case Deliberation
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1 Was ist ein sokratisches Gespräch? Die sokratische Methode geht in ihren Ursprüngen auf den Sokrates, den uns Platon in seinen philosophischen Dialogen vorstellt, zurück. Dieser Sokrates sucht im Dialog mit einem Gesprächspartner die Antwort auf sich ihm aufdrängende philosophische Fragen, agiert dabei freilich streckenweise recht manipulativ und suggestiv. Was Sokrates aber als seine Hebammenkunst beschreibt, seine didaktische Herangehensweise an die Philosophie, bleibt auch für die modernen Sokratiker wegweisend. Im Dialog Theätet beschreibt Sokrates seine Tätigkeit so: […] ich bringe keine klugen Gedanken hervor. Und was mir schon viele vorgeworfen haben, dass ich nämlich immer nur die anderen frage, selbst aber in keinem Punkt etwas zutage fördere, da ich eben keine Klugheit besäße, so ist dieser Vorwurf berechtigt. Der Grund davon ist folgender. Zum Hebammendienst zwingt mich der Gott, das Gebären dagegen hat er mir vorenthalten. Ich selber bin also auch gar nicht klug und kann auch keinen Fund als Erzeugnis meiner Seele vorweisen. Dagegen lassen einige von denen, die mit mir zusammen sind, anfangs zwar recht wenig Klugheit sehen, aber im Laufe unseres Zusammenseins machen alle, denen es der Gott vergönnt, für sich selbst und auch die anderen überraschende Fortschritte. Und dabei lernen sie offensichtlich nie auch nur irgendetwas bei mir, sondern finden selber viele hervorragende Wahrheiten bei sich heraus und bringen sie hervor (Platon, Theätet 150 c–e).
Das penetrante Nachfragen des Sokrates, durch das die Fehlschlüsse und Irrwege seiner Gesprächspartner ans Licht gebracht und diese zu einem klareren Denken angeregt werden sollen, findet sich bis heute in einigen Ansätzen der sokratischen Gesprächsführung, z. B. bei Oscar Brenifier (Frankreich) und Kristof van Rossem (Belgien). Das unablässige Befragen vorgebrachter Überzeugungen und Urteile und das Verweigern eigener Antworten zwingt den Befragten, seine Gedanken und Urteile immer wieder zu prüfen und zu revidieren. Ein anderer Strang der sokratischen Gesprächsführung wird oft als neo-sokratisch bezeichnet und geht auf den Göttinger Philosophen Leonard Nelson (1882– 1927) sowie seinen Schüler Gustav Heckmann (1898 – 1996) zurück. Nelson gestaltete das sokratische Gespräch von einem Zwiegespräch zu einem Gruppengespräch um. In einem solchen Gruppengespräch wird jeder Teilnehmende zum Argumentationspartner – und somit zur Hebamme – für den anderen. Der Gesprächsleiter nimmt hingegen nur noch indirekt Einfluss auf das Gespräch. Auch bei Nelson und Heckmann bildet eine philosophische Frage den Ausgangspunkt des Gesprächs. Sie kann durch die Gruppe selbst entwickelt oder bereits vorgegeben sein. Wichtig ist, dass sie für alle Teilnehmenden interessant ist. Die Frage muss darüber hinaus so gestellt sein, dass sie durch das Reflektieren
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der Gesprächsteilnehmer über konkrete Erfahrungen, die allen zur Verfügung stehen, beantwortet werden kann. (Klafki 2002: 95). Empirische Fragen scheiden aus, ebenso solche, zu denen die Teilnehmenden keine Erfahrungen besitzen. Der erste Schritt im sokratischen Gespräch besteht darin, dass sich jeder Teilnehmende ein Beispiel überlegt, in dem die Ausgangsfrage für ihn eine Rolle gespielt hat. Dieses Beispiel soll möglichst einfach, selbst erlebt und abgeschlossen sein. Die Gruppe entscheidet dann, welches Beispiel sich am besten für die Beantwortung der Ausgangsfrage eignet. Zur Veranschaulichung: Bei einem Dialog über die Frage „Was bedeutet ‚Neues Tun‘?“ wählte die Gruppe ein Beispiel aus, in dem sich eine Teilnehmerin zum ersten Mal die Haare selbst abgeschnitten hat. (Der entsprechende Dialog fand unter Leitung von Horst Gronke 2017 in Springe bei Hannover statt). Diejenige, deren Beispiel ausgewählt wird, stellt es im Anschluss detailliert vor. Die Gruppe hilft der Beispielgeberin durch Verständnisfragen dabei, ihre Erfahrung so genau wie möglich zu versprachlichen. Überdies wird das Beispiel schriftlich an einer Tafel oder auf Flipcharts fixiert, so dass die Gruppe auch dann, wenn im Gespräch bereits höhere Abstraktionsstufen erreicht wurden, immer wieder an das konkrete Beispiel anknüpfen kann. Das Philosophieren bleibt so durchgehend mit dem Konkreten verbunden. Nachdem über die Nachfragen der Teilnehmenden und die sorgfältige Notation des Beispiels eine gemeinsame Grundlage für das weitere Nachdenken geschaffen wurde, wird ausgehend von der Fragestellung ein erstes situationsbezogenes Urteil getroffen, von dem im weiteren Verlauf des Gesprächs abstrahiert werden kann. Im Dialog über das „Neue Tun“ wurde also gefragt, worin im Beispiel des Haareabscheidens das „Neue Tun“ bestand. Eine erste Antwort lautete: „Neues Tun bestand hier darin, dass A sich die Haare selbst abgeschnitten hat. Eine andere Antwort war: „Neues Tun bestand hier darin, dass A sich allein, nämlich ohne Fachpersonal, eine neue Frisur geschnitten hat.“ Auch hier werden alle Aussagen der Teilnehmenden, alle Ergänzungen und begründeten Revisionen notiert. Ziel ist es, zu Aussagen zu gelangen, denen alle Gesprächsteilnehmer zustimmen können, zunächst nah am konkreten Beispiel, dann schrittweise in Bezug auf abstraktere Aussagen, Regeln oder Prinzipien, die die Ausgangsfrage nicht nur für das konkrete Beispiel, sondern möglichst allgemeingültig beantworten sollen. Dabei müssen die Teilnehmenden jeden Denk- und Begründungsschritt selbst gehen. Der Bezug auf Autoritäten, etwa bestimmte Philosophen, wird abgelehnt. Ein Konsens ist dabei sehr anspruchsvoll. Jeder ist angehalten, einer Aussage erst dann zuzustimmen, wenn er wirklich von ihr überzeugt ist. Solange noch ernsthafte Zweifel bestehen, müssen sie geäußert und untersucht werden. Das Erklären und Begründen von Zweifeln auf Seiten desjenigen, der sie vorbringt und das ernsthafte Bemühen um das Verstehen der vorgebrachten
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Einwände sind für das sokratische Gespräch zentral. Der Gesprächsleiter unterstützt diesen Prozess durch Fragen wie diese: „Wie hast du den Einwand von A verstanden?“ oder „Bist du richtig verstanden worden?“ Erst nach dem Verstehen eines Einwands darf wieder in die Entgegnung gegangen werden. In der Regel darf erst nach dem ernsthaften Bemühen um einen Konsens eine neue Teilfrage, über die auch wieder Einigkeit bestehen muss, verfolgt werden. Dieser kleinschrittige Prozess strapaziert die Geduld der Teilnehmenden bisweilen stark. In der Gruppe, die von einigen Stunden bis zu mehreren Tagen über eine philosophische Frage nachdenkt, kommt es daher gelegentlich zu Spannungen. Gustav Heckmann (2002) hat daher in Ergänzung zum Sachdialog die Figur des Metadialogs in das sokratische Gespräch eingeführt. In einem Metadialog, der möglichst nicht vom Leiter des Sachdialogs geleitet wird, können Spannungen, Unzufriedenheit mit dem Gang des Gesprächs, dem Gesprächsleiter oder den Verhaltensweisen einzelner Teilnehmer zur Sprache gebracht werden. Genauso kann darin natürlich auch die Freude über Gelungenes ausgedrückt werden.
2 Selbsterkenntnis, Selbsttranszendenz und Sinn im sokratischen Gespräch Im Ankündigungstext für die Tagung „Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive“ findet sich folgender Satz: „Jedes Nachdenken über Spiritualität thematisiert die Zusammenhänge von Selbsterkenntnis und Selbsttranszendenz.“ Im sokratischen Gespräch geht es darum, den Teilnehmenden zur Erarbeitung von Einsichten zu verhelfen. Der Weg dahin geht mit Selbsterkenntnis und Selbsttranszendenz einher. Im sokratischen Gespräch gelangen die Teilnehmenden auf unterschiedlichen Ebenen zu Erkenntnissen über sich selbst. Durch die kleinschrittige Auseinandersetzung mit einer philosophischen Frage anhand konkreter Erfahrungen und den daran anknüpfenden Abstraktionsschritten lernen sie zum einen etwas über ihre eigenen Denkmuster. Das geschieht z. B. dann, wenn ihre Aussagen und Urteile von anderen befragt werden.Wenn mein Gegenüber nicht versteht, warum ich eine Aussage für wahr, ein Urteil für richtig halte, muss ich Gründe für meine Aussagen und Urteile angeben. Tue ich das, wird mir bewusst, auf welchen bislang vielleicht versteckten Annahmen und Überzeugungen meine Aussagen und Urteile beruhen. Ich erkenne etwas über mich selbst, zuweilen auch, welche inkonsistenten oder gar widersprüchlichen Überzeugungen ich hege. Auf einer anderen Ebene lernen die Teilnehmenden eines sokratischen Gesprächs etwas darüber, wie geduldig oder ungeduldig sie sind, wie offen oder verschlossen sie
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auf die Argumente anderer reagieren, wie sie mit Verunsicherung umgehen und auf die Frustration reagieren, die sich einstellt, wenn ein Konsens aussichtslos zu sein scheint. Beide Arten der Selbsterkenntnis sind Voraussetzung dafür, über dieses Eigene, also die eigenen Überzeugungen, Meinungen und Haltungen, hinausgehen zu können. Für das Überschreiten bedarf es aber auch einer Motivation. Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir uns so stark mit unseren Überzeugungen identifizieren, dass das Infragestellen derselben oder gar deren Änderung einer Selbstaufgabe gleichzukommen scheint. Die Motivation zum Überschreiten des Eigenen liegt im sokratischen Gespräch in dem gemeinsamen Wunsch der Teilnehmenden der Antwort auf die gestellte Frage näherzukommen – um so wiederum der Wahrheit näher zu kommen. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass sich alle Teilnehmenden für die Ausgangsfrage des Gesprächs interessieren. Die „Erkenntnis der Wahrheit“ wird im sokratischen Gespräch heute nicht mehr als absolut bzw. irrtumsunanfällig gedacht. Dennoch bleibt sie als regulative Idee für die Ausrichtung des Gesprächs und den Umgang der Teilnehmenden miteinander erhalten (Steinkamp & Gordijn 2010: 306), in dem Sinne, dass zusammen der am besten begründete, zweifelsfreiste Konsens angestrebt wird, der in dieser Gruppe und zu diesem Zeitpunkt möglich ist. Erkennt ein Teilnehmer, auf welchen Überzeugungen seine Urteile beruhen, kann er sie angesichts überzeugender Argumente revidieren, weil es ihm nicht darum geht, seine Klugheit zur Schau zu stellen oder seine Überzeugungen zu schützen, sondern darum, die am besten begründete Aussage oder die allgemeingültigste Regel zu finden. Ebenso kann eine Teilnehmende durch ernsthaftes Nachfragen die Argumentation der anderen stärken oder entkräften, nicht weil sie den anderen bloßstellen will, sondern weil sie mit den anderen gemeinsam zu einer möglichst gut begründeten Antwort kommen möchte. Im Dienste dieses gemeinsamen Ziels kann sich ein Teilnehmender auch, wenn er weiß, dass ihm die Gedanken gewöhnlich davonrennen, dazu anhalten, die kleineren und vielleicht sorgfältigeren Schritte eines anderen nachzuvollziehen. Selbsttranszendenz passiert dann, wenn es im Gespräch nicht mehr darum geht, wer das beste Argument gefunden hat, sondern wenn sich die Gruppe durch gemeinschaftliche Mühen im kritischen Denken einem Konsensus nähert. Schon die Mühe darum, das Ringen, das Aushalten unvermeidlicher Frustrationen führen die Gesprächsteilnehmer über die eng gesteckten Grenzen gewöhnlicher Konversationen hinaus. Trotz Spannungen begegnen sich die Gesprächsteilnehmenden in einer gänzlich anderen Form als es im „Gegeneinander“ üblicher Debatten der Fall ist. Bisweilen ergeben sich im Verlauf des Gesprächs Momente, in denen alle Teilnehmenden spüren, dass sich ihre Gedanken mühelos aneinanderfügen und sich ein weiter Raum öffnet, in dem Platz für neue Ideen und
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neues Denken ist. Geschieht das, vielleicht auch nur für Minuten, geht es mit einem tiefen Sinnerleben einher, das für diejenigen, die für den Begriff offen sind, auch als spirituelle Erfahrung gedeutet werden kann.
3 Sokratische Elemente in der Ethikweiterbildung medizinischer Berufsgruppen In der ethischen Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften und Ärzten ist es schwierig, klassische sokratische Gespräche nach dem Paradigma von Nelson und Heckmann zu führen, weil die Gruppen in der Regel zu groß sind, die Zeit zu kurz ist und gerade bei Pflichtveranstaltungen das freiwillige Interesse an einer Frage bei den Teilnehmenden nicht vorausgesetzt werden kann. Elemente der sokratischen Gesprächsführung sollten aber integriert werden, um den Teilnehmenden eigene Einsichten zu ermöglichen und sie dabei zu unterstützen, Haltungen und Fähigkeiten zu kultivieren, die fruchtbaren Gesprächen zugrunde liegen: eine Argumentationsdisziplin, die das Bemühen um gegenseitiges Verstehen einschließt, Geduld sowie die Fähigkeit zur Selbstkritik. Dazu eignen sich zwei sokratisch inspirierte Methoden: Eine von Catherine McCall (2009) ursprünglich für das Philosophieren mit Kindern entwickelte dialogische Form des Philosophierens namens CoPI und die Moral Case Deliberation nach Eite Veening und Menno de Bree (de Bree & Veening 2016). Die Abkürzung CoPI steht für „Community of Philosophical Inquiry „. Angeregt durch einen Stimulus – einen Gegenstand, einen kurzen Text oder ein YouTube Video – formulieren die Teilnehmenden philosophische Fragen. Wie im sokratischen Gespräch nach Nelson und Heckmann soll es sich hierbei um Fragen handeln, die sich allein durch gemeinsames Nachdenken beantworten lassen. Aus den gesammelten Fragen wählt die Moderatorin eine aus. Ein Teilnehmender gibt die erste Antwort. Auf diese kann der nächste Bezug nehmen und zwar nach dieser Struktur: „Ich stimme mit (Name) überein, wenn sie sagt, dass… (formulieren was der andere wahrscheinlich gesagt hat), weil…. (Begründung) Oder: „Ich stimme nicht mit (Name) überein, wenn sie sagt, dass… (formulieren was der andere wahrscheinlich gesagt hat), weil…. (Begründung). Wichtig ist, genau wie im sokratischen Gespräch, dass sich die Teilnehmenden nicht auf Autoritäten berufen, sondern selbstständig denken. Dabei müssen sie
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allerdings nicht ihre eigenen Positionen vertreten. CoPI fordert die Teilnehmenden durch diese spielerische Haltung dazu heraus, ganz verschiedene Thesen und Argumente auszuprobieren. Durch das Fragen, Zuhören und gemeinsame Argumentieren eröffnet sich bei dieser Übung ein breites Diskussionsfeld, in dem mithilfe des Moderators unterschiedliche Argumentationsstränge verfolgt werden können (McCall & Weijers 2017). Wichtiger für die Spiritual Care ist allerdings die Haltung, die durch die vorgegebene Gesprächsstruktur eingeübt wird: Die Teilnehmenden müssen das Argument desjenigen wiedergeben, dem sie zustimmen oder dem sie widersprechen wollen, bevor sie ihre eigene These vorbringen und begründen dürfen. Dadurch wird die Konzentrationsfähigkeit der Beteiligten trainiert und eine Haltung des Zuhörens eingeübt, die sich auf andere Gespräche übertragen lässt. Die zweite sokratisch inspirierte Methode ist die Moral Case Deliberation nach dem Modell von Eite Veening und Menno de Bree (de Bree & Veening 2016). Dabei handelt es sich um eine Form der moderierten ethischen Fallbesprechung. Am Anfang der Besprechung steht das genaue Verstehen des Falls, der diskutiert werden soll. Dafür muss sich jemand bereit erklären, den Fall – mithilfe der Nachfragen der anderen – so genau darzustellen, dass alle Teilnehmenden ein klares Bild der Situation erlangen. Wie das Beispiel im sokratischen Gespräch wird hier der Fall schriftlich und für alle sichtbar fixiert. Im Anschluss wird überlegt, welche Frage in der Fallbesprechung beantwortet werden soll. Diese Frage zielt auf Handlungen ab und soll so konkret wie möglich formuliert werden. Es wird also nicht wie im sokratischen Gespräch gefragt: „Was ist Autonomie?“, sondern z. B.: „Darf ich Frau S. davon abhalten, das Gelände zu verlassen?“ Eine erste Formulierung der Frage erfolgt durch die Fallgeberin. Im Anschluss hilft die Gruppe dabei, die Frage zu konkretisieren oder alternative Fragestellungen zu finden. Nach Auswahl der Frage durch die Fallgeberin wird sie um eine erste intuitive Antwort gebeten und zwar in dieser Form: „Ja, ich muss (soll, darf) X tun“ oder „Nein, ich darf X nicht tun (es ist nicht erlaubt, X zu tun)“. Daran anschließend wird die ausgewählte Frage allen Teilnehmenden vorgelegt. Diese versetzen sich in die Position der Fallgeberin. In kleinen Gruppen werden Argumente für die Pro- und für die Kontraseite gesammelt, also Argumente dafür, dass ich Frau S. davon abhalten darf oder muss, dass Gelände zu verlassen und Argumente dagegen. Haben die Teilnehmenden ihre Argumente auf Flipcharts notiert – auf einer Seite die Proargumente, auf der anderen die Kontraargumente – werden diese auf dem Boden untereinandergelegt und auf beiden Seiten durchnummeriert. Damit wird im Ansatz die Trennung der Argumente von den Personen, die sie hervorbringen, vollzogen. Nach dem Vorlesen aller Argumente und der Klärung etwaiger Verständnisfragen innerhalb der Gruppe, wird das Gespräch mit diesen Fragen in Gang gebracht: Welches Argument überzeugt sie auf der Pro-
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Seite am wenigsten und warum? Welches Argument überzeugt sie am meisten? Warum? Welche Argumente scheinen gleich zu sein? Durch diese Fragen entwickelt sich in der Gruppe eine sachorientierte und konstruktive Diskussion. Die Schlüssigkeit der Argumente wird befragt, Vorschläge zur Verbesserung angedeutet. Es wird wahrgenommen, dass verschiedene Teilnehmende unterschiedliche Verständnisse von Begriffen wie „humanes Sterben“ oder „Zwang“ haben. Im Anschluss an diese Diskussion schreiben die Teilnehmenden ihre Antwort auf die Ausgangsfrage auf und begründen sie mit den Argumenten, die sie in der Diskussion am meisten überzeugt haben. An dieser Stelle notieren sie außerdem, wie sie mit dem stärksten Gegenargument umgehen würden. Abschließend werden einige Antworten vorgetragen. Das letzte Wort hat die Fallgeberin. Infolge der Diskussion, etwa durch das Aufgreifen neuer Gesichtspunkte oder die Einsicht darin, dass eine lang gehegte Überzeugung nach genauerer Untersuchung nicht mehr haltbar ist, ändert die Fallgeberin in manchen Fällen ihre ursprüngliche Position. In anderen Fällen behält sie sie bei, kann sie aber besser begründen und vertreten.
4 Sokratische Gesprächsführung und Spiritual Care Stephanie Bohlen weist in ihrem Beitrag zu diesem Band darauf hin, wie wichtig es für Spiritual Care ist, dass Medizinstudenten lernen, über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Forschung zu reflektieren. Ebenso erhofft sie sich, dass aus diesen Studenten in der Begegnung mit ihren Patienten „Hörende“ werden. Gerade künftige Ärzte und Ärztinnen wollen jedoch möglichst schnell kompetent, seriös und sicher wirken. Reflexion und Zuhören scheinen dabei zu verunsichern (vgl. Bohlen in diesem Band). Zuhören, Reflektieren und der Umgang mit Unsicherheit gehören aber trotz aller Schwierigkeiten zu den Kompetenzen, die in der ethischen Aus- und Weiterbildung für medizinische Berufsgruppen eingeübt werden müssen. Die sokratische Gesprächsführung, sei es nun in der klassischen oder in einer abgewandelten Form, ist dafür geeignet, genau diese Fähigkeiten auszubilden und zu trainieren. Das kommt nicht nur der begründeten Entscheidungsfindung in ethisch problematischen Fällen zugute, sondern stärkt auch die Kompetenz der Professionsangehörigen im Umgang mit den spirituellen Bedürfnissen der Patienten. Lassen sich Studierende oder bereits ausgebildete Ärzte und Pflegekräfte auf ein sokratisch geprägtes Gespräch ein, können sie zu Themen wie „Was bedeutet humanes Sterben“ oder „Unter welchen Umständen darf die Autonomie
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eines Patienten eingeschränkt werden?“ ein klareres Verständnis gewinnen, das ihnen im Handeln Orientierung gibt. Auf dem Weg dahin werden sie aber ebenso angehalten, einander zuzuhören, zu verstehen, Überzeugungen zu versprachlichen, zu reflektieren, zu begründen und zu revidieren. Sie müssen mit Unsicherheiten und Frustrationen umgehen. Diese Haltungen und Fähigkeiten können, wenn sie eingeübt wurden, von den Berufsangehörigen auch in den nichtsokratischen Kontext von Spiritual Care übertragen werden und sie dabei unterstützen, Patienten reflektiert, offen und hörend zu begleiten. Das gemeinsame, autoritätsfreie und in die Tiefe gehende Denken in einem sokratischen Gespräch transzendiert darüber hinaus ein Denken, das gerade in Krankenhäusern zunehmend durch medizinisch-technische, ökonomische und rechtliche Gesichtspunkte dominiert wird. Dadurch öffnet es einen Raum für Überlegungen, die jenseits dieser Rationalitäten stehen und diese auch in Frage stellen: für Spiritualität, für ethische und existentielle Fragen oder das Menschliche in der Medizin.
Literatur De Bree M, Veening E (2016) The 7stage model for facilitating moral case deliberation in health care institutions. Journal international de bioèthique et d‘éthique des sciences 27:161 – 176. Heckmann G (2002) Lenkungsaufgaben des sokratischen Gesprächsleiters. In: Birnbacher D, Krohn D (Hg.) Das sokratische Gespräch. Stuttgart: Reclam. 73 – 91. Klafki W (2002) Heckmanns Beitrag zur Weiterentwicklung des sokratischen Gesprächs. In: Birnbacher D, Krohn D (Hg.) Das sokratische Gespräch. Stuttgart: Reclam. 92 – 105. McCall C (2009) Transforming thinking: Philosophical inquiry in the primary and secondary classroom. New York: Routledge. McCall C, Weijers E (2017) Back to basics: A philosophical analysis of philosophy in philosophy with children. In: Gregory M, Haynes J, Murris K (Hg.) The Routledge International Handbook of Philosophy for Children. New York. 83 – 92. Platon (2002) Theätet. In: Birnbacher D, Krohn D (Hg.) Das sokratische Gespräch. Stuttgart: Reclam. 15 – 20. Steinkamp N, Gordijn B (2010) Ethik in Klinik und Pflegeeinrichtung. Ein Arbeitsbuch. Köln: Luchterland.
Anstelle eines Nachworts
Lydia Maidl, Eckhard Frick
Den inneren Raum beleben. Spirituelle Erfahrung in der Kunsttherapie Interview mit Flora von Spreti Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive zu reflektieren, geschieht auch im Gespräch mit den Künsten, insbesondere im Feld von Spiritual Care. Wo Sprache an ihre Grenzen stößt, kommt sowohl für die Entdeckung und Wahrnehmung als auch für die Gestaltung spiritueller Erfahrung der Kunst zentrale Bedeutung zu. Wir sprachen am 6. März 2019 in München mit der Kunsttherapeutin Prof. h.c. Flora von Spreti. Maidl: Flora, Du bist jetzt selbst krank und aus dem Alltag Deines beruflichen Schaffens gezogen. Die Fragen, die wir mit Dir besprechen wollen, berühren Dich also ganz existenziell. Wie geht es dir mit dieser Veränderung? Mit diesem Perspektivwechsel? von Spreti: Für mich ist es gar nicht so ein Perspektivwechsel. Denn ich denke, das Bewusstsein der eigenen Zerbrechlichkeit, der eigenen Angreifbarkeit, der eigenen äußerlichen Verletzlichkeit steht mir in meinem jetzigen Zustand noch einmal klarer vor Augen. Was sich geändert hat, ist, dass ich jetzt ganz bei mir sein muss, dass ich vieles einfach geschehen lassen muss und nicht mehr so selbstbestimmt handeln kann. Ich muss also manches akzeptieren, das ich freiwillig nie tun würde. Zum Beispiel drei Wochen fast bewegungslos, an Infusionen „gefesselt“ im Bett liegen. Daher freu ich mich umso mehr, dass ihr nun in die Klinik gekommen seid und ich nicht ganz abgeschnitten bin von all dem, was ich in dieser Zeit denke und auch mitteilen möchte. Und dass bei unserem Gespräch nun nicht nur die Schmerzen Thema sind, sondern auch die innere Erweiterung durch diese Erfahrung. Das ist das erste Wunder der Krankheit: Eigentlich gibt es zwei Wirklichkeiten des Erlebens. Damit sind wir bei den großen Themen unseres Lebens, der Spiritualität, aber auch der Kunst. Die eine Wirklichkeit ist die äußere Wirklichkeit des verletzlichen Körpers, und die andere Wirklichkeit ist die Wirklichkeit – wie soll ich’s nennen – der Seele oder der Psyche – einfach von all dem, was uns ursprünglich mitgegeben wurde. Daran zu arbeiten sind wir ein Leben lang gefordert. Und das ist es, was mich an diesem langen Aufenthalt im Krankenhaus so erstaunt: dass dieses Gefühl der inneren Welt stets präsent ist und dass dies nicht verloren gehen kann. https://doi.org/10.1515/9783110638066-023
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Frick: Wie ist das präsent? von Spreti: Es ist präsent, insofern ich zu denken und fühlen vermag, was ich möchte – jenseits der Schmerzen und jenseits der medizinischen Behandlung. Diese Erfahrung hat mich noch einmal darüber nachdenken lassen, was mein therapeutischer Ansatz bei den Patienten ist. Ganz schlicht formuliert ist es das Wissen: du bist mein Bruder oder du bist meine Schwester. Denn wir haben alle einen inneren Bereich, egal ob jemand in der Psychiatrie ist, egal wie krank jemand ist. Es gibt einen inneren Bereich, in dem wir uns begegnen können. Nicht an der äußeren Krankheit hänge ich, sondern an dem, was wie ein – ich sag es jetzt einmal so – wie ein goldener innerer Raum in uns stets präsent ist. Den zu bewahren sind wir natürlich auch gefordert. Wir müssen sorgsam schauen, dass unser inneres Gold nicht zu brüchig wird oder gar seinen Glanz verliert, so dass es nicht mehr zu spüren ist. Daran anzuknüpfen und nicht anzuknüpfen an einer psychischen oder somatischen Krankheit, das, so finde ich, ist das erfahrene Wunder des Krankseins. Zu diesem inneren Glänzen, das ein Patient vielleicht im Augenblick der Bedrohung, z. B. einer schweren psychischen Erkrankung verloren hat oder das ihm nicht mehr zugänglich ist, dorthin sollte sich der Therapeut mutig durchrudern. Ja, wie im wilden Meer, wenn jemand weiß, dass da noch ein Schiff, ein Boot ist, das zu erreichen sich auf jeden Fall lohnt. Das ist mir über meine Erkrankung jetzt so klar geworden wie vorher noch nicht. Es ist immer gut, wenn es ein Beispiel in einem selber gibt, so dass man etwas nicht als Theorie, sondern aus eigener Erfahrung verkündet. Maidl: Du hast die Metapher verwendet vom „Sich-durchrudern“ zu diesem inneren Kern … Hast du das in deiner therapeutischen Arbeit so erfahren? Von Spreti: Die Kunsttherapeuten haben etwas Merkwürdiges an sich. Sie haben zuerst die Praxis, und dann kommt die Theorie. Ich kann die Theorie jetzt formulieren, in der Behandlung konnte ich sie kaum denken, nur erspüren. Da habe ich gehandelt und den konkreten Anforderungen einer therapeutischen Person entsprochen. Doch letztendlich habe ich das, was den Kern einer Person ausgemacht hat, diesen Kern, von dem ich behaupte, er ist unverletzlich, den hab’ ich gespürt und darauf hab’ ich auch die Patienten angesprochen. Ich glaube, dass dies auch der Erfolg war. Jeder Therapeut braucht ein Handwerkszeug. Bei einem ist es die Philosophie. Bei den anderen ist es die Psychoanalyse. Bei wieder anderen ist es, sagen wir, die Pädagogik. Doch mein Handwerkszeug war immer die Bildende Kunst. Sich darauf zu besinnen, mit meinem Handwerkszeug psychisch Kranken „näher zu rudern“ und in ihnen vielleicht dieses Feuer all dessen, was sie auch in der schwersten Krankheit behalten haben, über die künstlerische Tätig-
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keit zu erreichen, das habe ich gespürt, aber eigentlich nicht so ausdrücken können. Frick: Also der Kern, der unzerstörbare Kern als Ort der Begegnung, ich finde das gut formuliert. Auch das Kostbare: der goldene Raum. Von Spreti: Ja, es kommt mir immer wie ein goldener Schein im Inneren vor. Da ja die Kunst mein Metier ist, habe ich voller Leidenschaft versucht, in diesen Zugang – so wie der Mediziner die Nadel legt, wo die heilende Infusion kommt – die Kunst zu infundieren. Weil ich wusste, dass dieses meditative Tun sehr viele heilsame Momente hat. Das Wort „Heilen“ benutze ich freilich nicht. Heilen kann der Mensch den anderen Menschen nicht. Da braucht’s eine andere Dimension des Zusammenspiels. Ja. Das war die Kunst und die Begeisterung der Kunst und die Vielfältigkeit dessen, was eigentlich Kunst ausmacht, diese Bilder, die direkt aus dem Inneren kommen. Das zu vermitteln und dem Patienten an diesem heilen Ort zu begegnen, das war in meiner Begleitung immer mein Wunsch und mein Ziel. Das ist mir bei vielen auch gelungen, bei manchen hat man keinen Erfolg. Maidl: Begegnung in diesem unzerstörbaren Kern: Wie geschieht da Begegnung? Von Spreti: Es ist ein Augenblick der unmittelbaren Begegnung mit der inneren Welt des Patienten, die sich – so erlebe ich das – mit einem unbewussten inneren Wissen des Kunsttherapeuten verbindet. Das ist erst einmal nichts Therapeutisches, sondern es ist etwas unmittelbar „Erkennendes“, was da zwischen zwei Menschen unvermutet entsteht. Das ist ein intuitives Geschehen und bedarf erst einmal keiner therapeutischen Methoden, obwohl sich ein erfahrener Therapeut in der Behandlung seiner Patienten auf jeden Fall „methodensicher“ zeigen sollte. Doch auch in der intuitiv-verstehenden Begegnung ist ein reflexives Überdenken des Geschehens immer mit dabei. Aber in der zwischenmenschlichen Beziehung gibt es in diesem Moment etwas, das manchmal ein unerwartetes Drittes zwischen Patient und Therapeut erschafft. Das ist eine der tiefsten Erfahrungen in der Therapie, wenn für einen Moment – und ich betone, für einen Moment – die Grenzen zwischen dem Du und dem Ich durchlässig werden… Dass die Struktur als stabile Basis dennoch gehalten werden muss, ist selbstverständlich. In der Kunsttherapie genügt manchmal der gemeinsame Blick von Patient und Therapeut auf das, was der kranke Mensch gestaltet hat. Das schafft häufig eine unmittelbar verstehende Kommunikation ohne Worte. Das bedeutet auch, dass die Aussage des Bildes in all dem, was der Patient – oft auch für den Therapeuten – gestaltete, eine tiefe Wahrheit besitzt, die – so glaube ich – genau aus diesem kostbaren inneren Kern entspringt. Worte können verfremden, und sie behindern
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manchmal auch den Blick auf die inneren Erfahrungswelten des Kranken. Sie sind teilweise Schutz vor der manchmal schwer aushaltbaren Intensität eines Blickes – also eine Abwehr des Therapeuten vor dem Aushalten und dem Zulassen einer tiefen inneren Resonanz. Dann geschieht die Flucht in eine den Kranken teilweise überfordernden verbalen Kommunikation. Aber die vorsprachliche Aussage eines Bildes – einer Skulptur – ist der gemeinsame Begegnungsort. Dorthin muss ich mich nicht furchtbar verbal „durchrudern“, sondern der Patient hat die Größe und das Vertrauen, mir zu zeigen, was da tief in seinem Inneren verborgen – geschützt – lebt. Das ist etwas, was immer tief berührt! Denn indem er mir sein Bild zeigt, zeigt er mir auch sein Innerstes. Und das ist das Wunder… Maidl: Flora, Du sagst, indem Du z. B. mit einer Patientin oder einem Patienten auf sein Bild schaust, kann sich dieser Moment eines tiefen Verstehens ereignen. Würdest Du das auch ein spirituelles Geschehen nennen? Von Spreti: Ja, unbedingt – das empfinde ich als das Wunder dieses Augenblickes – es fühlt sich so an, als entstehe eine dritte Dimension zwischen dem Bild, dem Maler des Werkes, der Kunsttherapeutin und dem Betrachter. Maidl: Und dazu braucht es keine Worte. Die Worte würden sogar stören? Von Spreti: So ungefähr habe ich es vielleicht ausgedrückt. Dass der Patient sich sehr ungeschützt in seinem Bild zeigt, ist ein großes Vertrauen dem Therapeuten gegenüber. Wenn manchmal Kollegen aus dem Team meinen, dass der Maler zur Täuschung über seinen augenblicklichen gesundheitlichen Stand ein zu positives Bild gestaltet habe, ist auch das eine Botschaft. Wenn eine solche Bildgestaltung wirklich entstehen sollte, zeigt sie z. B., wieviel Angst der Kranke hat, seinen augenblicklichen Zustand darzustellen. Oder er träumt sich in seiner Gestaltung an einen Sehnsuchtsort, den er in seinem Leiden so schmerzlich vermisst. Das bildnerische Werk ist immer der Botschafter, der um ein tieferes Verstehen dieses kranken Menschen wirbt. Frick: Also die Aussage des Bildes selbst ist die Botschaft, nicht erst die Interpretation?. Von Spreti: Genau so ist es. Frick: Das ist sehr wichtig.
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Von Spreti: Da bin ich für manche Kollegen geradezu ein Feindbild. Ich bin die absolute Gegnerin der besserwisserischen Haltung mancher, die dem Patienten so rasch mitteilen müssen, was sie oder er als Malender mit seiner Darstellung habe aussagen wollen. Ich glaube, so etwas dient hauptsächlich der Entlastung des Therapeuten von belastenden Bildinhalten. Ein Therapeut sollte hier einfach als „container“ dienen, wie Bion das nennt. Das Schwere wird zur Entlastung des Patienten kommentarlos erst einmal mitgetragen. Frick: Du bist Gegnerin, weil du nicht interpretierst? Weil Du die Kunst als solche gelten lässt? Von Spreti: Weil ich sie als solche gelten lasse. Ich kann sagen, wie es mich berührt, welche Gefühle in mir aufkommen, welche Erinnerungen. Da ich gut abgegrenzt bin – ich muss nicht mit dem Patienten zusammenfließen – kann ich ziemlich weit gehen. Ich kann dann auch sagen: „Vielleicht ist es so, und ich könnte mir vorstellen, dass es für Sie wichtig war, dieses oder jenes so auszudrücken. Aber lassen Sie sich von mir nicht überreden, wenn es für Sie etwas ganz anderes bedeutet. Vielleicht ist diese Sichtweise wirklich nur die meine und hat mit Ihnen kaum etwas zu tun.“ Frick: Eine Resonanz. Von Spreti: Das kann Resonanz genannt werden. Den Patienten auch die Freiheit zu lassen, zu mir zu sagen: „Sie reden jetzt vollkommenen Schwachsinn.“ Darauf könnte ich z. B. antworten „Dann ist das, was ich gemeint habe, also für Sie jetzt ‚Schwachsinn‘. Aber was wäre das denn für Sie, wenn Sie zu Ihrem Bild etwas sagen würden?“ Und schwupp ist die Brücke geschlagen: Ich muss nicht mehr reden, sondern der Patient spricht. Maidl: Es ist ein Impuls, dem Eigenen noch einmal nachzuspüren. Von Spreti: Ja. Und nicht: Ich sage, was ich jetzt im Bild sehe und wie es dem Patienten damit geht oder warum er das gemalt hat. Sondern ich sage, wie es mir geht. Das hat auch mit dem zu tun, was ich vorhin gesagt habe: einander nicht auf der Ebene der äußeren Struktur zu begegnen, der therapeutischen Dyade Patient – Therapeut, sondern in einer inneren Begegnung. Maidl: Und dabei stellt sich die Frage, wieviel du von dir zeigst.
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Von Spreti: Wenn man als Therapeut gelernt hat, eine gute Reflexionsfähigkeit zu entwickeln, kann man die Grenze soweit ziehen, wie es dem Patienten bekömmlich ist. Dann gerät man nicht in Gefahr, jemanden zu benutzen und Eigenes auf den Patienten abzuladen. Von sich selbst zu erzählen, muss stets im Dienste des Patienten stehen. Eigene Gefühle, die Phantasie oder auch die eigene Berührtheit in Bezug auf die Gestaltung darf keinesfalls beharrend sein, sondern immer nur „schwebend“ und reflektiert. Was dazu kommt in dieser Art von therapeutischem Spiel, sind die Bilder, diese inneren Phantasien, mit deren Hilfe man sich plötzlich in ganz anderen Bereichen wiederfindet. Für das kurze „Mitgehen“ sind gerade Patienten mit psychotischen Störungen dankbar, dafür, dass man sie anders erkennt und nicht nur verhaltenstherapeutisch schult, wie z. B. dass der Baum ja nun wirklich nicht fünfhundert Wurzeln unter und über der Erde haben kann oder tausend Blüten und Früchte zugleich und Frühlings- und Herbstblätter … aber warum eigentlich nicht? Denn das ist die Wirklichkeit, die Realität des Kranken. Maidl: Du hast für das Innere des Menschen die Metapher vom goldenen Kern verwendet. Ist das etwas, was du farblich oder auch motivisch in den Bildern findest? Von Spreti: Wenn ich einen ganz psychotischen Menschen habe, eine schizophrene Psychose oder eine affektive Psychose, also Schwerstdepressive, dann passiert da etwas ganz Komisches: Es gibt ja immer in der Kunsttherapie so kleine Kästlein, wo allerlei drin ist. Ich habe immer kleine goldene Kugeln, kleine goldene Plättchen. Wenn ich merke, jetzt kommt dieses Versinken, das schwierige Zerfallen der schizophrenen Störung, dieser entsetzlich dunkle Brei der Depression, da greift meine Hand zum Kästchen. Ich lass den Patienten nicht aussuchen – das geht in dem Zustand gar nicht -, sondern ich greife häufig zu den kleinen goldenen Kugeln oder Plättchen, leg’ eines neben das Bild und sage aber nichts dazu. Dann werden die Patienten oft wie die Elstern, die das Blinken sehen, und legen das Gold mitten in ihr Bild. So, das ist eine therapeutische Intervention, die – glaube ich – auch etwas sehr Haltendes und Strukturierendes hat. Maidl: Du bietest Dein inneres Bild vom inneren Kern dem Patienten an. Frick: Schön ist das Anbieten, das Haptische. Der oder die andere kann das nehmen oder … Von Spreti: Oder auch nicht. Frick: Oder auch nicht. Natürlich. In Verbindung bringen oder an die Seite tun.
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Von Spreti: Noch etwas ist wichtig. Jedes Bild, das bescheidenste Bild, das verwirrendste Bild, auch das grausamste Bild trägt das nächste Bild in sich. Da ist es ganz wichtig für den Therapeuten, den eigenen inneren Raum aufzusuchen und sich zu fragen: Welches Bild erzeugt das Bild des Patienten in mir? Nicht, welche Gedanken. Die Interventionen finden daher auf der Bildebene statt. Ich sehe, was dieses Bild braucht, und das ist meiner Überzeugung nach das, was der Patient braucht. Die Interventionen beschränken sich auf diese kleine gestalterische Intervention im Bild. Was kann das sein? Das kann kompositorisch etwas sein, z. B. die Grenze. Es kann sein, dass die Lebensfarbe vielleicht fehlt. Da ziehe ich auch Künstler zu Rate und sage: „Ach, da gibt’s den und den, der hat da so ganz Ähnliches aus der Intuition gemalt. Das ist jetzt nicht Ihrem Bild ähnlich, aber mich erinnert das jetzt. Ich zeig’s Ihnen mal und hole es oder ich beschreibe es Ihnen.“ Das ist die Intervention. Wenn die Patienten es annehmen können, dann haben sie einen weiteren Schritt verstanden, den sie machen können. Der Bildraum ist der Begegnungsraum. Maidl: Durch Deinen inneren Raum, den Du zur Verfügung stellst, bist Du stellvertretend. Und Du gehst in einen Prozess. Darin bist du antizipatorisch: Du schaust, wo geht’s hin, und nimmst dieses vorweg. Dieses Antizipatorische erlebe ich auch im Hospiz: Die Mitarbeitenden vermitteln, dass dieser Weg des Sterbens lebbar ist. Dies schenkt Mut und Orientierung. – Was mich auch bewegt, ist die Frage, inwieweit psychisch kranke Menschen bisweilen nahe an existenziellen Fragen sind. Wo ist Krankheit und wo ist ein tiefes Erfassen und Erahnen von Wirklichkeit? Von Spreti: Das ist ein dünnes Eis. Das würde ich nicht unbedingt betreten. Ich betrachte diesen Menschen als ein Wesen in Schichten: Die äußere Wirklichkeit ist in dieser Situation die Ummantelung der Krankheit, seine momentane Empfindlichkeit. Ich hatte auch Patienten, die die Phantasie hatten, mit Gott in Verbindung zu stehen. Hier zeigt sich eine spirituelle Sehnsucht. Doch dahinter gibt es auch eine Lebenssehnsucht, die Sehnsucht, nicht nur von Gott, sondern auch vom Mitmenschen gehalten und gesehen zu werden. Nur birgt die spirituelle Phantasie oft auch das Tödliche; es beinhaltet oft auch den Suizid aufgrund der Vorstellung: Ich kann ja noch zu meinem Schöpfer gehen.Wenn ich mir das Leben nehme, dann nimmt er mich auf. Das, so sagt man, ist wohl die tiefste Regression bis ins Vorgeburtliche. Frick: Lebenssehnsucht. Spirituelle Sehnsucht. Kannst du das noch ein bisschen anschaulicher machen?
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Von Spreti: Die spirituelle Sehnsucht ist vielleicht die Sehnsucht, wieder zu dem eigenen inneren, festen Kern zu kommen. Das ist etwas Spirituelles. Dieser innere, unzerstörbare Kern, den wir von irgendwoher bekommen haben, hat eine tiefe Präsenz, eine Kraft, die mir persönlich in manchen schweren Situationen des Lebens durch den künstlerischen Prozess das Verstehen geschenkt hat. Frick: Das Schöpferische. Von Spreti: Das Schöpferische. Ja, es ist eine schöpferische Kraft, die mir das geschenkt hat. Das ist überhaupt die größte Motivation, die unsere Lebenskraft antreibt und immer wieder auch auflädt in Zeiten der Schwäche. Das ist etwas, was ich immer, immer weiter versuche, in mir zu entdecken und so in Kontakt mit dem Schöpferischen zu bleiben. Zweifellos eine spirituelle Ebene. Das Wort „spirituell“ ist mir aber irgendwann so suspekt geworden, weil es für alles stehen musste, was jetzt nicht gerade die alltäglichen Verrichtungen betraf – von Bachblüten bis Baghwan –, so dass sich ein ziemlich unangenehmer Odeur an diesen Begriff heftete. Frick: Es war eine Banalisierung da. Von Spreti: Ich wünschte mir, es würde doch jemand ein anderes Wort dafür erfinden. Gibt es denn nicht einen anderen Begriff? Frick: Jetzt haben wir ja dieses Wort „schöpferisch“ und „geschaffen sein“. – Du hast gesprochen von dieser spirituellen Sehnsucht und dann noch von der Lebenssehnsucht und diese beiden Sehnsüchte gegenübergestellt. Von Spreti: Ja. Die Lebenssehnsucht besteht vielleicht darin, die Aufgabe, die mir gestellt worden ist, zu leben, wahrzunehmen und mich ihr nicht zu entziehen. Entsprechend vielleicht auch den Patienten wieder anzuregen zu diesen Möglichkeiten, sich im Leben zurechtzufinden, und diese Suche zu unterstützen – durch die Augenblicke der Freude, des sich Wohlfühlens. Ich muss in der Therapie nicht immer entsetzliche Dinge aufdecken – davon erzählen die Menschen von selbst –, sondern ich kann einfach vertrauen, dass die Augenblicke, in denen die Patienten sich geborgen fühlen, eine neue, freudige Dimension des Lebens in ihnen erwecken können. Wenn ich zwei Stunden Zeit habe jeden Tag und mich vertiefe in ein Blatt Papier mit meinen eigenen Mal-Materialien, vertiefe ich mich auch in mich selbst, vertiefe ich mich in die Welt, eine Welt, die nicht nur zu tun hat mit Hass, mit Krankheit, mit all dem, was mich auch teilweise ausmacht,
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sondern ich vertiefe mich auch in das, was trotz aller Destruktion in mir und im äußeren Leben immer heil bleibt. Maidl: Liebe Flora, wir danken Dir für diesen Einblick in Dein Denken und Deine Arbeitsweise.
Autorinnen und Autoren Reinhard Blank Studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in München. Von 1990 bis 1998 Aufbau und Leitung der Schule für Gestaltung sfg in Ravensburg, seither als freischaffender Künstler und Designer tätig. Schwerpunkte sind: Philosophische Grundlagenfragen in der Idee der konkreten Kunst; Malerei und Skulptur; Kunst- und Designaufträge in privaten, öffentlichen und sakralen Räumen; japanische Teezeremonie und Spiritualität. Veröffentlichungen: (2001) Katalog‚ Reinhard Blank, Minimalsysteme der Selbstreferenz – Malerei im interkulturellen Dialog. Hg. Galerie Riedmiller, Memmingen. (2005) Ausstellungsbeteiligung und Katalogbeitrag, in: Experiment Konkret, Eugen Gomringer zum 80sten Geburtstag. Hg. Museum für Konkrete Kunst und Design, Ingolstadt. (2019) Teezeremonie und spiritueller Raum – Überlegungen zu Wahrnehmungsformen von Transzendenz. In: Spiritual Care 8:67 – 75. Stephanie Bohlen, Prof. Dr. theol. Studierte Katholische Theologie und Germanistik in Mainz und Freiburg. Professorin für theologisch-philosophische Anthropologie und angewandte Ethik an der Katholischen Hochschule Freiburg; Privatdozentin der Katholischen Fakultät der Universität Freiburg mit Schwerpunkt Religionsphilosophie; Arbeitsschwerpunkte: Grundfragen der Religionsphilosophie, Ethik und Spiritualität im Sozial- und Gesundheitswesen; Menschenbilder des 20. und 21. Jahrhunderts. Ausgewählte Publikationen: (2003) Geschöpflichkeit und Freiheit: ein Zugang zum Schöpfungsgedanken im Ausgang von der kritischen Philosophie Kants, Berlin: Duncker & Humblot. (2006) Im Mittelpunkt: der Mensch. In: Krockauer R / Bohlen S / Lehner M (Hg.): Theologie und Soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München: Kösel, 302 – 309. (2007) Professionalität und Barmherzigkeit in der Sozialen Arbeit, in: Kösler E u. a. (Hg.): Arbeit an den Grenzen. Zur Professionalisierung von Sozial- und Gesundheitsberufen, Konstanz: Hartung-Gorre, 50 – 57. (2017) Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession. Zum professionellen Umgang mit Macht und Ohnmacht, in: Soziale Arbeit 66: 256 – 262. Luis Fernando Cardona Suárez, Prof. Dr. phil. Studierte Philosophie in Bogotá und München. Philosophische Promotion Pontificia Universidad Javeriana, Bogotá, Kolumbien. Professor für Philosophie an der Pontificia Universidad Javeriana. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik, Philosophie der Religion, Theodizee, Geschichte der Deutschen Idealismus, Philosophische Anthropologie, Hermeneutik und Phänomenologie. Ausgewählte Publikationen: (2002) Inversión de los principios. La relación entre libertad y mal en Schelling. Granada: Editorial Comares. (2012) Dolor en la armonía. La justificación leibniziana del sufrimiento. Granada: Editorial Comares. (2013) Mal y sufrimiento humano. Un acercamiento filosófico a un problema clásico. Bogotá: Pontificia Universidad Javeriana. (Hg.) (2014) Filosofía y dolor. Hacia la autocomprensión de lo humano. Bogotá: Pontificia Universidad Javeriana. (Hg.) (2016) Totalitarismo y paranoia. Lecturas de nuestra situación cultural. Bogotá: Pontificia Universidad Javeriana. Alicia Natali Chamorro Muñoz, Prof. Dr. phil. Studierte Philosophie und Literatur in Bogotá und Berlin. Philosophische Promotion Pontificia Universidad Javeriana, Bogotá, Kolumbien. Professorin für Philosophie an der UIS Universidad
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Autorinnen und Autoren
Industrial de Santander. Ausgewählte Publikationen: (2003) Casa no-velada. Un análisis de la novelística de H. Rojas Herazo. Bogotá: USTA. (2009) Entre compensación y disponibilidad: a proposito de ciertos temas de la condición humana en Arendt y Marquard. In: Analisis 74: 129 – 141. (2016) Dialéctica de sentido. Las posibilidades del escepticismo ante el poder totalitario. In: Cardona F (Hg.) Totalitarismo y paranoia. Lecturas de nuestra situación cultural. Bogotá: Pontificia Universidad Javeriana. 251 – 279. Éric Charmetant SJ, Assoz. Prof. Dr. phil. Studierte Informatik und künstliche Intelligenz (Dipl. Ing. ENSTA-ParisTech), katholische Theologie (Sacrae Theologiae Licentiatus, Centre Sèvres, Paris) und Philosophie (Dr. phil., Universität Paris I – Panthéon-Sorbonne). Assoziierter Professor für Philosophie und Bioethik (Neurowissenschaften/Künstliche Intelligenz) am Centre Sèvres – Facultés jésuites de Paris. Forschungsschwerpunkte: Evolutionäre Ethik, Neuroethik, Leib-Seele-Problem, Tiefenökologie, Naturphilosophie. Ausgewählte Publikationen: (2018) La pensée catholique sur l’animal. In: F. Revol (ed.) Penser l’écologie dans la tradition catholique. Genève: Labor et Fides, 277 – 290. (2018) Neuroéthique: histoire, actualité et prospective. In: Transversalités (2018/3), 45 – 58. (2013) Darwin and Ethics. In: Michael Ruse (ed.), The Cambridge Encyclopedia of Darwin and Evolutionary Thought, Cambridge: Cambridge University Press, 188 – 194. (2012) Ecologie et christianisme: les chantiers de l’avenir. Paris: Mediasèvres. Eckhard Frick SJ, Prof. Dr. med. Studierte Medizin, Theologie und Philosophie. 1986 Eintritt in die Gesellschaft Jesu, 1992 Ordination. Psychiater und Psychoanalytiker (C.G. Jung). Professor für Anthropologische Psychologie an der Hochschule für Philosophie und für Spiritual Care an der Technischen Universität München (www.spiritualcare.de). Schriftleiter der Zeitschrift Spiritual Care, erster Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (www.iggs-online.org). Arbeitsschwerpunkte: Spirituelle Aspekte der Psychoanalyse, Implementierung von Spiritual Care in Institutionen, Anthropologische Grundlagen der Medizin. Ausgewählte Publikationen: (2017) Boothe B & Frick E, Spiritual Care. Über das Leben und Sterben. Zürich: Orell Füssli. (2018) Frick E et al., Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie. Göttingen: V&R; (2019) Frick E et al., Psychoanalyse in technischer Gesellschaft. Streitbare Thesen. Göttingen: V&R. Matthias Friedl, Dipl.-Theol., M.A. Studierte Theologie und Philosophie in München und Frankfurt. Seit 2006 als Seelsorger im kirchlichen Dienst, beschäftigt sich mit der philosophischen Reflexion auf Spiritualität, der spirituellen Suche des Menschen und Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Pastoral. Santiago García Mourelo, Prof. Dr. theol. Studierte Theologie in Madrid. 1999 Eintritt in die Salesianer Don Boscos, 2008 Ordination. Professor für Christentum und Sozialethik, Theologische Synthese an der Universidad Pontificia Comillas (Madrid), und Pädagogik des Glaubens an der Universidad Pontificia de Salamanca. Forscher an die Réseau de Recherche Adolphe Gesché an der Université Catholique de Louvain seit 2013. Arbeitsschwerpunkte: Fundamentaltheologie, Mystik und Spiritualität, Evangelisierung.
Autorinnen und Autoren
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Ausgewählte Publikationen: (2013) El Credo. Madrid: CCS. (2014) El „problema místico‟ en Maurice Blondel. Últimas aportaciones a la investigación. In: Estudios Eclesiásticos 350: 433 – 469. (2017) La monstratio theologica de Adolphe Gesché. Inspiración teológico-fundamental de su obra. In: Estudios Eclesiásticos 360: 3 – 32. (2017) Maurice Blondel y la filosofía de la acción. In: Facies Domini 8: 139 – 159. Michael Huppertz, Dr. phil. Dipl. Soz. Studium der Soziologie, Philosophie und Medizin an der FU Berlin. Promotion in Philosophie an der TU Darmstadt 1999. 1984 – 1991 Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie, verschiedene psychotherapeutische Ausbildungen, seit 1997 Arbeit mit achtsamkeitsbasierter Psychotherapie. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Weiterentwicklung der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie und Beratung, Mental Health in Ländern ohne relevante psychiatrische Versorgung. Buchveröffentlichungen: (2009) Achtsamkeit – Befreiung zur Gegenwart. Paderborn: Jungfermann. (2015) Achtsamkeitsübungen. Paderborn: Jungfermann. (2015) Achtsamkeit in der Natur. Paderborn: Jungfermann. Aufsätze (als download auf: http://www.mihuppertz.de/texte-zum-download/): (2018) Der Wert der Gefühle – Achtsamkeit und Emotionsregulation. (2016) Erleuchtung – Erlebnis und Einsicht. Zur Struktur von Erleuchtungserfahrungen aus Sicht der Phänomenologie und der Kognitionswissenschaft. (2007) Spirituelle Atmosphären u. a. Homepages: www.mihuppertz.de, www.ag-achtsamkeit.org, www.mental-health-and-humanrights.org, E-Mail: [email protected]. Stephan Lipke SJ Studierte Philosophie und Theologie, 2002 zum Priester geweiht, 2006 in den Jesuitenorden eingetreten. Seit 2011 in Russland tätig in Schule, Pfarrseelsorge und Hochschule, verteidigte 2017 seine Dissertation über die Anthropologie der Prosa Anton Tschechows (2019 veröffentlicht). Daneben weitere Veröffentlichungen zur philosophischen Anthropologie und zur russischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts. Seit 2018 am St.-Thomas-Institut in Moskau. Lydia Maidl, Prof. Dr. theol. Studierte Theologie, Philosophie und Latein in München und Rom. Professorin für Fundamentaltheologie an der LMU München; Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung der Katholischen Hochschule Freiburg und an der Hochschule für Philosophie München mit Schwerpunkt Spiritual Care. Arbeitsschwerpunkte: Anthropologie der Spiritualität, Christliche Spiritualitäten, Religion und Kunst, Erinnerung und Geschichte; Entwicklung von E-Learning-Angeboten zu Spiritual Care. Ausgewählte Publikationen: (1994) Desiderii interpres. Genese und Grundstruktur der Gebetstheologie des Thomas von Aquin. Paderborn: Schöningh. (Hg.) (2007) Katholikinnen im 20. Jahrhundert. Bilder, Rollen, Aufgaben, Münster: LIT. (2018) Implizite Spiritualität. Spiritual Care in Resonanz mit der menschlichen Sehnsucht. In: Spiritual Care 7: 365 – 375. (2019) Spirituelle Biografie. In: Spiritual Care 8: 227 – 229. Zusammen mit Eckhard Frick: Online-Kurse: Spiritual Care – Emergency Care – Palliative Care (https://ilearn.th-deg.de/course/view.php? id=6314). ReSpirCare. Religiöse und Spirituelle Ressourcen in der Traumaverarbeitung nach Flucht und Migration (https://open.vhb.org/blocks/ildmetaselect/detailpage.php?id=112)
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Autorinnen und Autoren
Olivia Mitscherlich-Schönherr, Dr. phil. Studierte Philosophie, Neuere und Neueste Geschichte in Tübingen, Paris, Bochum und Berlin. Dozentin für Philosophische Anthropologie unter besonderer Berücksichtigung der Grenzfragen menschlichen Lebens an der Hochschule für Philosophie. Mitherausgeberin (zusammen mit Reiner Anselm und Martin Heinze) der Publikationsreihe „Grenzgänge. Studien in Philosophischer Anthropologie“ im de Gruyter Verlag, Mitglied im Beirat der Helmuth Plessner-Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Philosophie der Liebe, Theorien des Glücks und des gelingenden Lebens mit besonderem Scherpunkt auf den Grenzen des Lebens. Ausgewählte Publikationen: (Hg.) (2019) Grenzgänge. Studien in Philosophischer Anthropologie“, Bd. 1: Zeitgenössische Theorien über gelingendes Sterben in der Diskussion, Berlin: de Gruyter. (2015) Mitscherlich-Schönherr O & Schloßberger M (Hg.), Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd. 5: Die Unergründlichkeit der menschlichen Natur, Berlin: de Gruyter. (Hg.) (2009): Schwerpunkt: Glauben und Wissen. In: DZPhil, Akademie Verlag, 57, 2, 207 – 287. (2007) Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin: Akademie Verlag. Klaus Müller, Prof. Dr. phil. Dr. theol. habil. Geb. 1955 in Regensburg, Studium der Katholischen Theologie und Philosophie in Regensburg, Rom, München und Freiburg. Promotion zum Dr. phil. an der PU Gregoriana 1982; 1984 Priesterweihe Bistum Regensburg; zwölf Jahre Seelsorge in Gemeinde und Justizvollzugsanstalt; Habilitation für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie in Freiburg i.Br. 1994; seit 1996 Professor und Direktor des Seminars für „Philosophische Grundfragen der Theologie“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; derzeit Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Philosophiedozentinnen und -dozenten im Studium der Katholischen Theologie an wissenschaftlichen Hochschulen; Gastprofessuren in Österreich, der Schweiz, in Ghana und im Iran. Kontakt: [email protected]. Ausgewählte Publikationen: (2006) Streit um Gott. Regensburg: Pustet. (2006 – 2010) Glauben – Fragen – Denken. Bde. 1 – 3. Münster: Aschendorff. (2009) Dem Glauben nachdenken. Münster: Aschendorff. (2011) Endlich unsterblich Kevelaer: Butzon&Bercker (2013 – 2015) Gottes ABC. 3 Bde. Münster: Aschendorff. Bruno Niederbacher SJ, Assoz. Prof. Dr. phil. Studierte Philosophie und Theologie. 1989 Eintritt in die Gesellschaft Jesu, 1999 Ordination. Seit 2012 assoziierter Professor am Institut für Christliche Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik und Erkenntnistheorie der Moral, Glaube und Ethik bei Thomas von Aquin, Erkenntnistheorie der Ignatianischen Spiritualität. Ausgewählte Publikationen: (2004) Glaube als Tugend bei Thomas von Aquin. Erkenntnistheoretische und religionsphilosophische Interpretationen. Stuttgart: Kohlhammer. (2012) Erkenntnistheorie moralischer Überzeugungen. Ein Entwurf. Heusenstamm: Ontos. (2012) The Relation of Reason to Faith. In: B Davies, E Stump (eds.) The Oxford Handbook of Aquinas. Oxford: Oxford University Press, 337 – 347. (2013) Emotion und Entscheidung. Erkenntnistheoretische Bemerkungen zur kognitiven Funktion affektiver Zustände in den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 135, 212 – 229. (2018) An Ontological Sketch for Robust Non-Reductive Realists. In: Topoi 37/4, 549 – 559.
Autorinnen und Autoren
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Traugott Roser, Prof. Dr. theol. Evangelischer Pfarrer, Jahrgang 1964, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, München, Neuendettelsau, Gettysburg (USA); Promotion zum Dr. theol. bei Prof. Dr. Trutz Rendtorff, LMU München, Stiftungsprofessur für Spiritual Care an der LMU München gemeinsam mit Prof. Dr. Eckhard Frick SJ. 2013 Berufung zum Professor für Praktische Theologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Ausgewählte Publikationen: (2017) Spiritual Care: Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen, Stuttgart: Kohlhammer. (2015) mit Margit Gratz, Curriculum Spiritualität für ehrenamtliche Hospizbegleitung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (2015) mit Kerstin Lammer, Sebastian Borck, Ingo Habenicht, Menschen stärken. Seelsorge in der evangelischen Kirche, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Susanne Sandherr, Prof. Dr. theol. Studium der Katholischen Theologie, Philosophie, Germanistik und Erziehungswissenschaft in Bonn. Professorin für Systematische Theologie an der Katholischen Stiftungshochschule München. Redakteurin der Zeitschrift „Magnificat. Das Stundenbuch“. Nach Promotionsstudium in Paris Pastorale Mitarbeiterin in der Hochschulpastoral in Karlsruhe, dann Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte in Bonn. Mitglied im Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Arbeitsschwerpunkte: Im Gespräch mit jüdischem Denken des 20. Jahrhunderts; Berührungspunkte von Theologie und Literatur. Aktuelles Forschungsprojekt: „Spiritualität“ in der Philosophie Emmanuel Lévinasʼ. Ausgewählte Publikationen: (1998) Die heimliche Geburt des Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmanuel Lévinas’, Stuttgart: Kohlhammer. (2003) Simone Weil, une philosophie de la force ou Pour une seconde lecture de la condition féminine. In: Simone Weil. La Passion de la Raison. Paris: L’Harmattan, 137 – 155. (2010) In Via. Zur Stelle – Zu Patrick Roths Erzählung „Mulholland Drive: Magdalena am Grab“. In: M. Kopp-Marx (Hg.), Der lebendige Mythos. Das Schreiben von Patrick Roth, Würzburg: Könighausen und Neumann, 345 – 354. Georg Sans SJ, Prof. Dr. phil. Studium der Philosophie und Theologie in Frankfurt Sankt Georgen, Rom und Berlin. Seit 2014 Inhaber des Eugen Eugen-Biser-Stiftungslehrstuhls für Religions- und Subjektphilosophie an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Theologie und klassische deutsche Philosophie. Ausgewählte Publikationen: (2016) Frömmigkeit als unmittelbares Wissen von Gott. Hegel und Schleiermacher. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 113: 156 – 170. (Hg.) (2017) Gottesbilder. Eugen Biser als theologischer Grenzgänger, Freiburg: Herder. (2018) Philosophische Gotteslehre. Eine Einführung, Stuttgart: Kohlhammer. Hans Julius Schneider, Prof. Dr. phil. Geb. 1944, Studium der Philosophie, Germanistik und Anglistik an der FU Berlin, der University of Texas (Austin) und der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsbereiche: Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Religionsphilosophie, Wittgenstein. Em. o. Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Potsdam. Publikationen: Erörterungen seiner philosophischen Arbeiten und eine Bibliographie bis 2010 finden sich in: S Tolksdorf / H Tetens (Hg.): In Sprachspiele verstrickt, oder: Wie man der Flie-
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Autorinnen und Autoren
ge den Ausweg zeigt. Berlin 2010, 561 – 570. Angaben zu späteren Veröffentlichungen auf der Homepage der Universität Potsdam. Patricia Schöllhorn-Gaar, M.A. Studium der Philosophie an der Hochschule für Philosophie München. Von 2018 – 2019 Mitarbeiterin im interreligiösen Dialog im Erzbischöflichen Ordinariat München mit Schwerpunkt Abrahamitische Religionen. Aktuell Promovendin und teaching assitant in Religionsphilosophie an der LMU München. Interessens- und Arbeitsschwerpunkte: Existenzphilosophie, Anthropologie der Spiritualität, Religionsphilosophie und -psychologie, insbesondere Spiritual Turn, Vergleich der Religionen. Christiane Stüber, Dr. phil. Studium der Philosophie in Leipzig, Swansea und Kapstadt. Dozentin für Philosophie, Ethik und Gesprächsführung u. a. an der Evangelischen Hochschule und an der Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit in Dresden. Arbeitsschwerpunkte: Philosophy for Professionals, Sokratische Gesprächsführung. Ausgewählte Publikationen: (2010) Ethics Consultation: Facilitating Reflection on Professional Norms in Medicine. In: Jan Schildmann, John-Stewart Gordon, Jochen Vollmann: Clinical Ethics Consultation, Farnham / Burlington: Ashgate. (2013) Berufsethos im Krankenhaus. Zu den Auswirkungen der Ökonomisierung auf die berufsethischen Orientierungen des medizinischen Personals im Krankenhaus, Stuttgart: ibidem Verlag. Szczepan Urbaniak SJ Studierte Theologie und Philosophie. 2005 Eintritt in die Gesellschaft Jesu, 2017 Ordination. Doktorand der Philosophie an der Jagiellonen-Universität. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, insbesondere neue Phänomenologie in Frankreich, Spiritualität, die Beziehung zwischen Philosophie und Theologie. Flora von Spreti, Prof. h.c. Prof. h. c., Künstlerin (AdBK München), Kunsttherapeutin grad., Ehrenmitglied des Deutschen Fachverbandes für Kunst und Gestaltungstherapie, Ehrenmitglied der Akademie der Bildenden Künste München, Begründerin der Kunsttherapie und langjährige Mitarbeiterin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München, Lehrtätigkeit und Supervisorin an Kunstakademien und Universitäten – Bereich Klinische Kunsttherapie. Ausgewählte Publikationen: (2018) von Spreti F, Martius P, Steger F (Hg) KunstTherapie: Wege – Wirkung – Handwerk. Stuttgart: Schattauer. (2018) Martius P, von Spreti F, Henningsen P (Hg.) Kunsttherapie bei Psychosomatischen Störungen. München: Elsevier 2. Auflage. (2019/ 20) von Spreti F, Rentrop M, Förstl H (Hg.) Kunsttherapie bei Psychischen Störungen München: Elsevier 3. Auflage.
Index Absolut 27 – 31, 36 – 48, 62, 70, 75, 135 – 158, 173 – 185 Achtsamkeit 51 – 61, 223 f., 226 f. Ähnlichkeit 136, 140, 178, 217 – 231 Alltag 12, 51 f., 128 – 150, 161, 174 – 181, 218 – 230, 253 – 259, 287, 289, 299 Alltagserfahrung 51, 127, 129, 139, 279 Altruismus 229 Anamorphose (anamorphosis) 120, 122 – 124 Angemessenheit 189, 195, 197 Angst, existenzielle 55, 58 Anthropologie, philosophische 3 f., 23 f., 32, 35 – 37, 39 – 41, 43, 46, 48, 206, 213 Artikulation 52, 134, 187 f., 192, 195 – 197 Atheismus 31, 37, 43 f., 145, 147 f., 181 f., 205, 207 – 210, 285 Aussätzige 295 f., 300 Authentizität 8, 20, 51, 61 – 64, 151, 174, 282 Begegnung 45, 128, 139, 155 f., 158, 162, 168, 180, 190, 192, 207, 225 – 227, 253, 259, 263, 272 – 274, 297, 300 – 302, 310, 317, 319 Begehren 208, 285, 287 Bekehrung 115, 253, 257, 259 Bewusstheit 33, 57, 61, 292 Bewusstsein 7 – 15, 28 f., 55 – 64, , 105, 107, 146 – 157, 168, 174–-184, 207, 219 f., 227, 270 f. Bild 56, 157 f., 165, 177 f., 193, 197, 205 f., 208, 211, 317 – 321 Defeater 105 desiderium 58 f., 208, 287 Dialog, sokratischer 302 ff Differenz, responsive 133 Du 78, 88, 121 f., 152, 174, 206, 210, 219, 226 – 228, 232, 243, 268, 274, 287 f., 306, 315 – 322 Ehrfurcht
132 f., 168 f., 203, 290
Einheitserfahrung 154 – 156 Einheitserleben 145 Einsicht 22, 37, 41, 51 – 64, 78, 128, 136 f., 165 f., 176, 178 f., 226, 250, 306 Einstellung 20, 53 f., 128, 131, 148, 162, 188 f., 191, 196 f., 217, 219 f., 227, 287, 297 Emotionen 56, 99, 103, 105 – 107, 109, 111 f., 162 Empathie 217 – 222, 228, 231 Endlichkeit 7, 15, 51, 56, 58 f., 62, 64, 71, 78, 147, 181, 270, 275 Energie 88, 93, 147, 222 Entdramatisierung 225 Entzauberung 191 Epistemisch 287 Epoche, postsowjetische 247 Erahnen 321 Erfahrung des Heiligen 130 – 132, 134, 202 Erfahrung, existenzielle 3 f., 10, 14 f., 130 f., 226 Erfahrung, religiöse 20, 127, 130 – 132, 134 f., 139, 177, 187 – 193, 196 f. Erfahrung, spirituelle 51 f., 69, 99, 101, 115, 127 – 141, 145 – 158, 161, 173 – 184, 197, 226 f., 230, 280, 315 Erkenntnis 37, 40, 47, 51, 53, 57, 60, 99, 103, 119, 154, 162, 182, 195 – 197, 267, 307 Erkenntnistheorie 60, 103 – 105 Erlebnis 136, 141, 145 f., 152, 157, 162, 166, 189, 248, 254 Erleuchtung 55, 101, 136, 251 Erwachen 107, 111, 192 f. Erwachsenenreligion 201, 207, 209, 214 Ethik 46, 51, 53 f., 60, 150, 161, 182, 256, 291, 303 Ethos 31, 35 f., 39, 44 – 48 Etwasismus 20 Exerzitien 54, 99, 106, 256, 286 Existenz 3 – 14, 24 – 26, 37, 40, 75 – 78, 136 – 140, 182, 190, 192, 226 – 231, 268 – 270, 275
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Index
Existenzialismus 69, 71 Existenziell 3 – 16, 20 – 33, 43 – 46, 51 – 66, 140, 226 – 230 Fallbesprechung, ethische 303, 309 Familienähnlichkeit 223 Freiheit 5, 69, 76, 78, 166, 206, 210, 220, 226, 252, 256, 319 Gastfreundschaft 201, 211, 214 f. Gefühl 9, 13, 54, 60, 103, 109, 150 – 157, 173 – 185, 187, 189 – 195, 267 – 269 Gegenstand, religiöser 190 Geheimnis 62, 64 f., 76, 132, 135, 137, 203, 285 Geheimnis Gottes 65 Geist 25, 30 f., 59, 71 f., 78, 103, 148 f., 156, 158, 162 – 169, 173 – 175, 177 f., 180 – 182, 184, 210, 251 f., 285, 290 Geistliche Übungen 99, 101 f. Gelassenheit 56, 136 – 138, 150, 220, 224 Geschenk 59, 220 Geschichte 5, 14, 22, 24, 52, 102, 106 f., 129, 134, 187, 194 – 196, 205, 210, 225, 230, 269, 295 – 297, 300 Gespräch, sokratisches 303 f. Gesundheit 9, 12 f., 267 – 269, 286, 298 f. Gesundheitsberufe 263 – 265, 274, 283 Gewissen 51, 61, 177 Glaube, atheistischer 35 Glaube, religiöser 43 Grenzen 6, 21, 37, 40 f., 45, 52, 64, 173, 175, 181, 183, 208, 219, 266, 269 – 271, 273, 275, 290, 295 – 298, 302, 307, 310, 315, 317 Grenzsituation 10, 227 f., 263, 269 – 272, 274 Grenzüberschreitung 295, 297 Haltung 20, 33, 36, 45, 47, 66, 132, 140, 151, 162, 174, 191, 220, 223 – 227, 287, 292, 301, 307 – 309, 311, 318 Handlung, Philosophie der 81 Heiligkeit 81, 201 – 207, 211 – 215 Heimat 23, 27 – 30, 32 Heimatlosigkeit, transzendentale 19, 21 – 23, 27, 29, 31 – 33, 71
Hermeneutik 3 f. Hoffnung 11, 59, 65, 102 f., 135, 149 f., 157, 194, 258, 301 Hören / hörende Medizin 66, 106 f., 110, 209, 212, 223, 230, 263, 273 – 275 Hospiz 321 Identität 7, 10, 219, 226, 229, 263 f., 268, 274 – Identitätsarbeit 268 – Identitätsforschung 268 Ideologie 71, 188, 254 Imagination 66, 99, 103, 105 – 107, 109, 112 Immanenz 64, 155, 212, 279, 282 – 287, 291 Inhaltsebenen 195 Integration 189, 191, 193, 196, 219, 225 f., 245 Intuition 89, 119 – 122, 214, 321 Intuitiv 61, 182, 195, 218, 220, 309, 317 Kenosis 279, 283 – 287, 289, 291 f. Kern 22, 29, 60, 63, 71, 128, 131, 145 – 147, 153, 158, 163, 191, 204, 227, 229, 316 f., 320 f. Kohärenz / Kohärenzgefühl 263, 267 – 269 Kontemplation 63 – ignatianische 99, 101 f. Kontingenz 5, 7, 27, 29 f., 62, 75, 227 Kontrolle 54, 214, 224 f., 247, 252 f., 255 – 258, 282, 284 Kritik 31, 70, 138, 190, 265, 285 Kunst 154, 157, 161, 165, 253, 315 – 317, 319 – Kunsttherapie 315, 317, 320 Lebensqualität 8, 268, 280 Leiblichkeit 3 f., 6, 8 Leib und Körper 6 – 12, 36 – 40, 46, 52, 272 Leid 4, 6, 8, 11, 13, 15, 22, 32, 65, 71, 75, 111, 191, 196, 220 f., 226, 251, 268 – 270, 273 – 275, 282, 285, 318 Liebe 15, 59, 66, 75, 102 f., 135, 137, 149, 152 f., 182, 188, 209, 225 – 227, 249, 279, 288, 322 Literalismus 187 Machtlosigkeit 191 Meditation 53 f., 66, 82, 181, 226, 258
Index
Medizin – hörende 66, 106 f., 110, 209, 212, 223, 230, 263, 273 – 275 – Medizinstudium 263, 265, 274 f. – Menschenbild der Medizin 265 Mentalisierung 218 Metaphysik 25, 36, 140, 149 f., 183, 227 Methode 42, 47, 56, 99, 101 f., 111, 115, 190, 253, 268 f., 271 f., 304, 308 f., 317 Mitgefühl 7, 55, 217 – 223, 231 Mitteilbarkeit 176 Moralische Überzeugungen 105 f. Mystik 56, 81, 134, 140 – Mystik der Kindheit 127, 140 f. Nächstenliebe 105, 107, 224, 226 Narration 222 Offenheit, spirituelle Ökologie 237 Ökosophie 237
35, 38 f., 43, 46
Paarbeziehungen 225 Pädagogik 217, 316 Patient 3, 11, 19 – 21, 33, 43, 66, 94, 131, 194, 221, 273, 290 f., 299 – 301, 310 f., 316 – 322 Pflege 6, 11, 71, 100, 230, 265, 272, 299 Phänomenologie 12, 115, 135, 161 – neue 115 Positionalität 7, 26 f., 40, 44 – exzentrische 4, 25 – 27, 29, 31, 35, 37, 39 – 44, 46 f. Postmoderne 23, 31, 56 Präsenz 21, 51 f., 56, 58, 62, 66, 230, 283, 321 Praxisform 188 Psyche 204, 315 Psychoanalyse 78, 316 Reduktion, phänomenologische 115 Reinigung 70, 254 Relativierung 133 Religion 29 – 32, 54 – 62,, 77, 130 – 139, 173 – 184, 187 – 197, 201 – 214, 248 – 258, 279 – 292 – und Spiritualität 62, 248, 282
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Religionsphilosophie 197, 292 Religiosität 19, 22 f., 29 – 33, 43 f., 264, 266, 268, 284 Retreat 226, 263 Sakralisierung 201, 203 – 205, 207, 213 f. Sakralität 204 f. Säkular 51, 53, 56, 64, 66, 141, 253, 283, 286, 291 Säkularisierung 54 – 56, 64, 205, 291 Salutogenese 264, 267 Schattenseiten 217, 221 f. Schöpferisch 322 Seele 8, 26, 37, 40, 60 f., 77, 102 f., 106, 151 – 154, 156 f., 174, 267, 304, 315 Seelenfünklein 63 Seelsorge 66, 265 f., 269, 280, 291, 295, 297 – 302 Sehnsucht 20, 30, 51 f., 56 – 60, 64 – 66, 137, 141, 250, 263 f., 271 f., 321 f. Selbsterfahrung 180 f., 222, 264 Selbsttranszendenz 266, 268, 306 f. Sexualität 188, 229 Simulationstheorie 108, 219 Sinn – des Lebens 15, 263 f, 174, 269 – des Menschen 9 – des Todes 7 – Entwürfe 20 – findung 222 – frage 14 f, 65, 263 f, 174, 232 ff, 269 ff – für das Unendliche 32 – für Heiliges 202 – krise 222 – losigkeit 148, 280 – 290 – Mangel an 23 – suche 32, 251, 280 – 290 – und Biologie 8 Solidarität 8, 229, 231 Sorge 7 f., 10, 21, 57, 63 f., 136, 155, 169, 193, 201, 207, 214 f., 221, 223, 226, 237, 252, 258, 264 f., 284, 301 Spätmoderne 19 Spiritual Care und – und Grenzsituation 263 ff – und Heimatlosigkeit 19 ff – und Sehnsucht 65, 141, 264
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Index
– und Sinnfrage 65, 264 – und Seelsorge 295 ff – und sokratisches Gespräch 303 ff – und Soziologie 280 ff – Erfahrung von Todesbedrohung und Rekonvaleszenz 100 – Querschnittsaufgabe 274 Spiritualität – atheistische 145 – Charakteristika 52, 127 – 140, 167 – des Miteinander 217, 226 – Kritik der 127 – ohne Gott 148, 173 – 175, 182, 184 – säkulare 51 – 53, 57, 64, 184 – und Religion 62, 248, 282 Sprachlosigkeit 146, 152, 154, 157, 176 Stimmung 109, 187, 189 story 188, 194, 295 Subjektivität 7, 69 f., 76, 173, 176, 182 f., 207 f., 211 f., 222, 231, 291 Suche, spirituelle 19 – 21, 24, 29, 32 f., 127, 129, 140, 226, 279, 283, 286, 291 Synderesis 60 – 63 Teezeremonie, japanische 161, 163, 168 Theismus 145 Theorietheorie 108 Tiefenökologie 237 Toleranz 225 f. Transzendenz / Transzendieren 23, 36, 39, 56, 128 f., 155, 182, 207, 211, 247 – 272, 282 – 287, 290 – 292 Überzeugung – abstrakte 177 – von „etwas Höherem“ 20 – und Emotionen 109 ff – gerechtfertigte 99, 104 – und Gemeinschaft 6 – als Gewissensentscheidung 62 – Glaubensüberzeugung 22, 31, 131 – der Gnade 59 – der Heiligkeit des Lebens 204, 214 – Hintergrundüberzeugung 104 – durch Imagination 105 ff – lebenstragende 100 – modale 105
– moralische 105 f. – religiöse 174 – sokratischer Dialog 306 ff – über affektive Zustände anderer Personen 105 ff – über faktische kontingente Sachverhalte 105 – versteckte 250, 306 – Wahrheit der 179 – Wertüberzeugung 110 Unendlichkeit 31, 44 f., 78, 155, 173, 182, 206 f., 212, 227 Unergründlichkeit, menschliche 35, 38 f., 42 f., 48, 285 Universalismus 231 Unmittelbarkeit 27, 62 f., 70, 135, 207 Unterscheidung der Geister 99, 101 f., 111, 138 Unverständlichkeit 219 Ursprung / Ursprünglichkeit 4, 24, 29, 76, 154, 161, 168 f., 182, 184, 263, 270, 272 – 275 Verantwortung 39, 47 f., 60, 130 f., 201, 210 – 213, 237, 256 f., 263, 265, 273 f., 280 Verborgen 4, 51 f., 58, 61 – 64, 66, 79, 163, 226, 252, 273, 279, 286, 288 f., 291, 318 Verbundenheit 24, 57, 62 – 64, 137 f., 140, 219, 226, 229 f. Verletzlich 9, 201, 208, 211, 315 Vermittlung 40, 70, 135 Vertrauen 59, 64 f., 73, 76, 139 f., 158, 220, 247, 252 f., 256 – 258, 267, 269, 289, 318, 322 Verwundbarkeit 3 – 8, 10 – 12, 14 f., 213 Verzweiflung 59, 69 – 72, 75, 78, 148, 270, 273 Vorstellung 5, 8, 13, 31, 36, 44, 102, 105 – 108, 128, 173 – 179, 183 f., 203, 208, 218, 224 – 226, 321 Wahrheit 53, 61 f., 72, 77, 150, 165 f., 173 – 176, 178 – 187, 194 f., 207, 218, 304, 307, 317 Widerfahrnis 128, 134, 193
Index
Wissenschaft 8, 24, 53, 56 f., 63, 101, 166, 190 f., 193, 253, 271, 275, 284, 287 Wünsche 99, 102 f., 105 – 107, 110 – 112, 152, 155 – 157, 180, 220, 223, 254, 286, 292
Zimzum 209 Zweifel, agnostischer 35, 43 Zweite-Person-Perspektive 20 f. Zwischenmenschlichkeit 220, 224
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