Der Arbeitsmarkt in institutionentheoretischer Perspektive 9783110508581, 9783828203655

Die hohe Arbeitslosigkeit ist gegenwärtig eines der größten politischen und sozialen Probleme. Ihre Ursachen sind in der

224 29 28MB

German Pages 314 [332] Year 2006

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Table of contents :
Vorwort
Danksagung
Inhalt
Abbildungen
Tabellen
1. Einstieg und Problemstellung
2. Ein institutionenökonomischer Ansatz
3. Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit
4. Der Markt für Arbeit
5. Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
6. Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt: die Rahmenbedingungen
7. Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene
8. Aktiver Wettbewerb durch Arbeitslose?
9. Schlußbetrachtung und wirtschaftspolitische Implikationen
Literatur
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Der Arbeitsmarkt in institutionentheoretischer Perspektive
 9783110508581, 9783828203655

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Martin Dietz

Der Arbeitsmarkt in institutionentheoretischer Perspektive

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft

Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Helmut Leipold, Marburg Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf

Unter Mitwirkung von Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr.

Dieter Cassel, Duisburg Karl-Hans Hartwig, Münster Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Ulrich Wagner, Pforzheim

Redaktion: Dr. Hannelore Hamel Band 81:

®

Der Arbeitsmarkt in institutionentheoretischer Perspektive

Lucius & Lucius • Stuttgart • 2006

Der Arbeitsmarkt in institutionentheoretischer Perspektive

Von

Martin Dietz

©

Lucius & Lucius • Stuttgart • 2006

Anschrift des Autors: Dr. Martin Dietz Siegfriedstraße 46 90461 Nürnberg e-mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft; Bd. 81) ISBN 3-8282-0365-5 (ab 2007: ISBN 978-3-8282-0365-5)

© Lucius & Lucius Verlags-GmbH • Stuttgart • 2006 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany

ISBN 3-8282-0365-5 (ab 2007: ISBN 978-3-8282-0365-5) ISSN 1432-9220

Vorwort Das Ausmaß und die Dauer der Arbeitslosigkeit in Deutschland stellen in zunehmendem Maße ein ökonomisches und soziales Problem dar. Es nimmt daher nicht wunder, daß sich auch die ökonomische Theorie herausgefordert sieht, hierfür eine Erklärung zu liefern. In der Tat existiert eine Fülle von Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, die man kaum noch überblicken kann. Gerade deswegen aber ist es wichtig, die neueren Überlegungen zur Arbeitsmarkttheorie nicht nur zu sichten, zu gruppieren und in ihren wesentlichen Ausprägungen darzustellen, sondern sie auch auf das Phänomen Arbeitslosigkeit zu beziehen. Beides geschieht in der vorliegenden Arbeit. Der Ökonom ist gewohnt, in Anreizstrukturen zu denken. Daher müssen für ihn die Anreize falsch gesetzt sein, wenn sich ein Problem wie die Arbeitslosigkeit als so zählebig herausstellt. Nun ist es nicht zuletzt die ökonomische Theorie der Institutionen, die das Denken in Anreizstrukturen systematisch pflegt. Daraus ergibt sich der erste Leitgedanke für die vorliegende Arbeit, nämlich den Arbeitsmarkt in einer institutionenökonomischen Perspektive zu betrachten. Damit ist zugleich ein Raster vorgegeben, mit dessen Hilfe man eine gewisse Ordnung in die arbeitsmarkttheoretischen Ansätze bringen kann. Dabei ist freilich zu beachten, daß die Institutionenökonomik inzwischen selbst ein recht komplexes theoretisches Gefüge darstellt. Mit anderen Worten, in der Arbeit muß zunächst eine institutionenökonomische Bestandsaufnahme vorgenommen werden. Dabei ist zwischen formellen und informellen Institutionen zu unterscheiden. Dies ist deswegen wichtig, weil im folgenden formelle und informelle Institutionen auf ganz unterschiedliche Weise herangezogen werden, um dauerhafte Arbeitslosigkeit zu erklären. Die neoklassische Theorie des Arbeitsmarktes setzt bekanntlich lediglich solche Institutionen voraus, die auch für den Austausch auf einem beliebigen Gütermarkt gelten. Dies gilt auch für die Erklärung des NichtZustandekommens der Markträumung, wenn etwa davon ausgegangen wird, daß die Tarifparteien einen zu hohen Lohnsatz fixiert haben. In der Insider-Outsider-Theorie des Arbeitsmarktes werden neben den formellen insbesondere die informellen Institutionen herangezogen, um Ungleichgewichte zu erklären. Es werden also gruppendynamische Prozesse berücksichtigt. Dies gilt in noch stärkerer Weise für die Effizienzlohntheorie. Insbesondere bei der soziologischen' Variante dieses Ansatzes (Geschenkaustausch-Theorie) wird stark auf informelle Institutionen gesetzt. Dies macht deutlich, daß die Institutionen nicht nur in unterschiedlicher Weise in die Modellwelt eingehen, sondern als Modellelemente auch unterschiedlich akzentuiert werden können oder müssen, um die Prozesse der Lohnbildung und die Vorgänge bei der Umsetzung der Arbeitsverträge besser verstehen zu können. Über die informellen Institutionen stellt der Verfasser zugleich eine Verbindung her zu den Ergebnissen der neueren experimentellen Ökonomik, die in der Auseinandersetzung mit der Spieltheorie entstanden ist und einen vorsichtigen Prozeß der Ablösung von der engen Denkfigur des Homo Oeconomicus eingeleitet hat. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt für die Analyse des Arbeitsmarktes von besonderer Bedeutung, so daß es nahe liegt, daß der Verfasser hier einen zweiten Argumentationsstrang aufbaut. So scheint es nämlich so zu sein, daß der Mensch auch in den modernen Arbeitsbeziehun-

VI

gen eher den (informellen) Normen der kleinen Gruppe folgt. Jedenfalls spricht einiges dafür, daß auf diese Weise Verhaltensprognosen aufgestellt werden können, die der Wirklichkeit besser entsprechen als diejenigen, welche auf der uneingeschränkten Rationalität fußen. Damit ist in knapper Form der Rahmen skizziert, in den der Verfasser seine Überlegungen stellt. Spieltheorie und Experimentelle Ökonomik liefern die theoretischen Grundlagen, um den Arbeitsmarkt und seine Besonderheiten einer gründlichen und überzeugenden Analyse zu unterziehen. Es ist bereits herausgestellt worden, daß die Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt kaum noch zu überschauen sind. Es stellt daher ein Verdienst des Verfassers dar, daß er sich durch dieses Dickicht hindurchgearbeitet und die relevanten Ansätze so selektiert und geordnet hat, daß die Hauptargumentationslinien der gegenwärtigen Diskussion in der Arbeitsmarkttheorie klar und deutlich werden. Dabei weist der Verfasser dem Lohn als Motivationsvehikel eine zentrale Stellung zu. Zugleich findet die gegenwärtige Forderung nach einer stärkeren Dezentralisierung der tariflichen Auseinandersetzungen in der vorliegenden Arbeit eine theoretische Grundlage. Ich bin der festen Überzeugung, daß der Verfasser durch seine klaren wie gründlichen, aber zugleich auch innovativen Überlegungen und Ideen die Theorie des Arbeitsmarktes ein gutes Stück vorangebracht hat.

Marburg, im Mai 2006

Prof. Dr. Ulrich Fehl

Danksagung Nach Beendigung eines doch recht umfangreichen Projektes wie der Dissertation hat man das Bedürfnis, neben sich selbst auch zahlreichen anderen Menschen zu danken. In der chronologisch richtigen Reihenfolge sind natürlich zunächst die Eltern zu bedenken. Sie haben zwar bei der Fertigstellung der Doktorarbeit nur eine Nebenrolle eingenommen, zeichnen aber für den bis dahin beschrittenen Weg um so mehr verantwortlich. In Bezug auf die Promotion war es vor allem wichtig, daß sie mir bereits in der Schulzeit das Gefühl des Vertrauens in meine Fähigkeiten und Entscheidungen vermittelt haben. Hierdurch hat sich eine gewisse Eigenständigkeit herausprägen können, die für ein Dissertationsprojekt sicher von großem Nutzen ist. Hierfür und für alles andere danke ich Euch sehr! Wenn man das Studium beendet hat, ist man der Meinung, eine relativ genaue Vorstellung über die Inhalte des Faches, mit dem man sich über Jahre beschäftigt hat, zu besitzen. Man ist sich sicher, die grundlegenden Mechanismen zu kennen und über die richtigen Methoden und Herangehensweisen Bescheid zu wissen. Daß dieses Gefühl in der Wissenschaft trügen kann, hat mir mein Wechsel von der Universität Hamburg an die Philipps-Universität Marburg in vielerlei Hinsicht gezeigt. Inhalte und Methoden unterschieden sich durchaus, ohne daß ich hier eine objektive Wertung in richtig oder falsch treffen möchte. In jedem Fall habe ich in Marburg noch sehr viel hinzugelernt. Durch dieses ,Studium nach dem Studium' sehe ich mich heute in der glücklichen Lage, viele Sachverhalte aus ganz unterschiedlichen ökonomischen Perspektiven betrachten zu können. Für diese zusätzliche Einordnung und Ergänzung des in Hamburg erworbenen Wissens möchte ich mich bei der Gesamtheit der Marburger VWL-Professoren bedanken. Ich habe die Meinungsvielfalt und die Offenheit am Fachbereich immer sehr geschätzt und würde es nicht nur deswegen sehr bedauern, wenn die Marburger VWL künftig im ökonomischen Mainstream untertauchen würde. Insbesondere bin ich natürlich meinem Doktorvater, Professor Dr. Ulrich Fehl, zu Dank verpflichtet, dessen stete Gesprächsbereitschaft wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat. Auch die Diskussionen mit meinem Zweitgutachter, Professor Dr. Alfred Schüller, haben mich nicht nur im Rahmen unseres Eschweger Doktorandenseminars vorangebracht. Neben der Tatsache, daß Professor Fehl mir neue Einblicke in eine breite Palette volkswirtschaftlicher Themen eröffnet hat, möchte ich einen weiteren Aspekt besonders herausstellen. In seinem Bestreben, seinen Mitarbeitern die nötigen inhaltlichen und zeitlichen Freiräume bei der wissenschaftlichen Arbeit zu belassen, ist ein wichtiges Kriterium für den erfolgreichen Abschluß der Dissertation zu sehen. Durch seine Persönlichkeit hat er es zudem geschafft, daß man die Arbeit am Lehrstuhl stets mit Freude verrichtete. Auch hierfür danke ich ihm ebenso wie den anderen Mitarbeitern - insbesondere Renate Böttner als ,gutem Geist' des Lehrstuhl-Teams. Die Zeit in Marburg wird mir nicht nur als zum Teil auch harte Zeit des Promovierens im Gedächtnis bleiben, sondern es werden für mich persönlich immer auch schöne Jahre bleiben. Hierfür gibt es viele Gründe. So ist man als Neuling in einer fremden

VIII

Stadt in erster Linie darauf angewiesen, ein persönliches Umfeld zu finden, in dem man sich zuhause fühlt. In diesem Zusammenhang hatte ich wirklich Glück, denn ich bin überall auf offene Arme gestoßen. Der Platz reicht an dieser Stelle nicht aus, um mich bei allen neu gewonnenen Freunden zu bedanken, die für ein - mal mehr, mal weniger produktives - ,Wohlfühlklima' gesorgt haben. Ich möchte aber in jedem Fall den freundschaftlichen Zusammenhalt vor allem unter den Mitarbeitern der VWLLehrstühle hervorheben, der sich auch in zahlreichen Aktivitäten außerhalb des UniBetriebes niedergeschlagen hat und sicher auch in Zukunft niederschlagen wird. So ist von den Mitgliedern der DFG-Forschergruppe Marburg (Dietz, Fey, Geruschkat) mit Sicherheit noch die eine oder andere skatwissenschaftliche Erkenntnis zu erwarten. Auch wenn sich der milde Schleier der Zeit bereits über die Marburger Jahre legt, darf man nicht verhehlen, daß Promovieren auch Entsagung bedeutet. Dafür, daß sie bereit war, auch diese negativen Seiten mit mir zu teilen, danke ich vor allem meiner Freundin Isabel Balzer. Sie war nicht nur ständigen Fragen von Freunden und Verwandten nach dem Stand meiner Arbeit ausgesetzt - in der Regel ohne selbst genügend von mir informiert worden zu sein - , sondern hat schließlich auch noch die unangenehme Arbeit des Korrekturlesens geschultert. Am schwersten wiegt jedoch der Verzicht auf gemeinsame Zeit. Am Ende ordnet sich nahezu alles der Fertigstellung der Arbeit unter, und für Deine Bereitschaft, mir diese Zeit zu schenken, danke ich Dir wirklich sehr!

Nürnberg, am 15. Mai 2006

Martin Dietz

IX

Inhalt Abbildungen

XV

Tabellen

XVI

1. Einstieg und Problemstellung

1

1.1. Empirischer Befund

3

1.2. Der Arbeitsmarkt als Teil eines komplexen und dynamischen Gesamtsystems :

7

1.3. Theoretische Abgrenzung

9

1.4. Eingrenzung der Problemstellung

19

1.5. Weitere Vorgehensweise

20

2. Ein institutionenökonomischer Ansatz

24

2.1. Aspekte der Unsicherheit

24

2.2. Menschenbild - Theorie und (experimentelle) Realität

27

2.2.1.

Ergebnisse der experimentellen Ökonomik

28

2.2.1.1. Altruismus (Unbedingte Kooperation)

30

2.2.1.2. Reziprozität (Bedingte Kooperation)

31

2.2.1.3. Strategische Reziprozität und Geschenkaustausch

33

2.2.1.4. Kollektivgutexperimente

35

2.2.1.5. Sanktionsbereitschaft durch Dritte

38

2.2.1.6. Theoretische Erklärungen

39

2.2.1.7. Implikationen und Schlußfolgerungen

40

2.2.2.

Extrinsische und intrinsische Motivation

41

2.2.3.

Fazit

2.3. Institutionen: Einordnung und Wirkungen 2.3.1.

43 44

Formale und informelle Institutionen

46

2.3.1.1. Formale Institutionen

47

2.3.1.2. Privat-organisierte Sanktionierung

47

2.3.1.3. Gesellschaftlich sanktionierte informelle Institutionen

47

2.3.1.4. Internalisierte Normen

49

2.3.1.5. Sozialkapital

50

2.3.1.6. Fazit: Institutionen und ökonomische Entscheidungen

51

2.3.2.

Vertikale Einordnung von Institutionen

52

2.3.3.

Effizienz- vs. Verteilungswirkungen von Institutionen

55

2.3.3.1. Reine Koordinationsspiele (Konventionen)

56

2.3.3.2. Von der Koordination zur ,Lösung' von Verteilungskonflikten

57

X

2.3.3.3. Gesellschaftliche Dilemmata 2.3.3.4. Gesellschaftliche Lernprozesse 2.3.3.5. Institutionen und Rent-Seeking 2.3.3.6. Fazit 2.3.4. Das Zusammenwirken von Institutionen 2.3.4.1. Komplementarität 2.3.4.2. Substituierbarkeit 2.3.4.3. Gegenläufigkeit 2.3.4.4. Fazit 2.3.5. Institutionelles Beharrungsvermögen und institutioneller Wandel 2.3.5.1. Exit und Voice als Antworten auf institutionelle Beschränkungen 2.3.5.2. Die Rolle institutionellen Wettbewerbs 2.4. Fazit 3. Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit 3.1. Die Eigenschaften des Gutes Arbeit und der Arbeitsmarkt 3.1.1. Arbeit als Einkommensquelle 3.1.2. Arbeit als Statusquelle 3.1.3. Der Konsumgutaspekt der Arbeit 3.1.4. Wertewandel und Arbeit 3.1.5. Fazit 3.2. Markt und Preis: Ökonomische Theorie vs. Alltagsbild 3.2.1. Die Akzeptanz des Preises als Koordinationsmechanismus 3.2.2. Schlußfolgerungen für die Arbeitsmarktanalyse 4. Der Markt für Arbeit 4.1. Einordnung des Arbeitsmarktes in die Markttypen nach Kerr 4.2. Markt und Macht auf dem Arbeitsmarkt 4.2.1. Arbeit zur Zeit der Industrialisierung 4.2.2. Strukturwandel und Prosperität 4.2.3. Strukturwandel und Arbeitslosigkeit im Übergang zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft 4.2.4. Beurteilung des Wandels der Arbeitswelt 4.3. Eigenschaften des Gutes Arbeit und das Koordinationsproblem 4.4. Schlußfolgerungen 5. Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt 5.1. Das Arbeitsverhältnis als Prinzipal-Agenten-Beziehung 5.1.1. Die Theorie impliziter Verträge

58 59 59 60 61 61 63 63 64 64 66 67 68 70 70 71 71 72 72 73 75 76 79 80 80 82 83 85 87 88 89 91

94 96 98

XI

5.1.2. Die Prinzipal-Agenten-Beziehung bei selbstdurchsetzenden Arbeitsverträgen 5.1.3. Die Prinzipal-Agenten-Beziehung bei unvollständigen Arbeitsverträgen

99 99

5.2. Die Arbeitsbeziehung als relationaler Vertrag

101

5.2.1. Regelmechanismen und ihre Wirkung

106

5.2.2.

5.2.1.1. Kontrolle und Vertrauen

106

5.2.1.2. Unternehmenskultur

107

5.2.1.3. Identifikation mit dem Unternehmen

108

5.2.1.4. Fazit

109

Extrinsische und intrinsische Arbeitsmotivation

110

5.2.2.1. Verdrängungseffekt

111

5.2.2.2. Fazit

112

5.2.3. Duale Arbeitsmarkttheorie

113

5.2.4. Fazit

114

5.3. Heterogenität der Arbeit und Fluktuationskosten 5.3.1. Fluktuationskosten in der Insider-Outsider-Theorie

117 118

5.3.1.1. Produktionsbezogene Fluktuationskosten

119

5.3.1.2. Rentenbezogene Fluktuationskosten

121

5.3.1.3. Stützung der rentenbezogenen Strategien durch gesellschaftliche Normen

122

5.3.2. Fluktuationskosten in der Effizienzlohntheorie

124

5.3.3. Fluktuationskosten, Ungewißheit und Arbeitsmarktdynamik

124

5.3.4. Fluktuationskosten und Lohndifferentiale

125

5.3.5. Fluktuationskosten und wirtschaftliche Schwankungen

127

5.3.6. Allgemeine Einordnung und Kritik

128

5.4. Die Motivationsfunktion des Lohnsatzes im Rahmen der ELT 5.4.1. Vermeidung von Bummelei (Shirking)

5.4.2.

129 131

5.4.1.1. Senioritätslöhne

135

5.4.1.2. Teamproduktion

137

5.4.1.3. Leistungslöhne

138

5.4.1.4. Alternative Anreizmechanismen zur Verhinderung von Bummelei

140

5.4.1.5. Fazit

142

Lohngerechtigkeit, Arbeitsbeziehungen und Arbeitslosigkeit

142

5.4.2.1. Das effizienzlohntheoretische Grundmodell bei positiver Lohn-Leistungs-Beziehung

144

5.4.2.2. Der Gleichgewichtslohn als Referenzpunkt experimentelle Evidenz (1) Unvollständige Verträge - Anreize zum Geschenkaustausch

148 150

XII

(2) Kontrollmechanismen in unvollständigen Arbeitsverträgen

153

(3) Explizite Anreizmechanismen in unvollständigen Arbeitsverträgen

154

(4) Die Einfuhrung einer dritten Stufe - beidseitige Reziprozität

155

(5) Motivation und Arbeitsmarktlage - Wirkungen auf die Lohnhöhe

156

(6) Wiederholte Interaktionen

158

(a)

Reputation

(b)

Kommunikation und persönliche Beziehungen.... 159

(7) Die Vorteilhaftigkeit unvollständiger Verträge (8) Fazit

158 160 162

5.4.2.3. Die Fair-wage-effort-Hypothese (1) Der Lohnvergleich mit anderen Arbeitnehmern (a)

Equity-Theorie

(b)

Die gerechte Lohnstruktur, Lohndifferentiale und Arbeitslosigkeit

163 164 165 168

(2) Der Unternehmensgewinn als Referenzpunkt

169

(3) Fazit

171

5.4.3. Zum Erklärungsgehalt der Effizienzlohntheorie 5.5. Lohnrigiditäten als Folge von Gerechtigkeitsüberlegungen

172 173

5.6. Effizienzlohnansätze und Insider-Outsider-Theorie

179

5.7. Arbeitslosigkeit als Konsequenz moderner Arbeitsbeziehungen

179

6. Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt: die Rahmenbedingungen 6.1. Gewerkschaften: Funktionen und Ziele

182 184

6.1.1.

Fragen der Lohngerechtigkeit

185

6.1.2.

Das gewerkschaftliche Monopolmodell

187

6.2. Insider-Outsider-Theorie auf kollektiver Ebene

190

6.2.1.

Kollektivverhandlungsansatz, Lohnbildung und Arbeitslosigkeit

6.2.2.

Rent-Seeking und Arbeitsmarktinstitutionen

193

6.2.3.

Beurteilung

194

6.3. Tarifsystem 6.3.1. Arbeitgeberverbände 6.3.2.

Die Durchdringung des Arbeitsmarktes durch die Tarifvertragsparteien

190

196 198 199

6.3.3. Das Right-to-Manage-Modell

199

6.3.4. Beurteilung

201

6.4. Fazit

204

XIII

7. Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene 7.1. Zentrale vs. dezentrale Lohnverhandlungen

205 206

7.1.1.

Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen und Arbeitsmarktergebnis

206

7.1.2.

Lohnverhandlungen bei heterogenen Unternehmen

210

7.1.3.

Tarifentlohnung und Effektiventlohnung

212

7.1.4.

Motivationseffekte und zentrale Lohnverhandlungen

213

7.1.4.1. Mindestlöhne als Referenzpunkte

213

7.1.4.2. Ein zweistufiges Modell unter Berücksichtigung der positiven Lohn-Leistungs-Beziehung

216

7.1.5.

Schlußfolgerungen

220

7.2. Mitbestimmung

222

7.3. Der Bestandsschutz von Arbeitsplätzen

226

7.3.1.

Allgemeine Effekte der Arbeitsplatzsicherheit

227

7.3.2.

Ökonomische Wirkungen des Kündigungsschutzes

228

7.3.3.

Privater Kündigungsschutz?

230

7.3.4.

Fazit

231

7.4. Lohnersatzleistungen 7.4.1.

Die Eigendynamik von Sozialleistungen

7.4.2.

Fazit und wirtschaftspolitische Implikationen

233 234 236

7.5. Institutionelle Arbeitskosten und Unternehmensverhalten

238

7.6. Fazit

240

8. Aktiver Wettbewerb durch Arbeitslose?

242

8.1. Gruppenproblematik

242

8.2. Individuelle Lohnkonkurrenz

245

8.2.1.

Stigmatisierung, Selbstwertgefuhl und Arbeitslosigkeit

246

8.2.2.

Humankapitalentwertung

248

8.2.3.

A u s der Rahmenordnung entstehende Restriktionen

249

8.2.4.

A u s der Arbeitsbeziehung entstehende Restriktionen

250

8.2.5.

Gesellschaftliche Nonnen gegen Lohnunterbietung

8.3. Fazit

252 255

9. Schlußbetrachtung und wirtschaftspolitische Implikationen

257

9.1. Resümee

257

9.2. Wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen

263

9.2.1. 9.2.2.

Stärkung der dezentralen Ordnung

264

Konkrete Ansatzpunkte zur Reform des Arbeitsmarktes

268

9.2.2.1. Die relative Schwächung der Insider-Macht

268

9.2.2.2. Bestandsschutz und Arbeitsmarktdynamik

269

9.2.2.3. Gewinnbeteiligungssysteme

270

XIV

9.2.2.4. Zweigliedrige Systeme

272

9.2.2.5. Lohnersatzleistungen

273

9.2.2.6. Die Wiedereingliederung von (Langzeit-) Arbeitslosen: Lohnsubventionen und aktive Arbeitsmarktpolitik

274

9.3. Die Aussichten für institutionellen Wandel

276

9.3.1.

Polit-ökonomische Analyse der Arbeitslosigkeit

276

9.3.2.

Komplementaritäten

280

9.3.3. Direkte Demokratie

281

9.4. Fazit Literatur

283 287

XV

Abbildungen Abb. 1: Standardisierte Arbeitslosenquoten für die USA und Deutschland

4

Abb. 2: Strukturelle und zyklische Arbeitslosigkeit in der OECD

6

Abb. 3: Der Arbeitsmarkt als Teil eines dynamischen Gesamtsystems

7

Abb. 4: Überblick Kapitel 5. bis 8.

22

Abb. 5: Vertikale Einordnung von Institutionen

53

Abb. 6: Fluktuationskostenarten

118

Abb. 7: Ermittlung des Effizienzlohnes bei s-förmiger Lohn-Leistungs-Kurve

146

Abb. 8: Unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Effizienzlohnmodell

147

Abb. 9: Die positive Lohn-Leistungs-Beziehung

151

Abb. 10: Leistungsbestimmung im Equity-Modell

167

Abb. 11: Lohnbildung im gewerkschaftlichen Monopolmodell

187

Abb. 12: Gewerkschaften mit geknickten Indifferenzkurven

189

Abb. 13a und 13b: Anpassungswirkungen nach exogenen Schocks

191

Abb. 14: Transaktionskosten und Arbeitsmarktergebnis

207

Abb. 15: Die Hump-shape-Hypothese

207

Abb. 16: Mindestlöhne und die positive Lohn-Leistungs-Beziehung

214

Abb. 17: Bestimmung des Lohnintervalls

216

Abb. 18a: Wirkungen einer Tariflohnerhöhung

218

Abb. 18b: Tariflohnerhöhung und Anpassung der Lohn-Leistungs-Beziehung

218

Abb. 18c: Wirkungen bei verkleinerter Belegschaft

219

XVI

Tabellen Tab. 1: Reine Koordination ohne Verteilungskonflikt

56

Tab. 2: Geschlechterkampf

57

Tab. 3: Chicken-Spiel

58

Tab. 4: Nullsummenspiel

58

Tab. 5: Gefangenendilemma

58

Tab. 6: Marktdefinitionen nach Kerr

81

Tab. 7: Ausprägungen der Arbeitsbeziehungen

103

Tab. 8: Berechnung des Arbeitsleids

150

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

1.

1

Einstieg und Problemstellung

In den vergangenen drei Jahrzehnten ist in nahezu allen westlichen Ländern eine deutliche Verschlechterung der Situation auf dem Arbeitsmarkt zu konstatieren. Auch in Deutschland hat man seit Beginn der siebziger Jahre eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele, das im Stabilitätsgesetz von 1967 postulierte Vollbeschäftigungsziel, nicht mehr erreichen können. Dabei stellte sich das ursprünglich durch exogene Schocks (Ölkrisen) ausgelöste Problem der Arbeitslosigkeit nicht - wie zunächst erhofft - als kurzfristig heraus, sondern muß als dauerhaft angesehen werden. Nun besagt der Umstand dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit nichts anderes, als daß auf dem Arbeitsmarkt ein ständiges Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage vorliegt. In einem Preis-Mengen-Diagramm bedeutet dies, daß man sich durchgehend in einer Situation oberhalb des Gleichgewichtspreises und damit unterhalb der Gleichgewichtsmenge befindet. Normalerweise wäre aus ökonomischer Sicht eine Preisanpassung nach unten - also ein wettbewerbliches Herunterkonkurrieren bis auf den Gleichgewichtslohn - zu erwarten. Dieser Prozeß findet jedoch augenscheinlich nicht statt. Der Preismechanismus (und damit der Wettbewerb in Form einer Lohnkonkurrenz) kann seine Funktion als Steuerungsinstrument auf dem Arbeitsmarkt anscheinend nicht wahrnehmen. Natürlich ist zu beachten, daß reale Märkte grundsätzlich nicht dem Idealtypus eines vollkommenen Marktes entsprechen. Neben den allgemeinen Informationsunvollkommenheiten, die mehr oder weniger auf allen Märkten bestehen, ergeben sich beim Arbeitsmarkt durch die Bindung der Arbeitskraft an den Menschen zusätzlich Mobilitätsprobleme. Beachtet man weiterhin die Heterogenität von Arbeitsanbietern und -nachfragern, so erscheint es natürlich, daß der marktliche Anpassungsmechanismus gewissen Beschränkungen unterliegt. Ein vollkommenes Matching kann daher kaum erwartet werden (Rothschild 1975, S. 21 f.). Diese Marktunvollkommenheiten reichen jedoch nicht aus, um das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der bestehenden Arbeitslosigkeit zu erklären. In der vorliegenden Arbeit wird eine Analyse von institutionellen Rigiditäten des Arbeitsmarktes vorgenommen, um zu einer Erklärung der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit zu gelangen. Institutionelle Rigiditäten zeichnen sich dadurch aus, daß sie die Anpassung von Mengen und/oder Preisen im Anschluß an einen Schock behindern (Saint-Paul 1996, S. 59). Die Instrumente der Neuen Institutionenökonomik bieten sich zur Analyse des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme an, da in beiden Bereichen eine Fülle nicht-marktlicher Verhaltensbeschränkungen wirksam ist (Apolte und Vollmer 2002, S. 13).' Institutionen sollen zunächst definiert werden als „allgemein bekannte Regeln, mit deren Hilfe wiederkehrende, interdependente Interaktionen strukturiert werden und die mit einem Durchsetzungsmechanismus bewehrt sind,

1

Aus demselben Grund wird die Analyse durch Rückgriffe auf andere wissenschaftliche Disziplinen angereichert.

2

Martin Dietz

der eine Sanktionierung bzw. Sanktionsandrohung im Falle eines Regelverstoßes bewirkt."2 Auf diese Weise werden bestimmte Verhaltensweisen - für die Allgemeinheit sichtbar - relativ auf- oder abgewertet, so daß auch in anonymen (Markt-) Beziehungen eine gewisse Erwartungssicherheit in Bezug auf das Verhalten der Mitmenschen besteht. Je nachdem, ob der Sanktionsmechanismus staatlich oder privat bereitgestellt wird, unterscheidet man in formale (rechtliche) und informelle Institutionen (soziale oder gesellschaftliche Normen). Ökonomische Tauschvorgänge sind nicht kostenlos abzuwickeln, sondern es fallen Kosten der Marktbenutzung an.3 Diese Transaktionskosten lassen sich in Markttransaktionskosten (Kosten der Vertragsanbahnung, der Verhandlung, des Vertragsabschlusses sowie Kosten der Überwachung und Sanktionierung von Verträgen) sowie in Unternehmenstransaktionskosten unterscheiden, wobei letztere als Kosten der Erfüllung von Arbeitsverträgen sowie der Erhaltung der Organisationsstruktur zu definieren sind.4 Die Leistungserstellung erfolgt dann in Abhängigkeit von den Transaktionskosten über den Markt oder innerhalb des Unternehmens (hierarchisch). 5 Grundsätzlich gilt ein negativer Zusammenhang zwischen der Höhe der Transaktionskosten und dem Ausmaß ökonomischer Aktivitäten. Institutionen tragen durch Standardisierung sowie durch die Sicherung allgemein durchsetzbarer Verfahrensweisen bei Vertragsgeschäften zur Senkung von Transaktionskosten bei und fördern damit die wirtschaftliche Entwicklung. 6 Nachdem die staatlich durchgesetzten Institutionen lange Zeit im Mittelpunkt des ökonomischen Forschungsinteresses gestanden haben, sind in den vergangenen Jahren die informellen Institutionen stärker in den Blickpunkt geraten. Ist in den traditionellen Modellen strikt eigennutzorientiert handelnder Individuen zunächst kein Platz für die Wirkung gesellschaftlicher Normen, so hat nicht zuletzt der zunehmende Einfluß der experimentellen Ökonomik dazu gefuhrt, das Aussparen dieser Komponente zu überdenken. 7 Da gesellschaftliche Normen gerade auf dem Arbeitsmarkt eine herausragende Stellung einnehmen, gilt dies insbesondere in der Arbeitsmarkttheorie. 8 Die Effekte und

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3 4

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Voigt (2002, S. 34), der sich auf Ostrom (1986, S. 5) bezieht. Die Definition wird in ähnlicher Form von Knight (1997, S. 3) sowie von Voigt und Kiwit (1998, S. 84 f.) verwendet. Eine ausfuhrlichere Behandlung von Institutionen erfolgt in Kapitel 2. Der Begriff der Transaktionskosten als „costs of running the economic system" wurde durch Arrow (1970, S. 60) geprägt. Vgl. Richter und Furubotn (1996, S. 50 ff.). Dabei entsteht ein Großteil der Kosten aufgrund des Stellvertreterproblems zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, das im Rahmen der Prinzipal-Agenten-Theorie analysiert wird. Hierauf wird bei der Analyse der Arbeitsbeziehungen in Kapitel 5. ausführlich eingegangen. Vgl. Coase (1937) zur Frage des make or buy. Hier sind die grundlegenden Arbeiten von Douglass C. North (1988, 1990) hervorzuheben. Die zunehmende Bedeutung der experimentellen Ökonomik sowie der Schnittstelle zwischen Wirtschaftswissenschaften und Psychologie spiegelt sich nicht zuletzt in der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Daniel Kahneman und Vernon L. Smith im Jahr 2002 wider. Vgl. Kaufman (1999, S. 386) sowie die Arbeit von Solow (1990).

Kapitel 1: Einstieg und Problernstellung

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Wechselwirkungen sozialer Normen mit formalen Institutionen werden in dieser Arbeit einer gesonderten Betrachtung unterzogen. Neben experimentellen Untersuchungen haben die in den vergangenen Jahren vermehrt durchgeführten Interviewstudien dazu beigetragen, die Praxisrelevanz verschiedener Arbeitsmarkttheorien beurteilen zu können.9 Durch die Befragung von Personalverantwortlichen ergaben sich zudem neue Einblicke in die tatsächliche Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen. Auch wenn sich die ökonomische Theorie seit jeher mehr für die tatsächlichen Handlungen als offenbarte Präferenzen interessiert, können diese Studien wichtige Aufschlüsse über die Beweggründe der Individuen geben und somit das Zusammenwirken verschiedener Anreizsysteme erhellen. Auch die hier gewonnenen Forschungsergebnisse weisen darauf hin, daß gesellschaftliche Normen großen Einfluß auf die Beziehung zwischen den Vertragsparteien haben und stützen damit Theorien, die bei der Erklärung von Arbeitslosigkeit einen breiteren Blickwinkel wählen. Da das Problem der Arbeitslosigkeit seit Jahren im Fokus der Öffentlichkeit steht, kann die empirische Darstellung im nächsten Abschnitt kurz gehalten werden. Die anschließende Beschreibung des Arbeitsmarktes als Teil eines dynamischen Gesamtsystems dient der Veranschaulichung der Komplexität und der Eingrenzung der Themenstellung. Nach der Abgrenzung der grundsätzlichen theoretischen Herangehensweise in Abschnitt 1.3. werden einige zentrale Fragen dieser Arbeit herausgearbeitet, um daran anschließend die weitere Vorgehensweise zu erläutern. 1.1.

Empirischer Befund

Im folgenden sollen in aller Kürze einige grundlegende Daten zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit vorgestellt werden. Das Problem der Arbeitslosigkeit wurde lange Zeit ausschließlich auf makroökonomischer Ebene analysiert - es galt als größtenteils konjunkturell bedingt und damit als ein temporäres Phänomen. Konjunkturbewegungen wurden damit zwar als Ursache der Arbeitslosigkeit angesehen, trugen jedoch auch immer den Keim der Besserung in sich. Nicht nur in Deutschland scheint das System der industriellen Beziehungen bis in die siebziger Jahre hinein den speziellen Anforderungen des Marktes für Arbeit gewachsen gewesen zu sein. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit jedoch in Schüben angestiegen und verharrt seit einigen Jahren auf einem hohen Niveau (Schob und Weimann 2003, S. 15 ff.). In seiner grundsätzlichen Entwicklung stellt das Arbeitslosenproblem keine deutsche Besonderheit dar.10 So lassen sich auch bei den Zahlen der OECD, der EU-Staaten und der USA drei Anstiege im Verlaufe der siebziger, Anfang der achtziger und zu Beginn

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Haushaltsbefragungen bieten zudem Einblicke in die Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung sowie deren Einstellung zu marktwirtschaftlichen Mechanismen - hier sind vor allem die Studien von Kahneman, Knetsch und Thaler (1986a), Frey (1986) und Frey

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und Pommerehne (1988) zu nennen. Dies ist an den im OECD Employment Outlook veröffentlichten Datenreihen abzulesen. Die durchschnittlichen Arbeitslosenquoten in der Europäischen Union sowie der OECD verlaufen nahezu parallel zu den deutschen Werten - vgl. die graphische Darstellung der Kommission fiir Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1996, S. 76).

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der neunziger Jahre identifizieren. Beim Vergleich mit den US-amerikanischen Daten offenbaren sich jedoch unterschiedliche Entwicklungspfade. Vor allem fallt auf, daß es dem amerikanischen Arbeitsmarkt gelingt, die Arbeitslosigkeit nach einem Anstieg auf das ursprüngliche Niveau zurückzuführen. Die unteren Wendepunkte liegen ungefähr auf derselben Höhe, während die deutschen Werte einen positiven Trend aufweisen. Die Konjunkturabhängigkeit der Arbeitslosigkeit ist im deutschen Fall als asymmetrisch zu bezeichnen. Sie steigt in Abschwüngen stark an, geht aber in den Aufschwüngen nicht mehr auf das ursprüngliche Maß zurück." Dies läßt sich für Deutschland an der Beschäftigungsschwelle ablesen, die 1996 mit knapp drei Prozent Wachstum im internationalen Vergleich relativ hoch lag.12 Abbildung 1: Standardisierte Arbeitslosenquoten für die USA und Deutschland

-Deutschland USA

Jahr

Quelle: OECD Employment Outlook, verschiedene Ausgaben, eigene Darstellung. Neben dem grundsätzlichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen ist zu konstatieren, daß sich der Sockel dauerhaft arbeitsloser Menschen stetig erhöht hat. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen mit über 12 Monaten Arbeitslosigkeit an der Gesamtheit der Arbeitslosen ist von 8,8 Prozent (1970) über 21,2 Prozent (1982) auf etwa 50 Prozent im Jahr 2003 gestiegen und liegt damit deutlich über dem OECD-Durchschnitt von 30,1 Prozent 0OECD 1983, S. 54; OECD 2004, S. 315). Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit hat sich im Vergleich zu den siebziger Jahren vervierfacht {Landmann und Jer-

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Bei einem nur langsamen Zurückkehren der Arbeitslosigkeit auf das ursprüngliche Niveau spricht man von Persistenz. Der Extremfall einer unendlich kleinen Rücklaufgeschwindigkeit wird als Hysterese bezeichnet - dann verharrt die Arbeitslosigkeit auch nach Abklingen eines negativen Schocks auf dem erhöhten Niveau. So entsteht eine Pfadabhängigkeit, die Variable folgt lediglich dem Auftreten der auslösenden Größen (Franz 2003, S. 376 ff.; Gärtner 2003, S. 420 ff.). Der Wert ist zudem in den letzten zwanzig Jahren deutlich angestiegen (Franz 2003, S. 388).

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Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

ger 1999, S. 38 f.). Ein Blick auf die Qualifikationsstruktur der Arbeitslosen in Deutschland verdeutlicht, daß das Problem verstärkt bei schlecht ausgebildeten Arbeitskräften auftritt. Allerdings ist in den vergangenen Jahren auch ein überdurchschnittlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit unter Akademikern zu beobachten, so daß sich das Risiko der Arbeitslosigkeit nicht auf Randgruppen beschränkt (Schob und Weimann 2003, S. 24; Reinberg und Schreyer 2003, S. 1 f.). Die Erhöhung der Arbeitslosigkeit bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, daß die Arbeitsmarktdynamik in Form von Zu- und Abflüssen gering sein muß. In Deutschland verbergen sich im Jahr 2002 hinter durchschnittlich 4,06 Millionen Arbeitslosen etwa 6,15 Millionen Zu- und 5,77 Millionen Abgänge aus der Arbeitslosigkeit (Rothe 2003, S. 1). Mittels des Fluktuationskoeffizienten läßt sich die Arbeitsmarktdynamik analytisch fassen: Fluktuationskoeffizient, =

Zugänge, + Abgänge,) 12 Durchschnittsarbeitslosigkeit,

Allerdings relativiert die Entwicklung des Fluktuationskoeffizienten die Deutung einer starken Arbeitsmarktdynamik. Sein Wert ist in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten drastisch gefallen, wobei vor allem in den siebziger Jahren eine massive Absenkung von 9,8 im Jahr 1965 auf 3,1 im Jahr 1975 zu konstatieren ist {Wagner und Jahn 1997, S. 46). Für das Jahr 2002 ergibt sich ein Wert von knapp 1,5. Die Arbeitsmarktdynamik hat demnach deutlich abgenommen, und es ist zu einer massiven Umschichtung der Arbeitslosen von Kurz- auf Langzeitarbeitslose gekommen. Der Anteil der Beschäftigten, der für die Restdynamik des Arbeitsmarktes zuständig ist, ist recht gering. 1991 waren nur 13 Prozent der Arbeitnehmer weniger als ein Jahr bei ihrem Unternehmen beschäftigt. Der größte Anteil der Beschäftigten befindet sich auf permanenten Stellen, die lediglich für interne Arbeitsmärkte offen sind (Wagner und Jahn 1997, S. 51). Anscheinend bleibt vor allem die Masse der Arbeitsplatzbesitzer passiv. Hierfür können zwei Gründe angeführt werden: Entweder ist die Dauerhaftigkeit der Arbeitsbeziehung von beiden Seiten gewollt, oder die Perspektive für einen dauerhaft vorteilhaften Wechsel des Arbeitsplatzes ist so schlecht, daß der Arbeitnehmer selbst dann untätig bleibt, wenn er mit der aktuellen beruflichen Situation unzufrieden ist. Ist letzteres der Fall, so ist auch aufgrund von Motivationsaspekten anzunehmen, daß die Arbeitskräfte nicht mehr in ihre beste Verwendung gelangen. Der gestörte (Arbeits-) Marktmechanismus wirkt sich damit auch negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf den Gütermärkten aus. Der Unterschied in der Arbeitsmarktentwicklung zwischen den USA und Europa liegt vor allem in der Zahl der Abgänge aus der Arbeitslosigkeit - das Problem ist also in einer zu geringen Beschäftigungsdynamik zu sehen (Bean 1994, S. 575 f.). Diese läßt sich wiederum auf die unterschiedliche Entwicklung der Reallöhne zurückführen {Freeman 1988, S. 71 f.).13 Auf institutionelle Bestimmungsgründe der Lohnentwick-

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Über die negative Korrelation von Reallöhnen und Beschäftigung besteht allgemein Konsens {Franz, Gerlach und Hübler 2003, S. 400).

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lung und vor allem die Anpassungsfähigkeit der Löhne in Abschwüngen soll daher in den folgenden Kapiteln genauer eingegangen werden. Die bisherigen Bemerkungen haben bereits vor Augen geführt, daß es sich beim Problem der Arbeitslosigkeit nicht mehr um ein konjunkturelles Phänomen handelt, sondern daß die Probleme struktureller Natur sind. 14 Der Arbeitsmarkt kann also die einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung angemessenen Anpassungsleistungen nicht erbringen. Diese Interpretation wird durch Abbildung 2 gestützt, in der die Arbeitslosenquote in eine strukturelle und eine konjunkturelle Komponente aufgesplittet wird, wovon erstere deutlich überwiegt. 15 Abbildung 2: Strukturelle und zyklische Arbeitslosigkeit in der OECD A. I-cvcln. 1W

.111.1111 iStructural coniponcnt l," iCyctical componcnt

Unemployment rate

Quelle: OECD( 1998, S. 8). In jedem Fall stellt sich die Frage nach den Ursachen für die Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation. Muß man sich mit einem im Ungleichgewicht befindenden Arbeitsmarkt abfinden oder lassen sich wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit identifizieren? Die präsentierten Daten und vor allem das Phänomen persistenter Arbeitslosigkeit deuten darauf hin, daß die bestehenden Institutionen der Arbeitsmarktverfassung nicht geeignet sind, Lösungen ftir das Problem der Massenarbeitslosigkeit bereitzustellen.

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Hierüber besteht weithin Einigkeit (Calmfors und Skedinger 1998, S. 195). Dabei definiert sich die strukturelle Arbeitslosigkeit schlicht als der Anteil an der Arbeitslosigkeit, der auch in einem wirtschaftlichen Aufschwung nicht abgebaut wird.

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

1.2.

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Der Arbeitsmarkt als Teil eines komplexen und dynamischen Gesamtsystems

In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, daß der Arbeitsmarkt in ein Geflecht von ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Beziehungen eingebunden ist, die bereits für sich genommen komplexe und dynamische Systeme darstellen. Um wenigstens einige Grundzusammenhänge erläutern zu können, ist es nötig, ein hoch aggregiertes Darstellungsniveau zu wählen. Die Vernetzung des Arbeitsmarktes läßt sich in ihren Grundzügen anhand Abbildung 3 verdeutlichen. Abbildung 3: Der Arbeitsmarkt als Teil eines dynamischen Gesamtsystems

Das Wirtschaftssystem eines Landes ist also in ein kulturelles Umfeld eingebettet, welches über gemeinsame Wertvorstellungen und informelle Institutionen im Zusammenspiel mit formalen Institutionen die Rahmenordnung für wirtschaftliche Tätigkeiten bildet und zudem in die Entscheidungen auf einzelnen Märkten hineinwirkt. Von außen nehmen exogene Schocks sowie wirtschaftspolitische Eingriffe Einfluß auf die Marktprozesse. Da es sich sowohl bei formalen als auch bei informellen Regeln um historisch gewachsene Strukturen handelt, unterscheidet sich die konkrete Ausprägung von Land zu Land. Dies gilt auch für die formalen Institutionen des Arbeitsmarktes, deren Wirkung wiederum nur im Zusammenspiel mit den gewachsenen gesellschaftlichen Institutionen

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zu verstehen ist (Pierenkemper 1982, S. 14). Da auch für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik noch immer nationale Zuständigkeiten gelten, wird die Analyse von Arbeitsmarktproblemen vor allem auf nationaler Ebene vorgenommen.' 6 Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet der Gütermarkt, wobei die Unternehmen annahmegemäß unter Einsatz von Arbeit und Sachkapital produzieren. Die Nachfrage auf Arbeits- und Kapitalmarkt läßt sich daher als abgeleitete Nachfrage aus dem Gütermarkt bestimmen. Die Dynamik der Gütermärkte sowie die mit ihr verbundene Ungewißheit über zukünftige Entwicklungen geht auf diese Weise auf den Arbeitsmarkt über. Das Arbeitseinkommen der Haushalte begrenzt die Konsummöglichkeiten und damit die Nachfrage auf dem Gütermarkt. 17 Zwischen beiden Produktionsfaktoren besteht im Rahmen der technologischen Restriktion in der kurzen Frist eine Substitutionsbeziehung, wobei das genaue Einsatzverhältnis von den relativen Faktorpreisen abhängig ist. Langfristig sind die Unternehmen auf dem Gütermarkt zudem in der Lage, ihre technologischen Grenzen über Innovationsprozesse zu verändern, was in der Regel zu Lasten des teureren (oder inflexibleren) Faktors geht. Dies war in der jüngeren Vergangenheit der Faktor Arbeit. Den Unternehmen stehen weitere Optionen zur Verfügung, um die mit dem Arbeitseinsatz verbundenen Kosten zu senken - so ist es möglich, arbeitsintensive Leistungen oder Vorprodukte (im Ausland) einzukaufen oder eigene Produktionsstätten in Billiglohnländer zu verlagern. Durch die zunehmende Arbeitsteilung ergibt sich ein starker Bezug zum Bildungssektor. Der Wegfall alter und die Entstehung neuer Berufsbilder führen zu der Frage, ob neue Qualifikationen schnell genug geschaffen werden können. Gelingt dies nicht, so kommt es zu einem Mismatch zwischen vorhandener und nachgefragter Arbeitsqualität, die entweder innerhalb des Unternehmens ausgeglichen werden kann, über Zuwanderung gelöst wird18 oder zu einem Einstellungsverzicht und dem Einkauf der benötigten Leistungen führt. Um einen qualitativen Mismatch zu vermeiden, sollte das Ausbildungssystem über eine gewisse Flexibilität verfügen, damit auf neue Entwicklungen reagiert werden kann. Diese Flexibilität kann jedoch die Einhaltung von Qualitätsstandards erschweren. Auf dem Arbeitsmarkt definiert der Staat - möglicherweise im Zusammenspiel mit den Tarifvertragsparteien und der Arbeitsgerichtsbarkeit - die Arbeitsmarktordnung, innerhalb derer sich die Anbieter und Nachfrager von Arbeit gegenüberstehen. Auf diese Weise entstehen auf kollektiver Ebene formale Institutionen, die das Verhalten auf

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Allerdings sollte die verstärkte internationale Verflechtung der Güter- und auch der Arbeitsmärkte nicht außer Acht gelassen werden - man denke nur an die zu erwartenden Arbeitskräftewanderungen infolge der EU-Osterweiterung. Die hiermit zusammenhängenden Fragen der institutionellen Harmonisierung und der Gefahr eines race to the bottom können in dieser Arbeit allenfalls am Rande behandelt werden. Ein Teil der Nachfrage wird in den Konsum von Gütern fließen, die im Ausland gefertigt werden. Umgekehrt wird ausländische Nachfrage im Inland wirksam. Die Forderung nach einer Green-Card ist eine notwendige Reaktion auf die Bedürfhisse der Unternehmen, ruft aber bei hoher Arbeitslosigkeit Befremden bei der Bevölkerung hervor und ist somit politisch schwer durchzusetzen.

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

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individueller Ebene beschränken.19 Die Anreizstruktur der Erwerbsfähigen wird zudem durch die Existenz von Lohnersatzleistungen beeinflußt. Finden Arbeitsangebot und -nachfrage zusammen, wird auf Unternehmensebene ein Arbeitsvertrag geschlossen. Eine Besonderheit des Arbeitsmarktes ergibt sich aus der Tatsache, daß die Beziehung zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern in der Regel langfristiger Natur ist. Ihre Ausgestaltung wird wiederum durch formale und informelle Institutionen bestimmt. Die Allokation der Arbeitskräfte erfolgt zu einem großen Teil über die berufliche Weiterentwicklung innerhalb eines Unternehmens. Hierfür hat sich der Begriff des internen Arbeitsmarktes herausgebildet - in Abgrenzung hierzu wird der Gesamtarbeitsmarkt auch als externer Arbeitsmarkt bezeichnet.20 Im weiteren Verlauf der Arbeit sollen vor allem die Regelmechanismen innerhalb der Arbeitsbeziehungen und die formalen Institutionen der Arbeitsmarktverfassung untersucht werden. Aus ihren (Wechsel-) Wirkungen können wichtige Erklärungen für die Entstehung und die Dauerhaftigkeit der Arbeitslosigkeit gezogen werden. Das hier in groben Zügen dargestellte Gesamtsystem weist starke Interdependenzen auf. Die jeweiligen Teilsysteme sehen sich aufgrund andauernder Störungen von innen (bspw. durch Innovationen) als auch von außen (durch andere Teilsysteme, institutionelle Veränderungen, wirtschaftspolitische Maßnahmen, gesamtwirtschaftliche Schocks) einem extremen Anpassungsdruck ausgesetzt.21 Da die Verarbeitung der vielfaltigen Störungen einigen Systemen besser gelingt als anderen, ist zu erwarten, daß sich der Anpassungsdruck und die Probleme in den starren Systemen häufen werden. Ein unterschiedliches Tempo des institutionellen Wandels als Antwort auf die Dynamik im Umfeld wird wiederum die Entwicklung des Gesamtsystems beeinflussen. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu sehen sein wird, deutet einiges darauf hin, daß im Arbeitsmarkt ein wichtiger Engpaßfaktor zu sehen ist. 1.3.

Theoretische Abgrenzung

Die nicht zu übersehenden Beschäftigungsprobleme der meisten westlichen Industriestaaten haben zu einer verstärkten Auseinandersetzung der ökonomischen Zunft mit den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt beigetragen.22 Dabei werden jedoch häufig Erklärungsmodelle gewählt, die sich eng an den neoklassischen Annahmen eigennutzmaximierender Individuen auf mehr oder minder vollkommenen Märkten orientieren.23

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21 22 23

Für die kollektive Arbeitsmarktebene soll auch der Begriff der industriellen Beziehungen verwendet werden. Der Begriff des internen Arbeitsmarktes beschreibt natürlich gerade nicht eine marktliche Koordination - die Prozesse laufen in einer hierarchisch organisierten Umgebung ab. Dies spiegelt sich bei dem in dieser Arbeit synonym verwendeten Begriff der Arbeitsbeziehung wider. Eine Gleichgewichtssituation stellt daher die Ausnahme und nicht die Regel dar. Vgl. den Übersichtsartikel von Richter (1999). Die folgende Schilderung neoklassischer undteywesianischerAnsätze ist bewußt überspitzt und in dem Wissen vorgenommen, daß die Theorien häufig um einiges differenzierter sind. Hier soll die Darstellung vor allem dem Zwecke der Abgrenzung und der Betonung institutioneller Gesichtspunkte dienen.

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In der Grenzproduktivitätstheorie ergibt sich die Nachfrage nach Arbeit als abgeleitete Nachfrage aus dem Gütermarkt. Die Arbeitsangebotsentscheidung wird in Abhängigkeit vom Lohnsatz aus den individuellen Arbeitszeit-Freizeit-Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte aggregiert. 24 Dabei wird traditionell von der Arbeitsleidhypothese ausgegangen - der Lohn stellt die Opportunitätskosten der Freizeit dar.25 Ein Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt ergibt sich über Veränderungen des Lohnsatzes. 26 Der Gleichgewichtslohn entspricht stets der Grenzproduktivität der Arbeit, die beschäftigten Arbeitsanbieter werden zu ihren Opportunitätskosten entlohnt. Vollkommene Arbeitsmärkte leisten demnach bei wohldefinierten Eigentumsrechten und der Abwesenheit von Transaktionskosten die effiziente Allokation der Ressource Arbeit und fuhren das System in einen Pareto-optimalen Zustand (Coase i960). 27 Aufgrund der problemlosen Austauschbarkeit der Arbeitsanbieter stellt der vollkommene Arbeitsmarkt eine NoRent-Society dar, in der die Beschäftigten keinerlei Vorteil gegenüber den Arbeitslosen haben. In einer solchen Welt sind Arbeitsmarktinstitutionen ohne Wert und würden von den Menschen einmütig abgelehnt (Saint-Paul 2000, S. 21 und S. 27). Der Lohnmechanismus kann bei einem Arbeitsangebotsüberschuß als Wettbewerb um knappe Arbeitsplätze interpretiert werden. Die Konkurrenz der Arbeitsanbieter führt zu einem Absinken des Lohnniveaus, bis zum Gleichgewichtslohn alle beschäftigt werden, die auch arbeiten wollen. Exogene Schocks werden abgefangen, indem Arbeitskräfte aus weniger erfolgreichen Sektoren in aufstrebende Bereiche wandern. Kann dies nicht in ausreichendem Maße geschehen, werden die Reallöhne reduziert, bis entweder eine neue Beschäftigung gefunden ist oder die Arbeitslosigkeit als freiwillig angesehen werden kann (Lindbeck und Snower 1985/1988, S. 19 f.). Auf perfekten Märkten kann es daher nicht zu dauerhafter, unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommen. Arbeitslosigkeit ist in diesen Modellen immer freiwillig und entspringt einer individuell nutzenmaximierenden Entscheidung fiir den Konsum von Freizeit und gegen eine abhängige Beschäftigung (Richter 1999, S. 31 ff.). 28

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Allerdings handelt es sich bei Arbeitszeit und Freizeit in der Realität nicht um stetig substituierbare Güter. Die freie Wahl der Arbeitszeit wird sowohl durch die natürliche Restriktion eines 24-Stunden-Tages als auch durch formale und informelle Institutionen (bspw. die Rolle der Frau in der Gesellschaft) beschränkt. Zu einer Kritik der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie siehe Bürgenmeier (1991). Tatsächlich ist der Begriff Arbeit ebenso wie das englische labour und das französische travail in etymologischer Sicht negativ belegt und mit Mühsal und Last in Verbindung zu bringen (Bierwisch 2003, S. 8 ff.). Die Begriffe Lohn und Lohnsatz werden hier synonym verwendet. Dies gilt, da annahmegemäß keine Unsicherheit auftritt und die Wirtschaftssubjekte vollkommen rational agieren, so daß keine weiteren Institutionen zur Reduktion von Komplexität oder zur Stabilisierung der Erwartungen benötigt werden. Für die Gesamtwirtschaft läßt sich dies mittels des ffa/rasianischen Gleichgewichts auf die Spitze treiben. Um einen Eindruck davon zu erhalten, wie komplex ein solches System schon bei einer geringen Anzahl von Akteuren wird, siehe Fehl und Oberender (2004, S. 477 ff.). Rothschild (1978, S. 29) zitiert Keynes in diesem Zusammenhang mit dem Ausspruch: „Many people are trying to solve the problem of unemployment with a theory which is based on the assumption that there is no unemployment."

Kapitel 1 : Einstieg und Problemstellung

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Das Begriffspaar der freiwilligen und unfreiwilligen Arbeitslosigkeit wird von einigen Autoren als unbefriedigend angesehen. 29 Im Hinblick auf die Heterogenität der Arbeitsplätze und der Arbeitsanbieter sowie auf die räumliche Verteilung der Arbeit sollte der Begriff der freiwilligen Arbeitslosigkeit in der Tat vorsichtig benutzt werden. 30 Da sich das Begriffspaar durchgesetzt hat, soll jedoch auch in dieser Arbeit darauf zurückgegriffen werden. Unter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist dann eine Situation zu verstehen, in der ein Arbeitsanbieter bereit ist, für den gleichen oder gar einen geringeren Lohn eines (hypothetisch) gleichqualifizierten Arbeitnehmers zu arbeiten, ohne zu diesem Lohnsatz ein Beschäftigungsangebot zu erhalten (Shapiro und Stiglitz 1984, S. 433). Diese Definition der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit gibt die Vorstellung wieder, daß Arbeitslosigkeit eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit darstellt, die auf eine mangelnde Chancengleichheit zwischen Arbeitsanbietern zurückzuführen ist (Lindbeck und Snower 1985/1988, S. 47 ff.). Da Arbeitslose nicht über dieselben Wahlmöglichkeiten verfugen, werden sie gegenüber den Beschäftigten diskriminiert. In makroökonomischen Modellen, die mit der Annahme rationaler Erwartungen arbeiten, ist die zu beobachtende Arbeitslosigkeit zumindest als ex ante freiwillig zu bezeichnen. Nur im Falle von Erwartungsfehlern kann es ex post zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommen, die jedoch nur so lange anhält, bis die Erwartungen angepaßt werden. Die Theorie rationaler Erwartungen sieht sich allerdings mit dem Problem konfrontiert, daß das Vorhandensein des ökonomisch relevanten Wissens empirisch kaum zu ermitteln ist. Damit wird es jedoch schwierig, zu unterscheiden, ob Abweichungen vom Gleichgewicht auf exogene Schocks oder auf die Unwissenheit der Akteure zurückzufuhren sind.31 Das Massenphänomen der Arbeitslosigkeit mit mittlerweile über fünf Millionen Beschäftigungslosen allein in Deutschland, einer weiter ansteigenden durchschnittlichen Arbeitslosendauer sowie einem immer größer werdenden Sockel an Langzeitarbeitslosen auf den freien Willen der Betroffenen zurückzuführen, mutet nicht nur zynisch an, sondern widerspricht zudem zahlreichen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen. Hier sind zunächst sozialpsychologische Arbeiten zu nennen, die ihren Ursprung in der Marienthal-Studie von 1933 haben. Darin werden die negativen Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf das gesellschaftliche Leben eines kleinen Fabrikortes in der Nähe

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31

Vgl. Sesselmeier (1999, S. 131), Solow (1994, S. 258 ff.) sowie Lindbeck und Snower (1988a, S. 7 ff.). So wäre von freiwilliger Arbeitslosigkeit zu sprechen, solange auf einem beliebigen Arbeitsmarkt eine Überschußnachfrage vorhanden ist, da es schließlich zu Wanderungen kommen müßte, bis auf allen Teilarbeitsmärkten Gleichgewichte herrschten (Shapiro und Stiglitz 1985, S. 1215). Dies hat zu einer Interpretation rationaler Erwartungen gefuhrt, die besagt, daß die Akteure dieselben Kenntoisse des Modells haben wie die Autoren des jeweiligen Papiers. Lindbeck und Snower (1985/1988, S. 28) bemerken dazu: „There is something rather curious about the view that households and firms in every country always change their perception of the world whenever a new macro model is constructed."

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von Wien untersucht. 32 Auch heute stellt die Höhe der Arbeitslosigkeit ein volkswirtschaftliches Problem mit hoher gesellschaftlicher und auch politischer Relevanz dar.33 In den vergangenen Jahren hat sich auch die ökonomische Wissenschaft vermehrt mit der Frage beschäftigt, ob es sich bei Arbeitslosigkeit tatsächlich um ein größtenteils freiwilliges Phänomen handelt. Dieser These wird in den Studien der HappinessForschung ausdrücklich widersprochen. 34 So zeigt sich, daß nicht nur die Lebenszufriedenheit der Arbeitslosen, sondern auch die der Erwerbstätigen negativ mit der Höhe der Arbeitslosigkeit korreliert ist (Di Telia, MacCulloch und Oswald 2001, S. 337).3S In Großbritannien lassen sich bei Arbeitslosen Werte mentaler Unzufriedenheit nachweisen, die deutlich oberhalb der Selbständigen oder der Erwerbstätigen liegen (Clark und Oswald 1994, S. 650).36 Die Daten lassen weiterhin den Schluß zu, daß Arbeitslosigkeit das subjektive Wohlbefinden stärker senkt als jeder andere Faktor, einschließlich einer Scheidung oder der Trennung vom Lebenspartner (Clark und Oswald 1994, S. 655). Dabei weisen die nicht-pekuniären Effekte der Arbeitslosigkeit einen deutlich größeren Einfluß auf als die mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Einkommensverluste (Winkelmann und Winkelmann 1998, S. 12). Dementsprechend besteht der negative Effekt der Arbeitslosigkeit selbst dann fort, wenn staatliche Leistungen ihre wirtschaftlichen Folgen auffangen. In der Tatsache, daß sich Unterschiede in der Lebenszufriedenheit auf das Kriterium der Erwerbstätigkeit zurückführen lassen, ist ein klares Indiz dafür zu sehen, daß Arbeitslosigkeit nicht freiwillig ist. Hierauf verweist auch die Untersuchung von Brixy und Christensen (2002, S. 3 f.), die zeigt, daß Arbeitslose bei der Aufnahme einer neuen Beschäftigung durchaus zu Abstrichen bereit sind. Die Mehrheit würde zeitweilig sogar für ein Gehalt in Höhe des Arbeitslosengeldes arbeiten. Diese Ergebnisse machen deutlich, daß die traditionell verwendete Arbeitsleidhypothese in die Irre fuhrt. 37 Damit ergibt sich zudem ein erster Hinweis darauf, daß wirtschaftspolitische Maßnahmen, die sich hauptsächlich an der Annahme freiwilliger Arbeitslosigkeit orientieren, die Probleme nicht werden lösen können. Neben einer fehlenden Erklärung für dauerhafte unfreiwillige Arbeitslosigkeit hat die neoklassische Arbeitsmarkttheorie Probleme mit der Begründung interindustrieller 32

Vgl. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933/1975) sowie zusammenfassend Kirchler (1999, S. 303 ff.). Einen Uberblick über die Entwicklung der sozialpsychologischen Arbeitslosenforschung im deutschsprachigen Raum bietet Vonderach (2002).

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Die Gefahr der Arbeitslosigkeit stellt die größte Angst der deutschen Bevölkerung dar (Heiderich und Rohr 1999, S. 70).

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Der ökonomische Zweig der Happiness-Forschung versucht, den Einfluß unterschiedlicher Kriterien auf die durchschnittliche Zufriedenheit der Bevölkerung über Befragungen abzuschätzen. Einen Überblick über Methodik und Forschungsstand bieten Frey und Stutzer (2002).

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Solche Ergebnisse lassen sich als Solidaritätseffekte interpretieren und deuten zudem darauf hin, daß die Zukunftserwartungen negativ von der Höhe der Arbeitslosigkeit beeinflußt werden.

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Die Studie von Winkelmann und Winkelmann (1998) bestätigt die klar negative Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Lebenszufriedenheit für Deutschland.

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Die Erwerbsarbeit muß neben dem reinen Einkommenserwerb weiteren Nutzen generieren. Hier ist auf gesellschaftliche Arbeitsnormen, Statuseffekte sowie auf intrinsische Arbeitsmotivationen zu verweisen - siehe Abschnitt 3.1.

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

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Lohndifferentiale. Hierunter versteht man die empirisch belegte Tatsache, daß Arbeitnehmern mit denselben Eigenschaften unterschiedlich hohe Löhne gezahlt werden. Rebitzer (1993, S. 1421) bemerkt hierzu: „A clear consensus has developed that the violation of the ,law of one price' are as much the norm as the exception in labor markets." Die neoklassischen Rechtfertigungsgründe für solche Abweichungen vom einheitlichen Preis - nicht meßbare Qualitätsunterschiede, Nachfrageschwankungen oder eine vorübergehende Immobilität der Arbeitskräfte - reichen als Erklärung für die dauerhafte Existenz dieser Lohnmuster nicht aus.38 Schon geringfügige Änderungen der Modellannahmen in Richtung unvollkommener Information können die neoklassische Vollbeschäftigungshypothese ins Wanken bringen. Selbst wenn die nötigen Informationen für ein erfolgreiches Zusammenkommen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen dezentral vorlägen, müßten Kosten aufgewendet werden, um sie verfugbar zu machen. Bei der Zusammenführung von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage entstehen also Transaktionskosten, aus denen Sucharbeitslosigkeit resultiert. Die mit der Stellensuche und -Vermittlung befaßte Arbeitsmarktanalyse firmiert unter dem Namen Such- oder Malching- Theorie.i9 Diese bindet das Informationsproblem in die gleichgewichtstheoretische Modellwelt ein, indem die Informationsbeschaffung als Optimierungsprozeß modelliert und der Arbeitsplatzwahl vorgeschaltet wird - im Optimum sind die Grenzkosten der Informationsbeschaffung gleich dem erwarteten Grenznutzen der zusätzlichen Information.40 Dieses Verfahren läuft auf ein optimales „Job-(s)hopping" hinaus, das auf realen Arbeitsmärkten jedoch nicht anzutreffen ist (Kaufman 1999, S. 381 f.).41 Die Qualität des Matching-Prozesses kann mit Hilfe der Beveridge-Kurve analysiert werden. Sie bildet die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes vor allem in qualitativer Sicht ab und gibt Auskunft über die Effizienz der vermittelnden Institutionen. Dabei werden auf der Ordinate die Arbeitsuchenden (die Arbeitslosenquote) und auf der Abszisse die freien Stellen abgetragen. Auf der Winkelhalbierenden befinden sich damit die Punkte, bei denen beide Größen gleich sind, so daß bei homogenen Arbeitskräften ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage möglich wäre, wenn den Akteuren die nötigen Informationen vorlägen. Je weiter entfernt der Datenpunkt vom Ursprung liegt, desto schlechter ist die Vermittlungseffizienz des Arbeitsmarktes. Links von der Winkelhalbierenden übersteigt die Zahl der Arbeitsuchenden die der freien Stellen, so daß ein Angebotsüberhang besteht. Für Deutschland läßt sich zeigen, daß sich die BeveridgeKurve in den vergangenen Jahren nach außen verschoben hat. So ist die Quote der offenen Stellen in den Jahren 1967 und 1997 ähnlich hoch, die Arbeitslosenquote ist jedoch

38

Vgl. die empirischen Arbeiten von Katz (1986), Dickens und Katz (1987) sowie von Krueger und Summers (1988).

39 40 41

Ein Survey bieten Mortensen und Pissarides (1999). Vgl. bereits Stigler (1962). Das Optimierungsproblem läßt sich nur über Erwartungswerte lösen, die bei echter Unsicherheit zufällig sein müssen. Hierdurch wird die Aussagekraft dieser Modelle erheblich eingeschränkt. Ein an kurzfristigen Nutzengewinnen ausgerichteter Arbeitsplatzwechsler ähnelt dem von Sen (1977) beschriebenen Rationalclown (rationalfoot).

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deutlich gestiegen. 4 2 Der Arbeitsangebotsüberhang ist also z u m Dauerzustand geworden. 43 Arbeitsmarktfriktionen beschränken die Funktionsfahigkeit des P r e i s m e c h a n i s m u s ' aus neoklassischer Sicht j e d o c h nur kurzfristig. In der langen Frist wird der Arbeitsmarkt seine Allokationsfunktion erfüllen können - lediglich ein gewisses A u s m a ß natürlicher Arbeitslosigkeit wird als Folge unvermeidbarer Friktionen bestehen bleiben. 4 4 Tatsächlich ist unbestritten, daß sich die A n p a s s u n g s p r o b l e m e auf d e m Arbeitsmarkt über ein verbessertes M a t c h i n g entschärfen lassen, so daß eine entsprechende Umgestaltung der a m Vermittlungsprozeß beteiligten Organisationen und Institutionen grundsätzlich zu begrüßen ist. Allerdings ist es unverhältnismäßig, das A u s m a ß der bestehenden Arbeitslosigkeit allein auf die angesprochenen Marktunvollkommenheiten z u r ü c k z u f u h ren. 45 Das Hauptproblem auf d e m Arbeitsmarkt besteht nicht unbedingt im Koordinationsproblem, also in der Frage, wie grundsätzlich vorhandene Tauschpartner einander bei g e g e b e n e m Marktlohn z u g e f ü h r t w e r d e n können. H ä u f i g sind die benötigten Arbeitsplätze schlicht nicht vorhanden 4 6 oder institutionelle Beschränkungen verhindern den A b s c h l u ß eines Arbeitsvertrages, obwohl die Vertragspartner sich prinzipiell einigen könnten. Die neoklassischen arbeitsmarkttheoretischen Beiträge sind dann zwar konsistent mit den ö k o n o m i s c h e n Mainstream-Modellen, es fehlt ihnen j e d o c h an inhaltlic h e m B e z u g z u m Gegenstand. Sie blenden noch immer nahezu alle Faktoren aus, denen in einer institutionenorientierten Betrachtung Bedeutung beigemessen werden sollte:

42 43

Vgl. zur Darstellung Wagner und Jahn (1997, S. 68 ff.) und zur Empirie Franz (2003, S. 198 f.). Die zunehmenden Schwierigkeiten des Matchings lassen sich auch auf die steigende Komplexität der Arbeitsprozesse sowie auf die Heterogenität der Arbeitskräfte zurückführen. Dagegen sollte die technologische Entwicklung die Markttransparenz eher erhöht und damit die Kosten der Informationsvermittlung gesenkt haben.

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Der Begriff der natürlichen Arbeitslosigkeit geht auf Friedman (1968, S. 8) zurück: „The .natural rate of unemployment' [...] is the level that would be ground out by the Walrasian system of general equilibrium equations, provided there is imbedded in them the actual structural characteristics of the labor and commodity markets, including market imperfections, stochastic invariability in demands and supplies, the cost of gathering information about job vacancies and labor availabilities, the costs of mobility and so on." Mit dem Begriff natürlich lehnt er sich an Wickseils natürlichen Zins an, so daß hier nicht impliziert ist, daß es sich um eine unveränderliche Größe handelt. Die Non-AcceleratingInflation-Rate-of-Unemployment (NAIRU) - die inflationsstabile Arbeitslosenquote kann als Erweiterung oder als Neuinterpretation der natürlichen Arbeitslosigkeit angesehen werden. Die Abgrenzung in der Literatur erfolgt uneinheitlich (Landmann und Jerger 1999, S. 124).

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Auf diese Form der Mismatch-Arbeitslosigkeit zielt vor allem das als ,Vermittlungsoffensive' bezeichnete Konzept der von der deutschen Bundesregierung eingesetzten HartzKommission (Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit 2002). Kritisch äußern sich bspw. Fehn (2002) sowie Schob und Weimann (2003, S. 104 ff.).

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Schob und Weimann (2003, S. 114) zitieren den sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt: „Wir haben auf einen freien Arbeitsplatz zur Zeit 27 Bewerbungen und auch wenn ich schneller vermittle, habe ich damit nicht die Arbeitslosigkeit beseitigt."

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

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Heterogenität, Ungewißheit und die Bedeutung formaler und vor allem informeller Institutionen. Anstatt die Besonderheiten des Gutes Arbeit theoretisch zu analysieren, wird der Arbeitsmarkt als logisches Äquivalent zu Finanz- und Gütermärkten behandelt. Arbeitsmarktinstitutionen werden lediglich dahingehend kommentiert, daß ihre Abschaffung zur Freisetzung der Marktkräfte nötig wäre.47 Eine solche Aussage ersetzt jedoch weder eine befriedigende Analyse realer Arbeitsmärkte, noch stellt der Vergleich der realen Welt mit einem theoretischen Idealzustand eine zulässige Vorgehensweise dar.48 Allerdings ist es ebenso verfehlt, das Modell der vollkommenen Konkurrenz danach zu beurteilen, ob es die Realität eins zu eins wiedergibt. Es stellt lediglich einen Idealtypus dar, bei dem das reibungslose Funktionieren eines Marktes zu erwarten ist, und besticht durch modelltheoretische Klarheit, muß damit aber notwendigerweise an der Realität vorbeigehen. 49 Auch wenn der Arbeitsmarkt weit von einem Konkurrenzmarkt entfernt ist, kann das Konzept als gedanklicher Referenzpunkt oder zur Abschätzung langfristiger Trends dienen.50 Zudem erinnert die preistheoretische Vorgehensweise daran, daß das Verhalten der Akteure nicht nur durch Institutionen beschränkt wird, sondern daß die Marktkräfte in Form von Angebot und Nachfrage noch immer wirksam sind. Der Grenzen des Standardmodells sollte man sich allerdings bewußt sein. 5 ' Dies gilt vor allem, wenn sich wirtschaftspolitische Empfehlungen an diesen Idealbildern orientieren. Dann darf es nicht verwundern, wenn die erwarteten Effekte sich nicht im gewünschten Maße einstellen, die Maßnahmen unter Umständen sogar kontraproduktiv sind.52 Als das Analyseinstrument arbeitsmarkttheoretischer Fragestellungen ist die neoklassische Gleichgewichtstheorie daher fehl am Platze. Kaufman (1994, S. 168) fuhrt aus: „The shortcoming of the neoclassical models lies not within one assumption or the other but, rather, with the entire approach - an approach that treats the motivational and cognitive abilities of economic agents too simplistically, that ignores dynamic feedback effects and adjustments, that assumes more competition on both sides of the market than there

47 48

49

50

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Vgl. kritisch Kinnear (1999, S. 172 f.) sowie Pierenkemper (1982, S. 21). Vgl. Demsetz' (1969, S. 1) Kritik am Nirwana-Ansatz und sein Plädoyer für eine komparative Institutionenanalyse, in der realisierte mit realisierbaren Zustanden verglichen werden sollten. Die Börse bietet durch ihre atomistische Marktstruktur sowie den Einsatz elektronischer Hilfsmittel wohl die beste Annäherung an einen vollkommenen Markt. Allerdings sind auch hier Probleme wie das Auftreten von Insider-Informationen zu lösen. Der Markt ist zudem recht abgeschlossen, und die Identität der Tauschenden ist durchaus von Bedeutung (Coase 1988, S. 8 f.). Dabei muß jedoch einschränkend festgehalten werden, daß diese Prognosen aufgrund der in den Marktprozessen auftretenden Neuerungen und der dadurch entstehenden Ungewißheit auf tönernen Füßen stehen. Akerlof( 1990, S. 70) kritisiert: „[...] economists, instead of taking the economic model as some kind of basis against which to compare the real world - which is going to be different with people acting differently - often think, that the economic model is the world." Okun (1981, S. 23) bemerkt: „In fact, for both product and labor markets, models that focus on price takers and auctioneers and that assume continuous clearing of the market generate inaccurate microeconomics as well as misleading macroeconomics."

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really is, and that neglects the important roles institutions (management, unions, government) 53 play in structuring labor markets and defining, through their rules and policies, how wages and employment are determined."

Ob der Arbeitsmarkt tatsächlich im Sinne der neoklassischen Gleichgewichtstheorie als kompetitiv zu bezeichnen ist, kann als eine der entscheidenden Fragen der modernen Arbeitsmarkttheorie angesehen werden (Kaufman 1994, S. 146). Aus ihr ergibt sich eine Antwort auf die wirtschaftspolitische Frage, ob Arbeitsmarktinstitutionen lediglich als Störungen des Marktmechanismus' anzusehen sind, oder ob von ihnen auch positive Effekte ausgehen können. So sieht die keynesianisch orientierte MakroÖkonomik in den bestehenden Arbeitsmarktregulierungen sinnvolle Maßnahmen, um eine Benachteiligung der Arbeitsanbieter durch die übermächtigen Unternehmen zu verhindern.54 Die Forderung nach Reformen der bestehenden Arbeitsmarktverfassung wird unter dem Hinweis, daß diese als Einfallstor für einen radikalen Sozialabbau genutzt werden könnten, abgelehnt. Bei der theoretischen Erklärung der Arbeitslosigkeit liegt die Besonderheit in der von Keynes angenommenen kurzfristigen Starrheit der Löhne nach unten. Diese wird als institutionelle Eigenschaft des Arbeitsmarktes angesehen - eine theoretische Fundierung dieser Annahme aufgrund der Ziele und Restriktionen der Akteure wird jedoch zunächst nicht angeboten. So bemerkt Keynes (1936, S. 9): „Whether logical or illogical, experience shows that this is how labour in fact behaves."55 Eine sinkende Arbeitsnachfrage führt bei rigiden Löhnen nicht wie im neoklassischen Modell über eine PreisMengen-Anpassung zu einem neuen Arbeitsmarktgleichgewicht, sondern läßt lediglich Mengenanpassungen zu, so daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit entsteht oder bereits bestehende Arbeitslosigkeit zunimmt. Arbeitslosigkeit wird daher als größtenteils nachfrageseitiges Phänomen angesehen. Durch den Rückgang der Kaufkraft kommt es zu einer weiter sinkenden Güternachfrage, die aufgrund rigider Löhne wiederum vermehrte Arbeitslosigkeit auslöst. Die geringe Güternachfrage und die Arbeitslosigkeit halten sich also gegenseitig aufrecht. Dieser Teufelskreis kann durch eine wirtschaftspolitisch induzierte Ankurbelung der Produktion durchbrochen werden. Auf diese Weise erhöht sich die Nachfrage nach Arbeit über eine steigende Güternachfrage, oder es kommt wegen steigender Güterpreise zu einer Senkung der Reallöhne und damit der Arbeitskosten. Dies schlägt bei polypolistisch strukturierten Gütermärkten über eine Senkung der Grenzkosten und eine erhöhte Absatzmenge als positiver Effekt auf die Arbeitsnachfrage zurück, so daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit abgebaut wird (Lindbeck und Snower 1985/1988, S. 15 ff.). Auch hier wird die Rolle der Institutionen übersehen, indem erstens die Frage nach den Ursachen rigider Löhne nicht angegangen wird, und man zweitens die Senkung der Arbeitslosigkeit als quasi selbstverständliche Folge einer expansiven Wirtschaftspolitik betrachtet. Die Anpassungsprozesse bleiben unberücksichtigt,

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Um in den Begrifflichkeiten dieser Arbeit zu bleiben, sind hiermit Organisationen gemeint.

54

Hierdurch erklärt sich die Nähe der Gewerkschaften zum

55

Zu einer Kritik an Keynes siehe Olson (1991, S. 242 ff.). Richter (1999, S. 33) bemerkt, daß Keynes sich nur am Rande mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt habe.

Keynesianismus.

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

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und es wird sowohl von der Heterogenität der Akteure als auch davon abstrahiert, daß Unternehmen und Arbeitsanbieter vor Entscheidungen unter Unsicherheit stehen. Eine weitere Möglichkeit zur Steigerung der Güternachfrage besteht vermeintlich in Lohnerhöhungen, durch die die Kaufkraft der Bevölkerung gestärkt werden soll. Dieses Kaufkraftargument zieht jedoch höchstens dann, wenn es tatsächlich zu einer Stärkung ACT gesamtwirtschaftlichen Nachfrage kommt (Franz 2003, S. 283; Schob und Weimann 2003, S. 20 ff.).56 In Deutschland ist die Lohnquote in den letzten zwanzig Jahren jedoch relativ stabil geblieben. Dies bedeutet bei steigender Arbeitslosigkeit, daß sich die Proportionen vom Beschäftigungs- zum Lohnanteil verschoben haben. Überspitzt formuliert verdienen nun wenige viel anstatt daß viele wenig verdienen. Schob und Weimann (2003, S. 22) folgern: „Hohe Reallohnsteigerungen fuhren damit nicht zum Anstieg der ,Massenkaufkraft', sie verteilen lediglich das Arbeitseinkommen auf eine kleiner werdende Gruppe." Mit der Bedeutung rigider Löhne kann zumindest ein gemeinsamer Nenner neoklassischer und £e>?jesianischer Ansätze im Hinblick auf die Erklärung der Arbeitslosigkeit identifiziert werden. Beide Theoriestränge weisen jedoch in unterschiedliche Richtungen, was die Einschätzung von Arbeitsmarktinstitutionen anbelangt. Hieraus ergeben sich wiederum unterschiedliche wirtschaftspolitische Implikationen (Solow 1994, S. 257 ff.). Im Falle der neoklassischen Ansätze wird die Unfähigkeit der Löhne, eine Markträumung herbeizuführen, allgemein auf die künstlichen Beschränkungen des Marktes in Form von formalen Institutionen zurückgeführt und zur Genesung eine Deregulierung empfohlen. Während hier also den Kräften des Marktes vertraut wird, setzen keynesianische Ansätze auf staatliche Eingriffe zur Stärkung der Binnennachfrage, um der Ressourcenverschwendung durch die Unterauslastung des Arbeitskräftepotentials entgegenzuwirken. Die Arbeitsmarktinstitutionen dienen dem Schutz der Arbeitnehmer und der Sicherung ihrer Kaufkraft. Beiden Strömungen ist außerdem gemein, daß sie die vielfältigen Koordinationsmechanismen auf dem Arbeitsmarkt und vor allem in den Arbeitsbeziehungen in ihrer Analyse ausblenden. In den vergangenen Jahrzehnten sind jedoch Arbeitsmarkttheorien entwickelt worden, die sich dieser Schwäche Unvollkommenheiten angenommen haben. Auch sie lassen sich in Theorien unterscheiden, die eine Markträumung annehmen oder aber im Ergebnis von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ausgehen." Letztere sind größtenteils den New Keynesian Economics zuzuordnen, in deren Modellen unfreiwillige Arbeitslosigkeit als Resultat des rationalen Verhaltens der Akteure am Arbeitsmarkt erklärt wird.58 Es wird also versucht, mikroökonomisch fundierte Begründungen für die keynesianische Annahme starrer Löhne zu liefern. Zu ihnen gehören unter anderem die Effizienzlohntheorie und die Insider-Outsider-Theorie, die im weiteren Verlauf der Arbeit Berücksichtigung finden werden. In diesen Ansätzen wird häufig auf informelle

56 57 58

Zudem ist weder gesagt, daß die zusätzlichen Einkommen überhaupt für Konsumzwecke verwendet werden, noch daß diese Konsumausgaben binnenwirksam werden. Vgl. hierzu ausführlich Lindbeck und Snower (1985/1988). Vgl. zur theoretischen Einordnung Lawlor (1993, S. 14 ff.) sowie Richter (1999, S. 38 ff.).

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Institutionen zurückgegriffen, ohne jedoch explizit eine institutionenökonomische Fundierung vorzunehmen. Zugleich sind sie der Gleichgewichtstheorie verhaftet, indem sie über die Verwendung formaler Modelle Arbeitsmarktgleichgewichte bei Unterbeschäftigung abzuleiten versuchen. Diese Vorgehensweise impliziert wiederum eine hohe Rationalität der Akteure und eine statische Sichtweise der Wirtschaft, in der kein Raum für echte Neuerungen und Ungewißheit bleibt.59 Schwächt man die Annahme der Rationalität im Hinblick auf die Informationsverarbeitungskapazitäten der Individuen ab und berücksichtigt man zudem die Besonderheiten des Arbeitsmarktes, so wird man sich vom Bild des Menschen als Anpassungsautomaten verabschieden müssen. Während die neoklassische Schule mit ihren Optimierungsmodellen die Menschen auf Nutzen- und die Unternehmen auf Produktionsfunktionen reduziert, sollte eine moderne Institutionentheorie versuchen, das Verhalten der Menschen unter realen Restriktionen zu analysieren (Williamson 1985, S. 45; Coase 1984, S. 231). Daher wird der Arbeitsmarkt in dieser Arbeit als eine sowohl gesellschaftliche als auch ökonomische Institution interpretiert.60 Da im Marktprozeß ständig neues Wissen generiert wird, werden rationale Optimierungsprozesse durch zusätzliche Unsicherheitselemente erschwert. Echte Neuerungen, die in Form von Innovationen (Produkt- oder Prozeßinnovationen sowie organisatorische Neuerungen) die Triebkraft einer funktionierenden Marktwirtschaft darstellen, können per Definition nicht vorab als Information in einen Entscheidungsprozeß einfließen. Sie begrenzen die Aussagekraft mathematischer Modelle daher auf statische Situationen oder bestenfalls auf die dynamische Fortschreibung eines zuvor fixierten Ausgangszustandes (Newtonscher Zeitbegriff). 61 Hodgson (1996, S. 702) bringt es auf den Punkt: „By its nature, novelty defies the boundaries of formalism." Daher ist ein auf Optimierung abstellendes Verhalten der Akteure am Arbeitsmarkt tatsächlich nur sehr eingeschränkt möglich. Statische Modelle können in dieser Hinsicht bestenfalls Momentaufnahmen liefern, gleichgewichtszentrierte Ansätze erfüllen dann ebenso wie spieltheoretische Analysen den Zweck, Anreizsysteme zu analysieren und sich über mögliche Entwicklungspfade klar zu werden (Voigt 2002, S. 50).62 Sobald echte Ungewißheit auf den Plan tritt, müssen statische Optimierungsmodelle also zwangsläufig an ihre Grenzen stoßen - Institutionen erhalten hierdurch erst eine ökonomische Funktion,

59

Ramstad (1993, S. 197 ff.) bezeichnet arbeitsmarkttheoretische Ansätze, die zwar Institutionen als Erklärende für das Ergebnis am Arbeitsmarkt einbeziehen, bei der Ableitung der Ergebnisse jedoch weiterhin einem neoklassischen Theoriekern folgen, als „neoklassisch-plus".

60

Vgl. in diesem Sinne Solow (1990) sowie Ken- (1994, S. 100) und Akerlof( 1990, S. 67).

61

Witt (2004, Ziffer 11) bemerkt hierzu: „Aber nicht jede Dynamik, die eine Gesetzmäßigkeit ausdrückt ist auch evolutionär. [...] Anders ausgedrückt, evolutionäre Prozesse generieren und offenbaren Neuigkeit."

62

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden häufig die Begriffe Effizienz und Gleichgewicht fallen. Dies kann nicht ausbleiben, wenn die Ergebnisse moderner ökonomischer Studien für die Beantwortung der Fragestellung nutzbar gemacht werden sollen. An dieser Stelle ist jedoch daraufhinzuweisen, daß sie in einer evolutorischen Denkweise, die Markt- und Wettbewerbsprozesse als Entdeckungsverfahren im Sinne von Hayeks (1968/1969) versteht, mit Vorsicht zu genießen sind.

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

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indem sie die entstehende Ungewißheit reduzieren und den Menschen Anhaltspunkte für ihre Entscheidungsfindung bieten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sich anhand einer institutionenökonomisch orientierten Analyse keine grundsätzlichen Aussagen über die Ausgestaltung von Regelsystemen treffen lassen, die tendenziell gesamtwirtschaftlich wünschenswerte Ergebnisse liefern. Hierbei handelt es sich dann jedoch lediglich um Mustervorhersagen (von Hayek 1974/1996, S. 13 f.; Fehl 2004, S. 8 ff.). 1.4.

Eingrenzung der Problemstellung

Da die Interdependenzen zwischen Arbeits-, Kapital- und Gütermärkten bedeutend sind, sollten sie im einleitenden Kapitel einmal im Gesamtzusammenhang skizziert werden (Abbildung 3). Die Einsicht in die Breite arbeitsmarkttheoretischer Fragestellungen mahnt zur Beschränkung, auch wenn damit die Gefahr besteht, wesentliche Punkte, die zu den strukturellen Problemen des Arbeitsmarktes beitragen, auszublenden. Zu den Aspekten, die in dieser Arbeit nur am Rande behandelt werden können, gehören bspw. die Wirkungen des internationalen Gütermarktwettbewerbs, die Folgen des technischen Fortschritts sowie die zunehmende Lohnkonkurrenz aus Schwellenländern. Zwar gehen diese Gesichtspunkte dahingehend in die Analyse ein, daß sie einen steigenden Anpassungsdruck auf den Arbeitsmarkt und dessen Institutionen ausüben, die Gründe für die Gütermarktdynamik und ihre exakte Transmission auf den Arbeitsmarkt werden jedoch nicht weiter thematisiert. Hier soll vor allem interessieren, inwiefern der Arbeitsmarkt in der Lage ist, solche Schocks zu verarbeiten. Gelingt dies nur mangelhaft und ist unfreiwillige Arbeitslosigkeit eine Ursache dieser Starrheiten, so müssen Reformansätze dort ansetzen, wo die Fehler geortet werden: bei der Ausgestaltung des Arbeitsmarktes und nicht bei der Dynamik anderer Teilbereiche. In der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte wird Arbeitslosigkeit vornehmlich als ein makroökonomisches Phänomen begriffen und im Zusammenhang mit der gesamtwirtschaftlichen (konjunkturellen) Lage sowie der Globalisierung diskutiert. Makroökonomische Probleme lassen sich jedoch nur theoretisch erklären und im Anschluß daran auch lindern, wenn man das Verhalten der Akteure auf der Mikroebene versteht, wenn also eine solide mikroökonomische Fundierung vorliegt. Um die Probleme auf dem Arbeitsmarkt verstehen zu können, müssen sowohl die Strukturen modemer Arbeitsbeziehungen als auch die Wirkungen von Arbeitsmarktinstitutionen analysiert werden. Eine mikroökonomisch fundierte Erklärung der Arbeitslosigkeit sollte neben den Zielen vor allem die relevanten Restriktionen der Wirtschaftssubjekte im Blick behalten. Daher wird besonderer Wert auf die Wechselwirkungen zwischen formalen und informellen Institutionen sowie auf das Zusammenspiel zwischen dem internen und dem externen Arbeitsmarkt gelegt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß Institutionen zumal in dynamischer Perspektive - recht unterschiedliche Wirkungen entfalten können. Zunächst sind effizienzsteigernde Institutionen zu nennen, die zu ParetoVerbesserungen führen und daher von allen Gruppenmitgliedern als vorteilhaft angesehen werden. So können soziale Normen, die kooperatives Verhalten befürworten, Konfliktsituationen entschärfen und Tauschgewinne ermöglichen. Dies gilt im Falle von nicht-kooperativen Spielen, zum Beispiel im Gefangenendilemma, aber auch in Verhandlungssituationen, in denen sie über eine hohe Konsensbereitschaft zu schnellen und

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damit kostengünstigen Lösungen fuhren (transaktionskostensenkende Institutionen). Andererseits entfalten Institutionen starke Verteilungswirkungen. Daher ist anzunehmen, daß eine Reihe von Institutionen eben aus diesem Grunde geschaffen bzw. in ihrer Entstehung gefördert werden. Somit ist die Frage zu beantworten, wo Institutionen auf dem Arbeitsmarkt transaktionskostensenkend wirken und wo sie reine Verteilungsinstrumente darstellen. Diese Vorgehensweise ermöglicht erst das Erarbeiten von Empfehlungen, wie notwendige Reformen auszugestalten sind und in die Tat umgesetzt werden können. Auf dem Arbeitsmarkt lassen sich eine zentrale Ordnung (Arbeitsmarktverfassung) und eine in den Arbeitsbeziehungen wirkende dezentrale Ordnung identifizieren, die sich gegenseitig beeinflussen und das Ergebnis auf dem Arbeitsmarkt maßgeblich bestimmen. Dabei stellt sich die Frage nach dem Ausmaß und der Ausgestaltung staatlicher Eingriffe. Wieviel zentrale Ordnung ist nötig, was kann durch die Marktteilnehmer, die freie Ausgestaltung der Austauschbeziehungen sowie dezentrale Markt- und Wettbewerbsstrukturen geleistet werden? Im Endeffekt sind Anhaltspunkte dafür zu finden, auf welcher Ebene die Regulierungen des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbeziehungen angesiedelt sein sollten. Läuft man ohne den Einsatz formaler Institutionen Gefahr, daß sich unerwünschte Ergebnisse einstellen, oder sind die dezentralen Mechanismen durchaus in der Lage, die Abläufe auf dem Arbeitsmarkt auch ohne massive staatliche Rückendeckung zu regeln? Sind vielleicht gerade die Institutionen, die eigentlich unerwünschte Marktergebnisse verhindern sollen, Auslöser unfreiwilliger Arbeitslosigkeit? Neben der Frage nach der Ausgestaltung und Wirkungsweise von Institutionen werden der Wandel bzw. das Beharrungsvermögen institutioneller Arrangements und ihre Folgen für Arbeitsmarktprozesse behandelt. Eine Hauptursache verbreiteter, persistenter Arbeitslosigkeit kann tatsächlich darin gesehen werden, daß sich die Menschen und damit auch die (zum Teil von ihnen geschaffenen) Institutionen nicht schnell genug auf Veränderungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld einstellen können oder aber wollen. Hieraus ergibt sich die Frage, wodurch diese Rigiditäten bedingt sind, und welche Maßnahmen zur Überwindung der bestehenden Starrheiten beitragen können. Letztlich stellt sich heraus, daß zahlreiche institutionelle Regelungen auf dezentraler Ebene besser greifen würden. Dabei ist hervorzuheben, daß eine dezentralere Ordnung der Arbeitsmarktprozesse gerade wegen der Besonderheiten des Faktors, die häufig als Argument für staatliche oder tarifpolitische Regelungen ins Feld geführt werden, vorzuziehen ist.

1.5.

Weitere Vorgehensweise

Nachdem im vorliegenden Kapitel der Untersuchungsgegenstand abgegrenzt worden ist und die Fragestellung entwickelt wurde, folgt im zweiten Kapitel die Erläuterung einiger institutionenökonomischer Zusammenhänge. Diese sollen die Analyse des Arbeitsmarktes vorbereiten. Dabei wird zunächst die Existenz echter Ungewißheit in Wirtschaftsprozessen und die damit zusammenhängende Annahme beschränkter Rationalität hervorgehoben. Die Einbeziehung gesellschaftlicher Normen in die Analyse deutet bereits daraufhin, daß das Menschenbild weiter gefaßt werden muß, als es im engen Konzept des Homo Oeconomicus der Fall ist. Um menschliches Verhalten im ökonomi-

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

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sehen Kontext besser beschreiben zu können, erfolgt der Rückgriff auf die experimentelle Wirtschaftsforschung. Diese weist nach, daß neben rational eigeninteressierten Akteuren altruistische und reziproke Motivationen eine wichtige Rolle spielen. Anschließend folgt die Einordnung des Institutionenbegriffes, wobei die unterschiedlichen Regelmechanismen sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Weise voneinander abzugrenzen sind. Daraufhin werden die Wirkungen von Institutionen einer genaueren Analyse unterzogen. Neben den wohlfahrtssteigernden Effekten stehen vor allem Verteilungswirkungen im Vordergrund. Weiterhin können Institutionen nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern es ergeben sich Wechselwirkungen zwischen ihnen. Schließlich soll kurz die Frage aufgeworfen werden, wie das Beharrungsvermögen oder auch der Wandel von Institutionen erklärt werden kann. Mit Kapitel 3. erfolgt der Übergang zur Untersuchung des Arbeitsmarktes. Dabei wird zunächst herausgestellt, warum es sich um einen Markt handelt, der einer gesonderten Analyse bedarf. Die Besonderheiten des Gutes Arbeit spiegeln sich vor allem in seinen unterschiedlichen Bedeutungen für den Menschen wider, aus denen sich wiederum eine besondere Sicht auf den Arbeitsmarkt ergibt. Hieraus leitet sich eine Nachfrage nach Institutionen zur Reduzierung der Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt ab. Damit wird deutlich, warum eine institutionenorientierte Herangehensweise dem Gegenstand angemessen ist. Kapitel 4. ordnet den Arbeitsmarkt in ein Markttypenschema ein, um die Differenzen zwischen vollkommenen Märkten und realen Arbeitsmärkten herauszustellen. Anschließend wird die Entwicklung des Arbeitsmarktes in einer modernen Volkswirtschaft idealtypisch nachgezeichnet. Dabei wird deutlich, daß der Arbeitsmarkt unter Strukturen leidet, die der heutigen Problemlage nicht mehr angemessen sind. Bevor die Arbeitsbeziehungen und die Arbeitsmarktordnung einer genaueren Untersuchung unterzogen werden, steht zum Ende von Kapitel 4. die Koordinationsleistung des Arbeitsmarktes im Vordergrund. Es geht also um die Frage, wie Akteure mit gleichen Vorstellungen über Qualität und Quantität der zu tauschenden Leistung zusammengeführt werden können. In einer Welt unvollständiger und häufig asymmetrisch verteilter Informationen stellt ein solches Matching keine Selbstverständlichkeit dar, so daß eine zusätzliche Nachfrage nach Institutionen entsteht. Die Informationsasymmetrien spielen jedoch auch nach Abschluß eines Arbeitsvertrages eine wichtige Rolle, wie bei der Analyse der hierarchisch organisierten Arbeitsbeziehungen in Kapitel 5. zu sehen sein wird. Abbildung 4 bietet einen Überblick über den weiteren Verlauf der Untersuchung in den Kapiteln 5. bis 8. Ziel des fünften Kapitels ist es, die Notwendigkeit von Institutionen und organisationsspezifischen Regeln in der Prinzipal-Agenten-Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herauszuarbeiten und zudem die Frage zu stellen, welche Rückwirkungen diese auf den externen Arbeitsmarkt haben. Hierzu wird zunächst eine vertragstheoretische Perspektive gewählt, durch die die Wirkung informeller Institutionen bei der Regelung unvollständiger Verträge hervorgehoben wird. Die Folgen der Vertragsunvollkommenheiten für die Arbeitsbeziehungen sowie die Wechselwirkungen mit der Arbeitsmarktsituation werden in den Ansätzen der Insider-Outsider-Theorie und vor allem der Effizienzlohntheorie thematisiert. Hierdurch ergibt sich eine Verbindung zwi-

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sehen den in den Kapiteln 3. und 4. herausgearbeiteten Besonderheiten des Gutes Arbeit und nicht-geräumten Arbeitsmärkten, ohne Bezug auf die zentrale Arbeitsmarktordnung nehmen zu müssen. Dabei spielt vor allem die Motivationsfunktion des Lohnes in den Arbeitsbeziehungen eine wichtige Rolle, auch weil sie bei Arbeitsangebotsüberschüssen in Konflikt zur Koordinationsfunktion des Lohnes auf dem Markt tritt. Diese Anreizfunktion des Lohnes wird stark von Gerechtigkeitsüberlegungen beeinflußt - die Arbeitnehmer legen ihr Leistungsniveau bei unvollkommenen Arbeitsverträgen in Abhängigkeit davon fest, für wie fair sie das von den Unternehmen angebotene Gehalt erachten. Hierbei spielen vor allem soziale Vergleichsprozesse eine Rolle, die den Einfluß der Arbeitsmarktlage auf die Lohnfindung bei weitem übersteigen. Zu diesem Themenbereich existiert mittlerweile eine ganze Reihe experimenteller Studien, die jedoch selten in einen gemeinsamen theoretischen Zusammenhang gesetzt werden. Dies geschieht in Kapitel 5. im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Abbildung 4: Überblick Kapitel 5. bis 8.

Nachdem in Kapitel 5. herausgestellt worden ist, daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit durchaus als Resultat der Besonderheiten moderner Arbeitsverhältnisse angesehen werden kann, soll in Kapitel 6. die bisher ausgeblendete kollektive Ebene des Arbeitsmarktes in den Blickpunkt rücken. Es wird also die Rolle der Interessenverbände auf dem Arbeitsmarkt analysiert. Damit sind die institutionellen Beschränkungen angesprochen, die dem Arbeitsmarkt,künstlich' von außen auferlegt werden. Hier ist vor allem an die Ausgestaltung kollektiver Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitge-

Kapitel 1: Einstieg und Problemstellung

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berverbänden zu denken. Das Verhalten der Gewerkschaften verstärkt die InsiderOutsider-Probleme, die bereits aus den Arbeitsbeziehungen resultieren, weiter. In Kapitel 7. soll schließlich anhand des Zentralisierungsgrades von Lohnverhandlungen, der Wirkung der betrieblichen Mitbestimmung, des Bestandschutzes sowie der Lohnersatzleistungen thematisiert werden, welche Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Normen, formalen Institutionen und der dezentralen Ordnung in den Arbeitsbeziehungen bestehen und wie diese wiederum das Ergebnis auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen. Da die Erstarrung der Arbeitsmarktinstitutionen vor allem zu Lasten einer steigenden Zahl Arbeitsloser geht, rückt Kapitel 8. diese Gruppe in das Zentrum der Analyse. Hier gilt es zunächst, die Gruppenproblematik anzusprechen, bevor darauf eingegangen wird, welchen Beschränkungen die Arbeitslosen bei der Ausübung von individueller Lohnkonkurrenz unterliegen. Im abschließenden Kapitel 9. werden die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefaßt. Hieran schließen sich wirtschaftspolitische Empfehlungen an, die sich aus der vorliegenden Analyse des Arbeitsmarktes ergeben. Es folgen einige Ausführungen zu den Problemen, die bei der Umsetzung von Reformen auftreten können, bevor die Arbeit mit einem Ausblick auf zukünftige Forschungsfragen endet.

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2.

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Ein institutionenökonomischer Ansatz „Was allerdings erforderlich ist, um die Handlungen von Millionen von Menschen erfolgreich zu koordinieren, ist das Bestehen von Institutionen. In ihnen objektivieren sich, sozusagen für uns als handelnde Individuen, die millionenfachen Handlungen unserer Mitmenschen, deren individuelle Pläne, Absichten und Motive wir unmöglich kennen können." Lachmann (1963, S. 63)

Im vorliegenden Kapitel sollen einige Begriffe eingeführt und Zusammenhänge verdeutlicht werden, die bei der nachfolgenden Analyse des Arbeitsmarktes von Bedeutung sind. Vor allem geht es darum, das Menschenbild, das dieser Arbeit zugrunde liegt, zu entwickeln und daran anschließend die besondere Rolle von Institutionen zu verdeutlichen. Zunächst soll gezeigt werden, daß das Verhalten der Menschen grundsätzlich vom Verhalten eines materiell eigennutzorientierten Homo Oeconomicus abweicht. Hierzu wird eine Reihe experimenteller Forschungsergebnisse vorgestellt, die unterschiedliche Motivationslagen und die daraus entstehenden Verhaltensweisen beleuchten. Insbesondere wird auf die Wirkungen bedingter und unbedingter Kooperation in Verhandlungsspielen und Dilemma-Situationen eingegangen. 63 Gemeinsam mit der Betonung konstitutioneller Unsicherheit (von Hayek 1969a, S. 171) und der damit einhergehenden beschränkten Rationalität wird die Rolle der Institutionen für menschliche Interaktionen verständlich. In der ökonomischen Sphäre erleichtern Institutionen sowohl den reibungslosen Ablauf von Interaktionen innerhalb des Unternehmens als auch die Markttransaktionen und fördern auf diese Weise die wirtschaftliche Entwicklung. Im Anschluß an eine genauere Definition von Institutionen sowie ihre horizontale und vertikale Abgrenzung, sollen neben den Effizienz- auch die Verteilungseffekte von Institutionen beleuchtet werden. Weiterhin sind die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Institutionen von besonderer Bedeutung, da formale und informelle Institutionen in der Regel gemeinsam auftreten. Abschließend stellt sich die Frage, wie sich Institutionen weiterentwickeln, oder wie es dazu kommen kann, daß sie eine gewisse Starrheit aufweisen, obwohl sie nicht mehr in einer gesellschaftlich wünschenswerten Art und Weise wirken.

2.1.

Aspekte der Unsicherheit

Betrachtet man die Informationsannahmen neoklassischer Ansätze (der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie), so wird klar, daß die Bedeutung von Institutionen aufgrund der

63

Dabei soll unter kooperativem Verhalten verstanden werden, daß das eigene Verhalten auch anderen Parteien zum Vorteil gereicht. Dies ist vor allem dann von Bedeutung, wenn dem Individuum andere Strategien zur Verfugung stehen, die aus rationalem Eigennutz vorzuziehen wären. Dann widerspricht kooperatives Verhalten den Verhaltensannahmen des Homo Oeconomicus.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

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Ausblendung der Unsicherheit denkbar gering sein muß.64 Während im neoklassischen Modell prinzipiell alles, was für die Lösung eines Problems gebraucht wird, von vornherein bekannt ist, gilt in einer evolutorischen Perspektive, daß immer auch mit Veränderungen des Datenkranzes gerechnet werden muß (Fehl 2004, S. 13). Vollkommene Information sowie vollkommene Informationsverarbeitungskapazitäten sind lediglich modelltheoretische Konstrukte, die reale Marktprozesse nicht abzubilden vermögen. Letztere sind ebenso wie gesellschaftliche und politische Interaktionen durch vielfaltige Formen von Unsicherheit bestimmt. Da die Zukunft grundsätzlich offen ist, stellt der zur Verfügung stehende Strategienraum selbst eine unbekannte Größe dar, die das Arbeiten mit objektiven Wahrscheinlichkeiten unmöglich macht. Die Zukunft ist also durch „Nichtwissen" (Shackle 1983) geprägt, wodurch voll informierten Optimierungsprozessen die Grundlage entzogen wird.65 Die Wirtschaftssubjekte sehen sich vielmehr immer wieder mit neuen Entscheidungssituationen konfrontiert, denen sie nicht nur durch reine Anpassungsmaßnahmen, sondern auch durch die kreative Suche nach Neuerungen begegnen. Hierdurch entsteht wiederum neue Unsicherheit, die der Vorhersehbarkeit zukünftiger Situationen und Handlungen neue Grenzen setzt. Im neoklassischen Ansatz sind diese schöpferischen Elemente, die Zukunftsorientierung und der Wille zur persönlichen Weiterentwicklung nicht enthalten (Kaufman 1999, S. 387).66 Beim Auftreten konstitutioneller Ungewißheit handelt es sich um ein grundsätzliches Problem formaler Gleichgewichtstheorien, das sich nicht über die Bildung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen und spieltheoretische Modellierungen lösen läßt. Doch sogar weniger anspruchsvolle Situationen sind mit Problemen behaftet. Selbst wenn man davon ausgeht, daß alle zukünftigen Umweltzustände den Akteuren theoretisch bekannt sein können, ergibt sich in interdependenten Entscheidungssituationen das Problem, daß sich der Wissensstand der Akteure voneinander unterscheiden wird (Richter und Furubotn 1996, S. 493). Es werden also Mechanismen nötig sein, die eine Angleichung oder eine wechselseitig richtige Einschätzung der jeweiligen, subjektiven Wahrscheinlichkeiten ermöglichen. Erst dann gehen die Akteure überhaupt von derselben Spielsituation aus, so daß es theoretisch möglich wird, eine gleichgewichtige Situation zu erlangen. Nehmen wir an, auch dieses Kompatibilitätsproblem sei gelöst, indem allgemein zugängliche und vertrauenswürdige Informationen über die Umweltzustände vorliegen. Nun tritt noch immer strategische Unsicherheit im Hinblick auf das Verhalten der anderen Akteure auf, was eine letzte Hürde auf dem Weg zu einem Gleichgewicht darstellt. Erst jetzt befindet man sich auf der Ebene, auf der sich die Spieltheorie um die Ableitung von stabilen Gleichgewichten bemüht. In der nicht-kooperativen Spieltheorie treten vor allem dann Probleme auf, wenn entweder mehrere oder aber gar kein Nash-

64

Richter (1999, S. 47) bezeichnet die neoklassische Welt ohne Transaktionskosten als „institutionenneutral".

65

Richter und Furubotn (1996, S. 493) bemerken hierzu: „Von Null verschiedene Transaktionskosten und eine beschränkte Rationalität sind Grundzüge der Wirklichkeit, die in der ökonomischen Theorie berücksichtigt werden sollten. [...] die Wirtschaftssubjekte sind nicht ,voll informiert' wie in einem neoklassischen Modell allgemeinen Gleichgewichts."

66

Daher bleibt auch die Rolle des Unternehmers in der neoklassischen Theorie unterbelichtet - vgl. hierzu ausfuhrlich Kirzner (1997).

26

Martin Dietz

Gleichgewicht existiert, so daß eine Gleichgewichtsauswahl nicht ohne weiteres möglich ist (Mailath 1998, S. 1348 ff.). Zudem sind Situationen denkbar, in denen individuell rationales Verhalten zu einer kollektiven Schlechterstellung fuhrt. In diesen Fällen spricht man von sozialen oder gesellschaftlichen Dilemmata (Kollock 1998, S. 183 ff.).67 Obwohl den Akteuren dieses Problem durchaus bewußt ist, gelingt es ihnen in der ökonomischen Modellwelt nicht, das Dilemma zu bewältigen. Experimentelle Studien belegen jedoch, daß es den Menschen in zahlreichen nicht-kooperativen Situationen möglich ist, sich auf ein bestimmtes Gleichgewicht einzurichten oder Dilemma-Situationen zu überwinden. Dies deutet darauf hin, daß Hilfsmittel existieren, die bestehende Unsicherheiten so weit reduzieren, daß die Situation erstens von allen Beteiligten gleich eingeschätzt wird und zweitens eine gewisse Erwartungssicherheit in Bezug auf das Verhalten der Gegenseite besteht. Auf diese Weise können Konflikte zwischen Akteuren oder zwischen individueller und kollektiver Rationalität überwunden werden. Genau diese effizienzsteigernden Funktionen werden von Institutionen übernommen. Im Hinblick auf eine wirklichkeitsgetreuere Betrachtung von Wirtschaftsprozessen scheint also eine Aufweichung der neoklassischen Annahme vollkommen rationaler Agenten angebracht zu sein. Herbert Simon stellt bei seiner Analyse beschränkt rationalen Verhaltens die Bedeutung von Regeln heraus (Simon 1955).68 Unter beschränkter Rationalität versteht man im allgemeinen die Unfähigkeit der Menschen, Informationen augenblicklich und kostenlos zu erlangen sowie zu verarbeiten. Dies wird einerseits durch die konstitutionelle Unsicherheit verhindert, andererseits sind die Beschränkungen kognitiver Art und treten in Form eines begrenzten Erinnerungs- sowie rechnerischen Leistungsvermögens beim Menschen selbst auf (Richter und Furubotn 1996, S. 190 f.).69 Tatsächlich ergibt sich erst dadurch, daß der Mensch keinen vollkommen rationalen Anpassungsautomaten darstellt, Raum für das Entstehen und Wirken von formalen und informellen Institutionen zur Erwartungsstabilisierung und Senkung von Transaktionskosten. Beschränkte Rationalität bezeichnet daher nicht eine Optimierung, die lediglich unter erweiterten Nebenbedingungen durchgeführt wird, auch wenn der Begriff häufig so verwendet wird. Richter und Furubotn (1996, S. 482) bemerken hierzu: „Vielmehr ist in Modellen, in denen unvollständige Information und eingeschränkte Rationalität eine wesentliche Rolle spielen, schon der Prozeß, in dem ökonomische Lösungen generiert werden, völlig verschieden von dem des neoklassischen Modells."

Simon (1957, Kap. IV) hat in diesem Zusammenhang das Verhaltensmuster des Satisfizierens als Streben nach Bedürfnisbefriedigung auf einem bestimmten Niveau entwickelt. Die Annahme des Satisfizierens stellt deutlich weniger Anforderungen an die

67

Herder-Dorneich

68

Heiner (1983, S. 570) zeigt, daß es unter Unsicherheit rational sein kann, sich bei Entscheidungen auf Daumenregeln zu verlassen.

(1982) bezeichnet solche Situationen als „Rationalitätenfallen".

69

Darstellungen entscheidungstheoretischer Anomalien und deren Bedeutung finden sich bei Frey (1990, Kap. 11) sowie bei Kirchler (1999, Kap. 2). Camerer (1997, S. 175 ff.) geht auf Fokuspunkte, die wiederholte Eliminierung dominierter Strategien sowie die Rückwärtsinduktion ein.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

27

Wirtschaftssubjekte, da sie regelgeleitetes Verhalten zuläßt. Aus diesem Grunde werden auch die Begriffe der Regelrationalität oder der adaptiven Rationalität verwendet.70 Das menschliche Verhalten ist dann als absichtsvoll (purposive) zu bezeichnen, ohne rational im Sinne von optimierend zu sein (Simon 1961, S. XXIV). Die vielfältigen privaten (Daumen-)Regeln, die von den Wirtschaftssubjekten bei ihren täglichen Entscheidungen zum Einsatz gebracht werden, orientieren sich an der Tauglichkeit, ein zufriedenstellendes Ergebnis zu generieren. Erst wenn eine bestimmte Schwelle unterschritten oder dem Akteur durch Zufall, Beobachtung oder Kommunikation eine bessere Regel bekannt wird, verändert sich der Entscheidungsprozeß. Verhalten sich Menschen satisfizierend, kann nicht mehr sichergestellt werden, daß allokationseffiziente Gleichgewichte erreicht werden. Die Marktergebnisse sind vielmehr vom angestrebten Bedürfhisbefriedigungsniveau der Akteure abhängig und werden aufgrund der nicht vollständig ausgeschöpften Informationen nur in Ausnahmefällen Pareio-effizient sein. Die Bedeutung von Institutionen, die sich aus verschiedenen Formen der Ungewißheit ergibt, wird durch die Resultate experimenteller Studien verstärkt, in denen deutlich wird, daß individuell eigennutzorientiertes Verhalten nur eine von mehreren möglichen Motivationen ist.71 Diese Ergebnisse machen es notwendig, das Menschenbild, das dem Homo Oeconomicus zugrunde liegt, in den kommenden Abschnitten zu hinterfragen. 2.2.

Menschenbild - Theorie und (experimentelle) Realität

Als Kernelemente der Neuen Institutionenökonomik können das Individualprinzip, das Rationalitätsprinzip, der methodologische Individualismus sowie das Prinzip der Nicht-Einzelfall-Betrachtung angeführt werden (Erlei, Leschke und Sauerland 1999, S. 51 ff.). Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen wird eine Diskussion der traditionellen Rationalitätsannahmen stehen.72 Dazu wird zunächst eine bewußt eng gefaßte Version des Homo Oeconomicus mit den Erkenntnissen der experimentellen Ökonomik konfrontiert, um auf diese Weise zu einem reicheren ökonomischen Verhaltensmodell zu gelangen. Menschliches Verhalten wird im ökonomischen Modell als rationale Auswahl aus den zur Verfugung stehenden Alternativen angesehen. Dabei wird strikt zwischen Präferenzen und Restriktionen getrennt.73 Falk (2001, S. 3) faßt unter dem Begriff des Homo Oeconomicus den rationalen, eigennutzorientierten Menschen und nimmt weiterhin eine Eingrenzung auf den materiellen Eigennutz vor. Auch wenn die Darstellung des Homo 70

Der Begriff der adaptiven Rationalität geht auf Mueller (1986) zurück. Er macht deutlich, daß die Wirtschaftssubjekte bei den die Zukunft betreffenden Entscheidungen immer auch die Vergangenheit berücksichtigen. Es besteht also eine gewisse Pfadabhängigkeit von Entscheidungen.

71'

Vgl. Voigt (2002, S. 51 ff.), der die enge Version des Homo Oeconomicus als falsifiziert ansieht.

72

Laut Becker (1976, S. 5) bilden Optimierung, Marktgleichgewicht und stabile Präferenzen das Herz des ökonomischen Ansatzes.

73

Präferenzen spiegeln die Wertvorstellungen wider, wie sie sich im Sozialisationsprozeß entwickelt haben. Sie sind unabhängig von den aktuell zur Verfugung stehenden Handlungsalternativen (Kirchgässner 2000, S. 14).

28

Martin Dietz

Oeconomicus als stets vollkommen informierten und optimal handelnden Menschen ein Zerrbild darstellt, bildet es noch immer den Kern der meisten ökonomischen Modelle (Kirchgässner 2000, S. 14 ff.).74 Zwar läßt auch das Konzept des materiellen Eigennutzes die Erweiterung auf andere Präferenzen zu, in diesem Fall entsteht jedoch eine gewisse Beliebigkeit, durch die letztlich jedes Verhalten erklärbar wird (Schoemaker 1982, S. 539). Die verkürzte Definition des Homo Oeconomicus bietet durch ihre klare Abgrenzung den Vorteil, Verhaltensprognosen generieren zu können, die dann von anderen Theorien zu unterscheiden sind. Die strikten Rationalitätsannahmen ermöglichen es also erst, die Wirkungen gesellschaftlicher Normen zu analysieren. Dem Ideal des Homo Oeconomicus als eines rationalen Egoisten, der sich an seinem materiellen Eigennutz orientiert, sollen Verhaltensweisen an die Seite gestellt werden, die sich aus der Tatsache ergeben, daß es sich beim Menschen um ein soziales Wesen handelt. Daß auch ökonomisch relevante Entscheidungen durch ihre Einbettung in ein gesellschaftliches Umfeld beeinflußt werden, läßt sich anhand von experimentellen Studien zeigen. Dabei wird deutlich, daß die Verhaltensprognose für rationale Egoisten nur einen Ausschnitt komplexerer menschlicher Verhaltensmuster abbilden kann.75 Die Ergebnisse lassen darauf schließen, daß das Verhalten neben der Eigennutzorientierung vor allem durch Gerechtigkeitsnormen beeinflußt wird. Diese können sich sowohl auf die Beurteilung von Endzuständen (Auszahlungsgerechtigkeit) als auch auf die Art und Weise, wie ein Resultat zustande gekommen ist, beziehen. Bei letzterer muß wiederum in prozedurale Gerechtigkeit, bei der ein Regelmechanismus beurteilt wird, und interaktionaler Gerechtigkeit, bei der es um das konkrete Verhalten der beteiligten Personen geht, unterschieden werden (Cohen-Charash und Spector 2001, S. 296). Hier spielen auch die Absichten eine Rolle, die einer Person bei ihrem Verhalten unterstellt werden. 2.2.1. Ergebnisse der experimentellen Ökonomik Die Verhaltensweise von Homo Oeconomici kann als „gegenseitig desinteressiert" beschrieben werden (Rawls 1971, S. 168). Das Nutzenniveau ist also bestenfalls unabhängig vom Wohlergehen anderer Personen. Handelt es sich um Situationen, in denen es um die Aufteilung eines Kuchens zwischen mehreren Akteuren geht, wird der eigene Nutzen sogar negativ von der Größe des Anteils der anderen Personen beeinflußt. Soziale Präferenzen treten dagegen auf, wenn der eigene Nutzen positiv vom Nutzenniveau anderer Individuen abhängt - es handelt sich dann um interdependente Nutzenfunktionen (Fehr und Falk 2002, S. 689).76

74

Erlei (2002, S. 3) stellt fest, daß in der institutionenökonomischen Theorie „ein beträchtliches Ausmaß an Dissens hinsichtlich der Rationalitätsannahme" besteht. Zur Kunstfigur des Homo Oeconomicus siehe auch Frey (1990, Teile A und C) sowie aus psychologischer Sicht Kirchler (1999, S. 20 ff.).

75

Camerer und Thaler (1995), Roth (1995) sowie Camerer (2003) bieten ausfuhrliche Übersichten zu den Ergebnissen der experimentellen Ökonomik.

76

Dabei wird von Intemalisierem die Rede sein, wenn tatsächlich von einer Präferenz für eine bestimmte Verhaltensweise gesprochen werden kann. Dagegen werden sich Imitatoren nur dann ,sozial' verhalten, wenn sie sich dadurch materielle Vorteile versprechen. Es handelt sich also um eigennutzorientierte Akteure im .sozialen Gewand'.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

29

In der Spieltheorie wird zwischen nicht-kooperativen und kooperativen Spielen (Verhandlungsspielen) unterschieden. Dabei zeichnen sich letztere dadurch aus, daß es den Akteuren grundsätzlich möglich ist, zu einer Einigung zu kommen, über die sich verbindlich durchsetzbare Verträge schließen lassen. Dies ist bei nicht-kooperativen Spielen nicht der Fall, so daß kooperative Akteure stets der Gefahr ausgesetzt sind, daß sich rational eigennutzorientierte Spieler auf ihre Kosten einen Vorteil verschaffen. Diese Gefahr besteht vor allem bei sozialen Dilemmata wie dem Gefangenendilemma. 77 Diese Situationen beinhalten ein gewisses Verteilungselement, das eigennutzorientierte Akteure zum Trittbrettfahren einlädt. Bei kooperativen Spielen geht es dagegen um Verteilungsfragen, wobei es sich bspw. um einen Tauschgewinn handeln kann, dessen Aufteilung nicht durch den Marktmechanismus vorgenommen wird. Zwei Situationen, in denen die Verhandlungsmacht zwischen den Akteuren sehr ungleich verteilt ist, werden durch das Diktatorspiel (Abschnitt 2.2.1.1.) und das Ultimatumspiel (Abschnitt 2.2.1.2.) abgebildet. Die hier präsentierten Forschungsergebnisse lassen sich den Behavioral Economics zuordnen, die im Grenzbereich zwischen Ökonomie und Psychologie zu verorten sind.78 Der Zweig der Behavioral Game Theory versucht, das ökonomische Verhaltensmodell qualitativ anzureichern, indem die Prognosen des materiellen Eigennutzes anhand von empirischen Untersuchungen überprüft werden. 79 Die Ökonomik ist im Gegensatz zur Psychologie keine Wissenschaft, deren Ziel das Herausarbeiten und Erklären von Einzelverhalten ist. Sie widmet sich vielmehr der Suche nach allgemeinen Verhaltensweisen, die sich als repräsentativ oder dominant für eine bestimmte Situation erweisen. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus dem Erkenntnisinteresse der ökonomischen Wissenschaft, nämlich der Erklärung aggregierter Phänomene. Daher muß bei der Aufnahme von Ergebnissen aus der experimentellen Forschung stets darauf geachtet werden, daß es sich nicht nur um Einzelphänomene, sondern um ein repräsentatives, verallgemeinerbares Verhalten handelt, das vom Bild des Homo Oeconomicus in konsistenter Art und Weise abweicht. Nur dann können die Aspekte auf aggregierter Ebene Geltung beanspruchen, und eine neue Theorie kann neben oder an die Stelle der alten Hypothesen treten (Frey 1990, S. 174 ff.). Ein Vorteil experimenteller Forschung ist im Aufbau kontrollierbarer Situationen zu sehen, so daß das beobachtbare Verhalten klar auf Veränderungen der äußeren Restriktionen zurückgeführt werden kann.80 Damit kann durch Experimente die Wirkung for-

77

78 79 80

Die heute verwendete Darstellung des Gefangenendilemmas geht auf Albert W. Tucker zurück - vgl. Poundstone (1992, S. 117 f.), der eine lesenswerte Monographie zum Gefangenendilemma vorlegt. Eine Abgrenzung zwischen psychologischer Ökonomik und ökonomischer Psychologie findet sich in den jeweils ersten Kapiteln von Kirchler (1999) und Wiswede (2000). Ein ausfuhrlicher Überblick über die Ergebnisse dieses Forschungszweiges findet sich in Camerer (2003). Diese Form der Ceteris-paribus-Analyse korrespondiert mit der Vorgehensweise in der ökonomischen Modelltheorie. Es gibt eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit dem Nutzen der experimentellen Methoden für die ökonomische Forschung beschäftigen - vgl. bspw. Roth (1995), Frey und Bohrtet (1997), Binmore (1999) sowie Falk und Fehr (2003) mit

30

Martin Dietz

maier und vor allem informeller Institutionen herausgearbeitet werden. Bspw. läßt sich untersuchen, ob in unterschiedlichen Kulturkreisen dieselbe Versuchsanordnung zu abweichenden Ergebnissen führt (Kulturabhängigkeit). 8 ' Die meisten Experimente zeichnen sich ebenso wie formale (spieltheoretische) Modelle dadurch aus, daß der Strategienraum exogen vorgegeben wird. Die Komplexitätsreduktion auf geschlossene Entscheidungssituationen, die einerseits den Zugewinn der experimentellen Ökonomik darstellt, bildet somit auch ihre größte Beschränkung, da sie keine Möglichkeit zu kreativem und innovativem Verhalten bietet (Frey und Bohnet 1997, S. 356). 2.2.1.1.

Altruismus (Unbedingte

Kooperation)

Altruismus kann als Akt der Freundlichkeit bezeichnet werden. Dabei entstehen dem Handelnden Kosten, ohne daß er eine unmittelbare oder zukünftige Kompensation erwarten kann. Wenn der Handlung kein ähnliches Verhalten vorausgegangen ist, handelt es sich um eine unbedingte Verhaltensweise (Fehr und Fischbacher 2002, S. C3 f.).82 Diese steht im Widerspruch zum ökonomischen Verhaltensmodell, da die Akteure freiwillig auf materiellen Nutzen verzichten (Kirchgässner 2000, S. 289). Unbedingt kooperatives Verhalten läßt sich besonders gut anhand des Diktator-Spiels abbilden.83 Da in Experimenten vollkommene Anonymität erzielt werden kann, ist es möglich, eine Situation zu generieren, in der die Spieler weder Belohnungen noch Sanktionen formaler oder informeller Art erwarten dürfen (Camerer 1997, S. 169). Im Diktatorspiel werden jeweils zwei Teilnehmer ausgewählt, von denen einer per Zufallsmechanismus mit einer Geldsumme ausgestattet wird. Dieser Akteur wird aufgefordert, sich für eine Aufteilung der Summe zu entscheiden. Der Adressat hat keine andere Wahl, als die Entscheidung des Diktators zu akzeptieren. Die spieltheoretische Lösung ist eindeutig. Sie besagt, daß der Diktator die gesamte Summe für sich behält. In den Experimenten zeigt sich, daß sowohl der Eigennutz als auch der Altruismus eine Rolle spielt. Im Durchschnitt werden etwa 20 Prozent der Ausstattung weitergegeben. Nur etwa 20 Prozent der Diktatoren behalten die gesamte Summe für sich. In jedem Fall ist zu konstatieren, daß das durchschnittliche Verhalten deutlich von der Verhaltensprognose eines Homo Oeconomicus abweicht {Camerer 2003, S. 48 ff.).84

81 82 83 84

direktem Bezug zu Arbeitsmarktexperimenten. Erlei (2002, S. 25 ff.) betont die fruchtbare Verbindung zwischen experimenteller Ökonomik und der Theorie der Institutionen. Vgl. bspw. Henrich et al. (2001). Eine ausfuhrliche Diskussion altruistischen Verhaltens bietet Khalil (2004). Eine erste Version des Diktatorspiels wurde in Kahneman, Knetsch und Thaler (1986b, S. S289 ff.) verwendet. Das unbedingte Verhalten in Diktatorspielen scheint jedoch nicht robust gegenüber Veränderungen im Spielaufbau zu sein. So geben Camerer und Hogarth (1999) Beispiele dafür, daß eine Erhöhung der Anfangsausstattung das eigennutzorientierte Verhalten der Akteure verstärkt. Dies deutet darauf hin, daß für die Höhe des Geschenkes auch der absolute Betrag eine Rolle spielt.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

2.2.1.2.

Reziprozität

(Bedingte

31

Kooperation)

Besondere Beachtung hat in den vergangenen Jahren das Konzept der Reziprozität gefunden. Daß Beziehungen auf Gegenseitigkeit beruhen, sollte Ökonomen, die sich mit freiwilligen Tauschbeziehungen beschäftigen, kaum überraschen. Die Reziprozitätsnorm ist jedoch als eine allgemeinere Norm anzusehen, die sich sowohl auf persönliche Beziehungen als auch auf Markttransaktionen anwenden läßt {Akerlof 1982, S. 549 ff.). 85 Dabei steht der Austausch materieller oder immaterieller Güter, der mehr oder weniger stark durch die Beziehung zwischen den Tauschpartnern selbst geprägt wird, im Mittelpunkt. Das Spektrum reicht vom anonymen, rein ökonomischen Tausch (Spot-Markt), bei dem die Beziehung zwischen den Vertragspartnern keine Rolle spielt, bis hin zur Freundschaft oder Liebesbeziehung, bei der die Beziehung selbst im Vordergrund steht. Sozialpsychologische Untersuchungen sehen in der Reziprozitätsnorm eine der wichtigsten menschlichen Verhaltensnormen (Cialdini 1993, S. 18). Auch für reziprokes Verhalten gilt, daß es nicht durch die Erwartung zukünftiger Erträge geleitet wird. Die Akteure antworten auf freundliches Verhalten freundlich und auf feindliches Verhalten feindlich, und zwar unabhängig von materiellen Gesichtspunkten {Fehr und Fischbacher 2002, S. C3; Fehr und Falk 2002, S. 689). 86 Fehr und Gächter (2000, S. 159) fuhren aus: „People repay gifts and take revenge even in interactions with complete strangers and even if it is costly for them and yields neither present nor future material rewards." Damit kann Reziprozität nach Rabin (1993, S. 1282) als Wille interpretiert werden, Ressourcen einzusetzen, um freundliche Handlungen zu belohnen (positive Reziprozität) und unfreundliche zu bestrafen (negative Reziprozität). In dieser engen Interpretation muß also eine gewisse Präferenz für Reziprozität bestehen, die auch ohne eine - wie auch immer geartete - Gegenleistung Bestand hat. Damit sind wiederum anonyme und einmalige Interaktionen nötig, um reziprokes Verhalten in Reinform nachweisen zu können. Zur Analyse negativer Reziprozität eignet sich das Ultimatumspiel. 87 Es ähnelt in seiner Ausgestaltung dem Diktatorspiel, nur daß der Adressat die Möglichkeit besitzt, das Angebot abzulehnen. In diesem Fall erhalten die Beteiligten beide nichts. Die spieltheoretische Prognose verändert sich durch die zweite Stufe kaum. Da der Adressat jede noch so kleine Summe gegenüber dem Ergebnis bei Ablehnung bevorzugen wird, kommt es zum Angebot der kleinstmöglichen Summe, die der Adressat annehmen wird. Die Ergebnisse der Experimente sprechen jedoch eine andere Sprache. Die Angebote liegen im Durchschnitt zwischen 30 und 40 Prozent, häufig tritt eine Gleichverteilung auf. 88 Angebote unter 20 Prozent der Gesamtsumme werden mit einer 40 bis 85 86 87

88

Eine ausführliche Darstellung reziproker Verhaltensweisen bietet Stegbauer (2002). Im Gegensatz zum Altruismus stellt sie damit jedoch keine unbedingte Verhaltensweise dar (Fehr und Gächter 2000, S. 160; Elster 1989b, S. 113 ff.). Das Ultimatumspiel geht auf Güth, Schmittberger und Schwarze (1982) zurück. Neben dem Ultimatumspiel und den in Abschnitt 5. zu behandelnden Geschenkaustauschmärkten existieren weitere Spielformen, die die Bedeutung von Reziprozität nachweisen (Gächter und Fehr 2002, S. 103 f.; Berg, Dickhaut und McCabe 1995). Vgl. Camerer und Thaler (1995, S. 210 ff.) mit Literaturhinweisen. Camerer (2003, S. 48 ff.) bietet einen ausfuhrlichen Überblick zum Ultimatumspiel.

32

Martin Dietz

60prozentigen Wahrscheinlichkeit abgelehnt - die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung sinkt zudem mit der Höhe des Angebotes.89 Das Verhalten der Adressaten ist als negative Reziprozität zu deuten, da sie bereit sind, Kosten auf sich zu nehmen, um ein als unangemessen empfundenes Angebot abzulehnen. Die Höhe der Angebote deutet darauf hin, daß die Geber das Verhalten der Adressaten antizipieren und dadurch in ihrem Eigennutzstreben beschränkt werden. Das reziproke (bedingt kooperative) Verhalten fallt also bei den Adressaten an, während die Geber versuchen, aus strategischen Gründen freundliches Verhalten an den Tag zu legen. Die Erwartung reziproken Verhaltens wirkt im Ultimatumspiel also als eine informelle Restriktion auf das Angebotsverhalten. Die Ergebnisse sind relativ robust gegenüber zahlreichen Veränderungen der Bedingungen, bspw. gegenüber der Höhe der Auszahlungen (Camerer 2003, S. 59 ff.).90 Nun sollen noch zwei Varianten des Ultimatumspiels angeführt werden, die zu Verhaltensänderungen führen und im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktanalyse wieder auftauchen werden: die Veränderung der Informationsannahmen sowie der Effekt, daß der Geber sich seine Rolle erarbeitet und damit ein Anrecht (entitlement) auf einen größeren Teil des Kuchens erwirbt. Die Veränderung der Informationsannahmen kann dazu führen, daß sich eigennutzorientiertes Verhalten stärker bemerkbar macht. Diese Situation läßt sich simulieren, wenn die Anfangsausstattung in Chips gezahlt wird, die für den Geber mit 0,3 Geldeinheiten einen höheren Wert haben als für den Adressaten mit 0,1 Geldeinheiten.9' Ist diese Information asymmetrisch zugunsten des Gebers verteilt, so kann untersucht werden, ob dieser tatsächlich eine Präferenz für eine Gleichverteilung hat oder sich lediglich den Anschein der Fairneß geben will, um negative Reziprozität zu vermeiden. Im ersten Fall würde die monetäre Gleichverteilung bei einem Angebot von 75 Prozent der Chips liegen, während ein Angebot von 50 Prozent bereits genügt, damit das Angebot mit einer hohen Wahrscheinlichkeit angenommen wird. Tatsächlich liegen die Werte weiterhin nahe 50 Prozent - allerdings erhöhen sich die Angebote, wenn die Ungleichverteilung der Auszahlungen common knowledge ist, aufgrund einer großen Zahl an Ablehnungen auf bis zu 64 Prozent.92 Weiterhin können Veränderungen im Aufbau des Experimentes dazu führen, daß sich die angebotene Summe der spieltheoretisehen Prognose annähert. Bevor diese Ergebnisse vorgestellt werden, bietet es sich an, die Begriffe Endowment-Effekt (Thaler 1980) und Status-Quo-Bias (Samuelson und Zeckhauser 1988) kurz zu erläutern. Beide bezeichnen das Phänomen, daß Menschen dazu neigen, einem bestehenden Zustand (bspw. der Anfangsausstattung) einen überhöhten Nutzen zuzuordnen, der nicht konsistent mit der eigentlichen Präferenzordnung ist. Diese Anomalie läßt sich wiederum auf das empirisch bestätigte Phänomen der Verlustaversion (loss aversion) zurückführen.

89

Vgl. Fehr und Fischbacher

(2002, S. C5) sowie die Übersicht bei Fehr und Schmidt

91

(1999, S. 827). Die Robustheit gegenüber der Höhe der Auszahlungen dürfte vor allem durch Risikoaversion begründet sein. Dieses Experiment geht auf Kagel, Kim und Moser {1996) zurück.

92

Vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse in Camerer und Thaler {1995, S. 212 f.).

90

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

33

Es besagt, daß der entgangene Nutzen beim Verlust eines Gutes höher ist als der Nutzen, den man mit dem Erwerb desselben Gutes verbindet (Kahneman, Knetsch und Thaler 1991, S. 194).93 Veränderungen, die das eigene Wohlbefinden verschlechtern, werden daher stärker bewertet als Veränderungen, die objektiv eine Verbesserung des Zustandes im selben Ausmaß bewirken sollten (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 729 ff.). Diese Phänomene bringen es mit sich, daß Wirtschaftssubjekte einen Anspruch auf den Status Quo erheben.94 Schlicht (1998, S. 24) verdeutlicht diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Entitlements are rights, as perceived by the individual. They are not, however, legal rights. Rather they denote the subjectively perceived rights that go along with a motivational disposition to defend them." Dieser Anspruch fallt um so stärker aus, je eher der Status Quo durch den Akteur selbst erarbeitet wurde und je weniger er von außen vorgegeben ist (Gächter und Riedl 2002, S. 20). Vergangene Interaktionen bilden daher einen wichtigen Referenzpunkt für gegenwärtige und zukünftige Geschäfte (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 729 f.). Damit kommen wir auf die am Anfang stehende Behauptung zurück: Wird die Rolle des Gebers nicht zugelost, sondern in einer vorgelagerten Stufe erarbeitet, senkt der Geber seine Zuteilung ab, und der Adressat ist geneigt, auch geringere Summen zu akzeptieren ( H o f f m a n et al. 1994). Die Vorleistung beeinflußt also die Eigentumsrechte an der zugeteilten Summe. Gächter und Riedl (2002) untersuchen die Entstehung von Anrechten in einer ähnlichen Spielsituation. Zwei Akteure nehmen an einem Quiz teil, dessen Erfolg über die Aufteilung einer Geldsumme entscheidet: der Gewinner erhält zwei und der Verlierer ein Drittel des Kuchens. Anschließend legt eine Zufallsvariable fest, ob die Auszahlung tatsächlich in dieser Weise stattfindet, oder ob es in einer neuen Runde zu freien Verhandlungen über die Aufteilung der Summe kommt. Da die in der ersten Periode zugeteilten Anrechte aus ökonomischer Sicht versunken sind, wäre bei der freien Einigung ein egalitäres Ergebnis zu erwarten. Tatsächlich ergibt sich jedoch eine Aufteilung, die dem Fokuspunkt der zuvor erworbenen Anrechte (2/3 zu 1/3) nahekommt.95 2.2.1.3.

Strategische Reziprozität und

Geschenkaustausch

Bisher wurde davon ausgegangen, daß es sich um einmalige und anonyme Situationen handelt, so daß das Verhalten der reziproken Akteure keinerlei Erziehungseffekt haben konnte. In Situationen, die zu einem gewissen Teil durch persönliche Bindungen und wiederholte Interaktionen gekennzeichnet sind, können weitere Ursachen für rezi-

93 94 95

Verlustaversion wurde zuerst von Kahneman und Tversky (1984) thematisiert. Vgl. Zajac (1995, S. 121) mit diversen Beispielen. Der Gewinner erhält im Schnitt 60,5 Prozent des Kuchens, nur 11 Prozent einigen sich auf die egalitäre Lösung (Gächter und Riedl 2002, S. 13). Da das Ergebnis hier offensichtlich nicht von asymmetrisch verteilten Rechten beeinflußt wird, bezeichnen die Autoren die Anrechte als moralische Eigentumsrechte.

34

Martin Dietz

prokes Verhalten ausgemacht werden.96 Camerer und Thaler (1995, S. 216) vermuten, daß die Anwendung gesellschaftlicher Normen vom persönlichen Bezug zum Gegenüber abhängt: „Etiquette may require you to share a windfall with a friend, but it certainly does not require you to give up some of your hard-earned year-end-bonus to a stranger."97 In wiederholten Interaktionen kann sich die Erkenntnis durchsetzen, daß Reziprozität eine wechselseitige Besserstellung ermöglicht. Hierin ist ein Grund dafür zu sehen, daß sich die Norm im Verlaufe der Evolution auf breiter Basis durchsetzen konnte. Dies deutet bereits darauf hin, daß das Verhalten nun nicht mehr als unabhängig von zukünftigen Erträgen angesehen werden kann. Es handelt sich um einen Geschenkaustausch, der durch wechselseitige Erwartungen reziproken Verhaltens bestimmt wird (Fehr und Gächter 1996, S. 18 f.).98 Sowohl positive als auch negative Reziprozität wirken als Durchsetzungsmechanismus, um das Verhalten des Partners zu konditionieren {Fehr, Gächter und Kirchsteiger 1997). Dieser Geschenkaustausch {gift exchange) kann sich entweder konkret zwischen zwei Personen (direkte Reziprozität) oder aber allgemein in größeren und damit anonymen Gruppen abspielen (generalisierte oder indirekte Reziprozität). Bei beiden Varianten beschränkt sich der Austausch von als äquivalent empfundenen Leistungen weder auf materielle Güter, noch müssen Gabe und Gegengabe zeitgleich stattfinden. Auch direkte Reziprozität geht damit über den ökonomischen Tausch hinaus und umfaßt Formen von Gegenseitigkeit, die sich nicht formalvertraglich absichern lassen.99 Bei generalisierter Reziprozität handelt es sich um allgemeinere Formen der Gegenseitigkeit, die innerhalb einer Gruppe unabhängig vom tatsächlichen Gegenüber Anwendung finden {Stegbauer 2002, S. 96). Gabe und Gegengabe sind also nicht mehr an ein und dieselbe Person gebunden - es reicht das Vertrauen darauf, daß man selbst in einer ähnlichen Situation auf dieselbe Weise behandelt würde. So kann es rational sein, Normen zu befolgen, wenn man selbst in allgemeiner Weise von der generellen Normeinhaltung profitiert oder der Meinung ist, daß dies in Zukunft der Fall sein wird.100 Putnam (2001, S. 21) beschreibt das Prinzip wie folgt: „I'll do this for you without expecting anything specific back from you, in the confident expectation, that someone else will do something for me on the road." Wird das Abweichen von generalisierten Reziprozitätsvorstellungen sanktioniert, so handelt es sich um eine informelle Institution. 96

Wiederholte Interaktionen machen einen Großteil der ökonomischen Transaktionen aus und sind vor allem für den Arbeitsmarkt relevant, auf dem Reputationseffekte (Vertrauen in Akteure oder in Institutionen) eine besondere Rolle spielen. 97 Dies bestätigt die Untersuchung von Hoffman et al. (1996), die zeigen, daß die gesellschaftliche Distanz zwischen den Akteuren Einfluß auf die Höhe des Angebotes im Diktatorspiel hat. Je anonymer die Spielsituation ausgestaltet ist, desto geringer fallen die Angebote aus. 98 Gouldner (1960, S. 173) bemerkt: „[...] if you wantto be helped by others, you must help them [...]." 99 Hier besteht ein Zusammenhang zum Konzept relationaler Verträge - vgl. dazu Williamson (1985, S. 79) sowie Abschnitt 5.2. 100 Hierdurch läßt sich auch erklären, warum Akteure bereit sind, Ressourcen aufzuwenden, um normabweichendes Verhalten zu bestrafen.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

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Während bei den normgeleiteten Akteuren tatsächlich von einer Präferenz für das beobachtbare Verhalten ausgegangen werden kann (Internalisierer), handeln andere Akteure nur dann im Geiste der Norm, wenn sie erwarten, selbst einen Vorteil daraus ziehen zu können (Erwartungsnutzenmaximierer). Diese Imitatoren tragen trotz ihres eigennutzorientierten Verhaltens unbewußt zur Stärkung der jeweiligen Norm bei. Akerlof (1976/1984, S. 44) bemerkt: „[...] economic rewards may favor those who follow prevailing social custom; and in so doing, they give economic reasons why such social customs may endure."101 Gerade in großen Gruppen ist lediglich das Ausmaß der Normbefolgung zu beobachten - eine Unterscheidung zwischen Internalisierern und Imitatoren ist hingegen kaum möglich (Carpenter 2003, S. 487). Eine Möglichkeit, zwischen strategischen und normgeleiteten Akteuren zu differenzieren, besteht im Vergleich von Diktator- und Ultimatumspielen.'02 Nur beim Ultimatumspiel ist strategisches Verhalten der Geber möglich, weil man die Reziprozitätsnorm der Adressaten beim Angebot berücksichtigen muß. In der Tat sind die Angebote im Diktatorspiel weniger großzügig als im Ultimatumspiel. Da die Angebote im Diktatorspiel nicht abgelehnt werden können, liegen hier altruistische Präferenzen vor. Die höheren Angebote im Ultimatumspiel lassen sich dann darauf zurückfuhren, daß durch die veränderten Spielstruktur auch strategisch motivierte Akteure einen Anreiz erhalten, sich freundlich zu verhalten. Die Imitatoren treten also neben die Internalisierer. 2.2.1.4.

Kollektivgutexperimente

Das Problem der privaten Erstellung eines Kollektivgutes ist eine der wichtigsten ökonomischen Anwendungen des Gefangenendilemmas. Um Trittbrettfahrerverhalten zu verhindern, muß es den Akteuren gelingen, sich auf kooperatives Verhalten zu verständigen und vom instrumenteil eigennutzorientierten Verhalten abzusehen (Olson 1968, S. 2). Hierzu werden in der Regel staatlich gesicherte, formale Institutionen eingerichtet, die das Defektieren mit Strafen belegen, so daß Kooperation zur dominanten Strategie wird. Die Ergebnisse experimenteller Studien zeigen jedoch, daß sich in Gefangenendilemma-Situationen auch bei Abwesenheit formaler Institutionen etwa die Hälfte der Spieler kooperativ verhalten (Camerer 2003, S. 46). Um dieses Ergebnis erklären zu können, muß auf gesellschaftliche Normen oder Werte zurückgegriffen werden, wie auch Arrow (1970, S. 70) bemerkt: „It is a mistake to limit collective action to state action; [...]. I want to [call] attention to a less visible form of social action: norms of social behavior, including ethical and moral codes."

101

Ein ähnliches Argument findet sich bei Elster (1989b, S. 205). Dieser unterscheidet zwischen einer Norm unbedingter Kooperation (kooperiere dann und nur dann, wenn die Kooperation aller ein besseres Ergebnis bringt als wenn niemand kooperiert) und einer Norm bedingter Kooperation, die besagt, daß Kooperation angezeigt ist, wenn die meisten anderen auch kooperieren. Diese Nonnen können sich gegenseitig stärken, wobei die unbedingte Norm als Katalysator für die bedingte wirkt, die im Anschluß wiederum eine Art Multiplikatoreffekt in Gang setzt.

102

Vgl. Forsythe et al. (1994) sowie die Zusammenfassung bei Roth (1995, S. 270 f.).

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Ein Regelmechanismus, der am weitesten von der instrumenteilen Rationalität weg fuhrt, ist die Befolgung des kategorischen Imperativs. 103 Kants praktische Vernunft besagt in einer umgangssprachlichen Version, daß man auf Handlungen verzichten soll, von denen man nicht will, daß sie von allen praktiziert werden. Auf das Gefangenendilemma gemünzt, würde die praktische Vernunft das Pareto-optimale Ergebnis allseitiger Kooperation auswählen. Da man jedoch nicht davon ausgehen kann, daß sich jeder Akteur dieser Regel unterwirft, handelt es sich bei der Orientierung am kategorischen Imperativ um eine Form unbedingten Verhaltens. 104 Es ist anzunehmen, daß diese Verhaltensregel in vielen Fällen eine Rolle spielt, und zwar vor allem, wenn es darum geht, daß sich individuell rationales, aber gesellschaftlich schädigendes Verhalten nicht ausbreitet. Kollektivgutexperimente (Public-Good-Experimente) stellen eine Möglichkeit dar, Konflikt- und Kooperationselemente in einem Spiel zu vereinen. 105 Das Trittbrettfahrerproblem wird dabei folgendermaßen abgebildet. In einer Gruppe mit n Spielern - normalerweise zwischen vier und zehn Personen - erhält jeder Spieler eine Anfangsausstattung von x Geldeinheiten. Anschließend wird den Akteuren die Möglichkeit gegeben, einen Anteil y aus [0, x] anonym in einen Gemeinschaftstopf zu geben. Die einzelnen Beiträge werden anschließend mit einem Faktor k [1 < k < n] multipliziert und an die Gruppenmitglieder ausgeschüttet. Für den Rückfluß des eigenen Beitrages gilt also (k/n)y < y, so daß es für jeden Akteur rational ist, nichts zum Gemeinschaftsgut beizutragen (Defektionsstrategie). Das Pareto-optimale Ergebnis, das sich einstellt, wenn alle die volle Summe abgeben (allseitige Kooperation), wird aufgrund des Anreizes zum Trittbrettfahrerverhalten nicht zustande kommen. 106 Die Spieltheorie sagt vielmehr allseitige Defektion voraus. Diese Prognose findet in zahlreichen experimentellen Studien keine Bestätigung. Selbst in anonymen, einmaligen Spielsituationen wird Kooperation in 40 bis 60 Prozent der Fälle beobachtet {Ledyard 1995, S. 112 f.; Dawes und Thaler 1988, S. 188 f.).107 In Kollektivgutexperimenten läßt sich zudem untersuchen, inwiefern die Bereitschaft besteht, abweichendes Verhalten anderer Akteure zu bestrafen, und wie diese Bereitschaft wiederum auf das durchschnittliche Verhalten der Gesamtheit zurückwirkt. Es wurde bereits anhand des Ultimatumspiels erläutert, daß Wirtschaftssubjekte bereit sind,

103

„[...]: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." (Kant 1785/2004, S. 68). Zur folgenden Anwendung vgl.

Varoufakis und Hargreaves Heap (1995, S. 16 und S. 155 f.) sowie Elster (1989b, S. 123 104

105

und S. 203). Man orientiert sich am wünschenswerten und nicht am tatsächlichen oder erwarteten Verhalten, so daß die Norm selbst dann befolgt wird, wenn sichere Informationen darüber vorliegen, daß das Verhalten von anderen Akteuren ausgenutzt wird. Vgl. die ausfuhrlichen Überblicksartikel von Dawes und Thaler (1988) und vor allem

Ledyard (1995). 106 107

Im Pareto-Optimum erhält jeder Spieler die Auszahlung kx. Bei einseitiger Defektion erzielt der Abweicher sein bestes Ergebnis: x + kx - (k/n)x. Kommunikation kann entgegen der rein spieltheoretischen Perspektive eine Möglichkeit sein, um die Erwartungen im Hinblick auf das Verhalten des Gegenübers zu stabilisieren

und die Beiträge zu erhöhen (Sally 1995; Frey und Bohnet 2003).

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

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Kosten auf sich zu nehmen, um als unfair empfundene Verhaltensweisen zu sanktionieren. Auf diese Weise läßt sich auch das Trittbrettfahrerproblem bei der Bereitstellung öffentlicher Güter abmildern. Dies gilt sogar dann, wenn es sich um ein Experiment handelt, das unter anonymen Bedingungen eine endliche Anzahl von Perioden gespielt wird und bei dem die Bestrafung auch für den Sanktionierenden mit Kosten verbunden ist. Die spieltheoretische Prognose besagt, daß mit und ohne Sanktionsmöglichkeit keine Beiträge zum öffentlichen Gut geleistet werden, da materiell eigennutzorientierte Individuen die kostenträchtige Sanktionsmöglichkeiten in Stufe 2 nicht nutzen. Daher sollte die Beitragsleistung von vornherein unterbleiben. Die Experimente zeigen jedoch, daß die Möglichkeit, Sanktionen durchzuführen, zu einem Anstieg der Beiträge führt (Fehr und Gächter 2000a, S. 984 ff.). Dies läßt sich darauf zurückführen, daß ein Teil der Akteure richtig voraussieht, daß gewisse Spieler tatsächlich bereit sind, Sanktionskosten auf sich zu nehmen. Die Sanktionen fallen um so stärker aus, je weiter die Beiträge der Abweicher unterhalb des Durchschnittsbetrages liegen (Fehr und Gächter 2000a, S. 990). Die Existenz einer Gruppe reziprok agierender Akteure reicht also aus, um einen Teil der eigennutzorientierten Spieler zu disziplinieren. In solchen Experimenten ist nicht auszuschließen, daß Bestrafungen in wiederholten Spielen aus strategischen Gründen vorgenommen werden. Allerdings bestehen Anzeichen dafür, daß die Sanktionierenden Nutzen aus dem Verhalten an sich ziehen, was für eine internalisierte Norm spricht (Fehr und Fischbacher 2002, S. C19 f.). Eine andere Facette der Kollektivguterstellung analysieren Masclet et al. (2003). Sie untersuchen die Relevanz informeller Sanktionsmechanismen, indem sie den Akteuren die Möglichkeit bieten, Trittbrettfahrern rein symbolisch Bestrafungspunkte zuzuweisen.108 Dies spiegelt die Beobachtung wider, daß gesellschaftliche Sanktionen häufig keine finanziellen Nachteile für die Sanktionierten mit sich bringen. Andererseits sind sie aber ohne größeren finanziellen Aufwand von den Sanktionierenden vorzunehmen. Es zeigt sich, daß diese informelle Form der Sanktion die Beteiligung in einem ähnlichen Ausmaß erhöht wie die monetären Sanktionen im Kontrollexperiment (Masclet et al. 2003, S. 371 ff.).109 Zwar erzielen Letztere gegen Ende der Spielzeit bessere Ergebnisse, wenn man jedoch die Gesamtauszahlungen über alle Runden betrachtet, schneiden beide Systeme aufgrund der geringeren Sanktionskosten im informellen System ähnlich ab (Masclet et al. 2003, S. 377). Rege und Teile (2001) beschreiten einen weiteren Weg, um die Wirkung informeller Sanktionsmechanismen zu verdeutlichen. Sie zeigen, daß die Ergebnisse in einem Kollektivgutexperiment deutlich kooperativer ausfallen, wenn die Beträge von den Akteuren öffentlich bekanntgegeben werden müssen. Sie schließen daraus, daß es vorteilhaft sein kann, die privaten Beiträge zu einem Kollektivgut öffentlich zu machen.110

108 Die Zuweisung der Strafpunkte war also für keinen der Beteiligten mit geringeren Auszahlungen verbunden. 109 Siehe auch Fehr und Falk (2002, S. 706 f.) für eine Diskussion. 110 Dies wird bspw. bei öffentlichen Spendenaktionen praktiziert. Der Effekt verstärkt sich noch, wenn es den Akteuren möglich ist, die Höhe des Beitrags zum öffentlichen Gut als Signal ihrer Einkommensstärke zu nutzen, um einen Statusgewinn zu erzielen. In diesem

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Insgesamt veranschaulichen die Ergebnisse von Kollektivgutexperimenten die Bedeutung gesellschaftlicher Normen und bedingt kooperativen Verhaltens. Freiwillige Beiträge zum Kollektivgut werden als Geschenk angesehen, das von reziproken Akteuren erwidert wird, während Trittbrettfahren ebenfalls durch solches beantwortet wird. Damit fuhrt bedingte Kooperation in wiederholten Spielen entweder zum gesellschaftlich erwünschten Ergebnis oder dazu, daß das Kollektivgut nicht erstellt wird." 1 Je nach Zusammensetzung der Gruppe sind daher unterschiedliche institutionelle Eingriffe angebracht. Besteht eine Gruppe aus einer Mischung von eigennutzorientierten und reziprok agierenden Akteuren, so ergibt sich über die Bereitstellung eines - nicht unbedingt staatlichen - Sanktionsmechanismus' die Möglichkeit, beiderseitige Kooperation zu erzielen. 2.2.1.5.

Sanktionsbereitschaft

durch Dritte

Fehr und Fischbacher (2004) untersuchen, inwiefern unbeteiligte Dritte bereit sind, Normbrecher zu sanktionieren, wenn ihnen dadurch Kosten entstehen, aber kein materieller Nutzen zukommt." 2 Sie setzen dazu Beobachter von Diktatorspielen und Gefangenendilemma-Situationen ein, denen sie die Möglichkeit geben, das Verhalten der Spieler zu bestrafen. Da die Durchführung der Sanktionen mit Kosten verbunden ist, werden die Akteure zu Beginn der Experimente mit einem entsprechenden Budget ausgestattet. Materiell eigennutzorientierte Akteure werden in jedem Fall auf die Durchfuhrung von Sanktionen verzichten, da diese mit Einkommenseinbußen verbunden sind. Die Ergebnisse zeigen jedoch, daß im Diktatorspiel Abweichungen von der Gleichverteilung und im Gefangenendilemma Defektion sanktioniert werden. Im Diktatorspiel nehmen rund 60 Prozent der Beobachter Bestrafungen vor, wobei die Sanktionshöhe mit der Abweichung von der Gleichverteilung ansteigt (Fehr und Fischbacher 2004, S. 6 f.). Im Gefangenendilemma sanktionieren Dritte deutlich häufiger (45,8 Prozent gegenüber 20,8 Prozent) und stärker, wenn der andere Spieler kooperiert, als wenn dieser ebenfalls defektiert. Dieses Verhalten verweist wiederum auf die Norm der bedingten Kooperation, die eine einseitige Defektion als besonders unangebracht erscheinen läßt {Fehr und Fischbacher 2004, S. 11 ff.). Alles in allem sind die Ergebnisse als kraftvolles Argument für die Wirksamkeit gesellschaftlicher Sanktionsmechanismen anzusehen. In der Realität wird der Abschreckungseffekt weiter verstärkt, weil in der Regel mehr als eine Person die Möglichkeit zur Sanktionierung besitzt {Fehr und Fischbacher 2004, S. 30).

111 112

Fall wird der Nutzen des Kollektivgutes vollkommen vom Motiv des Beitrages abgekoppelt {Glazer und Konrad 1996). Formal gesehen handelt es sich bei einem von bedingt kooperativen Akteuren durchgeführten Gefangenendilemma-Spiel um ein Koordinationsspiel, da die Akteure nur zwischen den Ergebnissen auf der Diagonalen (gleiches Verhalten) wählen {Falk 2001, S. 7). Bei der Bestimmung der Strafhöhe wird nach der Strategiemethode vorgegangen. Dabei werden von den Akteuren vor Spielbeginn Antworten auf jede mögliche Situation abgefragt, so daß sie ihren vollständigen Strategienvektor offenbaren {Fehr und Fischbacher 2004, S. 5). Auf diese Weise erhält man eine größere Anzahl an Datenpunkten für die empirische Ausweitung.

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Die Ergebnisse von Fehr und Fischbacher (2004) sind jedoch auch kritisch zu hinterfragen. So besitzt das zuletzt genannte Argument eine Kehrseite. Bei der Sanktionierung gesellschaftlicher Normen tritt ein Problem kollektiven Handelns auf, das im Experiment nicht abgebildet wird. Hier hat ein einzelner Akteur die Verantwortung zu tragen, was sowohl die Bereitschaft zur Sanktionierung als auch die Höhe der Strafe beeinflussen dürfte. Zudem ist die dritte Partei durch die Experimentatoren zunächst mit Geld ausgestattet worden, so daß die Kosten der Sanktionierung besser verkraftet werden können. Die Akteure gehen schließlich noch immer mit einem Zugewinn aus dem Experiment heraus, während die Sanktionierung im realen Leben einen realen Einkommensverlust bedeuten kann. 2.2.1.6.

Theoretische

Erklärungen

Die vorgestellten Experimente zeigen, daß die Ergebnisse stark von den Vorhersagen bei strikt rationalem Verhalten abweichen. Die Konsistenz der Abweichungen läßt zudem darauf schließen, daß es sich hierbei nicht um Ausnahmefalle handelt, sondern um Verhaltensweisen, die in vielen Situationen mit einer größeren Häufigkeit auftreten als der rationale Eigennutz. Sie werfen damit die Frage nach Theorien auf, die das zu beobachtende Verhalten erklären und Verhaltensprognosen für andere Situationen abgeben können. Eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens sollte erklären können, warum sich Menschen in einigen Situationen egoistisch und in anderen Situationen uneigennützig verhalten. Für das Auftreten von Reziprozität in Experimenten werden zwei unterschiedliche Erklärungsmuster angeführt. Während ein Ansatz die monetären Konsequenzen des Verhaltens in den Mittelpunkt stellt (Auszahlungsorientierung), sieht der andere die Intention, die einer Handlung zugeschrieben wird, als ausschlaggebend an (Attributionstheorie)." 3 Bei der ersten Variante spielen nicht nur die eigenen Erträge eine Rolle, sondern auch die der anderen Akteure." 4 Der Fokus liegt also auf der Beurteilung relativer Auszahlungen, so daß soziale Vergleichsprozesse eine zentrale Bedeutung einnehmen." 5 Bspw. können egalitäre Präferenzen eine wichtige Rolle spielen. So führen Fehr und Schmidt (1999) reziprokes Verhalten auf eine Ungleichheitsaversion zurück. Die intentionenbasierte Erklärung geht davon aus, daß nicht nur die (relativen) Auszahlungen von Bedeutung sind, sondern daß auch die Verhaltensmotivation bewertet wird (Rabin 1998, S. 22)." 6 Blount (1995) liefert anhand des Ultimatumspiels Evidenz 113 114 115 116

Eine ausfuhrliche Diskussion der beiden Erklärungsansätze bieten Fehr und Schmidt (2001, S. 25 ff.). Zu diesen Ansätzen sind die modelltheoretischen Arbeiten von Boltort und Ockenfels (2000) und Fehr und Schmidt (1999) zu zählen. Die Frage des relevanten Referenzpunktes ist empirisch zu klären (Fehr und Schmidt 1999, S. 820 ff.). Hier ist vor allem die theoretische Arbeit von Dußvenberg und Kirchsteiger (2000) zu nennen. Im Rahmen dieser Theorie entsteht für Verhandlungsspiele eine ganze Reihe plausibler Gleichgewichte - einige sind durch beiderseitige Unterstützung, andere durch beiderseitige Feindschaft gekennzeichnet und damit Ausdruck positiver oder negativer Reziprozität.

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für den intentionalen Ansatz. Die Angebote werden zum Teil von einem Zufallsgenerator, zum Teil vom Experimentator und zum Teil vom Gegenspieler gemacht. Geringe Angebote werden deutlich öfter akzeptiert, wenn diese exogen von der Spielleitung oder durch Zufallsprozesse vorgegeben sind und nicht durch den Geber determiniert werden. Auch die Untersuchung von Offerman (2002) bestätigt die Bedeutung von Intentionen. Unbeabsichtigte Aktionen werden weniger stark beantwortet als beabsichtigte. Zudem kommt er zu dem Ergebnis, daß negative Absichten mit 67prozentig höherer Wahrscheinlichkeit beantwortet werden als positive ( O f f e r m a n 2002, S. 1430 ff.)." 7 Für beide Erklärungsansätze lassen sich sowohl experimentelle Evidenz als auch Gegenbeispiele finden. Daher ist mittlerweile eine Reihe von Theorien entstanden, die beide Varianten berücksichtigen. Auf diese Weise soll eine möglichst umfassende Erklärung des menschlichen Verhaltens gewährleistet werden (Charness 2004, S. 669 und S. 681; Falk, Fehr und Fischbacher 1999, S. 9).'18 Rabin (1993) entwickelt anhand des Konzeptes der Reziprozität als Ausdruck bedingter Kooperationsbereitschaft das Fairneß-Gleichgewicht. Dieses umfaßt Strategienpaare, die entweder beiderseitige Kooperation oder Defektion beinhalten.119 Dabei nimmt er an, daß die Akteure einen Sympathiekoeffizienten besitzen, dessen Wert in Abhängigkeit vom Verhalten der Gegenseite variiert. Wird das Verhalten der anderen Partei als freundlich (feindselig) angesehen, so wird der Sympathiekoeffizient positiv (negativ), und es kommt zu positiver (negativer) Reziprozität. Dabei beeinflussen sowohl die Auszahlungen als auch die Absichten der Akteure den Wert des Koeffizienten. 2.2.1.7.

Implikationen und Schlußfolgerungen

Die Befolgung von gesellschaftlichen Normen hängt sowohl von den Erwartungen über das Verhalten der anderen Akteure als auch von den eigenen Präferenzen ab {Lindbeck 1995, S. 479). Normgeleitetes Verhalten kann also entweder auf eine Internalisierung der betreffenden Norm zurückgeführt werden, oder es ist durch die Sanktionen zu erklären, die bei einer Verletzung informeller Institutionen zu befürchten sind. Grundsätzlich zeigen die angeführten Experimente, daß Typen mit unterschiedlichen Verhaltensmotivationen nebeneinander existieren. Unter gewissen Bedingungen gelingt es den Akteuren, Wege zu finden, ihre Interaktionen über gesellschaftliche Normen zu ordnen, selbst wenn keine formalen Anreizmechanismen zur Verfügung stehen. Da sich die Anzeichen für die Bedeutung informeller Institutionen in wiederholten Studien und in unterschiedlichen Umgebungen verdichtet haben, sollten sie in stärkerem Maße in theoretische und wirtschaftspolitische Überlegungen einfließen {Ostrom 2000, S. 142). Bei der Ausgestaltung wirtschaftspolitischer Maßnahmen ist ein genaues Verständnis

117

Hieraus ergibt sich auch der Titel seines Beitrags: Hurting hurts more than helping helps.

118

Als Beiträge, die beide Erklärungsansätze vereinen, sind Levine (1998), Falk und Fischbacher (2000) sowie Rabin (1993) zu nennen. Dieses Vorgehen erscheint auch deshalb sinnvoll, weil es zwar experimentell möglich ist, die Komponenten Absicht und Auszahlungen sauber zu trennen, in der Realität werden beide Aspekte jedoch nur schwer auseinanderzuhalten sein.

119

Vgl. zu einer kurzen Diskussion Camerer und Thaler (1995, S. 215).

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

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des Zusammenspiels von Institutionen und Motivationsstrukturen nötig (Held und Nutzinger 1999, S. 25). So kann ein und dieselbe Institution je nach Zusammensetzung der Gruppe zu vollkommen unterschiedlichen Resultaten fuhren (Fehr und Gächter 2000a, S. 993). Ist beispielsweise davon auszugehen, daß in einer Population sowohl reziproke als auch eigennutzorientierte Individuen vorhanden sind, so werden Unterschiede in der institutionellen Ausgestaltung einer Gefangenendilemmasituation verschiedene Ergebnisse hervorrufen. In simultanen Gefangenendilemma-Spielen wird eine Kooperation nur dann möglich sein, wenn sich Internalisierer gegenüberstehen. Andernfalls wären zumindest Mechanismen nötig, durch die sich die Akteure ihr kooperatives Verhalten glaubwürdig signalisieren können. Gelingt dies nicht, wird auch ein reziproker Typ in der Erwartung, von der Gegenseite ausgenutzt zu werden, defektieren. Läßt sich der Ablauf in ein sequentielles Spiel transformieren, in dem die reziprok agierenden Akteure als zweites am Zuge sind, so wird selbst bei einer Gleichverteilung von eigennutzorientierten und reziprok agierenden Akteuren ein kooperatives Ergebnis zu erzielen sein (Fehr und Fischbacher 2002, S. C15 f.). Dasselbe gilt für die Erstellung eines Kollektivgutes. Ohne Sanktionsmöglichkeiten müssen reziproke Akteure annehmen, von eigennutzorientierten Spielern ausgenutzt zu werden, so daß auch sie keine Beiträge zum Kollektivgut beisteuern. Stehen dagegen Sanktionsmechanismen zur Verfugung, kann es den reziproken Akteuren gelingen, die eigennutzorientierten Spieler zu disziplinieren, so daß diese ebenfalls ihren Beitrag leisten und das Kollektivgutproblem gelöst werden kann (Fehr und Gächter 2000, S. 164; Fehr und Schmidt 1999, S. 836 ff.). Fehlen die Sanktionsmechanismen hingegen oder werden sie nicht in glaubwürdiger Weise eingesetzt, kann sich eigennutzorientiertes Verhalten in der Population ausbreiten. Es kommt zur Koordination auf das gesellschaftlich unerwünschte Gleichgewicht. 2.2.2. Extrinsische und intrinsische Motivation Die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Handlungsmotivation geht auf Deci (1975) zurück.120 Während extrinsische Motivation vorliegt, wenn äußere Belohnungen angestrebt werden (monetäre Anreize, private und gesellschaftliche Anerkennung), beruht die intrinsische Motivation auf inneren Triebkräften - eine Handlung wird also um ihrer selbst Willen ausgeübt.'21 Die Annahme streng eigennutzorientierten Verhaltens nimmt eine noch stärkere Eingrenzung der Motivationslage vor, indem nur die monetären Anreize der extrinsischen Motivation Beachtung finden (Frey 1997, S. 20). Dies mag auf anonymen Märkten eine sinnvolle Vorgehensweise sein, da dort persönliche Bindungen keine Rolle spielen und der Preismechanismus somit zur Koordination ausreicht. Jedoch findet eine Vielzahl ökonomischer Interaktionen nicht in ei120 Die Anwendung des Konzeptes in der modernen ökonomischen Theorie wird besonders von Frey (1997) betrieben. In der Regel treten beide Motivationslagen gemeinsam auf. Intrinsische Motivation ist zudem ebenso wie altruistisches Verhalten schwer zu isolieren, da jeder äußere Anreiz ausgeschlossen sein muß. 121 Vgl. Deci (1975, S. 23), der den inneren Antrieb auf das Bedürfnis der Menschen nach Selbstbestimmtheit und Kompetenz zurückfuhrt. Intrinsische Motivation ist jedoch nicht zwangsläufig positiv - so wird keine Aussage über das Ziel der intrinsisch motivierten Handlung gemacht. Wie nicht zuletzt Beispiele aus der Geschichte zeigen, kann sich intrinsische Motivation auch auf ganz und gar unmenschliche Ziele beziehen.

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ner solchen Umwelt statt, so daß auch andere Motivationslagen von Bedeutung sind. Die Zusammensetzung der Motivationsstruktur hat durchaus Einfluß auf die Analyse ökonomischer Fragestellungen, da sie die Erklärung von Phänomenen ermöglicht, die im engen Modell des Homo Oeconomicus nicht auftreten dürften (Frey 1997, S. 113 ff.). Das folgende Beispiel verweist auf die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen extrinsischen Motivationslagen und verdeutlicht, was passieren kann, wenn Tätigkeiten aus der informellen Ebene in die Marktebene verlagert werden. Gneezy und Rustichini (2000) untersuchen das Verhalten von Eltern bei der Abholung ihrer Kinder aus einer Tagesstätte. Da die Kindergärtner häufig über die zu späte Abholung der Kinder klagten, wurde beschlossen, für das Überziehen eine Strafgebühr entrichten zu lassen. Das Ergebnis war überraschend, denn nachdem das Verhalten mit einem Preis belegt wurde, erhöhten sich die Verspätungen deutlich. Dies läßt darauf schließen, daß zuvor informelle Mechanismen wirksam waren, die eine stärkere Sanktion darstellten als die formale Sanktion einer Geldstrafe. Die Handlungsmotivation hat durch die Einführung eines Preises die soziale Ebene verlassen und sich zumindest teilweise in die Marktebene verlagert.122 Das klassische Beispiel zum Zusammenspiel intrinsischer und extrinsischer Motivation geht auf Titmuss (1971) zurück. Er untersucht die Blutspendegewohnheiten in Großbritannien und vergleicht die ursprüngliche Situation einer unbezahlten Blutspende mit der Situation nach der Einführung einer Aufwandsentschädigung. 123 Es zeigt sich, daß die Spendebereitschaft trotz der Preiserhöhung' zurückgeht - eine Reaktion, die dem ökonomischen Kalkül widerspricht. Zudem nahm die Qualität des Blutes ab, was für eine durch die Bezahlung veränderte Zusammensetzung der Spendergruppe spricht. Die zusätzliche extrinsische Motivation hat anscheinend die intrinsische Motivation der Spender verdrängt und sowohl zu einem Rückgang der Spendetätigkeit als auch zu einer Qualitätsverschlechterung geführt. 124 Solche Reaktionen sind deswegen von wirtschaftspolitischer Bedeutung, weil Institutionen nichts anderes bewirken als eine Umbewertung der relativen Preise bestehender Strategien. In diesem Fall sollte man sich der genauen Motivationslage der Betroffenen bewußt sein, um keine kontraproduktiven Effekte zu erzielen. Für solche Verdrängungseffekte können unterschiedliche Erklärungen angeführt werden. 125 Zunächst ist eine eingeschränkte Selbstbestimmung zu nennen. Der Kontrollbereich (locus of control) verlagert sich aus dem persönlichen Bereich nach außen. Die Person fühlt sich nicht mehr selbst verantwortlich, sondern sieht den Eingreifenden als zuständig an. Als Internalisierer bezeichnet man nach Rotter (1966) Menschen, die

122

123 124 125

Vgl. Fehr und Falk (2002, S. 709 f.), die bemerken: „Paying people for their moral behaviour, is, therefore, a contradiction in itself because it means that their behaviour can no longer be considered as moral." Für eine kurze Übersicht siehe Held und Nutzinger ( 1999, S. 10 ff.). Ist die Qualität nicht ohne weiteres zu bestimmen, können hierdurch zusätzliche Kosten entstehen, da verstärkte Kontrollen nötig werden (Held und Nutzinger 1999, S. 12). Vgl. zum Folgenden Frey ( 1997, S. 23 ff.).

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die Kontrolle über ihr Verhalten bei sich selbst ansiedeln, während Externalisierer die Verantwortung für ihre Lage extern verorten. Diese Unterscheidung spiegelt sich in der Eigenmotivation der Wirtschaftssubjekte wider. Internalisierer sind demnach sowohl motivierter als auch produktiver als Externalisierer.126 Wird ihnen jedoch die Kontrolle über das eigene Verhalten genommen, so werten sie dies als unangemessenen Eingriff von außen und schrauben ihre Leistung zurück. Der Rückgang der Eigenmotivation kann auch damit zusammenhängen, daß der Eingriff die Ausdrucksmöglichkeit des Betroffenen beschränkt, oder daß zusätzliche Motivationsversuche als Zeichen dafür gedeutet werden, daß die bisherige Leistung nicht ausreichend gewürdigt wird. Weiterhin kann es zum Phänomen der Überveranlassung kommen. Tritt eine extrinsische Motivation neben die vorhandene intrinsische, so wird der Handelnde sich in Bezug auf das vorhandene Leistungsniveau übermotiviert fühlen. Ist dies der Fall, wird der Bereich angepaßt, der im eigenen Belieben steht, mithin die intrinsische Motivationslage (Wiswede 2000, S. 203). In jedem dieser Fälle fuhren äußere Anreize nicht zu den beabsichtigten Effekten. Ein weiteres Beispiel, das häufig als Illustration des Verdrängungseffektes angeführt wird, bezieht sich auf Freiwilligenarbeit. Erhalten Kinder für Tätigkeiten im Haushalt, die sie bisher freiwillig verrichtet haben, eine Belohnung, so ist zu beobachten, daß die freiwillige Leistungserbringung in der Folgezeit abnimmt (Frey 1997, S. 15).127 Hierbei tritt zudem ein weiteres Phänomen auf, nämlich daß die Verhaltensanpassung auf ähnliche Situationen ausgeweitet wird.' 28 Die negative Wirkung des Crowding-out-Effektes wird somit noch verstärkt. Als Beispiel aus der ökonomischen Sphäre ist die Steuermoral zu nennen - Gesetze, die den Bürger grundsätzlich als Schurken behandeln, können die intrinsische Motivation sowohl im Bereich der Steuerehrlichkeit als auch in anderen Bereichen, in denen es um die Zusammenarbeit von Bürgern und Staat geht, negativ beeinflussen (Frey 1997, S. 107 f.; Falk 2001, S. 15). In jedem Fall ist es von Bedeutung, die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen die intrinsische Motivation die extrinsische dominiert {Frey 1997, S. 117 f.). Dabei ist es wahrscheinlich, daß neben der Art der Tätigkeit vor allem die Umgebung, in die das Verhalten eingebettet ist, von Bedeutung ist. 2.2.3. Fazit Mag die neoklassische Marginalanalyse für die Behandlung bestimmter Fragestellungen vollkommen ausreichend sein, so bildet sie häufig nur einen Teil der Realität ab. Sobald es sich um komplexere Zusammenhänge handelt, wird der Einsatz eines breiteren Erklärungsmodells nötig.129 Harris (1993, S. 238 f.) bemerkt, daß der typische Vertreter des Homo Oeconomicus ein Kind unter acht Jahren ist, da sich dies tatsächlich

126 127

Vgl. Goldsmith, Veum und Darity (2000, S. 356 ff.) für eine kurze Einführung. Fehr und Falk (2002, S. 717) sehen es als fraglich an, ob es sich tatsächlich um einen Rückgang intrinsischer Motivation handelt oder eher um einen Fall von Verlustaversion, der mit negativer Reziprozität beantwortet wird. 128 Zu diesem Übertragungseffekt siehe Frey (1997, S. 41 ff.). 129 Siehe hierzu auch Kaufinan (1999, S. 386).

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nach dem einförmigen Prinzip „getting what you want makes you happy" verhält. Erst im Verlauf des Heranwachsens gewinnen andere Aspekte an Bedeutung und prägen das menschliche Verhalten.130 Die hier vorgeschlagene Anreicherung des ökonomischen Verhaltensmodells bezieht sich vor allem auf die strengen Rationalitätsannahmen im Angesicht der vielfältigen Quellen von Unsicherheit und auf die Motivationsstruktur der Akteure. Beide Aspekte begründen die besondere Rolle von Institutionen für ökonomische Interaktionen, wobei vor allem die zusätzlichen Verhaltensrestriktionen, die aus gesellschaftlichen Normen entstehen, zu berücksichtigen sind. In vielen Fällen wird die Anwendung von Optimierungsverfahren kaum sinnvoll sein. Es wurde weiterhin gezeigt, daß informelle Institutionen selbst in anonymen Situationen, die zudem nur einmalig durchgeführt werden, zu Ergebnissen fuhren, die im Rahmen der reinen Eigennutzmaximierung nicht zu erklären sind. Daher kann die Prognosekraft des ökonomischen Modells durch die Einbeziehung weiterer Restriktionen deutlich verbessert werden (Engerer und Voigt 2002, S. 157). Die hier angemahnte Sichtweise bedeutet jedoch keine Abkehr von der ökonomischen Methodik. Um das Verhalten von Wirtschaftssubjekten erklären zu können, müssen Ziele und Restriktionen im Zusammenhang analysiert werden. Es darf dabei jedoch nicht die Art und Weise, wie die Menschen die Welt begreifen, vernachlässigt werden. Daher sind gesellschaftliche Normen und normgeleitetes Verhalten ebenso zu beachten wie Erfahrungen und Lernprozesse.

2.3.

Institutionen: Einordnung und Wirkungen

Handelt es sich bei einer Regel nicht um eine private Angewohnheit, sondern erzielt sie einen allgemeinen Bekanntheitsgrad 131 und ist mit einem Sanktionsmechanismus bewehrt, spricht man von einer Institution. Diese Eigenschaften finden sich in der bereits in Kapitel 1. angeführten Definition von Voigt (2002, S. 34) wieder, die in den folgenden Abschnitten mit Leben gefüllt werden soll. Institutionen sind die Spielregeln einer Gesellschaft. Innerhalb des Institutionengeflechts bewegen sich sowohl die individuellen als auch die kollektiven Akteure (Organisationen). Unter einer Organisation wird eine Gruppe von Individuen verstanden, die aufgrund eines gemeinsamen Ziels formal miteinander verbunden sind (North 1994, S. 360). Dabei werden die Interaktionen innerhalb der Organisationen wiederum durch Institutionen oder organisationsspezifische Regeln (die nicht allgemein bekannt sein müssen) strukturiert (Knight 1997, S. 4).132 Spieler und Spielregeln sind strikt zu tren-

130

131 132

Murnighan und Saxon (1998) bestätigen diese Thesen, indem sie das Ultimatumspiel in Kindergärten durchführen. Hier werden Angebote von einem Cent oder einem Bonbon in rund 70 Prozent der Fälle angenommen. Bei älteren Kindern und Jugendlichen nimmt die Akzeptanz ungleicher Angebote ab, was daraufhindeutet, daß die Sozialisierung der Kinder (das Erlemen und Internalisieren informeller Institutionen und das Herausbilden von Wertvorstellungen) das menschliche Verhalten stark beeinflußt. Die allgemeine Bekanntheit einer Norm ist notwendig, damit gewährleistet ist, daß sich die Individuen der Restriktion bei ihren Entscheidungen bewußt sind. Als Beispiel hierfür können unternehmensspezifische Regeln gelten, die für Arbeitsbeziehungen bestimmte Verhaltenskodices festlegen (Unternehmenskultur).

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nen, zu beachten sind jedoch die Wechselwirkungen zwischen ihnen. So nehmen Institutionen Einfluß auf das Verhalten der Akteure, die wiederum versuchen werden, die Spielregeln in ihrem Sinne abzuwandeln (North 1990, S. 4 f.).133 Auf diese Weise entsteht ein Prozeß wechselseitiger Interaktion. 134 Institutionen dienen als Sammelbecken gesellschaftlichen Wissens und vermitteln somit zwischen Vergangenheit und Zukunft, indem sie die gemeinsamen Erfahrungen als Orientierung für das zukünftige Verhalten zugänglich machen (Knight 1997, S. 90). 135 Institutionen üben damit eine Ordnungsfunktion in Bezug auf die Lösung wiederkehrender gesellschaftlicher Probleme aus. Sie regeln Transaktionen zwischen identischen und auch unterschiedlichen Partnern, so daß sie Handlungsmuster unabhängig von persönlichen Beziehungen stabilisieren. Ihre Funktion liegt also darin, die Welt durch Berechenbarkeit beherrschbar zu machen. Institutionen nehmen die Form von Ge- oder Verboten an und bewirken damit eine Umbewertung der Auszahlungserwartungen unterschiedlicher Strategien (Kiwit und Voigt 1995, S. 119). Durch ihre Sanktionsmechanismen werden bestimmten Verhaltensweisen Kosten auferlegt, so daß sich die relativen Auszahlungen der bestehenden Handlungsmöglichkeiten verändern. Neben der Regelkomponente und dem Sanktionsmechanismus spielt die Notwendigkeit der Kontrollausübung eine besondere Rolle. Die glaubwürdige Drohung einer harten Sanktion läuft ohne geeignete Kontrollmechanismen ebenso ins Leere wie gut kontrollierte Regeln, deren Mißachtung jedoch nicht oder nur ungenügend sanktioniert wird. Die erwarteten Kosten der Normmißachtung hängen von der Entdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit sowie von der Höhe der erwarteten Bestrafung ab. Da diese Faktoren im Zeitverlauf nicht konstant bleiben müssen, kann sich die Entscheidung für oder gegen eine Normbefolgung im Zeitverlauf ändern. Zudem wird die Beurteilung der Handlungsalternativen von Wirtschaftssubjekt zu Wirtschaftssubjekt variieren. Daher werden Institutionen nur in den seltensten Fällen dazu führen, daß die fragliche Aktivität gänzlich unterbleibt. 136 Sollen Institutionen ihre Funktionen erfüllen können, so müssen sie selbst eine gewisse Stabilität und Verläßlichkeit aufweisen. Die Akteure müssen sowohl Vertrauen in die Regelkomponente als auch in den Sanktionsmechanismus setzen können, wenn sie mit Akteuren interagieren, über deren individuelle Eigenschaften sie keine verläßlichen Informationen besitzen. Erst die wechselseitige Befolgung von Regeln läßt Vertrauen in das Regelsystem entstehen und führt zum reibungslosen Ablauf von Transaktionen

133 134 135 136

Hierzu sind in erster Linie Organisationen in der Lage. Der Titel eines Aufsatzes von Held und Nutzinger (1999) lautet entsprechend Institutionen prägen Menschen, Menschen prägen Institutionen. Auf diese Weise entstehen gesellschaftlich geteilte Erwartungen (Lochet 1999, S. 276). Ein vollständiges Verbot mit sehr harten und glaubwürdigen Sanktionen kann dies möglicherweise bewirken. Akerlof( 1984, S. 80) weist allerdings daraufhin, daß eine vollständige Kontrolle nur äußerst schwer auszuüben ist, selbst wenn die Autorität über totalitäre Strukturen gesichert wird - als Beispiele nennt er Gefangnisrevolten oder Untergrundbewegungen in Diktaturen.

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(Leipold 1996, S. 105). Institutionen lassen sich daher auch als Infrastruktur des menschlichen Zusammenlebens bezeichnen (Sjöstrand 1993, S. 64 ff.). Ihre Verläßlichkeit überträgt das Vertrauen auf die Interaktionen einander unbekannter Personen und unterscheidet sich damit vom zwischenmenschlichen Vertrauen, das sich durch persönliche Bindungen und damit auch ohne einklagbare Regeln entwickeln kann. 2.3.1. Formale und informelle Institutionen North (1990, S. 3) definiert Institutionen als „humanly devised constraints that shape human interaction. In consequence they structure incentives in human exchange, whether political, social, or economic." Gegen diese Definition ist einzuwenden, daß Institutionen nicht zwangsläufig von Menschen erdacht worden sein müssen. Sie können ebensogut spontan entstanden sein (von Hayek 1963/1969, S. 35 ff.). Von Hayek führt in diesem Zusammenhang aus, daß Institutionen grundsätzlich nicht zentralisierbares Wissen enthalten, so daß ihre exakte Planung schon aus diesem Grunde unmöglich ist.137 Dies gilt erst recht für informelle Institutionen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie nicht befohlen werden können. Sie sind damit das Resultat menschlicher Handlungen, aber nicht menschlichen Entwurfs (von Hayek 1967/1969). Diese Erkenntnis findet sich in der ebenfalls von North (1990, S. 4) vorgenommenen Unterteilung in formale bzw. formgebundene Institutionen als kodifizierte, von Menschen erdachte Regeln in Form von Recht und Gesetzen und informelle bzw. formlose Regeln (Sitten, Gebräuche, Moral, Traditionen, Verhaltenskodices) wieder. Aufgrund der definitionsgemäßen Eigenschaft der Allgemeingültigkeit und der Nicht-Rivalität im Konsum stellen Institutionen Kollektivgüter dar. Dies gilt nicht nur für den Regelmechanismus, sondern auch für die Kontrolle und die Durchsetzung der Regel - das sogenannte Kollektivgutproblem zweiter Ordnung (Coleman 1990, S. 52). Ist die Sanktionierung mit Kosten verbunden, so wird es im individuellen Interesse sein, diese nicht selbst tragen zu müssen, sondern sich als Trittbrettfahrer zu betätigen. Für eine Typisierung von Institutionen bietet sich daher eine Unterscheidung nach der Art des Sanktionsmechanismus an. Dieser kann entweder durch das staatliche Gewaltenmonopol (formale Institutionen), privat oder gesellschaftlich vorgenommen werden (informelle Institutionen).138 Diese Einteilung ist wiederum idealtypisch - zwischen den einzelnen Typen existiert eine Fülle von Mischformen (Knight 1997, S. 3). Zudem ist zu beachten, daß die verschiedenen Institutionentypen in ihrer Wirkung nicht überschneidungsfrei sind. Es werden Komplementaritäten, Substitutionsbeziehungen und auch Gegenläufigkeiten auftreten. Auf diesen Aspekt komme ich in Abschnitt 2.3.4. zurück.

137 Er bezeichnet es daher als Anmaßung von Wissen, wenn in den Sozialwissenschaften oder in der Politik der Anschein erweckt wird, objektiv richtig zu handeln (von Hayek 1974/1996). 138 Suchanek (1997, S. 46) weist daraufhin, daß die Arbeitsteilung auch dahingehend positive Effekte entfaltet, daß sie verschiedene Akteure (Polizei, Bürokratie, Medien) mit der Aufgabe betraut, abweichendes Verhalten aufzudecken und für eine Sanktionierung zu sorgen.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

2.3.1.1.

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Formale Institutionen

Bei formalen Institutionen (Gesetzen, Verordnungen) löst der Staat das Problem kollektiven Handelns, indem er einen externen Sanktionsmechanismus bereitstellt. Dabei werden Handlungsrechte definiert, die das individuelle Handeln beschränken, wenn andere Individuen negativ beeinflußt werden (Mantzavinos 2004, S. 7). Da der Staat über besondere Rechte verfügt, stellen formale Institutionen in der Regel eine besonders wirksame Form der Verhaltensbeschränkung dar. Allerdings können auch diese künstlich geschaffenen Regeln aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Zukunft sowie der Kreativität der Menschen nicht garantieren, daß die erwünschten Ergebnisse eintreten. 2.3.1.2.

• Privat-organisierte Sanktionierung

Die privat organisierte Sanktionierung stellt die zweite Möglichkeit dar, das Kollektivgutproblem zweiter Ordnung zu überwinden. Es muß sich eine Gruppe finden, die ein explizites Interesse an der Aufrechterhaltung bestimmter (formaler oder informeller) Regelmechanismen hat. Als Beispiele für nicht-staatliche Organisationen, die über die Einhaltung von Institutionen wachen, können Standes- oder Sportgerichte sowie die Kirche genannt werden. So umfassen die zehn Gebote sowohl formale als auch informelle Institutionen, deren Bruch (zusätzlich) durch die Kirche überwacht und sanktioniert wird. Im wirtschaftlichen Bereich ist an die Kaufmannsregeln der Hanse oder an tarifvertragliche Regelungen zu denken, deren Einhaltung (zusätzlich) von den Tarifvertragsparteien überwacht wird (Voigt und Kiwit 1998, S. 86 f.). Die Abgrenzung zu organisationsspezifischen Regeln ist nicht immer ganz eindeutig. Überschneidungen können sich vor allem dann ergeben, wenn Organisationen auf informellen oder formalen Institutionen aufbauen und diese bei ihren Mitgliedern verstärkt kontrollieren und möglicherweise auch sanktionieren. 2.3.1.3.

Gesellschaftlich sanktionierte informelle Institutionen

Schon Adam Smith (1759) verankerte Moral, Sitte und Tradition als wichtige Elemente in seinen Schriften, so daß man davon sprechen kann, daß die Erkenntnis der Bedeutung informeller Institutionen ebenso alt ist wie die Nationalökonomie selbst. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, dessen Leben in seinen wichtigsten Bindungen auf dauerhafte (nicht-marktliche) Beziehungen angelegt ist, stellen gesellschaftliche Normen wichtige Leitlinien für das menschliche Verhalten dar. Sie sind geteilte Ansichten und Erwartungen darüber, welche Handlungen obligatorisch, erlaubt oder aber verboten sind (Ostrom 2000, S. 143 f.).'39 Erlei, Leschke und Sauerland (1999, S. 519) schildern den Prozeß folgendermaßen: „Informelle Institutionen fallen nicht einfach ,vom Himmel'. Sie sind vielmehr das Ergebnis von Investitionen. Sie werden in der Familie, in der Schule und in anderen sozia139 Ähnlich äußern sich Akerlof( 1980, S. 756) und Frey (1990, S. 134 ff.). Sie wirken nicht nur in gesellschaftlichen, sondern auch in politischen und ökonomischen Beziehungen. Damit sind sie gerade für den Arbeitsmarkt und in den Arbeitsbeziehungen relevant, wo politische, ökonomische und soziale Aspekte miteinander verwoben sind (Elster 1989a, S. 101).

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len Einrichtungen erlernt und durch Anwendungen im täglichen Leben stabilisiert und ggf. destabilisiert."'40

Da sich die Menschen auch in ökonomischen Interaktionen an den im Sozialisierungsprozeß erlernten Normen orientieren, besitzen informelle Institutionen auch Einfluß auf das Wirtschaftsleben (Mantzavinos 2004, S. 6). Informelle Institutionen werden durch die Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder zu normkonformem Verhalten bestärkt oder gestützt (Elster 1989b, S. 99 f.). Dabei bringt es der dezentrale Charakter gesellschaftlich sanktionierter informeller Institutionen mit sich, daß die Bürger gleichzeitig Adressaten und Sanktionierende der betreffenden Norm sind {Eisenberg 1999, S. 1). Hiermit ist bereits das Problem gesellschaftlich sanktionierter informeller Institutionen angesprochen: Es ist nicht klar, wie die Bereitstellung des Sanktionsmechanismus' gelingen soll. Das Problem kollektiven Handelns ergibt sich, sobald die Sanktionierung abweichenden Verhaltens mit Kosten verbunden ist, während der Nutzen kollektiv anfällt und sich über eine große Gruppe verteilt. Dann besteht für jedes einzelne Gruppenmitglied ein Anreiz, sich als Trittbrettfahrer zu verhalten. Da mit der Sanktionierung positive externe Effekte verbunden sind, wird die Leistung insgesamt in einem zu geringen Ausmaß erstellt, was zum Zusammenbruch der Norm fuhren kann. Eine informelle Institution stellt also ein gesellschaftliches Kollektivgut dar, zu der die einzelnen Gesellschaftsmitglieder ihren Beitrag leisten müssen, damit es weiter Bestand haben kann (Fehr und Gächter 2000, S. 166). Nun sind bereits einige experimentelle Ergebnisse zum Kollektivgutproblem vorgestellt worden, die deutlich machten, daß Menschen bereit sind, Kosten auf sich zu nehmen, um die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen zu gewährleisten. So wurde darauf hingewiesen, daß Sanktionen oftmals eher gesellschaftlicher als ökonomischer Natur sind. Bspw. stellt der Aufbau von Gruppendruck durch reziproke Akteure bereits einen wirksamen Mechanismus dar, um Normabweicher zu bestrafen (Fehr und Fischbacher 2002, S. C17). Der gesellschaftliche Druck kann Ausdruck in der Bekanntmachung und gesellschaftlichen Ächtung von Normbrechern finden und bis zum Ausschluß aus der Gemeinschaft gehen. Auch kostengünstige Formen der Sanktion können daher immensen Druck auf die Normbrecher ausüben. Zwar würde ein vollkommen rationaler Homo Oeconomicus selbst geringste Kosten nicht auf sich nehmen, doch gibt es Anzeichen dafür, daß sich Menschen in sogenannten Kleinkosten-Situationen anders verhalten. 14 ' Solow (1990, S. 43) bemerkt hierzu: „Behavior that has been found to be individually tempting but socially destructive is held to be socially unacceptable. Behavior that has been found to be collectively usefiil though at least mildly disadvantageous to the individual is held to be the right thing to do."

Gesellschaftliche Mechanismen verstärken sich weiter, wenn die gesellschaftliche Norm vornehmlich in kleinen Teilgruppen der Gesamtheit wirksam ist. In Kleingruppen sind die Folgen eines Normbruchs direkter spürbar. Abweichendes Verhalten kann besser beobachtet werden, so daß eine Sanktionierung grundsätzlich wahrscheinlicher wird (Erlei 2002, S. 11). Zudem kristallisiert sich die Überlegenheit informeller Institutionen

140

Dieser Aspekt findet sich bereits bei Wilhelm Röpke (1966).

141

Vgl. Kirchgässner

(1992) ausfuhrlich zum Verhalten in Kleinkosten-Situationen.

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in Kleingruppen schneller heraus. Auf diese Weise können sich kooperative Verhaltensweisen gegenüber kompetitiven Strategien durchsetzen. Dies gilt vor allem für die Fälle, in denen sich individuelle und kollektive Rationalität scheinbar unvereinbar gegenüberstehen, und in denen sich rational agierende Individuen gegenseitig Schaden zufügen.142 Ist zu beobachten, daß normgeleitetes Verhalten auf Dauer erfolgreich ist, so kann es sich über die Grenzen kleinerer Gruppen hinweg ausbreiten und schließlich von den Akteuren internalisiert werden. Es entwickelt sich eine gewisse Präferenz für die fragliche Verhaltensweise, ohne daß das Verhalten jedes Mal einer Kosten-NutzenAbwägung unterzogen wird.143 In diesem Fall ist davon auszugehen, daß die Bestrafung von Normbrechern sogar einen gewissen Nutzen stiftet (Fehr und Schmidt 2001, S. 34). Damit erfüllen Internalisierer, die eine Präferenz für die fragliche Norm besitzen und bereit sind, abweichendes Verhalten zu sanktionieren, eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Stabilität dieser Regel. 2.3.1.4.

Internalisierte Normen'44

Laut Erlei (2002, S. 27) weisen Institutionen „[...] nicht ausschließlich einen Instrument- bzw. Mittelcharakter auf, der durch ihre Berücksichtigung als Restriktion in den ökonomischen Kalkülen zum Ausdruck kommt. Vielmehr scheinen sie auch einen Wert an sich zu haben." Ihre Einhaltung wird daher auch unter moralischen Gesichtspunkten bewertet (Varoufakis und Hargreaves Heap 1995, S. 160). Unter internalisierten Normen sollen formale und informelle Institutionen verstanden werden, die unabhängig von externen Sanktionsmechanismen befolgt werden. Lindbeck und Snower (2002, S. 30) führen aus: „Only if a norm is ,internalised' in the value system of the individual, and hence integrated in the individual's preferences, are extemal sanctions unnecessary. In this special case the norm is asserted to create self-respect, and deviation a feeling of guilt." Der Bezug zu internen Faktoren wird insbesondere bei Elster (1989a, S. 105) deutlich, wenn er bemerkt: „If punishment was merely the price tag attached to crime, nobody would feel shame when caught." Aus dem Leben gegriffene Beispiele für die Internalisierung von gesellschaftlichen Normen lassen sich zwar finden (der Gang zur Wahl, Trinkgeld in Restaurants, die man nur einmal besucht), sie leiden jedoch darunter, daß die Unbedingtheit des Handelns nicht eindeutig festgestellt werden kann.'45 Das von Max Weber (1988) in seinem Auf142 Vgl. Axelrod (1984), in dessen Studie sich die auf Reziprozität aufbauende Strategie Tit for Tat in wiederholten, anonymen Gefangenendilemmata in einem wettbewerblichen Umfeld durchsetzt. 143 Solow (1990, S. 43) führt aus: „[...] we do things because they are the right thing to do, not because we have reckoned all the consequences." 144 Auch formale Institutionen werden zu einem großen Teil internalisiert sein - hier wird jedoch vor allem mit Blick auf informelle Institutionen argumentiert. 145 So kann auch bei Abwesenheit monetärer Anreize nicht ausgeschlossen werden, daß generalisierte Reziprozitätsnormen oder die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung eine Rolle spielen. Dies gilt auch fur die Motive freiwilliger Blutspenden (Titmuss 1971, S. 238).

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satz zur protestantischen Arbeitsethik beschriebene Verhalten der Calvinisten fußt auf der Annahme, daß wirtschaftlicher Erfolg ein Zeichen göttlicher Gnade ist. Aus diesem Glauben heraus entwickelte sich eine Arbeitsethik, die ein arbeitsreiches und enthaltsames Leben zur Regel machte. Obwohl diese Regel aufgrund ihres religiösen Gehaltes vermutlich internalisiert wurde, läßt sich dies schwerlich überprüfen, da der wirtschaftliche (Miß-) Erfolg gut beobachtbar war und damit nicht nur eine religiöse, sondern auch eine gesellschaftliche (Miß-) Achtung verbunden war. Es handelt sich also um einen Regelmechanismus, über dessen Einhaltung sowohl organisiert (durch die Kirche) als auch gesellschaftlich gewacht wurde. In anonymisierten Experimenten wie dem Diktatorspiel lassen sich Verhaltensweisen isolieren, die auf internalisierte Normen zurückzuführen sind. Der Anteil der Normbefolger kann als eine Art Untergrenze für institutionengeleitetes Verhalten angesehen werden. Führt eine Regeländerung dazu, daß eigennutzzentriertes Handeln zusätzlich unter Strafe gestellt wird (bspw. durch den Übergang auf das Ultimatumspiel), sollte sich das Verhalten der Internalisierer nicht ändern, wohingegen sich ein Teil der bisher egoistisch agierenden Spieler auch normkonform verhalten wird (Imitatoren).146 Zusätzliche ökonomische Bedeutung erlangen internalisierte Normen, wenn man die Kosten, die in einer Welt der Ungewißheit und unvollkommenen Information durch den Kontrollbedarf und die Notwendigkeit der Sanktionierung abweichenden Verhaltens entstehen, betrachtet. So werden die Überwachungskosten einer Institution um so geringer sein, je höher der Anteil derjenigen ist, die die Norm internalisiert haben. Dies liegt einerseits an dem höheren Anteil der Personen, die der Norm aus eigenem Antrieb gehorchen, aber auch daran, daß die Entdeckungs- und gesellschaftliche Sanktionswahrscheinlichkeit mit der Zahl der Internalisierer zunimmt. Informelle Institutionen sind also darauf angewiesen, einen möglichst starken Rückhalt in der Bevölkerung zu haben, da dann die Wahrscheinlichkeit steigt, daß Normverletzungen entdeckt und bestraft werden (Lindbeck 1995, S. 482; Elster (1988, S. 362). Hiermit ist das Sozialkapital einer Gesellschaft angesprochen (Coleman 1990a, S. 300 ff.). 2.3.1.5.

Sozialkapital

Die Internalisierung von Normen erhöht die Verläßlichkeit des Institutionensystems. Das hiermit einhergehende Vertrauen in die gesellschaftlichen Regelwerke stellt einen bedeutsamen volkswirtschaftlichen Vermögensbestand dar, weil es Transaktionen auch dann ermöglicht, wenn die externen Sanktionsmechanismen nicht reibungslos arbeiten.147 Es kann als Sozialkapital i.e.S. bezeichnet werden, während das Sozialkapital i.w.S. auch die Wirkungen der externen Sanktionsmechanismen umfaßt, so daß zu den Internalisierern auch die Imitatoren treten. Ausschlaggebend für das Entstehen von So-

146

Allerdings sollte bei der Ausgestaltung der Maßnahmen zur Stützung einer Norm beachtet werden, daß die Gefahr besteht, intrinsische Motivation zu schwächen. 147 Arrow (1970, S. 70) bemerkt in diesem Zusammenhang: „It is useful for individuals to have some trust in each other's word. In the absence of trust, it would become very costly to arrange for alternative sanctions and guarantees, and many opportunities for mutually beneficial cooperation would have to be foregone."

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zialkapital sind individuelle Erfahrungen, die sich dann über Beobachtungen und Kommunikation in der Gesellschaft ausbreiten.148 So kann kooperatives Verhalten schrittweise erlernt werden, indem Vertrauen zunächst in Spielen mit relativ geringem Konfliktniveau (oder in Kleinkostensituationen) aufgebaut wird, um dann in stärker konfliktgeprägten Situationen zur Anwendung zu kommen.149 Als Paradebeispiel für die Wirkung des informellen Institutionensystems und des Sozialkapitals dient die Studie von Putnam (1993), in der die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung Nord- und Süditaliens zwischen 1970 und 1989 beschrieben wird {Panther 1997, S. 84 ff.). Da beide Landesteile über identische formale Institutionen verfugen, kann die Auseinanderentwicklung auf unterschiedliche informelle Institutionen zurückgeführt werden. So läßt sich die Gesellschaftsstruktur Norditaliens durch eine große Zahl freiwilliger Vereinigungen und eine horizontale Organisation der Gesellschaft kennzeichnen. Die Funktionsfahigkeit der Zivilgesellschaft wird durch ein hohes Maß an Solidarität innerhalb der Bevölkerung am Leben gehalten. Dagegen zeichnet sich Süditalien durch eine vertikale gesellschaftliche Organisation und durch autoritäre Abhängigkeitsverhältnisse aus. Während der Norden ein stabiles soziales Gleichgewicht mit einem aufgrund von Reziprozitätsnormen und Vertrauen in das Institutionensystem hohen Kooperationsniveau erreicht, bleibt der Süden auf ein ebenfalls stabiles soziales Gleichgewicht festgelegt, das sich bei niedrigem Kooperationsniveau durch eine hohe Defektionsgefahr, Mißtrauen und Opportunismus auszeichnet.150 Das Leben in zahlreichen, sich teilweise überlappenden, freiwilligen sozialen Netzwerken (wie in Norditalien) erhöht die Kosten nicht-kooperativen Verhaltens, da nun auf mehreren Ebenen Sanktionen verhängt werden können. Durch das Zusammenleben in einer Umgebung, in der informelle Institutionen eine große Bedeutung haben, kommt es zudem mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zur Internalisierung von Normen (Panther 1997, S. 87 ff.). Sozialkapital stellt damit eine Ressource dar, die sich mit ihrer Nutzung vermehrt, die jedoch an Qualität verliert, wenn sie brachliegt (Hirschman 1984, S. 93). Die Erwartung, in der Regel auf bedingt kooperative Akteure zu treffen, ermöglicht die Koordination auf das kooperative Gleichgewicht.' 51 2.3.1.6.

Fazit: Institutionen und ökonomische

Entscheidungen

Die bisherigen Ausführungen sollten verdeutlicht haben, daß ökonomische Interaktionen in einen formalen und einen informellen Regelrahmen eingebettet sind (Granovetter 1985). Diese Regeln beschränken einerseits das eigennutzorientierte Verhalten

148 149 150 151

Vgl. Knight (1997, S. 155 ff.), der von einem kollektiver Lernprozeß spricht. Eine Stärkung bürgerlicher Tugenden kann daher als eine Forderung an die Bildungspolitik angesehen werden (Voigt und Kiwit 1998, S. 105). Siehe auch Abschnitt 2.3.3.4. Im Sinne von Rabins (1993) Ansatz kann hier von einer unterschiedlichen Koordinierung auf eines der beiden Fairneß-Gleichgewichte gesprochen werden. La Porta et al. (1997) untersuchen die Beziehung zwischen Vertrauen (Sozialkapital) und der wirtschaftlichen Entwicklung und finden empirische Evidenz für den vermuteten positiven Zusammenhang. Sie sehen dies als Bestätigung der Studie von Putnam (1993) an (La Porta et al. 1997, S. 336).

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der Wirtschaftssubjekte, können aber andererseits auch interaalisiert sein, so daß von Präferenzen für bestimmte Verhaltensweisen zu sprechen ist. Harsanyi (1969/1976, S. 127) sieht die gesellschaftlichen Bindungen daher gleichberechtigt mit dem rationalen Eigennutz: „People's behaviour can largely be explained in terms of two dominant interests: economic gain and social acceptance."' 52 Auch Lindenberg (1992) stellt der Gewinn- bzw. Nutzenmaximierung das Ziel der Normbefolgung zur Seite und ergänzt diese noch um den Wunsch der Verlustvermeidung.153 Grundsätzlich gilt, daß die Einbeziehung formaler und informeller Institutionen Erklärungen für Verhaltensweisen liefern kann, die mit Hilfe des traditionellen neoklassischen Instrumentariums kaum schlüssig zu begründen sind (Solow 1990, S. 1 ff.). Der Verweis auf die Wirkung informeller Institutionen wirft vor allem ein anderes Licht auf die Ausgestaltung optimaler Anreizsysteme. Sind gesellschaftliche Normen von Bedeutung, so muß die Allgemeingültigkeit dieser Anreizschemata bezweifelt werden - dies gilt auch für die Ausgestaltung von Arbeitsverträgen, wie in Kapitel 5. zu sehen sein wird. 2.3.2. Vertikale Einordnung von Institutionen Nachdem nun die unterschiedlichen Arten von Institutionen eingeführt worden sind, soll in diesem Abschnitt ihre vertikale Einordnung vorgenommen werden. Dabei stehen Institutionen zwischen der übergeordneten Werteebene und der untergeordneten Ebene privater Regeln. Wie bereits ausgeführt wurde, greifen Menschen aufgrund ihrer beschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten häufig auf private Gewohnheiten (habits) zurück, die ihnen in der Vergangenheit gute Dienste geleistet haben. Diese sind weder allgemein bekannt noch verfügen sie über einen externen Sanktionsmechanismus, so daß sie nicht unter den Begriff der Institution fallen. Eine Veränderung der Gewohnheiten wird vorgenommen, wenn die Akteure nicht mehr mit den Ergebnissen zufrieden sind. Wie der durchbrochene Pfeil von der privaten zur institutionellen Ebene in Abbildung 5 illustrieren soll, können solche Verhaltensregelmäßigkeiten jedoch die Wurzel neuer Institutionen bilden, wenn sie aus dem Privaten heraustreten und in einem breiteren Kreise bekannt werden (Voigt und Kiwi! 1998, S. 87 f. sowie S. 102). Hierzu muß zunächst allgemein erkennbar sein, daß es sich bei der fraglichen Regel um eine erfolgreiche Strategie handelt, so daß diese von anderen Akteuren imitiert werden kann. Für die Entstehung von Normen über Lernprozesse sind Erfahrung und Empathie, Lernfähigkeit sowie die Existenz von Fokus-Punkten ebenso von Bedeutung wie Regeln, die 152

153

Die Bedeutung des rationalen Eigennutzes sowie des moralischen Handelns für das menschliche Verhalten findet sich bereits in den beiden Hauptwerken von Adam Smith (1759 und 1776). Auch Sugden (1986, S. 152) bemerkt, daß Menschen nach Anerkennung durch andere streben. „Our desire to keep the good will of others [...] is more than a means to some other end. It seems to be a basic human desire. That we have such a desire is presumably the product of biological evolution." Allerdings bleibt unklar, unter welchen Bedingungen sich einer der Faktoren durchsetzt, so daß es schwierig erscheint, aus diesem theoretischen Ansatz Verhaltensprognosen abzuleiten (Bernholz 1992, S. 156).

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grundsätzlich Analogien zugänglich sind (Sugden 1989, S. 93). Die Verbreitungswahrscheinlichkeit steigt mit der Ähnlichkeit der involvierten Personen und der Regelungsbereiche sowie mit der Häufigkeit der Interaktionen.'54 Die Diffusion wird dadurch gestützt, daß das Abweichen von einem allgemein erwarteten Verhalten bei den Interaktionspartnern für Verdruß sorgt, da diese ihr Verhalten an Erfahrungen festmachen, die sie aus der Vergangenheit fortgeschrieben haben.155 Die hieraus entstehenden Unstimmigkeiten widersprechen dem grundsätzlichen Bedürfnis der Menschen nach gesellschaftlicher Anerkennung, weshalb zu erwarten ist, daß die Akteure die Erwartungen ihrer Umgebung in der Regel erfüllen.156 Abbildung 5: Vertikale Einordnung von Institutionen

Auf die institutionelle Ebene muß an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden, da die Analyse im Mittelpunkt des Gesamtkapitels steht. Es ist jedoch zu bemerken, daß formale Institutionen häufig auf informellen Regeln aufbauen. Da Institutionen je nach Allgemeinheitsgrad unterschiedliche Interaktionen regeln können, ist es nicht nötig, für jede neu auftretende Situation neue Institutionen zu schaffen - in vielen Fällen ähneln sich Interaktionsmuster, so daß eine bestehende Institution zum Einsatz kommen kann.157 Institutionen wiederum fußen auf gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Werte lassen sich in den Präferenzbereich einordnen. Sie haben normativen Charakter und bilden 154 155

156 157

Eine gewisse Konsistenz mit bereits bestehenden Institutionen wird von Vorteil sein, da auf diese Weise Unsicherheit im Hinblick auf die Reaktion der Umwelt reduziert wird. Von Weizsäcker (1980, S. 72) bemerkt hierzu „One of the most effective mechanisms available to society for the reduction of information production cost is the principle of extrapolation. By this I mean the phenomenon that people extrapolate the behavior of others from past observations and that this extrapolation is self-stabilizing, because it provides an incentive for others to live up to these expectations." Die hier vorgestellte Form der (spontanen) Entstehung von Institutionen stellt nur einen möglichen Weg dar - so werden formale Institutionen in einem politischen Prozeß geschaffen und sind damit als geplant anzusehen. So regelt die Institution der Eigentumsrechte die unterschiedlichsten Formen von Tauschgeschäften.

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allgemeine Konzeptionen des Wünschbaren ab, die unabhängig von spezifischen Situationen sind.158 Wie aus Abbildung 5 zu sehen ist, kann ein Wert als Referenzpunkt für eine Vielzahl spezifischer Normen dienen, während eine Institution die gleichzeitige Anwendung verschiedener Werte repräsentieren kann. Allerdings können auch Konflikte zwischen Werten auftreten. So tritt bei der Debatte zur Ausgestaltung der Sozialversicherungssysteme der Konflikt zwischen Solidarität und individueller Freiheit zutage. Dann fallt dem Staat die Aufgabe zu, den Konflikt auf eine gesellschaftlich akzeptable Weise zu lösen, indem formale Institutionen geschaffen werden, in die verschiedene gesellschaftliche Werte einfließen (Fehl 1999, S. 123). Wesentlich für das Funktionieren von Regelsystemen ist, daß ihnen ein gemeinsamer Hintergrund zu eigen ist. Institutionen können nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn in einer Gesellschaft eine gemeinsame Sicht der Dinge sowie eine gemeinsame Überzeugung darüber, wie die Dinge sein sollten, besteht. Diese Überzeugungen werden als geteilte mentale Modelle bezeichnet, die gewissermaßen den Hintergrund bilden, vor dem das Institutionensystem wirkt (Dernau und North 1994). Die Gesamtheit der gesellschaftlich geteilten und in einem Sozialisationsprozeß weitergegebenen Werte macht mit dem gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund und der gemeinsamen Sprache die Kultur einer Gemeinschaft aus. Die kulturelle Entwicklung stellt einen evolutorischen Prozeß dar und kann bei den meisten kurz- und mittelfristigen ökonomischen Fragestellungen als konstant angesehen werden. Ein Wertewandel wird nicht von heute auf morgen eintreten, sondern ist als Ergebnis eines langfristigen Lern- oder Entwicklungsprozesses anzusehen. Die Einstellungen zur Homosexualität oder zu berufstätigen Müttern dienen als Beispiel dafür, daß auch gesellschaftliche Normen und Werte nicht unveränderlich sind. Einem Einstellungswandel werden zeitversetzt institutionelle Veränderungen folgen, die sich damit den veränderten gesellschaftlichen Präferenzen anpassen. Da einzelne Werte unterschiedliche Institutionen beeinflussen, können sich durch einen Wertewandel Veränderungen auf verschiedenen Ebenen ergeben (Schneider 2000, S. 3). Die wissenschaftliche Diskussion zum Wertewandel wurde in der Soziologie angestoßen und dauert nun bereits seit mehr als dreißig Jahren an.159 In seinen zentralen Arbeiten verweist Inglehart auf eine Verschiebung der gesellschaftlichen Wertschätzung von materiellen zu sogenannten postmateriellen Werten (Inglehart 1989, S. 173).160 Er stützt seine Thesen auf eine Knappheitstheorie und folgt daher einem grundsätzlich materialistischen Ansatz. Menschen bewerten knappe Güter höher, so daß bei steigendem Wohlstand die postmateriellen Aspekte in den Vordergrund treten.'61 Ein Wertewandel 158

Vgl. International Encyclopedia

of the Social Sciences (1968, Band 16, S. 283) zitiert in

Voigt (2002, S. 218).

159 Zu einem Überblick über verschiedene theoretische Entwicklungen aus ökonomischer Sicht siehe Leipold (1998, S. 155 ff.). 160 Die materialistische Wertordnung orientiert sich an physischer und wirtschaftlicher Sicherheit, während postmaterialistische Werte soziale Bedürfnisse und Bedürfhisse nach Selbstverwirklichung umfassen. 161 Damit scheint hier ein Zusammenhang zur Bedürfhistheorie von Maslow (1943) auf, die in Abschnitt 3.1. mit Bezug zum Arbeitsmarkt diskutiert wird.

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ist dann als problematisch anzusehen, wenn er dazu führt, daß gesellschaftlich vorteilhafte Regeln geschwächt werden. Neuere Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, daß neue und alte Werte durchaus nebeneinander bestehen können, so daß Untergangsszenarien wertkonservativer Kräfte verfehlt sind (Noelle-Neumann und Petersen 2001, S. 22). 2.3.3. Effizienz- vs. Verteilungswirkungen von Institutionen Eine an den Effizienzwirkungen von Institutionen orientierte Analyse kann nur überzeugen, wenn man von der naiven Sichtweise eines allwissenden, wohlwollenden Diktators ausgeht. Dieser wird Institutionen so einsetzen, daß sie den größtmöglichen Nutzen erbringen und die Gesellschaft Pareto-optimale Zustände erreicht. 162 Auch wenn eine effizienzsteigernde Wirkung für bedeutende (Basis-) Institutionen, wie staatlich gesicherte Eigentumsrechte, zutreffend sein mag, bedürfen institutionelle Arrangements in der Regel einer kritischeren Analyse (Regini 2000, S. 25) sowie die Arbeit von Jack Knight (1997).' 63 Auf dieselbe Weise wie Institutionen eine Koordination auf wünschenswerte Ergebnisse erzielen, sind negative volkswirtschaftliche Effekte denkbar. Die Entstehung von Institutionen sollte daher mit Blick auf die Anreize der beteiligten Akteure untersucht werden. Geht man grundsätzlich von eigennutzmotivierten Individuen aus, wäre es naiv zu glauben, daß Verteilungswirkungen ohne Einfluß auf die Entscheidungen der Akteure bleiben. 164 Vielmehr ist damit zu rechnen, daß die Betroffenen versuchen, die institutionelle Ausgestaltung im eigenen Sinne zu beeinflussen. 165 Hierzu besteht die Möglichkeit, wenn man die Sicht eines wohlwollenden Diktators fallenläßt und auch Politikern und Bürokraten eigeninteressiertes Verhalten zugesteht. 166 Als Beispiel für einen Konflikt zwischen Effizienz- und Verteilungswirkung können Institutionen angeführt werden, die den Wettbewerb auf dem Gütermarkt regeln. Obwohl auch die Unternehmen ein Interesse an den positiven Wirkungen des Wettbewerbs besitzen, werden sie bemüht sein, die Konkurrenz auf dem eigenen Markt zu beschränken. Dies kann bspw. durch Aktivitäten auf kollektiver Ebene geschehen, wenn Verbände den Aufbau von Markteintrittsbarrieren betreiben, um den Gewinn ihrer Mit-

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Offensichtliche Ineffizienzen institutioneller Arrangements werden von Vertretern der Effizienzthese vielfach auf Informationsunvollkommenheiten zurückgeführt. Man argumentiert also mit einem beschränkt rationalen Staat, der nur aufgrund der hohen Komplexität der zu lösenden Probleme und der Ungewißheit keine besseren Ergebnisse erzielt. Auch Granovetter (1990, S. 111) kritisiert die Gleichsetzung von formalen Institutionen und ökonomischer Effizienz. Nicht nur formale Institutionen generieren Verteilungseffekte. Knight (1997) beansprucht für seinen Erklärungsansatz gerade auch im Hinblick auf informelle Institutionen Gültigkeit. Eine Diskussion der Entstehung und des Wandels informeller Institutionen würde den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen. Siehe zu dieser Fragestellung bspw. Voigt (2002, S. 216 ff.). Schmid (1988, S. 22 f.) weist darauf hin, daß man es gerade auf Arbeitsmärkten mit schwerwiegenden Verteilungsproblemen zu tun hat. Vgl. Downs (1968) zum Wählerstimmenmarkt und Niskanen (1971) als Vertreter der Bürokratietheorie. Der Nutzen der Akteure kann durch politischen Einfluß, gesellschaftliches Ansehen, die Einkommens- oder Budgethöhe bestimmt werden.

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gliedsunternehmen zu erhöhen. Die entstehenden Institutionen entfachen über die Schließung des Marktes Verteilungseffekte, die die effizienzsteigernden Wirkungen des Wettbewerbs beschränken. Auf der Marktebene versuchen Unternehmen, den Wettbewerbsprozeß durch eine implizite Koordination mit den Konkurrenten auszusetzen. Im heterogenen Oligopol findet dies seinen Ausdruck in der Theorie der festen Preisrelation. Hier setzen die Anbieter den Preis als Aktionsparameter im Wettbewerb aus und erhöhen auf diese Weise ihren Gewinn.167 Dabei handelt es sich um verteilungsmotivierte, private Regeln, die wettbewerbsbeschränkend wirken und damit zu Lasten der Konsumenten gehen. Eine Institutionalisierung dieser Regeln ist nicht möglich, da ihnen formale Institutionen zur Aufrechterhaltung des Wettbewerbs entgegenstehen. Auf die Verteilungseffekte, die sich bei kooperativen Spielen ergeben, muß nicht ausführlich hingewiesen werden, da es sich um Situationen handelt, in denen Einigung über die Aufteilung eines Kuchens erzielt werden soll. Hier ist der Verteilungscharakter offensichtlich.168 Orientiert man sich bei der Wirkung von Institutionen an Situationen, die sich durch nicht-kooperative Spiele abbilden lassen, so spannt sich ein Spektrum von Koordinationsspielen ohne Konfliktcharakter bis hin zu Nullsummenspielen. Im folgenden sollen die Wirkungen von Institutionen in verschiedenen Situationen analysiert werden, die sich im Hinblick auf ihren Koordinations- und Konfliktcharakter unterscheiden. Dabei wird deutlich, daß Verteilungseffekte in nahezu allen Interaktionen von Bedeutung sind. 2.3.3.1.

Reine Koordinationsspiele

(Konventionen)

Bei nicht-kooperativen Spielen, in denen keine Verteilungseffekte auftreten, handelt es sich um reine Koordinationsspiele, wie zum Beispiel die Einigung auf das Rechtsfahren im Straßenverkehr. Lösungen solcher Interaktionsmuster werden als Konventionen bezeichnet. Konventionen wirken also in den seltenen Situationen der reinen Koordination ohne Konfliktpotential, bspw. bei der Auswahl zwischen zwei identischen NashGleichgewichten (Tabelle 1). Tabelle 1: Reine Koordination ohne Verteilungskonflikt169 Links

Rechts

Links

(1,1)*

(0,0)

Rechts

(0, 0)

(1,1)*

Eine Koordination auf eines der beiden Pareto-optimalen iVos/z-Gleichgewichte gelingt bei wiederholten Interaktionen ohne Probleme, obwohl es keine dominante Strate-

167 168 169

Vgl. Heuß (1960, S. 170 ff.) zu dieser oligopolistische Verhaltensweise. Die Wirkungen informeller Institutionen in Verhandlungsspielen wurden bereits in Abschnitt 2.2.1. diskutiert. Die Auszahlungen der Ata/i-Gleichgewichte werden jeweils mit einem Sternchen gekennzeichnet.

57

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

gie gibt. Ist die Koordination auf ein Gleichgewicht erreicht, so hat keiner der Beteiligen den Wunsch, daß irgendeiner der Akteure von seiner Gleichgewichtsstrategie abweicht {Lewis 1969, S. 14).170 Es handelt sich daher um selbstbindende Institutionen, die sich ohne externen Sanktionsmechanismus halten können (Kiwit und Voigt 1995, S. 121). Trotzdem werden sie häufig durch formale Institutionen gestützt, um die Erwartungsstabilisierung zu gewährleisten und der Regel mehr Festigkeit zu geben. Im folgenden wenden wir uns Situationen zu, bei denen Institutionen neben Effizienzgewinnen auch Verteilungswirkungen generieren. Diese Institutionen sind daher bindungsbedürftig, wobei die Durchsetzungsmechanismen formaler oder informeller Art sein können. 2.3.3.2.

Von der Koordination zur,Lösung'

von

Verteilungskonflikten

Laut Schelling (1960) treten Institutionen insbesondere dann hervor, wenn aus spieltheoretischer Sicht mehrere Gleichgewichte existieren. Kulturell gesteuerte Wahrnehmungen oder historische Erfahrungen beeinflussen das Ergebnis in solchen Fällen entscheidend und können erklären helfen, warum identische Situationen in unterschiedlicher Art und Weise gelöst werden.171 Der Geschlechterkampf (Tabelle 2) stellt eine Situation dar, in der das Ziel in der Koordination auf ein {Pareto-optimales) NashGleichgewicht besteht, das leichte Verteilungswirkungen entfaltet. Tabelle 2: Geschlechterkampf Fußball

Theater

Fußball

(3,2)*

0,1)

Theater

(1,1)

(2,3)*

Hier ist sowohl eine Koordination auf das ,weibliche' (T, T) als auch auf das .männliche' Gleichgewicht (F, F) möglich. Existiert eine Institution, die zu einem der beiden Ergebnisse führt, so ist das Ergebnis auch ohne externe Sanktionen stabil (selbstdurchsetzendes AtoA-Gleichgewicht). In Abwesenheit formaler Institutionen können gesellschaftliche Normen wie das Patriarchat die Akteure auf eines der beiden Gleichgewichte fokussieren. Im Chicken-Spiel (Tabelle 3) verstärkt sich der Verteilungskonflikt. Hier existieren wiederum zwei Ata/¡-Gleichgewichte, die Pareto-optimale Strategie besteht allerdings 170

Das Gleichgewicht einer Konvention stellt also einen Spezialfall des NashGleichgewichts dar. Letzteres besagt lediglich, daß jeder Akteur bei gegebenen Strategien der anderen an seiner Gleichgewichtsstrategie festhalten möchte. Dies heißt jedoch nicht, daß man nicht davon profitieren könnte, wenn andere Akteure von ihrer Gleichgewichtsstrategie abweichen, was sich leicht anhand des Gefangenendilemmas ersehen läßt.

171

So kann verbreitete Verlustaversion dazu führen, daß sich Akteure in nicht-kooperativen Spielen mit mehreren iVos/i-Gleichgewichten auf Strategien fokussieren, die negative Auszahlungen ausschließen. Auch auf diese Weise kann ein Gleichgewicht ausgewählt werden (Camerer 1997, S. 172).

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im beiderseitigen Ausweichen. Hier können Institutionen das Pareto-optimale Ergebnis durchsetzen, es ist jedoch ebensogut möglich, daß Regeln geschaffen werden, die einen Akteur bevorzugen und eines der Gleichgewichte mit den ungleichen Auszahlungen auswählen.172 Tabelle 3: Chicken-Spiel Ausweichen

Fahren

Ausweichen

(4,4)

(1,5)*

Fahren

(5, 1)*

(0,0)

Im Nullsummenspiel (Tabelle 4) tritt der Konflikt am stärksten zutage. Dort muß der Verlierer genau das abgeben, was der Gewinner bekommt, so daß man es mit einer reinen Umverteilung zu tun hat. Die hier zur Anwendung kommende Verteilungsregel läßt sich nicht mittels des einfachen Pareto-Kriteriums rechtfertigen. Tabelle 4: Nullsummenspiel

2.3.3.3.

Links

Rechts

Links

(3, -3)

(-3,3)

Rechts

(-3, 3)

(3,-3)

Gesellschaftliche Dilemmata

Die handlungsbeschränkende Wirkung von Institutionen kann durchaus im Sinne der Akteure sein, wenn es ihnen selbst nicht glaubwürdig gelingt, sich zu kooperativem Verhalten zu verpflichten (Regini 2000, S. 23). In solchen sozialen Dilemmata stehen sich individuelle und kollektive Rationalität unversöhnlich gegenüber, können aber institutionell in Einklang gebracht werden.173 Tabelle 5: Gefangenendilemma Kooperation

Abweichen

Kooperation

(3,3)

(1,4)

Abweichen

(4,1)

(2, 2)*

Im Gefangenendilemma (Tabelle 5) besteht die dominante Strategie im Abweichen. Damit führt individuell rationales Verhalten bei Abwesenheit von Institutionen zu kol172

Egalitäre Normen (Ungleichheitsaversion) stellen einen Mechanismus dar, durch den das Pareto-Optimum auch ohne staatliche Eingriffe erreicht werden kann.

173

Voigt (2002, S. 50) sieht dies als eine der wichtigsten Aufgaben von Institutionen an.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

59

lektiver Irrationalität. Das Pareto-optimale Ergebnis (K, K) wird verfehlt. Um zu dieser Lösung zu gelangen, muß die kooperative Strategie relativ aufgewertet werden.174 Ein prominentes Beispiel für die Lösung eines Gefangenendilemmas über formale Institutionen bieten staatlich gesicherte Eigentumsrechte. Diese können als die wichtigste institutionelle Grundvoraussetzung für die Funktionsfahigkeit arbeitsteiliger Volkswirtschaften angesehen werden (von Weizsäcker 1980, S. 5 f.; Mueller 2003, S. 9 ff.). Eine Koordination auf das Pareto-Optimum stellt wiederum keine Selbstverständlichkeit dar. Neben der Variante, daß das Dilemma gar nicht gelöst wird (A, A), kann es einem der Akteure gelingen, das Entstehen einer Institution zu fordern, die lediglich der anderen Partei die Strategie des Abweichens wirkungsvoll verbietet. [(K, A) oder (A, K)]. 2.3.3.4.

Gesellschaftliche

Lernprozesse

Menschen werden täglich mit Entscheidungssituationen konfrontiert, die mehr oder weniger starke Konfliktelemente beinhalten. Daher kann kooperatives Verhalten erlernt werden. Erfahren die Akteure Kooperation in Spielen mit relativ geringem Konfliktcharakter, werden sie geneigt sein, auch in konfliktgeladeneren Situationen Vertrauen in das Verhalten ihrer Mitmenschen zu setzen (Voigt und Kiwit 1998, S. 100).175 Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um bedingt kooperative Individuen handelt. Die Entstehung von Normen wird so zu einem pfadabhängigen Phänomen (Voigt und Kiwit 1998, S. 101). Ökonomische Analysen sollten daher beachten, daß Individuen bei ihren Entscheidungen nicht nur vorausschauen, sondern auch ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit verarbeiten. Dies wirft wiederum ein Licht auf die besondere Bedeutung einer gemeinsamen Geschichte, auf deren Grundlage sich informelle Institutionen entwickeln. Statt eines rationalen Egoismus ist dann von einer adaptiven Eigennutzorientierung zu sprechen, in der Lerneffekte explizit berücksichtigt werden (Mueller 1986). 2.3.3.5.

Institutionen und Rent-Seeking

In den vorangegangenen Abschnitten wurde betont, daß Institutionen in vielen Fällen Verteilungseffekte auslösen. Beschränken wir uns auf formale Institutionen und gehen davon aus, daß diese in einem politischen Entscheidungsprozeß auf kollektiver Ebene geschaffen werden, so ergeben sich Anreize für Interessengruppen, über den politischen Prozeß Einfluß auf die Ausgestaltung der Regelsysteme zu nehmen (Rent-SeekingAktivitäten).176 Im Zwischenraum zwischen Wahlvolk und Politik entsteht also Raum

174

Wie anhand von Experimenten gezeigt wurde, sind hierzu nicht unbedingt formale Institutionen nötig.

175

So wird es den Akteuren in einer Gefangenendilemma-Situation leichter fallen, Kooperation zu erlangen, wenn man bereits im Geschlechterkampf erfolgreich war. Diese Effekte verstärken sich, wenn es sich um wiederholte Interaktionen mit denselben Partnern handelt.

176

Der Begriff des Rent-Seekings wurde von Anne Krueger (1974) geprägt und kennzeichnet Tätigkeiten, die den politischen Prozeß für die Erreichung von Sondervorteilen instrumentalisieren.

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für lukrative Tauschgeschäfte zwischen Interessenverbänden und Politikern. 177 Letztere bieten vorteilhafte wirtschaftspolitische Maßnahmen und institutionelle Arrangements an und werden für ihr Entgegenkommen durch Unterstützung im politischen Wettbewerb entlohnt.' 78 Eine Spielart zur Sicherung von Partikularinteressen besteht in der Abgrenzung einer Gruppe oder der Schließung eines Systems. Die Solidarität nach innen wirkt nach außen ab- oder gar ausgrenzend (Elster 1989a, S. 109). Dies gilt nicht nur für formale Regeln, sondern auch für informelle Institutionen: Das Brechen einer Regel wird als gleichbedeutend mit dem Abrücken von der Gruppe angesehen und bestraft. Sind solche Konformitätsnormen in einer Gesellschaft stark verbreitet, kann dies negative Effekte auslösen, da sie die Kreativität und das eigenständige Handeln von Individuen in einem Maße beschränken, das einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung abträglich ist.179 Als Folge des Rent-Seekings gut organisierbarer Gruppen kann eine Privilegienordnung entstehen (Mantzavinos und Vanberg 1996, S. 317). In diesem Fall ist grundsätzlich mit Ineffizienzen in den Bereichen der Marktverfassung, der Institutionen, der Marktprozesse und -ergebnisse zu rechnen. Rent-Seeking-Aktivitäten sind daher aus volkswirtschaftlicher Sicht unproduktiv und stellen eine Ressourcenverschwendung dar (Olson 1991; North 1990, S. 110).180 Es handelt sich damit nicht nur um Umverteilungsmaßnahmen, die Bewegungen auf der Pareto-Grenze darstellen, sondern die Volkswirtschaft entfernt sich von Pare/o-effizienten Ergebnissen (Kirchgässner 1996, S. 413). 2.3.3.6.

Fazit

Die wohlfahrtssteigernde Wirkung von Institutionen ist in ihrer transaktionskostensenkenden Funktion begründet. Zudem können Institutionen Türen öffnen und damit bisher versperrte Wege gangbar machen. 181 Allerdings stehen in den meisten Situationen die Verteilungsmotive und damit der individuelle Nutzen im Vordergrund. Selbst in

177

178

179 180

181

Auch North (1990, S. 99) führt aus: „The increasing returns characteristic of an initial set of institutions that provide disincentives to productive activity will create organizations and interest groups with a stake in existing constraints. They will shape the policy in their interests." Es stehen zudem vielfältige legale Instrumente zur Verfugung, um sich den Entscheidungsträgern direkt erkenntlich zeigen zu können (Posten in Aufsichtsräten oder Beratergremien, Einladungen als Gastredner zu Tagungen oder anderen prestigeträchtigen Veranstaltungen). Elster (1988, S. 364) bemerkt in diesem Zusammenhang: „While preserving community, it stifles progress." Dagegen betont Becker (1983) die positiven Aspekte der Arbeit von Interessenverbänden aus informationsökonomischer Sicht und setzt auf einen Wettbewerb zwischen den Gruppierungen, der zu einem effizienten Angebot ihrer Tätigkeiten führen werde. Ein wichtiger Kritikpunkt an dieser These besteht darin, daß nicht alle Interessen organisierbar sind. Hierdurch kommt es zwar nicht zu einer Erweiterung des Strategienraumes, es ist allerdings denkbar, daß Institutionen die Entdeckung von Neuem fördern, indem Strategien aufgewertet werden, die innovatives Verhalten belohnen.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

61

Situationen, die ein eindeutiges Pare/o-Optimum besitzen, können Institutionen die Auszahlungen zugunsten von bestimmten Akteuren beeinflussen. Je nach zu regelnder Situation unterscheiden sich die Funktionen und die Wirkungen der Institutionen. Die Betonung der Verteilungswirkungen sowie die Ausführungen zum Rent-Seeking machen deutlich, daß Institutionen nicht in einem übergeordneten Sinne effizient sein müssen, um überleben zu können. Sie können auch dann noch weiterbestehen, wenn sie ihre eigentliche Funktion bereits lange eingebüßt haben, aber erfolgreich machtvolle Partikularinteressen bedienen. Die Verteilungseffekte von Institutionen wirken wiederum auf die Verhandlungsmacht der Akteure zurück und sorgen in der Konsequenz für eine weitere Verfestigung der Strukturen (Knight 1997, S. 211 ff.). Der Wettbewerb wird erfolgreich durch den Faktor Macht verdrängt. Auch hier können stabile informelle Institutionen eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllen. Sie helfen, die Lücken im formalen Regelwerk zu schließen, und verhindern damit eine noch unmäßigere Selbstbedienung von Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit. Hiermit ist eine Form der Wechselwirkungen zwischen formalen und informellen Institutionen angesprochen, auf die in den folgenden Abschnitten genauer eingegangen werden soll. 2.3.4. Das Zusammenwirken von Institutionen Die Verfassung eines Staates formalisiert die Grundwerte einer Gesellschaft auf einer abstrakten Ebene. Die weitere Gesetzgebung muß sich dann auf der Grundlage dieser verfassungsrechtlichen Regelungen bewegen (Konsistenz des Rechtssystems). Diese grundsätzliche Übereinstimmung wird um so schwerer zu erreichen sein, je weiter man sich von einer allgemeinen Normgebung entfernt und je näher man speziellen Regeln kommt, die eher der Rechtsprechung in Konfliktfallen dienen. In den folgenden Abschnitten werden Effekte diskutiert, die sich ergeben, wenn verschiedene Institutionentypen denselben Sachverhalt regeln. Dabei läßt sich zwischen neutralen182, komplementären, substitutiven und gegenläufigen Wirkungen auf den Regelungsbereich unterscheiden (Kiwit und Voigt 1995, S. 124 f.; Voigt 2002, S. 76 ff.). 2.3.4.1.

Komplementarität

Der Begriff der Komplementarität kennzeichnet den Fall, daß Institutionen menschliches Verhalten auf dieselbe Art und Weise regeln und sich dabei ergänzen. Kontrolle und Sanktionierung werden in diesem Fall staatlich und privat, privat-organisiert und gesellschaftlich oder staatlich und gesellschaftlich vorgenommen. So werden Gesetzesverstöße nicht nur gerichtlich geahndet, sondern rufen vielfach auch gesellschaftliche Sanktionen hervor. Durch dieses Zusammenwirken werden die Koordinationskosten gesenkt, und es kommt zu einer wechselseitigen Stärkung der Institutionen. Da formale Institutionen vielfach der staatlichen Absicherung informeller Institutionen dienen, sind komplementäre Institutionen häufig anzutreffen. Neben der größeren Unsicherheit, die

182

Im Falle der Neutralität beeinflussen Institutionen einander nicht. Dann besteht eine klare Abgrenzung, so daß dieser Fall hier nicht weiter ausgeführt werden muß.

Martin Dietz

62

bei gesellschaftlichen Normen aufgrund des Kollektivgutproblems bei der Sanktionierung besteht, existiert ein weiterer Grund für eine Stützung durch formale Institutionen. Diese garantieren nicht nur die Durchsetzung der Regel, sondern sorgen im Unterschied zu informellen Institutionen häufig auch für eine Kompensation des Geschädigten (Ripperger 1998, S. 30). Es können jedoch auch negative Rückkopplungen oder Abschwächungseffekte zwischen Institutionen auftreten. Dies läßt sich anhand einer (Mehrpersonen-) Gefangenendilemma-Situation illustrieren, in der sowohl informelle als auch formale Institutionen das kooperative Verhalten sicherstellen sollen. In einem solchen Fall ist es besonders wichtig, daß die formalen Institutionen glaubwürdig durchgesetzt werden. Reagiert der Staat nicht entsprechend, so kann dies als eine Art implizite staatliche Billigung abweichenden Verhaltens aufgefaßt werden und zu einer Aushöhlung der komplementären informellen Institutionen führen. Ostrom (2000, S. 147 f.) stellt die Wechselwirkungen zwischen formalen und informellen Institutionen folgendermaßen heraus: „Finally, the worst of all worlds may be one where external authorities impose rules but are only able to achieve weak monitoring and sanctioning. In a world of strong external monitoring and sanctioning, cooperation is enforced without any need for internal norms to develop. In a world of no external rules or monitoring, norms can evolve to support cooperation. But in an in-between case, the mild degree of external monitoring discourages the formation of social norms, while also making it attractive for some players to deceive and defect and take the relatively low risk of being caught." Auf diese Weise wird die Regelbefolgung weiter zurückgehen, da neben den staatlichen auch die gesellschaftlichen Sanktionen an Wirkung verlieren. Sind informelle Institutionen erst einmal geschwächt, erschwert dies spätere staatliche Bemühungen, formale Regeln durchzusetzen, da informelle Normen nur langsam wieder aufgebaut werden. Weiterhin kann es zu Fehlentwicklungen im Hinblick auf motivationale Aspekte kommen, wenn der Staat harte formale Regeln und Sanktionen einsetzt, die von den Bürgern als Zeichen des Mißtrauens angesehen werden. Dies kann zu einem Crowdingout intrinsischer Motivation führen. Die Ausweitung staatlicher Kontrollen beschädigt dann informelle (internalisierte) Institutionen und führt zu einer Einschränkung der freiwilligen Kooperationsbereitschaft. Aus dieser Perspektive ist eine Orientierung formaler Institutionen am worst case, wie sie bspw. von Brennan und Buchanan (1993) angeregt wird, kontraproduktiv. Indem man das Fundament einer Gesellschaft auf gegenseitigem Mißtrauen aufbaut, zerstört man das vorhandene Sozialkapital und behindert damit sowohl den gesellschaftlichen als auch den ökonomischen Fortschritt.183 In diesem Zusammenhang muß darauf verwiesen werden, daß es sich bei der Beziehung zwischen Bürgern und Staat um eine wechselseitige Prinzipal-Agenten-Beziehung handelt. Einerseits ist der Bürger als Wähler Prinzipal der Regierung, andererseits muß der Staat zur Finanzierung seiner Tätigkeiten Anreizsysteme entwickeln, die die Bürger zu einer angemessenen Beteiligung am Gemeinwohl bewegen. In einer solch komplexen Beziehung ist ein gewisses Vertrauen der Parteien in die Redlichkeit der jeweils anderen Seite vonnöten. Die genannten Wechselwirkungen berühren letztlich das allgemeine 183 Vgl. in diesem Sinne Frey (1986, S. 555).

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

63

Verhältnis zwischen Bürgern und Staat, so daß die Gefahr (die Chance) besteht, daß sich negative (positive) Wirkungen in einem Bereich auf andere Gebiete übertragen. In der Analyse der Wechselwirkungen zwischen Institutionen ist daher eine zentrale wirtschaftspolitische Fragestellung zu sehen. 2.3.4.2.

Substituierbarkeit

Sind Institutionen substituierbar, so beeinflussen sie menschliches Verhalten auf dieselbe Art und Weise. Kontrolle und Sanktionierung werden nun entweder staatlich oder gesellschaftlich vorgenommen. Aus dieser Austauschbarkeit können Abgrenzungsprobleme erwachsen. Dieser Fall dürfte vor allem im Bereich organisiert-gesellschaftlicher und staatlicher Sanktionierung relevant sein, da eine nicht-organisierte Sanktion nur schwerlich eingefordert werden kann, der Begriff der Substituierbarkeit jedoch eine gewisse Wahlmöglichkeit beinhaltet.184 Hier gilt ebenso wie für den Fall der Komplementarität, daß sich Institutionen sowohl positiv als auch negativ beeinflussen können. 2.3.4.3.

Gegenläufigkeit

Sind Institutionen, die einen bestimmten Sachverhalt regeln sollen, durch Gegenläufigkeit gekennzeichnet, so beeinflussen sie menschliches Verhalten auf unterschiedliche Art und Weise. Damit gelingt es nicht mehr, die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte zu stabilisieren. Zudem muß man unabhängig vom Verhalten mit Sanktionen rechnen, so daß sich tendenziell die Koordinationskosten erhöhen (Voigt 2002, S. 81 ff.). Bspw. ist es denkbar, daß bestimmte Verhaltensweisen formal-rechtlich erlaubt sind, gesellschaftlich jedoch geächtet werden. Welche Institution sich als stärker erweist, hängt einerseits von der Bindung an das Wertesystem der Gesellschaft ab, aber auch davon, welche Strafe man zu erwarten hat. Die schwächere Norm kann mit der Zeit verschwinden. Als eindrucksvolles Beispiel für gegenläufige Institutionen kann der informelle Waffenstillstand zwischen deutschen und britischen Truppen Weihnachten 1914 angeführt werden. Dabei gelang es den Soldaten, sich ohne staatliche Rückendeckung auf eine Kampfpause zu einigen, in der lediglich symbolische Kriegsakte durchgeführt wurden. Formal-rechtlich standen hierauf strenge Strafen (Ashworth 1980; Jürgs 2003).185 Besonders häufig werden Gegenläufigkeiten auftreten, wenn sich ein Wandel einstellt, der sich allein auf die informelle oder die formale Sphäre bezieht. Dann kann es dazu kommen, daß informelle Institutionen oder Werte erodieren oder neue formale Institutionen an alten informellen Institutionen scheitern.'86

184

Zu den Möglichkeiten, zwischen staatlichen oder privaten Wegen der Konfliktlösung zu wählen, siehe Voigt (2002, S. 79 f.).

185

Die Mafia-Lösung des Gefangenendilemmas bietet ein Beispiel organisationsspezifischer Regeln, die formalen Institutionen entgegenstehen. Die Organisation stellt hier glaubwürdige Strafmechanismen zur Verfügung, die dazu führen, daß die Akteure das - in diesem Fall gesellschaftlich unerwünschte - kooperative Ergebnis erreichen.

186

Als Beispiel kann der Versuch gelten, die Wirtschaftsordnung westlicher Volkswirtschaften ohne Berücksichtigung der informellen Normen nach Rußland zu verpflanzen. Zu den Problemen des institutionellen Wandels in Transformationsprozessen und vor allem auch

64

Martin Dietz

2.3.4.4.

Fazit

Um die tatsächlichen Effekte formaler Regelmechanismen einschätzen und mögliche Fehlentwicklungen vorhersehen zu können, müssen sie in Verbindung mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld analysiert werden.187 Aus diesem Grund sollten informelle Institutionen neben den formalen Anreizmechanismen als wichtige Pfeiler in ökonomische Analysen eingehen. So scheint eine gewisse Harmonie von formalen und informellen Institutionen die Voraussetzung fiir eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu sein (Erlei, Leschke und Sauerland 1999, S. 520 ff.). Da eine verordnete Anpassung informeller Institutionen an ein formales Regelwerk nicht möglich ist, sollten sich die formalen Regeln an den bestehenden informellen Institutionen orientieren. Spannungen können entstehen, wenn Veränderungen im Wertesystem nur unzureichend politisch repräsentiert werden. Dann klafft möglicherweise eine Lücke zwischen informeller Basis und formalem Institutionensystem. Andererseits ist bei der Änderung formaler Regeln darauf zu achten, daß sie nicht in Konflikt zum fortbestehenden informellen Regelsystem geraten. Ansonsten kann es zu Problemen bei der Umsetzung der neuen Institutionen und über die Gegenläufigkeit formaler und informeller Institutionen zu weitreichenden Negativentwicklungen kommen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn formale Institutionen relativ allgemeinen gesellschaftlichen Normen widersprechen. Letztere können zu einem Großteil als internalisiert angesehen werden, so daß ihre Verletzung das Sozialkapital einer Gesellschaft angreift. Als Folge dieser Ausführungen ist eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die Beurteilung formaler Institutionen durch ökonometrische Tests geboten, weil diese in der Regel die informellen Gesichtspunkte vernachlässigen.' 88 2.3.5. Institutionelles Beharrungsvermögen und institutioneller Wandel Institutionen sind per Definition Urheber von Inflexibilitäten und Starrheiten. Dies hängt damit zusammen, daß sie ihre Existenz gerade der Stabilisierung von Erwartungen und damit der Reduktion von Ungewißheit verdanken. Um diese Funktionen erfüllen und transaktionskostensenkend wirken zu können, müssen Institutionen also eine gewisse Dauerhaftigkeit aufweisen. Häufige Veränderungen stellen die Verläßlichkeit einer Institution in Frage und machen ihre erwartungsstabilisierende Wirkung zunichte

187 188

der Rolle von Netzwerken und informellen Regeln siehe Engerer und Voigt (2002, S. 178 ff.). Die Untersuchung von Ellickson (1991) zeigt, daß formale Institutionen selbst in so hochentwickelten Gebieten wie Kalifornien von informellen Regeln überlagert werden. Ein Test derselben formalen Institution in den USA und in Rußland würde zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen kommen, eben weil das tatsächliche Verhalten sich nicht nur an gesetzlich festgeschriebenen Regeln orientiert, sondern auch an gesellschaftlichen Normen sowie an der Art und Weise, wie der Staat seine formalen Institutionen durchsetzt. Schettkat (2003) weist zudem darauf hin, daß ein und dasselbe Institutionensystem in verschiedenen makroökonomischen Situationen unterschiedlich erfolgreich sein wird, so daß die Effizienz von Institutionen im besten Fall situationsabhängig ist. Richter (1990, S. 580) fuhrt aus, daß effiziente Institutionen in einer komplexen und durch Ungewißheit gekennzeichneten Welt grundsätzlich nur schwer vorstellbar sind.

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

65

(Erlei, Leschke und Sauerland 1999, S. 278 f.). Institutionelle Veränderungen werden vor allem dann zu einem Problem, wenn sie willkürlich und intransparent erfolgen. Die hierdurch entstehende Planungsunsicherheit wirkt sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus, da es fraglich wird, ob die Früchte unternehmerischen Handelns in angemessener Art und Weise geerntet werden können. 189 Die durchaus notwendige institutionelle Stabilität stellt jedoch einen Nachteil dar, wenn sie dauerhaft die Weiterentwicklung der zu regelnden Bereiche erschwert. Ein gewisses Ausmaß an Wandlungsfähigkeit von Institutionen ist also auch vonnöten. Grundsätzlich ist beim institutionellen Wandel das Zusammenspiel von Regeln, Wirtschaftsleistung und Regelanpassungen angesprochen.' 90 Es handelt sich also um die Fähigkeit von Institutionen, sich mit dem Ziel einer effizienten Ausgestaltung von Transaktionen neuen Gegebenheiten anzupassen. Dabei kann grundsätzlich zwischen zwei Fällen unterschieden werden, durch die institutioneller Wandel nötig wird. Zunächst kann es sich um die Lösung bekannter Probleme in einem sich wandelnden Umfeld handeln. Weiterhin besteht jedoch die Notwendigkeit, sich neuen Problemen zu stellen, indem entweder bestehende Institutionen modifiziert oder aber neue geschaffen werden. Inflexibilitäten sind vor allem dann zu erwarten, wenn Institutionen starke Verteilungseffekte auslösen und damit für die begünstigten Interessengruppen der Anreiz besteht, notwendige Anpassungen und damit institutionellen Wandel zu behindern. 191 Dies gilt insbesondere, wenn diese Gruppen Investitionen in das Institutionensystem vorgenommen haben. Diese verstärken das Interesse am Status Quo und fuhren somit zu Pfadabhängigkeiten. Auf diese Weise werden sowohl effiziente als auch ineffiziente Institutionen stabilisiert, so daß die Gefahr besteht, daß sich die Gesellschaft in veraltete Institutionensysteme einschließt (Lock-in-Effekt). 192 Eine wichtige Frage besteht dann darin, wie eine wünschenswerte Anpassung von Institutionen dennoch zustande kommen kann.

189 190

191

192

Dies bestätigen Untersuchungen, die einen negativen Zusammenhang zwischen politischer Instabilität und Wirtschaftswachstum nachweisen (Alesina et al. 1992). Vgl. die grundlegenden Arbeiten von North (1988, 1990). North (1990, S. 84) fuhrt institutionellen Wandel ebenso wie Knight (1997) auf die Veränderung von relativen Preisen sowie von Präferenzen zurück. Dabei mögen die fraglichen Institutionen dem ursprünglichen Problem durchaus angemessen gewesen sein, in einem neuen Umfeld jedoch ihre Wirkung eingebüßt haben und nur noch distributiv wirken. Dies gilt auch für informelle Institutionen. So können bestimmte Formen des Konformismus, die in der Evolutionsgeschichte überlebensnotwendig waren, heute ein Hindernis für den Fortschritt darstellen (Elster 1988, S. 364). Vgl. Buttler (1987, S. 206 f.) sowie vor allem North (1990, S. 92 ff.), der die Erkenntnisse von David (1985) und Arthur (1989) zu technologischen Lock-in-Effekten auf die Entwicklung von Institutionen überträgt. Auch hier können Entitlements eine wichtige Rolle spielen. Haben Menschen das Gefühl, daß sie ein Anrecht auf Leistungen haben, die ihnen durch bestehende Institutionen gesichert werden, so sind Widerstände gegen institutionellen Wandel zu erwarten. Der institutionelle Status Quo wird gestärkt.

66

Martin Dietz

2.3.5.1.

Exit und Voice als Antworten auf institutionelle

Beschränkungen

Wenn Institutionen stark beschränkende Wirkungen ausüben, werden die Akteure nach Ausweichmöglichkeiten Ausschau halten. Hirschman (1970) diskutiert die Alternativen der Abwanderung (Exit) und des Widerspruchs (Voice).193 Dabei handelt es sich um Strategien, mit denen auf unterschiedliche Weise Druck auf die Entscheidungsträger ausgeübt wird. Das Ziel des Widerspruchs kann sowohl in einer Veränderung als auch in der Beibehaltung des Status Quos bestehen. Der Voice-Mechanismus eignet sich vor allem für die Beeinflussung formaler Institutionen, da diese in der Regel einem kollektiven Entscheidungsprozeß unterworfen sind, der Ansatzpunkte für Rent-SeekingAktivitäten bietet.'94 Bei der Veränderung von Institutionen ist zu beachten, daß die institutionell bevorzugten Gruppierungen häufig bereits durch Interessenverbände vertreten werden, so daß sie ihre Verteilungsinteressen besonders kraftvoll vertreten können.195 Eine Möglichkeit für Unternehmen, den Voice-Mechanismus im Verteilungskampf einzusetzen, besteht in der Drohung, die Exit-Option wahrzunehmen. So drohen Unternehmen sowohl gegenüber der Politik als auch gegenüber der Belegschaft mit Abwanderung, um günstigere Produktionsbedingungen durchzusetzen oder spezielle Rechte zugesprochen zu bekommen.196 Allerdings werden die Kosten eines vollständigen Exits aus einem institutionellen Umfeld (Verlassen des Landes) aufgrund der Mobilitätskosten beträchtlich sein. Die Höhe dieser Kosten schwächt die Glaubwürdigkeit der Abwanderungsdrohung. Mit dem Akt der Abwanderung wird der direkte Einfluß auf das System schließlich aufgegeben. Weiterhin besteht die Möglichkeit, sich den formalen Institutionen innerhalb des Systems zu entziehen, indem die Akteure in den informellen Sektor abwandern. Die Etablierung eines Schwarzmarktes ist daher immer ein Anzeichen dafür, daß die Abwicklung von Transaktionen im legalen Bereich sehr hohe Kosten verursacht.'97 Zudem kann angenommen werden, daß die Kosten den gesellschaftlich akzeptierten Rahmen über-

193 194 195 196 197

Die .Abstimmung mit den Füßen' wird bereits bei Tiebout (1956) diskutiert. Dabei muß jedoch zunächst das Problem kollektiven Handelns gelöst werden. Andererseits können Anstöße zu institutionellem Wandel immer wieder durch Gruppierungen gegeben werden, die sich durch das bestehende Institutionengeflecht im Nachteil sehen (Rebitzer 1993, S. 1395). Hierzu können auch Subventionen oder der Schutz gegen internationalen Wettbewerb gehören. Die Verbesserung der Unternehmenssituation fuhrt dann langfristig zu einer Verschlechterung der volkswirtschaftlichen Effizienz. „Schattenwirtschaft ist, ihren kriminellen Teil ausgenommen, die Reaktion auf eine Politik, die unmäßig in die Wirtschaft eingreift, ungleiche Bedingungen schafft [...] und sich an denen schadlos hält, die nicht durch korporative Interessen bestimmter Branchen, Finanzkreise oder Apparate geschützt sind." (M. Neubert: Im Schatten der russischen Mafia, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.02.1998)

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

67

schreiten.198 Diese Form der Abwanderung wird um so stärker ausfallen, je geringer die staatliche Durchsetzungsfähigkeit formaler Institutionen ist (Soto 1990, S. 12). 2.3.5.2.

Die Rolle institutionellen

Wettbewerbs

Der Wandel von Institutionen wird im evolutorischen Ansatz durch das Wirken eines geeigneten Selektionsmechanismus' erklärt (Mantzavinos 2004, S. 7 ff.). Daher muß die Frage, welcher Mechanismus die Institutionen auswählt, im Zentrum dieser Theorie stehen. Hier wird in der Regel auf den institutionellen Wettbewerb verwiesen, der sich aus der Konkurrenz der Staaten speist.'99 Der Wettbewerb kann darauf hinauslaufen, zahlungskräftige Unternehmen oder Bevölkerungsgruppen anzuziehen, um eine möglichst hohe Steuerbasis zu erhalten. Dabei wird die Beurteilung der Institutionen nach der Höhe der für diese Gruppierungen relevanten Transaktionskosten vorgenommen. Letztere sind damit die treibende Kraft des institutionellen Wandels. Nimmt man also an, daß institutioneller Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren eintritt, so ist jedoch nicht von vornherein klar, daß im Verlaufe dieses Prozesses gesamtwirtschaftlich effiziente Institutionen entstehen. Werden institutionelle Veränderungen aufgrund von Abwanderungsdrohungen vorgenommen, orientiert sich die Ausgestaltung der Institutionen augenscheinlich in erster Linie an den Interessen der mobilen Kräfte. So werden Unternehmen in Länder abwandern, die ihnen langfristig die besten Gewinnperspektiven bieten. Die hierfür notwendigen Institutionen sind damit nicht unbedingt effizienter, sie entsprechen lediglich den jeweiligen Verteilungsansprüchen.200 Die Auswahl und Verbreitung formaler Institutionen folgt dann also dem Kriterium der Eignung aus Sicht der relevanten Interessengruppen, so daß auch das Selektionsargument auf den Einfluß von Macht untersucht werden muß. Hieraus ergibt sich eine gewisse Skepsis in Bezug auf die Rolle eines effizienzsteigernden institutionellen Wettbewerbs (Buttler 1987, S. 221; Voigt und Kiwit 1998, S. 103). Es spricht vielmehr einiges dafür, daß die Entwicklung von Institutionen hauptsächlich durch interessengeleitetes Verhalten zu erklären ist. Wirtschaftspolitisch stellt sich damit die Frage, wie zwischen Partikularinteressen und dem Gesamtwohl vermittelt werden kann. Bei organisationsspezifischen Regeln ist dies vermutlich anders. Hier geht es darum, wie Transaktionen innerhalb von oder zwischen Organisationen abgewickelt werden. Erhalten Unternehmen Kenntnis von transaktionskostensparenden Technologien, so werden sie gewillt sein, diese auch zum Einsatz zu bringen, um das Unternehmensergebnis zu verbessern. Damit sind die Voraussetzungen für einen effizienzsteigernden

198 199 200

Ein informeller Sektor kann aufgrund der fehlenden staatlichen Absicherung der Transaktionen nur dann überleben, wenn man sich auf informelle Regeln stützen kann, die ein Zusammenbrechen des Schwarzmarktes verhindern. Volckart (2002) legt eine Untersuchung der Jahre 1000 bis 1800 in Deutschland vor. Vielmehr wird befürchtet, daß die Wanderungsbewegungen mobiler Faktoren zu einer Qualitätsverschlechterung bestimmter Institutionen fuhren könnten, unter denen die immobilen Faktoren zu leiden haben (race to the bottom) - vgl. die Diskussion bei Feld (2002, S. 299 ff.).

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Pfad gegeben. 201 Bei informellen Institutionen oder internalisierten Normen, deren Sanktionierung nicht-organisiert vorgenommen wird, ist zu erwarten, daß ein Wandel nur langsam vonstatten geht, da sich Veränderungen erst innerhalb der Gesellschaft verbreiten müssen. 202 Sie sind einer intentionalen Änderung nur schwer zugänglich, denn hierzu bedürfte es der Beeinflussung der gesamten Gesellschaft {North 1990, S. 6). 203 Die wettbewerbliche Selektion effizienter Institutionen wird daher wohl am ehesten in der langen Frist und dann auch eher für sehr allgemeine (Basis-) Institutionen relevant sein. Im Hinblick auf letztere weisen die Indices verschiedener empirischer Untersuchungen positive Einflüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. 204

2.4.

Fazit

In diesem Kapitel wurde die Notwendigkeit der Einbeziehung formaler und informeller Institutionen in die ökonomische Analyse betont. Diese ergibt sich vor allem aus unterschiedlichen Formen der Ungewißheit, die von den Wirtschaftssubjekten verarbeitet werden müssen. Zur Stabilisierung der Erwartungen dienen nicht nur staatlich gesicherte Regeln, sondern auch informelle Institutionen. Letztere sind auch deswegen zu beachten, da vor allem Normen bedingter und unbedingter Kooperationsbereitschaft Erklärungen für Interaktionsmuster liefern, die von einer engen Version des H o m o Oeconomicus nicht erfaßt werden können. Daher wurde eine Erweiterung des ökonomischen Menschenbildes vorgenommen, die sich auf Ergebnisse der experimentellen Wirtschaftsforschung stützt. Aufgrund der Heterogenität der Akteure kann nicht grundsätzlich von einem allgemeinen Interesse an einer bestimmten Ausgestaltung von Institutionen ausgegangen werden. In der hier eingenommenen Perspektive sind es vor allem die Verteilungs- und nicht die Wohlfahrts- oder Effizienzwirkungen, die die Entstehung, die Ausgestaltung und den Wandel von Institutionen bedingen. Alles in allem stellt ein gegebenes Institutionengeflecht eine historisch gewachsene Struktur dar, die aufgrund des begrenzten Wissens der Akteure, ihrer Eigennutzorientierung sowie verzögerter Regelanpassungen keinen Anspruch auf Effizienz erheben kann. Dies gilt nicht nur für private Regeln oder gesellschaftliche Normen, sondern gerade auch für formale Institutionen, deren Ausgestaltung anfallig für den Einfluß organisierter Interessen ist.

201

202

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204

Die Effizienzorientierung der Organisation erfolgt auch auf der Marktebene. Im Wettbewerbsprozeß weisen unternehmerische Gewinnorientierung und volkswirtschaftliche Effizienzüberlegungen jedoch nicht immer in dieselbe Richtung wie sich am Beispiel der Kartellbildung illustrieren läßt. Der Wandel informeller Institutionen kann langsam durch die Veränderung der Population entstehen (Generationenwechsel) oder aber durch einen exogenen Schock beschleunigt werden. Lindbeck ( 1995, S. 481 f.) spricht im letzteren Fall von einem ,Ketchup-Effekt'. Allerdings kann der Staat versuchen, Organisationen oder formale Institutionen (wie die Kirche oder die Ehe) zu stärken, von denen man sich eine positive Beeinflussung bestimmter gesellschaftlicher Normen verspricht - vgl. Leipold (1998, S. 166 ff.) zu den sozialpolitischen Vorstellungen von Müller-Armack und Wilhelm Röpke. Vgl. zusammenfassend Erlei, Leschke und Sauerland (1997, S. 529 ff.).

Kapitel 2: Ein institutionenökonomischer Ansatz

69

Institutionen sehen sich in einem dynamischen Umfeld einem Trade-off zwischen Stabilität und Verläßlichkeit auf der einen und einer gewissen Flexibilität auf der anderen Seite ausgesetzt. Sollen sie langfristig volkswirtschaftlich positive Wirkungen entfalten, so ist eine gewisse Schwingungskapazität vonnöten. Schließlich gilt es, das Zusammenspiel zwischen unterschiedlichen Institutionen bei der wirtschaftspolitischen Analyse zu beachten. Hier ist vor allem an die Wechselwirkungen zwischen informellen und formalen Institutionen zu denken, die der Regelung dehselben Sachverhalte dienen. Die große Dynamik moderner Marktwirtschaften wirkt auf den Arbeitsmarkt ein und liefert damit ein Argument, warum Institutionen zur Reduktion von Unsicherheit auch dort eine besondere Bedeutung zukommt. Die Nachfrage nach Institutionen wird durch die Besonderheiten des Faktors Arbeit weiter verstärkt. Ihnen ist daher die Analyse im folgenden Kapitel gewidmet.

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3.

Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit

Bei der Analyse des Arbeitsmarktes sollte zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten unterschieden werden. Zunächst treten im Vergleich zum Idealtypus des vollkommenen Marktes Unvollkommenheiten (Friktionen) auf, die jedoch ebenso auf Güter- oder Kapitalmärkten zu finden sind. Interessanter sind daher die Charakteristika des Arbeitsmarktes, die sich aus den besonderen Eigenschaften des Gutes Arbeit ergeben. So ist Arbeit nicht nur in einen ökonomischen, sondern auch in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Laut Krüsselberg (1985, S. 26) gibt es „keinen gesellschaftlich relevanten Tausch, der stärker institutionellen Normen, Geboten und Spielregeln unterworfen ist als der von Arbeit." Der Zweck des anstehenden Kapitels ist es daher, die Besonderheiten des Gutes Arbeit und die Folgen für die Analyse des Arbeitsmarktes herauszustellen. Damit soll begründet werden, warum gerade auf dem Arbeitsmarkt eine institutionenorientierte Herangehensweise geboten erscheint, bei der es jedoch nicht ausreicht, sich auf die Analyse formaler Institutionen zu beschränken. Hierzu werden zunächst die verschiedenen Funktionen der Erwerbsarbeit sowie ihre gewandelte Bedeutung untersucht. Anschließend soll anhand von Befragungsstudien die Einstellung der Menschen zur Wirkung des Marktmechanismus' untersucht werden. Hieraus lassen sich wichtige Schlußfolgerungen für die Arbeitsmarktanalyse ziehen.

3.1.

Die Eigenschaften des Gutes Arbeit und der Arbeitsmarkt

Die Charakterisierung des Arbeitsmarktes als eines besonderen Marktes trifft schon deshalb zu, weil das Gut Arbeit untrennbar mit dem Menschen verbunden ist (Rothschild 1975, S. 16). Hierdurch wird zunächst die Mobilität des Gutes eingeschränkt, wie Rothschild (1975, S. 20) ausfuhrt: „Um den Anforderungen des ,Marktmechanismus' zu entsprechen, müßten Lohndifferenzen genügen, um Arbeiter zu veranlassen, Betrieb und/oder Wohnsitz zu wechseln. Das sind große, schwerwiegende Entschlüsse, die Anstrengungen, Zeit und Geld erfordern können und tief in das persönliche Leben hineinwirken." Zudem erfüllt die Arbeit laut Krüsselberg (1985, S. 25) eine ganze Reihe von Funktionen, die nicht nur dem reinen Überlebenszweck dienen. „Arbeit ist von Grund auf ein Mittel, das Überleben menschlicher Gruppen in ihrer physischen, technischen und sozialen Umwelt zu sichern. Sie ist zu diesem Zweck stets sozial geregelt, also .gesellschaftliche Arbeit'." Die folgenden Ausfuhrungen zur Bedeutung des Arbeitsmarktes richten sich an Maslows (1943) Theorie der Bedürfnisbefriedigung aus. Diese besagt generell, daß Organismen nach Stimulation suchen, wenn ihr Aktivierungsniveau zu gering ist. Dabei versuchen Menschen, ihre Potentiale nach und nach auszuschöpfen, indem sie sich - beginnend auf Stufe 1 - an der folgenden Bedürfnishierarchie abarbeiten'. 205 1. Physische Bedürfnisse: Hunger, Durst, Sexualität, Schlaf - lebensnotwendiger Konsum (3.1.1.).

205

Die hier gewählte Darstellung orientiert sich an Lea et al. (1987, S. 30 ff.).

Kapitel 3: Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit

71

2. Sicherheitsbedürfnisse: Bequemlichkeit, (finanzielle) Absicherung, Verlustvermeidung, Ruhe und Ausgeglichenheit (3.1.1.und 3.1.2.). 3. Bedürfnis nach Liebe oder Anerkennung: Das Gefühl, gebraucht zu werden und Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist sowohl am Arbeitsplatz (soziale Beziehungen im Unternehmen, Wertschätzung durch Kollegen und Vorgesetzte) als auch im engeren sozialen Umfeld von Bedeutung (3.1.2.). 4. Selbstachtung: Eigenmotivation, Selbstbewußtsein, Freude an der eigenen Leistung (3.1.3.). 5. Selbstverwirklichung: Beschäftigung mit Dingen, die einen hohen Wert besitzen - Kreativität im Beruf, intrinsische Motivation (3.1.3.). 3.1.1. Arbeit als Einkommensquelle Da die Arbeitskraft noch immer die Haupteinkommensquelle der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung bildet, kommt der Erwerbsarbeit eine besondere Funktion zu. Dem Konsum vorgelagert bildet sie die Existenzgrundlage der Menschen. Wird ein höheres Realeinkommen erreicht, so lockert sich die Einkommensrestriktion und es können weitere Bedürfnisse gedeckt werden. 3.1.2. Arbeit als Statusquelle Eng verwoben mit der Bedeutung der Arbeit für den wirtschaftlichen Status ist der gesellschaftliche Status, der durch Arbeit erlangt wird.206 Dieser kann sich zunächst in Form der durch das Arbeitseinkommen realisierten Konsummöglichkeiten äußern nach außen sichtbarer Wohlstand schlägt sich in gesellschaftlichem Ansehen nieder. Weiterhin steht der Arbeitsplatz in den meisten hochentwickelten Gesellschaften als Zeichen für persönlichen Erfolg und Leistungsfähigkeit. Dies gilt natürlich besonders in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit, also wenn Arbeitsplätze knapp werden. Neben der gesellschaftlichen Anerkennung ist die Wertschätzung der Leistung innerhalb der Arbeitsbeziehung durch Kollegen und Vorgesetzte von Bedeutung. Letztere kann sich sowohl in persönlichen Gesten als auch in formaler Weise (Gehaltshöhe oder andere Leistungen) ausdrücken. Marshall (1887/1956, S. 213) schlägt die Brücke von der Bedeutung der Lohnhöhe zum Statusaspekt, wenn er konstatiert: „The basic notion that there should be given ,A fair day's wage for a fair day's work', is [...] that he may be able to live in that way to which he and his neighbours in his rank of life have been accustomed."

Eine schlechte Bezahlung geht also nicht nur mit einer schärferen Einkommensrestriktion und einem niedrigeren gesellschaftlichen Status einher, sondern wird zudem als Indiz dafür angesehen, daß die eigene Leistung nicht in angemessener Art und Weise gewürdigt wird ( K a u f m a n 1999, S. 383).

206

Vgl. Witt (2004, Ziffer 37) sowie Solow (1990, S. 39), der bemerkt: „[...] a job is a status as well as a source of income."

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3.1.3. Der Konsumgutaspekt der Arbeit In neoklassischen Arbeitsmarktmodellen beruht die Ableitung der Arbeitsangebotsfunktion auf einem individuellen Grenznutzenausgleich zwischen Arbeitszeit und Freizeit, wobei Arbeit mit einem negativen Nutzen belegt wird. Diese Arbeitsleidhypothese trifft für eine große Anzahl an Berufen in modernen Volkswirtschaften nicht mehr zu. Heutzutage ergibt sich ein anderes Bild vom Stellenwert der Arbeit. Sie stellt allein schon durch den hohen Anteil an Zeit, der ihr gewidmet wird, einen der wichtigsten Faktoren im Leben vieler Menschen dar.207 Arbeit wird nicht mehr hauptsächlich mit Leid verbunden, sondern vermittelt Selbstbestätigung und Freude - dies kann als Konsumgutaspekt der Arbeit bezeichnet werden. Diese Entwicklung geht so weit, daß aus dem Beruf ein Lebensinhalt wird, die Arbeit also der Selbstverwirklichung dient.208 Mit dem Gefühl der Selbstachtung und der Selbstbestimmung geht ein Gefühl der Kompetenz sowie der Kontrolle über das eigene Leben einher, mit dem ein starker Drang zur Eigeninitiative verbunden ist (Kaufman 1999, S. 372; Rotter 1966). Hieran setzt die Leistungsmotivationstheorie von McClelland (1963/1978, S. 300) an, der den Menschen einen Leistungswillen zuspricht, „weniger um soziale Anerkennung oder um des Prestiges willen, als um das innere Gefühl zu erlangen, persönlich etwas vollbracht zu haben." 3.1.4. Wertewandel und Arbeit Im Hinblick auf die Ansprüche der Menschen an die berufliche Tätigkeit können drei Dimensionen unterschieden werden: konventionelle, idealistische und hedonistische Arbeitsansprüche.209 Die konventionellen Ansprüche beziehen sich vor allem auf die Einkommenserzielung und die Sicherheit des Arbeitsplatzes und können den unteren Stufen der Bedürfnisbefriedigung zugeordnet werden. Sie korrespondieren daher mit der materialistischen Werteorientierung im Sinne von Inglehart und mit einer eher extrinsischen Arbeitsmotivation. Dagegen stehen bei der idealistischen Dimension die Arbeitsinhalte und damit die intrinsische Motivation im Mittelpunkt. Als hedonistisch werden diejenigen Ansprüche an den Arbeitsplatz bezeichnet, die nicht direkt arbeitsbezogen sind, bspw. die Anzahl der Urlaubstage oder die Nutzung der Arbeitszeit zu persönlichen Zwecken. Hedonistische Typen verfügen über eine geringe Arbeitsmotivation, so daß die Gefahr opportunistischen Verhaltens groß ist.

207

Vgl. Kirchler (1999, S. 286), der die Untersuchungsergebnisse von Beretta (1993) präsentiert.

208

Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit der Qualitätsveränderung der Arbeitsprozesse im Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- und mittlerweile zur Wissensgesellschaft, während der eine Vielzahl von Tätigkeiten entstanden sind, die erst die individuellen Freiräume bieten, die eine starke Identifikation mit dem Beruf ermöglichen - vgl. auch Schlicht (2002, S. 8). Kirchgässner (2000, S. 187) stellt umgekehrt einen negativen Zusammenhang zwischen der Standardisierung von Arbeitsleistungen und der intrinsischen Arbeitsmotivation fest.

209

Diese Typisierung geht auf Klages (1984) zurück und wird in der empirischen Untersuchung von Schneider (2000, S. 9) verwendet.

Kapitel 3: Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit

73

Eine zunehmende Bedeutung hedonistischer Werte, die im Rahmen einer postmaterialistischen Wertesubstitution zu erwarten wäre, kann jedoch nicht empirisch nachgewiesen werden - im Gegenteil: ihr Anteil liegt auf einem niedrigen Niveau und nimmt weiter ab.210 Dagegen steigt die Bedeutung der idealistischen Komponente zumindest in den USA, Schweden und Westdeutschland. Ebenfalls konnte keine grundsätzliche Abnahme der konventionellen Ansprüche nachgewiesen werden - in Ostdeutschland steigt ihre Bedeutung sogar an, während die idealistische Komponente an Einfluß verliert. Alles in allem sprechen die Ergebnisse für eine Stärkung der idealistischen Werte, die im Zusammenhang mit der veränderten Arbeitswelt und einem allgemein gestiegenen Lebensstandard zu sehen ist. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Probleme - also immer dann, wenn das gesicherte Einkommen in Gefahr gerät - steht jedoch zunächst die Befriedigung der materiellen Bedürfhisse im Vordergrund, und die konventionellen Werte erfahren eine Stärkung. Die Befürchtung, die Arbeitsmotivation könne durch einen Wertewandel leiden, kann also nicht bestätigt werden (NoelleNeumann und Strümpel 1984). Lebensgenuß und eine positive Einstellung zur Arbeit stehen sich also nicht unvereinbar gegenüber, sondern scheinen sich vielmehr gegenseitig zu bedingen. In jedem Fall ist die Bedeutung der Arbeit für den Menschen im Verlaufe der Zeit deutlich vielschichtiger geworden. Sie verliert nicht an Wert, obwohl den Menschen immer mehr Aktivitäten neben der Arbeit offen stehen.2" Wiswede (2000, S. 146) hält fest: „Ganz offensichtlich gilt auch im Zeitalter der Freizeit- und Konsumorientierung, daß Beruf und Arbeit immer noch als die wichtigsten Quellen sozialer Geltung und des Selbstwertgefuhls angesehen werden." 3.1.5. Fazit Die Anerkennung der Leistung innerhalb der Arbeitsbeziehung sowie das Empfinden von Arbeitsfreude besitzen in entwickelten Volkswirtschaften mittlerweile einen hohen Stellenwert. Da sich die ökonomische Theorie auf das Einkommensziel verengt, erfaßt sie in Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderung nur einen immer weiter schrumpfenden Bereich der Arbeitswelt (Bürgenmeier 1991, S. 301 f.). Der durch das Arbeitseinkommen gesicherte Konsum stellt sowohl eine Quelle gesellschaftlichen Status' als auch persönlicher Selbstachtung dar. Die hierarchische Herangehens weise Maslows erfüllt damit eine gewisse Gliederungsfunktion, sollte jedoch in ihrer statischen Sichtweise nicht zu eng ausgelegt werden. So kann gerade die Erwerbstätigkeit als Beispiel dafür dienen, wie die Bedürfnisse unterschiedlicher Hierarchiestufen zusammenhängen und zur gleichen Zeit befriedigt werden können.

210 211

Dies gilt für Deutschland, Schweden, Japan und die USA - vgl. zu diesem und den folgenden Ergebnissen Schneider (2000, S. 15 ff.). Diese Schlußfolgerungen sprechen dafür, daß sowohl die extrinsische als auch die intrinsische Arbeitsmotivation eine wichtige Rolle spielen. Durch die Ergebnisse erhalten Effizienzlohnmodelle, die die soziale Komponente in den Arbeitsbeziehungen sowie die Motivationsfunktion des Lohnes in den Vordergrund stellen, eine empirische Basis - siehe ausführlich Abschnitt 5.4.

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Die Berufsausübung geht also deutlich über den Aspekt der Einkommenserzeugung hinaus {Rothschild 1977, S. 167).212 Dies wird auch durch demoskopische Befragungen zu den wichtigsten Eigenschaften eines Arbeitsplatzes gestützt. In der Untersuchung von Noelle-Neumann und Köcher (1993, S. 841) nannten mit 85 Prozent die meisten Befragten die Sicherheit des Arbeitsplatzes als oberste Priorität, während das hohe Einkommen mit 58 Prozent der Nennungen erst auf Rang 9 folgt. Wichtiger als die Gehaltskomponente sind zudem informelle Gesichtspunkte (nette Arbeitskollegen, Anerkennung der eigenen Leistung), der Konsumaspekt der Arbeit (abwechslungsreiche Arbeit) sowie die Selbstentfaltung am Arbeitsplatz (Entsprechen der eigenen Neigungen und Fähigkeiten, erfüllende Arbeit).213 Der Lohnsatz und das damit erzielte Arbeitseinkommen nimmt somit eine wichtige Funktion als Mittler zwischen der Arbeit und den zu erfüllenden Bedürfnissen ein, stellt jedoch nicht die einzige Komponente der aus der Arbeit zu ziehenden Bedürfnisbefriedigung dar. Damit kommen dem Arbeitsumfeld (Arbeitsklima), der Anerkennung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft sowie intrinsischen Faktoren wichtige Motivationsfunktionen in den Arbeitsbeziehungen zu - die Bedeutung harter Anreize geht dagegen zurück (Baron 1988, S. 497 ff.). Die Wünsche an den Arbeitsplatz gehen mit dem Anspruch einher, für die Arbeit in einer angemessenen Art und Weise entlohnt zu werden (Solow 1990, S. 9 f.; Marshall 1887/1956, S. 213).214 Deswegen werden die Abläufe auf dem Arbeitsmarkt nicht nur aus einer ökonomisch-rationalen Perspektive, sondern immer auch aus einem sozialen Blickwinkel betrachtet. Hieraus erklärt sich wiederum die Bedeutung informeller Institutionen (insbesondere von Gerechtigkeitsvorstellungen), die auf dem Arbeitsmarkt deutlich stärker ausgeprägt ist als auf .normalen' Gütermärkten. 215 Aus der besonderen Bedeutung der abhängigen Erwerbsarbeit ergibt sich als Kehrseite der Medaille, daß Arbeitslosigkeit nicht nur mit einem Einkommensverlust verbunden ist, sondern mit einem gesellschaftlichen Statusverlust sowie einer verringerten Selbstachtung einhergeht. Hieraus läßt sich vor allem in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit eine Nachfrage nach Institutionen zur Absicherung der Arbeitsverhältnisse ableiten.216 Diesem Sicherheitsbedürfnis sowie der beschränkten Rationalität der Wirtschaftssubjekte entspricht die starke institutionelle Durchdringung des Arbeitsmarktes. 212

Auch Solow (1990, S. 9) betont die hier aufgezeigten Zusammenhänge und kritisiert gleichzeitig die Art und Weise, wie in Forschung und Lehre mit diesen Besonderheiten umgegangen wird: „We live in a society in which social status and self-esteem are strongly tied both to occupation and income. [...] Employment and income are not simply equivalent to a set of bundles of consumer goods (and savings). But that is exactly the way textbook economics treats them."

213

Clark (1998, S. 27 ff.) ermittelt ähnliche Daten bei Befragungen in neun OECD-Staaten.

214

Das Gefühl des Auseinanderfallens von Lohn und Leistung kann weitreichende Konsequenzen für die Effizienz der Arbeitsbeziehungen haben wie in Abschnitt 5.4. ausgeführt wird.

215

Elster (1989a, S. 101) sieht den Arbeitsmarkt als ,Brutstätte' gesellschaftlicher Normen siehe auch Lindbeck und Snower (2001, S. 179).

216

Vgl. im Sinne dieser Ausführungen Schmid (1988, S. 25 f.) sowie Kirchgässner (1998, S. 1). Hieraus ergibt sich auch die in den meisten Arbeitsmarktmodellen angenommene Risikoaversion der Arbeitnehmer.

Kapitel 3: Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit

75

Die Institutionen beziehen sich einerseits auf die Stabilität der bestehenden Arbeitsverhältnisse (Kündigungsschutz) und andererseits auf die finanzielle Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit (Sozialleistungen). Die Analyse des Arbeitsmarktes erweist sich also als vielschichtig. Vor allem die Anbieter von Arbeit orientieren sich nur selten an reinen Lohnsignalen, sondern beachten bei ihrem Verhalten, daß sie sich innerhalb eines vielschichtigen Netzwerkes gesellschaftlicher Beziehungen bewegen. Granovetter (1985) spricht in diesem Zusammenhang von der gesellschaftlichen Einbettung ökonomischer Verhaltensweisen. Diese Faktoren üben selbst bei Abwesenheit formaler Beschränkungen einen starken Einfluß auf das Verhalten der Wirtschaftssubjekte auf dem Arbeitsmarkt aus (Regini 2000, S. 11). Wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu sehen sein wird, bleiben sie zudem nicht ohne Rückwirkungen auf die unternehmerischen Entscheidungen über den Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit. Damit unterliegt automatisch auch das Ziel der Gewinnmaximierung gesellschaftlichen Restriktionen (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a).

3.2.

Markt und Preis: Ökonomische Theorie vs. Alltagsbild

Zwischen der Art und Weise wie die Wissenschaft bestimmte Phänomene analysiert und wie dieselben Sachverhalte vom Normalbürger beurteilt werden, können grundsätzliche Unterschiede bestehen (Solow 1990, S. 2 f.). Dies gilt nicht nur für den Bereich der Wirtschaft, doch besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen den Auswirkungen solcher ,Meinungsunterschiede' in den Naturwissenschaften auf der einen und den Sozialwissenschaften auf der anderen Seite: In den Sozialwissenschaften existieren keine Naturgesetze, deren Wirkungen unabdingbar sind. So ist es für die naturwissenschaftliche Forschung beispielsweise irrelevant, was der Mensch auf der Straße über das Verhalten von Körpern in der Schwerelosigkeit denkt - die Naturgesetze werden sich davon unbeeindruckt zeigen. Die Ergebnisse experimenteller Forschung bleiben dieselben, und die Prognosekraft der Theorie bleibt erhalten, egal was der Laie für eine Meinung vertritt.217 Auf Märkten existieren jedoch keine Naturgesetze, auch wenn Adam Smiths Konzept der unsichtbaren Hand oftmals als ein solches angesehen wird. Der Wettbewerb und der Preismechanismus sind kraftvolle Instrumente in einer Marktwirtschaft, die jedoch nicht in allen Situationen (auf allen Märkten) in derselben Weise wirken. Wenn Menschen über Abläufe auf Märkten nachdenken, dann denken sie implizit auch immer über sich selbst und ihr Handeln nach. Das gilt natürlich insbesondere für den Markt, der den Menschen am nächsten ist: den Arbeitsmarkt (Stützet 1981, S. 18). Aufgrund der Vernachlässigung verschiedener institutioneller Aspekte des Arbeitsmarktes in den Mainstream-Wirtschaftswissenschaften besteht in diesem Bereich ohne Zweifel eine große Kluft zwischen dem, was Ökonomen traditionellerweise als Funktions-

217

Witt (2004, Ziffer 18) macht darauf aufmerksam, daß auch die Auswirkungen der Naturgesetze nicht unverrückbar sind, indem er auf die Rolle des technischen Fortschritts verweist: „So ist es nicht das Gesetz der Schwerkraft an sich, das den Menschen die meiste Zeit seiner Geschichte daran gehindert hat zu fliegen, sondern die Tatsache, daß ihm in der natürlichen Evolution keine ,Technologie' der Schwerkraftüberwindung zugewachsen ist."

76

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weise und Ziel des Arbeitsmarktes postulieren, und den Vorstellungen der Bevölkerung. Nur die wenigsten Menschen würden auf die Idee kommen, der Markt für Arbeit sei in jeder Hinsicht so zu behandeln wie beliebige andere Märkte (Solow 1990, S. 2). Nun ist aus Sicht des Ökonomen jedoch nicht in erster Linie relevant, wie sich die Menschen äußern, sondern ob sich ihre Ansichten auch in entsprechenden Handlungen niederschlagen. Daß menschliches Verhalten tatsächlich stark von der Optimierungshypothese abweicht, wurde bereits in Kapitel 2. in allgemeiner Form gezeigt und wird in Kapitel 5. noch einmal mit Bezug zum Arbeitsmarkt analysiert. Die Ansichten und Erwartungen der Wirtschaftssubjekte im Hinblick darauf, wie Menschen handeln und Märkte funktionieren (sollten), beeinflussen also tatsächlich ihr Handeln und damit auch das aus den individuellen Verhaltensweisen resultierende Marktergebnis. 3.2.1. Die Akzeptanz des Preises als Koordinationsmechanismus Auf funktionierenden Märkten wirkt der Preis als Koordinationsmechanismus und sorgt für ein Pareto-optimales Ergebnis. Bei gegebenen Anfangsausstattungen, die selbst nicht bewertet werden, ergibt sich also ein Gleichgewicht, das aus theoretischer Perspektive sowohl als effizient als auch als ,ethisch neutral' anzusehen ist. Übersteigt der Preis eines Gutes die maximale Zahlungsbereitschaft, so wird der Konsument auf ähnliche Produkte von Konkurrenzunternehmen zurückgreifen oder aber Verzicht üben müssen.218 Kahneman, Knetsch und Thaler (1986a), Frey (1986) und Frey und Pommerehne (1988) versuchen, anhand von Telefonbefragungen zu zeigen, daß das Vertrauen in den Marktmechanismus und die positiven Eigenschaften, die dem Preissystem von Ökonomen zugeschrieben werden, von vielen Menschen nicht geteilt wird.219 Er wird vielfach als ungerecht empfunden. Beeinflußt dieses gestörte Gerechtigkeitsgefühl das Verhalten der Konsumenten, so muß es von den Unternehmen bei der Gewinnmaximierung beachtet werden. Die Autoren machen dies an Beispielen fest, in denen eine Veränderung der Marktbedingungen - in der Regel eine unerwartete Erhöhung der Nachfrage bei konstantem Angebot - zu einem Marktungleichgewicht fuhrt. Die für einen Ökonomen selbstverständliche Reaktion wäre nun eine Anhebung des Güterpreises, bis angebotene und nachgefragte Menge wieder übereinstimmen. Im neuen (Paz-efo-optimalen) Gleichgewicht wird wiederum jeder Nachfrager im Rahmen seiner Zahlungsbereitschaft be-

218

219

Allerdings existieren Situationen, in denen der Preis als Koordinationsmechanismus aufgrund von Wertvorstellungen grundsätzlich als unangemessen empfunden wird. Als Beispiel hierfür mag die Prostitution dienen, denn .käufliche Liebe' war lange Zeit gesellschaftlich geächtet. Da dies heutzutage nur noch eingeschränkt der Fall ist, läßt sich hieran veranschaulichen, daß auch gesellschaftliche Wertvorstellungen langfristig einem Wandel unterliegen. Frey (1986, S. 552) nennt weiterhin Freundschaft, Vertrauen, Ehre, Respekt, Würde und Zeit als Bereiche, die dem Wirken des Marktes in unserer Gesellschaft entzogen sind. Aufgrund der Besonderheiten des Gutes Arbeit mag auch dies ein Bereich sein, in dem der Markt nicht als angemessener Koordinationsmechanismus angesehen wird. Dies kann dazu gefuhrt haben, daß sich im Bereich des Arbeitslebens wichtige Institutionen entwickelt haben, die neben dem Marktmechanismus existieren. Die Studie von Kahneman, Knetsch und Thaler (1986a) wurde von Charness und Levine (2002a) wiederholt und hat im großen und ganzen dieselben Ergebnisse geliefert.

Kapitel 3: Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit

77

dient. Die zwei folgenden Befragungen zeigen jedoch beispielhaft, daß das Marktergebnis von vielen Menschen als ungerecht empfunden wird. Frage 1: Ein Eisenwarenladen verkauft Schneeschaufeln zu 30 Franken pro Stück. Am Morgen nach einem heftigen Schneesturm erhöht der Laden den Preis auf 40 Franken pro Stück. Wie finden Sie diese Preiserhöhung? 83 Prozent der Befragten sehen dieses Vorgehen als unfair an (Frey und Pommerehne 1988, S. 225).220 Frage 2: Auf einem nur zu Fuß erreichbaren Aussichtspunkt wurde eine Wasserquelle erschlossen. Das in Flaschen gefüllte Wasser wird an einem Stand an durstige Wanderer verkauft. Der Preis beträgt 1 Franken pro Flasche. Die tägliche Produktion und damit der Tagesvorrat besteht aus 100 Flaschen. An einem besonders heißen Tag möchten 200 Wanderer eine Flasche erwerben. Daraufhin erhöht der Stand den Preis auf 2 Franken pro Flasche. Wie finden Sie diese Erhöhung? 78 Prozent der Befragten sehen eine Koordination über den Preismechanismus als unfair an (Frey und Pommerehne 1988, S. 224 f.). Aus diesen Ergebnissen sollten jedoch keine voreiligen Schlüsse auf eine grundsätzliche Ablehnung des Marktmechanismus' gezogen werden, denn die von den Autoren gewählten Beispiele weisen einige Tücken auf, die auch Ökonomen zu einer kritischen Einschätzung der Preisanhebungen bewegen werden. Erstens werden die Beispiele so gewählt, daß es sich nicht um eine normale Bedürfnisbefriedigung handelt - vielmehr tritt ein nicht vorhersehbarer Fall ein, der eine Mangelsituation etabliert. Die Betroffenen befinden sich also in einem weiteren Sinne in Notsituationen.22' Damit kommen Gesichtspunkte ins Spiel, die den Marktmechanismus als Zuteilungsprozedur von vornherein diskreditieren, weil dieser keine Unterschiede im Hinblick auf die tatsächliche Bedürftigkeit macht, sondern rein auf die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager abzielt. Auch Fragen der Anfangsausstattung und der damit verbundenen Zahlungsfähigkeit werden in der Fragestellung ausgeblendet, können bei den Befragungen jedoch eine Rolle spielen. Damit erscheint die Preiserhöhung eher als das Ausnutzen einer Notsituation durch die Anbieter als ein der Situation angemessener Koordinationsmechanismus. Diese Perspektive verstärkt sich weiter durch die Modellierung der Angebotsseite, da die Verkäufer eine Monopolstellung einnehmen und als Preissetzer agieren. Sie besitzen also auch im ökonomischen Sinne Marktmacht. Die Preiserhöhung ermöglicht den Unternehmen einen Gewinn auf Kosten der Konsumenten - es handelt sich also um eine

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Die Frage bei Kahneman, Knetsch und Thaler (1986a, S. 729) ist nahezu identisch gestellt - hier antworten 82 Prozent, daß die Preiserhöhung als unfair empfunden wird.

221

Für den Beitrag von Kahneman, Knetsch und Thaler (1986a) ist zu konstatieren, daß diese sich der Besonderheiten ihrer Fragestellungen sehr wohl bewußt sind. So führen sie die Ablehnung bestimmter Arten von Preissetzungsaktivitäten explizit auf das Ausnutzen von Notsituationen zurück: „[...] an action that deliberately exploits the special dependance of a particular individual is exceptionally offensive." (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 735)

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reine Umverteilung, die als besonders unfair empfunden wird (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 731 ).222 Kahneman, Knetsch und Thaler (1986a, S. 734 f.) bieten allerdings auch Beispiele, in denen lediglich das Ausüben von Marktmacht aufgrund einer Rationierungssituation als unfair angesehen wird, ohne daß von einer Notsituation gesprochen werden kann. Hier ist die Preiserhöhung aufgrund der Knappheit einer bestimmten Apfelsorte zu nennen, wobei andere Sorten durchaus reichlich vorhanden sind. Trotzdem sehen hierin noch immer 63 Prozent der Befragten ein unfaires Vorgehen. Auch dies kann als Indiz für die Ablehnung von Marktmacht oder Monopolstellungen gelten. Höhere Preise werden dann als unangemessen abgelehnt, wenn sie nicht auf höhere Produktionskosten zurückzufuhren sind und/oder die zusätzlichen Gewinne nicht auf die Leistungen der Unternehmen zurückgehen, sondern den Anbietern durch glückliche Umstände zufallen {Frey und Pommerehne 1988, S. 228 sowie bereits Okun 1981, S. 170). Für alle Beispiele gilt jedoch, daß die Situationen in dem Sinne statisch sind, daß kurzfristig keine Linderung durch die Konkurrenz anderer Anbieter zu erwarten ist. Der Wettbewerbsmechanismus, der das Funktionieren von Märkten in einer volkswirtschaftlich wünschenswerten Art und Weise gewährleistet, wird also von vornherein ausgeschlossen.223 Daher sollte aus der Ablehnung der Preisanpassung nicht vorschnell auf die Ablehnung des Marktsystems geschlossen werden.224 Hieraus könnte im Gegenteil sogar eine besondere Präferenz für den Wettbewerbsmechanismus und damit für funktionierende Märkte abgeleitet werden. Auch Frey (1986, S. 558) sieht schließlich keinen Grund, das Preissystem durch andere Zuteilungsmechanismen zu ersetzen. Er mahnt jedoch zu Recht an, daß die Ökonomik sich den Blick auf bestimmte Nebenwirkungen des Preismechanismus' nicht verstellen sollte, um empirisch nachweisbare Phänomene besser erklären zu können (Frey 1990, S. 159). Auch wenn aus den gewählten Beispielen keine grundsätzliche Ablehnung der Marktwirtschaft herausgelesen werden sollte, so zeigen die Ergebnisse jedoch einige interessante Aspekte. Es scheint Situationen zu geben, in denen Marktmechanismen negativ beurteilt werden. Dies geschieht vor allem, wenn sie gegen gesellschaftliche Normen oder Werte verstoßen, die sich in den Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen widerspiegeln.

222

Daß solche Nullsummenspiele als unfair empfunden werden, sollte nicht überraschen, da sie den Gegenpol zu der von vielen Menschen präferierten Norm der Gleichverteilung bilden. 223 Selbst in einem polypolistisch strukturierten Markt käme es bei einer Mengenrationierung zu einer reinen Preisanpassung - die Angebotskurve verliefe im relevanten Bereich vertikal. Eine solche Situation wird bei Märkten ohne wesentliche Marktzutrittsschranken wegen der anfallenden Gewinne jedoch nur kurzfristig Bestand haben können. 224 Diese Schlußfolgerung von Frey (1986, S. 539) wird von Schüller (1990, S. 59 ff.) zu Recht kritisiert.

Kapitel 3: Die besondere Bedeutung des Gutes Arbeit

79

3.2.2. Schlußfolgerungen für die Arbeitsmarktanalyse Im Hinblick auf die Analyse des Arbeitsmarktes können die Befragungen in einer weiteren Hinsicht fruchtbar gemacht werden. Es wurde bereits ausgeführt, daß die Art und Weise wie Menschen sich selbst und die ökonomische und gesellschaftliche Welt begreifen, ihr Verhalten und damit auch die Marktergebnisse beeinflußt. Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Arbeit für den Menschen unterliegen die Prozesse am Arbeitsmarkt einer besonderen Beobachtung der Menschen, die das Verhältnis zwischen Unternehmen und Beschäftigten noch immer als sehr stark von der Macht der Unternehmen geprägt begreifen. 2 " Wird nun ein zunehmendes Arbeitsmarktungleichgewicht in Form von steigender Arbeitslosigkeit zu Lohnsenkungen genutzt und der Arbeitsmarkt auf diese Weise wieder ins Gleichgewicht gebracht, so ist hier in den Augen vieler Menschen kein (anonymer) Koordinationsmechanismus am Werk, sondern es handelt sich um ein unredliches Verhalten der Unternehmen. Mit der Drohung der Arbeitslosigkeit im Rücken nutzen diese eine Notsituation der Beschäftigten aus und zwingen sie quasi zum Lohnverzicht. Die Verteilung der Jobrente verschiebt sich zugunsten der Unternehmen, ohne daß diese selbst etwas dafür geleistet haben. Das Vorgehen widerspricht damit der Verhaltensmaßgabe, daß eine Person sich nicht bereichern sollte, indem sie einer anderen einen Verlust in derselben Höhe zufügt (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 731). Aus diesen Überlegungen läßt sich schließen, daß die angeführten Studien zwar keine allgemeingültigen Aussagen im Hinblick auf die Akzeptanz des Marktsystems erlauben, sie geben jedoch wichtige Hinweise im Hinblick auf die Wirksamkeit des Lohnes als Koordinationsmechanismus auf dem Arbeitsmarkt. Auf dem Arbeitsmarkt kommen genau die Mechanismen verstärkt zum Tragen, die von den Autoren in ihren überspitzten Gütermarktbeispielen zugrunde gelegt wurden. Aufgrund der zentralen Stellung der Erwerbstätigkeit im Leben der Menschen werden Veränderungen der Arbeitsbedingungen immer als existentiell angesehen - vor allem von den Unternehmen beschlossene Veränderungen zu Lasten der Beschäftigten werden mit besonderem Argwohn betrachtet. Der Lohnsatz wird daher sowohl im Hinblick auf sein Entstehen als auch auf seine absolute und relative Höhe stets aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten beurteilt. Dies ist vor allem dann von den Unternehmen bei ihrer Lohnpolitik zu berücksichtigen, wenn die Belegschaft die Möglichkeit hat, als ungerecht empfundene Löhne zu sanktionieren. Solche Sanktionen können einerseits im Rahmen kollektiver Maßnahmen erfolgen (Tarifverhandlungen, Demonstrationen, Streiks), bei unvollständigen Arbeitsverträgen können sie jedoch auch innerhalb der Arbeitsbeziehung von einzelnen Arbeitnehmern vorgenommen werden. Der Lohnsatz wird seine Koordinationsfunktion auf dem Arbeitsmarkt dementsprechend nur eingeschränkt wahrnehmen können, was nach unten rigide Löhne erklären kann.

225

Vgl. o.V.: Mehrheit der Bundesbürger sieht Unternehmer als Ausbeuter, in: Handelsblatt vom 20.09.2000, S. 19.

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4.

Der Markt für Arbeit „If one were ranking various economic markets along a continuum by the extent to which they reflected the postulates of the price auction [competitive] model, financial markets would probably be placed at one end and labor markets at the other." Thurow (1983, S. 251)

Max Weber (1964, S. 490) kennzeichnet das Idealbild des Marktes als die unpersönlichste Beziehung, die Menschen miteinander verbinden kann: „Der Markt kennt kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen." Diese Charakterisierung trifft auf moderne Arbeitsmärkte mit Sicherheit nicht zu. Vielmehr handelt es sich bei den Arbeitsbeziehungen um dauerhafte und nicht-anonyme Interaktionen zwischen zwei Vertragspartnern (Akerlof und Yellen 1988, S. 45). Bereits im vorangegangen Abschnitt sollte deutlich geworden sein, daß Ansätze zu kurz greifen, die den Arbeitsmarkt als einen Wettbewerbsmarkt im Sinne der vollkommenen Konkurrenz betrachten. Um zu einer Charakterisierung moderner Arbeitsmärkte zu gelangen, soll zunächst auf eine von Kerr (1950/1977) entwickelte Markttypisierung zurückgegriffen werden. Anschließend folgt eine skizzenhafte Betrachtung der Entwicklung des Arbeitsmarktes seit der Industrialisierung, an der das ÀTerrsche Schema noch einmal deutlich wird. Mit dem beschriebenen Wandel ist eine zunehmende Verdrängung des Marktmechanismus durch Macht- und Verhandlungselemente verbunden. Es wird deutlich, daß auf heutigen Arbeitsmärkten zusätzlich zur unsichtbaren Hand des Marktes eine ganze Reihe von sichtbaren Händen darum bemüht ist, die Partikularinteressen einzelner Akteure durchzusetzen (Kerr 1950/1977, S. 17). Zum Abschluß dieses Kapitels wird der Matching-Prozeß auf dem Arbeitsmarkt analysiert. Es geht also darum, die Arbeitsmarktprozesse zu betrachten, die vor Abschluß eines Arbeitsvertrages ablaufen. Dies bereitet die ausfuhrliche Diskussion der Arbeitsbeziehungen in Kapitel 5. vor, in der das Verhältnis zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer nach Vertragsabschluß analysiert wird.

4.1.

Einordnung des Arbeitsmarktes in die Markttypen nach Kerr

Clark Kerr beeinflußte den amerikanischen Zweig der Arbeitsmarkttheorie mit seiner institutionenorientierten Herangehensweise in den Nachkriegsjahren ebenso wie Dunlop, Lester, Ross und Reynolds {Kaufman 1999, S. 362). Seine Markteinteilung soll nun genutzt werden, um bestimmte Eigenschaften von Arbeitsmärkten herauszustellen.226

226

Die in der Tabelle aufgeführten perfekten und neoklassischen Märkte werden nicht noch einmal diskutiert, da zu ihnen bereits in Kapitel 1. Stellung genommen wurde. Die Form

Kapitel 4: Der Markt für Arbeit

81

Tabelle 6: Marktdefinitionen nach Kerr Allgemeine Eigenschaften

Arbeitsmarkt

Perfekter Markt

Vollkommener Markt.

Homogenität der Arbeit, Vollbeschäftigung (Markträumung) zum einheitlichen Gleichgewichtslohn.

Neoklassischer Markt

Unvollkommenheiten (Friktionen) sind möglich.

Lohnunterschiede, kein allgemeiner Gleichgewichtslohn. Dieser wäre jedoch möglich, wenn man die Unvollkommenheiten heilen würde.

Natürlicher Markt

Unvollkommenheiten treten vermehrt Obwohl keine Interessenverbände auf; keine effiziente Allokation. auftreten und Unternehmen und Arbeitnehmer souverän sind, existieren keine Einheitslöhne. Lohndifferenzen sind die Regel und nicht die Ausnahme.

Institutionalisierter Markt

Formale Regeln, die durch InteresInteressenverbände und der Staat sengruppen gestützt werden, ersetzen sorgen für formale Regeln, Abdie dezentralen Regeln des Marktes. schwächung des Marktmechanismus', Entkopplung des Zusammenhangs von Lohn und Arbeitsmenge durch die Lohnbildung auf kollektiver Ebene.

Organisierter Markt Staatliche Kontrolle ersetzt die bishe- Löhne werden durch staatliche rigen Regelmechanismen, wenn letz- Gewalt auf dem Wettbewerbsni(managed market) tere Ergebnisse produzieren, die zu weit von einem gesellschaftlich akzeptablen Resultat entfernt liegen.

veau fixiert.

Quelle: Eigene Darstellung nach Kerr (1950/1977, S. 38 ff.). Während Gütermärkte perfekten oder neoklassischen Märkten durchaus nahe kommen können, ist der Arbeitsmarkt, auf dem zunächst keine organisierten Interessen agieren, als natürlicher Markt zu bezeichnen. Dieser ist durch so starke Unvollkommenheiten gekennzeichnet, daß es den Akteuren schwer fallt, einen Marktüberblick zu gewinnen, wie Kerr (1950/1977, S. 41) ausfuhrt: „The worker operates within the market as he sees it, and his view is limited by lack of knowledge and a restricted conception of himself." Die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Ungewißheit ist nicht zuletzt Ausfluß der Heterogenität des Marktes sowie der großen Dynamik, welcher der Faktor Arbeit im Produktionsprozeß ausgesetzt ist. Damit erscheint es im Hinblick auf die Ungewißheit reduzierende Wirkung von Institutionen plausibel, daß diese gerade auf dem Arbeitsmarkt von besonderer Bedeutung sind.227 Zudem bringen es die Marktunvollkommenheiten mit sich, daß von der Annahme des Preisnehmerverhaltens, wie sie bei vollstän-

227

der organisierten Märkte wird aufgrund ihrer planwirtschaftlichen Zöge ausgespart. Zur Darstellung der Markttypen von Kerr siehe auch Kaufman (1994, S. 163 ff.). Dies gilt verstärkt wegen der besonderen Rolle, die die Arbeit im Leben der Menschen einnimmt.

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82

diger Konkurrenz gilt, Abstand genommen werden muß.228 Die Akteure erhalten so einen gewissen Gestaltungsspielraum bei der Festsetzung der Löhne. Verhandlungslösungen treten in den Vordergrund, der Marktmechanismus wird zurückgedrängt, ohne jedoch seine Wirksamkeit vollständig einzubüßen {Lindbeck und Snower 1985/1988, S. 31). Obwohl sich eine Mehrheit der Arbeitnehmer den Marktmechanismen grundsätzlich bewußt ist, kann nicht davon gesprochen werden, daß sie aktiv auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Sie sind vielmehr mit dem bestehenden Arbeitsverhältnis zufrieden oder fürchten die Ungewißheit, die mit einem Arbeitsplatzwechsel verbunden ist. Damit scheinen schon auf natürlichen Märkten deutliche Hinweise auf beschränkte Rationalität und satisfizierendes Verhalten auf (Kerr 1950/1977, S. 41). Es ist daher sinnvoll, einen Analyserahmen zu wählen, der sowohl die Aspekte der Informationsunvollkommenheiten als auch die Tendenz zu Verhandlungslösungen berücksichtigt. Mit dem Wandel der Wirtschaft und der Durchdringung des Arbeitsmarktes durch Institutionen und Organisationen vollzieht sich die Entwicklung zum institutionalisierten Markt - dem Typus, dem die meisten Arbeitsmärkte in modernen Volkswirtschaften zuzuordnen sind. Auf dem externen Arbeitsmarkt wird nun die Interessenpolitik von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Regierungen zum bestimmenden Faktor. Zentral installierte, formale Regeln, die eher politischen als ökonomischen Rationalitäten folgen, verdrängen die dezentralen Kräfte des Marktes, so daß die Lohnsetzung in gewisser Weise vom Markt für Arbeit abgekoppelt wird. Nun ist es eher die Arbeitsmenge, die sich an vorgegebene Löhne anpaßt und nicht der flexible Lohnsatz, der angebotene und nachgefragte Menge ins Gleichgewicht bringt (Kerr 1950/1977, S. 43). Erst durch die Institutionalisierung des Arbeitsmarktes ergibt sich die Trennung in einen externen und einen internen Arbeitsmarkt. Das Zusammenspiel von internen und externem Arbeitsmarkt bedingt dann sowohl den Unternehmenserfolg als auch das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsergebnis.

4.2.

Markt und Macht auf dem Arbeitsmarkt

Die institutionelle Ausgestaltung des Arbeitsmarktes ist historisch gewachsen und spiegelt in mancherlei Weise die Weiterentwicklung der arbeitsteiligen Produktionsprozesse in den Jahren seit Beginn der Industrialisierung wider.229 Laut Witt (2004, Ziffer 33) ändert sich in historischer Perspektive „[...] systematisch die Art und Weise, wie der Mensch in die Produktion involviert ist weg von der Erbringung physischer Arbeitsleistungen, hin zu mentalen Leistungen in Erzeugung, Anwendung und Übertragung bzw. dem Erwerb von Wissen." Im Hinblick auf die Arbeitsmarktstruktur läßt sich konstatieren, daß das zunächst noch als marktlich zu charakterisierende Aufeinandertreffen von Anbietern und Nachfragern durch die Bildung von Organisationen und Institutionen verändert wurde, so daß 228

229

So müssen die Unternehmen bei Abweichung vom Marktlohn nicht befürchten, ihre gesamte Belegschaft zu verlieren, und den Arbeitnehmern droht nicht die Arbeitslosigkeit, wenn sie mehr als den ,Gleichgewichtslohn' verdienen. Hertner (2002) analysiert die Entstehung und den Wandel von deutschen Arbeitsmarktinstitutionen von Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.

Kapitel 4: Der Markt für Arbeit

83

heute die Macht als ordnender Faktor die Oberhand gewonnen hat (Hesse 1996, S. 17 ff.). Tatsächlich sind Arbeitsmärkte in modernen Volkswirtschaften von einem Geflecht aus Institutionen und Interessenverbänden durchzogen, wobei letztere gemeinsam mit den jeweiligen Regierungen starken Einfluß auf die Arbeitsmarktverfassung nehmen. Dabei ist die Einkommenssicherungsfunktion der unselbständigen Arbeit als Schlüssel für diese Institutionalisierung anzusehen (Kocka 2003, S. 85 ff.). Der Prozeß der Institutionalisierung soll nun in einer seiner Facetten skizziert werden, um die heute vorzufindenden Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt besser verstehen zu können.230 Diese Vorgehensweise erlaubt zudem eine Unterscheidung in Gründe, die zu einem früheren Zeitpunkt für die Bildung einer Organisation oder die Einführung einer Institution gesprochen haben mögen, und die Wirkungen, die von diesen Regelungsmechanismen und Interessengruppen in einer veränderten Situation ausgehen mögen. 4.2.1. Arbeit zur Zeit der Industrialisierung Mit der Industrialisierung und der zunehmenden Arbeitsteilung war zunächst eine Anonymisierung des Arbeitsmarktes verbunden.231 Die Arbeitsbeziehungen in den nun entstehenden industriellen Großbetrieben unterschieden sich deutlich von den eher persönlichen Beziehungen in der durch Agrarwirtschaft geprägten Wirtschaftsstruktur. Bis zur Industrialisierung war Arbeit - vom Auftreten von Tagelöhnern einmal abgesehen zu einem überwiegenden Teil durch dauerhafte Bindungen charakterisiert. Die persönlichen Erfahrungen mit den Arbeitskräften erlaubten es, die Beziehungen größtenteils über informelle Institutionen zu regeln. Um das Zustandekommen von Arbeitsverträgen in den nunmehr anonymisierten Arbeitsbeziehungen zu ermöglichen, wurden extern gesicherte Regeln zur Reduzierung der Unsicherheit und zur Erwartungsstabilisierung nötig.232 Diese transaktionskostensenkende Funktion übernahmen formale Institutionen und betriebliche Anreizmechanismen (Entlohnungssysteme). Der Übergang in die industrielle Produktion ging zunächst eher mit einer Entqualifizierung der Arbeitnehmerschaft einher, da die durchaus vielseitig ausgebildeten Arbeiter der Zunftgesellschaft nun in homogenen Arbeitsgängen eingesetzt wurden (Schlicht 2002, S. 11 f). Im Prinzip kann erst durch die fabrikmäßige Massenproduktion davon gesprochen werden, daß Arbeit zum Gegenstand eines wirtschaftlichen Tauschprozesses wurde {Kocka 2003, S. 86).

230

231 232

Eine ausführliche Untersuchung der ersten vier Jahrzehnte der Marktwirtschaft in Deutschland bieten Giersch, Paqué und Schmieding (1992). Sie teilen diesen Zeitraum in drei Phasen: Die Überwindung der Kapitalmangelarbeitslosigkeit (1948 bis 1960), die Zeit der Überbeschäftigung (1960 bis 1973) sowie die Zeit anhaltender Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche (1973 bis 1989). Das Aufbrechen traditioneller Strukturen kann als grundlegende Deregulierung des damaligen Arbeitsmarktes interpretiert werden (Buttler 1987, S. 218). Bei North (1991, S. 98 ff.) wird die Notwendigkeit zur Entwicklung formaler Institutionen anhand der Ausweitung der Handelsbeziehungen gezeigt.

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Aufgrund des strukturellen Wandels hin zur Industrieproduktion waren viele Menschen gezwungen, sich auf der Suche nach Arbeit in die Nähe der industriellen Produktionsanlagen und damit in die Städte zu begeben. Durch diese Landflucht ergab sich an den Fabrikstandorten eine Situation, in der das Arbeitsangebot die Arbeitsnachfrage übertraf. Da es sich außerdem um sehr homogene Tätigkeiten handelte, die keine speziellen Qualifikationen voraussetzten, bestanden kaum Kosten beim Austausch der Arbeitskräfte. Daher kann zu jener Zeit tatsächlich von einer einseitigen Abhängigkeit der Arbeiter von der Erwerbsarbeit in den Fabriken gesprochen werden. Dies findet sich in den ökonomischen Arbeitsmarktbetrachtungen bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder, in denen im allgemeinen von der These ausgegangen wird, daß die Arbeitsanbieter einen Wettbewerbsnachteil zu erleiden haben, der seinen Ausdruck in Lohneinkommen findet, die kaum ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.233 Schon Adam Smith (1776/1964, S. 58 f.) bemerkt: „What are the common wages of labour, depends everywhere upon the contract usually made between those parties, whose interests are by no means the same. The workmen desire to get as much, the masters to give as little as possible. [...] It is not, however, difficult to foresee which of the two parties must, upon all ordinary occasions, have the advantage in the dispute [...] masters must generally have the advantage." Die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit wird also als konfliktreich charakterisiert, wobei die Unternehmen am längeren Hebel sitzen. In diesem Machtungleichgewicht zugunsten der Kapitaleigner wurde die Gefahr der Lohndrückerei und der Ausbeutung der Arbeiterschaft gesehen. Das Ehepaar Webb, das mit seinem Werk Industrial Democracy (1897) als Vorreiter der Theorie industrieller Beziehungen gilt, beschreibt die Ausgeliefertheit der Arbeiterklasse auf eindringliche Art und Weise (Webb und Webb 1897, S. 658): „When the unemployed are crowding around the factory gates each morning, it is plain to each man that, unless he can induce the foreman to select him rather than another, his chance for subsistence for weeks to come may be irretrievably lost. Under these circumstances bargaining, becomes absolutely impossible. The foreman has only to pick his man, and tell him the terms. Once inside the gates, the lucky workman knows that if he grumbles at any of the surroundings, however intolerable; if he demurs to any speedingup, lengthening of the hours, or deductions; or if he hesitates to obey the order, however unreasonable, he condemns himself more to the semi-starvation and misery of unemployment. For the alternative for the foreman is merely to pick another man from the eager crowd, whilst the difference to the employer becomes incalculably infinitesimal." Hier wird deutlich, daß der industrielle Arbeitsmarkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich noch den Charakter eines relativ homogenen Marktes hatte. Die Arbeiter waren im Produktionsprozeß leicht austauschbar, konnten daher kurzfristig selektiert werden, die Arbeitsbedingungen wurden aufgrund des Überangebots an Arbeitskräften weitgehend von den Unternehmen diktiert. Da der Arbeitslohn die einzige Einkommensquelle der Menschen darstellte, kam es in vielen Fällen zu einer zunehmenden Lohnkonkurrenz bei gleichzeitiger Ausdehnung der Arbeitszeit. Die Notwendigkeit, bei sinkendem Lohnsatz immer länger arbeiten zu müssen, führte in eine Verelendungs-

233

Vgl. Kaufinan (1994) mit einem dogmenhistorischen Beitrag zur Frage der wettbewerblichen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes.

Kapitel 4: Der Markt für Arbeit

85

oder Schmutzkonkurrenz.234 Formal läßt sich dies durch eine im unteren Lohnbereich anomal verlaufende Arbeitsangebotsfunktion verdeutlichen (Fehl und Oberender 2004, S. 374 ff.). Trotz sinkender Löhne steigt die Arbeitsmenge wieder an, weil die Arbeiter gezwungen sind, mehr Arbeit anzubieten, um das zum Überleben notwendige Einkommen zu erzielen. Ergeben sich auf diese Weise zwei Schnittpunkte von Arbeitsangebotsund -nachfragefunktion, so kann dies von den Unternehmen über das zusätzliche Drükken des Lohnes ausgenutzt werden. Stützel (1981, S. 78) beschreibt diesen Mechanismus folgendermaßen: „Wegen der ,anomalen Reaktion' - auf die Lohn- oder Faktorpreis-Senkung hin wird die angebotene Menge (an Arbeitszeit) nicht verringert, sondern vermehrt verliert das freie Spiel des Marktpreises seine sonst so segensreiche Funktion, einen menschenwürdigen Ausgleich herbeizufuhren."

Die ruinöse Lohnkonkurrenz kann daher als Rationalitätenfalle angesehen werden, aus der es für den einzelnen Arbeiter kein Entrinnen gibt {Herder-Dorneich 1982, S. 87 ff.). Aus der Erfahrung dieser Notsituation mag die geringe Akzeptanz des Preises als Koordinationsmechanismus auf dem Arbeitsmarkt sowie eine Norm gegen Lohnkonkurrenz hervorgegangen sein. Eine solche Norm kann sich beispielsweise innerhalb eines gewerkschaftlichen Zusammenschlusses in Form von organisationsspezifischen Regeln entwickeln, um dann über die gesellschaftliche Diffusion zu einer sozialen Norm zu werden. Die angeführten Gründe für das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt und die hieraus entstehenden Gefahren im Hinblick auf die Arbeits- und Lebensbedingungen des überwiegenden Teils der Bevölkerung mit ihrem ökonomischen und gesellschaftlichen Gefahrenpotential werden vielfach als Ursache für das Entstehen von Gewerkschaften und als Rechtfertigung für staatliche Eingriffe auf dem Arbeitsmarkt angesehen {Commons und Andrews 1936, S. 373; Pierenkemper 1982, S. 10). Institutionen, die einer Verelendungskonkurrenz entgegenwirken sollen, müssen sowohl die Arbeitgeber in ihrem Verhalten beschränken als auch die Arbeiter vor sich selbst schützen. Hier sind bspw. staatlich garantierte Mindestlöhne zu nennen - als komplementäre Institutionen wurden staatliche Sicherungsmechanismen gegen die großen Lebensrisiken geschaffen.235 Die Arbeitsmarktpolitik in einem weiteren Sinne ist damit als Folge der historischen und politischen Entwicklungen in den jeweiligen Ländern zu sehen (Rothschild 1975, S. 11). 4.2.2. Strukturwandel und Prosperität In der direkten Nachkriegszeit war zunächst eine Periode der Kapitalmangelarbeitslosigkeit zu überstehen. Ein Insider-Outsider-Problem existierte zu dieser Zeit jedoch 234

Hiermit ist jedoch nicht gesagt, daß sich die soziale Situation der Arbeiter durch die Industrialisierung grundsätzlich verschlechtert hätte - vgl. hierzu auch von Hayek (1955).

235

In Deutschland bestand neben dem ökonomischen und gesellschaftlichen auch ein politisches Interesse, aus dem sich die Schaffung der Bismarckschen Sozialversicherungen ergab. Sie waren zur Befriedung der Arbeiterschaft und zur Eindämmung der aufstrebenden Sozialdemokratie bestimmt und wurden durch die Sozialistengesetze' flankiert (Schulz 1996, S. 9 f.).

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nicht, da die Arbeitsmarktstrukturen noch im Aufbau waren (Fehl 1999, S. 153). Die Zerstörung der Interessenstrukturen durch den Zweiten Weltkrieg kann daher als eine Voraussetzung für die wirtschaftliche Erstarkung angesehen werden (Olson 1991, S. 100 f.; Leipold 1997, S. 232). Als sich die Strukturen langsam verfestigten, herrschte bereits annähernd Vollbeschäftigung. Arbeitslosigkeit fand dementsprechend nicht statt, so daß weder die Gruppe der Arbeitslosen noch der Staat oder die ausführende Bürokratie nennenswert in Erscheinung traten. Die wieder erstarkten Arbeitsmarktorganisationen hatten die Aufgabe, auf kollektiver Ebene zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen zu vermitteln. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche Institutionen geschaffen, in deren Mittelpunkt vornehmlich Verteilungsfragen standen. Die Löhne stiegen kräftig an und gleichzeitig wurde eine Nivellierung der Lohnstrukturen in den Wirtschaftssektoren in die Wege geleitet. Im Austausch gegen kooperatives Verhalten der Gewerkschaften sprach man den Beschäftigten mehr und mehr Rechte zu.236 Der kooperative Charakter der Arbeitsbeziehungen und die geringen Ausfallzeiten durch Streiks werden als ein weiterer Schlüssel für die positive wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands angesehen. Für die US-amerikanische Entwicklung bis Anfang der siebziger Jahre zeichnet Kinnear (1999, S. 170) ein ähnliches Bild: „This relatively peaceful era in labor-management relations was facilitated by several factors including strong economic growth [...]. This profitability allowed both labor and capital to enjoy higher and higher returns, with relatively little argument over their respective shares." Das kooperative Klima auf kollektiver Ebene spiegelte sich auch in den Arbeitsbeziehungen wider. So ist der Aufbau von Lebensarbeitsverhältnissen in Vollbeschäftigungssituationen im beiderseitigen Interesse. Diese bedienen einerseits die Präferenz der Arbeitnehmer für Erwartungssicherheit in Bezug auf die Einkommensbasis und halten andererseits die Fluktuationskosten, die dem Unternehmen bei einem Austausch der Beschäftigten entstehen und in Zeiten eines Arbeitskräftemangels besonders hoch sind, niedrig. Damit ein Interessenausgleich auf einem solch hohen Niveau möglich ist, ohne daß die Verteilungsmaschinerie zu großen Schäden führt, müssen jedoch einige Bedingungen erfüllt sein. Förderlich sind eine große wirtschaftliche Dynamik mit hohen Wachstumsraten, die zu einer positiven Nachfrageentwicklung im Inland fuhrt, Anreize für Unternehmertum und für Innovationen, die den Standort und die Produkte für das Ausland attraktiv machen, eine geringe Anzahl relativ schlecht ausgebildeter Erwerbspersonen, eine große regionale und sektorspezifische Mobilität, eine hohe Arbeitsmotivation sowie relativ geringe Ansprüche der Bevölkerung an den Staat (Dichmann 1988, S. 59).

236

Bei den Arbeitnehmern konnte sich in dieser Phase eine Gewöhnung an die Aufwärtsentwicklung bei den Löhnen entwickeln. Es ergeben sich dann pfadabhängige Lohnsteigerungen mit den entsprechend negativen Effekten auf den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung (Okun 1981, S. 93 ff.).

Kapitel 4: Der Markt für Arbeit

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4.2.3. Strukturwandel und Arbeitslosigkeit im Übergang zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft Die soeben herausgestellten Voraussetzungen werden jedoch nicht dauerhaft vorliegen, so daß sich die Frage nach den Auswirkungen dieser neu geschaffenen Institutionen auf die Arbeitsmarktlage in einem veränderten Umfeld stellt. Die weltwirtschaftliche Lage verschlechterte sich spätestens mit den Ölkrisen der siebziger Jahre und den daraus resultierenden negativen Angebotsschocks. 237 Als Folge kam es sowohl in Europa als auch in den USA zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen. In Deutschland hatte der Staat mit dem Stabilitätsgesetz von 1967 ohne Not die Verantwortung für die Beschäftigungsentwicklung übernommen. Dies nahm den Druck von den TarifVertragsparteien, da der Eindruck erweckt wurde, daß Arbeitslosigkeit ein Problem darstellt, das sich primär auf politischem Wege lösen läßt und nicht durch die von den TarifVertragsparteien zu verantwortenden Rahmenbedingungen ausgelöst wird.238 Der Glaube an die wirtschaftspolitische Machbarkeit war in den siebziger Jahren fest in der Politik verankert - der Versuch einer wirtschaftspolitischen Feinsteuerung anhand einer antizyklischen Wirtschaftspolitik blieb jedoch weitgehend erfolglos (Regini 2000, S. 13; Rothschild 1986, S. 119). Auch korporatistische Lösungsversuche wie ,runde Tische' oder konzertierte Aktionen, die zuletzt unter dem Namen Bündnis für Arbeit wieder auflebten, führten zu keiner Besserung, sondern boten den TarifVertragsparteien vielmehr die Möglichkeit, den Fortbestand des institutionellen Rahmens zu sichern.239 Die Arbeitslosigkeit senkte sich jedoch mit dem Abklingen der Schocks nicht auf das Ausgangsniveau, sondern verharrte auf einem hohen Wert. Hierfür können die zahlreichen institutionellen Veränderungen verantwortlich gemacht werden, die unter der Federführung von Gewerkschaften, des Staates sowie der Arbeits- und Sozialgerichte geduldet durch nachgiebige Unternehmens- und Verbandsfunktionäre - durchgesetzt wurden. Auf diese Weise wurden immer mehr Risiken von den Arbeitnehmern auf die Unternehmen übertragen. Hier sind vor allem der Ausbau des Kündigungsschutzes und die Zunahme der Mitbestimmungsrechte zu nennen.240 Diese Institutionen dienen vor allem der Sicherung der Arbeitnehmerrenten auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten (Saint-Paul 1998, S. 274). Den deutschen Tarifvertragsparteien ist es in dieser Zeit gelungen, in nahezu allen Bereichen Präsenz zu erlangen, in denen Entscheidungen rund um den Arbeitsmarkt getroffen werden: in der Politik, in der Bundesagentur für Arbeit,

237 238

239 240

Zur Entwicklung mit Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt siehe Schob und Weimann (2003, S. 12 ff.) sowie Rothschild (1983, S. 26 f.). Zu weiteren Auslösern der tiefgreifenden Rezessionen siehe Blanchard und Wolfers (2000, S. C5 ff.). Hier wird oftmals auf den Erfolg des institutionellen Systems in der Wirtschaftswunderzeit verwiesen, mit dem ,Argument', daß das, was früher gut gewesen ist, doch heute nicht plötzlich schlecht sein kann. Vgl. die kritischen Betrachtungen von Fehl (1999). Blanchard und Wolfers (2000, S. C16) sowie vor allem Siebert (1997, S. 39 ff.) beobachten eine ähnliche Entwicklung in einer Vielzahl europäischer Staaten gegen Ende der sechziger und in den siebziger Jahren.

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in den Sozialversicherungsanstalten, in den Bildungsträgern und sogar in den Arbeitsgerichten.241 4.2.4. Beurteilung des Wandels der Arbeitswelt In der Phase der Prosperität wurde die Arbeitsmarktstruktur manifestiert, die ihn heute als eine , Insel der Inflexibilität' in einem sich dynamisch entwickelnden Umfeld erscheinen läßt. Der verstärkte Wandel in den angrenzenden Teilsystemen (vor allem der Finanz- und Gütermärkte) führte dazu, daß der Arbeitsmarkt mit seinen starren Institutionen zum Engpaßfaktor wurde. Daß sich Probleme in einem dynamischen System zuerst in seinem starrsten Element bemerkbar machen, ist an der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen abzulesen.242 Zur Integration der Arbeitslosen stehen jedoch Institutionen und Organisationen zur Verfugung, die sich vor allem über Verteilungsfragen zwischen Arbeit und Kapital definieren. Sie sind entstanden, als es in der Zeit der Industrialisierung um die Verhinderung von Armut durch Schmutzkonkurrenz ging, oder um in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums die Verteilung der Zugewinne zwischen Arbeit und Kapital zu regeln. Die Berücksichtigung einer weiteren Interessengruppe - die der Arbeitslosen - ist institutionell schlicht nicht vorgesehen.243 Anstatt den institutionellen Rahmen an die neuen Anforderungen anzupassen, wird auf staatliche Transferleistungen zurückgegriffen, um den sozialen Sprengstoff der Arbeitslosigkeit zu dämpfen. Doch auch die sozialen Sicherungssysteme sind in Deutschland dem Phänomen dauerhafter Arbeitslosigkeit nicht gewachsen. Dies wird bereits daran deutlich, daß ihre Finanzierung an den Faktor Arbeit gekoppelt ist, wodurch sich die Probleme auf dem Arbeitsmarkt tendenziell weiter verstärken. So ergibt sich die ökonomisch widersinnige Situation, daß über steigende Sozialabgaben eine Verteuerung des Gutes eintritt, obgleich seine Knappheit abgenommen hat. Damit haben sich die Konfliktlinien auf dem Arbeitsmarkt zweifelsohne verschoben.244 Die Veränderung der Produktionsprozesse und der Arbeitsbeziehungen lassen eine Abkehr von der marxistischen Verelendungstheorie logisch erscheinen, da in dieser lediglich die konfliktbezogenen Aspekte der Unterordnung der Beschäftigten in den Arbeitsbeziehungen berücksichtigt werden (Bell und Henry 2001, S. 336). Die Gefahr existenzbedrohender Ausbeutung der Arbeitnehmer durch die Unternehmen ist in modernen Volkswirtschaften als gering einzustufen, was gerade auch auf die erfolgreiche Interessenarbeit der Gewerkschaften zurückzuführen ist. Der einst scharfe Konflikt zwischen Arbeit und Kapital besitzt zwar in seinen Grundzügen noch immer Gültigkeit, hat sich jedoch deutlich abgeschwächt. Im Hinblick auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes und seine Institutionalisierung ist heute eher von einem Konflikt zwischen beschäf-

241 242 243 244

Die Institutionalisierung des Arbeitsmarktes wurde von einer bis heute sehr arbeitnehmerfreundlichen Rechtsprechung begleitet (Rüthers 1996; Diekmann 1988, S. 30). Rückkopplungseffekte zwischen den Teilsystemen führen zudem dazu, daß die Arbeitsmarktprobleme auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bremsen. Da die Institutionen lediglich auf gute Zeiten ausgerichtet sind, kann man von ,Schönwetterinstitutionen' sprechen. Vgl. hierzu auch Berti et al. (1989, S. 11).

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tigter und unbeschäftigter Arbeit zu sprechen, wie er auch der Insider-Outsider-Theorie zugrunde liegt. Die sehr stark gruppen- bzw. klassenbezogene Argumentationsweise marxistischer Ansätze verkennt die Notwendigkeit des Brückenschlages zwischen individueller und gesellschaftlicher Ebene (Piore 1983, S. 253). Dies gilt im anderen Extrem für die neoklassische Theorie, die als rein individualistisch zu bezeichnen ist. Die gerade in Arbeitsmarktbetrachtungen notwendige Einbettung der individuellen Anreizstrukturen in einen gesellschaftlichen Rahmen wird in dieser Arbeit anhand der Einbeziehung der formalen und der informellen Institutionen vollzogen.

4.3.

Eigenschaften des Gutes Arbeit und das Koordinationsproblem

Wird der Arbeitsmarkt als Ort des Zusammentreffens von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage verstanden, so sollen dort Parteien mit denselben Vorstellungen über Qualität und Menge der zu tauschenden Leistung zueinander finden. Ein Problem ergibt sich hierbei erst aufgrund der Heterogenität von Arbeitskräften und Unternehmen. Andernfalls wäre das Zusammenkommen beider Seiten beliebig und würde sich in Abwesenheit von weiteren Friktionen allein über den Lohnsatz regeln. Der Arbeitsmarkt zeichnet sich jedoch durch einen hohen Grad an unvollständiger Information und insbesondere durch starke Informationsasymmetrien aus. Vor allem die Vielzahl der sozialen, psychologischen und kognitiven Aspekte des Humankapitals lassen sich nur schwer vor Antritt des Arbeitsverhältnisses beurteilen (Sesselmeier 1999, S. 124 ff.). Bei der Wahl der richtigen Arbeitskräfte für eine bestimmte Stellenbeschreibung geht es also zunächst um das Problem des Könnens, d.h. darum, ob die betreffende Person von ihrer Qualifikation her grundsätzlich geeignet ist, die an sie gestellten Aufgaben zu bewältigen. Arbeit ist in dieser Hinsicht als Suchgut anzusehen, wobei die Dauer des Suchprozesses die Transaktionskosten auf dem Arbeitsmarkt wesentlich beeinflußt {Krüsselberg 1985, S. 24 ff.).245 Die neoklassischen Ansätze gehen zunächst davon aus, daß Informationen grundsätzlich vorhanden und objektiv bewertbar sind, so daß das Problem lediglich im Zusammenfinden der Tauschpartner zu sehen ist. In der Realität wird das Wissen über bestimmte Qualitätsmerkmale jedoch asymmetrisch verteilt sein. Dabei können zwei Fälle unterschieden werden. Einmal können beide Seiten Anreize haben, dem Gegenüber glaubwürdige Zeichen im Hinblick auf die eigene Verläßlichkeit zu geben (Okun 1981, S. 85). Bei dieser Form des Signalisierens ergibt sich natürlich das Problem, die fragliche Information glaubwürdig zu machen. Dafür greift man häufig auf die Reputation Dritter zurück, indem man Zertifikate, Ratings oder Bildungsabschlüsse vorweist.244 Andererseits besteht die Möglichkeit, die Gegenseite über bestimmte Sachverhalte oder Eigenschaften im Unklaren zu lassen, um zu einem vorteilhaften Vertragsabschluß zu gelangen. Die Gegenseite muß dann versuchen, die Offenbarung der Informationen herbeizuführen. Die Unternehmen haben daher zahlreiche Verfahren entwickelt, um dieje-

245 246

Auf die Kosten, die dem Nachfrager bei der Suche zufallen, hat zuerst Stigler (1961) verwiesen. Die Erweiterung der Analyse und die Unterscheidung in Such- und Erfahrungsgüter wurde von Nelson (1970) vorgenommen. Dieser Zusammenhang wurde zuerst von Spence (1973) analysiert.

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nigen Bewerber herauszufiltern, die tatsächlich auf die ausgeschriebene Stelle und zum Unternehmen passen (Screening).247 Die gezielte und erfolgreiche Auswahl geeigneter Arbeitskräfte ist vor allem dann wichtig, wenn die Kosten einer Fehlentscheidung hoch sind - dies ist bspw. bei strikten Kündigungsschutzregelungen der Fall. Stellt sich eine Personalentscheidung im Nachhinein als falsch heraus, kann sie allenfalls unter hohen Kosten rückgängig gemacht werden. Hierin kommt der Erfahrungsgutcharakter der Arbeit zum Ausdruck (Görgens und Pfahler 2002, S. 88). Es ist daher von Vorteil, wenn man auch nach Vertragsabschluß eine gewisse Zeit relativ leicht aus dem Vertrag ausscheiden kann. Daher können Institutionen wie eine Probezeit beim Abbau von Unsicherheit und (potentiellen) Transaktionskosten helfen und damit das Zustandekommen eines Arbeitsvertrages erst ermöglichen. In der Effizienzlohntheorie wird der Lohnsatz im Matching-Prozeß genutzt, um eine negative Selektion der Arbeitnehmer zu vermeiden. Im Vordergrund steht der Wunsch der Unternehmen nach einer möglichst hohen durchschnittlichen Qualität der Belegschaft. 248 Da hochqualifizierte Arbeitnehmer gewisse Investitionen in ihr Humankapital getätigt haben müssen, scheint die Annahme, daß die Anspruchslöhne die versteckten Qualitäten der Arbeitsanbieter widerspiegeln, plausibel zu sein. Eine Selektionsmöglichkeit besteht nun darin, die Lohnvorstellungen der Bewerber abzufragen. Dabei wird ein niedriger Anspruchslohn als Signal für eine geringe Leistungsfähigkeit angesehen (Franz 2003, S. 318). Stiglitz (1987, S. 16) beschreibt die Abwägung der Unternehmen so: „One of the inferences I can make from the fact that a worker is Willing to work for me for 50 cents an hour is that he does not have (know of) a better offer elsewhere." Aus demselben Grund wird auch der Versuch eines Bewerbers, Lohnkonkurrenz zu betreiben, von den Unternehmen als Signal für schlechte Qualität aufgefaßt (Akerlof 1970). Umgekehrt birgt der Versuch der Unternehmen, eine hohe Arbeitslosigkeit zur Senkung des Lohnniveaus zu nutzen, die Gefahr der adversen Selektion (Akerlof und Yellen 1986, S. 7). Zudem ist anzunehmen, daß die hochqualifizierten Beschäftigten bei einer Lohnsenkung die ersten sind, die das Unternehmen verlassen.249 Neben den Problemen der adversen Selektion neuer Arbeitskräfte stellt sich also die Gefahr des Verlustes der hochqualifizierten Arbeitnehmer, so daß infolge von Lohnsenkungen mit einer Verschlechterung der durchschnittlichen Arbeitsqualität zu rechnen ist (Stiglitz 1987,

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Hier sind aufwendige Bewerbungsverfahren mit Auswahltests und psychologischen Gutachten zu nennen. Die Probleme treten in ähnlicher Weise auf der Seite der Arbeitsanbieter auf, die auf der Suche nach einem passenden Unternehmen sind. Es handelt sich also um ein gegenseitiges Abtasten. Allerdings dürfte es den Bewerbern leichter fallen, sich einen allgemeinen Eindruck über das in Frage kommende Unternehmen zu machen, da hier mittlerweile zahlreiche Medien genutzt werden können. Die Gefahr der Täuschung oder der Zurückhaltung von Informationen wird auf Unternehmensseite außerdem durch die Gefahr eines Reputationsverlustes gemildert (Williamson 1985, S. 259 ff.). Reputationseffekte werden vor allem im Zusammenhang mit Rekrutierungsproblemen in den oberen Stufen als relevant angesehen (Franz und Pfeiffer 2003, S. 38). Diese Variante der Effizienzlohntheorie geht auf Weiss (1980) zurück. Im Bereich hochqualifizierter Arbeitskräfte besteht häufig ein Arbeitsnachfrageüberschuß, so daß eine Neubesetzung mit Wartezeiten verbunden sein kann. Zudem verfugen diese Beschäftigten über ein hohes Maß an unternehmensspezifischem Wissen, dessen Verlust das Unternehmen besonders schmerzen würde.

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S. 4 f.). Lohnsenkungen zahlen sich also selbst dann nicht aus, wenn sich auf dem Arbeitsmarkt Warteschlangen bilden. In Unternehmensbefragungen wird vor allem dem Aspekt der Abwanderung hochqualifizierter Arbeitnehmer besondere Bedeutung beigemessen {Blinder und Chol 1990, S. 1006 f f ; Bewley 2004, S. II).250 Eine besonders wichtige Eigenschaft der Arbeitskraft besteht darin, daß sie kein unveränderbares Gut darstellt. Menschen sind lernfähig, können also ihre Produktivität steigern. Hierin besteht ein weiterer Grund, warum Einstellungsentscheidungen nicht mehr nur im Hinblick darauf getroffen werden, wer bereit ist, eine gegebene Leistung für den geringsten Lohn zu liefern. Neben den zuvor geschilderten Problemen ist es außerdem von Bedeutung, wer als lernender Beschäftigter das beste Entwicklungspotential besitzt (Katz 1986, S. 270). Auch diese Einschätzung ist jedoch in hohem Maße mit Unsicherheit behaftet (Kaufinan 1994, S. 180). Damit beschränken die vielfältigen Informationsunvollkommenheiten die Koordinationsfunktion des Lohnes. Sowohl der Einsatz von Auswahlverfahren als auch die Strategie, qualifizierte Arbeitnehmer über höhere Löhne anzulocken oder zu binden, fuhren zu einer weiteren Erhöhung der Lohnkosten. Auf diese Weise verstärkt sich das Auseinanderfallen von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt und die unfreiwillige Arbeitslosigkeit steigt an. Allerdings stellt sich die Frage, ob den Unternehmen nicht effizientere Anreizsysteme als das Screening über einen höheren Lohnsatz zur Verfügung stehen. Hier wäre beispielsweise an den Einsatz eines von den Arbeitnehmern anzulegenden Fonds zu denken, von denen Teile dem Unternehmen zufallen, wenn sie von den Neulingen getäuscht werden (Katz 1986, S. 248). Einem solchen Lösungsmechanismus stehen unter anderem die Probleme der objektiven Bewertung von Leistungen entgegen, die ein Moral-Hazard-Problem auf Arbeitgeberseite auslösen. Auf anreizkompatible Instrumente zur Lösung des Opportunismusproblems in den Arbeitsbeziehungen wird in Abschnitt 5.4.1.4. noch einmal ausführlicher eingegangen. 4.4.

Schlußfolgerungen

Die Arbeitswelt sieht sich seit den Jahren der Industrialisierung einem steten Wandel ausgesetzt. Dies gilt für die Bedeutung der Arbeit in der Gesellschaft, für die Ausgestaltung der Arbeitsmarktbeziehungen und auch für die auf dem Arbeitsmarkt entstehenden Probleme. So war der Arbeitsmarkt zu Zeiten der Industrialisierung noch am ehesten marktlich über den Preismechanismus organisiert, was aufgrund der Besonderheiten des Gutes Arbeit unerwünschte Nebeneffekte mit sich brachte. Diese haben nach und nach zu einer Institutionalisierung des Marktes geführt, in deren Verlauf sowohl die Interessengruppen als auch der Staat für eine immer stärkere institutionelle Durchdringung des Arbeitsmarktes gesorgt haben (Pierenkemper 1982, S. 25). Dabei bleibt festzuhalten, daß nahezu dieselbe Arbeitsmarktordnung bis gegen Ende der sechziger Jahre für annähernde Vollbeschäftigung und danach für dauerhafte Massenarbeitslosigkeit sorgte. Dies spricht dafür, daß Institutionen je nach allgemeiner

250 Lediglich Agell und Lundborg (1995, S. 300 f.) stoßen bei ihrer Befragung auf Zustimmung zur These der adversen Selektion bei der Einstellung von Arbeitnehmern.

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Wirtschaftslage mehr oder weniger gut geeignet sind, für eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen (Bertold 2004, S. 24). Sie können sich unter veränderten Rahmenbedingungen als erneuerungsbedürftig oder gar als unsinnig erweisen, so daß wenn überhaupt nur kurzfristig von effizienten Institutionen gesprochen werden kann. In einer dynamischen Perspektive erscheint dagegen eine gewisse Anpassungsfähigkeit des Systems (Schwingungskapazität) innerhalb eines verläßlichen Rahmens nötig zu sein. Diese muß einer Vielzahl von Arbeitsmarktinstitutionen jedoch abgesprochen werden. Sie entsprechen weder den Anforderungen moderner Produktionsstrukturen, noch sind sie in der Lage, dem Arbeitslosenproblem adäquat zu begegnen.251 Damit kann der Anpassungsdruck, der über den Gütermarkt auf den Arbeitsmarkt ausgeübt wird, nicht entsprechend verarbeitet werden.252 Die Verteilungseffekte bestehender Institutionen mögen dem ursprünglichen Problem durchaus angemessen gewesen sein, haben in den vergangenen Jahrzehnten jedoch ein Eigenleben entwickelt, so daß sie den heutigen Problemen am Arbeitsmarkt nicht mehr gewachsen sind.253 Viele der Probleme, mit denen die Arbeiter in der Zeit der Industrialisierung konfrontiert wurden, sind heute entweder durch staatliche Eingriffe behoben oder haben sich durch die Umgestaltung der Arbeitsbeziehungen entschärft. Der volkswirtschaftliche Strukturwandel ging vor allem in den letzten Jahrzehnten mit der Entwicklung komplexerer Arbeitsgänge einher. Durch die hiermit zusammenhängende Heterogenisierung der Arbeit treten andere Probleme in den Vordergrund. Hier sind zunächst die ebenfalls in diesem Kapitel angesprochenen Informationsunvollkommenheiten und -asymmetrien vor Abschluß eines Arbeitsvertrages zu nennen. Arbeitsmarktinstitutionen, die auf eine Verbesserung der Markttransparenz hinwirken, sind daher grundsätzlich als effizienzsteigernd einzuordnen und im Hinblick auf eine Verbesserung der Beschäftigungssituation zu begrüßen. Differenzierter zu beurteilen sind die Versuche der Unternehmen, Informationsasymmetrien abzubauen. Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß der Einsatz ausgeklügelter Methoden nur dann erfolgen wird, wenn sie dem Unternehmen bei der Gewinnsteigerung hilft. Allerdings werden die aus Unternehmenssicht nachvollziehbaren Versuche dazu führen, daß der Lohnsatz über das markträumende Niveau steigt, ohne daß es den Arbeitslosen möglich ist, Konkurrenzdruck auf die Insider auszuüben. Trotz aller Versuche, die Informationslage zu verbessern, wird diese zwangsläufig unvollständig bleiben. Die Parteien sind daher immer in einem gewissen Maße auf die Erfahrungen im Arbeitsprozeß selbst angewiesen. Doch auch diese bieten kein vollständiges Bild, da sich aufgrund der Unvollkommenheit von Arbeitsverträgen immer Freiräume ergeben, die von der Gegenseite im eigenen Ermessen ausgefüllt werden können.

251 Lindbeck (1994, S. 73) bemerkt im Hinblick auf die schwedische Situation: „If prevailing legislation was adequate when it was introduced during the 1950's and 1960's, it is probably less adequate today." 252 Vgl. Snower (1998, S. 58 ff.), der insbesondere auf zentralisierte Lohnverhandlungen und Kündigungsschutzregelungen verweist und fordert, daß diese mit den veränderten Anforderungen der Unternehmensorganisationen in Einklang gebracht werden. 253 So fuhrt Olson (1995, S. 24 f.) den Niedergang der nordischen und .teutonischen' Volkswirtschaften auf die Durchdringung der Wirtschaft durch Partikularinteressen zurück.

Kapitel 4: Der Markt für Arbeit

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Die Arbeitsabläufe sind heterogener geworden, spezifisches Wissen und ein gewisses eigenständiges Handeln sind Grundmerkmale moderner Arbeitsbeziehungen. Zudem gewinnt die intrinsische Arbeitsmotivation zunehmend an Gewicht. Damit werden harte Anreize zurückgedrängt, und der Aspekt des gesellschaftlichen Tausches rückt stärker in den Vordergrund {Schlicht 2002, S. 11 ff.; Freeman 1998, S. 3 f.). Nachdem die Frage der grundsätzlichen Eignung (Frage des Könnens) gelöst wurde, stehen also Motivationsaspekte im Mittelpunkt der Arbeitsbeziehungen (Frage des Wollens). Hier wird der Vertrauensgutcharakter der Arbeit deutlich: die Qualität des Gutes kann selbst nach dem Kauf nicht mit Sicherheit bestimmt werden, so daß die Gefahr des nachvertraglichen Opportunismus (Moral Hazard) besteht. Angesichts der Unvollständigkeit von Arbeitsverträgen sowie der wechselseitigen spezifischen Investitionen in die Arbeitsbeziehung entsteht ein Verhältnis, das sich auf gegenseitiges Vertrauen und Kooperation gründet. Damit kann das Konfliktelement in den Arbeitsbeziehungen zum beiderseitigen Vorteil überwunden werden. Hieraus ergeben sich weitreichende Folgen für die Ausgestaltung moderner Arbeitsbeziehungen, die ausführlich in Kapitel 5. behandelt werden sollen.

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5. Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits auf den Wandel der Wirtschaftsstruktur und die daraus resultierende Veränderung der Beziehungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten eingegangen. Während die Arbeitsbeziehung zur Zeit der Industrialisierung eine echte Marktbeziehung darstellte, bei der sich die Unternehmen nach Bedarf Arbeitskräfte am Markt beschaffen konnten, verkörpert sie in modernen Volkswirtschaften eine dauerhafte Bindung, deren genaue Ausgestaltung innerhalb des Unternehmens geregelt wird. Es wurde also ein Wandel vollzogen, der die Bedeutung des externen Arbeitsmarktes zugunsten interner Arbeitsmärkte schwächte. Die vermehrt auf Dauer angelegten Arbeitsverhältnisse beschränken damit die in der neoklassischen Theorie vorausgesetzte Mobilität der Arbeit. Diese garantiert in Gleichgewichtsmodellen, daß die Faktoren problemlos in ihre effiziente Verwendung gelangen. Snower (1998) spricht im Hinblick auf die Veränderung der Produktionsstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten von einer unternehmensorganisatorischen Revolution. Die alten Unternehmensstrukturen sind durch eine ausgeprägte Arbeitsteilung gekennzeichnet - die beruflichen Qualifikationen in einem solchen Produktionsumfeld sind sehr spezifisch, die einzelnen Aufgabenbereiche sind klar umrissen und bauen sukzessive aufeinander au f. Mittlerweile hat sich die Komplexität von Arbeitsvorgängen im Hinblick auf die kognitiven, interaktiven und technologischen Anforderungen substantiell erhöht (Rebitzer 1993, S. 1401 f.). Der wirtschaftliche Strukturwandel, die technologisch anspruchsvollere Produktionsweise sowie die zunehmende internationale Arbeitsteilung lassen eine Unternehmensorganisation entstehen, die als holistisch bezeichnet werden kann. Sie zeichnet sich durch flachere Hierarchien und komplexe Arbeitsgänge aus, durch die funktionale Grenzen innerhalb des Unternehmens aufgehoben werden. Damit erhöhen sich automatisch die Anforderungen an die Mitarbeiter, die in der Lage sein müssen, sich in vielfaltige Aufgaben im Produktionsprozeß einzuarbeiten. Hierzu ist neben der fachlichen Qualifikation auch eine besondere Teamfähigkeit vonnöten (Snower 1998, S. 57 f.). Im anstehenden Kapitel sollen die Probleme behandelt werden, die in solchen Organisationsformen nach Abschluß des Arbeitsvertrages entstehen - das marktliche Koordinationsproblem ist also bereits gelöst. Mit dem Zustandekommen eines Arbeitsvertrages begibt sich der Arbeitnehmer in ein hierarchisch organisiertes Abhängigkeitsverhältnis. Da der Abschluß eines solchen Vertrages auf freiwilliger Basis geschieht, muß das neue Arrangement für beide Seiten von Vorteil sein - es muß also eine Rente entstehen, die es zwischen den beiden Parteien aufzuteilen gilt (Krüsselberg 1985, S. 25). Daher ist zu untersuchen, wie der faktische Tausch von Leistung gegen Arbeitslohn organisiert wird, also wie die Arbeitsbeziehung mit Leben erfüllt wird. Dabei werden wir sehen, daß sich über die Lösung dieses komplexen innerbetrieblichen Motivationsproblems wichtige Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt ergeben.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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Das Arbeitsverhältnis stellt gleichzeitig eine Konflikt- und eine Kooperationsbeziehung dar (Sesselmeier 1999, S. 122). Radikalökonomische Theorien betonen den Konflikt und sehen ihn über die Ausübung von Macht durch die Arbeitgeber geregelt.254 Unternehmen werden dabei lediglich als Instrumente angesehen, die eine optimale Überwachung der Arbeitskräfte ermöglichen sollen.2S5 Arbeitslosigkeit stellt ein Druckmittel dar, um den Arbeitnehmern ihre Arbeitsleistung ,abzupressen' (Bowles und Edwards 1986, S. 3 f.).256 Dagegen stehen im folgenden Mechanismen im Vordergrund, die das Kooperationselement in den Arbeitsbeziehungen nutzen, wobei vor allem informelle Institutionen und unternehmensspezifische Regeln von Bedeutung sind.257 Der hier gewählte Ansatz basiert damit auf den Eigenheiten moderner Arbeitsbeziehungen, die gerade aufgrund der Unvollkommenheit der Arbeitsverträge Raum für eine für beide Seiten vorteilhafte Überwindung des Konfliktpotentials bieten. Im folgenden soll zunächst eine vertragstheoretische Einordnung der Arbeitsbeziehung vorgenommen werden. Diese wird zeigen, daß es sich bei Arbeitsbeziehungen in der Regel um längerfristige und damit nicht-anonyme Beziehungen handelt. Die Vertragsinhalte sind aufgrund von Informationsunvollkommenheiten notwendigerweise nicht vollständig bestimmt. Die Arbeitsbeziehung besitzt für beide Parteien einen Wert, so daß ihre Aufkündigung mit Kosten verbunden ist. Aus der Tatsache, daß den Unternehmen beim Austausch eines Beschäftigten durch einen Arbeitslosen (Fluktuations-) Kosten entstehen, lassen sich sowohl im Rahmen der Insider-Outsider-Theorie als auch der Effizienzlohntheorie Lohnsteigerungen ableiten, die zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit führen. Auf der anderen Seite gelingt es den Unternehmen durch die Erhöhung des Lohnes über den gängigen Marktlohn, einen Wechsel des Arbeitsplatzes für die Beschäftigten mit Kosten zu belegen. Hierin ist eine Möglichkeit zu sehen, die MoralHazard-Gefahr, die sich durch die Unvollständigkeit der Arbeitsverträge auf Arbeitnehmerseite ergibt, einzudämmen. Wird dieser Mechanismus jedoch von einer Vielzahl von Unternehmen genutzt, entsteht unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die nun eine disziplinierende Wirkung auf die Beschäftigten ausübt. Die Relationalität der Arbeitsbeziehung bringt es weiterhin mit sich, daß der Lohnsatz nicht nur als Kostenfaktor Beachtung findet, sondern vom Unternehmen mit dem Ziel der Produktivitätssteigerung eingesetzt werden kann. Dabei ist vor allem von Bedeutung, ob die Arbeitnehmer das Lohnangebot anhand unterschiedlicher Referenzpunkte für angemessen halten. Diese Einschätzung ist maßgeblich für die Bestimmung

254

Vgl. Rebitzer( 1993, S. 1397) sowie kritisch Williamson (1985, S. 206 ff.). Macht soll als Möglichkeit verstanden werden, eine andere Partei glaubwürdig mit Sanktionen zu belegen. 255 Diese .Ausbeutungstheorie' geht auf Marglin (1974) zurück. 256 Auch in der Shirking-Variante der Effizienzlohntheorie von Shapiro und Stiglitz (1984) dient Arbeitslosigkeit als Durchsetzungsmechanismus. Sie entsteht jedoch nur, weil hohe Löhne eingesetzt werden müssen, um formal-rechtlich nicht einklagbare Vertragsinhalte durchzusetzen. Die Leidtragenden sind hier die Arbeitslosen und nicht die Beschäftigten - siehe ausfuhrlich Abschnitt 5.4.1. 257 Diese Vorgehensweise ist der Einsicht geschuldet, daß moderne Arbeitsverhältnisse keine einseitigen Herrschaftsverhältnisse mehr darstellen.

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des Leistungsniveaus der Beschäftigten bei unvollständigen Arbeitsverträgen. Aus den effizienzlohntheoretischen Überlegungen, die anhand von experimentellen Studien erhärtet werden, ergeben sich wiederum Lohnsteigerungen und damit auf der Marktebene unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt, daß sich aus den Gerechtigkeitsüberlegungen Lohnrigiditäten ableiten lassen, die verhindern, daß es in Abschwüngen zu den nötigen Anpassungsreaktionen kommt. Die Koordinationsfunktion des Lohnes auf dem Markt wird also durch die Motivationsfunktion des Lohnes auf Unternehmensebene nach unten beschränkt. Auf diese Weise verschärft sich das Problem der Arbeitslosigkeit über die Konjunkturzyklen. Um die grundsätzlichen Mechanismen moderner Arbeitsbeziehungen herausarbeiten zu können, soll der Einfluß kollektiver Interessengruppen zunächst ausgeblendet werden. Aus dem auf Arbeitsmärkten bedeutsamen Institutionengeflecht werden zunächst die Regeln analysiert, die die direkten Interaktionen zwischen Unternehmen und Beschäftigten strukturieren. Dabei wird ersichtlich, daß sich unfreiwillige Arbeitslosigkeit bereits endogen aus den Eigenschaften der Arbeitsbeziehungen ergibt, selbst wenn man zunächst noch von Arbeitsmärkten ausgeht, die keine Unvollkommenheiten aufweisen. Erst in Kapitel 6. werden die formalen Institutionen der Arbeitmarktverfassung betrachtet, um anschließend in Kapitel 7. das Zusammenspiel beider Ebenen zu analysieren. 5.1.

Das Arbeitsverhältnis als Prinzipal-Agenten-Beziehung

Die Firma kann als ein Nexus von Verträgen beschrieben werden, durch den die Koordination von verschiedenen Akteuren und deren Tätigkeiten bei möglichst geringen Transaktionskosten angestrebt wird (Alchian und Demsetz 1972, S. III f.; Aoki et al. 1990).258 Die vertragliche Vereinbarung in der Arbeitsbeziehung umfaßt die Verpflichtung des Arbeitnehmers, die zugesagte Leistung zu erbringen - im Austausch zahlt das Unternehmen den festgelegten Lohn. In den folgenden Ausführungen wird jedoch deutlich, daß die Vertragsbestandteile nicht so einfach abzugrenzen sind - vor allem bei den Arbeitnehmerpflichten handelt es sich in der Regel nur um ein Leistungsversprechen, das es in der Arbeitsbeziehung durchzusetzen gilt (Semlinger 1995, S. 258 f.). Mit der Anwendung der Prinzipal-Agenten-Theorie (PAT) auf das Arbeitsverhältnis begibt man sich in die Analyse hierarchischer Beziehungen. Die PAT geht im Grunde von einem Zielkonflikt zwischen dem Prinzipal (Arbeitgeber) und dem Agenten (Arbeitnehmer) aus, der sich aus der Nutzenmaximierung beider Parteien ergibt. Während die Gewinnmaximierung des Unternehmens auf den Wunsch hinausläuft, eine möglichst hohe Arbeitsleistung zu einem möglichst geringen Lohn einzukaufen, fuhren die Nutzenüberlegungen der Arbeitnehmer in genau die umgekehrte Richtung. Um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können, streben sie einen möglichst hohen Lohnsatz an. Da die Leistungserbringung in der PAT traditionell mit Arbeitsleid und damit mit Kosten belegt ist, werden die Agenten bemüht sein, für einen gegebenen Lohn möglichst wenig

258 Bei einem Unternehmen mit fünf Mitarbeitern wären bei individueller Vertragsaushandlung zwischen den Akteuren zehn statt fünf Verträge nötig, bei einem Unternehmen mit 500 Beschäftigten beläuft sich die Differenz bereits auf 124.250 Verträge.

Kapitel 5; Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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zu arbeiten. Die Vertragsparteien besitzen also fundamental entgegengesetzte Ziele im Hinblick auf Lohnhöhe und Leistungsintensität. In einer gläsernen Welt vollkommener und damit symmetrischer Information ohne Transaktionskosten ist der skizzierte Zielkonflikt unproblematisch, da der Arbeitgeber seinen Beschäftigten ex ante vorschreiben kann, wie diese in jeder denkbaren Situation zu handeln haben. „Alle Handlungen sind von allen beobachtbar, die kognitiven Kapazitäten der Individuen sind unbegrenzt."259 Damit können Verträge abgeschlossen werden, die den Tauschakt vollständig und damit abschließend regeln. Die Aufteilung der Jobrente und damit die Höhe des Lohnes ergibt sich über das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt. In diesem klassischen Vertragskonzept wird die Wirksamkeit formaler Institutionen vorausgesetzt. Es handelt sich also in dem Sinne um vollständige Verträge, daß sie vor Gericht durchgesetzt werden können. Dies bedeutet jedoch, daß die relevanten Informationen auch für Außenstehende überprüfbar sein müssen.260 Damit ist nicht nur das Verhalten der Akteure angesprochen, sondern es muß auch klar sein, welche Abmachungen zwischen den Parteien getroffen worden sind. Dazu ist es notwendig, die Inhalte schriftlich zu fixieren. Hierdurch werden jedoch Kosten verursacht, so daß die vollständige Auflistung der Rechte und Pflichten ineffizient wird, selbst wenn sie theoretisch möglich wäre. Daher werden auch in einer Welt vollkommener Voraussicht immer einige Bestandteile der Vertragsbeziehung nicht explizit geregelt sein.261 Betrachtet man die tatsächlich bestehenden Vertragsmechanismen zwischen Unternehmen und Beschäftigten, so wird schnell deutlich, daß die bisher getroffenen Annahmen nicht in der Lage sind, die realen Abweichungen vom Konzept des vollständigen Vertrages zu erklären. Simon (1951, S. 293) kritisiert: „[Die klassische Sichtweise des Arbeitsvertrages und der Arbeitsbeziehung - M.D.] involves a very high order of abstraction - such a high order, in fact, as to leave out of account the most striking empirical facts of the Situation as we observe it in the real world."

In der Realität erlangen je nach Art und Komplexität des Vertragsgegenstandes sowie der Beziehungen der Vertragspartner unterschiedliche Aspekte bei der Vertragsausgestaltung Bedeutung. So unterscheidet sich der Kaufvertrag, den man täglich im Supermarkt schließt, deutlich von einem Arbeits- oder einem Ehevertrag. Als die wichtigsten Dimensionen der zu regelnden Transaktionen können ihre Häufigkeit, der Grad an Unsicherheit (Komplexität), die Spezifität, die Meßkosten in Bezug auf die Leistungsbeurteilung sowie die Verknüpfung mit anderen Transaktionen genannt werden (M7grom und Roberts 1992, S. 49). Um Hinweise auf die tatsächlichen Probleme in der

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261

Richter und Bindseil (1995, S. 319), die eine weitere Diskussion dieser NullTransaktionskosten-Welt (Arrow-Debreu-Weh) bieten. Da alle Eventualitäten annahmegemäß vertraglich vorweggenommen werden, kann es jedoch ex post eigentlich nicht zu Auseinandersetzungen über die Interpretation von Vertragsinhalten kommen (Voigt 2002, S. 107). Hier handelt es sich lediglich um ein technisches Problem. Fortschritte in der Bürotechnik sollten dann zu immer vollständigeren Verträgen fuhren. Dies ist jedoch nicht zu beobachten. Die folgenden Gründe für Vertragsunvollkommenheiten sind daher entscheidend.

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Prinzipal-Agenten-Beziehung zu geben, wird die Annahme der vollkommenen Informiertheit und perfekten Informationsverarbeitungskapazität der Akteure in den folgenden Abschnitten schrittweise aufgeweicht.262 Auf diese Weise entsteht ein realistischeres Bild der Arbeitsbeziehung, das sowohl Phänomene innerhalb der Arbeitsbeziehung als auch auf der Marktebene erklären hilft. 5.1.1. Die Theorie impliziter Verträge Die Theorie impliziter Verträge ist den Markträumungsansätzen zuzuordnen.263 Sie begründet die Dauerhaftigkeit von Arbeitsverträgen mit den unterschiedlichen Risikoeinstellungen von Unternehmen (risikoneutral) und homogenen Arbeitnehmern (risikoavers), abstrahiert aber von asymmetrischer Information und den damit entstehenden Durchsetzungsproblemen. Aufgrund der unterschiedlichen Risikoeinstellungen beinhalten implizite Arbeitsverträge neben der Gehaltszahlung auch eine Versicherungskomponente. Die Arbeitnehmer möchten Lohnschwankungen vermeiden und sind bereit, eine dahingehende Vereinbarung als Versicherungsleistung in den Arbeitsvertrag aufzunehmen. Als Gegenleistung nehmen sie Lohnabschläge in Kauf.264 Beide Parteien können auf diese Weise ihren Nutzen aus der Arbeitsbeziehung erhöhen. Die Risikoaversion der Arbeitnehmer begründet also die Entstehung längerfristiger Verträge, die nicht an jede makroökonomische Bewegung angepaßt werden (Franz, Gerlach und Hübler 2003, S. 405 f.). Die Löhne bleiben nun über den Konjunkturverlauf hinweg stabil, was jedoch auch bedeutet, daß die Gleichheit von Reallohn und Grenzproduktivität der Arbeit aufgegeben wird. Als wichtigster Beitrag der Theorie impliziter Arbeitsverträge ist die Erklärung von Lohnstarrheiten als das Ergebnis einer gemeinsam von Arbeitgeber und Arbeitnehmer entwickelten Strategie zur Risikoaufteilung anzusehen. Diese Starrheit verhindert bei starken Nachfragerückgängen nötige Lohnanpassungen, so daß mit Entlassungen von einigen Arbeitnehmern reagiert wird, während andere weiter den vereinbarten Lohnsatz erhalten.265

262

Die Vielfalt der Regelungsbereiche und der unterschiedlichen Vertragsmerkmale hat zu unterschiedlichen Vertragskonzepten gefuhrt, die jedoch nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen sind (Richter und Furubotn 1996, S. 159).

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Sie geht auf die Arbeiten von Baily (1974), Gordon (1974) und Azariadis (1975) zurück. Der Arbeitsvertrag wird von Azariadis (1975, S. 1185) als implizit bezeichnet, weil die Arbeitsleistung gegen ein Bündel von Verpflichtungen getauscht wird, das über einen längeren Zeitraum eingelöst wird und daher nur schwer explizit zu fixieren ist. Allerdings sind die impliziten Verträge der frühen Theorien tatsächlich als explizite (selbstdurchsetzende) Verträge zwischen den Parteien modelliert worden. Die Begriffsabgrenzung ist gerade im Falle der impliziten Verträge recht uneinheitlich und unübersichtlich (Rosen 1985, S. 1144).

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Hierin läßt sich der Wunsch erkennen, daß Arbeit nicht (vollständig) dem Marktmechanismus unterliegen soll. Die Risiken eines Auktionsmarktes mit seiner Anfälligkeit für exogene Störungen werden von den Menschen gescheut.

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Vgl. Azariadis (1975, S. 1200 f.). Implizite Kontrakte sind vor allem für mittlere und niedrigere Qualifikationsstufen von Bedeutung (Campbell und Kamlani 1997, S. 782 ff.).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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5.1.2. Die Prinzipal-Agenten-Beziehung bei selbstdurchsetzenden Arbeitsverträgen Selbstdurchsetzende Verträge bilden gewissermaßen einen Sonderfall der vollkommenen Verträge. Hier stehen Probleme im Vordergrund, die sich aus der NichtDurchsetzbarkeit von Vertragselementen ergeben. Es besteht keine Informationsasymmetrie zwischen den Vertragsparteien, wohl aber zwischen den Vertragspartnern und Außenstehenden, so daß es an der Verifizierbarkeit und damit an der gerichtlichen Durchsetzbarkeit der vereinbarten Leistungen mangelt {Hart 1987, S. 754). Soll ein Vertrag trotzdem zustande kommen, müssen andere Mechanismen,greifen. Eine Möglichkeit besteht darin, daß Verträge selbstdurchsetzend sind, das heißt, die Einhaltung der Vereinbarung muß im beiderseitigen Interesse liegen. Der Sanktionsmechanismus besteht dann in der Aufkündigung der für beide Seiten lohnenden Beziehung und in der Vernichtung der wechselseitigen Vorteile. Das Eingreifen einer dritten Partei ist in diesem Fall nicht nötig (Telser 1980, S. 27 f.). Auch die Theorie selbstdurchsetzender Verträge basiert auf der Annahme der materiellen Eigennutzorientierung. Die Einhaltung des Vertrages ist also nur dann zu erwarten, wenn die individuellen Vorteile der Vertragseinhaltung die der Nichterfüllung übersteigen (Telser 1980, S. 28 f.).266 Allerdings können Reputationseffekte als zusätzliche Durchsetzungsmechanismen wirken, wenn ein Vertragsbruch die Erwartungen potentieller Vertragspartner negativ beeinflußt (Erlei, Leschke und Sauerland 1999, S. 233). Im Hinblick auf diese Abwägung besteht wiederum vollständige Information über zukünftige Ereignisse. Den Beteiligten sind die Grunddaten und damit auch die grundsätzlichen Folgen ihres Handelns bekannt, so daß keine Irrtümer auftreten können.267 Die Probleme der Vertragserfüllung und der Durchsetzung werden also ebenso wie bei vollständigen Verträgen ausgeblendet - Transaktionskosten und informelle Institutionen spielen keine Rolle (Rosen 1985, S. 1149). Im folgenden Abschnitt sollen die Probleme der Vertragsdurchsetzung behandelt werden, die bei unvollständigen Verträgen und asymmetrisch zugunsten der Arbeitnehmer verteilter Information auftreten. 5.1.3. Die Prinzipal-Agenten-Beziehung bei unvollständigen Arbeitsverträgen Bei vollkommenen Verträgen wird von der irrigen Annahme ausgegangen, daß der Arbeitgeber die Leistung des Arbeitnehmers nicht nur vertraglich festlegen, sondern auch bewerten und kontrollieren kann. Gerade dies stellt den Prinzipal jedoch vor nahezu unlösbare Probleme. Die Leistung des Arbeitnehmers ist nur in seltenen Fällen genau zu bestimmen und entzieht sich häufig vollständig objektiven Beurteilungskriterien.268 Die Handlungen der Agenten in Arbeitsbeziehungen sind nicht vollständig beobachtbar, 266 267 268

Dies ist bspw. bei Konventionen der Fall. Telser (1980, S. 44) schließt daraus: „[...] that highly uncertain conditions are not conducive to self-enforcing agreements." Dies dürfte fur die meisten modernen Arbeitsbeziehungen gelten. Nur etwa die Hälfte der Unternehmen in der Studie von Agell und Bennmarker (2003, S. 13) gibt an, die Leistung ihrer Beschäftigten zu einem guten Teil beurteilen zu können.

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und selbst die sichtbaren Resultate erlauben oftmals keinen genauen Rückschluß auf die dahinterstehenden Anstrengungen. Dies gilt vor allem, weil das Ergebnis nicht nur von der Leistung des Arbeitnehmers, sondern auch von exogenen Einflüssen und dem komplexen Zusammenspiel verschiedener Akteure im Produktionsprozeß abhängig ist.269 Wird Arbeit als unangenehme Last, die lediglich dem Einkommenserwerb dient, angesehen, so können die Beschäftigten in einer solchen Situation versucht sein, ihren Informationsvorsprung auszunutzen und ihr Arbeitsleid vom Unternehmen unbemerkt zu senken.270 Das Stellvertreterproblem in Arbeitsbeziehungen konstituiert sich also erst durch das Zusammenspiel eines empfundenen Arbeitsleides, unvollständiger Verträge und asymmetrischer Information. Der Anreiz des Agenten zum eigennutzorientierten Verhalten nach Vertragsabschluß wird als Moral Hazard bezeichnet und stellt eine Form opportunistischen Verhaltens dar. Williamson (1985, S. 47) liefert die StandardDefinition von Opportunismus: „By opportunism I mean self-interest with guile. This includes but is scarcely limited to more blatant forms, such as lying, stealing, and cheating. Opportunism more often involves subtle forms of deceit. Both active and passive forms and both ex ante and ex post types are included." Opportunismus als Ausfluß strategischer Unsicherheit beschränkt die Ausbreitung von Vertragsbeziehungen und fordert wiederum die Bildung von Institutionen, um diese Probleme abzumildern. Dieser Opportunismusgefahr Herr zu werden, steht im Mittelpunkt der modernen PAT. Sie entwickelt daher formale Anreizsysteme, die es den Unternehmen theoretisch erlauben, die Arbeitsleistung der Beschäftigten im Vorhinein festzulegen. Bei diesen Lösungsansätzen handelt es sich um Verträge, die entweder eine optimale Selbstselektion (ex ante) oder aber einen optimalen Anreizmechanismus implementieren (ex post).271 Auf diese Weise soll eine Interessenharmonie zwischen den Vertragspartnern hergestellt werden, so daß das Vertragswerk als selbstdurchsetzend angesehen werden kann. Die theoretischen Modelle lassen also Informationsasymmetrien zu, so daß die Ausgangssituation einen gewissen Grad an Unvollkommenheit aufweist. Anschließend wird unter der Anwendung mathematischer Methoden nach einer optimalen Lösung des Modells gesucht - es wird also gewissermaßen vollkommen rational mit den Informationsunvollkommenheiten umgegangen.272 Die mathematische Formulierung der Modelle erlaubt dann zwar die Ableitung von exakten Ergebnissen in Form effizienter Gleichgewichte, bezahlt wird diese formale Stringenz jedoch mit einem Mangel an Wirklich269 Pull (1994, S. 223 ff.) unterscheidet daher in endogene und exogene Vertragsrisiken. 270 Hierbei kann zwischen verstecktem Handeln (die Tätigkeit kann nicht immer überwacht werden) und versteckter Information (der Arbeitnehmer enthält dem Unternehmen Informationen vor) unterschieden werden (Arrow 1985, S. 38 ff.). 271 Wirksame Anreizverträge müssen sowohl die Partizipations- als auch die Anreizkompatibilitätsbedingung erfüllen (Falk und Kosfeld 2004, S. 3). 272 Dies hat mit beschränkter Rationalität im eigentlichen Sinne indes wenig gemein. Der Informationsunvollkommenheiten gehen lediglich als eine zusätzliche Restriktion in das Optimierungsverfahren ein. Das Hinzufügen immer neuer Nebenbedingungen kann dazu führen, daß letztlich jedes Ergebnis als ,effizient' gedeutet werden kann (Richter und Furubotn 1996, S. 489).

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keitsnähe. Dies gilt vor allem für die Rationalitätsanforderungen an die Akteure sowie für die weitgehende Ausblendung der Heterogenität der Menschen und der zu regelnden Interaktionen. Von großer Bedeutung ist zudem die Tatsache, daß wir eben gerade nicht in einer Welt leben, in der sämtliche zukünftige Umweltzustände, Handlungsstrategien und Interdependenzen zwischen den Akteuren bei Vertragsabschluß bekannt sind. Nimmt man die menschliche Kreativität und die konstitutionelle Ungewißheit ernst, so können unmöglich alle Kontingenzen erfaßt werden.273 Der Versuch, unter diesen Voraussetzungen einen vollständigen Arbeitsvertrag zu erstellen oder hochkomplizierte Anreizmechanismen einzuführen, ist daher bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt (Sesselmeier 1999, S. 109). Daher kann auch diese theoretische Behandlung von Arbeitsverträgen nicht zufriedenstellen. Tatsächlich sind die von der PAT vorgeschlagenen Anreizmechanismen in der Realität kaum anzutreffen. Dies mag darin begründet sein, daß solche Verträge aufgrund ihrer Komplexität eher verwirrend als anleitend sind und sich somit produktivitätssenkend auswirken (Katz 1986, S. 271; Altonji 1986, S. 278). Das Hauptproblem der formalen PAT ist in der Vernachlässigung der gesellschaftlichen Einbettung der Arbeitsbeziehungen zu sehen. Diese soziale Komponente führt dazu, daß informelle Regeln und unterschiedliche Motivationsstrukturen in der Lage sind, die Funktionen der expliziten Anreizmechanismen zu übernehmen, so sie denn nicht durch dieselben gestört werden. In einer Welt, in der Ungewißheit und beschränkte Rationalität wichtige Elemente darstellen, sind daher Vertragsformen von Interesse, die explizit auf einer gewissen Unvollständigkeit der Vertragsbeziehung aufbauen. Dies zeichnet die Theorie relationaler Verträge aus, die zudem die für Arbeitsverträge wichtige Eigenschaft dauerhafter Bindungen berücksichtigt und daher im Mittelpunkt des folgenden Abschnittes steht. 5.2.

Die Arbeitsbeziehung als relationaler Vertrag

Auf dem externen Arbeitsmarkt steht ein Unternehmen zunächst einer großen Zahl von Bewerbern gegenüber und genießt dementsprechend einen gewissen Verhandlungsvorteil. Nach Vertragsabschluß kann jedoch eine wechselseitige Abhängigkeit entstehen, wenn die Arbeitnehmer firmenspezifisches Wissen erwerben. Williamson (1985, S. 211 f.) spricht in diesem Zusammenhang davon, daß das Verhältnis der beiden Parteien eine fundamentale Transformation durchläuft. Hierdurch ergibt sich ein gegenseitiges Interesse an einer dauerhaften Vertragsbeziehung, so daß der Anreiz, kurzfristige Defektionsmöglichkeiten auszunutzen, sinkt. Die Ausgestaltung solcher Vertragsverhältnisse kann anhand des Konzeptes relationaler Verträge beschrieben werden.274 Diese sind als langfristige Vereinbarungen zu verstehen, in denen vergangene, gegenwärtige und zukünftige persönliche Beziehungen

273

Daher werden lediglich die Bereiche, deren Kontrolle einfach und relativ objektiv zu gewährleisten ist, explizit und eindeutig geregelt - bspw. die Einhaltung der Arbeitszeiten über Stechuhren.

274

Der Begriff des relationalen Vertrages (Beziehungsvertrag) geht auf Macneil (1974) zurück, der das Konzept vor allem in der Ehe und in der Arbeitsbeziehung für relevant hält (.Macneil 1974, S. 725).

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zwischen den Vertragsparteien eine Rolle spielen, ohne den Anspruch zu erheben, alle zukünftigen Kontingenzen berücksichtigen zu wollen. Es werden keine detaillierten Vereinbarungen geschlossen, sondern vielmehr allgemeine Ziele und Vorgehensweisen vereinbart, die im Falle konkreter Probleme gewisse Marschrouten vorgeben. Relationale Verträge sind daher in einem bestimmten Ausmaß implizit, informell und nicht rechtsverbindlich. Sie sind zudem häufig in ein System gesellschaftlicher Beziehungen eingebettet (Macneil 1974, S. 753). Es wird daher ein nachhaltig kooperatives Verhältnis angestrebt, das sich von einer oberflächlichen, rein funktionalen Beziehung darin unterscheidet, daß Leistungen nicht nur nach Anweisung und in der minimal nötigen Qualität erbracht werden (Williamson 1985, S. 262 f.). Relationale Arbeitsverträge zeichnen sich weiterhin dadurch aus, daß nicht zu jedem Zeitpunkt ein Ausgleich von Leistung und Gegenleistung gegeben sein muß. Die Arbeitsbeziehung ist daher nicht auf den kurzfristigen Tausch von Lohn gegen Leistung beschränkt. In die Zukunft weisende Geschäfte wie Beförderungsmöglichkeiten oder ein gegenseitiges Entgegenkommen in Problemsituationen bilden ebenfalls Möglichkeiten, die ,Konten' innerhalb einer Arbeitsbeziehung von Zeit zu Zeit auszugleichen. Damit stellen relationale Verträge eine Möglichkeit dar, wie im Rahmen von Arbeitsbeziehungen mit unvollkommener Information und beschränkter Rationalität umgegangen werden kann (Milgrom und Roberts 1992, S. 131 ff.). Sie befreien die Unternehmen von der Notwendigkeit, zu jeder Zeit eine gerechte Lohnstruktur und eine Regulierung der Arbeitsabläufe zu gewährleisten, fuhren jedoch auch zur Abkopplung der Grenzproduktivität der Arbeit vom Reallohn. Bei der Untersuchung der Besonderheiten relationaler Arbeitsbeziehungen kann auf ein Schema von Williamson (1985) zurückgegriffen werden. Er berücksichtigt, daß moderne Arbeitsbeziehungen durch einen steten Wandel der Aufgaben, durch Lernprozesse, spezifische Investitionen und Informationsasymmetrien gekennzeichnet sind. Den Vertragspartnern ist es aufgrund des beschränkten Wissens über zukünftige Ereignisse, der eingeschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten und der aus Informationsasymmetrien entstehenden Opportunismusprobleme unmöglich, vollständige Arbeitsverträge zu schließen. Treten zusätzlich spezifische Investitionen auf, muß weiterhin das daraus resultierende Hold-up-Problem beachtet werden.275 Dem Auftreten spezifischer oder idiosynkratischer Investitionen wird von Williamson, Wächter und Harris (1975, S. 265) besondere Bedeutung zugemessen: „Where tasks are idiosyncratic, in nontrivial degree, the worker-employer relationship is no longer contractually equivalent to the usual grocer-customer relationship and the feasibility of sequential spot market contracting breaks down."

In Tabelle 7 findet sich der Moral-Hazard-Aspekt in den Zeilen wieder und wird in den Spalten um die Gefahr eines Hold-ups erweitert.

275

Das Hold-up-Problem wird von Milgrom und Roberts (1992, S. 599) folgendermaßen beschrieben: „The problem that one who makes an relation-specific investment is vulnerable to a threat by other parties to terminate that relationship. This threat then permits these parties to obtain better terms than were initially agreed." Malcomson (1997) bietet einen ausfuhrlichen Überblick über das Hold-up-Problem.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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Tabelle 7: Ausprägungen der Arbeitsbeziehungen Individuelle Outputmessung

Humankapital Unspezifisch

Spezifisch

Leicht

1. Interner Spotmarkt

3. Obligational market

Schwer

2. Klassisches Team

4. Relationales Team

Quelle: Zurückgehend auf Williamson (1985, S. 247). Bei internen Spotmärkten ist die individuelle Outputmessung unproblematisch, und die Fähigkeiten sind unspezifisch, so daß theoretisch auch eine reine Marktkoordination möglich wäre. Beim obligational market haben beide Seiten ein Interesse an wechselseitig verpflichtenden („obligationalen") Sicherungsvorkehrungen (Williamson 1985, S. 264). Sind keine spezifischen Investitionen nötig und sind die Ergebnisse nicht individuell zurechenbar, so daß Trittbrettfahrerprobleme auftreten, handelt es sich um das klassische Team.276 Da in den meisten modernen Arbeitsbeziehungen ein gewisses Maß an spezifischem Wissen nötig ist und asymmetrische Information ein grundsätzliches Problem darstellt, sind die relationalen Teams, in denen beide Opportunismusprobleme vereint sind, von besonderer Bedeutung. Werden von beiden Seiten spezifische Investitionen vorgenommen, so erhält die Beziehung zwischen den Partnern einen Wert an sich.277 Für beide Seiten entfallen Suchkosten und das Risiko einer Enttäuschung bei Abschluß eines neuen Arbeitsverhältnisses. Damit ergibt sich quasi endogen der Wunsch nach einer dauerhaften Beziehung, die wiederum Mechanismen bereitstellt, die geeignet sind, das Opportunismusproblem zu lösen. Der Exit aus dauerhaften Arbeitsbeziehungen ist also weder für die Arbeitnehmer noch für die Arbeitgeber kostenlos. Dies gilt vor allem, weil es in modernen Arbeitsbeziehungen unabdingbar ist, sich betriebsspezifisches Wissen anzueignen.278 Letzteres zeichnet sich dadurch aus, daß es innerhalb des Unternehmens einen höheren Wert besitzt als am Markt - die Differenz zwischen der erst- und der zweitbesten Verwendung wird als Quasi-Rente bezeichnet. Sie steigt mit der Spezifität der Investition (Sesselmeier 1999, S. 121).279 Die weniger gebundene Partei kann nach Vertragsschluß versucht

276

277 278 279

Die Analyse der klassischen Teams geht auf Alchian und Demsetz (1972) zurück. Sie lösen das Trittbrettfahrerproblem über die Einführung eines Aufsehers, der Anspruch auf die Residualgewinne hat. Dies ist die Rolle des Unternehmers. Holmstrom (1982) zeigt, daß das Einrichten glaubwürdiger Anreizsysteme aus Effizienzgesichtspunkten die eigentliche Aufgabe des Prinzipals sein sollte. Die Partner schließen sich gewissermaßen in die Beziehung ein (Williamson 1985, S. 53 f.). Aufgrund des langfristigen Charakters der betriebsspezifischen Investitionen haben Beschäftigungsentscheidungen zu einem gewissen Grad Investitionsgutcharakter (Rothschild 1980, S. 544). Mehr als die Hälfte der Streitigkeiten über Lohnungerechtigkeiten ergeben sich aus der Frage, wie die Renten aus firmenspezifischem On-the-Job-Training aufgeteilt werden sollten (Rees 1993, S. 246).

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sein, sich zumindest einen Teil der Quasi-Rente über Nachverhandlungen anzueignen, indem sie mit der Auflösung des Vertrages droht. Damit würden die spezifischen Investitionen der Gegenpartei verloren gehen. Kann dieses Hold-up-Problem nicht gelöst werden, kommen Transaktionen mit einem hohen Grad an Spezifität entweder gar nicht zustande, oder es wird tendenziell zu wenig beziehungsspezifisches Humankapital aufgebaut. In beiden Fällen entstehen Effizienzverluste. 280 Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital werden auch von den Beschäftigten erwartet. So geht der andauernde Wandel in den Arbeitsanforderungen mit der Notwendigkeit einher, sich in einem ständigen Lernprozeß zu befinden. Die Bereitschaft der Beschäftigten, sich selbst für diese Lernprozesse zu engagieren, kann jedoch nur dann geweckt werden, wenn es sich um marktgängiges Wissen handelt oder aber eine gewisse Arbeitsplatzsicherheit besteht. Damit Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital nicht zu gering ausfallen, ist also ein Vertrauensverhältnis in der Arbeitsbeziehung vonnöten, was wiederum auf die Notwendigkeit eines kooperativen Miteinanders zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verweist. Treten spezifische Investitionen auf, so kann die betreffende Seite geschützt werden, indem ihr bestimmte Rechte an der Investition zugesprochen werden - es wird also eine Lösung über formale Institutionen (Eigentumsrechte) angestrebt. Hier ergeben sich jedoch wiederum Probleme bei der Vertragsdurchsetzung, so daß Anreize zur Bildung individueller oder unternehmensinterner Lösungsmechanismen offensichtlich sind. Diese Institutionen dienen in der Regel der Verlängerung des Zeithorizontes der Beziehung in Bezug auf die spezifischen Investitionen und sollen somit das Hold-up-Problem abmildern (Engerer und Voigt 2002, S. 155).281 Die Anonymität kurzfristiger Zusammenarbeit, bei der Arbeit nach Bedarf am Markt beschafft werden kann, weicht durch die fundamentale Transformation dauerhaften Beziehungen, in denen die Identität der Beteiligten eine Rolle spielt. Damit sich Vertrauen entwickeln kann, ist die Reputation der Akteure von Bedeutung. Die Institutionalisierung einer dauerhaften Vertragsbeziehung ermöglicht bei Abwesenheit internalisierter Institutionen also erst die Entstehung von Formen der Zusammenarbeit, bei der ein gegenseitiges Geben und Nehmen im Vordergrund steht (Hart 1987, S. 752). Hierin kann daher bereits ein Lösungsmechanismus für eine Vielzahl der angesprochenen Koordinationsprobleme gesehen werden. Aufgrund dieser Eigenschaften sind relationale Austauschbeziehungen besser in der Lage, unerwartete Störungen abzufangen und sich an neue Gegebenheiten anzupassen (Williamson 1985, S. 62 f.). Dabei spielt die konkrete Ausgestaltung der Beziehung über informelle Institutionen und organisationsspezifische Regeln eine besondere Rolle. Organisationspsychologische Studien weisen auf die Bedeutung von Verteilungsgerechtigkeit (Auszahlungsgerechtigkeit), Verfahrensgerechtigkeit (prozedurale Gerechtigkeit im Hinblick auf die Regeln, die zu einem Ergebnis

280

281

Die Hold-up-Gefahr tritt ebenfalls auf, wenn unabhängig von spezifischen Investitionen hohe Fluktuationskosten bestehen. In diesem Fall verstärkt sich das Problem sogar, weil sich die Zurückhaltung auch auf Investitionen in marktgängiges Wissen erstreckt (Malcomson 1997, S. 1952). Deshalb können Kündigungsschutzregelungen durchaus produktivitätssteigernd wirken.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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führen) sowie Interaktionsgerechtigkeit in den Arbeitsbeziehungen hin.282 Letztere beschreibt die Art und Weise, wie die Verfahrensregeln innerhalb des Unternehmens tatsächlich mit Leben gefüllt werden - man kann daher von der menschlichen Seite der Verfahrensregeln sprechen. Werden hier Gerechtigkeitsempfindungen verletzt, so richtet sich die Reaktion zumeist gegen die handelnden Personen und nicht gegen die Organisation als Ganze {Cohen-Charash und Spector 2001, S. 281). Die Flexibilität und Offenheit relationaler Verträge kann allerdings zu Spannungen führen, wenn Meinungsunterschiede darüber auftreten, wie Konflikte zu regeln sind. Daher müssen im Vorhinein Schlichtungsmechanismen etabliert werden, um die Gesamtbeziehung auf Dauer zu stützen. Es ist also nötig, eine Partei zu bestimmen, die das Weisungsrecht (residuale Kontrolle) innehaben soll. Damit ist die jeweils andere Partei im Falle vertraglich nicht spezifizierter Situationen an die Anweisungen der Gegenseite gebunden, so daß kostenträchtige Nachverhandlungen verhindert werden können (MVgram und Roberts 1992, S. 330 f.). Da Reputationsmechanismen bei nicht-einklagbaren Abkommen eine große Rolle spielen, ist es sinnvoll, die Macht deijenigen Partei zuzugestehen, die durch nicht-normkonformes Verhalten einen größeren Schaden zu erwarten hat (Milgrom und Roberts 1992, S. 139 f.). In Arbeitsbeziehungen werden dies in der Regel die Unternehmen sein. Ein Vertrauensbruch kann sowohl den Produktionsprozeß stören als auch den Ruf des Unternehmens als guter Arbeitgeber beschädigen und somit das Anwerben von Arbeitskräften erschweren. Einzelne Arbeitnehmer können dagegen durchaus versucht sein, das ihnen entgegengebrachte Vertrauen zu mißbrauchen und anschließend den Arbeitsplatz zu wechseln. Der Arbeitsvertrag etabliert damit ein Autoritätsverhältnis, über das dem Arbeitgeber eine - allerdings recht vage gehaltene - Weisungsbefugnis gegenüber dem Arbeitnehmer zukommt (Simon 1951, S. 293 f.).283 Als Gegenleistung erhalten die Arbeitnehmer ein sicheres Gehalt, über das ebenfalls nicht immer von Neuem verhandelt wird. Für die Analyse des Arbeitsmarktes ist außerdem von Bedeutung, daß die Arbeitnehmer aufgrund ihres spezifischen Wissens ihre Machtposition innerhalb der Arbeitsbeziehungen verbessern. Unternehmen hängen in ihrer Leistungsfähigkeit stark von dem in ihren Beschäftigten gebundenen Humanvermögen ab. Diese Abhängigkeit schlägt sich häufig in der Zahlung von Löhnen nieder, die das markträumende Niveau überschreiten, um auf diese Weise die Abwanderung der Beschäftigten mitsamt ihrem betriebsspezifischen Humankapital zu verhindern. Auf diese Weise erhöhen sich tendenziell die Marktlöhne und treiben einen Keil zwischen Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot. Arbeitslosigkeit kann also entweder entstehen, wenn Arbeitsverhältnisse wegen des Hold-up-Problems gar nicht zustande kommen oder aber weil Lohnsteigerungen die Nachfrage nach Arbeit drücken. Es wurde bereits angedeutet, daß den Unternehmen bei Fixlohnverträgen ein Großteil des Risikos, das sich aus der Möglichkeit des moralischen Fehlverhaltens ihrer Arbeit-

282

Vgl. Lengfeld und Liebig (2003, S. 475 ff.) sowie die Meta-Studie von Cohen-Charash und Spector (2001).

283

Diese Regelung ist als ein Zugeständnis an die unvollständige Voraussicht anzusehen, denn bei vollständigen Verträgen wäre ein Weisungsrecht unnötig.

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nehmer ergibt, aufgebürdet wird. Relationale Verträge bieten eine Möglichkeit, mit dieser Gefahr umzugehen. In den folgenden Abschnitten soll beleuchtet werden, wie eine relationale Arbeitsbeziehung konkret ausgestaltet werden kann, um die kooperativen Kräfte in der Beziehung zwischen Unternehmen und Beschäftigten zu stärken. Dabei müssen die Unternehmen versuchen, geeignete Disziplinierungsmaßnahmen zu kreieren, um das Motivationsproblem im eigenen Sinne zu lösen, ohne sich der Stärken der Arbeitnehmer im Produktionsprozeß zu berauben. 5.2.1. Regelmechanismen und ihre Wirkung Sobald Leistung und Gegenleistung nicht mehr explizit vertraglich festzuhalten sind und damit der formale Sanktionsmechanismus ausfallt, entsteht Spielraum für opportunistisches Verhalten. Das Recht des Arbeitgebers auf eine dem Arbeitsvertrag entsprechende Leistungserbringung ist somit schwer durchsetzbar. Für die Unternehmen stellt sich daher die Frage, wie mit dieser vertraglichen Unvollkommenheit umzugehen ist. Es zeigt sich, daß dieses institutionelle Vakuum von informellen Regeln gefüllt werden kann. Während der Schwerpunkt der Regelmechanismen bei eher homogener Arbeit, einfacher Austauschbarkeit der Arbeitskräfte und anonymen Arbeitsbeziehungen (wie zu Zeiten der Industrialisierung) auf der expliziten Formulierung der Arbeitsverträge und Kontrollen der Arbeitnehmer lag, haben informelle Institutionen durch den Wandel zu einer Wissensgesellschaft erheblich an Bedeutung gewonnen. Es kann daher von einer Umkehr des Gewichtes formaler und informeller Regeln in Beschäftigungsverhältnissen gesprochen werden. In relationalen Vertragsbeziehungen stehen explizite Anreizmechanismen, sich selbst-durchsetzende Bausteine sowie informelle Vereinbarungen nebeneinander, um das Opportunismusproblem zu lösen (Williamson, Wächter und Harris 1975, S. 270). Dies wird auch von Gächter und Falk (2000, S. 1) betont: „Actual human behavior within organizations is most likely influenced by Conventions and social norms, intrinsic motivation, the striving for social approval, but also by the material incentives that are provided by payment schemes and the duration of the relationship."

Die Vielzahl der in der Realität zu beobachtenden Regelmechanismen zeigt sich daher der Komplexität des Gegenstandes angemessen. Allerdings werden die Wirkungen dieses komplexen Regelwerkes bei der Analyse des Arbeitsmarktes häufig ausgeblendet (Regini 2000, S. 14).284 5.2.1.1.

Kontrolle und Vertrauen

In Arbeitsbeziehungen stehen mit Kontrolle und Vertrauen zwei gegensätzliche Anreizmechanismen zur Verfugung, die nur in Grenzen substituierbar sind. Kontrollen wirken direkt beschränkend und müssen durch einen wirksamen Sanktionsmechanismus gestützt werden, während Vertrauen Freiwilligkeit und Kooperationswillen anspricht 284

Die Mißachtung der informellen Institutionen trotz der zunehmenden Bedeutung des kooperativen Elementes in den Arbeitsbeziehungen wird auch von Brandes und Weise (1995) kritisiert.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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(Kirchgässner 2000, S. 186). Ein Vertrauensverhältnis in der Arbeitsbeziehung kann sowohl allgemein als regelgeleitetes kooperatives Klima zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten als auch speziell im Hinblick auf die konkrete Mitarbeiterführung verstanden werden.285 Hier ist an die Wertschätzung der Arbeitsleistung zu denken, die bspw. in Feedback-Gesprächen vermittelt werden kann (Bewley 2004, S. 24 ff.). Voraussetzung fur das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses ist eine dauerhafte Bindung, deren Aufrechterhaltung nicht allein auf harte Anreize zurückzuführen ist. Sie sollte außerdem die Bildung von Reputation im Hinblick auf reziprokes Verhalten zulassen (Kollock 1994, S. 319; Granovetter 1985, S. 490). Vertrauen läßt sich nicht unmittelbar erwerben, sondern entsteht erst in einem längeren Prozeß durch beobachtbares Verhalten, dauerhafte Beziehungen oder glaubwürdige Signale, wie Marsden (1995, S. 76 f.) ausfuhrt: „The biggest obstacle [•••] is the fear that the other party will not reciprocate and will seek to take advantage of the first party's cooperative stance and grasp all the fruits for itself [...]. It is very difficult to achieve mutual cooperation without the presence of trust, which we might define here as a mutual expectation of cooperative behaviour [...]." Es müssen also Ressourcen aufgewendet werden, um Vertrauen in eine Organisation, eine Institution oder eine Person aufzubauen. Gelingt dies, so fördert gegenseitiges Vertrauen die intrinsische Motivation der Beschäftigten, stärkt das Gefühl der Selbstbestimmung und senkt die Gefahr opportunistischen Verhaltens. Marshall (1887/1956, S. 220) bringt die Vorteile eines Vertrauensverhältnisses in den Arbeitsbeziehungen bereits früh auf den Punkt, indem er dessen generelle Effekte in den Vordergrund stellt: „It is nearly as good for either side to know that a fair concession will be made by the other whenever circumstances require it, as to know what that change will be." Hier ist deutlich der Bezug zur Charakterisierung der Arbeitsbeziehung als relationalen Vertrages zu erkennen. Das Vertrauen in das kooperative Verhalten der Gegenseite stellt für beide Parteien ein wichtiges Gut dar, welches als allgemeiner Regelmechanismus in informeller Art und Weise Unsicherheit reduziert, ohne bereits für jedes Problem eine konkrete Lösung parat haben zu müssen. Auf diese Weise werden in vorausschauender Manier Verhandlungs- und damit Transaktionskosten gesenkt, was wiederum mit einer geringeren Notwendigkeit zur Implementierung von Kontrollmechanismen und Kosteneinsparungen einhergeht. 5.2.1.2.

Unternehmenskultur

Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung wird auch davon beeinflußt, welche Absichten die Arbeitnehmer den Unternehmen unterstellen. Signalisiert ein Unternehmen durch das Verhalten in der Arbeitsbeziehung oder auch im Rahmen der allgemeinen Unternehmensstrategie hoch-kompetitives Verhalten, so werden die Beschäftigten die Arbeitsbeziehung ebenfalls vor allem als Marktbeziehung ansehen und auf ihren eige-

285

Ersteres spricht die prozeduralen, zweiteres die interaktionalen Gerechtigkeitsempfindungen an. Werden diese regelmäßig zufriedengestellt, so bildet sich Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Unternehmens und seiner Führungskräfte heraus. Zum Vertrauen in Vertragsbeziehungen siehe ausfuhrlich Ripperger (1998).

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nen Vorteil bedacht sein. Die bisherigen Ausfuhrungen zeigen jedoch, daß die Arbeitsbeziehungen von informellen Regeln profitieren können (Okun 1981, S. 81 ff.). Um auch in größeren Unternehmen einen gemeinsamen Bezugspunkt für Management und Belegschaft zu schaffen und Transparenz in Bezug auf die grundsätzlichen Verhaltensmuster des Unternehmens zu erreichen, kann es sinnvoll sein, in den Aufbau einer Unternehmenskultur zu investieren. Gelingt es auf diese Weise, den Beschäftigten glaubwürdig eine Strategie des Miteinanders zu vermitteln, so kann sich zum beiderseitigen Vorteil ein Klima der Reziprozität entwickeln (Schlicht 2002, S. 5 ff.; Richter und Bindseil 1995, S. 331 f.). Auch Williamson (1985, S. 247) stellt dieses ,Wir-Gefühl' in den Vordergrund: „The firm here will engage in considerable social conditioning to help assure that employees understand and are dedicated to the purposes of the firm, and employees will be provided with considerable job security, which gives them assurance against exploitation. [...] A sense that management and workers are ,in this together' furthers all of those purposes." Die Innenwirkung der Unternehmenskultur besteht darin, eine Reihe allgemeiner Regeln zu beschreiben, die eine Bewertung von Verhaltensweisen innerhalb der Organisation möglich macht, so daß nicht in jedem Fall über grundsätzliche Vorgehensweisen gestritten werden muß. Da es sich bei den Aufwendungen für den Aufbau einer Unternehmenskultur um versunkene Kosten handelt, dienen sie in der Außenwirkung der Glaubwürdigkeit unternehmensspezifischer Normen. Ein Zuwiderhandeln wäre mit einem Reputationsverlust sowohl innerhalb der Arbeitsbeziehung als auch auf dem externen Arbeitsmarkt verbunden - die Investitionen wären verloren. Daher werden Unternehmen die gewählten Prinzipien selbst dann anwenden, wenn es sich nicht als kurzfristig optimal erweist (Kreps 1990, S. 93).286 5.2.1.3.

Identifikation mit dem Unternehmen

Setzen die Unternehmen Vertrauen in die Arbeitnehmer, indem sie ihnen einen relativ großen Freiraum bei der Ausgestaltung ihrer Tätigkeiten zukommen lassen, kann sich als Gegenstück Loyalität mit dem Unternehmen herausbilden {Simon 1991, S. 34 ff.; Fehr und Falk 2002, S. 693).287 Der einzelne Arbeitnehmer identifiziert sich dann mit den Zielen des Gesamtunternehmens und ist bereit, sich unabhängig vom geschriebenen Wort für das Unternehmen zu engagieren, wie Simon (1991, S. 37) ausfuhrt: „Willingness of employees at all levels to assume responsibility for producing results not simply .following the rules' - is generally believed to be a major determinant of organizational success."288

286 287 288

Zum Aufbau einer Unternehmenskultur als reputationsbildende Maßnahme siehe auch Milgrom und Roberts (1992, S. 265). Diese Solidarität kann zudem durch die Zahlung höherer Löhne als Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmenserfolg gestützt werden. Hier werden distributive Gerechtigkeitsnormen angesprochen (Krueger und Summers 1988, S. 261). Auch Akerlof (1984, S. 80) verweist auf die Bedeutung der Loyalität.

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Williamson (1985, S. 262) bezeichnet dies als consummate cooperation: „[...] an affirmative job attitude whereby gaps are filled, initiative is taken, and judgment is exercised in an instrumental way." Derselbe Aspekt findet sich in der Betonung loyalen Verhaltens von Simon (1991) und im Konzept des Organizational Citizenship Behaviors wieder.289 Die Loyalität der Arbeitnehmer kann für das Unternehmen ein wichtiges Gut darstellen. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf die Mitarbeiterfluktuation, die Rendite von Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital und die Kosten, die den Unternehmen durch Bummelei entstehen. Loyale Angestellte werden zudem eher bereit sein, in wirtschaftlich schlechten Zeiten ihren Beitrag zur Gesundung des Unternehmens zu leisten. Das Zugehörigkeitsgefühl zum Unternehmen nimmt nicht nur mit der Höhe der Bezahlung zu, sondern auch mit der Art und Weise, wie man im Unternehmen behandelt wird (Cohen-Charash und Spector 2001, S. 296 ff.). Dabei wird vor allem auf die Einhaltung prozeduraler und interaktionaler Gerechtigkeitsnormen durch die Arbeitgeber geachtet. Hier ist eine negative Korrelation zwischen Abwanderungsabsichten der Arbeitnehmer und den genannten Gerechtigkeitsempfindungen zu konstatieren. Die Beschäftigten begreifen sich als gleichberechtigte Partner in der Arbeitsbeziehung und nicht als Eigentum des Unternehmens. Die Arbeitsmotivation hängt also zu einem gewissen Teil davon ab, wie die Arbeitsbeziehung durch den Arbeitnehmer erfahren wird. In relationalen Beziehungen werden kurzfristige Asymmetrien hingenommen, wenn Vertrauen in einen langfristigen Ausgleich und ein beiderseitig faires Miteinander besteht. 5.2.1.4.

Fazit

Bewley (1998, S. 480) kritisiert die Blindheit neoklassischer Ansätze im Hinblick auf informelle Regeln in den Arbeitsbeziehungen: „What is missing from neoclassical economics is an appropriate theory of the firm as a community, because more than financial incentives are needed to make companies function well." Die Interpretation der Arbeitsbeziehung als relationaler Vertrag beinhaltet diese Anreizmechanismen und untermauert die These tendenziell kooperativer Beziehungen zwischen den Vertragsparteien. Dies drückt sich in der Bereitschaft der Arbeitnehmer aus, dem Unternehmen in bestimmten Fällen durch einen kurzfristigen Verzicht entgegenzukommen, ohne daß dies als ein Akt der Unterordnung oder der Ausbeutung angesehen werden muß. Das Entgegenkommen entspringt vielmehr den aus der Vergangenheit genährten Erwartungen, daß man in der Zukunft für das kooperative Verhalten kompensiert wird. Gerade für relationale Beziehungen stellt die Norm der Reziprozität also einen unverzichtbaren Regelungsmechanismus dar. Doch auch in relationalen Beziehungen wird nicht vollkommen auf harte Anreize verzichtet. Dabei muß jedoch beachtet werden, daß zwischen den Regelmechanismen

289

Letzteres geht auf Smith, Organ und Near (1983) zurück und wird von Konovsky und Pugh (1994, S. 656 ff.) weiterentwickelt.

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Wechselwirkungen bestehen - das Verhalten des Vertragspartners in der einen Transaktion kann Auswirkungen auf andere Transaktionen haben, so daß sich innerhalb des Vertragsgeflechts ein Geben und Nehmen (Geschenkaustausch) herausbildet, bei dem Reputationseffekte eine wichtige Rolle spielen. Welche Anreizmechanismen aus Unternehmenssicht gewählt werden sollten, hängt nicht zuletzt von der Motivationsstruktur der Beschäftigten ab, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen werden soll. Dabei wird die Diskussion aus Abschnitt 2.2.2. wieder aufgenommen. 5.2.2. Extrinsische und intrinsische Arbeitsmotivation In Kapitel 3. wurde bereits herausgearbeitet, daß eine Reihe unterschiedlicher Arbeitsmotivationen nebeneinander bestehen. Da die Berufstätigkeit häufig nicht mehr nur mit Leid und Mühsal verbunden ist, sondern Freude und Selbstbestätigung vermittelt, scheint die Gefahr opportunistischen Verhaltens zunächst ohne Zutun der Unternehmen abgeschwächt zu werden. Schließlich impliziert die intrinsische Arbeitsmotivation eine freiwillige Leistungsbereitschaft der Beschäftigten. Allerdings ist zu beachten, daß intrinsische und extrinsische Motivationslagen weiterhin nebeneinander bestehen, so daß Unternehmen bei der Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung beide Komponenten zu berücksichtigen haben (Fehr und Falk 2002, S. 692). Dieselbe Leistung kann bei geeigneten Leistungsanreizen ebenso vom Beschäftigten A, der Arbeitsleid empfindet, erbracht werden, wie vom Beschäftigten B, der intrinsisch motiviert ist. Der Einsatz des falschen Anreizmechanismus' kann jedoch kontraproduktiv sein. So können harte Anreize einen Rückgang der Produktivität von Typ B auslösen, während die Gewährung von Freiraum beim extrinsisch motivierten Typ A unweigerlich zur Bummelei fuhren wird. Schlicht (2002, S. 3) kommt daher zu dem Schluß: „Applying economic incentives without accounting for the motivational effects could entail ruinous consequences." In der Arbeitsbeziehung überwiegen die positiven Aspekte intrinsischer Motivation. Sie geht beim Arbeitnehmer mit einem höheren Wohlbefinden einher und stärkt dessen Lembereitschaft sowie die Fähigkeit zur Lösung komplexer Probleme. Die Vorzüge intrinsisch motivierter Mitarbeiter treten jedoch selten in Reinform auf, schon weil sich die Eigenmotivation aufgrund der Heterogenität der Tätigkeiten nicht immer auf den gesamten Arbeitsbereich beziehen wird. Daher werden Arbeitnehmer ihre Aufmerksamkeit möglicherweise selektiv auf die von ihnen bevorzugten Tätigkeiten beschränken. 290 Intrinsisch motivierte Arbeitnehmer sind damit zwar in der Regel zufriedener mit ihrer Arbeit, aber nicht in jedem Fall auch produktiver. Da sie Eingriffe durch die Vorgesetzten leicht als Einmischung in ihre Angelegenheiten empfinden, sind sie nur

290

Holmström und Milgrom (1991) leiten einen ähnlichen Effekt in einem formalen Prinzipal-Agenten-Ansatz ab. So kann es in einer ,Multi-tasking-Beziehung', in der nicht jede Tätigkeit vollständig überwacht werden kann, optimal sein, vollständig auf Leistungsanreize zu verzichten, da diese dazu fuhren können, daß die Agenten die Tätigkeiten, für die es keine pekuniären Anreize gibt, vernachlässigen, so daß die Arbeit insgesamt nicht effizient ausgeführt wird. Experimente von Fehr und Schmidt (2004) bestätigen dieses Ergebnis. Sie zeigen zudem, daß das Problem über Bonuszahlungen in unvollständigen Verträgen abgemildert werden kann.

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Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

schwierig zu lenken. Ihre Motivation kann durch externe Eingriffe vollkommen versanden und im Extremfall negativer Reziprozität sogar ins Gegenteil umschlagen (Frey 1997, S. 96 ff.). 5.2.2.1.

Verdrängungseffekt

Die unterschiedlichen Motivationslagen von Arbeitnehmern sollten vor allem dann Beachtung finden, wenn Arbeitsverträge unvollständig sind und Unternehmen nach geeigneten Anreizen suchen, um die Leistung der Beschäftigten in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die PAT tendiert jedoch dazu, differenzierte Motivationslagen zu ignorieren und läuft damit Gefahr, kontraproduktive Ergebnisse abzuleiten.291 Durch einen verstärkten Einsatz extrinsischer Instrumente kann es zu Verdrängungseffekten kommen, so daß die Arbeitnehmer im Endeffekt eine geringere Leistung anbieten.292 Eine zusätzliche Belohnung durch höhere Löhne geht dann mit nicht einkalkulierten, versteckten Kosten einher.293 Dies gilt jedoch hauptsächlich, wenn eine Bezahlung für Tätigkeiten angeboten wird, die bislang nicht entlohnt wurden (Deci 1975, S. 142).294 Hier ist das eigenmotivierte Eintreten für ein gutes Betriebsklima oder die freiwillige Unterstützung von Kollegen zu nennen, die zu Lasten der eigenen Produktivität geht, jedoch die Arbeitsproduktivität des Unternehmens steigert. Bei einer Bezahlung dieser Tätigkeiten wird befurchtet, die Kontrolle über die eigenen Handlungen zu verlieren und manipulierbar zu werden. Dieser Effekt verstärkt sich weiter, wenn das Unternehmen mit der Entlohnung gewisse Vorschriften im Hinblick auf die Leistungserbringung einfuhrt, so daß zusätzlich der Ermessensspielraum des Arbeitnehmers beschränkt wird.295 Diese Effekte lassen sich jedoch nicht generalisieren. Empirische Untersuchungen zur extrinsischen Arbeitsmotivation sprechen dafür, daß es darauf ankommt, wie die Anreize implementiert werden und auf welche Tätigkeiten sie sich beziehen. Leistungsbezogene Löhne versprechen vor allem bei manuellen Tätigkeiten (mit geringer intrinsischer Motivation) und im gehobenen Management Erfolg. Bei ersteren steht das Einkommensmotiv im Vordergrund, während letztere eine leistungsbezogene Entlohnung als Wertschätzung eines hohen Arbeitseinsatzes ansehen {Lane 1991, S. 389 f.).296 Im

291

Kubon-Gilke (1999, S. 47) führt dies darauf zurück, daß in intrinsischer Arbeitsmotivation kein Konfliktpotential liegt, so daß sie als irrelevant für das Anreizproblem angesehen wird.

292

Vgl. Frey (1997, S. 109), der die besondere Bedeutung des Verdrängungseffektes auf dem Arbeitsmarkt hervorhebt.

293

Lepper und Greene (1978) bezeichnen dies als Hidden costs of reward. Siehe auch Lane (1991, Kap. 18).

294

Wenn die Leistung auch nach Absetzen des zusätzlichen Anreizmechanismus' niedrig bleibt, kann dies als Zeichen dafür angesehen werden, daß Präferenzen beeinflußt wurden.

295

Eine Bezahlung solcher Tätigkeiten kann zudem kontraproduktiv sein, weil sie von den Beschäftigten nicht in der Marktsphäre verortet werden, und eine Bezahlung daher als unangemessen empfunden wird.

296

Auf höheren Ebenen ist an eine Erfolgsmotivation (achievement von McClelland (1963/1978) zu denken.

motivation)

im Sinne

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112

mittleren Management überwiegt dagegen das Gefühl, einer Kontrolle unterzogen zu werden {Frey 1997, S. 98). Wollen die Unternehmen das Verhalten der Beschäftigten in eine bestimmte Richtung lenken, müssen die Verdrängungseffekte durch Lohnanreize in Relation zu den Wirkungen anderer Regelmechanismen gesetzt werden {Frey 1986, S. 555 f.). Dabei zeigt sich, daß die Selbstbestimmung durch Kontrollen und Vorschriften (Bürokratie) noch stärker geschwächt wird.297 Dies kann darauf zurückgeführt werden, daß sie eine direktere Beeinflussung des Arbeitnehmers darstellen und stärker in konkrete Arbeitsgänge eingreifen. Wird einer Handlung lediglich ein Preis zugeordnet, so liegt die Abwägung noch immer in der Hand des Akteurs {Frey 1997, S. 24). Zwar gilt dies im Grunde auch bei Vorschriften, allerdings werden formale Regeln oftmals mit einem normativen Anspruch verbunden. In diesem Zusammenhang ist auch auf die negativen Wirkungen von Kontrollmaßnahmen zu verweisen. Sie wirken häufig sehr viel stärker demotivierend als harte Sanktionsandrohungen, weil sie sich im Gegensatz zu Sanktionen nicht nur auf die Regelbrecher beziehen. Kontrollen differenzieren nicht zwischen Mitarbeitern mit unterschiedlichen Motivationsstrukturen und müssen daher typenübergreifend durchgeführt werden.298 Sie betreffen auch die Regelbefolger, die sich dadurch ungerecht behandelt fühlen und ihr persönliches Engagement zurückfahren. Diese Ergebnisse lassen sich im Zusammenhang mit dem Vertrauensbegriff interpretieren. Lohngeschenke dienen als Anreiz für reziprokes Verhalten und stellen einen Vertrauensvorschuß dar. Dagegen beziehen sich verstärkte Kontrollmaßnahmen auf explizite Vertragsinhalte und werden als Ausdruck des Mißtrauens oder als Geringschätzung der bisherigen Leistung angesehen {Rebitzer 1993, S. 1414).299 Vorschriften in Arbeitsverträgen können schließlich so weit getrieben werden, daß eine strikte Regelbefolgung zu einem Zusammenbruch der eigentlichen Tätigkeit führen würde. Im Konfliktfall kann den Arbeitnehmern durch eine solche Regulierungsflut unbeabsichtigt Macht zukommen. Sie erhalten die Möglichkeit, eine durchaus offen zur Schau gestellte Beschränkung der Leistung auf einen Dienst nach Vorschrift vorzunehmen, ohne von Untemehmensseite dafür belangt werden zu können. 5.2.2.2.

Fazit

Auch wenn der Einsatz von Lohnerhöhungen theoretisch demotivierend wirken kann, stellen sie im Vergleich zu Kontrollen und Vorschriften noch immer den am we-

297 298

299

Die Kontrolle der Agenten verursacht außerdem Kosten. Experimentelle Studien belegen, daß ein Großteil der Effizienzgewinne durch diese Überwachungskosten wieder aufgezehrt werden {Erlei 2002, S. 9). Der negative Beigeschmack von Kontrollen muß dahingehend abgeschwächt werden, daß sie nicht nur der Vermeidung opportunistischen Verhaltens dienen, sondern auch helfen sollen, unbeabsichtigt auftretende Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Entscheidend für die Reaktion der Arbeitnehmer wird die Intention sein, die hinter einem Kontrollsystem vermutet wird. Hier sind Kommunikationsfähigkeit, Transparenz und Glaubwürdigkeit der Unternehmen von Bedeutung. Diese Aussagen werden durch Interviewstudien gestützt (Agell und Lundborg 2003, S. 25 f.).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

113

nigsten schädlichen Mechanismus dar. Da in den meisten Fällen noch immer Zeitlöhne gezahlt werden, die sich auf die Gesamtleistung des Arbeitnehmers beziehen, erscheint mir der negative Effekt auf die Leistungsbereitschaft gering zu sein. Eine Gehaltserhöhung dürfte in den meisten Fällen als Zeichen der Wertschätzung und damit als motivationsfordernd angesehen werden.300 Es ist durchaus von gesamtwirtschaftlichem Bedeutung, welche Motivationslagen vorliegen, und ob diese von den Unternehmen richtig erkannt werden. Während es sich bei intrinsischer Motivation in einem gewissen Ausmaß um eine freiwillige Leistungserbringung handelt, entstehen bei der extrinsischen Motivation Kosten {Frey 1997, S. 106 f.). Diese erhöhen die Arbeitskosten des einzelnen Unternehmens und senken auf der Marktebene tendenziell die Nachfrage nach Arbeit. Daher wird die intrinsische Motivation besonders positive Effekte mit sich bringen, wenn Tätigkeiten nur schwierig und unter hohen Kosten zu überwachen sind. 5.2.3. Duale Arbeitsmarkttheorie In der bisherigen Analyse der Arbeitsbeziehungen wurde deutlich, daß die effiziente Form des Arbeitsvertrages unter anderem von der auszuübenden Tätigkeit abhängt. Dabei ist vor allem zu beachten, inwiefern asymmetrische Information und spezifische Qualifikationen eine Rolle spielen. Relationale Verträge und Spotmärkte sind die beiden Extremfalle, an denen sich die Unterschiede beim Einsatz des Faktors Arbeit im Produktionsprozeß verdeutlichen lassen. Die duale Arbeitsmarkttheorie bildet diese beiden Fälle ab und trägt der Heterogenität der Arbeit damit in ihrer einfachsten Form Rechnung, indem sie von einem zweigeteilten Arbeitsmarkt ausgeht.30' In den Arbeitsbereichen, in denen keine besonderen Qualifikationen nötig und die Arbeitskräfte annähernd homogen sind, ist es möglich, die Arbeitnehmer auf .normalen Märkten zu beschaffen', ohne daß die Unternehmen Effizienzeinbußen zu befurchten haben. Die Löhne behalten ihre Koordinationsfunktion und reagieren relativ flexibel auf Veränderungen in der Marktumgebung. Dagegen wird bei anspruchsvollen Tätigkeiten versucht, geeignete Arbeitskräfte längerfristig an das Unternehmen zu binden. Es handelt sich dann um dauerhafte und nicht-anonyme Beziehungen, die durch relationale Verträge geregelt werden. Auf diesem Wege kann es zu einer Aufspaltung des Arbeitsmarktes in eher langfristig ausgerichtete, auf Reziprozitätsnormen fußende (primäre) Arbeitsverhältnisse und in eher flexible, auf expliziten Anreizen beruhende (sekundäre) Arbeitsbeziehungen kommen.302 Beim primären Sektor handelt es sich um gut bezahlte Arbeitsplätze, bei denen eine Weiterqualifikation bedeutsam ist, die eine hohe Arbeitsplatzsicherheit besitzen, gute Arbeitsbedingungen mit geregelten Aufstiegsmöglichkei-

300 Der Motivationseffekt ist dann sowohl extrinsisch als auch intrinsisch. 301 Zur dualen Arbeitsmarkttheorie siehe Doeringer und Piore (1971, S. 165 ff.) sowie Lindbeck und Snower (1988c, S. 246 ff.) aus Sicht der Insider-Outsider-Theorie. 302 Regini (2000, S. 21) fuhrt den japanischen Arbeitsmarkt als Beispiel an: „The Japanese way has long been high functional and temporalflexibilityfor a core group of permanent employees and extreme numerical and wage flexibility for the large periphery of temporary, contingent jobs."

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ten bieten und eine geringe Fluktuation aufweisen. Im sekundären Sektor befinden sich dementsprechend die schlechter bezahlten Arbeitsplätze mit geringen Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens, die zudem starken Disziplinierungsmechanismen unterworfen sind und eine hohe Fluktuation aufweisen (Ramstad 1993, S. 201). Durch die Segmentierung des Arbeitsmarktes läßt sich eine gewisse Such- oder Wartearbeitslosigkeit erklären. Diese entsteht, weil Arbeitnehmer, die bereits im primären Sektor beschäftigt waren, lieber auf einen neuen Arbeitsplatz in diesem Segment warten, als zum Gleichgewichtslohn im sekundären Bereich anzuheuern (Krueger und Summers 1988, S. 281; Katz 1986, S. 235 und S. 243).303 Dies gilt vor allem, wenn eine vorübergehende Beschäftigung im sekundären Sektor von den Unternehmen im primären Bereich als negatives Signal aufgefaßt wird (Katz 1986, S. 243). Ein solches Stigma kann dadurch hervorgerufen werden, daß durch die Marktnähe im sekundären Sektor eine Instabilität der Arbeitsbeziehung entsteht, die das Verhalten der Arbeitnehmer prägen kann. Im primären Sektor sind dagegen stabile Bindungen und die entsprechenden Verhaltensweisen gefragt, so daß Arbeitnehmern aus dem sekundären Sektor unerwünschte Eigenschaften zugeschrieben werden (Rebitzer 1993, S. 1414). 5.2.4. Fazit Vielfach wird von einer grundsätzlichen Unterlegenheit der Beschäftigten in der Arbeitsbeziehung ausgegangen. So konstatiert Max Weber (1964, S. 561 f.): „Das formale Recht eines Arbeiters, einen Arbeitsvertrag jeden beliebigen Inhalts mit jedem beliebigen Unternehmer einzugehen, bedeutet für den Arbeitsuchenden praktisch nicht die mindeste Freiheit [...]. Sondern mindestens zunächst folgt daraus lediglich die Möglichkeit für den auf dem Markt Mächtigeren, in diesem Falle normalerweise dem Unternehmen, diese Bedingungen nach seinem Ermessen festzusetzen [...]."

Nun liegt die Einschätzung Max Webers jedoch einige Zeit zurück. Zwar ist eine gewisse Machtstellung der Unternehmen auch in der heutigen Arbeitswelt nicht zu leugnen, aufgrund der Komplexität der Aufgaben, der Dauerhaftigkeit von Arbeitsbeziehungen und der Unvollständigkeit von Arbeitsverträgen ist die Gefahr der Ausnutzung dieser Marktmacht jedoch deutlich geringer geworden. Dies wird durch den Williamsonschen Begriff der fundamentalen Transformation anschaulich. Krüsselberg (1985, S. 26) schlußfolgert daher: „Ernsthafte Fehlurteile über die Funktionsweise müssen somit anfallen, wenn Interpreten von Arbeitsmärkten die oft gebrauchte Anonymität solcher Märkte verwenden. Sie bewirkt nur, daß Makro-Blindheit und mechanistische Vorurteile unvermeidlich den Blick auf die Variabilität der Entscheidungsgründe wirtschaftlichen Handelns verstellen."

Hodgson (1999) geht sogar so weit, daß er aufgrund der Veränderungen der Produktionsstrukturen den Abschied vom kapitalistischen Wirtschaftssystem in der bisherigen

303

Hier verschwimmt die Grenze zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit: Die Betroffenen können zwar im primären Sektor als unfreiwillig arbeitslos gelten, würden jedoch im sekundären Sektor problemlos eine Beschäftigung finden, was auf Freiwilligkeit hindeutet (Akerlof und Yellen 1986, S. 10 f.). Dieser Sachverhalt spiegelt die wirtschaftspolitische Debatte über Zumutbarkeitskriterien bei der Aufnahme von Arbeit wider.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

115

Form prognostiziert. Die zunehmende Unvollkommenheit der Arbeitsverträge führt seiner Ansicht nach dazu, daß die Arbeitnehmer in einem technischen Sinne als selbstbeschäftigt anzusehen seien (Hodgsort 1999, S. 167 ff.).304 Auch wenn Hodgson im Ansatz, nämlich der Veränderung des Charakters der Arbeitsbeziehungen hin zu einem System, in dem die Beschäftigten eher Partner als reine Weisungsempfänger der Kapitaleigner sind, zugestimmt werden kann, so gilt dies nicht für die von ihm gezogenen Konsequenzen. In den Arbeitnehmern sind noch immer abhängig Beschäftigte zu sehen. Dies ist zunächst der Tatsache geschuldet, daß sie ihr spezifisches Wissen oftmals erst innerhalb eines Unternehmens erwerben - das Arbeitsverhältnis schafft also erst die Voraussetzung für ihre (vermeintliche) Eigenständigkeit. Wichtiger erscheint jedoch die Tatsache, daß die Arbeitnehmer ohne das in den Unternehmen gebundene Kapital kaum die Möglichkeit hätten, ihre Fähigkeiten in ein am Markt zu verwertendes Gut umzuwandeln. In den Arbeitsbeziehungen nimmt demnach die Bedeutung der Faktoren, die die Beschäftigten mental kontrollieren, gegenüber denen, über die sie lediglich eine physische Kontrolle ausüben, zu. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie damit in ihrer Leistungserstellung und deren Verwertung am Markt von den Kapitalbesitzern unabhängig werden (Bell und Henry 2001, S. 337 f.).305 Im Gegensatz zur Preistheorie werden Abweichungen von effizienten Ergebnissen im Rahmen der Vertragstheorie nicht in erster Linie auf die Marktstruktur zurückgeführt, sondern auf die Existenz von Transaktionskosten. Als Lösung ist daher auch nicht immer eine Stärkung des Wettbewerbs angeraten - es muß vielmehr gefragt werden, welches institutionelle Arrangement die betrachtete Friktion am ehesten beseitigen kann.306 Extern durchsetzbare Verträge sind nicht in der Lage, jede Art von Unsicherheit so weit zu reduzieren, daß ein effizientes Ergebnis erreicht wird. Die Gründe hierfür sind darin zu sehen, daß sich die genauen Vertragsinhalte kaum im voraus fixieren lassen. Hinzu kommt, daß die Einhaltung des Vertrages von außen oftmals nicht ausreichend zu beobachten ist. Scheitert eine vorzeitige Absicherung des Tausches über explizite Verträge, so entsteht Raum für die Wirkung informeller Institutionen. Hier sind Reziprozitäts- und Gerechtigkeitsnormen als implizite Vertragsmechanismen zu nennen, aber auch die intrinsische Motivation, die eine freiwillige Leistungsbereitschaft beinhaltet. In wiederholten Interaktionen können sich weiterhin Mechanismen, die auf Reputation, Vertrauen und Loyalität aufbauen, herausbilden. Die Unternehmen sind also auf eine Mischung aus harten Anreizen und der freiwilligen Kooperationsbereitschaft ihrer Arbeitnehmer angewiesen, wenn sie im Wettbewerb erfolgreich sein wollen. Die Unvollkommenheit von Arbeitsverträgen muß jedoch nicht generell als nachteilig angesehen werden. Sie besitzt vielmehr einige Vorteile. So lassen die Eigenschaften moderner Produktionsprozesse das Beharren auf der vollständigen Verfügungsgewalt

304 Zu einer ausführlichen Kritik an Hodgson siehe Bell und Henry (2001). 305 Zudem fehlt den Arbeitnehmern in der Regel das unternehmerische Potential, um wirklich als eigenständig gelten zu können. 306 Richter und Furubotn (1996, S. 161 f.) nennen als Maßnahmen zur Absenkung der Transaktionskosten organisatorische Verbesserungen, geeignete Anreizsysteme, Maßnahmen zur Risikominderung und Vertrauensstärkung.

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der Arbeitgeber über ihre Beschäftigten als unsinnig erscheinen. Hadfield (1990, S. 927) bemerkt in diesem Zusammenhang: „Oft sind Verträge notwendigerweise und absichtlich unvollständig, weil der wechselseitige Wunsch nach flexiblen, aber begrenzten Reaktionen auf ungewisse zukünftige Umstände Umfang und Exaktheit überprüfbarer Bedingungen beschränkt. Außerdem sind unvollständige Verträge häufig fester Bestandteil einer fortdauernden Beziehung. Die Vertragspartner sind einander nicht fremd; ihre Zusammenarbeit erfolgt zu einem guten Teil .außerhalb des Vertrages' und wird nicht durch bekannt gemachte Bedingungen, deren Erfüllung ein Gericht erzwingen könnte, vermittelt, sondern durch ein spezifisches Mittelding zwischen Kooperation und Zwang, Kommunikation und Strategie."

Abgesehen von der prinzipiellen Unmöglichkeit der Aufstellung vollständiger Verträge, erscheint es also zweifelhaft, ob es für die Unternehmen in einer dynamischen Welt vorteilhaft ist, ihren Beschäftigten jeden Schritt vorzuschreiben. Eine gewisse interne oder funktionale Flexibilität der Arbeitnehmer ist auch aus Unternehmenssicht unerläßlich, da ansonsten auf das dezentrale Wissen sowie auf die Kreativität der Beschäftigten und damit auf eine flexible Anpassung an veränderte Umstände verzichtet werden müßte (Sesselmeier 1999, S. 109). Zudem weist die Unvollständigkeit von Verträgen im Hinblick auf die intrinsische Motivation der Beschäftigten einen weiteren Vorteil auf, weil die notwendige Flexibilität der Arbeitnehmer gleichbedeutend mit einer gewissen Entscheidungsfreiheit ist.308 Es wird Verantwortung auf die Arbeitnehmer übertragen, was als Vertrauensbeweis gilt und somit motivierend wirkt (Zulehner 1993, S. 143).309 Aufgrund der vielfältigen Regelmechanismen sowie deren Interdependenzen können in relationalen Beziehungen keine verläßlichen Aussagen über die Effizienz der Vertragsstruktur getroffen werden. Solange das Ergebnis zufriedenstellend ist, wird man bemüht sein, die entstandene Balance aufrechtzuerhalten. Man kann also auch hier von satisfizierendem Verhalten sprechen. An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, daß die volkswirtschaftliche Allokationseffizienz zu einem Großteil dadurch bestimmt wird, wie der Produktionsprozeß innerhalb der Unternehmen ausgestaltet ist. So kann das Produktionsergebnis bei gleicher Produktionstechnik und identischem (quantitativem) Arbeits- und Kapitaleinsatz von Unternehmen zu Unternehmen beträchtlich variieren. Als Gründe für solche X-Ineffizienzen führt Leibenstein (1966/1978) unter anderem die Unvollkommenheit von Arbeitsverträgen sowie motivationsbedingte Einflüsse an.310 Er

307

Zitiert in Richter und Furubotn (1996, S. 174 f.).

308

Dieser Freiraum verstärkt die Identifikation mit dem Beruf und den Zielen des Unternehmens. Im Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie von 1993 (Noelle-Neumann und Köcher 1993, S. 843) geben insgesamt 76 Prozent der Befragten an, am Arbeitsplatz eine gewisse Entscheidungsfreiheit zu besitzen (17 Prozent sehr viel, 33 Prozent ziemlich viel und 26 Prozent auf mittlerem Niveau; Stand 1990, alte Bundesländer).

309

Lane (1991, S. 198) stellt fest: „There is evidence that the exercise of discretion on the job, which is not so much a right as a requirement of complex tasks, has more substantial effect on self-esteem than any exercise of familiar political rights ever had."

310

Vgl. Leibenstein (1966/1978, S. 344 ff.), der empirische Untersuchungen präsentiert, um zu belegen, daß diese Effekte weitaus bedeutender sind als die Ineffizienzen, die sich aus einer unvollkommenen Marktstruktur ergeben.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

117

weist damit bereits auf wichtige Aspekte hin, die bei der Erklärung von Arbeitslosigkeit - vor allem im Rahmen der Effizienzlohntheorie - wieder auftauchen werden. Bevor die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung mit Blick auf die Auswirkungen auf den Gesamtarbeitsmarkt untersucht wird, sind einige Gesichtspunkte zu diskutieren, die sich ebenfalls aus der Unvollständigkeit der Arbeitsverträge ergeben und zur Arbeitslosigkeit beitragen können - sie lassen sich unter dem Schlagwort der Fluktuationskosten zusammenfassen.

5.3.

Heterogenität der Arbeit und Fluktuationskosten

Sowohl die Insider-Outsider-Theorie (IOT) als auch einzelne Varianten der Effizienzlohntheorie (ELT) bauen auf der Existenz von Fluktuationskosten auf - also der Kosten, die den Unternehmen beim Austausch eines Beschäftigten durch einen Arbeitslosen entstehen. In beiden Fällen ergibt sich aufgrund der Fluktuationskosten ein Lohnniveau, das oberhalb des markträumenden Lohnsatzes liegt, so daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit erklärt werden kann. Unterschiede bestehen jedoch in der Art und Weise, wie das hohe Lohnniveau zustande kommt. Während die Unternehmen in der ELT aus ökonomischem Kalkül heraus höhere Löhne zahlen, um die Fluktuationskosten gering zu halten 3 ", sind es in der IOT die Beschäftigten, die die Existenz von Fluktuationskosten als Druckmittel in den Lohnverhandlungen einsetzen, um einen höheren Lohn zu erzielen. Da die IOT eine etwas breitere Klassifizierung der Fluktuationskosten vornimmt, wird sie als Ausgangspunkt für die folgende Analyse gewählt. Grundsätzlich kann eine Unterscheidung in produktions- und rentenbezogene Kosten vorgenommen werden (Lindbeck und Snower 2001, S. 167). Erstere werden sowohl von der IOT als auch von der ELT diskutiert, während die rentenbezogenen Fluktuationskosten eine Spezialität der IOT darstellen (Abbildung 6). Die produktionsbezogenen Fluktuationskosten treten unabhängig vom Verhalten der Akteure auf und sind der nachgefragten Arbeitsqualität, den Transaktionskosten des Arbeitnehmertausches sowie der verwendeten Produktionstechnologie geschuldet. Verfolgen die Insider hingegen Strategien, um die Fluktuationskosten künstlich zu erhöhen, so spricht man von rentenbezogenen Fluktuationskosten. Dabei ist von Bedeutung, daß die Insider die Möglichkeit haben, Einfluß auf die Produktivität der neuen Beschäftigten zu nehmen. In ihrer harmloseren Variante wird die Kooperation mit den Neuen verweigert, es ist aber auch denkbar, daß sich die Beschäftigten feindselig gegenüber neuen Mitarbeitern verhalten. Dieses Verhalten wird in der Literatur als Harassment bezeichnet, was soviel wie .Belästigung' oder gar .fortwährendes Quälen' bedeutet. Die genauen Ausprägungen der Fluktuationskosten und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt werden in den folgenden Abschnitten eingehend beleuchtet.

311

Der höhere Lohnsatz ist effizient, da er die Lohnstückkosten unter Berücksichtigung der Fluktuationskosten minimiert. Beiden Ansätzen ist die plausible Annahme einer negativen Beziehung zwischen Lohnhöhe und der Bereitschaft, den Arbeitsplatz zu wechseln, gemein.

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118

Abbildung 6: Fluktuationskostenarten

IOT

Produktionsbezogene Fluktuationskosten

Asymmetrische Information (ex ante) Spezifisches Wissen (ex post)

Fluktuationskosten

Rentenbezogene Fluktuationskosten

Kooperationsverweigerung Harassment (Belästigung)

5.3.1. Fluktuationskosten in der Insider-Outsider-Theorie Die IOT fußt in erster Linie auf den zahlreichen Arbeiten von Lindbeck und Snower sowie auf einem Beitrag von Solow (1985).312 Sie stellt eine Anwendung des allgemeineren Konzeptes der Öffnung und Schließung von Systemen dar (Raschke 1990, S. 39 ff.).313 Dabei versuchen Gruppenmitglieder, Außenstehende dauerhaft von der Teilnahme auszuschließen, diese zu beschränken oder an Bedingungen zu knüpfen. Dies geschieht aus dem Interesse an der Monopolisierung von ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Chancen. Die Vielfalt von Schließungsstrategien kann die Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse in einer Gesellschaft erklären. Auf dem Arbeitsmarkt besteht das Ziel der Schließungsmechanismen in der langfristigen Sicherung und kontinuierlichen Steigerung des Einkommens der Arbeitsplatzbesitzer. In der IOT wird grundsätzlich zwischen Insidern (den bereits Beschäftigten, firmenspezifisch voll ausgebildeten Arbeitnehmern), den Entrants (den neu eingestellten Beschäftigten, die sich noch in der Einarbeitungsphase befinden) und den Outsidern (den Arbeitslosen ohne unternehmensspezifisches Wissen) unterschieden. Dabei sind vor allem die Produktivitätsdifferentiale zwischen den Gruppen von Bedeutung. Die Insider verfugen aufgrund ihres Wissens über die höchste Produktivität und besitzen daher einen gewissen Wert für die Unternehmen. Bei einem Austausch eines Insiders durch einen Entrant oder einen Outsider entsteht dem Unternehmen daher eine Produktivitätseinbuße.

312 313

Die grundlegenden Aufsätze sind in Lindbeck und Snower (1988) gesammelt. Der in Abschnitt 6.2. behandelte Kollektivverhandlungsansatz geht auf Blanchard und Summers (1986) zurück. Das Begriffspaar wird von Max Weber (1964, S. 31 ff.) eingeführt.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

119

Entlassene Insider verlieren mit der Zeit ihren Status und werden zu Outsidern. Die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Gruppen hängt teilweise von formalen Regeln (Kündigungsschutz) ab, variiert jedoch auch von Unternehmen zu Unternehmen (Einarbeitungszeit, Ausmaß des spezifischen Wissens) sowie von Arbeitnehmer zu Arbeitnehmer (kognitive Aspekte). Je schneller der Übergang vom Outsider zum Insider und je schneller der Verlust des Insiderstatus' vonstatten geht, desto geringer wird der Einfluß der Outsider auf die Lohnhöhe sein.314 Im umgekehrten Fall werden die externen Arbeitsmarktbedingungen eine größere Rolle spielen. In den folgenden Abschnitten soll skizziert werden, wie die Insider ihre Wettbewerbsvorteile in der Arbeitsbeziehung nutzen, um ihre Löhne zu erhöhen, und wie hieraus wiederum unfreiwillige Arbeitslosigkeit zu erklären ist. Es wird also das Zusammenspiel der internen und externen Arbeitsmärkte betrachtet, wobei die Besonderheiten der Arbeitsbeziehung im Vordergrund stehen. 5.3.1.1.

Produktionsbezogene

Fluktuationskosten

Unter den produktionsbezogenen Fluktuationskosten sollen zunächst alle Kosten verstanden werden, die entstehen, wenn Arbeitnehmer in ein Unternehmen eintreten oder es verlassen. Hier ist zunächst an die direkten Einstellungs- und Entlassungskosten zu denken. Informationsasymmetrien fuhren bereits vor Vertragsabschluß zu der in Abschnitt 4.3. diskutierten Qualitätsunsicherheit in Bezug auf die Arbeitsanbieter. Diese ergibt sich aus der Heterogenität der Arbeit, die auf Humankapitalunterschiede zurückzuführen ist (Sesselmeier 1999, S. 115). Dabei ist ein weiter Humankapitalbegriff zugrunde zu legen. Relevant für die Produktivität eines Arbeitnehmers sind sowohl die Schul- und Berufsausbildung sowie die Berufserfahrung als auch Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, die Fähigkeit zur Teamarbeit sowie das Talent, sich schnell mit neuen Sachverhalten vertraut zu machen und im Produktionsprozeß dazuzulernen. Weiterhin besteht Unsicherheit über die Motivationsstruktur der Bewerber. Gehen Unternehmen davon aus, daß sich sowohl eigennutzorientierte als auch reziprok agierende Arbeitsanbieter bewerben, werden sie bemüht sein, letztere einzustellen. Aus dem bereits angesprochenen Erfahrungsgutcharakter der Arbeit ergibt sich ein Wettbewerbs vorteil der Insider gegenüber den Outsidern auf dem Arbeitsmarkt. Im Verlauf der Arbeitsbeziehung werden Erfahrungen mit dem Verhalten der Insider gemacht, so daß Qualitätsunsicherheit abgebaut werden kann. Bei Neueinstellungen werden dagegen Auswahlprozesse nötig (Ausschreibung, Bewerbungsprozeß, Vertragsverhandlungen und -abschluß). Dabei können die hier entstehenden Fluktuationskosten in gewissem Maße vom Unternehmen beeinflußt werden. Nach der Einstellung müssen die neuen Arbeitnehmer in der Regel mit unternehmensspezifischem Wissen bekannt gemacht werden, so daß die Entrants in der Einarbeitungszeit eine geringere Produktivität aufweisen als die etablierten Beschäftigten. Durch 314

Lindbeck und Snower (1988c, S. 255 f.) sprechen von Mitgliedsrechten (insider membership rules). In der Realität sind die Übergänge zwischen Insidern, Entrants und Outsidern fließend. Auch bestehen innerhalb der Gruppen Abstufungen bei der Humankapitalausstattung. Bei den Outsidern ist dies insbesondere im Hinblick auf die Langzeitarbeitslosen der Fall (Lindbeck und Snower 1988a, S. 5).

120

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spezielle Qualifizierungsprogramme entstehen ebenso Kosten der Einarbeitung wie durch die Notwendigkeit, daß Mitarbeiter mit dem Anlernen der Neuen beschäftigt sind und nicht ihrer eigentlichen Tätigkeit nachgehen können (Opportunitätskosten). Die aus der Arbeitsbeziehung entstehenden Entlassungskosten - hier sind die Vertragsauflösungskosten und die Zeit, bis eine Stelle neu besetzt werden kann, zu nennen - sind eher als gering einzustufen. Ihre in der Praxis große Bedeutung läßt sich hauptsächlich auf rentenbezogene Strategien der Insider auf kollektiver Ebene zurückfuhren, die sich in formalen Institutionen zum Bestandsschutz niederschlagen (Kündigungsschutz, Sozialpläne, Abfindungsregelungen).315 Sie dienen damit Verteilungsinteressen, auch wenn sie häufig mit dem Verweis auf ihre Effizienz oder auf Gerechtigkeitsnormen gerechtfertigt werden. Grundsätzlich sind die produktionsbezogenen Fluktuationskosten aber auf allen Arbeitsmärkten in entwickelten Volkswirtschaften anzutreffen und nicht von der Existenz einer kollektiven Interessenvertretung abhängig.316 Den Unternehmen ist es also selbst bei Abwesenheit institutioneller Hindernisse nicht möglich, einen Beschäftigten kostenlos durch einen Arbeitslosen zu ersetzen. Erkennen die Beschäftigten die Bedeutung der Fluktuationskosten, so werden sie versuchen, diese in höhere Löhne umzusetzen. Die Insider verfolgen damit die Maximierung des eigenen Einkommens unter der Nebenbedingung der Arbeitsplatzsicherung. Sind sie sich über die Höhe der produktionsbezogenen Fluktuationskosten im klaren, werden sie Löhne fordern und erhalten, die der Grenzproduktivität der Outsider zuzüglich der Fluktuationskosten entsprechen.317 Bei ihren Lohnforderungen müssen sie außerdem die absolute Profitabilitätsrestriktion beachten: Damit ihre Beschäftigung für das Unternehmen weiterhin lohnend ist, darf der Lohn nicht größer sein als das Wertgrenzprodukt zuzüglich der Grenzentlassungskosten (Lindbeck und Snower 1988a, S. 5 f.).318 Unter der Annahme, daß die bei einem Arbeitnehmertausch anfallenden Fluktuationskosten durch den Arbeitgeber getragen werden, können die Insider also ihren Wettbewerbsvorteil gegenüber den Outsidern nutzen und einen Lohn oberhalb des markträumenden Lohnsatzes erzielen.319 Es entsteht unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die nicht durch eine Lohnunterbietung von Seiten der Outsider abgebaut werden kann (Katz 1986, S. 247).320

315 316

317 318 319 320

Siehe hierzu Kapitel 6.2.2. Hierin ist ein gutes Beispiel dafür zu sehen, daß formale Institutionen gezielt eingesetzt werden, um die Transaktionskosten der Wettbewerber zu erhöhen. Es ist ein häufig auftretendes Mißverständnis, die IOT lediglich als eine Gewerkschaftstheorie zu behandeln. Die IOT dient sowohl der Analyse stark institutionalisierter als auch eher wettbewerblich orientierter Märkte (Lindbeck und Snower 1988a, S. 9 f.; Blanchard und Summers 1986, S. 43). Dann wird die sogenannte relative Profitabilitätsrestriktion eingehalten. Damit hat auch die Situation auf dem externen Arbeitsmarkt Einfluß auf das Verhalten der Insider. Der Lohn, zu dem die Outsider zu arbeiten bereit sind, begrenzt das Lohnerhöhungspotential der Insider. In einer dynamischen Betrachtung muß beachtet werden, daß sich die Fluktuationskosten auf den erwarteten Beschäftigungszeitraum verteilen. Dabei ist die unfreiwillige Arbeitslosigkeit als Nebeneffekt der rationalen Einkommensmaximierung der Insider anzusehen.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

121

Im Allgemeinen läßt sich sagen, daß die Macht der Insider mit der Höhe der Fluktuationskosten zunimmt. Geringe Fluktuationskosten können als Zeichen für eine relativ homogene Arbeiterschaft oder relativ einfache Tätigkeiten gelten. Sind die Fluktuationskosten gleich Null, so handelt es sich bei Insidern und Outsidern um perfekte Substitute, und man kann in dieser Hinsicht von einem vollkommenen Markt sprechen.321 Zum Gleichgewichtslohn können problemlos neue Arbeitskräfte gefunden werden (Lindbeck und Snower 2002, S. 8 f.). Selbst unter dieser unrealistischen Homogenitätsannahme werden sich Insider und Outsider jedoch durch betriebsspezifisches Wissen unterscheiden, so daß auch in diesem Fall keine vollkommene Substituierbarkeit besteht. Die Arbeitsabläufe sind in der Regel nicht vollständig isoliert, sondern nur in Zusammenarbeit mit anderen Beschäftigten zu bewältigen (Doeringer und Piore 1971, S. 15 f.). Dies gilt selbst für hochstandardisierte Arbeitsabläufe, da auch hier spezifische Kenntnisse der eingesetzten Maschinen, der Materialien sowie der Verknüpfung der Arbeitsabläufe mit den vor- und nachgelagerten Stufen vonnöten sind. Zu diesen Anforderungen gesellt sich das Wissen um die formalen und informellen Regeln, die im Produktionsprozeß zu beachten sind. Man kann daher verschiedene Formen der Idiosynkrasie unterscheiden: ausrüstungsbezogene, prozeßbezogene sowie solche, die sich auf die speziellen informellen Abläufe und die allgemeinen Kommunikationskanäle in der Arbeitsorganisation beziehen (Williamson, Wächter und Harris 1975, S. 256 f.). Um diese Fähigkeiten zu erlangen, ist unternehmensspezifisches Wissen nötig, das nur während der Arbeit selbst erworben werden kann. Die Arbeitserfahrung stellt also einen Produktivitätsfaktor dar, der die Insider von den Outsidern unterscheidet. Aus den vorangegangenen Überlegungen wird die Bedeutung interner Arbeitsmärkte verständlich. Das Unternehmen wird zum externen Arbeitsmarkt vor allem bei Einstiegspositionen offen sein, während höhere Hierarchieebenen vornehmlich intern besetzt werden. Damit kann dem Erfahrungsgutcharakter der Arbeit entsprochen werden, und es ergibt sich außerdem eine zusätzliche Möglichkeit zur Mitarbeitermotivation (Williamson, Wächter und Harris 1975, S. 273 f.). Wie im folgenden Abschnitt zu sehen sein wird, entstehen aus der Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit den Insidern weitere Möglichkeiten zur Erhöhung der Fluktuationskosten - hierbei handelt es sich dann um ihre rentenbezogene Variante. 5.3.1.2.

Rentenbezogene Fluktuationskosten

Die produktionsbezogenen Fluktuationskosten ergeben sich nahezu zwangsläufig aus dem Produktionsprozeß und stellen in den meisten Fällen Transaktionskosten dar, die den Insidern eine gewisse Verhandlungsmacht gegenüber den Unternehmen einräumen. Dagegen handelt es sich bei den rentenbezogenen Fluktuationskosten um ressourcenverschwendende Umverteilungsmaßnahmen.322

321 322

Die Höhe der Fluktuationskosten ist also als Anhaltspunkt dafür zu sehen, ob der Arbeitsmarkt als Auktions- oder als Kontraktmarkt funktioniert (Buttler 1987, S. 211). Hier läßt sich ein Bogen zur Markttheorie schlagen - die produktionsbezogenen Fluktuationskosten können als natürliche und die rentenbezogenen Fluktuationskosten als strategische Markteintrittsbarrieren bezeichnet werden.

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In modernen Arbeitsbeziehungen mit ihren komplexen Abläufen können die Beschäftigten ihre Produktivität durch kooperatives Verhalten wechselseitig erhöhen {Lindbeck und Snower 1988b, S. 88).323 Im Falle der rentenbezogenen Fluktuationskosten machen sich die Insider diese Interdependenz zunutze, indem sie den Entrants die Kooperation verweigern und die Zusammenarbeit auf die Gruppe der Insider beschränken (Lindbeck und Snower 1986/1988, S. 79 ff.; Lindbeck und Snower 1988b). Auf diese Weise lassen sich die schon bestehenden Produktivitätsunterschiede weiter erhöhen, so daß es den Insidern gelingt, die Löhne noch stärker über den Reservationslohn der Outsider hinaus zu erhöhen, ohne daß das Unternehmen einen Austausch der Beschäftigten vornehmen kann {Lindbeck und Snower 1985/1988, S. 46). Damit kann die Solidarität zwischen den Beschäftigten die Diskriminierung der Arbeitslosen erklären. Eine noch weitergehende Strategie besteht im Harassment. In diesem Fall verweigern die Insider neuen Beschäftigten gegenüber nicht nur die Zusammenarbeit, sondern machen ihnen die Arbeit so unangenehm wie möglich {Lindbeck und Snower (1988b, S. 88). In diesem Fall wird nicht nur die Produktivität der Neuen beschränkt, sondern zusätzlich ihr Arbeitsleid erhöht. Damit steigen erstens die Fluktuationskosten für das Unternehmen, und es erhöht sich zweitens der Reservationslohn der Outsider. Diese mögen zwar noch bereit sein, zu einem Lohnsatz zu arbeiten, der dem Insiderlohn abzüglich der produktionsbezogenen Fluktuationskosten entspricht, sobald jedoch auch noch rentenbezogene Kosten abgezogen werden, ist es wahrscheinlich, daß ihr Reservationslohn oberhalb des Einsteigerlohnes liegt {Lindbeck und Snower 1985/1988, S. 59). Damit vermindert das Verhalten der Insider die Attraktivität von Lohnunterbietungsprozessen sowohl für die Unternehmen als auch für die Arbeitslosen.324 Im Modell ergibt sich eine Gleichgewichtssituation, in der die Insider sich untereinander vollkommen kooperativ verhalten, während sie den Entrants die Arbeit so unangenehm wie möglich machen (maximales Harassment) - es entsteht unfreiwillige Arbeitslosigkeit {Lindbeck und Snower 1988b, S. 94 f.). Der Verzicht auf Lohnunterbietung kann dann als rationales Verhalten der Outsider gedeutet werden, das sich auf die Antizipation einer ebenfalls rationalen Strategie der Insider zurückführen läßt. 5.3.1.3.

Stützung der rentenbezogenen Strategien durch gesellschaftliche Normen

In der Literatur wird verschiedentlich kritisiert, daß die Drohungen der Kooperationsverweigerung und vor allem des Harassments zeitinkonsistent seien. Ist ein Outsider erst einmal in das Unternehmen eingetreten, so wird es für die Insider nicht mehr rational sein, die angedrohten Gegenmaßnahmen durchzuführen {Elster 1989b, S. 138; Fehr 1990, S. 627). Für dieses Glaubwürdigkeitsproblem können verschiedene Anhaltspunkte geliefert werden, die mit den Kosten dieser Strategien und dem innerhalb der Belegschaft entstehenden Trittbrettfahrerproblem zusammenhängen. Zunächst muß davon 323 324

Die Interdependenz der Beschäftigten im Produktionsprozeß wird um so stärker sein, je mehr es sich um Arbeitsgänge handelt, die in Teams vorgenommen werden. Auch im Falle rentenbezogener Fluktuationskosten können formale Institutionen verstärkend wirken, bspw. wenn Kündigungsschutzregelungen dazu fuhren, daß Entlassungen trotz der Aufdeckung von unternehmensschädigendem Verhalten nur schwierig durchzuführen sind.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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ausgegangen werden, daß den Insidern durch ihr ablehnendes Verhalten Kosten entstehen. Hier sind sowohl pekuniäre als auch psychologische Kosten anzuführen. Zudem kann die Kooperationsverweigerung zu einer Schwächung der eigenen Produktivität führen, was die Position des sanktionierenden Insiders schwächen würde (Opportunitätskosten). Da diese Kosten direkt beim einzelnen Insider anfallen, während der Nutzen der Gruppe als Gesamtheit zugute kommt, muß ein Mechanismus existieren, der das Trittbrettfahrerverhalten bei der Sanktionierung der Eintretenden löst. Anderenfalls wäre die Sanktionsandrohung unglaubwürdig, weil niemand einen Anreiz hätte, die Sanktion selbst vorzunehmen. Eine Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit der Sanktionsandrohungen durch die Insider zu untermauern, besteht darin, auf eine gesellschaftliche Norm zu verweisen, die es verbietet, mit Arbeitnehmern zu kooperieren, die angestellt wurden, um dieselbe Arbeit für ein geringeres Gehalt zu leisten.325 Die Entstehung einer solchen Norm kann über die Besonderheiten des Gutes Arbeit sowie über die historischen Erfahrungen mit der Schmutzkonkurrenz erklärt werden. Solange keine Intemalisierung der Norm vorliegt, verschiebt sich das Problem jedoch lediglich um eine Ebene, da nun erklärt werden muß, wie es zu Sanktionen des abweichenden Verhaltens bei dieser Norm kommen kann. Es wurde jedoch bereits in den vorangegangenen Kapiteln darauf hingewiesen, daß ein Verstoß gegen Gerechtigkeitsvorstellungen dazu führen kann, daß Menschen bereit sind, Kosten auf sich zu nehmen, um abweichendes Verhalten zu bestrafen. Zunächst kann festgestellt werden, daß es im Interesse jedes einzelnen Insiders liegt, seinen eigenen Arbeitsplatz gegen Lohnunterbietungen zu schützen. Dabei kann der einzelne sowohl als Kommunikator als auch als Kontrolleur und Sanktionierender der Norm auftreten. Weiterhin gilt, daß man als Insider, dessen Position von Arbeitslosen angegriffen wird, aus einer überschaubaren Gruppe heraus relativ gute - und damit kostengünstige Möglichkeiten hat, unerwünschtes Verhalten zu sanktionieren (Kirchgässner 1998, S. 7). Außerdem fallt es leichter, informelle Institutionen und Solidaritätsnormen durchzusetzen, selbst wenn es sich nicht um den eigenen Arbeitsplatz handeln sollte (Lindbeck und Snower 1986/1988, S. 77). In sozialen Interaktionen reichen häufig bereits einfache verbale Angriffe, um den Adressaten als Normbrecher kenntlich zu machen und ihm erheblichen Schaden zuzufügen, so daß die Abschreckungskosten nicht sonderlich ins Gewicht fallen werden (Lindbeck und Snower 2002, S. 32).326 Gelingt es, die Kosten der Normverletzung ausreichend hoch zu setzen, kann die Solidaritätsnorm Lohnanpassungen nach unten und damit eine Tendenz zur Markträumung verhindern (Akerlof 1980, S. 752). Damit wirken gesellschaftliche Normen als Beschränkung des ökonomisch rationalen Verhaltens - sie verhindern den Abschluß ansonsten profitabler Verträge. In Arbeitsbeziehungen kommen weitere Aspekte hinzu, die das Problem der Sanktionierung weniger gravierend erscheinen lassen. So mag man bereit sein, der Norm zu 325 326

Vgl. Akerlof {1980), Solow ( 1980, S. 8) sowie ausführlicher Solow ( 1990). Auch Lindbeck (1997, S. 374) verweist auf die Bedeutung der Sprache für informelle Sanktionen.

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folgen, weil man sie für grundsätzlich richtig hält und sich wünscht, daß man selbst in einer ähnlich gearteten Situation die Unterstützung der anderen erhält (kantianische Norm). Für eine Internalisierung der Norm spricht, daß sich innerhalb oftmals langfristiger Arbeitsbeziehungen dauerhafte Bindungen zwischen den Beschäftigten ergeben, die in der Regel fester sind als die zwischen den Insidern und den Entrants. Damit werden die Beziehungen zwischen den Insidern tendenziell emotionaler sein {Lindbeck und Snower 1988b, S. 85). In diesem Fall kann die Sanktionierung sogar Nutzen stiften das Freifahrerproblem wird gelöst (Lindbeck und Snower 1990, S. 634). Zuletzt kann die Existenz von Gewerkschaften oder anderen kollektiven Interessenvertretungen relevant werden, da diese die Insider sowohl bei der Kontrolle der Regeln als auch bei ihrer Sanktionierung unterstützen können, indem sie Ressourcen zur Ausübung dieser Aufgaben zur Verfugung stellen. Insgesamt ist der Rückgriff auf informelle Institutionen geeignet, um den rentenbezogenen Fluktuationskostenansatz zu stützen. Der grundsätzliche Erklärungsgewinn durch die Einführung gesellschaftlicher Normen wird auch von Lindbeck und Snower (2002, S. 30 f.) eingestanden. Die Autoren zeigen jedoch an anderer Stelle, daß dieser Mechanismus nicht unbedingt notwendig ist, indem sie die Durchführung der kostenträchtigen Sanktionen durch die Insider in einem Mehrperiodenmodell als eine Investition in die Glaubwürdigkeit der Insider modellieren. Sie führen also Reputationseffekte als Grund für das Verhalten der Insider an (Lindbeck und Snower 1990, S. 634 f.). 5.3.2. Fluktuationskosten in der EfHzienzlohntheorie Die Effizienzlohntheorie zeigt anhand unterschiedlicher Herangehensweisen, daß es für Unternehmen rational sein kann, Löhne zu zahlen, die oberhalb des markträumenden Niveaus liegen. Dies ist auch beim Auftreten von Fluktuationskosten der Fall - hier versuchen die Unternehmen, ihre Gewinne unter Berücksichtigung der Fluktuationskosten zu maximieren. Ein Mittel, um die Fluktuationskosten zu senken, besteht in der Erhöhung der Löhne über das Gleichgewichtsniveau, da diese Maßnahme eine Abwanderung für die Beschäftigten mit Kosten belegt.327 Die Unternehmen wägen dann beide Kostenfaktoren gegeneinander ab, bis der Lohnsatz erreicht ist, der mit dem maximalen Gewinn einhergeht: der Effizienzlohn. 5.3.3. Fiuktuationskosten, Ungewißheit und Arbeitsmarktdynamik Durch die Erhöhung der Löhne über das markträumende Niveau wird die Arbeitsmarktdynamik geschwächt, denn die Arbeitnehmer werden auch bei Veränderungen der Marktlage seltener bemüht sein, den Arbeitsplatz zu wechseln (Doeringer und Piore 1971, S. 75 f.). Kommt bei den Beschäftigten außerdem eine gewisse Verlustaversion zum Tragen, verringert sich die Suchintensität weiter.328 Selbst wenn der Arbeitnehmer über eine höhere Verdienstmöglichkeit informiert ist, ist dies allein nicht ausreichend 327 328

Dieser Ansatz geht auf Salop (1979) und Schlicht (1978) zurück. Vgl. Samuelson und Zeckhauser (1988, S. 47), die darauf hinweisen, daß Modelle, die den Status-Quo-Effekt vernachlässigen, eine größere Dynamik vorhersagen als in der Realität beobachtet werden kann.

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für einen Arbeitsplatzwechsel. Es sind weitere Eigenschaften des Arbeitsplatzes angesprochen, die sich zu einem gewissen Teil einer monetären Bewertung entziehen. So erneuert sich bei jedem Arbeitsplatzwechsel eine ganze Reihe kaum abschätzbarer Risiken, über die man im bestehenden Arbeitsverhältnis recht gut Bescheid weiß. Bspw. konnte man Erfahrungen mit der Qualität des Arbeitgebers, der Arbeitsinhalte und der Arbeitsbedingungen sammeln. Solange also Zufriedenheit mit dem Status Quo herrscht, wird man das Risiko eines Arbeitsplatzwechsels nur ungern eingehen wollen. 329 Da sich Arbeitsmärkte aufgrund hoher Suchkosten von Auktionsmärkten unterscheiden, mögen Arbeitnehmer auch mit einem Gehalt unterhalb des Alternativlohnes zufrieden sein, wenn ihnen das bestehende Arbeitsverhältnis die gewünschte Stabilität bietet. 330 Möglichkeiten, sich innerhalb des Unternehmens zu verbessern, werden jedoch durchaus gesucht. Da durch den Aufstieg innerhalb eines Unternehmens ein höheres Anspruchsniveau erreicht wird, ergibt sich jedoch wiederum eine geringere Notwendigkeit, einen Arbeitgeberwechsel anzustreben. Die Beschäftigten sind also nicht durchgängig auf Arbeitsuche, die Masse der Erwerbstätigen verharrt relativ passiv am Markt. Existierende Lohndifferentiale werden nicht erkannt oder aufgrund der bestehenden Risiken nicht genutzt, wodurch die Allokationsfunktion des Arbeitsmarktes geschwächt wird. Daher stellen Arbeitsmarktungleichgewichte eher den Normalfall als die Ausnahme dar.331 5.3.4. Fluktuationskosten und Lohndifferentiale Die neoklassische Theorie trifft im Hinblick auf die Lohnhöhe klare Aussagen. Handelt es sich um homogene Arbeitskräfte, so werden diese im Marktgleichgewicht in Höhe der Opportunitätskosten und des Wertgrenzprodukts entlohnt. Ein Abweichen von diesem Lohnsatz nach oben ist aus Unternehmenssicht mit Ineffizienzen verbunden unter wettbewerblichen Bedingungen ist daher kein Platz für langfristige Lohnunterschiede (Krueger und Summers 1988, S. 259). Diese Prognose steht jedoch im Widerspruch zum empirisch nachgewiesenen Phänomen interindustrieller Lohndifferentiale. Hierunter versteht man, daß Arbeitnehmer mit denselben Eigenschaften unterschiedliche Löhne erhalten oder daß in einzelnen Unternehmen für die gesamte Belegschaft Löhne gezahlt werden, die höher sind als das markträumende Niveau. Solche Lohndifferentiale können im Rahmen des neoklassischen Theoriegebäudes nur erklärt werden, wenn man davon ausgeht, daß nicht-meßbare Qualitätsunterschiede zwischen den Ar-

329 330

331

Die Verhaltensannahme des Satisficings stellt also gerade in der Arbeitsmarktanalyse eine sinnvolle Alternative zu den Optimierungsansätzen dar. Hierauf verweist auch die Theorie der Kundenmärkte von Okun (1981, S. 134 ff.). Okun (1981, S. 142) bemerkt wörtlich: „That information is available, but it can be obtained only at a cost. Given that cost, maximizing behavior for the customer resembles satisficing behavior. If the status quo is satisfactory, the expected value of the information about alternatives is low. In these respects as well as others, customer markets share the characteristics of career labor markets." Dies ist in den Optimierungsmodellen der Neoklassik genau umgekehrt. Das System befindet sich immer im Gleichgewicht, weil die Anpassungsprozesse annahmegemäß unendlich schnell ablaufen.

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beitnehmern bestehen, daß die Beschäftigten für ein höheres Arbeitsleid bei bestimmten Tätigkeiten entschädigt werden (kompensierende Lohndifferentiale) oder daß die Unterschiede nur kurzfristig aufgrund von Nachfrageeffekten bestehen (Krueger und Summers 1988, S. 268 ff.; Thaler 1989, S. 184 f.). Empirische Untersuchungen können diese Thesen zwar nicht vollständig widerlegen, betonen jedoch, daß die Argumente nicht ausreichen, um das Ausmaß sowie die Beständigkeit der Lohndifferentiale zu erklären. 332 So spricht die Tatsache, daß entlassene Arbeitskräfte bei einem Wechsel in einen anderen Industriezweig substantielle Lohneinbußen hinnehmen müssen, die in etwa den interindustriellen Differenzen entsprechen, gegen die These, daß die Unterschiede durch nicht-meßbare Qualitätsunterschiede entstehen {Krueger und Summers 1988, S. 272). Die These kompensierender Lohndifferentiale wird dadurch entwertet, daß Lohndifferentiale auch bei Berufen auftreten, in denen eine Kompensation unnötig erscheint (bspw. bei Sekretärinnen). 333 Will man nicht von der Gewinnmaximierungsannahme der Unternehmen Abstand nehmen, müssen Gründe gefunden werden, die die Zahlung höherer Löhne aus Unternehmenssicht rational erscheinen lassen. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu sehen sein wird, spricht einiges dafür, daß sich interindustrielle Lohnunterschiede auf wettbewerbliche und institutionelle Faktoren zurückführen lassen. Nun sollen jedoch Erklärungen im Vordergrund stehen, die sich auf die Höhe der Fluktuationskosten beziehen. Fluktuationskosten können schon dann Aufschluß über die Entstehung von Lohndifferentialen geben, wenn man noch von homogenen Arbeitnehmern, aber von heterogenen Unternehmen ausgeht. In diesem Fall variieren die Fluktuationskosten aufgrund unterschiedlicher Produktionsweisen selbst bei identischen Arbeitnehmern. Die Arbeitnehmer, denen die höheren Fluktuationskosten zufallen, werden dann einen höheren Lohnsatz erzielen können (Kali 1986, S. 253 sowie S. 257). Die IOT verweist im Hinblick auf interindustrielle Lohndifferentiale zudem auf die unterschiedlich hohen Kosten, die den Unternehmen durch Kooperationsverweigerung, durch Harassment oder durch das Scheitern von Lohnverhandlungen entstehen können {Lindbeck und Snower 1988c, S. 259). So mag es in einigen Unternehmen besonders gut gelingen, die Kooperation zwischen den Insidern zu organisieren, also die Produktivität zu poolen und in den Lohnverhandlungen gemeinsam in die Waagschale zu werfen. Auf diese Weise kann sich Marktmacht innerhalb des Unternehmens von einer Gruppe auf die andere übertragen, so daß auch in Berufsgruppen mit ursprünglich geringeren Fluktuationskosten Löhne oberhalb des Branchendurchschnitts beobachtet werden können {Lindbeck und Snower 2002, S. 10 f.). 332

Die Untersuchungen von Krueger und Summers (1988, vor allem S. 268 ff.) sowie von Katz (1986, S. 255 ff.) schließen mittels verfeinerter ökonometrischer Methoden an ältere Arbeiten an. So beobachtete Slichter (1950), daß sich die relativen Lohnstrukturen verschiedener Branchen in einem Zeitraum von dreißig Jahren nur relativ langsam und moderat veränderten. Die Beständigkeit der Lohndifferenzen spricht vor allem gegen Erklärungen, die auf die eingeschränkte Arbeitsmobilität oder auf Nachfrageeffekte als Auslöser der Lohndifferentiale verweisen - siehe auch Krueger und Summers (1988, S. 268).

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Franz (2003, S. 332) bemerkt, daß die empirische Evidenz kompensierender Lohndifferentiale „in umgekehrtem Verhältnis zur Plausibilität dieser intuitiv einleuchtenden Argumentation" steht.

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Der Effekt der Lohndifferentiale auf die Dauer der Arbeitsverhältnisse ist positiv und statistisch signifikant. Allerdings kompensieren die Kosteneinsparungen, die Unternehmen mit einem höheren Lohnniveau durch eine geringere Mitarbeiterfluktuation erzielen, die höheren Lohnkosten nur zum Teil (Krueger und Summers 1988, S. 279 f.; Dickens und Katz 1987, S. 77). Daher muß nach zusätzlichen Ursachen gesucht werden, um die zu beobachtenden Lohnunterschiede erklären zu können. Hierauf wird bei weiteren Varianten der ELT zurückzukommen sein. 5.3.5. Fluktuationskosten und wirtschaftliche Schwankungen Die Höhe der Fluktuationskosten beeinflußt die Beschäftigungsentscheidungen der Unternehmen. Grundsätzlich gilt, daß bei hohen Fluktuationskosten auch in Aufschwüngen nur wenig Neueinstellungen vorgenommen werden, und zwar vor allem dann, wenn Unsicherheit darüber herrscht, wie lange die Phase der Prosperität anhält. Fluktuationskosten können in Abschwüngen jedoch auch stabilisierende Beschäftigungseffekte zeitigen. Die Unternehmen werden - in Erwartung einer zukünftigen Besserung - versuchen, zunächst die Arbeitszeit der Angestellten anzupassen, bevor sie die mit Entlassungen (und potentiellen Wiedereinstellungen) verbundenen Kosten auf sich nehmen.334 Der Beschäftigungseffekt ist also nicht eindeutig, klar ist jedoch, daß lediglich die Insider profitieren. Damit entsteht eine Beschäftigungsträgheit in der Form, daß der heutige Beschäftigungsstand zu einem gewissen Grad von dem vergangenen abhängt (.Lindbeck und Snower 2002, S. 14).335 Auch die Länge der Konjunkturzyklen spielt eine Rolle (Katz 1986, S. 269 f.). In einem kurzen Konjunkturzyklus wird es eher zum Horten von Arbeit und damit zu einer Stabilisierung des Beschäftigungsniveaus kommen, da sich die Fluktuationskosten auf eine kurze Zeit verteilen und somit eher über den Neubeschaffungskosten des Humankapitals liegen (Sesselmeier 1999, S. 124). Dagegen werden lange Zyklen eher ein Wechselspiel von Entlassungen und Neueinstellungen auslösen, also destabilisierend auf die Beschäftigungssituation wirken (Lindbeck und Snower 2001, S. 171 f.). Am schlechtesten wären die zu erwartenden Beschäftigungswirkungen daher bei langen Rezessionen und kurzen Aufschwüngen, am günstigsten im umgekehrten Fall.

334

335

Houseman und Abraham (1995) zeigen anhand von Daten für Deutschland und die USA, daß die in Deutschland höheren Fluktuationskosten eher zu einer Anpassung der Arbeitszeit führen, während in den USA die Mitarbeiterzahl variiert wird. Diese Ergebnisse deuten an, daß es den Unternehmen aufgrund von Arbeitszeitanpassungen (Überstunden oder Arbeitszeitkonten) auch unter restriktiven Institutionen möglich sein kann, die bestehenden Arbeitskräfte flexibel einzusetzen. Allerdings werden hiermit nicht die Hürden beseitigt, die für die Schaffung neuer Arbeitsplätze bestehen. Gerade Arbeitsplätze, bei denen nicht sicher ist, ob sie dauerhaft bestehen können, werden unter restriktiven Kündigungsschutzregelungen nicht eingerichtet. Dieser Effekt verschärft sich mit der Höhe der Fluktuationskosten (Holmlund 1991, S. 9 ff.).

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5.3.6. Allgemeine Einordnung und Kritik Durch das Auftreten von Fluktuationskosten verschiebt sich die Wettbewerbsfähigkeit zuungunsten der Arbeitslosen, so daß die IOT unfreiwillige Arbeitslosigkeit als Folge einer mangelnden Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt erklärt (Lindbeck und Snower 1988c, S. 268). Allerdings ist festzuhalten, daß die Modelle sich auf einem hohen Abstraktionsniveau bewegen. In der IOT müssen die Beschäftigten die von ihnen ausgelösten Fluktuationskosten ebenso kennen wie die Entscheidungsstruktur der Unternehmen und die Situation der Outsider, um den optimalen Insiderlohn ableiten zu können. Im Hinblick auf die Kooperations- und Harassment-Aktivitäten tritt zudem das Problem auf, daß sich die volle Wirkung erst entfaltet, wenn gemeinsam mit den anderen Insidern vorgegangen wird. Insgesamt dürfte die Berechnung eines optimalen Insider-Lohnes ein schwieriges Unterfangen darstellen, das zudem nur unter der Homogenitätsannahme zu einem eindeutigen Ergebnis fuhrt. Unterscheiden sich die Insider voneinander, so sind unterschiedlich hohe Insiderlöhne zu erwarten, was wiederum eine Abschottung gegen Außenseiterkonkurrenz erschwert. Diese kritischen Anmerkungen, die sich vor allem auf den Glauben beziehen, hier mathematische Gleichgewichtslösungen ableiten zu können, die von praktischem Nutzen sind, ändern jedoch nichts daran, daß es sich bei dem Fluktuationskostenargument um einen grundsätzlich richtigen Gedanken handelt. Es ist allerdings anzunehmen, daß die Arbeitsplatzbesitzer zwar versuchen werden, die ihnen zur Verfugung stehenden Instrumente zur Erhöhung und Absicherung des Insider-Lohnes anzuwenden, ohne deren Einsatz jedoch auf die Spitze zu treiben. Auch in diesem Fall scheint satisfizierendes Verhalten realistisch zu sein. Die Bedeutung des Fluktuationskostenansatzes wird durch empirische Untersuchungen gestützt. So läßt sich zeigen, daß die Insider-Löhne - und damit auch die unfreiwillige Arbeitslosigkeit - positiv mit den Fluktuationskosten sowie der Verhandlungsmacht der Insider korreliert sind.336 Auch Unternehmensbefragungen bestätigen die theoretischen Überlegungen (Agell und Bennmarker 2003, S. 16; Blinder und Choi 1990, S. 1007). Das Problem der Mitarbeiterfluktuation wird für hochqualifizierte Arbeitnehmer am stärksten gewichtet.337 Der Verlust von betriebsspezifischem Humankapital ist vor allem in Unternehmen mit 10 bis 19 Beschäftigten ein Argument (Franz und Pfeiffer 2003, S. 38).338 Die statistische Auswertung ergibt zudem, daß das Fluktuationsrisiko in stark gewerkschaftlich organisierten Unternehmen geringer ist. Dies spricht dafür, daß die dort Beschäftigten ausreichend hohe Jobrenten erzielen, die ihnen von den Gewerkschaften gesichert werden (Agell und Bennmarker 2003, S. 19). Das Verhalten der Insider läßt sich nicht nur im Hinblick auf die Maximierung des Lohnsatzes, sondern auch in einer dynamischen (Wettbewerbs-) Perspektive betrachten.

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Lindbeck und Snower (2002, S. 33 ff.) fassen empirische Untersuchungen zur IOT zusammen. Vgl. Agell und Bennmarker (2003, S. 12); Agell und Lundborg (1995, S. 306) sowie Campbell und Kamlani (1997, S. 766). Dies läßt sich darauf zurückführen, daß größere Unternehmen eher über mehrere Mitarbeiter mit ähnlichen Kompetenzen verfugen und somit die Möglichkeit haben, den Humankapitalverlust auszugleichen.

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Lassen die Insider die Einstellung von Entrants bei geringerer Entlohnung zu, müssen sie damit rechnen, daß sich die Machtstruktur zu ihren Ungunsten verschiebt, sobald die Entrants mit dem unternehmensspezifischen Humankapital ausgestattet sind und von der Produktivität her gleichgezogen haben.339 Im Falle der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage laufen die Insider in Abwesenheit weiterer institutioneller Arrangements Gefahr, als erste entlassen zu werden.340 Selbst bei unveränderter Auftragslage wird ein Lohndruck eintreten, je mehr Entrants sich im Unternehmen befinden. So kann erklärt werden, warum sich die Insider auch im Hinblick auf neue Beschäftigte um eine gerechte Lohnstruktur im Sinne der Norm ,gleicher Lohn für gleiche Arbeit' stark machen. Bestehen jedoch besondere Entlassungsvorschriften, die einen Schutz der Insider durch Senioritätsregeln bieten, liegt der Fall anders. Dann stellt die Existenz eines gewissen Anteils von Entrants für die Insider eine Art Versicherung für den Fall einer verschlechterten Wirtschaftslage dar. Dieser Puffereffekt tritt in ähnlicher Form auf, wenn Neueinstellungen vornehmlich über befristete Arbeitsverträge vorgenommen werden (Lindbeck und Snower 2002, S. 34). Die beschriebenen Einzeleffekte, die durch Fluktuationskosten sowohl im statischen Modell als auch im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit herausgearbeitet wurden, zeichnen ein komplexes Bild. In der Realität treten sie nicht isoliert voneinander auf, sondern verhalten sich oftmals komplementär zueinander, so daß Verstärkungseffekte wahrscheinlich sind. Bleibt die Beschäftigung auch nach dem Abklingen eines Schocks gering, so wird sich bspw. das Humankapital der Arbeitslosen mit der Zeit verschlechtem. Durch den steigenden Anteil der Langzeitarbeitslosen sinkt wiederum die Konkurrenz für die Insider {Lindbeck und Snower 2002, S. 24; OECD 1993, S. 94). Diese können die Löhne bei sinkendem Wettbewerbsdruck weiter erhöhen, so daß sich das Problem der Arbeitslosigkeit verstärkt. Persistente Arbeitslosigkeit läßt sich also aus der Möglichkeit und dem Willen der Insider erklären, eine steigende Nachfrage nach Arbeit in höhere Löhne umzusetzen, anstatt den Outsidern den Zugang zum Arbeitsmarkt offen zu halten (Solow 1985, S. 427). Diese wechselseitigen Einflüsse, durch die neue Schocks wiederum verstärkt oder abgeschwächt werden, läßt die Arbeitsmarktentwicklung als einen Prozeß erscheinen, der sich fernab von Gleichgewichten abspielt, auch wenn zeitweilig gleichgewichtsbildende Anpassungsprozesse ausgelöst werden mögen. Damit ist das Festhalten an Gleichgewichtsmodellen auch im Rahmen der Insider-Outsider-Theorie lediglich als Orientierungsmarke sinnvoll.

5.4.

Die Motivationsfunktion des Lohnsatzes im Rahmen der ELT

In den folgenden Abschnitten wende ich mich nun wieder der Frage zu, ob Arbeitslosigkeit aus der Relationalität der Arbeitsbeziehungen heraus erklärt werden kann. Dabei greife ich vor allem auf die Aussagen der Effizienzlohntheorie zurück, die durch experimentelle Studien angereichert werden. Die Ursprünge der Effizienzlohnansätze

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Fehr und Kirchsteiger (1994, S. 575) weisen auf das Absinken der Fluktuationskosten hin, sobald die Entrants das spezifische Wissen der Insider aufgeholt haben. Ein Anreiz mehr, die Insidermacht nicht nur im Hinblick auf die Löhne, sondern auch in Bezug auf die Arbeitsplatzsicherheit auszuspielen.

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liegen in der Entwicklungstheorie, in der betont wird, daß ein gewisses Lohnniveau notwendig ist, um die Arbeitskraft zu erhalten (Leibenstein 1957).341 Bei Zahlung höherer Löhne verbessert sich die Ernährung und die Gesundheit der Arbeiter, so daß diese zu besseren Leistungen in der Lage sind, von denen wiederum die Unternehmen profitieren. Ein ähnliches Argument entwickelten bereits die amerikanischen Institutionalisten in Bezug auf die Einführung von Mindestlöhnen (Commons und Andrews 1936, S. 48).342 Über die Bindung an den Menschen wird das Gut Arbeit abhängig von motivationalen Aspekten. Damit stellt sich den Arbeitgebern die Aufgabe, die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter so zu fordern, daß sie in den Dienst des Unternehmens gestellt werden. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß der Lohnsatz auf dem Arbeitsmarkt unterschiedliche Funktionen ausübt. Neben der Einkommenssicherungsfunktion wurden bisher die Koordinations- und Selektionsfunktionen diskutiert. Nun soll die Motivationsfunktion des Lohnes analysiert werden. Zwar stellt der Lohnsatz nicht das einzige Anreizinstrument in den Arbeitsbeziehungen dar - die Möglichkeit, durch Lohnvariationen belohnend oder bestrafend einzugreifen, bietet den Unternehmen jedoch eine wichtige Lenkungsfunktion in Bezug auf das Verhalten ihrer Beschäftigten. 343 Gerade in dauerhaften Arbeitsbeziehungen können Löhne als Anerkennung für zurückliegende Leistungen dienen oder die Bindung der Arbeitnehmer an das Unternehmen erhöhen. Diese Aspekte wurden bereits im Fluktuationskostenansatz behandelt, allerdings ohne Informationsasymmetrien zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu berücksichtigen. Im folgenden spielen gerade diese Unvollkommenheiten des Arbeitsvertrages die entscheidende Rolle. Das Entlohnungssystem dient nun dazu, vorausschauend Leistungsanreize zu setzen - es handelt sich demnach um „vorwärtsgerichtete Löhne" (Schlicht 1995, S. 188 f.). Die Motivationsfunktion tritt in der ELT in zwei Ausprägungen auf. In der im nächsten Abschnitt diskutierten Shirking-Variante werden Lohnsätze in defensiver Weise eingesetzt, um das Moral-Hazard-Problem im Rahmen der Arbeitsbeziehung zu lösen. Weiter gehen die Ansätze, die auf einen Geschenkaustausch zwischen den Parteien und die Bedeutung fairer Löhne für die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten verweisen (Abschnitt 5.4.2.). Berücksichtigt man auch diese Facetten der Lohnsetzung, so wird man zu der Einsicht gelangen, daß der markträumende Lohnsatz nicht derjenige ist, der von den Unternehmen tatsächlich gezahlt wird. Auf die Faktoren, die zu einem Auseinanderfallen von mikroökonomischem Gleichgewicht und der Räumung des Arbeitsmarktes beitragen, soll in den folgenden Abschnitten ausfuhrlich eingegangen werden.

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Dieser Zusammenhang spielt in der hier vorgenommenen Analyse entwickelter Volkswirtschaften keine Rolle mehr.

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Auch die Einführung von Arbeitsschutzregeln kann für beide Seiten Verbesserungen mit sich bringen und stellt damit in der Grundform eine effizienzsteigernde Institution dar.

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Außerdem sind gezielte Weiterbildungsmaßnahmen ebenso zu nennen wie ein positives Arbeitsumfeld und eine Kommunikationsstruktur im Unternehmen, die Lernprozesse unterstützt ( K a u f m a n 1994, S. 179 f.).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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5.4.1. Vermeidung von Bummelei (Shirking) Im Gegensatz zum Fluktuationskostenansatz der ELT, in dem die Leistungserbringung und damit das eigentliche Prinzipal-Agenten-Problem ausgeblendet wurde, steht nun die Gefahr des nachvertraglichen Opportunismus im Mittelpunkt der Überlegungen. Im Rahmen der Effizienzlohntheorie wird hierfür der Begriff Shirking (Bummelei oder Drückebergerei) verwendet (Shapiro und Stiglitz 1984).344 In der Shirking-Theorie wird den Beschäftigten ebensowenig wie in den Fluktuationskostenansätzen eine positive^ Lohn-Leistungs-Beziehung .unterstellt'. Mehr als die Sicherung der vertraglich fixierten Leistung kann auch in dieser Variante der Effizienzlohntheorie nicht erreicht werden. Bei der theoretischen Behandlung wird zunächst von einmaligen Interaktionen ausgegangen. Ausgangspunkt ist ein Arbeitsvertrag, in dem ein Lohn w und ein Leistungsniveau e festgelegt werden. Jedoch steht den Arbeitnehmern aufgrund der unvollständigen Kontrollmöglichkeiten ein gewisser Freiraum bei der Leistungserbringung zur Verfügung, den sie zum eigenen Vorteil (und damit zum Schaden des Unternehmens) nutzen können. Dieses unmoralische' Verhalten ist aus Sicht der Arbeitsleidhypothese verständlich. Ist Arbeit mit Mühsal und damit mit Kosten verbunden, so wird ein Arbeitnehmer bei gegebenem Lohnsatz stets versuchen, sein Leistungsniveau möglichst gering zu halten. Betrachten wir zunächst eine Situation, in der von Friktionen auf dem Arbeitsmarkt abgesehen wird und die Homogenitätsannahmen gelten. 345 Innerhalb der Arbeitsbeziehungen treten jedoch Informationsasymmetrien auf, wobei angenommen wird, daß die Drückebergerei der Beschäftigten mit einer exogen vorgegebenen Wahrscheinlichkeit auffliegt. Die stärkste Sanktion, die den Unternehmen bei entdeckter Bummelei zur Verfugung steht, ist die Entlassung des Mitarbeiters. 346 Damit läßt sich das Drohpotential nach dem Opportunitätskostenprinzip als die Differenz des aktuellen Lohnes zur zweitbesten Verwendung des Arbeitnehmers bestimmen. 347 Auf vollkommenen Arbeitsmärkten mit einheitlichen Lohnsätzen besitzt eine Kündigungsdrohung demnach

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Shapiro und Stiglitz (1984) zeigen, daß aus der asymmetrischen Information in den Arbeitsbeziehungen unfreiwillige Arbeitslosigkeit als Gleichgewichtsphänomen hervorgehen kann. Es existieren also auch keine Fluktuationskosten. Es handelt sich um einen vollkommenen (externen) Arbeitsmarkt, so daß alles auf ein effizientes (markträumendes) Ergebnis hindeutet. Aufgrund ihres Weisungsrechtes besitzen die Arbeitgeber natürlich auch andere Möglichkeiten, um auf eine Leistungszurückhaltung der Arbeitnehmer zu reagieren. So können Arbeitnehmern unangenehme Aufgaben übertragen oder die Verbesserung der Arbeitsausrüstung verweigert werden, um sie mit einem höheren Arbeitsleid zu bestrafen. Damit kann durchaus beabsichtigt sein, den jeweiligen Arbeitnehmer zur Kündigung zu bewegen, wenn eine Entlassung aus rechtlichen Gründen nicht möglich sein sollte. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß sich die Unternehmen auf diese Weise immer auch selbst schaden. Milgrom und Roberts (1992, S. 250 ff.) bieten eine einfache Variante des Modells von Shapiro und Stiglitz (1984), aus dem die Anreizmechanismen gut hervorgehen. Bei der Ableitung der Gleichgewichtsbedingungen gelten wiederum hohe Informations- und Rationalitätsannahmen.

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keine K r a f t - der B e t r o f f e n e wird z u m identischen Marktlohn wieder eine neue Beschäftigung finden. In diesem Fall ist es f ü r Unternehmen rational, keine Kontrollen einzusetzen, denn diese w ü r d e n nur Kosten verursachen, a u f g r u n d der kostenlosen Möglichkeit des Arbeitsplatzwechsels j e d o c h keinen Leistungsdruck auf die Beschäftigten ausüben. Damit sagt die Standardtheorie für solche Fälle voraus, daß die Unternehm e n den Gleichgewichtslohn zahlen, u n d die Arbeitnehmer stets mit d e m niedrigsten Leistungsniveau antworten. Für die Unternehmen besteht in j e d e m Fall der Anreiz, die Situation in einer Weise zu verändern, die es ihnen erlaubt, das vertraglich fixierte Leistungsniveau auch durchzusetzen. Sie m ü s s e n also einen W e g finden, die Anreizsituation der Arbeitnehmer so zu verändern, daß B u m m e l e i an Attraktivität verliert. D a Kontrollen hierzu nicht in der Lage sind, können sie über die Lohnsetzung versuchen, den Verlust des Arbeitsplatzes mit Kosten zu belegen. Dies gelingt, indem der Lohn über den markträumenden Lohnsatz gesetzt wird, so daß der Wechsel in ein anderes Beschäftigungsverhältnis nur unter Lohneinbußen möglich ist - die Opportunitätskosten des Shirkings werden somit erhöht. W e n n nun allerdings alle U n t e r n e h m e n dieser Logik folgen und ihren Lohnsatz erhöhen, wird zunächst eine Art kollektiver Selbstschädigung eintreten: Die Lohnkosten steigen, ohne daß der gewünschte Anreizeffekt erzielt wird. A u s der Gesamtmarktperspektive gilt es j e d o c h , die N e b e n w i r k u n g e n dieser M a ß n a h m e n zu berücksichtigen. Durch die allgemeine L o h n a n h e b u n g sinkt die N a c h f r a g e nach Arbeit, während sich die A n g e b o t s m e n g e bei steigenden L ö h n e n sogar noch erhöht. Trotz der A n n a h m e vollk o m m e n e r Arbeitsmarkttransparenz tritt unfreiwillige Arbeitslosigkeit auf, die nicht auf Matching-Probleme oder Sucharbeitslosigkeit zurückzufuhren ist ( K a t z 1986, S. 241). Die W i r k u n g der Effizienzlöhne entfaltet sich also erst im Z u s a m m e n s p i e l mit der entstehenden Arbeitslosigkeit. 3 4 8 Der Effizienzlohn verschärft über die relative Verschlechterung der Rückfallposition die D r o h u n g der Arbeitslosigkeit und kann somit den nachvertraglichen Opportunismus verhindern. 3 4 9 Eine gleichgewichtige Situation ist dann erreicht, w e n n ein Lohnsatz die sogenannte No-Shirking-Condition ro und Stiglitz

erfüllt (Shapi-

1984, S. 438). Dann sind die Kosten der Arbeitslosigkeit bei g e g e b e n e m

Leistungsniveau so hoch, daß der Arbeitnehmer von der Leistungszurückhaltung absieht. 350 Dabei sagt das Shirking-Modell voraus, daß der Effizienzlohn u m so höher ausfallt, j e höher die Kosten der B u m m e l e i f ü r das Unternehmen sind (Shapiro und

Stiglitz

1984, S. 4 3 4 f.; Katz 1986, S. 241). Hier kann die H ö h e des Kapitaleinsatzes im Untern e h m e n von Bedeutung sein (Stiglitz 1987, S. 8; Katz 1986, S. 253). Weiterhin sollten hohe Überwachungskosten zu hohen Effizienzlöhnen fuhren. Empirisch ist eine positive

348

Die unfreiwillige Arbeitslosigkeit dient als Disziplinierungsmechanismus in den Arbeitsbeziehungen. In diesem Sinne ist auch der Titel des Beitrages von Shapiro und Stiglitz (1984) Equilibrium unemployment as a worker discipline device zu verstehen.

349

Es handelt sich dann wiederum um selbstdurchsetzende Verträge (Carmichael 1990, S. 280).

350

Shapiro und Stiglitz (1984, S. 440 f.) weisen darauf hin, daß es sich bei dem Gleichgewicht nicht um einen Pareto-optimalen Zustand handelt, da das einzelne Unternehmen die Aktionen der anderen Unternehmen nicht adäquat bei der eigenen Strategienwahl berücksichtigt. Die Aktions-Reaktions-Verbundenheit wird also nicht ausreichend beachtet.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

133

Korrelation zwischen der Größe des Unternehmens und der Lohnhöhe zu beobachten {Dickens und Katz 1987, S. 64 f f ; Rebitzer 1993, S. 1418). Gilt die Heterogenitätsannahme für Unternehmen, können die unterschiedlichen Kosten des Shirkings die Persistenz interindustrieller Lohndifferentiale für vollkommen identische Arbeitnehmer erklären.35' Eine Lohnunterbietung durch Arbeitslose kann nicht erfolgreich sein, da die Unternehmen wissen, daß Shirking bei einem niedrigeren Lohnsatz als dem Effizienzlohn w*, im Interesse der Arbeitnehmer liegt, und eine Lohnsenkung somit zu Gewinneinbußen führt. Da die Unternehmen dies antizipieren, erfolgt so lange keine Einstellung, wie es den Arbeitslosen nicht gelingt, eine glaubwürdige Bindung gegen Drückebergerei vorzuweisen. In Zeiten einer verringerten Arbeitsnachfrage erfolgen Lohnanpassungen wegen der Shirking-Problematik nur zögerlich. Es werden eher Entlassungen vorgenommen, die durch die steigende Arbeitslosigkeit und das höhere Drohpotential allenfalls längerfristig zu Lohnsenkungen führen können (Shapiro und Stiglitz 1984, S. 434). Die Arbeitslosigkeit wird als Durchsetzungsmechanismus jedoch nur dann wirksam sein, wenn die Arbeitslosen eine echte Alternative zu den Beschäftigten darstellen. Erst wenn ein Arbeitnehmer adäquat zu ersetzen ist, wird die Entlassungsdrohung des Unternehmens glaubwürdig und kann somit die Bummelei verhindern (Sesselmeier 1999, S. 114 f.). Das Problem der Humankapitalentwertung deutet jedoch darauf hin, daß man nicht von einer Gleichwertigkeit der Outsider ausgehen kann. Gerade Langzeitarbeitslose weisen nur eine geringe Wettbewerbsfähigkeit auf. So dürften Lohnabschläge selbst bei steigender Arbeitslosigkeit um so geringer ausfallen, je höher der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist (.Schlicht 1995, S. 192 f.). Allerdings stellt der Wettbewerb durch Arbeitslose nur einen Teilaspekt der Furcht vor Arbeitslosigkeit dar. Häufig werden es exogene Schocks sein, die die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust bestimmen. Drohende Stellenstreichungen wegen der schlechten Wirtschaftslage können dann ein Mittel sein, um die Beschäftigten zu den vereinbarten Leistungen zu bewegen. Agell und Lundborg (2003, S. 24) sprechen in diesem Zusammenhang von einem Konjunktureffekt der Arbeitsmoral. 352 Explizite Entlassungsdrohungen können jedoch kontraproduktiv sein. Sie schwächen die Arbeitsmotivation, die Bindung an das Unternehmen sowie die Bereitschaft zur Bildung spezifischen Humankapitals und damit das Leistungsvermögen der Beschäftigten (Kauftnan

351

352

Das Shirking-Modell bietet jedoch ebenso wie der Fluktuationskostenansatz keine überzeugende Erklärung dafür, wieso Hochlohnindustrien auch hohe Gehälter an Angestellte zahlen, deren Bummelei keinen größeren Schaden anrichten kann als in anderen Branchen (Thaler 1989, S. 188). Tatsächlich ist der gesamtwirtschaftliche Krankenstand in Deutschland negativ mit der Höhe der Arbeitslosigkeit korreliert. Er hat in den vergangenen Jahren einen Tiefstand erreicht (IZA 1999, S. 3). Nur bei Beamten besteht diese Korrelation nicht. Eine andere Interpretation wäre, daß aus Angst vor Druck des Arbeitgebers notwendige Krankheitstage nicht genommen werden.

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1999, S. 3 79).353 Auch laut Weiss (1986, S. 286) ist Angst ein schlechter Produktionsfaktor: „Casual empiricism suggests that there is no shortage of carrots out there and the fear of getting fired is low on the list of people's motivation for working hard." Die Beschäftigten verwenden zudem viel Zeit darauf, die Situation zu diskutieren und sich bereits über neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu informieren, was den Produktionsprozeß negativ beeinflussen dürfte (Darity und Goldsmith 1996, S. 124 f.). „The whole quality of decision making suffers. Employees are always looking over their shoulders. Managers are afraid to take risks." 354 Wendet man sich Arbeitsmarktsituationen zu, die nicht mehr durch Markttransparenz, Punktmärkte und einen einheitlichen Lohnsatz gekennzeichnet sind, so verändert sich die Analyse in einigen Punkten. In diesem Fall kommen auch auf die Arbeitnehmer Kosten eines Arbeitsplatzwechsels zu. Hier ist neben dem Verlust betriebsspezifischen Wissens auch die Entwertung spezifischen, ortsgebundenen Humankapitals zu nennen (Orts- oder auch Sprachkenntnisse, das Wissen um formale und informelle Regelwerke). Zudem treten auch auf Seiten der Arbeitnehmer Reputationseffekte auf. So stellt die Vita der Bewerber ein wichtiges Einstellungskriterium bei einem Arbeitsplatzwechsel dar, und Arbeitslosigkeit wird häufig als Signal für eine negative Arbeitsqualität gedeutet. Das Drohpotential der Unternehmen steigt demnach, so daß Arbeitnehmer schon bei geringeren Löhnen bereit sein werden, auf das Shirking zu verzichten {Akerlof und Yellen 1986, S. 6 ff.). 355 Nun ergeben sich auch Möglichkeiten, flankierend zu den Lohnanreizen Kontrollen einzusetzen, um die Bummelei der Belegschaft zu begrenzen. Auf die gegenläufigen Effekte von Kontrollen auf die intrinsische Motivation wurde bereits in Abschnitt 5.2.2.1. hingewiesen. Gerade im Hinblick auf das Shirking-Problem ist es jedoch nötig, auch Kontrollen und harte Sanktionsmechanismen einzusetzen. So kann sich eine Kultur der Bummelei entwickeln, wenn nicht von Anfang an konsequent gegen Drückeberger vorgegangen wird (Fehr und Falk 2002, S. 692). Milgrom und Roberts (1992, S. 251) fuhren aus: „Moreover, when cheating goes unpunished, it breeds more of the same: Once some people are seen to be cheating, an everybody does it' attitude may infect an increasing fraction of the organization's employees. In that way, an initial failure to provide the right incentives may lead to an epidemic of cheating throughout the organization."356 Es besteht die Gefahr, daß die intrinsische Arbeitsmotivation anderer Arbeitnehmer zerstört wird, wenn es den Unternehmen nicht gelingt, Sanktionen gegen Beschäftigte durchzusetzen, die einen geringen Leistungswillen besitzen und damit sowohl das Un-

353

354 355 356

Psychologische Untersuchungen belegen, daß antizipierte Arbeitslosigkeit starken Streß auslöst und damit zu Produktivitätsverlusten führt (Wiswede 2000, S. 149 f.; Darity und Goldsmith 1996, S. 124 f.). Bardwick (1991, S. 34) zitiert in Kaufman (1999, S. 379). Die Zunahme von Marktunvollkommenheiten führt also interessanterweise dazu, daß sich das Marktergebnis tendenziell wieder dem Gleichgewicht annähert. Dieses Argument läßt sich auch auf der Gesellschaftsebene anwenden, wenn es um die Einhaltung formaler Institutionen, also um die Stabilität der rechtlichen Rahmenbedingungen, geht - siehe Abschnitt 7.4.1.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

135

ternehmen als auch ihre Kollegen schädigen (Frey 1997, S. 94). Auf Kontrollen und Sanktionen sollte also nicht gänzlich verzichtet werden, wenn davon auszugehen ist, daß Arbeitnehmer mit unterschiedlichen Motivationsstrukturen beschäftigt werden. Zudem sollten die Kommunikationskanäle gestärkt werden, so daß es den intrinsisch motivierten Akteuren gelingt, sich zu identifizieren (Ostrom 2000, S. 142). Auf diese Weise werden die Shirker isoliert, was sowohl informelle Sanktionen als auch Maßnahmen von Unternehmensseite erleichtert. Die motivierten Mitarbeiter werden transparente und nachvollziehbare Sanktionen gegen Shirker sogar begrüßen, da sie deren Verhalten als unfair ansehen - schließlich werden sie die Arbeit der faulen Kollegen erledigen müssen. Die Aufgabe für die Unternehmen besteht also letztlich darin, die Sanktionsmechanismen so auszugestalten, daß die eigennutzorientierten Akteure bestraft werden, ohne die reziproken Agenten zu beleidigen. Tatsächlich nutzen Unternehmen Kündigungen häufig, um schlechte Charaktere' aus dem Unternehmen zu entfernen (Fehr und Falk 2002, S. 692; Bewley 2004, S. 10). Die Argumentation des Shirking-Ansatzes zielt in erster Linie auf die Arbeitnehmer im sekundären Sektor, bei denen die Arbeitsleidhypothese eher zutrifft - hier kann die entstehende Arbeitslosigkeit eine Disziplinierungsfunktion übernehmen (Akerlof und Yellen 1986, S. 3 sowie S. 16; Rebitzer 1993, S. 1420). Andererseits gilt bei diesen Tätigkeiten, daß die Arbeitsleistung leichter zu beobachten ist, was für den Einsatz von Kontrollmechanismen oder eine leistungsbezogene Entlohnung spricht.357 Dies könnte ein Grund dafiir sein, warum Interviewstudien in der Regel eine Ablehnung der Shirking-These durch Personalverantwortliche berichten (Campbell und Kamlani 1997, S. 774 f.; Bewley 2004, S. 9 f.).358 Kommt es auch in den oberen Hierarchieebenen zum Shirking, so birgt dies besonders hohe Risiken. Dies liegt zunächst an den größeren Produktivitätseinbußen, die hochqualifizierte Arbeitnehmer bei gegebenem ShirkingNiveau relativ zu geringer Qualifizierten verursachen. Weiterhin wirkt eine Leistungszurückhaltung auf höheren Ebenen demotivierend auf die unteren Hierarchien. Daher kann es sinnvoll sein, auch an Arbeitnehmer, die sich in Positionen befinden, in denen Vertrauen, Loyalität und ein hohes Verantwortungsbewußtsein nötig sind, eine Lohnprämie zu zahlen (Katz 1986, S. 241). Innerhalb des Unternehmens bieten Leistungslöhne, Senioritätsregeln, Aufstiegsmöglichkeiten oder Verhaltensweisen, die sich aus der Relationalität der Arbeitsbeziehungen ergeben (bedingte und unbedingte Kooperation) Ansatzpunkte, um das Shirking-Problem zu lösen. Diese Aspekte werden in den folgenden Abschnitten diskutiert. 5.4.1.1.

Senioritätslöhne

Senioritätslöhne stellen eine Entlohnungsstrategie dar, mit der versucht wird, sowohl die Fluktuationskosten als auch das Shirking-Problem zu begrenzen. Mit zunehmender

357 358

Kontrollen sind jedoch auch mit Kosten verbunden, die dem Faktor Arbeit zugeschlagen werden und tendenziell zu einer Senkung der Arbeitsnachfrage bei gegebenem Geldlohn fuhren. Allerdings kann gerade bei dieser Fragestellung angezweifelt werden, ob Unternehmensspitzen zugeben würden, faule Mitarbeiter zu beschäftigen.

136

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Vertragsdauer steigt der Lohnsatz an, so daß er zu Beginn unterhalb und am Ende der Tätigkeit oberhalb des gängigen Marktlohnes liegt. Damit werden die Löhne über den Verlauf der Vertragsdauer von der Grenzproduktivität der Beschäftigten abgekoppelt (Lazear 1991, S. 90 ff.).359 Auf diese Weise wird sowohl ein Arbeitsplatzwechsel als auch die Bummelei in Erwartung höherer zukünftiger Einkommensströme unattraktiver. Die Beschäftigten werden an das Unternehmen gebunden und können auf diese Weise zur Loyalität und zur Leistungserfullung verpflichtet werden.360 Allerdings können Senioritätslöhne auch negative Auswirkungen auf die Produktivität des Unternehmens haben. So mögen sich besonders produktive Mitarbeiter von einem System abgeschreckt fühlen, das Aufstiegschancen und Lohnsteigerungen nach Dauer der Firmenzugehörigkeit und nicht nach Leistung vergibt. Ab einem gewissen Zeitpunkt leidet möglicherweise auch die Motivation der Empfänger von Senioritätsleistungen, da ihr Entlohnungspfad ja zu einem gewissen Teil leistungs««abhängig verläuft.36' Dies gilt insbesondere dann, wenn Senioritätspläne durch Kündigungsschutzregeln abgesichert sind. Solche Regelungen sind wahrscheinlich, da im Entlohnungsplan anderenfalls ein Glaubwürdigkeitsproblem angelegt wäre. So besteht ohne Kündigungsschutz der Anreiz, die Arbeitnehmer in dem Moment zu ersetzen, wenn ihr Lohn ihre Grenzproduktivität übertrifft.362 Existiert ein Bestandsschutz, dessen Höhe mit der Dauer der Betriebszugehörigkeit ansteigt, kann es in Abschwüngen zu Anpassungsproblemen für das Unternehmen kommen. Agell und Lundborg (2003, S. 27) weisen darauf hin, daß Unternehmen in schlechten Zeiten häufig auf Entlassungen verzichten, da sie die jungen, produktiven und preiswerten' Arbeitskräfte als erstes entlassen müßten. Damit wäre aber eine weitere Schwächung der Produktivität verbunden. Insgesamt werden Unternehmen, die stark auf Senioritätssysteme setzen, über eine Personalstruktur verfugen, in der die entscheidenden Positionen mit altgedienten Managern besetzt sind. Dies stärkt zwar die Erfahrungskomponente, die innovativen Impulse durch jüngere Arbeitnehmer dürften jedoch gering ausfallen. Alles in allem sollten die Tücken von Senioritätssystemen nicht unterschätzt werden. Eine Überbetonung der Fluktuationskosten und des Shirkings kann sonst zu einer Einschränkung der Mitarbeitermotivation, der Innovationskraft und der unternehmerischen Anpassungsfähigkeit führen.

359

Zunächst scheint die Tatsache niedriger Eintrittslöhne die Gefahr der negativen Auslese zu bergen. Allerdings werden Arbeitnehmer mit geringer Qualität die langfristig angelegten Arbeitsverträge als unattraktiv ansehen, da sie davon ausgehen müssen, daß sie die späten Stufen nicht erreichen werden (Milgrom und Roberts 1992, S. 157 f.).

360

Ein ähnlicher Effekt tritt ein, wenn das Unternehmen Aufstiegsmöglichkeiten in Aussicht stellt. So können die Erwartungen der Beschäftigten positiv beeinflußt werden, ohne daß die Unternehmen sich selbst zu stark binden. Zu unternehmerischen Beförderungsstrategien siehe Milgrom und Roberts (1992, S. 364 ff.).

361

Dies bezieht sich sowohl auf die allgemeine Arbeitsleistung als auch auf den Willen, sich an neue Produktions- oder Organisationsstrukturen anzupassen (Lernbereitschaft).

362

Das Unternehmen wird weiterhin durch seine Reputation als Arbeitgeber beschränkt, von der die durchschnittliche Arbeitsqualität im Unternehmen abhängt (Milgrom und Roberts 1992, S. 348).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

5.4.1.2.

137

Teamproduktion

Beim klassischen Team wurde bereits auf die Gefahr des Trittbrettfahrens hingewiesen, das sich aus dem Zurechnungsproblem ableitet. In modernen Arbeitsbeziehungen weist jedoch gerade das Arbeiten in kleineren Gruppen verschiedene Vorteile auf. Wird der Gruppe eine gewisse Freiheit bei der Ausgestaltung ihrer Arbeit gelassen, so kann dies zunächst die (intrinsische) Arbeitsmotivation steigern, was wiederum die Mitarbeiterfluktuation sowie die Shirking-Wahrscheinlichkeit senken sollte. Zudem bietet die Arbeitsorganisation in Teams die Möglichkeit, die eigentlich beim Arbeitgeber anfallenden Aufgaben der Kontrolle und Sanktionierung dezentral regeln zu lassen, so daß Überwachungskosten eingespart werden. Innerhalb von Kleingruppen lassen sich Anreizprobleme aufgrund der geringeren Informationsasymmetrien und des schwindenden Spielraums für opportunistisches Verhalten einfacher lösen. Entweder können Informationen über Leistungsverweigerungen (vom Teamleiter) an das Unternehmen weitergegeben werden, oder das Problem entsteht erst gar nicht, da informelle Institutionen Druck auf die potentiellen Drückeberger ausüben. Durch die Nutzung informeller Institutionen entfällt zudem die Gefahr eines leistungsmäßigen Crowding-outs, die bei Kontrollmaßnahmen von Unternehmensseite besteht. Durch die Organisation der Arbeitsabläufe in Teams kann das Unternehmen also sowohl Produktivitätssteigerungen als auch Kosteneinsparungen erzielen. Diese Effizienzgewinne werden jedoch zu einem gewissen Teil durch Lohnerhöhungen der Teammitglieder aufgezehrt. Dies gilt einerseits, weil es mit hohen Fluktuationskosten verbunden sein wird, ein Mitglied aus einer funktionierenden Gruppe herauszulösen und zu ersetzen. Daneben erwarten die Beschäftigten vom Unternehmen eine gerechte Aufteilung des Zugewinnes. Fühlen sich die Arbeitnehmer nicht angemessen an der eigenen Leistung beteiligt, haben sie gerade wegen der Gruppenstruktur die Möglichkeit, dem Unternehmen Kosten aufzuerlegen. Die Unternehmen erkaufen den Effizienzgewinn demnach mit einer höheren Abhängigkeit von den eigenen Beschäftigten. Damit verschlechtern sich die Arbeitsmarktchancen der Arbeitslosen aus Sicht der InsiderOutsider-Theorie weiter. Bisher existiert - auch aufgrund fehlender Daten - nur wenig empirische Evidenz im Hinblick auf die Effizienz unterschiedlicher Entlohnungssysteme.363 In letzter Zeit werden daher vermehrt sogenannte Real-effort-Experimente durchgeführt, um die Prognosen in einem realitätsgetreueren Umfeld zu testen (van Dijk, Sonnemans und van Winden 2001). Dabei kann Teamarbeit auch deswegen mit guten Resultaten aufwarten, weil das Trittbrettfahrerverhalten einiger Akteure durch vermehrte Bemühungen anderer Gruppenmitglieder ausgeglichen wird.364

363 Vgl. den Überblicksartikel von Prendergast (1999). 364 Die Ergebnisse anderer Studien, in denen teambasierte Systeme aufgrund der Trittbrettfahrergefahr schlecht abschnitten, fuhren die Autoren darauf zurück, daß es sich nicht um Real-effort-Experimente handelte, so daß die sozialen Bindungen, die für die gegenläufigen Effekte verantwortlich gemacht werden können, nicht zum Tragen kommen konnten (van Dijk, Sonnemans und van Winden 2001, S. 189).

138

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5.4.1.3.

Leistungslöhne

Um das Shirking-Problem in der Prinzipal-Agenten-Beziehung in den Griff zu bekommen, sind Unternehmen bemüht, leistungsorientierte Lohnsysteme einzuführen. 365 Ist die Leistung problemlos beobachtbar, so lassen sich Arbeitsanstrengung und Lohn fest koppeln, so daß trotz Informationsunvollkommenheiten ein expliziter Anreizmechanismus implementiert werden kann. Dieses Entlohnungssystem kommt dem Ideal des vollständigen Vertrages am nächsten. Es senkt nicht nur die Gefahr des Moral Hazards, sondern kann auch dazu dienen, besonders motivierte Arbeitnehmer anzulocken (.Prendergast 1999, S. 14 f.).366 Allerdings läßt sich zeigen, daß sich unter den Arbeitnehmern selbst bei stark leistungsbezogenen Vertragsformen wie dem Akkordlohn informelle Normen als Schutz gegen eine Verhaltensmanipulation durch die Unternehmen herausbilden (Akerlof 1984, S. 80 ff.; Akerlof 1982, S. 543 ff.). Bei Akkordlöhnen ist den Arbeitnehmern durchaus bewußt, daß sie mit einer Leistungssteigerung nicht nur sich, sondern auch die Unternehmen belohnen. Solange die zusätzlich produzierte Rente in einer in ihren Augen fairen Weise aufgeteilt wird, werden sie grundsätzlich bereit sein, ihre Leistung zu erhöhen. Es ergibt sich jedoch eine obere Grenze bei dem Leistungsniveau, ab dem eine Anpassung der Rate zu Lasten der Beschäftigten erwartet wird - bei dem es also zu einer durch die leistungsstarken Arbeitnehmer verursachten Absenkung des Stücklohnes kommt (Hornaus 1951, S. 79). Eine informelle Regel gegen ein solches rate-busting kann sich aus der Erkenntnis heraus entwickeln, daß eine kurzfristige Eigennutzmaximierung einzelner Arbeitnehmer dem Kollektiv schadet. Die Einhaltung der Norm ist dann auf Konformismus oder auf die Solidarität mit den Schwächeren zurückzuführen. In diesem Fall kann es auf informellem Wege gelingen, ein Kollektivgutproblem zu lösen: Arbeitnehmer, die bessere Leistungen erbringen könnten, lassen sich von den bestehenden Normen in ihrem Verhalten beschränken (Elster 1989a, S. 101 sowie S. 1 12).367 Gewerkschaften oder andere Arbeitnehmervertretungen können solche Prozesse stützen, indem sie innerhalb des Unternehmens als Sammelbecken und Informationsplattform dienen und die Kontrolle und Sanktionierung von Normbrechern organisieren. Aufgrund ihrer überbetrieblichen Tätigkeit können aus unternehmensinternen Regeln informelle Institutionen werden. Es kann also auch bei Akkordlöhnen der Fall eintreten, daß die Unternehmen aufgrund informeller Regelmechanismen weniger produktiv sind, als es im Optimum möglich wäre. Der Vorteil leistungsbezogener Entloh-

365

Neben reinen Zeitlöhnen und Löhnen, die eng an die Leistung anknüpfen, existiert natürlich eine große Bandbreite von Entlohnungssystemen. An dieser Stelle muß der Hinweis auf die ausfuhrliche Diskussion bei Milgrom und Roberts (1992, Kap. 11 bis 13) sowie bei Prendergast (1999) genügen.

366

Das Angebot leistungsorientierter Entlohnung dient dann der Selbstselektion der Arbeitnehmer. Die Unternehmen müßten also die Möglichkeit besitzen, die Bedenken der leistungsstarken Beschäftigten glaubwürdig zu zerstreuen, um die Produktivität weiter steigern zu können - hier ist bspw. an eine Reputation zu denken, die Raten nicht nach oben anzupassen.

367

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

139

nung besteht jedoch darin, daß der Leistungsverweigerung wirksam Grenzen gesetzt werden können. Die Zahlung von Leistungslöhnen ist jedoch mit weiteren Problemen verbunden. 368 So sind häufig lediglich die Ergebnisse und nicht die Leistungen der Beschäftigten zu beobachten - die Entlohnung bezieht sich folglich auf die Outputs und nicht auf die Inputs. Als Beispiele seien Stücklöhne bei der Obsternte oder die Umsatzbeteiligung in der Gastronomie genannt. Die Anknüpfungspunkte stellen daher nur Ersatzgrößen dar und geben die Leistung der Arbeitnehmer nicht immer richtig wieder. Exogene Faktoren wie die Wetterlage, Schädlingsbefall oder Baustellen vor Ausflugslokalen können Einfluß auf das Arbeitsergebnis nehmen. 369 Da diese Risiken nie ganz auszuschließen sind, besteht die Gefahr, daß auch motivierte Arbeitnehmer durch das Entlohnungssystem bestraft werden. Die leistungsabhängige Entlohnung wirkt in diesen Fällen abschrekkend und verliert ihre positive Selektionsfunktion. In jedem Fall verlagert sich ein Teil des Unternehmensrisikos auf die Beschäftigten. Sind letztere risikoscheuer als die Unternehmen, stellt dies keine effiziente Lösung dar (Milgrom und Roberts 1992, S. 187 f.). Ist die Output-Messung nicht objektiv möglich, tritt außerdem ein Opportunismusproblem auf Arbeitgeberseite auf, wo nun der Anreiz besteht, die Qualität der Arbeit anzuzweifeln, um Lohnkosten einzusparen. 370 Das Problem der Meßbarkeit stellt sich um so mehr, je komplexer die zu verrichtenden Tätigkeiten werden, so daß leistungsabhängige Verträge an Bedeutung verlieren.371 Nun kann bspw. versucht werden, die Arbeitnehmer über eine Beteiligung am Gesamterfolg des Unternehmens zur Kooperation zu ermuntern. Schließlich kann eine zu starke Orientierung am mengenmäßigen Output dazu fuhren, daß die Qualität der Leistung nachläßt (Malcomson 1999, S. 2337). Hier ist bspw. an die Freundlichkeit des Services oder an den sorgsamen Umgang mit Maschinen und Materialien im Produktionsprozeß zu denken. Um diese negativen Begleiterscheinungen in den Griff zu bekommen, werden wiederum Qualitätskontrollen nötig, die zusätzliche Kosten verursachen (Milgrom und Roberts 1992, S. 392 ff.). Eine stark leistungsbezogene Bezahlung stößt spätestens dann an ihre Grenzen, wenn die Kooperation zwischen den Arbeitnehmern besonders wichtig ist. Diese kann bei einer starken Fixierung auf die eigene Leistung Schaden nehmen, was sich sowohl auf die Bereitschaft auswirkt, den Kollegen zu helfen, als auch in einem Rückgang der zeitintensiven Ermittlung und Wei368

369 370 371

Bei manchen Produktionsweisen ist eine solche Entlohnung grundsätzlich nicht sinnvoll, bspw. bei einer Linienproduktion oder bei Just-in-time-Produktionen, bei denen die Koordination des Gesamtablaufs mehr zählt als die hohe Produktivität des einzelnen Arbeiters (Milgrom und Roberts 1992, S. 394). Bei der industriellen Produktion sind die Arbeiter von der Qualität der Maschinen abhängigDa die Reputation des Unternehmens in der Regel einen höheren Wert hat als die eines einzelnen Arbeitnehmers, ist opportunistisches Verhalten durch die Unternehmen jedoch unwahrscheinlicher (Milgrom und Roberts 1992, S. 139 f.). Mit der Komplexität der Aufgaben verstärkt sich nicht nur das Problem der Meßbarkeit, sondern es steigen auch die Kosten für die Ausarbeitung der Entlohnungssysteme. Zeitlöhne werden damit attraktiver, was für die Unternehmen bedeutet, daß sie neue Wege der Arbeitnehmermotivation finden müssen.

140

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tergabe von Informationen zeigt. Dies trifft in noch stärkerem Maße zu, wenn die Entlohnung der Arbeitnehmer nach ihrer relativen Leistung vorgenommen wird. Bei solchen Tournaments ist es für den einzelnen Mitarbeiter nicht nur vorteilhaft, wenn er selber gute Arbeit leistet, sondern auch wenn die anderen schlecht abschneiden (van Dijk, Sonnemans und van Winden 2001, S. 209).372 Hierunter leidet dann die Gesamtleistung des Unternehmens (Lazear 1991, S. 95). Die Ausgestaltung des Entlohnungssystems beeinflußt also das Verhalten der Akteure. Spielen Leistungsfragen eine Rolle, so sehen sich Menschen als Konkurrenten, werden hingegen Kooperation und Pflichterfüllung in den Vordergrand gestellt, so ergibt sich Raum für Reziprozität und intrinsische Motivation (Schlicht 1999, S. 37). Da die Unternehmen für die grundsätzliche Ausgestaltung der Beziehung zwischen den Beschäftigten verantwortlich sind, wird die Art und Weise der Organisation auch auf das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Unternehmen zurückwirken.373 5.4.1.4.

Alternative Anreizmechanismen

zur Verhinderung von Bummelei

Effizienzlöhne sind aus Sicht der Shirking- sowie der Fluktuationskosten-Ansätze nur so lange nötig, wie den Arbeitgebern eine vollkommene Kontrolle über die Leistungserbringung verwehrt ist und die Kosten des Arbeitnehmerverhaltens bei den Unternehmen anfallen. Genau hierin liegt ein Angriffspunkt, denn über die Ausgestaltung raffinierter Anreizsysteme lassen sich modelltheoretisch Durchsetzungsmechanismen ableiten, die die Lasten auf die Arbeitnehmer abwälzen, so daß sich ein effizientes Marktergebnis einstellt. So ist es im Fluktuationskostenansatz denkbar, den Humankapitalunterschied zwischen Insidern und Outsidern auszugleichen, indem man von den Arbeitslosen eine Art Markteintrittsgebühr in Höhe der Ausbildungskosten erhebt.374 Im Shirking-Fall könnte man von den Arbeitslosen eine Kaution verlangen (Bonding), die im Falle der Bummelei vom Unternehmen einbehalten wird.375 Die Erwerbslosen werden durch diese Zahlung konkurrenzfähig und können die Arbeitslosigkeit umgehen. Die Verfechter der Effizienzlohntheorie fuhren als Erwiderung an, daß in der Praxis nahezu niemals Eintrittszahlungen, Kautionen oder die Übernahme von Ausbildungskosten durch die Beschäftigten zu beobachten sind {Baker, Jensen und Murphy 1988, S. 613; Katz 1986, S. 245). Dieses Argument fallt nach Ansicht ihrer Gegenspieler jedoch auf die (Ir-) Relevanz der Effizienzlohntheorie selbst zurück: Wenn keine Effizienzlöhne gezahlt werden, werden auch keine Markteintrittszahlungen benötigt (Carmichael 1990, S. 282).

372 373 374 375

Umgekehrtes gilt für die Teamentlohnung, bei der jedoch die beschriebenen Trittbrettfahrerprobleme auftreten können. Ein stark konkurrenzbezogener Ansatz rückt die Arbeitsbeziehung in die Nähe von Markttransaktionen, was das Herausbilden informeller Regelmechanismen erschwert. Vgl. Carmichael (1985 und 1990, S. 282 ff.) sowie die Replik von Shapiro und Stiglitz (1985). Die Einwände richten sich sowohl gegen das Shirking-Modell als auch gegen die Fluktuationskostenansätze. Eine Kaution wirkt als Austrittsgebühr sowohl den Fluktuationskosten als auch dem Shirking entgegen.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

141

Obwohl Kautionen Tauschgeschäfte erleichtern, vor allem wenn Probleme mit spezifischen Investitionen auftreten, weisen sie auf dem Arbeitsmarkt zahlreiche Mängel auf {Lindbeck und Snower 2001, S. 169). Sind die unternehmerischen Kontrollmöglichkeiten beschränkt oder ist der finanzielle Anreiz des opportunistischen Verhaltens sehr groß, so können die notwendigen Eintrittszahlungen schnell sehr hoch werden. Damit greifen bei den Outsidern finanzielle Restriktionen, die den Markteintritt erschweren. Zudem besteht die Gefahr opportunistischen Verhaltens auf Seiten der Arbeitgeber, da es von außen oftmals nur schwer zu entscheiden ist, aus welchem Grund ein Arbeitnehmer tatsächlich das Unternehmen verläßt. Damit ergeben sich für die Unternehmen Anreize, sich die Kaution anzueignen (Shapiro und Stiglitz 1985, S. 1216).376 Zumindest ein Teil dieser Probleme kann jedoch über Reputationseffekte gelöst werden, so denn eine gewisse Transparenz der Beschäftigungsentscheidungen des Unternehmens gegeben ist.377 Zudem könnte die Zahlung an eine dritte Partei erfolgen. Damit entfiele das Aneignungsproblem, allerdings bestünde das Beurteilungsproblem fort. Über die Einschaltung einer weiteren Partei erhöhen sich außerdem die Kosten des Mitarbeitertausches. Daß Kautionen in der Realität nicht zu beobachten sind, dürfte neben den bereits genannten Einwänden in erster Linie damit zu begründen, daß ein solches Vorgehen gegen eine Reihe von Gerechtigkeitsnormen verstößt und damit den Geschenkaustausch in relationalen Arbeitsbeziehungen beschädigt. Eine Kautionsforderung wird von einem Bewerber als starkes Zeichen von Mißtrauen ausgelegt. Intrinsisch motivierte und reziprok agierende Arbeitnehmer werden abgeschreckt, es bewerben sich hauptsächlich stark extrinsisch motivierte Akteure, was für das Unternehmen mit Produktivitätseinbußen verbunden ist, die stärker wiegen als die Einsparungen durch den optimalen Anreizvertrag {Frey 1997, S. 98). Diese These wird durch Arbeitsmarktexperimente gestützt, in denen bei unvollständigen Arbeitsverträgen trotz eines Angebotsüberschusses auf dem Arbeitsmarkt keine Eintrittszahlungen auftreten {Gächter und Fehr 2002, S. 112 f.; Brown, Falk und Fehr 2003, S. 29 f.). Im Gegenteil - die Firmen zahlen den Arbeitnehmern sogar eine Eintrittsprämie. Hieraus kann geschlossen werden, daß das Motivationselement in den Arbeitsbeziehungen die Bedeutung der Arbeitsmarktkonkurrenz bei weitem übersteigt. Neben den informellen Normen können natürlich auch formale Institutionen wie Mindestlöhne dazu fuhren, daß Kautionen oder Eintrittsgebühren nicht zum Einsatz kommen. So wird ein starkes Absinken des Eintrittslohnes sowohl über die Wirkung formaler als auch über informelle Institutionen verhindert.378

376

377

378

Beim Überwälzen der Ausbildungskosten fällt das Moral-Hazard-Problem auf Unternehmensseite geringer aus, da auch das Unternehmen ein Interesse am Erhalt der spezifisch ausgebildeten Arbeitskraft besitzt. Katz (1986, S. 245) vermutet, daß der Reputationsaspekt vor allem bei Großunternehmen wirkt, die stark in der Öffentlichkeit stehen, und denen eine negative Wahrnehmung im Hinblick auf das Anwerben neuer Arbeitskräfte am stärksten schaden würde. Siehe auch Akerlof und Yeilen (1986, S. 6). Daher ist auch nicht anzunehmen, daß eine Abschaffung von Mindestlöhnen allein zu einem schlagartigen Abbau der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit fuhren wird {Shapiro und Stiglitz 1985, S. 1217).

142

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5.4.1.5.

Fazit

Durch die Zahlung von Effizienzlöhnen wird sowohl die Mitarbeiterfluktuation zurückgehen als auch die Neigung, sich durch Bummelei der Gefahr der Arbeitslosigkeit auszusetzen. Bedeutsam ist in jedem Fall die Erkenntnis, daß Unvollkommenheiten in der Arbeitsbeziehung sogar auf vollkommenen Märkten das Marktgleichgewicht und die Preiseinheitlichkeit verhindern können. Arbeitslosigkeit entsteht also selbst bei Abwesenheit formaler Arbeitsmarktregulierungen oder anderer Friktionen auf dem externen Arbeitsmarkt. Der Shirking-Ansatz der ELT hat jedoch Schwierigkeiten, eine eigenständige Erklärung für dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit zu finden. So wird ja gerade vorhergesagt, daß die Löhne bei steigender Arbeitslosigkeit sinken sollten. Es wurde jedoch bereits darauf hingewiesen, daß Lohnsenkungen nur zeitverzögert einsetzen werden, so daß die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitslosen möglicherweise schneller sinkt als die Löhne. Weiterhin können unternehmerische Anreizmechanismen wie Senioritätssysteme dazu führen, daß sich die Anpassungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt verzögern - dies gilt für Entlassungen, vor allem aber auch für Lohnanpassungen. Alles in allem spricht einiges dafür, daß die Shirking-Problematik durchaus Relevanz für den Arbeitsmarkt besitzt, daß sie sich jedoch in differenzierterer Form äußert als nur in anreizkompatiblen Effizienzlöhnen (Bewley 2004, S. 14). Warum sich steigende Arbeitslosigkeit nicht in sinkenden Löhnen niederschlägt, kann anhand weiterer Varianten der ELT aufgezeigt werden. Mit Motivationsgesichtspunkten sowie informellen Institutionen und Reputationseffekten sind bereits einige Punkte angesprochen worden, die im Rahmen der ELT vorgebracht werden, um einen positiven Zusammenhang zwischen Lohn und Leistung zu postulieren. Die hierauf basierenden Ansätze sollen in den nun folgenden Abschnitten einer genauen Analyse unterzogen werden. 5.4.2. Lohngerechtigkeit, Arbeitsbeziehungen und Arbeitslosigkeit Die Frage nach dem gerechten Lohn beschäftigt die Ökonomen bereits seit einiger Zeit.379 Dabei steht bei älteren Ansätzen die Arbeiterfrage im Mittelpunkt. Dies wird vor allem in den Beiträgen von Alfred Marshall deutlich. A fair day's wage for a fair day's work lautet die Norm, an der er sich in seinem 1887 erschienenen Aufsatz A fair rate of wages orientiert. Diese Norm ist seiner Ansicht nach dann erfüllt, wenn jeder Arbeitnehmer nach dem ortsüblichen Tarif entlohnt wird (Marshall 1887/1956, S. 213). Weiterhin sollte ihm dieser Lohnsatz freiwillig gezahlt werden, also ohne daß er für ihn zu kämpfen hat oder andauernd in der Furcht leben muß, daß der Arbeitgeber versucht, seine Macht auszuspielen, um den Preis zu drücken. Marshall (1887/1956, S. 212) erkennt zwar an, daß eine exakte Bestimmung des fairen Lohnsatzes besonders in Zeiten dynamischen Wandels schwierig sein dürfte, bemerkt aber zu seiner Bedeutung:

379

Die allgemeinere Frage nach dem gerechten Preis läßt sich noch weiter zurückverfolgen

(Fehl 1989).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

143

„But the phrase [a fair rate of wages - M.D.] is constantly used in the market place; it is frequent in the mouths both of employers and of employed; and almost every phrase in common use has a real meaning, though it may be difficult to get at."380 Alles in allem betont er früh die Notwendigkeit eines kooperativen Klimas für die Aufrechterhaltung der Produktionsbedingungen. Dies zeigt sich unter anderem darin, daß er den gerechten Lohn nicht als etwas Konstantes versteht, sondern seine Höhe an die wirtschaftliche Situation des jeweiligen Unternehmens knüpft. Schwankungen in der Auftragslage lassen daher Anpassungen des Lohnniveaus angemessen erscheinen, wobei es auch hier in dem Sinne fair zugeheh sollte, daß beide Seiten die Vor- oder Nachteile der jeweiligen Entwicklung gemeinsam tragen. Dies bringt in Rezessionen Lohnsenkungen mit sich, die jedoch in Boomphasen ausgeglichen werden können. Hiermit nimmt Marshall das in der Effizienzlohntheorie verwendete Prinzip reziproken Verhaltens in seinen Grundzügen voraus, in dem er Gegenseitigkeit als eine der Grundfesten eines fairen Miteinanders proklamiert (Marshall 1887/1956, S. 216 f.). An dieser Stelle kann keine umfassende dogmengeschichtliche Aufarbeitung erfolgen 381 , es bleibt jedoch festzuhalten, daß die Bedeutung von Gerechtigkeitsfragen in der Arbeitsbeziehung trotz des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels unverändert groß ist. So bemerkt Solow (1990a, S. 279) etwa einhundert Jahre nach Marshall: „The really important way in which the labor market differs from the classical economic market is that there is an understood concept of fairness, which steers the behavior of the workers and even of employers." Die durchaus verbreitete Einsicht, daß die Frage der Lohngerechtigkeit eine wichtige Rolle auf dem Arbeitsmarkt einnimmt, schlug sich jedoch lange Zeit nicht in der arbeitsmarkttheoretischen Forschung nieder (Rees 1993, S. 243 ff.). 382 Tatsächlich sind die Wirkungen gesellschaftlicher Nonnen erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten stärker in den Blickpunkt des Interesses gerückt. 383 Die bisher diskutierten Effizienzlohnansätze können zwar bereits eine Reihe von Arbeitsmarktphänomenen erklären, liefern aber keinen Hinweis darauf, warum die Zahlung von Effizienzlöhnen auch bei Arbeitnehmern zu beobachten ist, die nur relativ geringe Kosten durch Fluktuation oder Bummelei verursachen können. In diesen Berufsgruppen sollten die Löhne nahezu dem Marktniveau entsprechen, außerdem dürften keine Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Branchen zu beobachten sein. Es läßt sich jedoch zeigen, daß sich die Lohndifferentiale zwischen verschiedenen Unternehmen und Industrien durch alle Berufsgruppen ziehen (Akerlof und Yeilen 1988, S. 44;

380 381 382

383

Siehe in diesem Sinne auch die Ausführungen in Abschnitt 3.2. Stabile (1996) bietet eine dogmengeschichtliche Abhandlung zu den Begriffen Arbeit und Wohlfahrt. Rees (1993, S. 243 f.), der wiederholt als Schlichter in Lohnverhandlungen eingesetzt wurde, bemängelt weiterhin: „In none of the roles did I find the theory I had been teaching for so long to be the slightest help. The factors involved in setting wages and salaries in the real world seemed to be very different than those specified in the neoclassical theory." Als Pionierarbeiten sind die Effizienzlohnansätze von Akerlof (1982, 1984) sowie von Akerlof und Yellen (1988, 1990) zu nennen.

144

Martin Dietz

Katz 1986, S. 260). Zudem gehen die bisherigen Erklärungsansätze noch immer von Arbeitsbeziehungen aus, in denen die extrinsische Motivationslage im Vordergrund steht. Mit der Art und Weise, wie (relationale) Arbeitsverträge zu Beginn dieses Kapitels definiert worden sind, haben sie daher nicht viel gemein. Die im folgenden zu analysierenden Effizienzlohnansätze sehen das Arbeitsverhältnis als nicht-anonyme, dauerhafte Verbindung zwischen Unternehmen und Beschäftigten. Diese relationale Arbeitsbeziehung zeichnet sich abseits des ökonomischen Tausches und formaler Anreizmechanismen durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen aus, das durch gesellschaftliche Normen und internalisierte Institutionen geregelt wird (Geschenkaustausch). Die folgenden Abschnitte beziehen sich auf weitere Varianten der ELT, die sich auf eine positive Korrelation zwischen Lohn und Leistungsniveau bei unvollständigen Arbeitsverträgen gründen. Zunächst soll das effizienzlohntheoretische Modell vorgestellt werden, um dann zu seiner Stützung eine Reihe von Arbeitsmarktexperimenten zu präsentieren. Diese beleuchten die Regelmechanismen in relationalen Arbeitsbeziehungen und deren Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt. U m die Stärke der informellen Regeln herauszustellen, bilden die Experimente zunächst anonyme und einmalige Beziehungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten ab, in denen sich aufgrund der Unvollständigkeit von Verträgen trotzdem Raum für das Wirken weicher Anreizmechanismen ergibt. Anschließend wird untersucht, ob harte Anreize in Form von Kontrollen oder Sanktionen die Effizienz der Vertragsbeziehung erhöhen können. Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluß die Arbeitsmarktlage auf die Motivationszusammenhänge und die Lohnhöhe in den Arbeitsbeziehungen hat. Erst danach werden die für die Wirkung von informellen Regeln bedeutsamen Aspekte realer Arbeitsverhältnisse in Form von wiederholten Interaktionen und Kommunikation zwischen den Vertragspartnern eingeführt. Bei all diesen Studien wirkt der markträumende Lohn als Referenzpunkt fiir den Geschenkaustausch in der Arbeitsbeziehung. Im nächsten Schritt werden weitere Referenzpunkte analysiert. Dabei spielt insbesondere der Vergleich mit anderen Arbeitnehmern sowie mit dem Unternehmensgewinn eine bedeutende Rolle. Diese Vergleichsprozesse verstärken die Bedeutung des Lohnes als Motivationsinstrument und liefern damit wiederum Erklärungen für Löhne, die sich dauerhaft oberhalb des markträumenden Niveaus halten. 5.4.2.1.

Das effizienzlohntheoretische Beziehung

Grundmodell

bei positiver

Lohn-Leistungs-

Der erste Beitrag zum Geschenkaustausch in den Arbeitsbeziehungen von George Akerlof (1982) gründet sich auf die Studie eines Unternehmens, das für gut kontrollierbare Tätigkeiten, die auch einen Leistungslohn ermöglicht hätten, auf Zeitlöhne in Verbindung mit Mindeststandards zurückgriff. 384 Das überraschende Ergebnis dieses Arrangements lautete, daß die Standards von den Mitarbeitern regelmäßig und zum Teil 384

Oberhalb des Mindeststandards war die Leistungserbringung demnach freiwillig. Der Geschenkaustauschansatz der ELT läßt sich entweder über die Theorie des sozialen Austausches (Homans 1961 sowie Blau 1964) oder über die von Adams (1965) entwickelte Equity-Theorie fundieren. Er firmiert daher häufig unter dem Schlagwort der soziologischen Effizienzlohntheorie.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

145

deutlich übertroffen wurden, ohne daß das Unternehmen mit einer Anhebung des Standards reagierte. Selbst wenn die Richtschnur einmal unterboten wurde, zog dies keine spürbaren Sanktionen nach sich (Akerlof 1982, S. 544 ff.). Weder das Verhalten der Arbeitnehmer noch das Verhalten des Unternehmens sind mit den Annahmen der materiellen Eigennutzmaximierung vereinbar. Ein Erklärungsansatz besteht darin, daß das Unternehmen die Heterogenität der Beschäftigten erkennt, aber nicht in der Lage ist, jedem Arbeitnehmer individuell ausgehandelte Löhne zu zahlen.385 Bei der Festlegung des Standards stellt sich dann die Frage des Orientierungspunktes. Akerlof (1982, S. 549) greift hierzu auf einen Ansatz zurück, der die sozialen Zusammenhänge von Arbeitsabläufen in Gruppen und deren Vorstellung von gerechten Löhnen berücksichtigt: „The working group as a whole actually determined the Output of individual workers by reference to a Standard, predetermined but clearly stated, that represented the group's perception of a fair day's work."386

Die Wahl eines niedrigen Standards kann erklärt werden, wenn man annimmt, daß eine gewisse Solidarität der starken Mitarbeiter für die schwächeren Kollegen besteht. Damit letztere nicht ihren Arbeitsplatz verlieren, sind diejenigen, denen das Arbeiten leichter fällt, bereit, den Mindeststandard zu übertreffen und das Unternehmen auf diese Weise für das Entgegenkommen zu entlohnen.387 Im Verzicht auf höhere Standards, der von den Beschäftigten durch ein freiwilliges Übertreffen der Mindestanforderungen beantwortet wird, ist dann ein Geschenkaustausch zwischen Unternehmen und Beschäftigten zu sehen.388 Um diese implizite Übereinkunft nicht zu gefährden, sieht das Unternehmen davon ab, die Richtlinien zu erhöhen (Akerlof 1982, S. 550 f.). Arbeitsstandards können dann als Zeichen eines normativen Grundkonsenses zwischen den Vertragsparteien interpretiert werden (Sesselmeier 1999, S. 110). Diese Überlegungen überträgt Akerlof auf den von den Beschäftigten als fair angesehenen Lohnsatz und modelliert auf diese Weise die Arbeitsmarktergebnisse in einem Geschenkaustauschmarkt. Dabei wird angenommen, daß die Arbeitnehmer bereit sind, mit höheren Leistungen zu reagieren, wenn ihnen faire Lohnangebote unterbreitet werden. Die nun zu diskutierenden Varianten der ELT verweisen also auf eine positive Beziehung zwischen Lohn und Leistung. Steigt die Motivation mit der Höhe des Lohnes, so stellt der Lohnsatz nicht mehr nur einen Kosten-, sondern auch einen Produktionsfaktor dar. Als Beispiel für die positive Lohn-Leistungs-Beziehung wird oftmals die Lohn-

385

Dagegen können sowohl Kostengründe als auch formale Institutionen (Tarifverträge) sprechen.

386

Malcomson (1999, S. 2355) verweist darauf, daß Arbeitgeber nahezu einmütig der Meinung sind, daß die Einschätzung der fairen Lohn-Leistungs-Beziehung durch Gruppennormen beeinflußt wird.

387

Die besondere Beziehung zwischen Arbeitnehmern verwundert nicht, da man mit den Arbeitskollegen häufig mehr Zeit verbringt als mit Familie oder Freunden. Neben dem Solidaritätsaspekt bieten niedrige Arbeitsstandards auch den guten Arbeitnehmern Schutz für den Fall, daß bei ihnen eine Schwächung der Leistungsfähigkeit eintreten sollte. Die Orientierung an den Schwachen kann daher als eine Variante des Rawls'sehen Gerechtigkeitsprinzips angesehen werden, die im Hinblick auf die eigene Position eine extreme Risikoaversion beinhaltet.

388

146

Martin Dietz

politik der Ford-Werke angeführt, die 1913/14 eine Absenkung der Tagesarbeitszeit bei gleichzeitiger Lohnerhöhung beschlossen. Dadurch wurde der Stundenlohn mehr als verdoppelt, wofür es aus betriebwirtschaftlicher Sicht keinerlei Anlaß gab ( R a f f und Summers 1987; Gärtner 2003, S. 153 f.). Die Maßnahmen führten jedoch zu einer gesteigerten Produktivität und sinkenden Fluktuationskosten. Auch wenn nicht genau nachgewiesen werden kann, daß sich auch die Gewinne erhöht haben, so deuten die Daten jedoch auf die Richtigkeit der Annahmen über die Wirkungen des Lohnes abseits der Berücksichtigung als Kostenfaktor hin. Aufgrund dieses Zusammenhanges kann es für Unternehmen rational werden, Löhne oberhalb des markträumenden Niveaus zu zahlen. Dieses Ergebnis läßt sich anhand eines einfachen Modells ableiten, in dem ein Unternehmen das Gut Y unter Einsatz von Arbeitskraft L erstellt.389 Die Arbeitsverträge sind unvollständig, so daß nicht nur die physische Zahl der Beschäftigten in die Produktionsfunktion eingeht, sondern auch das durch den Arbeitnehmer autonom bestimmbare Leistungsniveau e, das positiv vom Lohnsatz w abhängt: Y=f[e(w)L], Die Gewinne des Unternehmens ergeben sich als Differenz zwischen Erlös und Kosten, wobei der Preis des Gutes Y auf eins normiert ist: G

=f[e(w)L]-wL.

Weist die Lohn-Leistungs-Beziehung e(w) einen s-fÖrmigen Verlauf auf, so ergibt sich das gewinnmaximale Lohnangebot in dem Punkt, in dem der Fahrstrahl aus dem Ursprung die Lohn-Leistungs-Kurve tangiert. Dann wird der Arbeitseinsatz e pro Lohneinheit w maximal, bzw. die Lohnkosten pro Effizienzeinheit [w(e)/e] werden minimiert (Abbildung 7). Abbildung 7: Ermittlung des Effizienzlohnes bei s-förmiger Lohn-Leistungs-Kurve

389

Vgl. zu der hier gewählten Darstellung Gärtner (2003, S. 149 ff.) sowie Akerlof und Yellen (1988, S. 45).

147

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

Gilt dieser Zusammenhang, und ist er den Unternehmen bekannt, so werden sie den hierdurch bestimmten, effizienten Lohnsatz w* wählen. Jedes Unternehmen wird demnach Arbeitnehmer einstellen, bis das Grenzprodukt der Arbeit gleich dem Reallohn ist:390 e(w*)f'[e(w*)L*J

= w*.

Beim Effizienzlohn w* ist die sogenannte So/ow-Bedingung erfüllt - die Elastizität der Arbeitsleistung ist eins:391 de (w) e(w)

/dw /

w

_ j ^

d e ( w ) _ e ( w ) dw

w

Liegt der Effizienzlohn w* links von der individuellen Arbeitsangebotsfunktion, so entsteht im Gleichgewicht unfreiwillige Arbeitslosigkeit (Abbildung 8). Arbeitslose sind bereit, zum Lohn w* zu arbeiten, doch selbst eine Lohnunterbietung wird ihnen nicht den Markteintritt bescheren, da es sich bei w* um den aus Unternehmenssicht gewinnmaximalen Lohnsatz handelt. Abbildung 8: Unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Effizienzlohnmodell

Arbeitslosigkeit

In dem hier skizzierten Grundmodell gelten wiederum stark vereinfachte Annahmen. Die Arbeitnehmer sind homogen in ihren Qualifikationen und in ihren Lohn-LeistungsBeziehungen, letztere sind den Unternehmen bekannt. 392 Zudem hängt die Existenz eines eindeutigen Effizienzlohnes vom s-förmigen Verlauf der Lohn-Leistungs-Kurve ab.

390

391 392

Unterschiedliche Effizienzlohnhöhen lassen sich in diesem Modell auf unterschiedliche Lohn-Leistungs-Beziehungen zurückfuhren und liefern somit eine Erklärung für interindustrielle Lohndifferentiale. Die So/ow-Bedingung (Solow 1979) ergibt sich durch das Zusammenführen der partiellen Ableitungen der Gewinnfunktion nach w sowie nach L. Um aus den mikroökonomischen Überlegungen auf die gesamtwirtschaftliche Aussage schließen zu können, müssen außerdem die Unternehmen homogen sein.

148

Martin Dietz

Ist sie dagegen über den gesamten Bereich konkav, so existiert kein Effizienzlohn.393 Die Einfuhrung von Heterogenität und Ungewißheit erschwert das Optimierungskalkül der Unternehmen weiter, so daß ,echte' Effizienzlöhne nur schwer zu erreichen sein werden. Weiterhin ist zu kritisieren, daß es sich bei diesem Modell um eine Art StackelbergLösung handelt, bei der sich das Unternehmen optimal an eine gegebene LohnLeistungs-Beziehung der Beschäftigten anpaßt. Das Verhalten der Arbeitnehmer wird dagegen als unveränderlich angesehen - auf beiden Seiten sind keine Lern- oder Anpassungsprozesse vorgesehen. Es ist jedoch damit zu rechnen, daß das Verhalten von Beschäftigten und Arbeitgebern wechselseitige Interdependenzen aufweist, so daß der Effizienzlohn im Zeitverlauf Veränderungen unterliegt (Rebitzer 1993, S. 1410). Auch Korrekturen der Lohn-Leistungs-Beziehung sind wahrscheinlich. So gibt es Anzeichen dafür, daß sich extrinsische Anreize nur dann nicht erschöpfen, wenn sie kontinuierlich erhöht werden. Ein gleichbleibendes Leistungsprofil kann dann nur bei steigenden Löhnen aufrechterhalten werden, so daß w * ständig nach oben angepaßt werden müßte. Bisher wurde der positive Lohn-Leistungs-Zusammenhang, aus dem die besonderen Ergebnisse dieses Modells resultieren, relativ ad hoc anhand von Beispielen eingeführt. Daher sollen nun experimentelle Studien vorgestellt werden, die empirische Belege zur Stützung der Ausgangsthese liefern. Innerhalb relationaler Arbeitsbeziehungen kommt vor allem Reziprozitäts- und Gerechtigkeitsnormen eine große Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang neigen Menschen zu Vergleichsprozessen. Sie beurteilen die ihnen zukommende Entlohnung anhand verschiedener Referenzpunkte, um ihr Verhalten anschließend an diesem subjektiven Urteil auszurichten {Baxter 1993, S. 223).394 Sind sich die Unternehmen dieses Verhaltensmusters bewußt, so werden sie ihre Lohngebung darauf abstimmen. Die Koordinationsfunktion des Lohnes und damit der traditionell marktliche Aspekt der Löhne tritt dann in den Hintergrund, der Fokus liegt auf der Anreizfunktion und den Möglichkeiten der aktiven Beeinflussung der Leistungsmotivation innerhalb des Produktionsprozesses. Der Lohnsatz wird im Gegensatz zu den bisherigen Effizienzlohnvarianten also offensiv und gestaltend eingesetzt. Hierdurch ergeben sich für beide Vertragspartner vorteilhafte Ergebnisse - als Nebeneffekt entsteht jedoch unfreiwillige Arbeitslosigkeit. 5.4.2.2.

Der Gleichgewichtslohn als Referenzpunkt - experimentelle

Evidenz

Arbeitsmarktexperimente können neben Befragungen, Fallstudien und ökonometrischen Untersuchungen dazu beitragen, Theorien der Lohnfindung und der Arbeitslosig-

393

394

Weiterhin lassen sich Verläufe finden, bei denen der Effizienzlohn nicht eindeutig ist (Goerke und Holler 1997, S. 516 f.). Wie bereits dargelegt worden ist, sollen Gleichgewichtsmodelle in dieser Arbeit lediglich eine anleitende Funktion ausüben. Das hier dargestellte Modell dient also der Verdeutlichung, wie sich die zugrundeliegende Intuition modelltheoretisch umsetzen läßt. Dabei übernimmt in den folgenden Experimenten der Gleichgewichtslohn die Rolle des Referenzpunktes, bevor in Abschnitt 5.4.2.3. soziale Vergleichsprozesse analysiert werden.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

149

keit eine empirische Basis zu verschaffen (Gächter und Fehr 2002, S. 95 ff.).395 Der Vorteil experimenteller Studien liegt vor allem in der Möglichkeit, eine isolierte Betrachtung von Ceteris-paribus-Analysen vorzunehmen. Dies gilt auch für Arbeitsmarktexperimente, in denen unter anderem versucht wird, die Auswirkungen verschiedener Vertragsausgestaltungen hinsichtlich der Auszahlungen der Akteure und der Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt herauszuarbeiten. Von besonderem Interesse ist dabei, herauszufinden, welche Ursachen dafür bestehen, daß der Preismechanismus auf dem Arbeitsmarkt nicht ausreichend funktioniert. Sind hierfür formale Institutionen verantwortlich, was mit der neoklassischen Theorie des Arbeitsmarktes kompatibel wäre, oder aber können Lohnrigiditäten endogen aus dem Verhalten der Akteure erklärt werden, auch wenn dem Markt keine künstlichen Schranken gesetzt werden? Zunächst soll die Ausgestaltung von Arbeitsmarktexperimenten vorgestellt werden, wie sie als Basisdesign den allermeisten Studien zugrunde liegt.396 Zu Beginn werden die Teilnehmer per Los gleichmäßig auf die Rollen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer verteilt. Dann werden zwei Akteure - jeweils einer aus beiden Gruppen - zusammengeführt (bilateraler Geschenkaustausch).397 Die andere Variante des Geschenkaustauschmarktes zeichnet sich dadurch aus, daß die Arbeitgeber der Gruppe der Arbeitnehmer (über den Experimentator vermittelte) Lohnangebote unterbreiten (oral auctiori). In beiden Fällen kann jeder Teilnehmer pro Sitzung genau ein Arbeitsverhältnis schließen. Um die Besonderheit unvollständiger Arbeitsverträge mit dem zeitlichen Auseinanderfallen von Lohn und Leistung abbilden zu können, besteht eine Sitzung aus zwei Stufen. Nimmt ein Arbeitnehmer ein Lohnangebot in Stufe 1 an, so legt er in Stufe 2 seine Leistungsintensität fest. Anschließend werden die Auszahlungen berechnet, die den Teilnehmern am Ende des Experimentes ausgehändigt werden.398 Um zu testbaren Ergebnissen zu gelangen, werden den Akteuren folgende Vorgaben gemacht. Den Arbeitgebern wird eine Summe von v = 120 Geldeinheiten (GE) zur Verfügung gestellt, die sie zum Anwerben eines Arbeitnehmers einsetzen können. Zudem wird ein Mindestlohn von 20 GE festgesetzt, so daß sich das Lohnniveau w im Intervall [20, 120] bewegt.399 Nimmt ein Arbeitnehmer ein Lohnangebot an, so kann er in der zweiten Stufe mit einem frei wählbaren Leistungsniveau e im Bereich zwischen 0,1 und 1,0 antworten, wobei es sich um Stufen von 0,1 Einheiten handelt. Der Output des Unternehmens hängt positiv von der Leistung des Arbeitnehmers ab. Dagegen ist die Ar395 Falk und Fehr (2003) beschäftigen sich mit dem Nutzen und den Vorbehalten gegenüber Arbeitsmarktexperimenten. 396 Die folgenden Angaben beziehen sich auf Gächter und Fehr (2002, S. 98 ff.). Dieses Arbeitsmarktexperiment mit unvollständigen Verträgen, das eine empirische Fundierung des Gift-Exchange-Ansatzes von Akerlof (1982, 1984) sowie von Akerlof und Yeilen

397

398 399

(1988, 1990) bietet, geht auf Fehr, Kirchsteiger und Riedl (1993) zurück. Die Teilnehmer werden nach jeder Periode neu zusammengeführt, wobei sichergestellt wird, daß eine Paarung kein zweites Mal zustande kommt. Es handelt sich also um einmalige und anonyme Interaktionen. Da dies den Teilnehmern bekannt ist, besteht nicht die Möglichkeit, sich strategisch zu verhalten. In der Regel werden mehrere Runden gespielt, so daß untersucht werden kann, ob sich die Ergebnisse durch die Wiederholung des Spiels verändern. Es können nur ganze Zahlen gewählt werden.

150

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beitsanstrengung für den Arbeitnehmer mit Kosten verbunden. Die Arbeitsleidhypothese wird abgebildet, indem sich die Kosten der Arbeit c(e) für die Beschäftigten mit steigendem Leistungsniveau erhöhen. Auch diese Relation ist vorgegeben (Tabelle 8). Tabelle 8: Berechnung des Arbeitsleids Effort e

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

0,6

0,7

0,8

0,9

1,0

Arbeitsleid c(e)

20

21

22

24

26

28

30

32

35

38

Der Interessenkonflikt zwischen Prinzipal und Agenten kommt also sowohl in der Höhe des Lohnsatzes als auch in der Leistungsintensität zum Ausdruck. Die Auszahlungen der Arbeitnehmer (Worker) n w und die Gewinne der Firmen n F ergeben sich als nw = w-c(e) bei Abschluß des Vertrages oder nw = 0 , wenn kein Vertrag zustande kommt, und nF = (v - w ) e bei Abschluß des Vertrages oder nF = 0 , wenn kein Vertrag zustande kommt.400 Die Auszahlungsergebnisse werden nach jeder Runde verkündet, so daß eine hohe Transparenz im Hinblick auf die Marktstruktur und die Marktergebnisse besteht. Insbesondere war es den Arbeitnehmern möglich, die Gewinne der Unternehmen in Abhängigkeit von ihrer Leistung zu errechnen. (l)

Unvollständige Verträge - Anreize zum Geschenkaustausch

Ein vollkommener Arbeitsmarkt zeichnet sich dadurch aus, daß die im Arbeitsvertrag fixierten Vereinbarungen (Lohnzahlungen und Leistungsniveau) perfekt beobachtbar und kostenlos durchsetzbar sind. Die zweite Stufe der Leistungsbestimmung durch die Arbeitnehmer entfällt daher. Auf dem Markt wird also ein homogenes Gut von bekannter Qualität gehandelt. Unter diesen Voraussetzungen wird in Experimenten beobachtet, daß die Unternehmen versuchen, die Löhne zu drücken, so daß diese nach wenigen Runden in der Nähe des Konkurrenzniveaus liegen (Fehr und Gächter 1996, S. 28).401 In diesem Fall werden also die Vorhersagen der Gleichgewichtstheorie erfüllt - selbst bei einem Arbeitsangebotsüberschuß wird sich im Gleichgewicht lediglich freiwillige Arbeitslosigkeit einstellen. Wenden wir uns nun dem interessanteren Fall der unvollständigen Verträge zu. Hier können die Arbeitnehmer in der zweiten Stufe ihr Leistungsniveau frei wählen. Die Unternehmen sind zwar in der Lage, die Arbeitsleistung zu beobachten, weil es sich aber um einmalige und anonyme Interaktionen handelt, besitzen sie keine Sanktionsmöglichkeit gegen Arbeitnehmer, die ein geringes Leistungsniveau wählen. Damit existiert

400 401

Diese Auszahlungszusammenhänge werden den Beteiligten vorher bekanntgegeben. Alle Vorgaben sind also common knowledge. Es wird zudem durch Probeaufgaben sichergestellt, daß die Teilnehmer die Regeln verstanden haben. Dabei wird das Gleichgewicht noch schneller erreicht, wenn beide Seiten Lohnangebote machen dürfen (double oral auction). Diese Form der Zusammenführung von Angebot und Nachfrage entfacht die höchste Wettbewerbsintensität (Fehr, Kirchler, Weichbold und Gächter 1998, S. 338).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

151

keinerlei Raum für strategische Reziprozität durch den Aufbau von Reputation oder persönlichen Beziehungen. Die Prognose bei rational-eigennützigem Verhalten ist klar. Läßt sich die Wahl des Leistungsniveaus nicht sanktionieren, gilt die Arbeitsleidhypothese, und ist der Arbeitsmarkt frei von formalen Institutionen, so wird vorausgesagt, daß sich ein Gleichgewicht einstellt, in dem die Unternehmen markträumende Löhne zahlen, die von den Beschäftigten mit dem minimalen Leistungsniveau beantwortet werden. 402 Das kompetitive Gleichgewicht wird sich bei einem Lohn von 21 GE und einem Leistungsniveau von e = 0,1 einstellen. Da die Arbeitnehmer zu Opportunitätskosten entlohnt werden, ist eventuell auftretende Arbeitslosigkeit freiwillig. Die Auszahlungen liegen bei 9,9 GE für die Unternehmen und einer Geldeinheit für die Arbeitnehmer. Obwohl Raum für Pareto- Verbesserungen besteht - beide Parteien würden von einer Kombination aus höherem Lohn und höherer Leistung profitieren - , wird man sich nicht aus diesem Dilemma befreien können, solange es nicht gelingt, die Arbeitnehmer glaubwürdig auf ein höheres Leistungsniveau festzulegen. Es zeigt sich jedoch, daß sich die experimentellen Ergebnisse deutlich von den (spiel-) theoretischen Prognosen unterscheiden. Trotz fehlender formaler Durchsetzungsmechanismen werden Löhne oberhalb des Gleichgewichtsniveaus gezahlt, die mit Leistungen oberhalb der Minimalerfordernis beantwortet werden. Insgesamt ist eine deutlich positive Beziehung zwischen Lohn und Arbeitsleistung zu erkennen (Abbildung 9). Abbildung 9: Die positive Lohn-Leistungs-Beziehung 403 Leistung

Quelle: Fehr, Kirchsteiger und Riedl (1993, S. 447).

402

403

Die Ableitungslogik mittels Rückwärtsinduktion lautet: Da die Unternehmen antizipieren, daß die minimale Leistung die dominante Strategie für die Arbeitnehmer darstellt, werden sie den Lohnsatz wählen, der gerade ausreicht, um einen Arbeitsvertrag schließen zu können. Dies ist der Gleichgewichtslohn. Der Mindestlohn im Experiment von Fehr, Kirchsteiger und Riedl (1993) liegt bei 30 GE. Die qualitativen Ergebnisse bleiben von diesem Unterschied jedoch unberührt.

152

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Offensichtlich gelingt es den Unternehmen, den grundsätzlichen Interessenkonflikt der Prinzipal-Agenten-Beziehung durch ein höheres Lohnangebot in den Hintergrund treten zu lassen und die Arbeitnehmer zu einer Leistungssteigerung zu bewegen. Durch dieses Arrangement steigt der Unternehmensgewinn relativ zur spieltheoretischen Prognose auf 19,4 GE, während die Arbeitnehmer einen Verdienst von 35,3 GE einstreichen (Gächter und Falk 2002, S. 6). Weit mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmer legen reziprokes Verhalten an den Tag, die Zahl der rationalen Egoisten liegt unter 20 Prozent (Fetir und Gächter 1996, S. 32).404 Dabei bildet der Gleichgewichtslohn den Referenzpunkt für die Beurteilung der Großzügigkeit des Lohnangebotes, das den Geschenkaustausch erst ermöglicht.405 Diese ,Hochlohnpolitik' wird jedoch nicht durch altruistische Motive getragen.406 Die hohen Lohnangebote ergeben sich vielmehr in Antizipation des reziproken Verhaltens der Arbeitnehmer, durch das der Gewinn der Unternehmen trotz steigender Arbeitskosten höher ausfallt als im Marktgleichgewicht (Fehr und Gächter 1996, S. 33 f.).407 Die Gabe des Unternehmens ist also mit der Erwartung einer Gegengabe verbunden und stellt in gewisser Weise eine Investition dar (Vertrauensvorschuß). Dabei kann Vertrauen als Bereitschaft definiert werden, das Risiko auf sich zu nehmen, sich innerhalb der Vertragsbeziehung verletzbar zu machen, ohne das Verhalten der anderen Partei beeinflussen oder gar sanktionieren zu können {Mayer, Davis und Schoorman 1995, S. 712; ähnlich Ripperger 1998, S. 45). Die Überlegungen der Unternehmen lassen sich veranschaulichen, wenn man sich den Geschenkaustauschmarkt als zwei nacheinander ablaufende Spiele zwischen denselben Akteuren vorstellt (Thaler 1989, S. 191). Stufe eins stellt ein Ultimatumspiel dar, in dem der Arbeitnehmer Lohnangebote des Unternehmens annehmen kann. In der zweiten Runde schließt sich ein Diktatorspiel an, in dem die Parteien die Rollen tauschen. Nun entscheidet der Arbeitnehmer darüber, wieviel er bereit ist, dem Unternehmen zurückzugeben, ohne daß diesem die Möglichkeit der Ablehnung zusteht. Ein Unternehmen, das ein geringes Angebot im Diktatorspiel unterbreitet, darf kaum auf eine

404

Diese wählen unabhängig vom Lohnsatz immer das niedrigste Leistungsniveau. Fehr und Gächter (2000, S. 162) verweisen darauf, daß in Geschenkaustauschexperimenten 40 bis 66 Prozent reziproker und lediglich 20 bis 30 Prozent eigennutzorientierter Akteure als normal anzusehen sind.

405

Um es mit Akerlof {\9%2, S. 559) auszudrücken: „In gift exchange the usual norm is that gifts should be more than the minimum required to keep the other party in the exchange relationship." Auf institutionalisierten Arbeitsmärkten wird der Referenzpunkt nicht mehr durch den Gleichgewichtslohn, sondern durch den Mindestlohn (den Tariflohn) oder die Höhe der Lohnersatzleistungen bestimmt - siehe dazu Abschnitt 7.1.4.

406

Zumindest lassen sich altruistische Motive der Arbeitgeber in diesem Experiment nicht isolieren.

407

Das darwinistische Selektionsargument im Wettbewerbsprozeß würde daher besagen, daß sich Unternehmen, die sich am spieltheoretischen Rationalkalkül ausrichten, auf Dauer aus dem Markt ausscheiden, zumindest aber eine schlechtere Wettbewerbsposition einnehmen müßten (Fehr, Kirchsteiger und Riedl 1993, S. 452).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

153

großzügige Gabe im nachgeschalteten Ultimatumspiel hoffen, so daß im Ultimatumspiel Lohnangebote über dem Reservationslohn gemacht werden. 408 Da keine formalen Institutionen existieren und aufgrund der anonymen Situation auch gesellschaftliche Sanktionen ausgeschlossen werden können, muß es .sich beim reziproken Verhalten der Arbeitnehmer um internalisierte Normen handeln. Dabei kann eine Präferenz für egalitäre Auszahlungen (Ungleichheitsaversion) eine Rolle spielen. Wird ein hohes Lohnangebot mit einer geringen Leistung beantwortet, so entsteht eine große Differenz zwischen den Auszahlungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sind die Arbeitnehmer ungleichheitsavers, so werden sie daher mit einer hohen Leistung antworten. 409 Die Ergebnisse des Gift-Exchange-Experimentes sind robust sowohl in Bezug auf die gesellschaftliche Gruppe, denen die Teilnehmer des Experimentes angehören, als auch auf die Höhe der Auszahlungen und auf das Land, in dem die Experimente durchgeführt werden (kulturelle Faktoren). 410 Dies spricht dafür, daß es sich bei Reziprozität tatsächlich um eine der zentralen Nonnen handelt, an denen der Mensch sein Verhalten ausrichtet. (2)

Kontrollmechanismen in unvollständigen Arbeitsverträgen

Bisher wurde davon ausgegangen, daß die Unternehmen über keinerlei Kontrolloder Sanktionsmechanismen verfugen. Diese Annahme soll nun gelockert werden. Im Experiment von Falk und Kosfeld (2004) erhalten die Unternehmen die Möglichkeit, das Leistungsniveau der Agenten bei Vertragsabschluß nach unten zu begrenzen. Genaugenommen besteht die Wahl zwischen zwei Verträgen, wobei einer die Möglichkeit bietet, die untersten Leistungsniveaus auszuschließen. 4 " Hierdurch entstehen zwar keine Kontrollkosten, dafür verlieren die Unternehmen aber die Möglichkeit, den Agenten durch Lohnvariationen zu beeinflussen - dieser wird durch die Spielleitung festgelegt. Da von materiell eigennutzorientierten Agenten zu erwarten ist, daß sie in jedem Fall die minimale Leistung wählen werden, ist die Einfuhrung des Kontrollsystems durch die Prinzipale die rationale Lösung. Das Experiment offenbart jedoch, daß sich eine Vielzahl von Agenten kontrollavers zeigt und negativ auf die Beschränkung durch den Prinzipal reagiert. Die Erwartung opportunistischen Verhaltens erfüllt sich also erst durch die Einführung der Kontrolle, die als Mißtrauensbeweis ausgelegt wird. Das Ergebnis kann daher als Beispiel für eine sich selbst erfüllende Prophezeiung angesehen

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Thaler (1989, S. 191) drückt es folgendermaßen aus: „More generally, it is probably not a very good strategy to offer a recipient epsilon in the ultimatum game and then ask her for a favor." Hierfür sprechen auch die Resultate von Fragebogenstudien, in denen zwei Arbeitgeber und zwei Arbeitnehmer ihr Verhalten mit dem Wunsch begründet haben, mit dem Gegenüber gleichzuziehen (Fehr, Kirchsteiger und Riedl 1993, S. 451). Vgl. Gächter und Fehr (2002, S. 101 ff.) für eine Übersicht. Die Zahlenwerte für das Leistungsniveau sind hier stärker differenziert - die Arbeitnehmer können aus dem Intervall [1, 120] wählen. Der Vertrag mit Kontrolle beschränkt die Wahl der Beschäftigten auf e e [10, 120], Dies kann als Möglichkeit interpretiert werden, die geringsten Leistungsstufen durch Kontrollen verhindern zu können.

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werden (Falk und Kosfeld 2004, S. 2). Die Agenten wählen signifikant höhere Leistungsniveaus, wenn sie nicht in ihrem Verhalten beschränkt werden.412 Mit Kontrolle entscheidet sich über die Hälfte der Agenten für das minimale Niveau, während der Median ohne Kontrolle doppelt so hoch liegt. Der Anteil ungleichheitsaverser Agenten, die das Leistungsniveau wählen, das beiden Seiten dieselben Auszahlungen beschert, liegt ohne bei 24 und mit Kontrolle bei nur sieben Prozent. Zahlreiche Prinzipale scheinen die negativen Reaktionen der Agenten zu antizipieren, da sie auf die Einfuhrung der Kontrolle verzichten (70,8 Prozent). Diese Entscheidung macht sich bezahlt, da die Erlöse im Durchschnitt 31 Prozent höher liegen als mit Kontrollmechanismus. Der unvollständigere Vertrag stellt daher die günstigere Variante dar (Falk und Kosfeld 2004, S. 12 ff.).413 In einem Kontrollexperiment wird zudem geprüft, inwiefern bei der Beschränkung des Handlungsspielraumes die Intention der Prinzipale eine Rolle spielt, indem die Beschränkung auf das Intervall [10, 120] exogen vorgegeben wird. Da die Leistungen in diesem Fall signifikant höher sind, läßt sich folgern, daß die Intention, die der Handlung zugeschrieben wird, tatsächlich von Bedeutung ist (Falk und Kosfeld 2004, S. 11 f.). Die Interpretation der Ergebnisse sollte jedoch mit Vorsicht erfolgen. So ist die Verhaltensbeschränkung nicht besonders attraktiv für die Unternehmen, wenn man annimmt, daß Gerechtigkeitsnormen eine gewisse Rolle spielen. Schließlich unterstellt man den Arbeitnehmern, daß sie nicht einmal bereit sind, eine minimale Leistung zu erbringen. Das Sanktionspotential, das den Beschäftigten verbleibt, ist zudem noch immer recht groß. Die Autoren weisen daher selbst darauf hin, daß stärkere Kontrollmöglichkeiten - bspw. eine Beschränkung auf das Leistungsintervall [30, 120] - zu besseren Unternehmensergebnissen fuhren könnten als der Vertrauensmechanismus (Falk und Kosfeld 2004, S. 16). (3)

Explizite Anreizmechanismen in unvollständigen Arbeitsverträgen

Im folgenden soll eine weitere Möglichkeit zur Wirkung harter Anreize in Geschenkaustauschmärkten dargestellt werden. Dabei wird den Unternehmen die Möglichkeit gegeben, Abweichungen vom vertraglich fixierten Leistungsniveau zu sanktionieren. Hierzu können sie einen Anreizvertrag anbieten, der neben dem Lohnsatz und dem gewünschten Leistungsniveau e auch eine Strafe beinhaltet, die von den Arbeitnehmern zu zahlen ist, wenn herauskommt, daß sie das Niveau e unterboten haben. Dabei wird die tatsächliche Leistung mit einer Wahrscheinlichkeitp e [0, 1] offenbart. Die Ergebnisse verdeutlichen, daß sich weiche und harte Anreizmechanismen nicht gegenseitig verstärken, sondern daß es durch den Einsatz der Strafe zu einem Zusammenbruch der freiwilligen Kooperation kommt (Fehr und Gächter 2002, S. 15 ff.). Der Einsatz des Sanktionsmechanismus' übt bei gleichbleibenden Löhnen negative Leistungseffekte aus, was auf eine Störung der positiven Lohn-Leistungs-Beziehung hin-

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Insgesamt kann gezeigt werden, daß knapp 70 Prozent der Agenten auf die Kontrolle mit einer Leistungsverringerung reagieren {Falk und Kosfeld 2004, S. 10).

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Berücksichtigt man die Kosten, die in der Realität mit einem solchen Kontrollsystem verbunden sind, wird der Effekt noch größer ausfallen.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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deutet. Das bloße Signal der Sanktionsandrohung wird als Mißtrauensbeweis angesehen und untergräbt die Kooperationsbereitschaft. 414 Die Nutzung harter Anreizsysteme verändert die Perzeption der Arbeitsbeziehung von einer sozialen Austauschbeziehung in Richtung einer reinen Marktbeziehung, so daß den Akteuren materiell eigennutzorientiertes Verhalten angemessen erscheint. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß sich die Wirkung des Anreizvertrages in Abhängigkeit von der Ausgestaltung verändert. Werden bei der Abweichung von der geforderten Leistung Bestrafungsmechanismen eingesetzt, so erhält man das soeben geschilderte Ergebnis, während eine ökonomisch identische Ausgestaltung als Bonus bei Einhaltung der vereinbarten Leistung den Geschenkaustausch weitgehend intakt läßt.415 Die Effizienz gemessen am gemeinsam erwirtschafteten Ertrag fällt ohne explizite Anreize am höchsten und mit Bestrafungen am niedrigsten aus. Allerdings lohnt es sich trotzdem für die Prinzipale, die Anreizmechanismen einzusetzen, da ihre Erträge sich im Durchschnitt erhöhen. Die Lohneinsparungen wirken sich also stärker auf den Unternehmensgewinn aus als die Produktivitätseinbußen (Fehr und Gächter 2002, S. 22 f f ) . Allerdings bildet das Experiment weder die negativen Begleiterscheinungen harter Anreizmechanismen ab, die in Abschnitt 5.2.2.1. diskutiert wurden, noch ist die Implementierung des Anreizsystems mit Kosten verbunden. Werden beide Effekte berücksichtigt, so spricht einiges dafür, daß das System ohne Strafen auch aus Untemehmenssicht attraktiv wird. (4)

Die Einfuhrung einer dritten Stufe - beidseitige Reziprozität

Fehr, Gächter und Kirchsteiger (1997) untersuchen einen Geschenkaustauschmarkt, auf dem auch die Unternehmen die Möglichkeit besitzen, sich reziprok zu verhalten. Das Vertragsangebot der Prinzipale in Stufe 1 umfaßt neben dem Lohn ein erwünschtes Leistungsniveau. Nachdem die Agenten in Stufe 2 ihr tatsächliches Leistungsniveau bestimmt haben und die Prinzipale das Ergebnis erfahren, besitzen diese in der dritten Stufe die Möglichkeit, die Agenten für ihr Verhalten zu belohnen oder zu bestrafen. 416 Beide Strategien sind für die Unternehmen jedoch mit Kosten verbunden, so daß sie für materiell eigennutzorientierte Akteure nicht in Frage kommen. Die dritte Stufe wird so ausgestaltet, daß die Unternehmen die Auszahlung der Arbeitnehmer mit p e [0, 2] multiplizieren können. Bei p = 1 verhält sich das Unternehmen neutral und verzichtet im Einklang mit der spieltheoretischen Vorhersage auf den Einsatz des Mechanismus',

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In dieselbe Richtung weist ein Experiment von Fehr und Rockenbach (2003). Hier muß der Prinzipal Vertrauen in den Agenten setzen, kann aber zur Absicherung einen Kontrollmechanismus einsetzen. Es zeigt sich, daß die Kooperationsbereitschaft der Agenten zunimmt, wenn der Prinzipal freiwillig auf die Absicherung verzichtet. Anscheinend wird die Verbindung eines großzügigen Vertrages mit einer Strafandrohung als widersprüchlich empfunden (Fehr und Falk 2002, S. 695). Dieser Framing-Effekt spricht für die Bedeutung von Verlustaversion. Das Ergebnis unterstützt außerdem die Aussage von Offerman (2002), daß negative Handlungen stärkere Gegenreaktionen auslösen als positive. Als Kontrollexperiment gilt der zweistufige Geschenkaustauschmarkt mit Angabe eines gewünschten Leistungsniveaus.

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p < I kommt einer Bestrafung und p > 1 einer Belohnung der Arbeitnehmer gleich (Fehr, Gächter und Kirchsteiger 1997, S. 838). Die Ergebnisse zeigen, daß der Mechanismus entgegen der spieltheoretischen Prognose in der überwiegenden Mehrheit der Fälle genutzt wird. Alles in allem verstärkt sich der Geschenkaustausch im Vergleich zum zweistufigen Experiment, so daß beide Seiten ihre Auszahlungen im Durchschnitt weiter erhöhen können (Fehr, Gächter und Kirchsteiger 1997, S. 850 ff.). 417 Dies ist dadurch zu erklären, daß nun auch strategisch agierende Arbeitnehmer einen Anreiz besitzen, ein hohes Leistungsniveau zu wählen, so sie denn davon ausgehen, daß sich unter den Arbeitgebern reziproke Akteure befinden. Die Unternehmen erhöhen das von ihnen in Stufe 1 geforderte Leistungsniveau und setzen dies in der dritten Stufe auch durch, indem sie bei einem Überbieten der Leistungsforderung belohnend und bei Bummelei bestrafend eingreifen. 418 Die per Strategiemethode ermittelten Daten machen deutlich, daß das Shirking - gemessen an der Abweichung der tatsächlichen von der vom Unternehmen gewünschten Leistung - signifikant abnimmt {Fehr und Gächter 1998, S. 349). Da die Maßnahmen der dritten Stufe die Auszahlungen des Unternehmens schmälern, aber aufgrund der Anonymität der Situation weder Sanktionen noch positive Gegenleistungen zu erwarten sind, machen sich hier internalisierte Normen bemerkbar. Die Einführung einer dritten Stufe hat jedoch nur dann Auswirkungen auf das Niveau des Geschenkaustausches, wenn die Arbeitnehmer erwarten, daß sich unter den Unternehmen tatsächlich reziproke Agenten befinden. Die Erwartungen beider Seiten werden nicht enttäuscht. Im Endeffekt fuhrt die Möglichkeit zur wechselseitigen Reziprozität zu Ergebnissen, die beide Seiten besserstellen (Fehr, Gächter und Kirchsteiger 1997, S. 850 ff.; Fehr und Gächter 1998, S. 357). Auch hier deutet die offensichtliche Zahlungsbereitschaft für reziprokes Verhalten darauf hin, daß eine starke Präferenz für Reziprozität besteht. Anreizmechanismen, die diese Norm intakt lassen, können den Geschenkaustausch weiter verstärken. Dagegen führen harte Anreize, wie sie in den vorangegangenen Abschnitten diskutiert wurden, zu keinen guten Ergebnissen. Die positiven Effizienzwirkungen geben zudem einen ersten Hinweis darauf, warum der in der Realität häufig zu beobachtende, bewußte Verzicht auf möglichst vollständige Verträge zugunsten einer relationalen Ausgestaltung rational sein kann (Fehr, Gächter und Kirchsteiger 1997, S. 840). (5)

Motivation und Arbeitsmarktlage - Wirkungen auf die Lohnhöhe

Nun soll das Konkurrenzelement auf dem Arbeitsmarkt abgebildet werden, indem man eine größere Anzahl an Arbeitnehmern bestimmt und damit ein Überangebot an Arbeitskräften simuliert (Fehr, Kirchler, Weichbold und Gächter 1998). Da jeder Arbeitgeber trotzdem nur ein Arbeitsverhältnis schließen darf, ist Arbeitslosigkeit in diesen Fällen exogen vorgegeben. Selbst wenn man den Geschenkaustausch berücksichtigt,

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Im zweistufigen Spiel liegt das Leistungsniveau bei etwa 0,4, während es im dreistufigen Spiel auf rund 0,6 ansteigt (Gächter und Falk 2000, S. 5). Die Einführung einer dritten Stufe vereint also die Analyse des Geschenkaustausches mit Anreizmechanismen im Hinblick auf das Shirking-Problem.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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wäre aufgrund der stärkeren Konkurrenz zwischen den Arbeitsanbietern bzw. der größeren Marktmacht der Unternehmen zu erwarten, daß die Löhne deutlich niedriger liegen als beim bilateralen Geschenkaustausch ohne Wettbewerb zwischen den Arbeitskräften. 419 Es zeigt sich jedoch, daß die Ergebnisse in beiden Gift-Exchange-Experimenten größtenteils identisch sind. Von Seiten der Unternehmen werden kaum Versuche unternommen, die Löhne zu drücken. Dies spricht dafür, daß die Arbeitsmarktsituation wenig Einfluß auf die Lohnhöhe hat, sobald es sich um unvollständige Arbeitsverträge handelt (Fehr, Kirchler, Weichbold und Gächter 1998, S. 328 f.).420 Fehr und Falk (1999) verstärken die Konkurrenzsituation weiter, indem sie auch den Arbeitnehmern erlauben, Lohnangebote zu unterbreiten. Nun kommt es zu intensiven Lohnunterbietungsprozessen durch die Arbeitnehmer, die von den Unternehmen aber nicht angenommen werden (Fehr und Falk 1999, S. 118). Für sie ist eine Lohnunterbietung unattraktiv, da sie die Schwächung der Reziprozitätsnorm und die negativen Folgen für die Arbeitsmoral antizipieren. Die Reziprozitätsnorm überlagert also das wettbewerbliche Verhalten - die Konkurrenzsituation übt nur einen verschwindend geringen Einfluß auf die Lohnbildung aus (Fehr und Gächter 1996, S. 34; Falk und Gächter 2000, S. 147).421 Die unsichtbare Hand des Marktes büßt in modernen Arbeitsbeziehungen also viel von ihrer Wirksamkeit ein (Okun 1981, S. 89). Die Tatsache, daß viele Unternehmen deutlich mehr Ressourcen für die Ausgestaltung der eigenen Lohnstruktur und interne Evaluationsprogramme ausgeben als für die Informationsbeschaffung in Bezug auf die Marktlöhne, deutet darauf hin, daß der internen Funktion des Lohnes auch von den Unternehmen eine größere Bedeutung zugesprochen wird als der Koordinationsfunktion auf dem Markt (Katz 1986, S. 248 f.).422 Grundsätzlich muß festgehalten werden, daß der Geschenkaustausch zu einer Verbesserung der Auszahlungssituation für die Vertragsparteien führt und damit einen informellen Mechanismus darstellt, um Opportunismusprobleme einzudämmen. Auf Arbeitsmärkten mit einem Angebotsüberschuß und unvollständigen Arbeitsverträgen ist jedoch zu beachten, daß sich die Interpretation der Arbeitslosigkeit fundamental ändert. Die mikroökonomische Effizienz führt eben nicht im Sinne einer unsichtbaren Hand gleichfalls zu einem vollbeschäftigungskonformen Gleichgewicht. Während die Arbeitslosigkeit bei vollständigen Vertragsmärkten als freiwillig anzusehen ist, kann da-

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Die spieltheoretische Prognose ist in beiden Fällen identisch. Auch Schnabel (1995, S. 47) findet in seiner empirischen Untersuchung keine signifikanten Einflüsse der Höhe der Arbeitslosigkeit auf die übertarifliche Entlohnung. Brandts und Charness (2003, S. 25 ff.) finden zudem keine Anzeichen dafür, daß die Reaktion der Arbeitnehmer auf ein Lohnangebot in Abhängigkeit von der Arbeitsmarktlage (Angebots- oder Nachfrageüberschuß) variiert. Auch dies spricht für einen relativ geringen Einfluß des externen Arbeitsmarktes auf die Regelmechanismen innerhalb der Arbeitsbeziehung. Dies läßt sich auch damit begründen, daß Unternehmen die am externen Arbeitsmarkt fixierten Referenzlöhne als exogene Vorgabe ansehen, auf deren Grundlage sie ihre interne Lohnstruktur gestalten. Die Lohnvorgaben lassen sich jedoch relativ kostengünstig über Verbände oder die offiziellen Tarifvereinbaningen in Erfahrung bringen, während das komplexe Motivationsproblem einen höheren Ressourceneinsatz erfordert.

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von bei Geschenkaustauschmärkten keine Rede sein. Der Lohnsatz liegt deutlich über dem Reservationslohn, so daß es sich um unfreiwillige Arbeitslosigkeit handelt (Gächter und Fehr 2002, S. 105; Fehr und Gächter 1999, S. 58). Fehr, Kirchsteiger und Riedl (1993, S. 450 f.) verdeutlichen dies anhand des Verhaltens der Arbeitsanbieter: „Competition among workers was extremely intense, and the most difficult task of the supervisor in the workers' room was to detect which subject cried ,accepted' first. Most wage bids were accepted after fractions of a second. [...]. Almost always, the ,unemployed' were simply not fast enough; faster workers snatched their jobs away from them. Obviously, the unemployed would have preferred to get a job; their unemployment was involuntary." (6)

Wiederholte Interaktionen

Eine Besonderheit moderner Arbeitsbeziehungen besteht darin, daß es sich um dauerhafte Bindungen handelt, die nicht-anonymer Natur sind. Damit unterscheiden sich auch die allgemein akzeptierten Verhaltensweisen von denen bei einmaligem Zusammentreffen. Die wiederholt anfallenden Interaktionen eröffnen laut Gächter und Falk (2000, S. 16) bei unvollständigen Verträgen die Möglichkeit zur Kombination von Anreizsystemen: „[...] a long-term relationship is a very suitable contract enforcement device because it combines in a natural way standard economic incentives with the power of reciprocity that is even strengthened by them." Das auf Gegenseitigkeit aufbauende Verhalten sollte sich daher in wiederholten Spielen, in denen der Aufbau von Vertrauen möglich ist, weiter verstärken (Fehr und Falk 2002, S. 690). (a)

Reputation

Gächter und Falk (2002) analysieren den Übergang vom anonymen Geschenkaustauschmarkt zu wiederholten Interaktionen. In den bisher angeführten Experimenten konnte gezeigt werden, daß reziprokes Verhalten auch dann auftritt, wenn damit kein strategischer Nutzen zu erzielen ist. In endlich wiederholten Spielen verstärkt sich das reziproke Verhalten weiter.423 Nun ergibt sich auch für eigentlich eigennutzorientierte Akteure der Anreiz, sich für die Dauer des Experimentes reziprok zu verhalten, um die Unternehmen zu hohen Lohnzahlungen zu bewegen. Sie werden also durch die Dauerhaftigkeit der Beziehung diszipliniert. Die gemeinsame Geschichte der Partner fuhrt dazu, daß Investitionen in das Vertrauen des Partners aus strategischen Gesichtspunkten heraus lohnenswert erscheinen. Die schon im anonymen Geschenkaustauschmarkt positive Lohn-Leistungs-Beziehung verläuft im wiederholten Spiel daher noch steiler.424 423

424

Kreps et al. (1982) zeigen, daß Kooperation auch bei einer endlichen Vertragsdauer die optimale Strategie sein kann, wenn bekannt ist, daß sich unter den Spielern ein genügend großer Anteil kooperationsbereiter Akteure befindet. Bei Verträgen mit unbegrenzter Laufzeit existieren unendlich viele Gleichgewichtsstrategien, unter anderem auch kooperative Verhaltensformen. Zu diesem Folk-Theorem im Hinblick auf Arbeitsverträge siehe MacLeod und Malcomson (1998, S. 390). Diesen Zusammenhang ermitteln auch Falk, Gächter und Kovács (1999, S. 266 ff). Hier steigt das durchschnittliche Leistungsniveau von etwa 0,5 auf 0,75.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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Lediglich in der letzten Periode fällt die Leistungsbereitschaft stark ab. Dann besteht für die strategisch motivierten Arbeitnehmer (Imitatoren) kein Anreiz mehr, sich reziprok zu verhalten. Das Leistungsniveau sinkt daher in etwa auf den Wert, der in anonymen Beziehungen anzutreffen ist. Die Internalisierer sind also wieder unter sich (Gächter und Falk 2002, S. 7).425 Eine Analyse der individuellen Entscheidungen stützt die Interpretation der Marktergebnisse. Im einfachen Geschenkaustauschmarkt lassen sich die reziprok agierenden (53,3 Prozent) von den eigennutzorientierten (20 Prozent) Akteuren trennen. Im wiederholten Spiel zeigt sich zunächst ein Anstieg des Reziprozitätsanteils auf 67,8 Prozent, wobei sich jedoch herausstellt, daß es sich zu einem gewissen Anteil um Imitatoren handelt (Gächter und Falk 2002, S. 8 ff.). Tatsächlich ist der Anteil g e nuin reziprok' agierender Akteure in beiden Experimenten ähnlich hoch, so daß der Reputationsmechanismus den Anreiz zu freiwilliger Kooperation nicht beeinträchtigt. Diese Neutralität im Hinblick auf reziprokes Verhalten (Reziprozitätskompatibilität) ist nicht selbstverständlich. Dies hat die Analyse harter Anreizmechanismen, durch die es zu einem starken Crowding-out positiver Reziprozität kommt, gezeigt. Dagegen verhalten sich Reziprozität und Reputationseffekte komplementär zueinander. Ähnliches gilt für den Einsatz von Bonussystemen und auch für Gewinnbeteiligungen, die gerade deswegen einen hohen Grad an Effizienz aufweisen, weil sie die Reziprozitätsnorm weitgehend intakt lassen (Agell 1999, S. Fl48) 4 2 6 (b)

Kommunikation und persönliche

Beziehungen

Es wurde bereits an zahlreichen Stellen auf die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeitsbeziehung hingewiesen - gute Leistungen werden nicht nur gegen Lohnzahlungen, sondern auch gegen soziale Anerkennung getauscht. Solche Vorgänge können über anonymisierte Experimente jedoch nur schwer eingefangen werden. Daher haben Falk, Gächter und Kovács (1999) ein Gift-Exchange-Experiment durchgeführt, in dem Kommunikation zwischen den Akteuren zugelassen wird. Während wechselseitige Identifikation in Diktatorspielen und Gefangenendilemma-Situationen zu deutlich kooperativerem Verhalten führt (Sally 1995; Frey und Bohnet 2003), kann dies in der vorliegenden Studie jedoch nicht beobachtet werden. Weder der Augenkontakt noch die Vorgabe, nach Beendigung des Experimentes die Ergebnisse besprechen zu müssen, erhöhen das Ausmaß an Reziprozität relativ zu wiederholten, aber anonymen Interaktionen signifikant.427 Die Autoren liefern selbst einige Hinweise darauf, worin das von vielen anderen Studien zu dieser Frage abweichende Ergebnis begründet liegen könnte (Falk, Gächter und Kovács 1999, S. 273 ff.). So wurde ein wiederholtes Spiel als Referenzpunkt gewählt, während ansonsten hauptsächlich anonyme One-shot-games genutzt

425

Dieser Schlußperiodeneffekt tritt auch in den Experimenten von Irlenbusch und Sliwka (2003, S. 10) sowie von Kirchler, Fehr und Evans (1996, S. 327 ff.) auf.

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Bei Gewinnbeteiligungen besteht die verhaltensrelevante Partizipationsbedingung im Angebot eines fairen Anteils. Wird dieser nicht gewährt, lehnen die Agenten den Vertrag ab - vgl. das Experiment von Anderhub, Gächter und Königstein (2001, S. 4), in dem sich die Effizienz von Arbeitsverträgen mit Beteiligungskomponente zeigt.

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Das durchschnittliche Leistungsniveau steigt lediglich leicht an (Falk, Gächter und Kovács 1999, S. 268 f.).

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werden, um die Wirkung persönlicher Identifikation zu untersuchen. Da die Reziprozität im wiederholten Spiel bereits sehr hoch war, verblieb nur noch wenig Spielraum nach oben. Außerdem muß an dieser Stelle angemerkt werden, daß die sozialen Bindungen und die damit verbundenen (positiven und negativen) Emotionen in den Arbeitsbeziehungen durch Experimente kaum hinreichend abgebildet werden können. Es deutet daher einiges darauf hin, daß die Wiederholung des Geschenkaustausches und persönliche Kontakte in Experimenten eher als Substitute anzusehen sind. Dagegen dürften persönliche Bindungen, die in realen Arbeitsverhältnissen entstehen, zu einer weiteren Stärkung der informellen Mechanismen in relationalen Beziehungen beitragen. (7)

Die Vorteilhaftigkeit unvollständiger Verträge

Bisher wurde die Vorteilhaftigkeit dauerhafter Arbeitsbeziehungen durch den Vergleich von Experimenten nachgewiesen, in denen die Struktur der Arbeitsbeziehungen exogen vorgegeben wurde. Brown, Falk und Fehr (2003) gehen einen Schritt weiter und zeigen, daß sich relationale Verträge in einem Umfeld unvollkommener Information endogen aus den freien Entscheidungen der Akteure herausbilden. 428 Das zweistufige Grundmodell des Experimentes mit Arbeitsangebotsüberschuß bleibt auch hier erhalten, nur daß die Unternehmen in diesem Fall zwischen zwei Möglichkeiten wählen können, um den Kontakt zu Arbeitnehmern herzustellen. Sie können entweder Arbeitnehmer am Markt anwerben, indem Lohnangebote gleichzeitig an alle Arbeitsanbieter gerichtet werden, oder es besteht die Möglichkeit, sich direkt an einen der Arbeitnehmer zu wenden. Hierzu bekommen die Akteure Identitätsnummern zugewiesen. 429 Es zeigt sich, daß die Unternehmen unter diesen Umständen dauerhafte Paarungen bevorzugen, während der Marktmechanismus nur selten genutzt wird (Brown, Falk und Fehr 2003, S. 19). Es entsteht also eine Ansammlung bilateraler Beziehungen, die mit einem Wettbewerbsmarkt nicht mehr viel gemein hat. Die fundamentale Transformation vollzieht sich bereits in den ersten beiden Perioden. Die zu Beginn des Experimentes vorherrschende Marktbeziehung verliert durch den Vertrauensvorschuß eines hohen Lohnangebotes an Bedeutung, so daß die Basis für eine dauerhafte Beziehung gelegt wird, die sich für beide Parteien als vorteilhaft herausstellt. 430 Die Akteure werden für ihr Vertrauen mit höheren Auszahlungen belohnt. Damit kann das Experiment die endogene Entstehung relationaler Verträge nachbilden. Die Lohngebote und die Antwort einer hohen Leistung können als spezifische In-

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Während Brown, Falk und Fehr (2003) die endogene Entstehung dauerhafter Vertragsbeziehungen aufgrund der Gefahr nachvertraglichen Opportunismus' behandeln, zeigt Kollock (1994) dies in einer experimentellen Studie für den Fall der Qualitätsunsicherheit vor Vertragsabschluß. Dabei orientiert er sich am Beispiel des Kautschukhandels, eines Gutes, dessen Qualität sich erst nach dem Kauf bei seiner Weiterverarbeitung offenbart. Auch hier entwickelt sich ein Austauschsystem, das auf den Mechanismen dauerhafter Beziehungen aufbaut und Raum für die Wirkung informeller Institutionen sowie für die Bildung von Vertrauen und Reputation bietet (Kollock 1994, S. 326 ff).

429

In beiden Fällen kommt kein Kontakt in Form von persönlicher Kommunikation zustande - die Angebote werden über den Experimentator vermittelt. Der Anteil dauerhafter Beziehungen steigt dann mit zunehmender Spieldauer.

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Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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vestitionen in die Arbeitsbeziehung interpretiert werden. Auch die Leistungssignale der Arbeitnehmer sind nicht marktgängig, da sie nur durch den jeweiligen Arbeitgeber beobachtet werden können. Die positive Lohn-Leistungs-Beziehung wird hier über drei Kanäle gespeist: über die reziprok agierenden Akteure, über die strategische Reziprozität der Imitatoren bei drohender Arbeitslosigkeit sowie über die Jobrenten, die den Wert einer dauerhaften Beziehung abbilden. Für die Unternehmen gilt, daß sie sich ungern von Arbeitnehmern trennen, mit denen sie in der Vergangenheit zusammengearbeitet haben. So korreliert die Wahrscheinlichkeit einer Vertragsverlängerung deutlich positiv mit der Leistung in der vorangegangenen Periode {Brown, Falk und Fehr 2003, S. 22 ff.). Sowohl der Gewinn als auch der Lohnsatz steigt mit zunehmender Vertragsdauer an. Der Wert der Beziehung erhöht sich also im Laufe der Zeit, was auf den Aufbau von Vertrauen zwischen den Parteien schließen läßt. Das partnerschaftliche Element findet seinen Ausdruck schließlich auch darin, daß der Überschuß aus der Beziehung nahezu gleichmäßig zwischen den Partnern aufgeteilt wird {Brown, Falk und Fehr 2003, S. 28 f.). Zu dem soeben dargestellten Experiment existieren zwei Kontrollsitzungen. Im ersten Experiment entfallt die zweite Stufe und die vertraglich festgelegte Leistung wird extern durchgesetzt. Bei diesen vollständigen Arbeitsverträgen stellt sich heraus, daß die Arbeitsbeziehung größtenteils über den Markt abgewickelt wird, obwohl weiter die Möglichkeit zum Aufbau dauerhafter Beziehungen besteht {Brown, Falk und Fehr 2003, S. 19 f.).43' Der Identität der Arbeitnehmer kommt aufgrund der externen Absicherung keine besondere Bedeutung mehr zu. Die Unternehmen eignen sich nun den größten Teil der Jobrente an, so daß eine relativ ungleiche Auszahlungsverteilung entsteht. Das zweite Kontrollexperiment bildet wiederum einen unvollständigen Arbeitsvertrag ab. Allerdings ist der Aufbau dauerhafter Arbeitsbeziehungen nicht mehr möglich, da die Parteien in jeder Periode neue Identitätsnummern zugewiesen bekommen. Eigennützige Arbeitnehmer (Imitatoren) können daher nicht mehr diszipliniert bzw. belohnt werden. Hier fallt das durchschnittliche Leistungsniveau deutlich geringer aus als im Ausgangsexperiment {Brown, Falk und Fehr 2003, S. 24 f f ) . Der durchschnittliche Lohn ist im Geschenkaustauschmarkt mit dauerhaften Beziehungen höher als in den Kontrollexperimenten. Die resultierende Arbeitslosigkeit ist zu jedem Zeitpunkt unfreiwillig {Brown, Falk und Fehr 2003, S. 29). Die Ergebnisse stützen neben der auf Gerechtigkeitsüberlegungen basierenden ELT auch die ShirkingVariante. Die Tatsache, daß auf dem Markt immer eine Anzahl Arbeitnehmer unbeschäftigt ist, fuhrt im Zusammenspiel mit den von den Arbeitnehmern erzielten Jobrenten zu einer Disziplinierung der Beschäftigten. Die implizite Drohung, das dauerhafte Arbeitsverhältnis mit Löhnen oberhalb des Reservationslohnes aufzukündigen, stellt auf einem Arbeitsmarkt mit Unterbeschäftigung einen wirksamen Durchsetzungsmechanismus dar.

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Die Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages ist also Voraussetzung für den Aufbau dauerhafter Beziehungen.

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Fazit

Die Theorie der Markträumung versagt in Arbeitsmarktexperimenten systematisch. Dagegen kann von robuster Evidenz gesprochen werden, daß reziprokes Verhalten selbst ohne materiellen Anreiz zur Kooperation auftritt - es handelt sich also um eine internalisierte Norm (Gächter und Fehr 2002, S. 105). Besteht ein allgemeines Vertrauen in die Existenz dieser Norm, so reicht dies aus, um den Geschenkaustausch in Gang zu setzen. Die Wirkungen des Geschenkaustausches verstärken sich noch, wenn wiederholte Interaktionen zugelassen werden, so daß der Aufbau von Reputation möglich ist. Wegen der hiermit verbundenen Option auf höhere Auszahlungen verhält sich auch ein Teil der strategisch motivierten Akteure reziprok (Imitatoren). Relationale Beziehungen sind für beide Seiten von Vorteil und bilden sich daher endogen im Marktprozeß heraus. Das institutionelle Vakuum, das durch die Unvollständigkeit von Verträgen entsteht, kann durch informelle Normen gefüllt werden. Diesen gelingt es in überraschend guter Weise, formale Durchsetzungsmechanismen zu ersetzen. Bezieht man die negativen Motivationsgesichtspunkte sowie die Kosten, die durch Kontroll- und Sanktionsmechanismen verursacht werden, in die Überlegungen ein, deutet einiges darauf hin, daß Unternehmen mit weichen Anreizen bessere Ergebnisse erzielen können. Die Tatsache, daß viele Verträge unvollständig bleiben, auch wenn die Informationen zu ihrer Vervollständigung relativ kostengünstig zu erhalten wären, ist ein Indiz dafür, daß Unternehmen sich dieser Zusammenhänge durchaus bewußt sind. 432 Die Vorteilhaftigkeit relationaler Beziehungen bleibt auch dann bestehen, wenn es den Unternehmen nicht möglich ist, die Leistung der Arbeitnehmer genau zu beobachten. Dies ist häufig der Fall, weil die Leistungserstellung sowohl von den hier betonten endogenen als auch von exogenen Vertragsrisiken abhängt. Irlenbusch und Sliwka (2003) bilden dies in ihrer Version des Geschenkaustauschmarktes ab und zeigen, daß das reziproke Verhalten trotz der abnehmenden Transparenz nicht zurückgeht. Der Geschenkaustausch wird also auch dann nicht beschädigt, wenn sich die Möglichkeiten zu opportunistischem Verhalten verbessern. Die Unvollständigkeit von Arbeitsverträgen führt schließlich zu einer fundamentalen Veränderung des Charakters der Arbeitsmarktbeziehungen. So wird ein Wechsel zu einem anderen Vertragspartner bei asymmetrischer Information häufig selbst dann nicht vorgenommen, wenn ein Bewerber bereit ist, zu einem geringeren Preis zu arbeiten. Lohnwettbewerb ist bei Qualitätsunsicherheit nur stark eingeschränkt möglich. 433 Obwohl es sich bei der Konstellation hoher Löhne und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit modelltheoretisch nur um eines von vielen möglichen Gleichgewichten handelt, sprechen experimentelle Studien für die Plausibilität gerade dieses Gleichgewichts.

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Bewley (1995, S. 252) fuhrt in diesem Zusammenhang aus: „[...] workers have so many opportunities to take advantage of employees that it is not wise to depend on coercion and financial incentives alone as motivators. [...] Employees believe that other motivators are necessary, which are best thought of as having to do with generosity."

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Dies stellt eine Übertragung der Feststellung von Kollock (1994, S. 326) auf den Arbeitsmarkt dar.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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Der folgende Abschnitt widmet sich einer weiteren Variante der Effizienzlohntheorie, die sich mit dem Einfluß sozialer Vergleichsprozesse auf die Leistungsbereitschaft beschäftigt. Die Motivationseffekte, die sich hieraus ergeben, beeinflussen wiederum die Lohnfindung und damit letztlich auch das Arbeitsmarktergebnis. 5.4.2.3.

Die

Fair-wage-effort-Hypothese

Festinger (1954) unterscheidet zwischen einer physischen und einer sozialen Realität.434 Während die Erkenntnis physischer Realität sich beispielsweise bei der Frage, ob eine Tür verschlossen ist, relativ leicht erlangen läßt, benötigt man für die Beurteilung der sozialen Realität gesellschaftliche Orientierungen. Daher kann es als eine menschliche Notwendigkeit bezeichnet werden, das eigene Verhalten und die eigene Situation mit anderen zu vergleichen, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden {Akerlof 1982, S. 552). Das Denken in Referenzpunkten nimmt in der Effizienzlohntheorie eine besondere Stellung ein. Akerlof und Yellen (1990, S. 255) formulieren ihre Fair-wage-effortHypothese wie folgt: „According to the fair wage-effort hypothesis, workers proportionately withdraw effort as their actual wage falls short of their fair wage." 435 Die subjektive Einschätzung des eigenen Lohnes nimmt demnach Einfluß auf die Festlegung des Leistungsniveaus und wird damit für die Unternehmen bei ihrem Streben nach Gewinnmaximierung relevant. Die resultierende Lohnhöhe beeinflußt schließlich auf der Marktebene das Ausmaß unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Während in den vorangegangenen Abschnitten der markträumende Lohn den Referenzpunkt bildete, analysieren Akerlof und Yellen (1990) vor allem die Orientierung an den Löhnen anderer Arbeitnehmer im selben Unternehmen, also die Gerechtigkeit der Lohnstruktur. Tatsächlich ist die Zahlung eines als gerecht empfundenen Lohnes positiv mit einer Reihe von Indikatoren zur Arbeitszufriedenheit und zum Selbstwertgefuhl korreliert und dient somit der Steigerung der Loyalität zum Unternehmen und der Arbeitsmoral (Katz 1986, S. 265). Umgekehrt sind laut Pigors und Myers (1961, S. 373) auch negative Effekte zu erwarten: „There is no single factor in the whole field of labor relations that does more to break down work morale, create individual dissatisfaction, encourage absenteeism, increase labor tumover and hamper production than obviously injust inequalities in the wage rates paid to different individuals in the same group within the same plant."

Neben der Lohnstruktur soll im folgenden auch die Entlohnung des Kapitals (der Unternehmensgewinn) als Referenzpunkt analysiert werden.436

434

Eine Einfuhrung in die Theorie sozialer Vergleichsprozesse findet sich bei Lea et al. (1987, S. 17) sowie bei Wiswede (2000, S. 102 f.).

435

Die Beschäftigten können auch mit Abwanderung reagieren. Diese Option ist bei einer schlechten Arbeitsmarktlage jedoch mit hohen Risiken verbunden.

436

Auf die Bedeutung institutioneller Einflüsse in Form von Mindest- oder Tariflöhnen auf den Geschenkaustausch wird in Kapitel 7.1.4.1. eingegangen.

164

(1)

Martin Dietz

Der Lohnvergleich mit anderen Arbeitnehmern

Die Berücksichtigung von Fairneßgesichtspunkten bei der Lohnfindung bringt immer das Problem mit sich, woran sich eine angemessene Entlohnung zu orientieren hat. Im Hinblick auf die eigene Stellung am Arbeitsmarkt erfolgt in erster Linie eine Ausrichtung an anderen Arbeitnehmern im gleichen Unternehmen (Akerlof und Yeilen 1990, S. 259 ff.). Außerdem werden Informationen aus anderen Unternehmen derselben Branche oder auch anderen Wirtschaftsbereichen verwertet.437 Im sekundären Arbeitsmarktsegment, das eine höhere Fluktuationsrate aufweist, kann der Referenzlohn als Durchschnitt aus dem Marktlohn (oder der Höhe der Lohnersatzleistungen) und dem Lohn im primären Sektor angesetzt werden, wodurch eine Brücke zwischen den Fairneßgesichtspunkten auf internem und externem Arbeitsmarkt geschlagen wird {Akerlof und Yellen 1988, S. 48). Unternehmensbefragungen kommen bei der Suche nach den relevanten Bezugsgruppen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Schwedische Studien ermitteln, daß sowohl interne als auch externe Lohnvergleiche eine Rolle spielen (Agell und Bennmarker 2003, S. 13 f.; Agell und Lundborg 2003, S. 21 f.). Dagegen finden amerikanische Untersuchungen lediglich Bestätigung für die Relevanz relativer Löhne innerhalb ein und desselben Betriebes.438 Dies mag auf die stärkere Bedeutung von Gewerkschaften auf dem schwedischen Arbeitsmarkt zurückzufuhren sein, durch deren Wirken eine höhere Transparenz der Lohnstrukturen auch zwischen den Unternehmen geschaffen wird (Agell und Bennmarker 2003, S. 24 ff.; Agell und Lundborg 2003, S. 21 f.). Für die Bedeutung von Lohnvergleichen sprechen Untersuchungen, die die Lebenszufriedenheit in Abhängigkeit vom Einkommen messen. Easterlin (1974) zeigte als erster, daß sich Menschen mit höherem Einkommen zwar im Durchschnitt als glücklicher bezeichnen, daß der Einfluß des Einkommens jedoch nicht sehr stark ist - Faktoren wie Gesundheit oder die Erwerbstätigkeit an sich sind wichtiger.439 Tatsächlich ist das subjektive Wohlbefinden der Menschen in entwickelten Ländern trotz eines deutlichen Anstiegs des Durchschnittseinkommens relativ konstant geblieben. Easterlin (1995, S. 44) folgert daher, daß eine Einkommenserhöhung aller nicht auch die Zufriedenheit aller erhöht. Anscheinend wird ab einem gewissen Einkommensniveau vielmehr das relative Einkommen und der damit verbundene gesellschaftliche Status bewertet (Easterlin 1995, S. 35 f.; Elster 1989a, S. 102).440 Während in traditionellen Modellen eine Lohnerhöhung ceteris paribus zu einer Nutzensteigerung führt, kann die Berücksichtigung von Lohninterdependenzen erklären, daß trotz einer absoluten Lohnerhöhung 437

438 439 440

Rees (1993, S. 244) bemerkt in diesem Zusammenhang: „The one factor that seemed to be of overwhelming importance in all these real-world situations was fairness, and fairness always seemed to be judged by making some kind of wage comparison: with another union, with another employer, or with another person." Vgl. Bewley (1998, S. 485); Kamlani und Campbell (1997, S. 780) sowie Blinder und Choi (1990, S. 1006). Dies kann damit zusammenhängen, daß das steigende Einkommen zu einem steigenden Anspruchsniveau fuhrt, wodurch ein Teil der gewonnenen Zufriedenheit sofort wieder aufgezehrt wird (Frey und Stutzer 2002, S. 413 ff.). Pigors und Myers (1961, S. 373) bringen den Zusammenhang auf den Punkt: „Wage differentials are a mark of social status [...]. If they do not correspond to the relative significance of jobs, as employees view them, the worker's sense of justice is outraged."

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

165

eine Nutzeneinbuße eintritt. Dies ist dann der Fall, wenn der Referenzlohn stärker ansteigt als das eigene Gehalt ((Rees 1993, S. 247). Modelle, die sich an relativen Größen orientieren, erleichtern daher die Einbeziehung von gesellschaftlichen Normen, die in neoklassischen Ansätzen kaum abgebildet werden können.441 Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen folgt, daß Unternehmen ein rationales Interesse an einer gewissen Lohngerechtigkeit entwickeln können. Das hierauf aufbauende Effizienzlohnmodell soll nun vorgestellt werden. (a)

Equity-Theorie

Die Norm gleicher Lohn fiir gleiche Arbeit hat zunächst einen egalitären Anstrich. Bedenkt man jedoch, daß gleiche Arbeit nur in den seltensten Fällen anzutreffen ist, so verwundert es nicht, daß bei der Beurteilung der Lohnstruktur nicht nur die Bezahlung herangezogen wird, sondern daß diese in Bezug zur Leistung der jeweiligen Akteure gesetzt wird. Lea et al. (1987, S. 17) bemerken: „But in fact, people seem to prefer to be rewarded equitably rather than equally." Auf die Arbeitsbeziehung angewendet, besagt die hier angesprochene Equity-Theorie, daß die Beschäftigten bei der Beurteilung der Lohnstruktur darauf achten, daß sich die relative Entlohnung proportional zu den jeweiligen Leistungen verhält.442 Dies läßt sich an folgender Formel illustrieren (Wiswede 2000, S. 99): w _ . w _ .

Dabei stellt W die Entlohnung und / den Input des Individuums i und der Vergleichsperson j dar.443 Selbst große Entlohnungsunterschiede bewirken nicht zwangsläufig eine Verletzung dieser spezifischen Gerechtigkeitsnorm, solange sie durch entsprechende Unterschiede in den Inputs ausgeglichen werden. Bestehen jedoch im Gesamtergebnis Diskrepanzen, so entsteht eine Spannung, die die Akteure zu einer Angleichung der Werte motiviert. Dabei können verschiedene Strategien zur Anwendung kommen, je nachdem, welche Parameter von der betreffenden Person kontrolliert werden. Zunächst kann versucht werden, eine Gehaltsaufbesserung zu erhalten - hierbei sind neben dem Gang zum Vorgesetzten auch subtilere Methoden zu nennen, wie die Aneignung von Firmeneigentum, Sabotage oder das .Krankfeiern' (Greenberg 1990, S. 566; Lengfeld und Liebig 2003, S. 476). Auf diese Weise wird eine indirekte Umverteilung vom Unternehmen zum Arbeitnehmer vorgenommen. Auf der anderen Seite stehen Inputvariationen zur Verfugung, die von Leistungszurückhaltung bis zur ,inneren Kündigung'

441 442 443

Hier ist bspw. an den Wunsch nach Gleichverteilung zu denken (Kaufman 1999, S. 368). Die Equity-Theorie geht auf Adams (1965) zurück und wurde erstmals von Akerlof und Yellen (1988, 1990) im Rahmen von arbeitsmarkttheoretischen Modellen verwendet. Unter dem Input können allgemeiner die persönlichen Kosten der Leistungserstellung verstanden werden, in die objektiv meßbare Faktoren wie die geleistete Arbeitszeit aber auch subjektive Gesichtspunkte wie die Sorgfalt und das empfundene Arbeitsleid eingehen.

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reichen (Lea et al. 1987, S. 18).444 Schließlich bleiben noch der Exit aus der Arbeitsbeziehung mit den dadurch entstehenden Fluktuationskosten sowie die für das Unternehmen unschädlichste Reaktion der Anpassung der eigenen Situationswahrnehmung (kognitive Dissonanz). Eine relativ einfache Möglichkeit der Einbeziehung von Referenzpunkten im Rahmen der Effizienzlohntheorie besteht in der Annahme, daß ein Arbeitnehmer i seine Leistung pro Lohneinheit e/w, in Relation zu einem Referenzniveau e*/w* setzt. 445 Er wird sich gerecht entlohnt fühlen, wenn e, = e* — g'11w, w* Normiert man die Referenzleistung auf e* = 1, so ergibt sich der gerechte Lohn w„ wenn das Leistungsniveau dem Quotienten aus eigenem Lohn und Referenzlohn entspricht: w* Weicht die tatsächliche Situation zuungunsten von i ab, so wird die Leistung nach unten angepaßt. Dagegen wird angenommen, daß eine positive Abweichung vom Referenzlohn zu keiner Anpassung des Leistungsniveaus fuhrt. Es wird dann stets das faire Referenzniveau e* gewählt. Eine Bezahlung oberhalb des als fair angesehenen Lohnes führt hier also nicht zu einer weiteren Erhöhung der Leistung. 446 Dies steht im Einklang mit Ergebnissen der Gerechtigkeitsforschung, die zeigen, daß die Bereitschaft zur Leistungssteigerung hauptsächlich durch das prozedurale und nicht durch das distributive Gerechtigkeitsempfinden beeinflußt wird (Cohen-Charash und Spector 2001, S. 294 ff.). 447 Damit ergibt sich für das Leistungsniveau folgender funktionaler Zusammenhang: e = min (w/w*, 1). Die Leistung in Abhängigkeit der Lohnrelation findet sich in Abbildung 10 wieder.

444

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447

Hinzu kommt, daß unter bestimmten Voraussetzungen auch die Inputs der Vergleichsperson beeinflußt werden können, bspw. bei der Gruppenarbeit oder indem man das Arbeitsleid von Kollegen erhöht (Harassment). Dieses einfache Modell findet sich etwas ausführlicher in Akerlof und Yellen (1990, S. 255 ff.) sowie in Wagner und Jahn (1997, S. 124 ff.). Die sonstigen Informationsannahmen des Modells sind neoklassisch - die Akteure sind also vollständig informiert. Psychologische Untersuchungen beschäftigen sich hauptsächlich mit der positiven Anpassung der Leistung für den Fall, daß sich Arbeitnehmer überbezahlt fühlen, da es als offensichtlich angesehen wird, daß eine Unterbezahlung negative Folgen auf die Leistung hat - vgl. Akerlof und Yellen (1990, S. 257). So sieht Mowday (1991, S. 120) die Leistungsanpassung bei Unterbezahlung als gesichert an, während die empirische Evidenz für eine positive Anpassung bei Überbezahlung allenfalls schwach ist. Bewley (2004, S. 7) nennt als Grund für dieses Phänomen, daß Arbeitnehmer sich schnell an eine höhere Entlohnung gewöhnen und diese als selbstverständlich ansehen, so daß allenfalls kurzfristig Leistungssteigerungen zu erwarten sind. Interviewstudien zeigen, daß die von Personalverantwortlichen erwarteten Leistungseffekte einer Lohnerhöhung und einer Lohnsenkung tatsächlich asymmetrisch sind (Campbell und Kamlani 1997, S. 778).

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

167

Abbildung 10: Leistungsbestimmung im Equity-Modell

Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen wird nun abhängig von der Höhe des Referenzlohnes sein. Werden die Unternehmen bei ihrer Beschäftigungsentscheidung nicht rationiert und berücksichtigen sie die Lohnpräferenzen der Beschäftigten, so bildet der Lohnsatz w* den Effizienzlohn. In der Regel wird dieser oberhalb des markträumenden Lohnes liegen, so daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit entsteht (Akerlof und Yellen 1990, S. 255 f. und S. 266 ff.; Wagner und Jahn 1997, S. 127 f.). Bei rigiden Löhnen schlagen sich exogene Schocks lediglich in Mengenanpassungen nieder und können damit die Volatilität der Beschäftigungsmenge begründen. Theoretisch erscheint es wünschenswert, die Höhe des fairen Lohnes zu endogenisieren, bspw. über die Kopplung an formale Institutionen (Kündigungsschutz, Lohnersatzleistungen) oder an die Arbeitslosenquote. So mag die Freude über eine sichere Beschäftigung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit einen relativ niedrigen Referenzlohn hervorrufen, der sich jedoch mit der Erholung der wirtschaftlichen Lage und sinkender Arbeitslosigkeit wieder nach oben anpaßt. Es ist außerdem plausibel, daß Arbeitnehmer Entlohnungssysteme vorziehen, die eine geringere Streuung aufweisen, als sie sich aufgrund der tatsächlichen Produktivitätsunterschiede ergibt {Akerlof und Yellen 1988, S. 45 f.).448 Diese egalitäre Präferenz läßt sich über den positiven Bias im Hinblick auf die Einschätzung der eigenen Leistung erklären.449 Unternehmen mit einer gleichmäßigeren Lohnstruktur verfügen dann über harmonischere Arbeitsbeziehungen und damit über eine höhere Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer. Da Lohnsenkungen bei Hochqualifizierten für die Unternehmen sowohl über die Kostenseite als auch über die Arbeitsmotivation der Gesamtbelegschaft Vorteile bringen, ergibt sich im Modell eine gestauchte Lohnstruktur mit Vollbeschäftigung im primären und Arbeitslosigkeit im sekundären Segment (Akerlof und Yellen

448

Für die Leistungsbereitschaft der Akteure gilt dann, daß sie negativ von der Varianz der Löhne abhängt: e[a2(w)].

449

Psychologische Untersuchungen weisen darauf hin, daß Menschen ihr eigenes Leistungsvermögen tendenziell überschätzen. So ordnen zwischen 68 und 86 Prozent der Arbeitnehmer ihre Leistungen dem oberen Quartil zu (Akerlof und Yellen 1988, S. 48).

168

Martin Dietz

1988, S. 45 f.). Selbstüberschätzungseffekte {self-serving bias) haben damit reale ökonomische Auswirkungen. 450 (b)

Die gerechte Lohnstruktur, Lohndijferentiale

und

Arbeitslosigkeit

Im Bereich der Personalführung wird die Befolgung von Equity-Gesichtspunkten als selbstverständlich angesehen. Die Begründung hierfür sieht Dessler (1984, S. 223) sowohl in der Außenwirkungen auf den Arbeitsmarkt als auch in betrieblichen Motivationseffekten: „The need for equity is perhaps the most important factor in determining pay rates. [...] Externally, pay must compare favorably with those in other organizations or you'll find it hard to attract and retain qualified employees. Pay rates must also be equitable internally in that each employee should view his or her pay as equitable given other employees' pay rates in the organization." Es spricht daher einiges dafür, eine gerechte Lohnstruktur anzustreben - sie tatsächlich zu erreichen und dauerhaft beibehalten zu können, dürfte dagegen nicht nur wegen der Subjektivität der individuellen Beurteilungen schwierig sein.451 Verfügt ein Unternehmen über eine akzeptierte Lohnstruktur, deren Störung Kosten verursacht, besteht ein Interesse daran, diese beizubehalten und nicht mit Standards zu experimentieren. Daher ist satisfizierendes Verhalten auch bei der Ausgestaltung der Entlohnungssysteme vernünftig. Unternehmen werden erprobte Lohnmuster nur in Ausnahmefallen ändern, wodurch sich das empirisch belegte starke Beharrungsvermögen von Löhnen und Lohnstrukturen erklären läßt. Die Equity-Theorie liefert außerdem eine Erklärung dafür, daß die Zahlung von Effizienzlöhnen über die gesamte Lohnstruktur vorgenommen wird.452 Dies gilt, obwohl die Bedingungen unvollständiger Verträge als Voraussetzung für die Zahlung von Effizienzlöhnen bei den unteren Lohngruppen vielfach nicht im selben Maße wie bei den höheren Lohngruppen vorliegen und am Arbeitsmarkt möglicherweise ein Angebotsüberschuß existiert. Im großen und ganzen nimmt die Gruppe der Beschäftigten, die gut kontrollierbare Arbeiten verrichtet, jedoch auch im Niedriglohnsegment ab, so daß durch eine als ungerecht empfundene Lohnstruktur auch in diesem Segment die Möglichkeit zu negativer Reziprozität besteht. Damit ist ein weiterer Grund für eine Angleichung der Lohnstruktur genannt (Akerlof und Yeilen 1990, S. 265).453

450 451 452 453

Camerer (1997, S. 173 f.) verdeutlicht diesen Effekt an weiteren Beispielen. Rees (1993, S. 250) bemerkt daher: „Under these circumstances, pay equity is a goal that is constantly being pursued but is never reached. In this respect, it is not unlike market equilibrium." Sie erklärt damit das Phänomen interindustrieller Lohndifferentiale. Campbell und Kamlani (1997, S. 771) belegen, daß Unternehmen gerade in der Gruppe der Arbeiter bei Lohnsenkungen Leistungszurückhaltungen erwarten. Dies spricht einerseits dafür, daß auch bei diesen Tätigkeiten mittlerweile ein hohes Maß an Freiheitsgraden herrscht, kann jedoch auch damit erklärt werden, daß diese Beschäftigten vor allem durch extrinsische Mechanismen motiviert werden und eine relative Schlechterstellung bei ihnen daher besonders demotivierend wirkt.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

169

Schließlich bringen es die Vergleichsprozesse mit sich, daß Lohnbewegungen bei einer Lohngruppe nicht ohne Einfluß auf die Beurteilung der Lohngerechtigkeit in anderen Segmenten bleiben. So sind bei Lohnerhöhungen, die nur im Hochlohnsegment eines Unternehmens durchgeführt werden, negative Wirkungen auf die Leistungsbereitschaft der anderen Arbeitnehmer zu erwarten (Campbell und Kamlani 1997, S. 776 f.).454 Wenn deshalb eine Anpassung der gesamten Lohnstruktur nach oben nötig wird, verschärft dies die Situation von Mitarbeitern, in deren Segment die Arbeitsnachfrage sowieso schon gering ist, und kann die zunehmende Arbeitslosigkeit in diesen Gruppen erklären. (2)

Der Unternehmensgewinn als Referenzpunkt

Im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist vor allem von Bedeutung, wie die durch das Schließen eines Arbeitsvertrages entstehende Rente aufgeteilt wird. Auch hier können gesellschaftliche Normen existieren, die festlegen, wie eine gerechte Aufteilung des Überschusses aus einem Arbeitsverhältnis auszusehen hat {Elster 1989a, S. 102). Die Einhaltung dieser Regeln wird dann wiederum Einfluß auf die Festlegung der Leistungsbereitschaft durch die Arbeitnehmer haben (Akerlof und Vellen 1988, S. 46; Akerlof und Yellen 1990, S. 262 ff.). Da der Überschuß aus einem Arbeitsverhältnis häufig nur schwer zu beziffern ist, kann das Unternehmensergebnis als Referenzgröße herangezogen werden. Arbeitnehmer erheben also ein Anrecht auf einen Teil des Unternehmensgewinnes, woraus sich die positive Korrelation zwischen Unternehmensgewinn und Lohnhöhe erklären läßt. Es handelt sich gewissermaßen um eine informell vollzogene Variante einer Gewinnbeteiligung. Experimentell wird der Zusammenhang zwischen Gewinn und Lohnhöhe von Fehr, Gächter und Kirchsteiger (1996) untersucht. Sie gehen von einem kompetitiven Arbeitsmarkt mit einem exogen gegebenen Arbeitsangebotsüberschuß und unvollständigen Arbeitsverträgen aus. Dabei unterscheiden sich die Unternehmen durch den Betrag v, der ihnen von den Experimentatoren zur Verfügung gestellt wird. Die Unternehmen mit einem hohen Áusgangswert können bei gegebenem Lohn und exogen fixierten Güterpreisen einen höheren Gewinn erzielen. Den Arbeitnehmern wird der Wert v ihres Arbeitgebers nach Vertragsabschluß zur Kenntnis gebracht, so daß sie das Lohnangebot in Relation zum möglichen Unternehmensgewinn setzen können. Dieses Vorgehen ermöglicht ihnen eine Einschätzung der Großzügigkeit des Lohnniveaus, an der sie sich dann in der zweiten Stufe mit ihrem Leistungsniveau orientieren können {Fehr, Gächter und Kirchsteiger 1996, S. 610 ff.). Aus (spiel-) theoretischer Sicht sollte der Marktmechanismus unabhängig von den unterschiedlichen Werten für v zu einem einheitlichen Gleichgewichtslohn führen. Die Studie zeigt jedoch, daß die Höhe der Lohnangebote positiv von den Gewinnmöglichkeiten des Unternehmens abhängt.455 Die so entstehen-

454 455

Die Motivationseffekte bei einer einseitigen Lohnerhöhung der unteren Gruppen sind dagegen nicht so groß, was daraufhindeutet, daß Lohnvergleiche eher mit höheren Lohngruppen durchgeführt werden {Akerlof und Yellen 1990, S. 259). Dieser Zusammenhang verwundert nicht, wenn man die Lohnverhandlungen als NashLösung modelliert. Da sich der Gewinn bei gegebenem Lohnsatz erhöht, verschiebt sich

170

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den Lohndifferentiale sind robust über die Dauer der Perioden. Das Leistungsniveau hängt wiederum positiv von der Lohnhöhe ab, sinkt aber ceteris paribus mit steigendem v (Fehr, Gächter und Kirchsteiger (1996, S. 620 ff.). Hannan (2004) untersucht dasselbe Phänomen mittels einer etwas anderen Ausgestaltung des Geschenkaustauschmarktes. Nachdem Löhne und Leistungsniveaus festgelegt worden sind, wird ein exogener Gewinnschock simuliert, der den Wert von v erhöht, senkt oder aber unverändert läßt. Im Anschluß an diese für alle sichtbare Veränderung können die Unternehmen die Löhne anpassen. Daraufhin legen die Arbeitnehmer wiederum ihr Leistungsniveau fest {Hannan 2004, S. 9 f f ) . Dabei ergibt sich folgendes Bild: bei einem positiven Gewinnschock erhöht sich die Leistungsbereitschaft, wenn das Unternehmen anschließend die Löhne nach oben anpaßt (positive Reziprozität). Bei gleichbleibenden oder gar sinkenden Löhnen werden die Leistungen nach unten angepaßt (negative Reziprozität). Dies deutet darauf hin, daß die Arbeitnehmer davon ausgehen, ein Anrecht auf einen Teil der zusätzlichen Unternehmensgewinne zu haben. Zögern die Unternehmen, mit ihren Beschäftigten zu teilen, so wird dies als unfair angesehen und sie werden mit Leistungszurückhaltung bestraft (Hannan 2004, S. 6). Im Falle eines negativen Gewinnschocks zeigt sich, daß die Anteilnahme der Beschäftigten an der Gewinnentwicklung nicht spiegelverkehrt in die andere Richtung wirkt. Bei Lohnanhebungen oder gleichbleibenden Löhnen wird zwar eine Erhöhung der Leistungsbereitschaft gezeigt, Lohnsenkungen werden jedoch auch im Falle sinkender Gewinne als feindseliges Verhalten angesehen und dementsprechend bestraft. 456 Dies scheint zunächst gegen eine Schlußfolgerung aus Befragungsstudien zu sprechen, in denen Arbeitnehmer durchaus ihre Bereitschaft zu Abstrichen beim Einkommen erklärten, wenn es dem Unternehmen schlecht geht und der Arbeitsplatzsicherung dient (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 733). Bei der Übertragung der Ergebnisse aus dem Experiment in die Realität sollte jedoch vorsichtig vorgegangen werden. So haben die Unternehmen im Experiment keine Verluste, sondern lediglich abnehmende Gewinne erzielt. Dies werden Arbeitnehmer jedoch nicht mit einer Gefahrdung des Unternehmensbestandes assoziieren. Zudem sind alternative Strategien wie Entlassungen nicht vorgesehen, so daß die Situation für die Beschäftigten keine bedrohliche Form annimmt. Empirische Untersuchungen weisen tatsächlich einen deutlich positiven Einfluß der Gewinnhöhe auf die langfristige Lohnentwicklung nach {Hildreth und Oswald 1997, S. 326).457 Gewinnreichere Unternehmen entlohnen Arbeitskräfte mit identischer Qualifikation höher und liefern so einen Beitrag zur Erklärung interindustrieller Lohndiffe-

die Pareto-Linie nach außen, so daß es c.p. zu einer Aufteilung kommt, die beiden Parteien einen Anteil des größeren Kuchens ,zuweist' (Hildreth und Oswald 1997, S. 321). 456

Dies deutet darauf hin, daß die Arbeitnehmer davon ausgehen, ein Anrecht auf den in der ersten Runde festgelegten Lohnsatz zu haben.

457

Es kommt also zu einem Rent-Sharing (Kaufman 1999, S. 376). Okun (1981, S. 89) folgert daher, daß die Arbeitsbeziehungen vielmehr durch einen unsichtbaren Handschlag als durch die unsichtbare Hand geregelt werden.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

171

rentiale.458 Die tendenziell höheren Löhne werden zudem nicht nur für bestimmte Berufsgruppen, sondern für die gesamte Belegschaft gezahlt. Dies deutet wiederum auf die Rolle sozialer Vergleichsprozesse hin, und zwar sowohl zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als auch zwischen unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen (Fehr, Gächter und Kirchsteiger 1996, S. 608 ff.). Die gewinnreichen Industrien oder Einzelbetriebe zeichnen sich durch eine hohe Gütermarktkonzentration, einen hohen Kapitaleinsatz pro Beschäftigten sowie starke Gewerkschaftsaktivitäten aus (Lindbeck und Srtower 1988c, S. 258; Dickens und Katz 1987, S. 72 ff.). Der positive Zusammenhang von Marktmacht in Form einer Anbieterkonzentration auf dem Gütermarkt und Lohnhöhe läßt sich sowohl über eine gerechte Aufteilung höherer Gewinnmargen als auch über die Möglichkeit, Kostensteigerungen an die Nachfrager weiterzugeben, erklären. Letzteres dürfte bei starkem Wettbewerb nicht so einfach möglich sein (Krueger und Summers 1987, S. 32 ff.; Katz 1986, S. 262). Die Höhe der Löhne und das Verhalten der Arbeitgeber kann gerade in schlechten Zeiten ein wichtiges Signal für die Arbeitsanbieter darstellen. So müssen die Unternehmen davon ausgehen, daß sich die Arbeitnehmer in Aufschwüngen, wenn sich die Arbeitsmarktlage entspannt und die Löhne steigen, verstärkt nach Beschäftigungsaltemativen umsehen. Da diese Fluktuation mit Kosten verbunden ist, werden die Unternehmen versucht sein, diesen Bestrebungen entgegenzuwirken. Dabei kann auf einen Mechanismus gesetzt werden, der die Dauerhaftigkeit und die Relationalität der Arbeitsbeziehungen verdeutlicht. So wird erwartet, daß ein gerade in schlechten Zeiten sicheres oder gar steigendes Einkommen durch die Arbeitnehmer vergolten wird, indem sie in Aufschwüngen von einer Abwanderung absehen. Auch hier handelt es sich um eine Form des Geschenkaustausches, der sich über die verschiedenen Phasen des Konjunkturzyklus' hinzieht. Da eine positive Reputation zudem dazu führt, daß die Unternehmen leichteres Spiel beim Anwerben neuer Arbeitskräfte haben, kann das großzügige Verhalten der Unternehmen als Investition in die Dauerhaftigkeit der Arbeitsbeziehung sowie in die Sicherung der durchschnittlichen Arbeitsqualität angesehen werden. (3)

Fazit

Die in diesem Abschnitt diskutierten Aspekte haben noch einmal verdeutlicht, daß die Arbeitsbeziehung nicht rein ökonomischer, sondern vor allem auch sozialer Natur ist. Sind Gerechtigkeitsvorstellungen und soziale Vergleichsprozesse grundsätzlich von Bedeutung, so können bei wiederholten Interaktionen Gleichgewichte entstehen, in denen Arbeitsplätze rationiert sind und unfreiwillige Arbeitslosigkeit in allen Segmenten zu beobachten ist (Rebitzer 1993, S. 1414). Hier wird der Zusammenhang zwischen Effizienzlohntheorien und der keynesianischen Betonung von Lohnrigiditäten für die Höhe der Arbeitslosigkeit offensichtlich (Katz 1986, S. 236). Die internen Arbeitsmärkte und die dort geltenden informellen Regeln koppeln die Festlegung des Lohnsatzes 458

Interviewstudien deuten darauf hin, daß Löhne nur selten als Reaktion auf die allgemeinen Arbeitsmarktbedingungen bewegt werden. Sie verändern sich vielmehr in Abhängigkeit von der Gewinnsituation des jeweiligen Unternehmens (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 739). Dies gilt vor allem für hochqualifizierte Mitarbeiter (Agell und Bennmarker 2003, S. 21).

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gewissermaßen von den gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarktbedingungen ab. Trotz bestehender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommt es also nicht zu einem Abschmelzen des Lohnsatzes. Die (Gerechtigkeits-) Normen der Beschäftigten machen eine flexible Anpassung oder Ausdifferenzierung der Lohnstruktur unwahrscheinlich und verhindern damit nicht nur Neueinstellungen, sondern stellen auch eine Bürde für die allgemeine Beschäftigungsentwicklung dar. 5.4.3. Zum Erklärungsgehalt der Effizienzlohntheorie Aus dem Stellvertreterproblem in modernen Arbeitsbeziehungen resultieren Probleme, die Unternehmen zur Suche nach Anreizmechanismen bewegen, die geeignet sind, eine Interessenkongruenz zwischen Prinzipal und Agenten in ihrem Sinne zu bewirken. Die zurückliegenden Abschnitte sollten verdeutlichen, daß die Effizienzlohntheorie Ergebnisse ableitet, die sich sowohl in positiver als auch in normativer Sicht von den neoklassischen unterscheiden (Krueger und Summers 1988, S. 259). Dies gilt in gleichem Maße für die Beurteilung von harten Anreizmechanismen im Rahmen der PAT. Die Wirksamkeit von Kontrollsystemen und harten Vorschriften ist spätestens dann beschränkt, wenn die intrinsische Arbeitsmotivation eine größere Bedeutung erlangt. Damit gewinnen die Aussagen der Effizienzlohntheorie durch den volkswirtschaftlichen Strukturwandel an Gewicht (Snower 1998, S. 63 ff.). Die Zahlung von Effizienzlöhnen beinhaltetet neben einer sanktionierenden (Shirking-Theorie) auch eine motivierende Komponente (Geschenkaustausch). Informelle Institutionen und internalisierte Normen übernehmen dann die Funktionen harter Anreizmechanismen.459 Die Effizienzlohntheorie kann daher erklären, warum Unternehmen ein Eigeninteresse an kooperativen Arbeitsbeziehungen entwickeln. Gerechtigkeit und Effizienz sind miteinander verknüpft und stellen keine unvereinbaren Gegensätze dar. Da die Zahlung von Löhnen oberhalb des markträumenden Niveaus für die Unternehmen rational ist, ergeben sich auf dem Arbeitsmarkt unerwünschte Nebeneffekte. 460 Das Anheben des allgemeinen Lohnniveaus und die Abkopplung der Entlohnung von der Grenzproduktivität der Arbeit führen zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit.461 Die Modelle der Effizienzlohntheorie stellen daher einen Schritt hin zu einer Zusammenfuhrung von Mikro- und MakroÖkonomik dar (Stiglitz 1987, S. 41). Effizienzlöhne werden sowohl im primären als auch im sekundären Arbeitsmarktsegment gezahlt. Im primären Segment bieten alle Varianten der ELT Erklärungen für 459 460

461

Allerdings mögen gesellschaftliche Sanktionsmechanismen allein als zu unsicher erscheinen, so daß eine Mischung verschiedener Mechanismen angebracht ist. Tatsächlich versucht eine große Zahl Unternehmen, eine überdurchschnittliche Entlohnung anzubieten. Rees (1993, S. 245) zieht hieraus den Schluß: „It is, of course, impossible for more than the half of them to be there, and the macroeconomic implications of these preferences are therefore more than a bit disturbing." Ein weiterer Effekt ergibt sich über den Gütermarktzusammenhang. Die produktivitätssteigernde Wirkung von Effizienzlöhnen führt dort zu einer Absenkung der Grenzkosten, die auf wettbewerblichen Gütermärkten über sinkende Preise eine zusätzliche Nachfrage generieren. Die Rückwirkungen auf die Arbeitsnachfrage sind in diesem Fall von der Preiselastizität der Nachfrage auf dem betreffenden Gütermarkt abhängig (Fehl und Oberender 2004, S. 143 ff.).

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hohe Lohnzahlungen an. Daß dort erst in letzter Zeit eine steigende Arbeitslosigkeit zu beobachten ist, weist darauf hin, daß die Kräfte von Angebot und Nachfrage trotz allem nicht vernachlässigt werden dürfen (Akerlof und Yellen 1990, S. 266). Herrscht grundsätzlich Knappheit an hochqualifizierten Arbeitskräften, so kann dies die Effizienzlohnüberlegungen überlagern. Auf der anderen Seite wären im sekundären Segment eher Gleichgewichtslöhne zu erwarten, so daß kaum unfreiwillige Arbeitslosigkeit auftreten sollte. Allerdings ist zu konstatieren, daß auch im sekundären Segment immer mehr Tätigkeiten anzutreffen sind, in denen vertragliche Unvollkommenheiten mit all ihren Konsequenzen greifen. Zudem fuhren Gerechtigkeitsüberlegungen dazu, daß auch die Gehälter der unteren Lohngruppen nach oben angepaßt werden, um eine allgemein akzeptierte Lohnstruktur unangetastet zu lassen. Wie bereits dargelegt wurde, geschieht dies nicht unbedingt zum längerfristigen Vorteil dieser Arbeitnehmergruppen. Auch zur Erklärung von interindustriellen Lohndifferentialen hat die ELT einiges beizutragen. Dabei zieht sie ihre Kraft aus der Heterogenitätsannahme. Bestehen Unterschiede bei den Meßkosten der Arbeitsqualität, bei den Kosten, die durch einen Arbeitsplatzwechsel oder durch Drückebergerei verursacht werden, bei der Gewinnmarge der Unternehmen oder bei der Wirksamkeit von Reziprozitätsnormen, so lassen sich Differenzen in der optimalen Lohnhöhe zwischen Unternehmen erklären, selbst wenn die Arbeitnehmer sich nicht in ihren Fähigkeiten unterscheiden (Stiglitz 1987, S. 8; Krueger und Summers 1988, S. 261). Auch wenn bisher kein übergreifendes Effizienzlohnmodell existiert, kann der folgenden Feststellung von Katz (1986, S. 266) mehr denn je zugestimmt werden: „A combination of the economic efficiency wage models with the sociological (normative) efficiency wage models provides a fairly consistent, though far from elegant, account of the observed pattern of wage dispersion." Die unterschiedlichen Effekte, die von den Effizienzlohnansätzen betont werden, sind auch in der Praxis schwer voneinander zu trennen, da die Absicht hinter einer Lohnsetzung für Außenstehende kaum ersichtlich ist. Aus diesen Abgrenzungsproblemen ergeben sich Schwierigkeiten für die Testbarkeit der einzelnen Varianten der ELT, so daß eine eindeutige empirische Stützung noch aussteht. Allerdings spricht die indirekte empirische Evidenz aus experimentellen Studien und Unternehmensbefragungen vor allem dem Geschenkaustausch, der Lohngerechtigkeit und sozialen Vergleichsprozessen eine große Bedeutung zu. Trotz dieser positiven Beurteilung sollte nicht vergessen werden, daß die formalen Ansätze der ELT vor allem Auszahlungsgesichtspunkte untersuchen. Prozedurale Aspekte werden dagegen nicht abgebildet, obwohl wichtige Hinweise darauf existieren, daß gerade diese von besonderer Bedeutung sind. Wie im folgenden Abschnitt zu sehen sein wird, sind sie vor allem in Hinblick auf Lohnanpassungen nach unten relevant.

5.5.

Lohnrigiditäten als Folge von Gerechtigkeitsüberlegungen

Auf Gütermärkten bewirken Preisbewegungen, daß der Markt bei Verschiebungen der Angebots- oder Nachfragekurven wieder ins Gleichgewicht findet. Dies wird in der Lehrbuchversion auch von Arbeitsmärkten angenommen, entspricht jedoch gerade bei Lohnanpassungen nach unten kaum der Realität. Die Unternehmen verzichten eher auf

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Neueinstellungen oder nehmen Entlassungen vor, als daß es zu Lohnsenkungen in einem größeren Ausmaß kommt. So haben schwedische Unternehmen in den neunziger Jahren - in der es eine lange Periode hoher Arbeitslosigkeit und relativ geringer Inflationsraten gegeben hat - kaum Lohnkürzungen vorgenommen. 462 Die Zahlen für Länder, die eine ähnliche wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen haben, aber über flexiblere formale Institutionen verfugen, fallen nur wenig höher aus.463 In keinem der Fälle kann die Rede davon sein, daß Lohnanpassungen in dem von Gleichgewichtsmodellen prognostizierten Ausmaß stattgefunden hätten. Aufgrund dieser Ergebnisse muß von einer gewissen Lohnrigidität nach unten gesprochen werden.464 Da Lohnsenkungen eine Alternative zu Entlassungen darstellen und eine weitere Verschlechterung der allgemeinen Arbeitsmarktsituation verhindern könnten, ist dieses Phänomen von besonderem Interesse. Die Gründe für Lohnstarrheiten sind vor allem in der Kehrseite der im Vorabschnitt angeführten Motivationsfunktion des Lohnes zu sehen. Kaufinan (1999, S. 385) führt im Hinblick auf die Unumkehrbarkeit einer Hochlohnpolitik aus: „They [die Unternehmen - M.D.] did this as a motivational device, believing greater productivity, reduced turnover, and less union activity would more than offset the cost of higher wages. Having obtained these benefits for firms to then cut wages back to market rates would be perceived by workers as unfair and illegitimate. They would react, in tum, by quitting, striking, shirking, and numerous other means not captured in standard ,laboras-a-commodity' models of labor markets." Die Befürchtung, daß Lohnsenkungen die Arbeitsmoral beschädigen, wird in Unternehmensbefragungen einmütig bestätigt.465 Faire Löhne werden daher (nach unten) starre Löhne sein (Solow 1990, S. 18; Hillard und Mclntyre 1994, S. 623). Für die Relevanz von Gerechtigkeitsnormen sprechen auch die Telefonbefragungen von Kahneman, Knetsch und Thaler (1986a). So empfinden es 83 Prozent der Befragten als unfair, wenn Beschäftigten der Lohn gekürzt wird, weil die Situation am Arbeitsmarkt sich verschlechtert hat (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 730).466 Dies gilt auch dann, wenn Arbeitnehmer in anderen Unternehmen für einen niedrigeren Lohn dieselbe Arbeit leisten und sich die Wettbewerbssituation des eigenen Arbeitgebers damit relativ verschlechtert. Diesem Ergebnis liegt die Vorstellung zugrunde, daß Arbeitnehmer mit zunehmender Dauer des Arbeitsverhältnisses ein Anrecht auf den bisher

462

463 464

465 466

Nur 3,2 Prozent der Unternehmen haben zu diesem Mittel gegriffen. Davon waren lediglich 1,1 Prozent der 1,14 Millionen in der Stichprobe erfaßten Arbeitnehmer betroffen (Agell und Bennmarker 2003, S. 6 ff.). Vgl. Agell und Bennmarker (2003, S. 10) mit Daten für die USA, Kanada und die Schweiz. Fehr und Goette (2003) kommen für die Schweiz zu der Erkenntnis, daß die Nominallohnrigidität hoch genug ist, um über dauerhaft hohe Arbeitskosten beschäfiigungssenkende Effekte auszulösen. Agell und Lundborg (2003, S. 6 ff.) weisen Nominallohnrigiditäten für Schweden nach. Dies ist gerade wegen der Unterschiedlichkeit der einzelnen Untersuchungen hervorzuheben {Howitt 2002, S. 129). Charness und Levine (2002a) replizieren die Telefonbefragungen und kommen trotz einer deutlich verschlechterten Arbeitsmarktsituation zu ähnlichen Ergebnissen.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

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gezahlten Lohnsatz erwerben, das sich auch in die Zukunft erstreckt und den Status Quo nach unten hin absichert (Thaler 1989, S. 188). Elster (1989b, S. 217) fuhrt aus: „The status quo tends to harden into a normative principle, almost like a property right." Während in relationalen Arbeitsbeziehungen die gemeinsame Geschichte als Referenzpunkt der Lohnbestimmung angesehen wird, so ändert sich dies, wenn Neueinstellungen vorgenommen werden, weil der bisherige Arbeitnehmer gekündigt hat. Nun wird eine Lohnanpassung nur noch von 27 Prozent der Befragten als unfair angesehen. Augenscheinlich wird nun der Marktlohn zum Vergleich herangezogen. 467 In bestehenden Arbeitsverhältnissen gilt eine Verschlechterung der Arbeitsmarktlage - also eine höhere Arbeitslosigkeit - demnach nicht als ausreichende Bedingung für die Akzeptanz von Lohnkürzungen (Malcomson 1999, S. 2355). 468 Letztere würden in relationalen Beziehungen die Basis für ein für beide Seiten vorteilhaftes Arrangement zerstören. So konnte eine deutliche Qualitätsverschlechterung der Firestone-Reifen festgestellt werden, nachdem ein 30prozentiger Lohnabschlag bei Neueinstellungen angekündigt wurde (Krueger 2003, S. 6 ff.). Um solche Effekte zu vermeiden, werden Unternehmen in schlechteren Zeiten möglichst auf Nominallohnsenkungen verzichten und Mengenanpassungen vornehmen. Auf diese Weise wird das Problem gemeinsam mit den nun Arbeitslosen aus den Unternehmen verbannt, so daß der Produktionsprozeß nicht dauerhaft negativ beeinflußt wird (Howitt 2002, S. 126).469 Die Allokationsfunktion des Arbeitsmarktes ist also gestört - gesellschaftliche Normen verursachen Lohnrigiditäten und in der Konsequenz unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Diese Lohnrigiditäten können in Zeiten hoher Inflation abgeschwächt werden, wenn die Nominallöhne langsamer ansteigen als das Güterpreisniveau, so daß es zu Reallohnsenkungen kommt. In diesem Fall muß in den Lohnverhandlungen eine gewisse Geldillusion auftreten. 470 Daß diese tatsächlich eine Rolle spielt, zeigt folgende Studie: 62 Prozent der Befragten empfinden eine Senkung der Löhne um sieben Prozent in einem Abschwung mit hoher Arbeitslosigkeit und ohne Inflation als unfair. Die Zahl sinkt aber

467

Veränderte Umweltzustände können also zu einer unterschiedlichen Interpretation desselben Sachverhaltes fuhren, wenn mit ihr eine Veränderung der Referenztransaktion einhergeht. Letztere sind also nicht absolut zu setzen. Selbst Transaktionen, die ursprünglich als unfair angesehen wurden, können zu einer Referenztransaktion werden (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 730 f.). Es ist wahrscheinlich, daß der beste Alternativlohn sowie der eigene Lohn in der Vergangenheit untere Schranken für den fairen Lohn bilden

468

Dessen sind sich auch die Unternehmen bewußt. Nahezu alle befragten Personaldirektoren in der Studie von Blinder und Choi (1990, S. 1009) sehen es als unfair an, eine Verschlechterung der Arbeitsmarktlage für Lohnsenkungen zu nutzen. Sie befürchten zudem, daß Lohnkürzungen generell die Fluktuationskosten erhöhen, durch die negative Reputation die durchschnittliche Arbeitsqualität senken und in der Belegschaft negative Leistungsanpassungen hervorrufen.

469

Bewley (2004, S. 8) bemerkt hierzu prägnant: „Layoffs get the misery off the door."

470

Daß unerwartet auftretende Inflationsprozesse die Arbeitslosigkeit senken können, findet sich bereits im Verlauf der kurzfristigen Phillips-Kurve. Der Versuch, diese Zusammenhänge auszunutzen, kann zu politischen Konjunkturzyklen fuhren (Gärtner 2003, S. 290 ff.). Langfristig und bei rationalen Erwartungen besteht jedoch kein Trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit.

(Fehr und Gächter 1996, S. 20 f.).

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auf 22 Prozent, wenn bei einer zwölfprozentigen Inflation der Lohnsatz um fünf Prozent erhöht wird (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 731 f.).471 Die Lohnkürzung wird als Verlust empfunden, der zudem eine gesunkene Wertschätzung der eigenen Leistung anzeigt, während der zweite Fall aufgrund der Geldillusion als ein Lohnanstieg oder zumindest als ein weniger problematischer Fall eines entgangenen Lohnanstiegs bewertet wird. 472 Zudem kommt es bei der Reziprozitätsnorm auch auf die Intention des Handelnden an. Eine Reallohnsenkung aufgrund hoher Preissteigerungsraten kann aber nicht auf das Verhalten der Arbeitgeber zurückgeführt werden und wird laut Howitt (2002, S. 130) nicht mit negativer Reziprozität bedacht. „It is one thing to allow your employees to suffer from inflation. It is another thing altogether to take the positive action of cutting their nominal pay." Nun soll noch der Frage nachgegangen werden, ob Lohnsenkungen ein grundsätzliches Tabu darstellen. Dies ist im Hinblick auf die Variationsmöglichkeiten des Lohnes von Bedeutung und wirft zudem ein Licht auf die Beziehung zwischen Unternehmen und ihren Beschäftigten. Unternehmensbefragungen weisen darauf hin, daß sowohl die Umstände als auch die Art und Weise, wie Lohnkürzungen vorgenommen werden, als wichtig angesehen werden, so daß diese nicht in jedem Fall auf Ablehnung stoßen müssen (Blinder und Choi 1990, S. 1008 f.). Das Verhalten der Unternehmen wird vor allem dahingehend beurteilt, ob es bei der Entscheidung über Lohnsenkungen oder Entlassungen eine Wahl hatte. 473 Die Belegschaft nimmt Einschnitte deutlich ruhiger auf, wenn sie nicht vom Arbeitgeber zu verantworten sind (Charness 2000, S. 376 f.). Entlassungen werden daher als weniger unangemessen angesehen, wenn sie durch Nachfrageeinbrüche verursacht sind und nicht auf einer strategisch motivierten Entscheidung des Managements beruhen. 474 Als wichtiger Indikator für die Einschätzung des Unternehmensverhaltens dient weiterhin der Unternehmensgewinn. So zeigt sich in Befragungen, daß Nominallohnanpassungen eher als angemessen empfunden werden, wenn der Referenzgewinn des Unternehmens ebenfalls gesunken ist (Campbell und Kamlani 1997, S. 776; Charness und

471

Die Resultate der Unternehmensbefragungen von Agell und Bennmarker (2003, S. 28 f.) ähneln diesen Ergebnissen. Die Tatsache, daß Personalverantwortliche in etwa dieselben Einschätzungen haben wie die Teilnehmer einer Telefonbefragung, bestätigt, daß Geldillusion ein relevantes Phänomen ist. Ein ähnlicher Effekt könnte bei der Erzielung von Lohnsenkungen über eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnanpassungen helfen. Ein solches Vorgehen besäße zudem den Vorteil, daß keine Abstriche beim Monatslohn und damit beim Konsumverhalten nötig werden. Allerdings befurchten Arbeitgeber auch bei diesen Maßnahmen negative Leistungseffekte (Spitznagel und Wanger 2004, S. 18).

472

Vgl. auch Blinder und Choi (1990, S. 1009), die auf die Referenzpunktabhängigkeit der Ergebnisse verweisen: „[...] there is a psychological difference between taking away and not giving."

473

Diese Vermutung findet sich auch bei Camerer und Thaler (1995, S. 215) im Hinblick auf wirtschaftspolitische Maßnahmen. Hierunter fallen auch Entlassungen, die im Rahmen des technischen Fortschritts vorgenommen werden müssen. Dabei scheint auch bei den Beschäftigten die Einsicht vorzuherrschen, daß Innovationen nötig sind, um im Wettbewerb bestehen zu können (Charness und Levine 2002b, S. 18).

474

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

177

Levine 2002b, S. 13 ff.).475 Eine Absenkung des Lohnes bei hoher Arbeitslosigkeit, wenn das Unternehmen Gewinn macht, wird von 77 Prozent der Befragten als unfair empfunden. Wenn es auch dem Unternehmen schlecht geht, sehen nur 32 Prozent eine solche Vorgehensweise als ungerecht an. Hier spiegelt sich die kooperative Grundeinstellung wider, daß Unternehmen und Arbeitnehmer in einem Boot sitzen (Kahneman, Knetsch und Thaler 1986a, S. 732 f.). Außerdem können schlechte Unternehmensergebnisse als Signal angesehen werden, daß die Arbeitsplätze allgemein in Gefahr sind. Dann stellen Lohnsenkungen im Hinblick auf eine langfristige Arbeitsplatzsicherung eine Alternative dar (Falk 2001, S. 21).476 In diesem Fall sprechen zwei Aspekte dafür, daß das Auftreten negativer Reziprozität durch die Arbeitnehmer unwahrscheinlich ist. Erstens fuhrt eine Verschlechterung des Unternehmensergebnisses zu einer Neuinterpretation des eigenen Lohnes. Wurde die bisherige Aufteilung als gerecht empfunden, so widerspricht eine Lohnanpassung nicht den distributiven Gerechtigkeitsnormen. Entsteht weiterhin der Eindruck, daß das Unternehmen keine andere Wahl hat, als die Löhne zu kürzen, so entfallt außerdem der Reziprozitätsauslöser, der sich auf die Intention der Handlungen bezieht. Diese Einschätzung durch die Arbeitnehmer kann durch die Beachtung prozeduraler Gerechtigkeitsnormen verstärkt werden. So ist es sinnvoll, die Belegschaft über die Kriterien, nach denen die Personalpolitik des Unternehmens funktioniert, zu informieren. Dies gilt vor allem, wenn man um die Akzeptanz eines Beschäftigungsabbaus oder von Lohnsenkungen wirbt (Okun 1981, S. 90). Vor allem sollte die Aussicht auf Rücknahme der Maßnahmen geboten werden, wenn es dem Unternehmen wieder besser geht - auf diese Weise wird die Norm der Reziprozität betont. Auch wenn man als Ökonom bei der Kommunikation zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern cheap talk vermuten würde, zeigen Untersuchungen, daß ein Verhältnis auf gleicher Augenhöhe von der Belegschaft positiv aufgenommen wird.477 Greenberg (1990) untersucht anhand eines Feldexperimentes, wie Arbeitnehmer auf temporäre Lohnsenkungen reagieren. Er unterscheidet dabei Prozeduren, in denen den Beschäftigten die Entscheidung schlicht mitgeteilt wurde, von solchen, in denen Unternehmen sich Mühe geben, die Entscheidung gegenüber den Arbeitnehmern zu erklären und zu rechtfertigen. Dabei wurde die Veränderung der Rate der Mitarbeiterdiebstähle als Indikator für negative Reziprozität herangezogen. Die Daten wurden zehn Wochen vor der Lohnsenkung, während der zehn Wochen der Lohnsenkung und zehn Wochen danach protokolliert. Die Überlegungen der Equity-Theorie prognostizieren, daß die Diebstähle in der Zeit der Gehaltsreduktion ansteigen, danach jedoch wieder auf das normale Maß zurückfallen sollten. Die Theorie prozeduraler Gerechtigkeit läßt zudem vermuten, daß die Raten geringer ausfallen werden, wenn den Beschäftigten eine adäquate Erklärung 475

476

477

Zudem werden Entlassungen von Arbeitnehmern mit marktgängigen Qualifikationen eher akzeptiert als solche von stark unternehmensspezifisch ausgebildeten Beschäftigten. Dies dürfte den Wünschen der Unternehmen entgegenkommen, entspricht jedoch häufig nicht den gesetzlichen Prozeduren bei der Ausgestaltung von Kündigungen. In Abschnitt 6.2.2. wird ausgeführt, daß der Versuch, sich bei gleichbleibendem Gehalt über formale Kündigungsschutzregelungen abzusichern, eine noch attraktivere Option darstellt, die dem einzelnen Arbeitnehmer jedoch kaum zur Verfügung steht. Besteht eine starke Identifikation mit dem Unternehmen, sind sogar Leistungssteigerungen denkbar, um dem Unternehmen aus der Krise zu helfen.

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für die Vorgehensweise geliefert wird. In Fabrik A sprach die Unternehmensleitung der Belegschaft in einer 90minütigen Veranstaltung das Bedauern über die zeitweilige Lohnsenkung aus, verwies auf die Gleichbehandlung aller Beschäftigten und appellierte an den Zusammenhalt des Unternehmens. Als Begründung wurde die wirtschaftliche Situation des Unternehmens detailliert beschrieben und auf die Effekte der zeitweiligen und einmaligen Lohnsenkung verwiesen. Dagegen wurde in Fabrik B lediglich eine kurze Versammlung abgehalten, in der die Arbeitnehmer aufgrund einer kurzfristig schlechteren Auftragslage vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, ohne für Verständnis zu werben oder sich für das Vorgehen zu entschuldigen. Fabrik C bildete die Kontrollbedingung, in der die bisherigen Löhne weiter gezahlt wurden (Greenberg 1990, S. 562 f.). In der Tat bestätigen die Ergebnisse die Prognose der Equity Theorie. Zusätzlich geben sie eindrucksvoll Aufschluß darüber, wie bedeutsam prozedurale Effekte neben den reinen Einkommensbewertungen sein können. Die Diebstahlrate in Fabrik A stieg zwar auch über die Rate in Fabrik C, war jedoch lange nicht so hoch wie in Fabrik B, wo es außerdem zu einer sprunghaft ansteigenden Mitarbeiterfluktuation kam - rund 23 Prozent der Arbeitskräfte verließen das Unternehmen (Greenberg 1990, S. 565).478 Die adäquate Ausgestaltung einer solchen Maßnahme beeinflußt die Reaktionen der Belegschaft und damit auch die Kosten dieser Unternehmenspolitik. Diese These wird durch die Ergebnisse der Meta-Studie von Cohen-Charash und Spector (2001, S. 296) gestützt, die eine negative Leistungsreaktion von Arbeitnehmern auf ein gestörtes Gerechtigkeitsempfinden sowohl im Hinblick auf distributive als auch auf prozedurale Gerechtigkeitsvorstellungen nachweisen. 479 Solange die Vorgehensweise bei Lohnsenkungen oder Entlassungen jedoch akzeptiert wird, führen auch als ungerecht empfundene Auszahlungsveränderungen nicht unbedingt zu einem Verlassen des Unternehmens oder zu negativer Reziprozität (Cohen-Charash und Spector 2001, S. 307). Setzen Unternehmen dieses Verfahren jedoch inflationär ein und werden damit unglaubwürdig, so laufen sie Gefahr, für die kurzfristig erzielten Vorteile doppelt zahlen zu müssen.480 Sie haben dann sowohl mit verstärkter negativer Reziprozität der Beschäftigten als auch mit Maßnahmen der Interessenverbände zu rechnen. Gelingt es den Unternehmen jedoch, die Kooperationsbereitschaft zwischen den Vertragsparteien auch in schlechten wirtschaftlichen Zeiten aufrechtzuerhalten, so werden Lohnanpassungen

478

Schaubroeck et al. (1994, S. 458) bekräftigen die Ergebnisse anhand von Befragungen und treffen auf Verständnis, selbst wenn die Gründe erst nach Durchführung der Lohnsenkung herausgestellt werden.

479

Die Erfüllung prozeduraler Gerechtigkeitsnormen weist den größten positiven Leistungseffekt auf. Ein Verstoß gegen Verteilungs- oder Auszahlungsgerechtigkeit löst dagegen ebenso schwere negative Reziprozität aus wie ein Verstoß gegen prozedurale Gerechtigkeitsnormen (Cohen-Charash und Spector 2001, S. 304 f.).

480

Bei der Anpassung der Löhne in schlechten Zeiten besteht ein Moral-Hazard-Problem, da es nunmehr im Interesse des Unternehmens liegt, die Zeiten als schlecht darzustellen. Hier müßten also wiederum Institutionen entstehen, die dazu fuhren, daß Ehrlichkeit zur dominanten Strategie der Unternehmen wird (Reputationseffekte). Ansonsten wird es nötig, die Lohnentscheidungen von Größen abhängig zu machen, die sowohl vom Arbeitgeber als auch von den Arbeitnehmern gleich gut beobachtbar sind.

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

179

möglich und die Arbeitsmarktsituation muß sich nicht zwangsläufig weiter verschlechtern. Anhand der Probleme, die viele Länder mit der Neuschaffung von (einmal weggefallenen) Arbeitsplätzen haben, stellt dies eine wichtige Erkenntnis dar.

5.6.

Effizienzlohnansätze und Insider-Outsider-Theorie

Sowohl die IOT als auch die ELT geben Erklärungen, warum der Arbeitsmarkt nicht geräumt wird, selbst wenn sich die Gütermärkte im Gleichgewicht befinden - die Ursache der Arbeitslosigkeit wird also in beiden Fällen auf dem Arbeitsmarkt selbst gesucht. Da beide Ansätze Lohnsteigerungen über das markträumende Niveau hinaus vorhersagen, stellt sich die Frage des Zusammenwirkens beider Effekte. 481 Ergänzen sich die Lohnaufschläge oder besteht eine Substitutionsbeziehung, so daß nur jeweils eine der beiden Wirkungen zum Tragen kommt? Die Unterschiede in den Wirkungsmechanismen beider Ansätze sprechen zunächst dafür, daß es sich um komplementäre und nicht um substitutive Arbeitsmarkttheorien handelt - dies gilt vor allem, wenn man die Breite effizienzlohntheoretischer Ansätze berücksichtigt. Die Effizienzlohntheorie schreibt die Existenz unfreiwilliger Arbeitslosigkeit den optimierenden Lohnentscheidungen der Unternehmen unter asymmetrischer Information zu. Dagegen sieht die Insider-Outsider-Theorie die Marktmacht der Insider bzw. den beschränkten Strategienraum der Outsider als Ursache an. Während der Konflikt in der IOT zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen zu sehen ist, ist er in der ELT zwischen Unternehmen und Insidern angesiedelt - allerdings sind in beiden Fällen die Arbeitslosen die Leidtragenden. Im Hinblick auf die Lohnwirkungen spricht einiges dafür, daß sich der Lohnsatz letztlich aus einer Mischung von Effekten ergibt, die sowohl auf die IOT als auch auf die ELT zurückgehen. Da der Effizienzlohn von den Unternehmen freiwillig gezahlt wird, kann er als Aufschlag auf den Insiderlohn interpretiert werden, wenn letzterer unterhalb des Effizienzlohnes liegt. Besitzen die Insider jedoch starke Macht im Produktionsprozeß, so wird diese zum bestimmenden Faktor für die Lohnbildung. Dann wäre der Insiderlohn als Aufschlag auf den freiwillig gezahlten Effizienzlohn anzusehen. Je nach genauer Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung werden sich also die Anteile des Effizienzlohnes und des Insiderlohnes am Aufschlag auf den markträumenden Lohnsatz verschieben. Ein klarer Hinweis auf die Komplementarität der Wirkungen ergibt sich, wenn man die Lohnverhandlungen auf der kollektiven Ebene berücksichtigt (Abschnitt 6.2.1.). Da die Motivationsfunktion des Lohnes ihre Wirkung nur auf Untemehmensebene entfalten kann, wird hier deutlich, daß es sich beim Effizienzlohn um einen Aufschlag auf den Insider-Lohn der zentralen Lohnverhandlungen handelt. 482

5.7.

Arbeitslosigkeit als Konsequenz moderner Arbeitsbeziehungen

Bis zu diesem Punkt sollte klar geworden sein, daß die grundsätzlich vorhandenen Konflikte zwischen Prinzipal und Agenten in der Arbeitsbeziehung in einem immer

481 482

Vgl. zu dieser Diskussion kurz Sesselmeier (1999, S. 118 f.). Zu diesem Effekt siehe Abschnitt 7.1.4.

180

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geringeren Ausmaß durch autoritäre Mechanismen wie Vorschriften und Kontrollen gelöst werden können. Vielmehr rücken Regelungen in den Vordergrund, die auf das kooperative Miteinander beider Seiten setzen. Das Konfliktelement in den Arbeitsbeziehungen wird überlagert von der gemeinsamen Erkenntnis, daß sich bestimmte Ziele nur dann verwirklichen lassen, wenn man an einem Strang zieht und nicht jede Möglichkeit zur einseitigen Defektion ergreift. Mittels informeller Regeln kann es gelingen, die Erwartungen der Beteiligten so weit zu stabilisieren, daß Arbeitsverträge als dauerhafte (relationale) Beziehungen ausgestaltet werden. Die hier vorgestellten Arbeitsmarkttheorien beleuchten die Mechanismen innerhalb der Arbeitsverhältnisse und deren Rückwirkungen auf den Gesamtarbeitsmarkt. Dabei wird deutlich, daß eigeninteressiertes Handeln zwar zu mikroökonomischen (Nash-) Gleichgewichten fuhren mag, daß diese jedoch nicht zwangsläufig auch eine Markträumung und damit ein makroökonomisches Gleichgewicht zur Folge haben müssen. Das Auftreten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist aufgrund der speziellen Eigenschaften der Arbeitsbeziehungen selbst dann zu erwarten, wenn weder der externe noch der interne Arbeitsmarkt durch formale Institutionen in ihrer Funktionsfahigkeit eingeschränkt sind (Sesselmeier 1999, S. 107; Fehr und Gächter 1999, S. 62). Dies ist deswegen der Fall, weil sich Unternehmen und Arbeitnehmer eigeninteressiert verhalten, ohne die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen ihres Vorgehens zu berücksichtigen. Bei der Regelung der Arbeitsbeziehungen kommt den Arbeitnehmern der Machtgewinn zugute, der ihnen durch die Unvollständigkeit komplexer Arbeitsbeziehungen zufällt. Ein dauerhaftes und sicheres Beschäftigungsverhältnis besitzt aufgrund der Abwanderungs- und Fluktuationskosten für beide Seiten einen Wert an sich. Die geringe Dynamik des Arbeitsmarktes fuhrt dazu, daß eine wesentliche Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren von Märkten nicht erfüllt ist, und zwar weil es die Mehrzahl der Akteure unter den gegebenen Umständen so will. Aufgrund der Marktunvollkommenheiten sowie der Besonderheiten moderner Arbeitsbeziehungen entstehen gewissermaßen natürliche Markteintrittsbarrieren für die Arbeitsuchenden. Die Höhe solcher Schranken ist von den Kosten abhängig, die beim Ersetzen eines Arbeitnehmers durch einen Neuling entstehen. Diese lassen sich durch strategisches Verhalten der Insider weiter erhöhen. Somit kann sich der Lohnsatz dauerhaft oberhalb des markträumenden Lohnes halten, ohne daß den Outsidern die Möglichkeit zur Lohnkonkurrenz gegeben wird. Die Bestreitbarkeit des Arbeitsmarktes ist trotz der Abschöpfung von Renten durch die Insider gering (Lindbeck und Snower 2002, S. 8 f.). Dies ist auch auf die informellen Regelmechanismen in relationalen Arbeitsbeziehungen zurückzuführen. Gerechtigkeitsüberlegungen verhindern Lohnsenkungen, die zu einem Abbau der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit fuhren könnten. Die Lohnkonkurrenz scheitert in diesem Fall am gemeinsamen Interesse von Arbeitgeber und Arbeitnehmern, die den Geschenkaustausch in den Arbeitsbeziehungen nicht gefährden wollen. Wie im vorliegenden Abschnitt herausgestellt wurde, ergibt sich aus der Logik moderner Arbeitsbeziehungen endogen und damit auch ohne formal-institutionelle Absicherung ein kooperatives Verhältnis zwischen Unternehmen und Beschäftigten, das sich auf stabile Arbeitsverhältnisse und relativ hohe Löhne gründet. Dies ist einerseits ein positives Ergebnis, so zeigt es doch, daß der Konflikt zwischen Kapital und (beschäftig-

Kapitel 5: Die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

181

ter) Arbeit größtenteils der Vergangenheit angehört. Andererseits stellt sich die Frage, wie in einem solchen Umfeld mit der hohen Arbeitslosigkeit umzugehen ist. Das freie Spiel der Marktkräfte stellt allein keine Garantie für Vollbeschäftigung dar. Allerdings ist fraglich, ob das Ausmaß der bestehenden Erwerbslosigkeit allein auf die in diesem Abschnitt vorgestellten Mechanismen zurückgeführt werden kann. So wurden die formalen Arbeitsmarktinstitutionen bisher ausgeblendet. Es wird sich jedoch in den nächsten beiden Kapiteln zeigen, daß gerade die Restriktionen, die dem Arbeitsmarkt künstlich auferlegt werden, zu einem Großteil für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich sind. Um dies herauszuarbeiten, werden in Kapitel 6. zunächst einige Eigenschaften der Arbeitsmarktverfassung analysiert. Daran anschließend stehen in Kapitel 7. die Arbeitsmarkteffekte im Mittelpunkt, die sich aus dem Zusammenspiel formaler und informeller Institutionen mit unternehmensspezifischen Regeln ergeben.

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6. Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt: die Rahmenbedingungen In den bisherigen Kapiteln wurde herausgearbeitet, daß es sich beim Arbeitsmarkt um einen heterogenen Markt handelt, der einige Besonderheiten aufweist und in eine dynamische Marktumgebung eingebunden ist. Die Arbeitsbeziehungen zeichnen sich durch unvollständige Verträge und dauerhafte Bindungen aus. Daher ergibt sich sowohl auf zentraler als auch auf dezentraler Arbeitsmarktebene eine Nachfrage nach institutionellen Lösungen, die in unterschiedlicher Form auf den Arbeitsmarkt einwirken. So können Institutionen, die der Verbesserung des Informationsflusses, der Vertragsstandardisierung sowie der Arbeitsvermittlung dienen, durch ihre transaktionskostensenkende Wirkung als effizienzsteigernd angesehen werden (Buttler 1987, S. 209).483 Dagegen sind insbesondere Institutionen, die mit dem Ausgleich von Marktmacht oder dem Schutz vor Unterbietungskonkurrenz begründet werden, kritisch zu hinterfragen {Deregulierungskommission 1991, S. 136 ff.; Feld und Santoni 2001, S. 2 ff.). In diesen Fällen werden verteilungsmotivierte Debatten häufig unter dem Deckmantel der gesamtwirtschaftlichen Effizienzsteigerung geführt. Auf die Verteilungswirkungen von Institutionen wurde bereits ausfuhrlich verwiesen. Durch sie ergeben sich gerade auf dem Arbeitsmarkt Anreize zur Bildung von Interessengruppen, die über den politischen Prozeß Einfluß auf die Ausgestaltung formaler Institutionen nehmen wollen. Gelingt ihnen dies, so werden Arbeitsmarktinstitutionen dazu dienen, die jeweiligen Arbeitsmarktparteien gegen die Unsicherheiten des Arbeitsmarktes zu schützen und die Marktergebnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen (Buttler 1987, S. 207). Zwar sind Rent-Seeking-Aktivitäten und der Aufbau von Marktzutrittsbarrieren auch auf Gütermärkten zu beobachten, doch bestehen im Vergleich zum Arbeitsmarkt gravierende Unterschiede. So müssen die Anbieter auf Gütermärkten die Zutrittsschranken in der Regel von Wettbewerbsbehörden unbemerkt aufbauen, während sie auf dem Arbeitsmarkt bereits institutionell verankert sind und von den Akteuren weiter ausgestaltet, zumindest aber gesichert werden können.484 Daher ist die Wirkung des Wettbewerbsprozesses, der auf anderen Märkten einen geeigneten Mechanismus darstellt, um Marktmacht abzubauen, auf dem Arbeitsmarkt beschränkt. Die nunmehr im Vordergrund stehenden Verteilungsmotive lassen gesamtwirtschaftlich vorteilhafte Ergebnisse unwahrscheinlich erscheinen. In diesem Sinne wurde der Arbeitsmarkt bereits als institutionalisierter Markt charakterisiert, der sich deutlich von neoklassischen oder gar perfekten Märkten unterscheidet, auf denen ein funktionierender Preismechanismus genügt, um die Interessen der Marktteilnehmer im Sinne des Gemeinwohls zu koordinieren. Aus den institutionalisierten Sonderinteressen ergeben sich die Anpassungsprobleme, die auf Arbeitsmärk-

483 484

Arbeitsmarktinstitutionen sollten daher nicht von vornherein als schädlich eingestuft werden. In Deutschland unterliegt der Arbeitsmarkt nicht dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr selbst den Status von Gesetzgebern und definieren die Wettbewerbsregeln am Arbeitsmarkt.

Kapitel 6: Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

183

ten in entwickelten Volkswirtschaften häufig zu beobachten sind.485 Damit haben es neu hinzukommende Gruppen, die von den Institutionen direkt betroffen sind, schwer, in die Arbeitsmarktstrukturen einzudringen und die eigenen Interessen zu vertreten. Auch wenn im internationalen Vergleich gewichtige Unterschiede in der Ausgestaltung des Arbeitsmarktes auftreten, die auf länderspezifische Entwicklungsprozesse zurückzufuhren sind, lassen sich Gemeinsamkeiten ausmachen. So sind als wesentliche Akteure die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften als ihre Interessenvertretung auf der Seite des Arbeitsangebotes sowie die Unternehmen und die Arbeitgeberverbände auf der Seite der Arbeitsnachfrage zu nennen.486 Die Lohnverhandlungen auf institutionalisierten Arbeitsmärkten können generell als zweistufige Systeme beschrieben werden, wobei die Gewichtung der Stufen von Fall zu Fall variiert. Auf der vorgelagerten Verbandsebene verhandeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unter mehr oder minder großem staatlichem Einfluß über die grundsätzlichen Rahmenbedingungen. Diese stellen im Anschluß die Grundlage für Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. deren Vertretern auf dezentraler (Unternehmens-) Ebene dar. In beiden Fällen handelt es sich um kooperative Spielsituationen, die durch den Abschluß von staatlich durchsetzbaren Verträgen gekennzeichnet sind. Wie in Kapitel 5. gezeigt wurde, gilt die Durchsetzbarkeit der Rechte und Pflichten bei unvollkommenen Arbeitsverträgen jedoch nur eingeschränkt. Während der vereinbarte Lohnsatz durchaus einklagbar ist, ist dies für eine nur unzureichend beobachtbare Arbeitsleistung nicht der Fall. Das Anstrengungsniveau wird von den Arbeitnehmern innerhalb der relationalen Arbeitsbeziehung autonom bestimmt. Der konkrete Tausch zwischen Unternehmen und Beschäftigten ist den Lohnverhandlungen also als nicht-kooperatives Spiel auf einer dritten Stufe nachgelagert. Auf allen Ebenen spielen sowohl formale als auch informelle Institutionen eine bedeutende Rolle. Die Beziehungen zwischen den Ebenen 2 und 3 wurden in Kapitel 5. ausführlich thematisiert. Nun soll die Ebene zentraler Lohnverhandlungen betrachtet werden, bevor in Kapitel 7. das Zusammenwirken von zentraler und dezentraler Ebene im Hinblick auf die Arbeitsbeziehungen und die Beschäftigungswirkung analysiert wird. Um einen Blick für das Zusammenspiel von formalen und informellen Institutionen auf dem Arbeitsmarkt zu entwickeln, ist es nötig, die Akteure, ihre Interessen, Restriktionen und Verhaltensweisen auf der zentralen Ebene zu analysieren. Im Hinblick auf den Staat wird angenommen, daß dieser lediglich den rechtlichen Rahmen sichert, in dem die industriellen Beziehungen von den Tarifparteien autonom geregelt werden. Damit wird ein Großteil der Gestaltung des Arbeitsmarktes in die Hände der Tarifparteien gelegt. Diese sollen daher als maßgebliche Organisationen auf dem Arbeitsmarkt

485 486

So weisen Feld und Santoni (2001, S. 12 ff.) in ihrer ökonometrischen Untersuchung einen signifikant negativen Einfluß der Arbeitsmarktregulierung auf das Wirtschaftswachstum nach. Die Arbeitslosen sind zwar Gegenstand des Interesses, treten aber nicht organisiert in Erscheinung. Kapitel 8. bietet eine Diskussion dieses zunächst überraschenden Zusammenhanges.

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betrachtet werden. 487 Dabei folgt die Analyse der Frage, inwiefern die Arbeitsmarktsituation durch das Wirken der Interessengruppen sowie durch formale Institutionen beeinflußt wird.

6.1.

Gewerkschaften: Funktionen und Ziele

In Abschnitt 4.2.1. wurde bereits auf Entstehungsgründe von Gewerkschaften hingewiesen. Sie hatten zur Zeit der Industrialisierung eine zweifache Schutzfiinktion inne: den Schutz vor der Ausnutzung von Marktmacht durch die Unternehmen und die Vermeidung von Schmutzkonkurrenz. Die Arbeiter mußten also vor sich selbst geschützt werden (Stützel 1981, S. 76 ff.; Solow 1990, S. 18). Dabei dürfte der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital aufgrund seiner identitätsstiftenden Wirkung das höhere Organisationspotential besessen haben. In jedem Fall ist die Leistung der Gewerkschaften hervorzuheben, innerhalb der Arbeitnehmerschaft ein Vertrauensverhältnis geschaffen zu haben, das Lohnkonkurrenz verhindern und die Kräfte für ein kollektives Vorgehen gegen die Unternehmen bündeln konnte (Stützel 1981, S. 80). Im Laufe der Zeit haben sich Gewerkschaften zu machtvollen Arbeitnehmervertretungen entwickelt und sich nach und nach Instrumente zur Erfüllung ihrer Interessen erarbeitet. Hier ist zunächst ihr Einfluß im politischen Prozeß zu nennen. Weiterhin stehen den Gewerkschaften mit der Durchführung von Streiks sowie der Organisation stiller Proteste (Dienst nach Vorschrift) Instrumente zur Verfügung, um gegen unangemessenes Verhalten der Unternehmen vorzugehen (Lindbeck und Snower 1986a/1988, S. 198 ff.). 488 Slichter (1929, S. 432) bemerkt mit Blick auf die Wirkungen der kollektiven Arbeiterbewegung: „There is abundant evidence that the reluctance of managers to reduce wages [...] has been partly due to the fear that wage cuts would destroy the good will which has been built up at considerable trouble and expense."

In der Bereitstellung kollektiver Voice-Mechanismen ist noch heute eine der wichtigsten Leistungen der Gewerkschaften zu sehen. 489 Sie führen nicht nur zu Verteilungsvorteilen für die Beschäftigten, sondern können auch unter Effizienzgesichtspunkten positiv beurteilt werden. So bringt ein durch Organisationen gestützter Kommunikationskanal zwischen Unternehmen und Beschäftigten Effizienzgewinne, weil der VoiceMechanismus dem einzelnen Arbeitnehmer bei Unzufriedenheit im Arbeitsverhältnis nur unter hohen Kosten zur Verfügung steht. Im Extremfall muß er mit seiner Entlassung rechnen. Widerspruch wird daher zu einem Kollektivgut, wenn es sich um generelle Probleme in der Arbeitsbeziehung handelt. Da der Exit aus der Arbeitsbeziehung für beide Seiten mit Kosten verbunden ist, erweist sich ein kollektiver Voice-Mechanismus 487

In Deutschland ist der Bestand der Arbeitsmarktorganisationen durch das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit in Art. 9, Abs. 3 des Grundgesetzes gesichert. Zu einer Diskussion siehe Dichmann (1988, S. 40). Da vor allem die Gewerkschaftstheorie ein weites Feld ist, muß die Analyse auf einige für die Fragestellung besonders relevante Aspekte verkürzt werden.

488

Zudem üben sie über die Organisation informell Druck auf die Beschäftigten aus, sich im Sinne der Gewerkschaftsnormen zu verhalten.

489

Die Übertragung der von Hirschman (1970) eingeführten Mechanismen Abwanderung und Widerspruch auf die Arbeitsmarktanalyse geht auf Freeman und Medoff (1979) zurück.

Kapitel 6: Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

185

über Arbeitnehmervertretungen für beide Seiten als vorteilhaft. Für die Beschäftigten besteht eine Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit gefahrlos zu artikulieren, für die Arbeitgeber kommt es zu einer Absenkung der Fluktuationskosten. Schließlich können Probleme erkannt werden, die sich negativ auf die Unternehmensleistung auswirken, so daß sich die Anregungen der Mitarbeiter produktivitätssteigernd bemerkbar machen.490 Wenn die positiven ökonomischen Effekte von Gewerkschaften diskutiert werden, wird weiterhin auf ihr Wirken als Informationsagentur verwiesen, die Arbeitsmarktdaten sammelt, sie durch spezialisierte Mitarbeiter aufbereiten läßt und ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt {Freeman und Medoff 1979, S. 83; Diekmann 1988, S. 40 f.). Geht man davon aus, daß die Unternehmen bei Lohnverhandlungen einen Informationsvorsprung gegenüber den Arbeitsanbietern besitzen, werden zudem Informationsasymmetrien abgebaut. Insgesamt erhöht sich durch die Tätigkeit der Gewerkschaften die Markttransparenz. Die Verbreitung von Informationen zu den üblichen Arbeitsbedingungen wirkt weiterhin auf eine Vereinheitlichung der Standards in den Arbeitsbeziehungen hin. Die Stärkung egalitärer Institutionen ist jedoch in Zeiten heterogener Arbeitsmärkte und dynamischer Marktentwicklungen nicht unproblematisch. Eine Harmonisierung von Lohnstrukturen und Arbeitsbedingungen mag zwar gesellschaftlichen Gleichbehandlungsnormen entsprechen, wird sich jedoch langfristig kaum als gesamtwirtschaftlich vorteilhaft herausstellen, da es ,gleiche Arbeit' kaum noch gibt. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Bild der Arbeitsgesellschaft gewandelt. Von einer Unterlegenheit der Arbeitnehmerschaft, die den Unternehmen wirtschaftlich ausgeliefert ist, kann nicht mehr gesprochen werden. Dieser Ausgleich der Machtverhältnisse ist nicht zuletzt eine Errungenschaft der Gewerkschaften, unter der sie nun selbst zu leiden haben. Zahlreiche Punkte ihres Leistungskatalogs sind auf den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ausgerichtet, so daß sie befürchten müssen, daß die Gewerkschaftsmitgliedschaft an Attraktivität verliert. Es ist daher aus strategischer Sicht verständlich, daß gerade die Gewerkschaften die Unterlegenheit der Arbeitnehmerschaft weiter unablässig betonen und damit auch im 21. Jahrhundert noch der alten Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital verhaftet bleiben.491 6.1.1. Fragen der Lohngerechtigkeit Gesicherte Erkenntnisse über die tatsächlich von den Gewerkschaften verfolgten Ziele sind rar. Zudem erschweren die landesspezifischen Eigenheiten in Geschichte und institutionellem Umfeld die Ausarbeitung einer allgemeinen Gewerkschaftstheorie (Franz 2003, S. 253 f.).492 Eine starke Motivation der Gewerkschaften besteht in jedem Fall in der Lohnentwicklung ihrer Mitglieder und der Erzielung von Lohngerechtigkeit. Es ist allerdings ein schwieriges Unterfangen, dieses Konzept auf zentraler Ebene mit 490

In Deutschland wird der innerbetriebliche Widerspruch in der Regel von den Betriebsräten vorgenommen. Auf Fragen der betrieblichen Mitbestimmung soll in Abschnitt 7.2. eingegangen werden.

491

Vgl. das Gespräch zwischen Friedrich Merz und dem Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske:

492

Überblicksartikel zur ökonomischen Theorie der Gewerkschaften bieten Oswald (1985) sowie Farber (1986).

Wie Hund und Katze, in: Stern, Nr. 19/2003, S. 58 ff.

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Martin Dietz

Leben zu füllen. Je nach Art des Gerechtigkeitsbegriffes und nach Wahl des Referenzpunktes werden sich andere Ergebnisse als erstrebenswert herausstellen. So waren vor allem die europäischen Gewerkschaften stets auf die Einkommenssicherung aller Arbeitnehmer bedacht. Dieses Ziel wurde über den Ausbau des Wohlfahrtsstaates (inklusive des Arbeitnehmerschutzes) und über zentral organisierte Lohnverhandlungen verfolgt (Regini 2000, S. 12). Allerdings kann das an egalitären Gerechtigkeitsnormen orientierte Verhalten der Gewerkschaften gerade die schwachen Gruppen der Arbeitsanbieter im unteren Lohnsegment schädigen. Das sozialpolitisch motivierte Ausstatten unterer Lohngruppen mit hohen Lohnzuwächsen führt zu einem Abbau von Arbeitsplätzen bei eben diesen Berufsgruppen, wenn deren Grenzproduktivität unter den Reallohnsatz sinkt (Külp 1996, S. 168).493 Eine durch technischen Fortschritt hervorgerufene Senkung der Nachfrage nach einfacher Arbeit kann dann nicht mehr durch eine stärkere Lohnspreizung aufgefangen werden. Die vermeintlich großzügig mit Lohnerhöhungen Bedachten werden also gleichsam aus dem Markt ,gepreist' (Gärtner 2003, S. 412 ff.; Schob und Weimann 2003, S. 25). Tatsächlich zeigt sich in Deutschland, daß Tarifverträge in erster Linie für geringer qualifizierte Berufsgruppen beschäftigungshemmend wirken, während bei höher qualifizierten Arbeitnehmern Effizienzlohnüberlegungen im Vordergrund stehen.494 Das im Hinblick auf die unteren Lohngruppen vorgebrachte Argument, daß Sonderleistungen Zusatzkosten darstellen und damit zumindest langfristig auf die Begünstigten zurückfallen, kann auf eine allgemeinere Basis gestellt werden. Beispielhaft lassen sich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die Gruppe der chronisch Kranken, die Gleichberechtigungskosten im Falle von Frauenerwerbstätigkeit und ein verschärfter Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer nennen. Dies sind Prototypen einer Maßnahme, auf die Stützeis (1981, S. 29 f.) Aussage zutrifft: „Gute soziale Absicht, aber schlimme soziale Folge. [...] Einmal doch arbeitslos geworden, oder erstmalig auf Arbeitsuche, haben sie es besonders schwer." Damit verkehren sich die Sonderregelungen, die den Betroffenen bei Vollbeschäftigung noch segensreich erscheinen, in Zeiten eines Überangebotes an Arbeit in ihr Gegenteil. Anstatt diese Regelungen abzubauen, wird jedoch häufig versucht, sie durch zusätzliche wirtschaftspolitische Eingriffe abzusichern, was die Arbeitskosten für diese Gruppen weiter in die Höhe treibt (Ölfleckentheorem).

493

Als Instrumente dienen in Zeiten steigender Produktivitätsunterschiede zwischen den Beschäftigten nicht nur prozentual gleiche Lohnanhebungen, von denen die geringer Qualifizierten bereits über Gebühr profitieren, sondern zudem die Festlegung von Sockelbeträgen (Eger und Nutzinger 1999, S. 167 f.). Werden absolute Abstände zwischen Lohngruppen bei steigenden Löhnen fixiert, so egalisiert sich die relative Lohnstruktur.

494

Befragungen in den USA deuten auf einen deutlich geringeren Einfluß der gewerkschaftlichen Lohnfindung hin, was auf die institutionellen Unterschiede in der Arbeitsmarktverfassung verweist (Campbell und Kamlani 1997, S. 772). Zu einem Vergleich der Befragungen in Deutschland und den USA siehe Franz und Pfeiffer (2003, S. 32 ff.).

Kapitel 6: Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

187

6.1.2. Das gewerkschaftliche Monopolmodell Wird in der kollektiven Lohnfindung auf dem Arbeitsmarkt die wichtigste Funktion der Gewerkschaften gesehen, so ist von Interesse, welchen Lohnsatz sie anstreben. Dieser Frage soll zunächst anhand des sogenannten Monopolmodells, in dem die Gewerkschaft ihren nutzenmaximierenden Lohnsatz unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfragekurve wählt, nachgegangen werden. Die Gewerkschaft betätigt sich also als Preissetzer. Da die Homogenitätsannahme gilt, kann vom einzelnen Mitglied direkt auf die gewerkschaftliche Nutzenfunktion geschlossen werden. Es wird weiterhin davon ausgegangen, daß sämtliche Erwerbspersonen (N) Gewerkschaftsmitglieder sind, und daß die Gewerkschaft folgende Funktion maximiert: U(w, L) = Lu(w) + (N- L)U(Wa ). Der gewerkschaftliche Nutzen setzt sich also aus dem Nutzen der zum Lohnsatz w beschäftigten Mitglieder Lu(w) und dem Nutzen der zum Lohnsatz w arbeitslosen Mitglieder, die Lohnersatzleistungen in Höhe von wA erhalten, zusammen. Graphisch führt die Nutzenmaximierung dazu, daß die Gewerkschaft diejenige Indifferenzkurve wählt, die gerade die Arbeitsnachfragekurve tangiert (U max in Abbildung 11). Abbildung 11: Lohnbildung im gewerkschaftlichen Monopolmodell

In der Steigung der Indifferenzkurven kommt der Trade-off zwischen Lohn- und Beschäftigungsziel zum Ausdruck. Im vorliegenden Fall stellt sich der Lohnsatz WM und die Beschäftigungsmenge LM ein. Wiederholt man dieses Verfahren für unterschiedliche Nachfragekurven, so erhält man die Arbeitsangebotsfunktion der Gewerkschaften. Weiterhin findet sich in der Abbildung die individuelle Arbeitsangebotsfunktion, die typischerweise rechts von der gewerkschaftlichen liegen wird. Das Marktgleichgewicht

188

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liegt im Punkt E, in dem zum Lohnsatz wGG Vollbeschäftigung herrscht.495 Im Monopolmodell entsteht beim Lohnsatz w u individuell unfreiwillige Arbeitslosigkeit in Höhe von Ls - LM, die jedoch als „gewerkschaftlich freiwillig" bezeichnet werden kann (Corden 1978, S. 172). Ein komplexeres Bild als im soeben geschilderten utilitaristischen Fall zeichnet sich ab, wenn man von heterogenen Mitgliedern ausgeht und weiterhin annimmt, daß die Gewerkschaftsfuhrung eigene Interessen verfolgt, bspw. die Steigerung von Macht, Budget oder Ansehen (Sanfey 1995, S. 257 ff.; Lindbeck und Snower 2002, S. 26). Da Gewerkschaften in der Regel nicht diktatorisch geführt werden, ergeben sich ihre Zielsetzungen in einem internen Meinungsbildungsprozeß. Ist die Gewerkschaftsfuhrung als Agent vom Wohlwollen ihrer Mitglieder (der Prinzipale) anhängig, so wird sie bemüht sein, die eigenen Ziele unter der Nebenbedingung zu verfolgen, die Mehrheit der Mitglieder auf sich zu vereinigen. Hier wird bereits deutlich, daß die Gewerkschaften die Interessen der Arbeitslosen höchstens in den Punkten vertreten, in denen sie mit denen der Beschäftigten übereinstimmen. Dies ist der Fall, da in der Regel die deutliche Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder beschäftigt ist, so daß Arbeitslose nicht als Medianmitglied in Frage kommen. Ihre spezifischen Bedürfnisse bleiben damit unberücksichtigt 0Lindbeck und Snower 2001, S. 178).496 Für die Modellierung der Lohnstrategie der Gewerkschaften im Medianwähleransatz kann auf Senioritätsannahmen zurückgegriffen werden. In diesem Fall geht man davon aus, daß die beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder eine Entlohnung erhalten, die mit der Dauer der Unternehmenszugehörigkeit ansteigt. Entlassungen werden dagegen nach der Last-in-first-out-Regel vorgenommen {Sanfey 1995, S. 262). Der entscheidende Medianwähler (LMed.) wird dann für einen Lohn votieren, der so hoch ist, daß er seinen Arbeitsplatz gerade noch behalten kann. Für die Gewerkschaftsführung bedeutet dies, daß eine Erhöhung der Beschäftigung über das Medianmitglied hinaus keinen weiteren Nutzenzuwachs generiert. Damit entfällt der bis dahin geltende Nutzen-Trade-off zwischen Lohn- und Beschäftigungshöhe, so daß die gewerkschaftlichen Indifferenzkurven in Höhe des Medianmitgliedes einen Knick aufweisen (kinked union indifference curves) und ab diesem Punkt - wie in Abbildung 12 - horizontal verlaufen {Carruth und Oswald 1987, S.431 f.). Das gewerkschaftliche Nutzenmaximum UMAX und damit auch das angestrebte Lohnniveau wued. ergeben sich folglich in dem Punkt, in dem die Arbeitsnachfragekurve NÄo die vertikale Linie auf Höhe des Medianmitgliedes schneidet. Letztere stellt das vollkommen unelastische gewerkschaftliche Arbeitsangebot dar. Eine Erhöhung der Arbeitsnachfrage von NAO auf N41 würde dann lediglich zu einer Lohnanpassung nach oben fuhren und keine positiven Beschäftigungswirkungen entfalten. Der Medianwähleran495

Würde die gewerkschaftliche Angebotsfunktion rechts von der individuellen verlaufen, wäre nicht klar, welche Verteilungsvorteile die kollektive Lohnfindung aufweisen sollte.

496

Winkelhake (1994, S. 74 f.) wirft den deutschen Gewerkschaften außerdem ein Demokratiedefizit vor, da Arbeitslose lange Zeit nicht automatisch dieselben Mitgliedsrechte wie die Beschäftigten erhielten. Möller-Lücking (1982, S. 37) beschreibt in der Monatszeitschrift der Gewerkschaften, daß Arbeitslosen vielfach die Mitgliedschaft mit dem Hinweis auf fehlende Zuständigkeit verwehrt wird.

Kapitel 6: Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

189

satz impliziert also eine strikte Orientierung an den beschäftigten Gewerkschaftsmitgliedern und zementiert damit die dauerhafte Trennung von Insidern und Outsidern auf dem Arbeitsmarkt. Abbildung 12: Gewerkschaften mit geknickten Indifferenzkurven

Die Hypothese geknickter Indifferenzkurven ist sehr stark und führt unter der zusätzlichen Annahme, daß Arbeitslose ihre Mitgliedsrechte verlieren oder freiwillig aus der Organisation ausscheiden, dazu, daß man sich im Laufe der Zeit einer .Nullbeschäftigung' nähert (Farber 1986, S. 1076 f.). Da Gewerkschaften sich jedoch in aller Regel nicht ,zu Tode schrumpfen', bedarf diese Theorie einiger Erweiterungen. Zunächst muß das Verhalten der Gewerkschaftsführung den langfristigen Bestand der Organisation im Auge behalten und wird daher von zu starken Lohnforderungen absehen. Daneben finden sich gute Gründe, warum auch die Gewerkschaftsmitglieder bescheidener agieren sollten (Sanfey 1995, S. 262 f.). So wird eine gewisse Unsicherheit über die exakte Lage der (zukünftigen) Arbeitsnachfragekurve bestehen und auch die Senioritätsregeln sind in der Praxis nicht immer einförmig ausgestaltet. Damit kann das einzelne Gewerkschaftsmitglied sich nicht sicher sein, an welcher Stelle es sich genau befindet. Außerdem ist auch der Medianwähler nicht von exogenen Schocks isoliert, so daß die Wahl des nutzenmaximierenden Lohnsatzes ein Spiel mit dem Feuer ist.497 Alles in allem ist daher anzunehmen, daß Gewerkschaften eine Mischung aus Lohn- und Beschäftigungsziel anstreben.498

497 498

In allen Fällen führt eine Risikoaversion des Medianwählers zu bescheideneren Lohnforderungen. Hierauf deutet auch eine Studie unter Gewerkschaftsfunktionären in Großbritannien hin. Clark und Oswald (1993, S. 397 ff.) ermitteln Präferenzen, die auf eine stärkere Gewichtung von Lohnsteigerungen gegenüber einer positiven Beschäftigungsentwicklung schließen lassen. Allerdings fällt der Trade-off schwächer aus als in Modellen, die das Beschäftigungsziel nahezu ausblenden.

190

6.2.

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Insider-Outsider-Theorie auf kollektiver Ebene

Die Insider-Outsider-Theorie (IOT) begründet unfreiwillige Arbeitslosigkeit durch institutionelle Besonderheiten des Arbeitsmarktes. Auf die Möglichkeiten der Beschäftigten, aus der Arbeitsbeziehung resultierende Fluktuationskosten in Markteintrittsbarrieren für Arbeitslose und höhere Löhne für die Insider umzumünzen, wurde bereits in Abschnitt 5.3.1. eingegangen. Die Existenz von Gewerkschaften ermöglicht es den Insidern nun, die individuell erzielbaren Renten weiter zu erhöhen.499 Dabei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen das Verhalten der Gewerkschaften in den Lohnverhandlungen und zum anderen der Versuch, auf kollektiver Ebene Einfluß auf politische Entscheidungen zu nehmen, um den Aufbau institutioneller Wettbewerbsbeschränkungen zu erreichen. Während die Lohnsetzung Arbeitslosigkeit hervorrufen kann, sorgen die institutionellen Barrieren für eine Verfestigung derselben. Zunächst soll nun die Lohnbildung einer Gewerkschaft, die lediglich Insider-Interessen vertritt, modelltheoretisch abgeleitet werden. 6.2.1. Kollektiwerhandlungsansatz, Lohnbildung und Arbeitslosigkeit Allgemein läßt sich feststellen, daß im internationalen Vergleich zwischen Arbeitsmarktinstitutionen große Unterschiede bestehen, die einen starken Einfluß auf die Arbeitsmarktentwicklung haben {Nickeil 1997, S. 55; Blanchard und Wolfers 2000, S. C13). Empirische Untersuchungen betonen jedoch, daß weder diese heterogenen Institutionen noch exogene Schocks für sich genommen in der Lage sind, die unterschiedlichen Pfade verschiedener Volkswirtschaften zu erklären (Blanchard und Wolfers 2000, S. C1 f f ) . So existierten viele der heute bestehenden Arbeitsmarktinstitutionen schon in den fünfziger und sechziger Jahren in ähnlicher Form, ohne daß es zu stark differierenden Arbeitslosenquoten gekommen wäre, und die in den siebziger Jahren auftretenden Schocks trafen die entwickelten Volkswirtschaften in ähnlichem Maße {Siebert 1997, S. 38). Daher deutet einiges daraufhin, daß die unterschiedlichen Entwicklungen darauf zurückzufuhren sind, daß heterogene Institutionen ähnliche exogene Schocks unterschiedlich verarbeiten {Bean 1994, S. 614; Nickeil 1997, S. 60 f.). Der Kollektivverhandlungsansatz der IOT von Blanchard und Summers (1986) fuhrt persistente Arbeitslosigkeit auf eine mangelhafte Verarbeitung ökonomischer Schocks durch einen von Insider-Kräften geschlossenen Arbeitsmarkt zurück {Blanchard und Summers 1986, S. 71 ff.). Modelltheoretisch kann dies anhand des folgenden Lohnverhandlungsansatzes mit Insider-Macht nachvollzogen werden. Die Lohnfindung lehnt sich an das gewerkschaftliche Monopolmodell mit reiner Insiderorientierung an.500 Hier soll die graphische Illustration genügen, wobei Abbildung 13a den flexiblen Arbeitsmarkt und Abbildung 13b die Anpassung bei einem Insidermarkt darstellt.

499

500

Der Ansatz von Mancur Olson (1968, 1991) ähnelt der Herangehensweise der IOT. Olsons Verteilungskoalitionen versuchen ebenfalls, über den Einsatz ihrer Organisationsmacht, Ressourcen zu monopolisieren. Seine Theorie ist jedoch deutlich breiter angelegt - vgl. Erlei{\991) für einen ausfuhrlichen Vergleich beider Ansätze. Vgl. Sanfey (1995, S. 263), der einen Überblick über die Einbindung der InsiderOutsider-Theorie in die Gewerkschaftstheorie bietet.

Kapitel 6 : Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

191

Abbildung 13a und 13b: Anpassungswirkungen nach exogenen Schocks

Ausgangspunkt der Überlegungen ist das Gleichgewicht Eo. Nun wird die Wirtschaft durch einen negativen Schock getroffen, so daß sich die Arbeitsnachfrage nach links auf Ni verschiebt. Aufgrund von kurzfristig inflexiblen Arbeitsverträgen kann es in beiden Fällen bei starren Löhnen zu einem Absinken der Beschäftigung auf Li' kommen. Auf Arbeitsmärkten ohne Insidermacht ergibt sich nach Auslaufen der Verträge ein Lohnsenkungsprozeß entlang der Arbeitsnachfragekurve, bis das neue Gleichgewicht Ei erreicht ist. Die Arbeitsmarktsituation entspannt sich also. Folgt ein wirtschaftlicher Aufschwung, so daß sich die Arbeitsnachfrage wieder in ihre Ausgangsposition No begibt, so kehrt auch der Arbeitsmarkt zu seinem alten Gleichgewicht zurück (Abbildung 13a). Auf Insidermärkten ist dies nicht der Fall. Dort verharrt die Beschäftigung bei starren Löhnen auf geringem Niveau, da die Insider-orientierten Gewerkschaften keine Lohnsenkungen zulassen. Die vertikale Arbeitsangebotskurve verschiebt sich auf A ¡. Kommt es aufgrund eines Aufschwungs zu einer RückVerschiebung der Arbeitsnachfrage, so wird nicht die Beschäftigung auf das ursprüngliche Niveau zurückgeführt, sondern der positive Schock wird bei bestehendem Beschäftigungsgrad vollständig in Lohnsteigerungen umgesetzt.501 Die Beschäftigung bleibt also auch nach Rückbildung des eigentlichen Schocks auf dem niedrigen Niveau Li, so daß ein klassischer Fall von Hysterese vorliegt (Abbildung 13b). Diese Prozesse können auf politischer Ebene eine Verstärkung erfahren. Wenn sich die Beschäftigungslage nach einer Rezession wieder erholt und damit das Entlassungsrisiko der Insider sinkt, wird die politische Unterstützung für rentenerhöhende Institutionen am größten sein. Damit wird ein Großteil der Wirtschaftsdynamik in höhere Renten der bestimmenden Insidergruppen umgesetzt (SaintPaul 1996a, S. 279).

501

Eine Erhöhung der Beschäftigung tritt erst dann ein, wenn die Unternehmen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen und auf Neueinstellungen drängen - dieser Impuls geht dann jedoch nicht von den Gewerkschaften aus.

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Die Probleme eines durch starke Insidermacht gekennzeichneten Arbeitsmarktes lassen sich daran festmachen, daß im Abschwung lediglich die Menge reagiert, während der Lohnsatz rigide ist. Dagegen ist im Aufschwung zugunsten der Insider der Lohnsatz variabel, während die Beschäftigung konstant bleibt. Das Phänomen, daß die InsiderEffekte im Aufschwung zu stärkeren Veränderungen im Lohnsatz und schwächeren Anpassungen in der Beschäftigungsmenge fuhren als in Abschwüngen, wird als asymmetrische Persistenz bezeichnet (Begg et al. 1989, S. 558 ff.; Sanfey 1995, S. 266). Auf diese Weise kann es zum Aufbau von Sockelarbeitslosigkeit kommen {Lindbeck und Snower 2002, S. 21). Dieser Fall ist typisch für die kontinentaleuropäische Entwicklung. Die Entwicklung in den USA deutet dagegen darauf hin, daß der Arbeitsmarkt in Abschwüngen sowohl über die Menge als auch über die Lohnhöhe reagiert.502 Die Reaktion über fallende Löhne beinhaltet zudem ein stabilisierendes Element, wenn die sinkenden Arbeitskosten als Preissenkungen auf dem Gütermarkt weitergegeben werden. Dann kann dort die Nachfrage und in der Folge auch die Produktion steigen, was wiederum in Form einer Stärkung der Arbeitsnachfrage auf den Arbeitsmarkt zurückwirkt. Der Anstieg der europäischen Arbeitslosigkeit in den siebziger Jahren ist weiterhin auf einen zu geringen Anteil neuer Beschäftigungsmöglichkeiten nach dem Verschwinden der Schocks zurückzuführen. In den USA gelang es dagegen, das Wachstum auch in eine höhere Beschäftigung umzusetzen. Dies dürfte unter anderem mit einem relativ lockeren Kündigungsschutz zusammenhängen, der es möglich macht, die Beschäftigung von Arbeitskräften zeitweise auszusetzen, so daß die Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz bei verbesserter Auftragslage zurückerhalten. 503 Die Unterschiede im Aufschwung lassen sich anhand des Ofom-Koeffizienten verdeutlichen, der die Veränderung der Beschäftigungsquote bei einem einprozentigen Anstieg des aggregierten Outputs beschreibt und in den europäischen Ländern deutlich niedriger liegt als in den USA (Lindbeck und Snower 2002, S. 36). Das graphisch vorgestellte Modellergebnis stellt einen Extremfall dar.504 Im Hinblick auf die Gewerkschaftsstrategie in den Lohnverhandlungen gilt, daß sie weniger auf die Folgen ihres Verhaltens für die Arbeitslosigkeit achten werden, wenn der Anteil ihrer Mitglieder mit Senioritätslöhnen (und hohem Kündigungsschutz) steigt (Kerr 1959/1977, S. 145). Allerdings können gesellschaftliche (Solidaritäts-) Normen dazu führen, daß die Interessen der Arbeitslosen Eingang in die Lohnverhandlungen finden. Dabei besteht jedoch ein grundsätzliches Trittbrettfahrerproblem. Bei der Durchsetzung von Lohnsteigerungen fließt der Nutzen dem einzelnen Arbeitnehmer direkt zu, wäh502

503 504

Vgl. Blanchard und Summers (1986, S. 17 ff.), Bean (1994, S. 603) sowie Blanchard und Wolfers (2000, S. C17 ff.). In den USA liegt also symmetrische Persistenz vor: Zufallige Arbeitsnachfrageschocks rufen längerfristige, symmetrische Veränderungen der Arbeitslosigkeit um einen stationären Mittelwert hervor (Lindbeck und Snower 1987/1988, S. 208 ff.). Siehe auch die Entwicklung der deutschen und der US-amerikanischen Arbeitslosigkeit in Abbildung 1. Die Möglichkeit einer befristeten Entlassung besteht auch in Kanada und Dänemark (Machin und Manning 1999, S. 3118). Für das reine Hysterese-Modell existiert im Gegensatz zum Fall persistenter Arbeitslosigkeit keine empirische Evidenz (Blanchard und Summers 1986, S. 42 f.; Blanchard und Wolfers 2000, S. C17; Lindbeck und Snower 2002, S. 37).

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rend die Kosten in Form einer geringeren Beschäftigung kaum zu fixieren sind und sich zudem über eine große Masse verstreuen. Damit besteht zwar Solidarität mit den Arbeitslosen - diese wirkt sich jedoch hauptsächlich auf die Bereitstellung der finanziellen Absicherung von Arbeitslosen aus, die den Insidern im Zweifelsfall auch zugute käme. 505 Eine Abschwächung dieser modelltheoretischen Ergebnisse ergibt sich, weil die Gewerkschaften in der Regel nicht die volle Macht über die Lohnhöhe besitzen. Diese wird in Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite bestimmt.506 Die Verhandlungsmacht der Unternehmen wirkt sich beim Aushandeln der Löhne positiv auf die Beschäftigungslage aus. Dies spiegelt die Erkenntnis wider, daß die (arbeitslosen) Arbeitsanbieter im Hinblick auf das Beschäftigungsniveau gerade nicht mit den Gewerkschaften in einem Boot sitzen. 6.2.2. Rent-Seeking und Arbeitsmarktinstitutionen Im folgenden wird die politische Seite der Gewerkschaften angesprochen, die im kollektiven Entscheidungsprozeß die Ziele ihrer Mitglieder vertreten (Williamson 1985, S. 257). Die bereits auf Unternehmensebene bestehenden (natürlichen) Markteintrittsbarrieren in Form von Fluktuationskosten werden also auf kollektiver Ebene weiter erhöht. Damit handelt es sich bei diesen Schließungsmechanismen um staatlich gesicherte, aber strategisch erarbeitete Marktzutrittsschranken. In der Ausnutzung der Verbandsmacht für diese Zwecke kann ein wichtiger Grund für die Existenz von Gewerkschaften gesehen werden (Lindbeck und Snower 1985/1988, S. 46 f.). Je vielschichtiger die Regelsysteme sind, desto eher dienen sie der Abgrenzung und der Abwehr von Außenseitern (Elster 1988, S. 363). Die Festigung von Renten der Insider auf dem Arbeitsmarkt ist notwendigerweise gleichbedeutend mit der Beschränkung der Wettbewerbschancen der Arbeitslosen, die ein Abschmelzen der Jobrenten bewirken könnten.507 Der Schutz der Insider geht also grundsätzlich mit einem erschwerten Arbeitsmarktzugang der Outsider einher - beides sind zwei Seiten derselben Medaille. Der individuelle Insider-Outsider-Mechanismus läßt sich bspw. durch Mindestlöhne, hohe Lohnersatzleistungen oder starke Kündigungsschutzregeln verstärken. So kann sich die Zielsetzung der Gewerkschaften bei der Sicherung der Einkommensströme aufgrund einer verschlechterten Arbeitsmarktlage von hohen Lohnzuwächsen weg und hin zu mehr Arbeitsplatzsicherheit verschieben. Trotz der Lohnzurückhaltung kommt diese Strategie nicht den Arbeitslosen zugute, sondern dient aufgrund der Erhöhung der Fluktuationskosten lediglich der Sicherung des Status Quos (Sauerland 1997, S. 224 f.). Allgemein gilt, daß Institutionen, die eine Erhöhung der Fluktuationskosten zur Folge haben, eher zu einer Stabilisierung der Arbeitslosigkeit als zu ihrem Abbau führen

505 506 507

Siehe die Ausführungen von Möller-Lücking (1982, S. 35 ff.) zur gewerkschaftlichen Wahrnehmung der Interessen der Arbeitslosen. Siehe die Ausführungen zum Right-to-Manage-Modell in Abschnitt 6.3.3. Dichmann (1988, S. 50) bemerkt: „Durch Einschränkungen des Wettbewerbs werden Arbeitnehmerrenten vor einem wettbewerblichen Abbau geschützt; sie werden stabilisiert'."

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{Lindbeck 1996, S. 15). So wird es für Unternehmen möglicherweise günstiger, die Belegschaft über den Verzicht auf Neueinstellungen und nicht über Entlassungen zu reduzieren.508 Werden trotzdem Kündigungen ausgesprochen, so verfügt die verbleibende Gruppe der Insider nach Abklingen des Schocks aufgrund der verkleinerten Belegschaft über eine größere Arbeitsplatzsicherheit. Damit erhöhen sich die Fluktuationskosten der Unternehmen, so daß die Insider relativ kräftige Lohnsteigerungen durchsetzen können, wenn sich der Arbeitsmarkt wieder entspannt. Zu den höheren Löhnen werden nun allerdings weniger Arbeitnehmer neu eingestellt als in der Rezession entlassen worden waren. Auf diese Weise verfestigt sich die Arbeitslosigkeit. 509 Auch die Stützung formaler Institutionen zur finanziellen Absicherung von Arbeitslosen kann im Interesse der Gewerkschaften sein.510 Auf diese Weise erhöht sich der Reservationslohn der Outsider, was wiederum eine Steigerung der Insider-Löhne zuläßt.511 Daneben bieten Lohnersatzleistungen eine Absicherung im Falle der eigenen Arbeitslosigkeit und sind geeignet, ein möglicherweise schlechtes Insider-Gewissen zu beruhigen. Damit gelingt es gerade in sozialstaatlichen Systemen, die Kosten des Insider-Verhaltens auf die Gesellschaft abzuwälzen, indem die Outsider über Ansprüche aus den Sozialversicherungen ruhiggestellt werden (Krüsselberg 1985, S. 31 ff.; Siebert 1997, S. 52). 6.2.3. Beurteilung Lange Zeit wurde der Konflikt in den industriellen Beziehungen vor allem zwischen Arbeit und Kapital gesehen. Zudem fiihrte die Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften zur Zeit der Industrialisierung noch zu einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsund Lebensbedingungen. Für den ersten Konflikt haben sich endogen Lösungen innerhalb der Arbeitsbeziehungen gebildet, die zum Teil durch formale Institutionen gestützt werden. Der Konflikt innerhalb der Arbeitnehmerschaft wurde durch die Institutionalisierung der Arbeitsmärkte überwunden. Daher stellt sich heute ein anderes wirtschaftspolitisches Problem. Wie bereits Kerr (1977, S. 9) bemerkte, verläuft die Konfliktlinie mittlerweile zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen und ist nicht zuletzt durch die Institutionalisierung des Arbeitsmarktes bedingt. „The battle, thus, is labor versus labor rather than labor versus capital. The ins with power can gain at the expense of the outs without power." Die Diskussion des Kollektivverhandlungsansatzes der IOT und der gewerkschaftlichen Rent-Seeking-Aktivitäten sollte verdeutlicht haben, welche Regelkompetenzen der 508 509 510 511

Länder mit hohen Fluktuationskosten haben einen geringen Abfluß aus der Arbeitslosigkeit, also eine geringe Arbeitsmarktdynamik durch zu wenig Neueinstellungen (Lindbeck und Snower 2002, S. 33 ff.). Eine Beschäftigungserhöhung tritt erst dann ein, wenn die Nachfrage so stark ansteigt, daß sie mit den bestehenden Kapazitäten nicht mehr bedient werden kann. So ermittelt Saint-Paul (1996a, S. 287 ff.) eine positive Korrelation zwischen Gewerkschaftsdichte und Arbeitslosenunterstützung. Auch die Shirking-Variante der ELT kommt zu diesem Ergebnis: Höhere Lohnersatzleistungen verbessern die Rückfallposition der Beschäftigten, was c.p. zu steigenden Effizienzlöhnen führt.

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Faktor Macht auf dem Arbeitsmarkt erreicht hat. Den Insidern gelingt es, sich in einem gewissen Maße gegen adverse makroökonomische Schocks zu isolieren, so daß die Outsider die Hauptlast negativer gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen zu tragen haben (Lindbeck und Snower 2002, S. 35). 5 ' 2 Die Existenz von Insidermacht bringt den Markt damit um die Fähigkeit, sich vollständig von Schocks erholen zu können (Lindbeck und Snower 1988b, S. 111 ff.; Berthold und Fehn 1994, S. 305 ff.). Durch die Beruhigung der Outsider über die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme erfährt die hausgemachte Arbeitslosigkeit zudem eine formal-institutionelle Absicherung. Das bereits auf Unternehmensebene bestehende Insider-Outsider-Problem wird auf Verbandsebene weiter verstärkt und kann als Auslöser für persistente Arbeitslosigkeit angesehen werden. Durch die institutionell verursachten Fluktuationskosten entsteht ein sich selbst verstärkender Effekt: steigende Fluktuationskosten gehen mit einer größeren Verhandlungsmacht der Insider einher, die dann wiederum im politischen Prozeß sowie in den Lohnverhandlungen in die Waagschale geworfen wird (Lindbeck und Snower 2001, S. 166 sowie S. 177 ff.). Das verteilungsmotivierte Handeln der Gewerkschaften ist hierbei offensichtlich. In Abschwüngen lassen sich Lohnrigiditäten sowohl durch formale Institutionen als auch durch Effizienzlohnargumente erklären. Da es kaum möglich sein wird, negative Schocks zu verhindern, sollte man bemüht sein, formale Institutionen so auszugestalten, daß eine möglichst vorteilhafte Verarbeitung von Störungen erzielt wird. Die Gruppe der Beschäftigten hat ein verständliches Interesse an der Aufrechterhaltung der für sie vorteilhaften Institutionen, selbst wenn diese gesamtwirtschaftlichen Zielen entgegenstehen. Daher muß es ein Hauptanliegen der Wirtschaftspolitik sein, die Institutionen des Arbeitsmarktes vor der Schließung und einseitiger Interessenverwendung zu schützen oder aber selbst aktiv die Öffnung des Systems zu betreiben. Es ist also nach Möglichkeiten zu suchen, die Interessen der Arbeitslosen im kollektiven Lohnfindungsprozeß angemessen zu berücksichtigen. Gewerkschaften nehmen diese Aufgabe häufig für sich in Anspruch und stellen die Wahrnehmung eines übergeordneten Interesses als einen positiven Aspekt von zentralen Lohnverhandlungen dar. Eine Orientierung des gewerkschaftlichen Verhaltens an diesen Gesichtspunkten ist jedoch weder theoretisch zu erwarten noch empirisch zu beobachten (Jerger 2002, S. 149). Die Gewerkschaften konzentrieren sich in den Lohnverhandlungen auf den Verteilungskonflikt mit den Unternehmen und auf politischer Ebene auf die Sicherung des Status Quos der Arbeitnehmer. Sie können dann besonders erfolgreich im Sinne der Beschäftigten operieren, wenn die bereits auf Unternehmensebene anfallenden Fluktuationskosten hoch sind, die Unternehmen über eine starke Marktmacht auf den Gütermärkten verfugen, der politische Prozeß sich anfällig für die Arbeit von Interessengruppen zeigt und der rechtliche Rahmen gewerkschaftlichen Leistungen wie Streiks gegenüber offen ist.513 In wirtschaftlich

512 513

Simons (1948, S. 138) bemerkt früh: „[...] unionism [...] enables an aristocracy of labor to build fences around its occupations, restricting entry, raising arbitrarily the costs and prices of its products, and lowering the wages and incomes of those outside [...]." Diese Kriterien entsprechen den Ergebnissen empirischer Untersuchungen zum Auftreten und zur Stärke von Gewerkschaften - vgl. Lindbeck und Snower (2002, S. 33 ff.), die weitere empirische Untersuchungen anführen, um die Hypothesen der IOT zu stützen.

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schlechten Zeiten verschieben sich die Lasten also immer mehr zuungunsten der Arbeitslosen. Dies gilt auch deshalb, weil sie anders als die ebenfalls geschädigten Unternehmen weder über eine Stimme im politischen Prozeß noch über (legale) Ausweichmöglichkeiten oder die Option der Abwanderung verfügen.

6.3.

Tarifsystem

In den meisten Volkswirtschaften werden die Löhne nicht von Monopolgesellschaften bestimmt, sondern auf kollektiver Ebene zwischen Gewerkschaften und Unternehmensvertretern ausgehandelt. 514 Dabei ist die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften abhängig von ihrem Vertretungsanspruch, der sich wiederum an der Mitgliederzahl (Organisationsgrad) orientiert. 515 Die Verhandlungsergebnisse bilden Richtwerte für die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung - sei es, daß sie explizit auf nichttarifvertraglich geregelte Bereiche ausgeweitet werden (Allgemeinverbindlichkeitserklärung 516 ), oder daß sich nicht-tarifgebundene Unternehmen freiwillig an den Verhandlungsergebnissen orientieren. Der Geltungsbereich der Tarifvereinbarungen ist also in der Regel deutlich höher, als es in der Gewerkschaftsbindung der Beschäftigten zum Ausdruck kommt. Im Jahr 1998 erreichte sie in Deutschland etwa 90 Prozent der Arbeiter und Angestellten, während der Organisationsgrad der Gewerkschaften nur bei etwa 30 Prozent lag (Franz 2003, S. 246). 517 Es profitieren also auch nicht-organisierte Arbeitnehmer als Trittbrettfahrer von den Leistungen der Gewerkschaften. Dagegen stellen US-amerikanische Gewerkschaften eine eher exklusive Vertretung der gewerkschaftlich-organisierten Arbeitnehmer dar. Die Lohnunterschiede zwischen organisierten und nicht-organisierten Arbeitnehmern können dort als Maß für die Gewerkschaftsmacht gelten. 518

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Die Entstehung zentralisierter Tarifverhandlungen kann als Prozeß angesehen werden, der seinen Ursprung auf der Ebene einzelner Unternehmen hat, wo die Beschäftigten zunächst ohne gesetzliche Rückendeckung mit den Arbeitgebern verhandelt haben (Knight 1997, S. 159 f.). Mit dem Vertretungsanspruch steigt die Glaubwürdigkeit der gewerkschaftlichen Sanktionsmechanismen, da der Organisationsgrad eine Zusammenlegung der Ressourcen erlaubt und die externen Handlungsoptionen der Unternehmen einschränkt (Knight 1997, S. 153 f.). Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach §5 Tarifvertragsgesetz (TVG) erlaubt es dem Staat, auf Antrag mindestens einer Tarifvertragspartei Tarifleistungen auf alle Beschäftigten zu übertragen, wenn ein vage formuliertes öffentliches Interesse' besteht. Hierunter fällt bspw. die Angleichung der Arbeitsbedingungen, was eine Ausdifferenzierung abseits des Tarifvertrages erschwert. Zu einer Diskussion siehe Diekmann (1988, S. 36 ff.). Dies ist kein rein deutsches Phänomen. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften ist in den OECD-Ländern allgemein abnehmend, während der Geltungsbereich der kollektiven Abschlüsse relativ konstant geblieben ist (OECD 2004, S. 144 ff.). Allerdings können die Lohnunterschiede dadurch verfälscht werden, daß Unternehmen höhere Löhne zahlen, um sich die Gewerkschaften ,vom Hals zu halten'. Zu diesem Union-threat-Ansatz siehe Thaler (1989, S. 188).

Kapitel 6: Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

197

Mit dem Kollektivgutcharakter der Tariflöhne tritt ein Problem für die Organisationsfahigkeit der Gewerkschaften zutage (Winkelhake 1994, S. 15 ff.; Schnabel 1997, S. 108 ff.).519 Aufgrund des Trittbrettfahrerproblems müssen andere Anreizmechanismen greifen, um erklären zu können, warum sich rational agierende Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisieren. Olson (1968, S. 65 ff.) stellt als Lösungsmechanismen staatliche Zwangsmaßnahmen und selektive Anreize zur Diskussion. Während Zwangsmitgliedschaften (closed shops) in Deutschland verboten sind, kommen Versicherungsleistungen, Streikgeld und Rechtsschutz als selektive Anreize in Frage. Diese Anreizmechanismen werden von Winkelhake (1994, S. 89 ff.) ausfuhrlich diskutiert. Er kommt jedoch zu dem Ergebnis, daß sie zumindest für die deutsche Situation nicht relevant genug sind, um eine Gewerkschaftsmitgliedschaft aus dem ökonomischen Rationalkalkül heraus zu begründen.520 Die Frage nach dem Grund fiir den Fortbestand von Gewerkschaften beantwortet er, indem er auf die Existenz gesellschaftlicher Normen verweist, die die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft attraktiv erscheinen lassen (Winkelhake 1997, S. 204 ff. und ausführlich Winkelhake 1994, S. 122 ff.).521 Das private Gut des gesellschaftlichen Ansehens kann damit als ausschlaggebend für die Erstellung des Kollektivgutes Tariflohn sein. Dabei ist anzunehmen, daß umgekehrt der Tariflohn konstitutiv für den Konsumgutnutzen der Mitgliedschaft ist. Diese Wechselwirkung und das auf gesellschaftliche Normen rekurrierende Argument scheinen vor allem deswegen nicht abwegig zu sein, weil die aktuellen Organisationsprobleme der Gewerkschaften mit dem Wandel der Arbeitsbeziehungen zusammenfallen. Die Kluft zwischen Arbeit und Kapital ist heute nicht mehr so groß, daß sie für die breite Masse der Arbeitnehmer einen Organisationszweck bietet.522 Die Mitglieder, die noch über informelle Bindungen an die Gewerkschaftsarbeit verfügen, sind aufgrund ihrer Branchenzugehörigkeit häufig von Arbeitslosigkeit bedroht. Arbeitslose treten jedoch in der Regel kurz nach Beendigung der Erwerbstätigkeit aus der Gewerkschaft aus (Winkelhake 1994, S. 27 f.).523 Dagegen fehlt vor allem Arbeitnehmern in

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523

Andererseits ist ein möglichst breiter Geltungsbereich ein gewerkschaftliches Anliegen, da dieser einen wirksamen Schutz vor Lohnwettbewerb bietet (Kerr 1957/1977, S. 150 f.). Allerdings deuten vermehrte Eintritte in die Gewerkschaften darauf hin, daß viele Beschäftigte eine Gewerkschaftsmitgliedschaft in unsicheren Zeiten als Absicherung gegen die Gefahr einer Entlassung sehen - vgl. Raoul Löbbert: Trittbrettfahrer der Arbeiterbewegung, in: Die Zeit, 19.08.2004, S. 5. Varoufakis und Hargreaves Heap (1995, S. 152) argumentieren anhand von Klasseninteressen. Neben politischen Bindungen können Reziprozitätsnormen dazu führen, daß es Arbeitnehmern nur recht und billig erscheint, den Gewerkschaften durch ihre Mitgliedschaft etwas für ihre Leistungen zurückzugeben. Die Mitgliederentwicklung ist stark rückläufig. Die deutschen Gewerkschaften haben zwischen 1991 und 2000 mehr als vier Millionen Mitglieder verloren, was etwa 30 Prozent ihres Stammes aus dem Jahr 1991 entspricht (Goerke und Pannenberg 2003, S. 1 f.). Im Jahr 2002 waren weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik (Ebbinghaus 2002, S. 1). Dies deutet darauf hin, daß die nunmehr Arbeitslosen aufgrund ihrer Erfahrungen in den Gewerkschaften erkannt haben, daß letztere lediglich die Interessen der Beschäftigten vertreten - vgl. Lewis (1991) sowie die Ausführungen in Kapitel 8.

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modernen Dienstleistungsberufen häufig der Bezug zu Gewerkschaften. Dies ist nicht zuletzt deswegen der Fall, weil Gewerkschaften bei hochqualifizierten Arbeitnehmern nur geringen Einfluß auf das Gehalt besitzen, da diese außertariflich entlohnt werden.524 Franz (2003, S. 260) bemerkt zu dieser Entwicklung: „Mit dem Wandel der Gesellschaft zu ,nach-industriellen' Formen schrumpft das Potential des .geborenen Gewerkschaftlers'; an die Stelle des .klassenbewußten Arbeiters' tritt der qualifizierte und besser verdienende Angestellte [...], der sich von den Gewerkschaften nicht repräsentiert fühlt." Die Zielgruppe der Erwerbstätigen mag zudem zu zweifeln beginnen, ob das Tarifsystem in Zeiten dauerhafter Arbeitslosigkeit noch eine adäquate Arbeitsmarktordnung darstellt. In einer problematischen gesamtwirtschaftlichen Situation und bei steigendem internationalem Wettbewerbsdruck werden die Interessen des Unternehmens immer mehr auch zu den Interessen der Beschäftigten. Ein grundsätzlich kooperatives Klima in den Arbeitsbeziehungen trägt weiter zu einer Identifikation mit den Unternehmenszielen bei, so daß der von den Gewerkschaften gepflegte Konflikt zwischen Unternehmen und Belegschaft für viele Beschäftigte immer mehr an Plausibilität verliert. Damit werden starke Lohnerhöhungen auch von den Arbeitnehmern nicht immer nur positiv gesehen. Das Tarifvertragssystem läuft daher Gefahr, den positiven Charakter eines öffentlichen Gutes zu verlieren, wodurch auch das private Gut der Gewerkschaftsmitgliedschaft entwertet wird. 6.3.1. Arbeitgeberverbände In der Regel sind Arbeitgeberverbände als Reaktion auf Gewerkschaftsgründungen entstanden, um ein Gegengewicht gegen die organisierten Arbeitnehmerinteressen zu bilden (Traxler 1993, S. 159).525 Neben der Funktion des Verhandlungspartners in den industriellen Beziehungen, die hier im Vordergrund stehen soll, übernehmen Unternehmensverbände Aufgaben der Informationsvermittlung und der politischen Lobby-Arbeit (Wirtschaftsverbandsfunktion - Traxler 1993, S. 149). Während das Problem der Gewerkschaften seit jeher in ihrer Organisationsfahigkeit liegt, ist bei den Arbeitgeberverbänden der Organisationsbedarf das kritische Moment, da vor allem größere Unternehmen häufig über genügend Ressourcen verfügen, um eine eigenständige Interessenvertretung herbeiführen zu können. In den Lohnverhandlungen ist zu beachten, daß die Verbände die Mitgliedsunternehmen repräsentieren, jedoch keine Befugnis besitzen, in die Beschäftigungsentscheidungen auf Unternehmensebene einzugreifen. Lohnverhandlungen auf überbetrieblicher Ebene bringen es zudem mit sich, daß nicht alle Unternehmen im gleichen Maße mit den Ergebnissen zufrieden sein können. Der steigende internationale Wettbewerbsdruck sowie die Notwendigkeit zu mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung der Arbeitsbezie-

524

Die alte Garde bleibt den Gewerkschaften dagegen erhalten und führt dazu, daß sich ein Überalterungsproblem anbahnt. So befand sich 2002 bereits etwa jedes fünfte Mitglied im Ruhestand (Ebbinghaus 2002, S. 19 f.). 525 Eine Diskussion der Rolle von Arbeitgeberverbänden bieten Franz (2003, S. 263 ff.) sowie Müller-Jentsch (1997, Kap. III.).

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hungen führen dazu, daß immer mehr Unternehmen dafür plädieren, Regelungen, die lange Zeit den Tarifvertragsparteien vorbehalten waren, wieder in die Unternehmenssphäre zu verlagern oder zumindest für eine den neuen Wettbewerbsbedingungen entsprechende Flexibilisierung der Arbeitsmarktverfassung zu sorgen. Auf diese Weise entstehen Interessenkonflikte zwischen den flexibilitätsorientierten Unternehmen und den Arbeitgeberverbänden, die ein organisationsspezifisches Interesse an der Beibehaltung des Tarifsystems besitzen. Diese Entwicklung läßt sich an einer zunehmenden Verbandsflucht ablesen. 526 Auch der Austritt aus dem Arbeitgeberverband entbindet allerdings nicht mit Sicherheit von tariflichen Regelungen. So bestehen Übergangsfristen, und die Tarifbindung kann durch die Hintertür einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung zurückkehren. 6.3.2. Die Durchdringung des Arbeitsmarktes durch die Tarifvertragsparteien In Deutschland sind die Tarifpartner auf nahezu allen Ebenen der Arbeitsmarktordnung präsent. Sie gestalten über den politischen Prozeß sowie über die Tarifverhandlungen die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, sie sind in der Bundesagentur für Arbeit, in den Sozialversicherungsanstalten und nicht zuletzt in den Arbeitsgerichten vertreten. Ihr Einfluß ist umfassend, und es ist als eine Besonderheit des Arbeitsmarktes anzusehen, daß sich dieselben Kräfte, denen selbst bei wohlwollender Sichtweise eine Mitschuld an der hohen Arbeitslosigkeit zugewiesen werden muß, mit der Bekämpfung ihrer Folgen befassen. So sind die Tarifpartner in Deutschland die größten Anbieter von Programmen zur Qualifizierung von Erwerbslosen und verdienen damit direkt an den Folgen der Arbeitslosigkeit. 527 Die Anreize zu einer Verringerung der Arbeitslosigkeit aus Verbandssicht sind nicht zuletzt aus diesem Grunde denkbar gering. 528 6.3.3. Das Right-to-Manage-Modell In der Arbeitsmarktliteratur werden Lohnverhandlungen zwischen Interessenverbänden in der Regel anhand des Right-to-Manage-Modells (RTM-Modells) analysiert. Dabei verhandeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zentral über die Lohnhöhe, während die Beschäftigungsentscheidung anschließend dezentral in den Unternehmen gefallt wird. 529 Bei den Lohnverhandlungen ist zu beachten, daß Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Sie sind also nicht

526 527

528 529

Zur Entwicklung der Tarifbindung auf Arbeitgeberseite siehe Kohaul und Schnabel (2003, S. 205 ff.). Im Jahr 2002 gab die Bundesanstalt für Arbeit sieben Milliarden Euro für Weiterbildungsmaßnahmen aus, von denen die größten Margen an die Bildungswerke der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände gingen - vgl. Volker Steinhoff und Stephan Stuchlik: Filz beim Arbeitsamt - Milliardengeschäft mit der Weiterbildung in: Panorama vom 16.01.2003. Aufgrund dieser Verstrickungen wäre ein Ausschluß der Tarifpartner aus diesem Markt nötig, solange die Verbände die Lohnentwicklungen maßgeblich bestimmen. Die Unternehmen behalten also das Recht, ihre Beschäftigungshöhe eigenständig festzulegen (zu .managen'). Die Unvollständigkeit der Arbeitsverträge wird mitsamt den Problemen der Leistungserbringung ausgeblendet.

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einem allgemeinen (umfassenden) Interesse verpflichtet, so daß der Machtausgleich auf Verbandsebene nicht impliziert, daß eine Markträumung erzielt wird. Damit weicht das theoretisch durch den Marktmechanismus erreichbare, makroökonomische Vollbeschäftigungsgleichgewicht von jenem ab, das sich als Ergebnis der Lohnverhandlungen ergibt. Die Ableitung des Verhandlungsergebnisses erfolgt anhand der AteA-Lösung (Nash 1950). 530 Dabei wird von homogener Arbeit ausgegangen. Das Arbeitsangebot N ist exogen gegeben, und es wird angenommen, daß alle Arbeitsanbieter Gewerkschaftsmitglieder sind. Die Zielfunktion der Gewerkschaft ergibt sich dann als U(w,L) = Lu(W) + (N-L)U(WR) , wobei wg den Reservationslohn bezeichnet. 531 Im folgenden soll zur Vereinfachung angenommen werden, daß der Reservationslohn das markträumende Niveau w annimmt (w R = w). Als Ausgangspunkt für die Berechnung der AtoA-Lösung dienen die Auszahlungen, die beide Seiten erzielen, wenn in den Verhandlungen keine Einigung zustande kommt (Konfliktpunkt). Da in diesem Fall keine Arbeitsverträge geschlossen werden, erhalten alle Arbeitnehmer den Reservationslohn, so daß sich als Gewerkschaftsnutzen Nu(w) ergibt. Der Unternehmensgewinn ist gleich Null. Aus diesem Konfliktpunkt heraus wird nun ein Punkt auf der Pareto-Grerae angestrebt. Hierzu wird das Produkt der Nutzenzugewinne über die Nutzen im Konfliktpunkt [das Nash-Produkt (NP)] nach dem Lohnsatz w maximiert. Die relative Verhandlungsstärke der Akteure geht über den Parameter ß i n das Modell ein: 532 NP(w,L)

= {[u(w)-u(w)}L}ß[G(w,L)tß

,533

In Abhängigkeit von der relativen Verhandlungsmacht kommt der Tariflohn innerhalb des Intervalls [W, WM] auf der Arbeitsnachfragekurve zu liegen. 534 Die Grenzen ergeben sich, wenn jeweils einer Partei die volle Verhandlungsmacht (Lohnsetzer) zukommt. Im ersten Fall (ß= 0) liegt die Verhandlungsmacht vollständig bei den Arbeitgebern - es stellt sich das Ergebnis ein, das sich auf einem ,freien' Arbeitsmarkt erge-

530

Dabei handelt es sich um ein axiomatisches Lösungskonzept, das postuliert, daß jedes Verteilungsergebnis in kooperativen Spielen folgende Eigenschaften erfüllen sollte: Unabhängigkeit von äquivalenter Nutzentransformation, Symmetrie, Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen sowie Pai-e/o-Optimalität. Nash zeigt, daß sein Lösungsansatz der einzige ist, der die genannten Axiome erfüllt. Für eine ausführliche Diskussion siehe Holler und Illing (1996, S. 180 ff.).

531

Die Gewerkschaft muß dabei die Arbeitsnachfragefunktion der Unternehmen [LfwJ] als Nebenbedingung beachten. Die relative Verhandlungsstärke wird jedoch nicht immer objektiv festzulegen sein, so daß Probleme bei der Einigung auf die Nash-Lösung auftreten können. Der Zugewinn der Gewerkschaften berechnet sich als Lu(w) + (N - L)u(w) abzüglich dem Nutzen im Konfliktpunkt Nu( w). Die AfasA-Lösung wird aufgrund ihres axiomatischen Charakters auch als SchiedsrichterLösung bezeichnet (Pull 1996, S. 609). Dies bedeutet, daß Parteien, die sich über die Einschätzung einer Verhandlungssituation einig sind, das Ergebnis der AtaA-Lösung unter den gegebenen Umständen als angemessen akzeptieren werden. Trotzdem kann die NashLösung mit Gerechtigkeitsvorstellungen kollidieren, da keine Bewertung der Anfangsausstattungen oder der Verhandlungsstärke der Parteien vorgenommen wird. So können sich auch sehr ungleiche Lösungen ergeben.

532 533 534

Kapitel 6: Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

201

ben hätte. Im zweiten Fall liegt die volle Verhandlungsmacht bei den Gewerkschaften ( ß = 1), so daß sich das Ergebnis der Monopolgewerkschaft ergibt. Die Ergebnisse im Right-to-Manage-Modell sind bis auf den Fall der Marktlösung nicht Pare/o-effizient, da nicht ausgenutzte Tauschmöglichkeiten existieren (Wagner und Jahn 1997, S. 154). Die Institutionen der kollektiven Lohnverhandlungen produzieren dann Ineffizienzen, da einige Akteure schlechter gestellt werden als bei individuellen Lohnverhandlungen (Hillardund Mclntyre 1994, S. 620). Oftmals werden von Seiten der Politik oder der Gewerkschaften Fragen der Beschäftigungshöhe mit diskutiert.535 Solange es jedoch um Verhandlungen geht, die auf Verbandsebene stattfinden, besitzen Aussagen über Beschäftigungszahlen keine Kraft, da die Verbände keinen Durchgriff auf die dezentral in den Unternehmen zu treffenden Beschäftigungsentscheidungen haben.536 Dagegen ist es bei Verhandlungen auf Unternehmensebene durchaus denkbar, Verträge zu schließen, die sowohl Lohnsatz als auch Beschäftigungsmenge festlegen.537 Allerdings ist diese Verknüpfung auch hier problematisch. Für die Dauer der Verträge würden sowohl der Preis als auch die Menge des Produktionsfaktors fixiert und den Unternehmen damit wichtige Aktionsparameter genommen. Die Praxisrelevanz des Modells effizienter Verträge ist daher im Hinblick auf seinen Erklärungsgehalt und als Modell zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme als gering einzustufen, so daß es an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden soll.538 6.3.4. Beurteilung Der RTM-Ansatz bildet die kollektive Lohnfindung realistischer ab als das gewerkschaftliche Monopolmodell, unterschlägt jedoch ebenfalls die Tatsache, daß die Lohnverhandlungen in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt sind, der Einfluß auf das Verhalten der Arbeitsmarktparteien und damit auch auf die Verhandlungsergebnisse nehmen wird. Da Lohnverhandlungen im Lichte der Öffentlichkeit stattfinden, bedienen sich die Akteure häufig einer wählerwirksamen Rhetorik, die gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen ansprechen soll (Schüller 2002, S. 126).539 Die Mobilisierung der Mitglieder und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung kann für das Verhandlungsergebnis entscheidend sein. So mag es opportun erscheinen, die Rolle des Schwächeren zu besetzen und Forderungen über die Betonung der sozialen Gerechtigkeit zu 535 536 537

538 539

So im Bündnis für Arbeit oder bei gewerkschaftlichen Forderungen nach Beschäftigungsgarantien im Tausch gegen Lohnzugeständnisse. Alles andere wäre mit einem marktwirtschaftlichen System unvereinbar. Eine gleichzeitige Festlegung von Lohnhöhe und Beschäftigungszahlen auf zentraler Ebene trüge planwirtschaftliche Züge. In der arbeitsmarkttheoretischen Literatur werden solche Verhandlungen im Modell effizienter Verträge diskutiert, das auf McDonald und Solow (1981, S. 899 ff.) zurückgeht. Die Ergebnisse sind jedoch lediglich aus Sicht der Verhandlungsparteien effizient - auf der Marktebene entsteht wiederum unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Dies bemerkt auch der Sachverständigenrat (1996, Textziffer 140), nachdem er es noch ein Jahr zuvor als Option für die Tarifautonomie angesehen hatte (Sachverständigenrat 1995, Textziffer 387). Zum strategischen Einsatz von Normen in Lohnverhandlungen siehe Elster (1989b, S. 215 ff.).

202

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rechtfertigen. 5 4 0 Weiterhin spielen Referenzpunkte eine große Rolle. So orientieren sich Tarifverhandlungen an sogenannten Pilotabschlüssen. 5 4 1 Als weiterer Referenzpunkt gilt die Vergangenheit, so daß zurückliegende Lohnrunden immer als A r g u m e n t in die aktuellen Lohnverhandlungen einfließen. Schon deshalb weist die Lohnentwicklung eine gewisse Pfadabhängigkeit auf. Mit den Tarifvereinbarungen schließen die Parteien (allgemeingültige) Verträge, die über die Beschäftigungsentscheidungen auf Unternehmensebene das Arbeitsmarktergebnis maßgeblich beeinflussen. Im Hinblick auf die resultierende Arbeitslosigkeit sowie auf die Kosten, die der Allgemeinheit über die Sozialleistungssysteme auferlegt werden, kann von einem Vertrag zu Lasten Dritter gesprochen w e r d e n (Sachverständigenrat

1995, S. 226). Die Beschränkung der individuellen Vertragsfreiheit in den Ar-

beitsbeziehungen w u r d e lange Zeit mit einer Machtasymmetrie auf d e m Arbeitsmarkt begründet. O b w o h l letztere in modernen Arbeitsbeziehungen k a u m noch anzutreffen ist, wird das Tarifrecht von seinen Befürwortern noch i m m e r als das „Wettbewerbsrecht des kleinen M a n n e s " bezeichnet. 5 4 2 Dazu läßt sich anmerken, daß die Rechte des kleinsten M a n n e s - nämlich des Arbeitslosen, darin gerade nicht ausreichend berücksichtigt werden. A u f g r u n d der g e m e i n s a m e n B i n d u n g an die Arbeitsmarktverfassung haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände durchaus gleichgerichtete Interessen entwickelt. 5 4 3 Die Ausgestaltung der Verhandlungen erhält somit teilweise einen rituellen Charakter. Da die Tarifverhandlungen in einem staatlich geschützten Bereich ablaufen, ist der W a n d l u n g s d r u c k trotz schlechter Beschäftigungsergebnisse gering. Allerdings ist anzunehmen, daß die schwindende gesellschaftliche A n e r k e n n u n g des Tarifsystems auf Dauer zu seiner S c h w ä c h u n g beiträgt und eine Neugestaltung der industriellen Beziehungen nach sich ziehen könnte. Die a b n e h m e n d e A k z e p t a n z des Flächentarifvertrages hat in den vergangenen Jahren bereits zu einer gewissen Verlagerung von Tarifverträgen Richtung Unternehmensebene (FirmentarifVerträge) gefuhrt. Dies gilt vor allem für Ostdeutschland, w o 1998 bereits 3.551 Firmentarife bestanden, während 4.161 Verbandsvereinbarungen existierten (in Westdeutschland waren es 14.000 Firmentarife und

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Diese Formel wird dann stets auf den Arbeitnehmerschutz gemünzt, während die Rechte der Arbeitslosen nicht beachtet werden.

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Um einen möglichst hohen Referenzwert ins Spiel bringen zu können, richten sich die deutschen Gewerkschaften nach den Abschlüssen in mitgliederstarken Bereichen wie der Metallindustrie sowie nach Regionen, die über zahlungskräftige Unternehmen verfügen (Baden-Württemberg).

542

Vgl. M. Kittner: Der Tarifvertrag ist keine marktwidrige Vereinbarung, sondern ein effizientes Gestaltungsmittel des Arbeitsrechts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.1995, S. 17. Aus juristischer Perspektive steht das Vertrauen in das Gleichgewicht der Kräfte im Vordergrund (.Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags'), die Prüfung aus ökonomischer Sicht unterbleibt häufig (Richter 1999, S. 46).

543

Winkelhake (1994, S. 251) bemerkt: „Über die institutionelle Ausgestaltung der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Deutschland sind die Tarifparteien quasi ,aneinandergekettet\ Die Existenzberechtigung und Attraktivität für das eigene Klientel wird nicht zuletzt durch die Prosperität der Gegenseite gestiftet."

Kapitel 6: Organisationen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt

203

28.000 Verbandsvereinbarungen). 544 Diese Entwicklung spiegelt die Notwendigkeit der Flexibilisierung wider, die sich aus der Tatsache ergibt, daß sich vor allem in Ostdeutschland zahlreiche Unternehmen gezwungen sahen, durch die Entlohnung unter Tarif einen offenen Rechtsbruch zu begehen, um weiter produzieren zu können (Franz 2003, S. 241). Den Bestrebungen, zu flexibleren Arbeitsmarktstrukturen überzugehen, treten vor allem die Gewerkschaften mit Bemühungen entgegen, die auf die Zementierung ihrer Macht ausgerichtet und einer dynamischen, offeneren Marktentwicklung abträglich sind. Als Beleg hierfür kann die jüngst entfachte Diskussion um die Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland angesehen werden, durch die die Gewerkschaften versuchen, ihre Machtposition bei der Lohnentwicklung auch in einem dezentraler ausgestalteten System sichern zu können. 545 Eine Lösung der Probleme auf kollektiver Ebene ist nicht zu erwarten. So führt die gegenläufige wirtschaftspolitische Ausrichtung der Tarifvertragsparteien zu einem grundsätzlichen Streit darüber, ob eher eine angebots- oder eine nachfrageseitige Strategie (also über sinkende oder über steigende Löhne) angestrebt werden sollte. Hierin kommen wiederum die Verteilungsinteressen der beteiligten Gruppierungen zum Ausdruck. Schüller (2002, S. 125) bringt die am deutschen Tarifvertragssystem zu äußernde Kritik auf den Punkt: „Die seit Jahrzehnten zu verkraftenden Kosten des moralischen Fehlverhaltens der Tarifparteien mit erheblichen Kollektivschädigungen, wie sie sich an einer beklagenswerten Beschäftigungslage, der Entwicklung der Aufgaben und Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit und der Krise der Sozialversicherungen zeigt, sind das Ergebnis der Möglichkeit, die Tarifautonomie für Verteilungszwecke zu mißbrauchen." Auch wenn zwischen Ökonomen ein breiter Konsens darüber besteht, daß die Regelungsdichte des FlächentarifVertrages zu reduzieren und der gemeinsame Spielraum von Arbeitgebern und Belegschaften bei der Festlegung von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu erweitern ist (Franz, Gerlach und Hübner 2003, S. 408), kann eine generelle Veränderung des herrschenden Ordnungsmodells möglicherweise erst dann eintreten, wenn das positive Vorverständnis des Systems in der Gesellschaft zerstört ist. Gerade die Mitverantwortung der Gewerkschaften für die hohe Arbeitslosigkeit erscheint einem Großteil der Bevölkerung noch immer als paradox, da Gewerkschaften als Anwalt der Arbeitnehmer wahrgenommen werden. Für die Beschäftigungsmisere werden vielmehr die Politik und die entlassenden oder nicht einstellenden Unternehmen verantwortlich gemacht (Noelle-Neumann und Köcher 2002, S. 829 f.).546 Hier besteht die Chance, über eine verstärkte Aufklärungsarbeit ein gesellschaftliches Umdenken einzuleiten.

544 545

546

Kohaut und Schnabel (2003, S. 199 f.) konstatieren in den vergangenen Jahren ein deutlich rückläufige Tendenz der Flächentarifbindung. Vgl. Kolja Rudzio: Arbeit um jeden Preis, in: Die Zeit, Nr. 11/2004. Da Tariflöhne dieselben Wirkungen haben wie Mindestlöhne, besteht in ihrer ökonomischen Beurteilung kein Unterschied. Die von den Gewerkschaften geforderte Mindestlohnhöhe geht deutlich über einen ,echten' Mindestlohn hinaus und würde die gerade gewonnenen Freiheitsgrade im Niedriglohnbereich wieder binden. Gewerkschaften sind in den Augen der Erwerbstätigen die Gruppe, der die größte Ernsthaftigkeit beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zugesprochen wird - siehe auch Berti etal. (1989, S. 26).

204

6.4.

Martin Diete

Fazit

In Deutschland ist eine Arbeitsmarktverfassung entstanden, die ihrer volkswirtschaftlichen Aufgabe des Ausgleiches zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bei möglichst geringer Arbeitslosigkeit nur in Ausnahmefällen gerecht werden kann. Rigiditäten, die zur Entstehung von Renten führen, ziehen weitere Institutionen nach sich, die diese Renten sichern sollen. Auf diese Weise entfernt sich der Arbeitsmarkt immer weiter von einem wettbewerblichen Markt (Saint-Paul 2000, S. 9). Diekmann (1988, S. 59) fuhrt aus: „Es ist letzten Endes die Vielzahl institutioneller Starrheiten, Hand in Hand gehend mit individuellen Anpassungsunwilligkeiten an veränderte Bedingungen, welche den deutschen Arbeitsmarkt charakterisiert und seine im internationalen Vergleich geringe Flexibilität erklärt." Damit ist nicht gesagt, daß Institutionen grundsätzlich und ausschließlich aus Verteilungsgesichtspunkten geschaffen werden. Negative Effekte treten möglicherweise erst dann auf, wenn Interessengruppen gelernt haben, das System zu ihren Gunsten zu nutzen, oder wenn veränderte Umweltzustände dazu führen, daß eine bestehende Institution ihre Aufgabe nicht mehr effizient bewältigen kann. Solche Institutionen können dennoch weiter Bestand haben, wenn die Nutznießer der Regeln machtvoll genug sind. Die Kontinuität und Stabilität von Institutionen erlauben demnach keinen Rückschluß auf ihre volkswirtschaftliche Effizienz {Buttler 1987, S. 214 ff.). So hat die Institutionalisierung des Arbeitsmarktes zwar das ursprüngliche Anliegen erfüllt, nämlich einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herbeizufuhren und die industriellen Beziehungen auf einer kooperativen Basis zu stabilisieren, den neuen Anforderungen der Massenarbeitslosigkeit steht die Arbeitsmarktordnung jedoch machtlos gegenüber. Dies liegt zu einem Großteil daran, daß das Interesse der relevanten Akteure an einem institutionellen Wandel gering ist. Grundsätzlich sollte deutlich geworden sein, daß zentrale Lösungsansätze der Komplexität des Arbeitsmarktes nicht gerecht werden. Es ist vielmehr eine Arbeitsmarktverfassung vonnöten, in der sich die Arbeitsbedingungen in einem vorgegebenen Rahmen flexibel an die spezifischen Gegebenheiten in den einzelnen Unternehmen anpassen lassen. Die Gefahr einer sklerotischen Entwicklung kann daher am besten durch eine Aufhebung der Sonderinteressen und Kartellierungen erreicht werden (Olson 1991, S. 308). Die Motivationsfunktion des Lohnes bleibt bei der Diskussion des Arbeitsmarktes auf kollektiver Ebene größtenteils unberücksichtigt. Allerdings ist anzunehmen, daß zwischen den Ebenen, die in den Abschnitten 5. und 6. analysiert wurden, Wechselwirkungen bestehen. Einigen Aspekten dieses Zusammenspiels und seinen Folgen für den Arbeitsmarkt wende ich mich daher in Kapitel 7. zu.

Kapitel 7: Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene

7.

205

Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene

Sobald man von der Vorstellung eines vollkommenen Arbeitsmarktes Abstand nimmt, kann nicht mehr eindeutig davon ausgegangen werden, daß formale Institutionen sich grundsätzlich negativ auf das Beschäftigungsergebnis auswirken (Fehr und Gächter 1999, S. 58; Agell 1999, S. F144 ff.)- So können formale Institutionen im Falle spezifischer Investitionen in die Arbeitsbeziehung das Hold-up-Problem verringern, indem sie der Harmonisierung der Interessen dienen und die Kontinuität der Beziehung fördern. Auch eine möglichst reibungslose Durchsetzbarkeit von expliziten Vertragsbestandteilen wirkt sich vorteilhaft auf das Zustandekommen von Arbeitsverträgen aus. Schließlich führen fluktuationskostensenkende Institutionen tendenziell zu einer höheren Arbeitsnachfrage. Andererseits können formale Institutionen hohe gesellschaftliche Kosten verursachen. So kommt es zu einer Schwächung der Arbeitsnachfrage, wenn dem Faktor Arbeit bspw. durch Kündigungsschutzgesetze institutionell Kosten auferlegt werden. Des weiteren sind Verzerrungen der Arbeitsangebotsentscheidung (durch Lohnersatzleistungen) und Beschränkungen der gleichgewichtsbildenden Funktion des Lohnes zu nennen (Siebert 1997, S. 43). So bewirken Tariflöhne, daß nicht alle Lohnanpassungen dezentral von den Unternehmen vorgenommen werden können.547 Neben den Auswirkungen auf den Allokationsmechanismus müssen die Regelwerke beachtet werden, die der Strukturierung relationaler Tauschbeziehungen auf der Unternehmensebene dienen. Auch die hier wirkenden informellen Institutionen und unternehmensspezifischen Regeln werden von formalen Institutionen beeinflußt. Beispielsweise können formale Institutionen die Referenzpunkte für die Beurteilung der gerechten Lohnhöhe verändern. Das Verhalten der Tauschpartner wirkt dann wiederum auf die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungssituation zurück. Daher ist die Einbettung der Arbeitsbeziehung in den ordnungspolitischen und gesellschaftlichen Rahmen sowie die Analyse der Wechselwirkungen zwischen beiden Ebenen unabdingbar für ein umfassendes Verständnis des Arbeitsmarktes. Diese Beziehungen sollen im folgenden näher beleuchtet werden. Hierzu werden einige Ergebnisse aus Kapitel 5. in Bezug zum formalen Regelrahmen des Arbeitsmarktes (Kapitel 6.) gesetzt. Die zentrale Frage lautet, in welchen Fällen staatliche Regeln in Form formaler Institutionen nötig sind, und in welchen Fällen zu erwarten ist, daß eine dezentrale Ordnung zu gesamtwirtschaftlich vorteilhafteren Ergebnissen führt. Als erstes soll diskutiert werden, auf welcher Ebene Lohnverhandlungen sinnvollerweise anzusiedeln sind. Anschließend wird auf die ebenfalls im Zentrum der wirtschaftspolitischen Debatte stehenden Institutionen der Mitbestimmung, des Bestandsschutzes sowie der Lohnersatzleistungen eingegangen.

547

In Deutschland wird in Tarifverträgen der stärkste Grund für Lohnrigiditäten gerade bei Geringqualifizierten gesehen (Franz und Pfeiffer 2003, S. 33).

206

7.1.

Martin Dietz

Zentrale vs. dezentrale Lohnverhandlungen

Die Frage, auf welcher Ebene die Löhne zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen ausgehandelt werden sollten, stellt sowohl einen (gesellschafts-) politischen als auch einen ökonomischen Streitpunkt dar. Im folgenden soll daher auf die Frage eingegangen werden, ob unter Einbeziehung der bisherigen Ergebnisse Aussagen darüber möglich sind, welcher Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen tendenziell die besten Ergebnisse im Hinblick auf die Effizienz der Arbeitsbeziehungen sowie auf das Arbeitsmarktergebnis erzielt. 7.1.1. Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen und Arbeitsmarktergebnis Lange Zeit wurde die Vorteilhaftigkeit zentraler Lohnverhandlungen in der Literatur nicht angezweifelt. Hierfür mögen starke Gleichbehandlungsnormen verantwortlich sein, die ihren Ursprung in der Zeit der Industrialisierung haben (Külp 1996, S. 155 ff.).548 Für eine zentrale Ausgestaltung der Lohnverhandlungen sprechen aus ökonomischer Sicht vor allem Transaktionskostenargumente. Hierbei ist an Standardisierungsvorteile und an die geringeren Kosten bei einmaligen Verhandlungen zu denken. Weiterhin wird angeführt, daß Verhandlungen auf Unternehmensebene den Betriebsfrieden stören und damit den Produktionsprozeß beeinträchtigen würden.549 Für ein Unternehmen sind bei der Beschäftigungsentscheidung die gesamten Arbeitskosten relevant, also neben dem Nettolohn die Lohnnebenkosten und die Transaktionskosten, die durch die Beschäftigung einer Arbeitskraft anfallen. Kommt es infolge einer Transaktionskostenersparnis zu einer Verringerung der Lohnkosten, so fuhrt dies bei gegebener Technologie auf der Gütermarktebene zu einer Absenkung der Grenzkosten. Damit steigt c.p. die Güterproduktion und dementsprechend auch die eingesetzte Arbeitsmenge. Skizziert man die Arbeitsmarktsituation abstrakt anhand eines LohnMengen-Diagramms bei konstanten Transaktionskosten und unter Vernachlässigung der Lohnnebenkosten, so lassen sich die Effekte einer Transaktionskostensenkung verdeutlichen. Zu jedem beliebigen Geldlohn wird nun mehr Arbeit nachgefragt - die Nachfrage nach Arbeit dreht sich nach rechts. Verläuft die Arbeitsangebotsfunktion - wie in Abbildung 14 - steigend, so werden sich neben dem positiven Beschäftigungseffekt auch Lohnerhöhungen einstellen.

548 549

Snower (1998, S. 58) bemerkt: „The hallmark of centralized bargaining is equal pay for equal work." Dieser friedenstiftende Effekt wird allerdings dadurch beschränkt, daß die Verbände gegenüber den Mitgliedsunternehmen keine Lohnverpflichtungsmöglichkeit besitzen. Trotz zentraler Verhandlungen kommt es daher häufig zu einer weiteren betrieblichen Lohnrunde (Traxler 2003, S. 539).

Kapitel 7: Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene

207

Abbildung 14: Transaktionskosten und Arbeitsmarktergebnis

Ein wichtiges Argument, das von Befürwortern zentraler Lohnverhandlungen angeführt wird, besteht darin, daß gesamtwirtschaftliche Aspekte auf diese Weise am besten bei der Lohnentwicklung zu berücksichtigen seien.550 Die Diskussion um diese Korporatismusthese sowie den ,richtigen' Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen entbrannte nach Beiträgen von Freeman (1988) sowie von Calmfors und Driffill (1988). Die Autoren vertreten aufgrund empirischer Untersuchungen die Auffassung, daß der Zusammenhang zwischen Zentralisierungsgrad und Lohnsatz (und damit der Arbeitslosigkeit) einen umgekehrt u-formigen Verlauf nimmt (Calmfors und Driffill 1988, S. 15; Freeman 1988, S. 74 f.). Abbildung 15 verdeutlicht die sogenannte Hump-shapeHypothese. Abbildung 15: Die Hump-shape-Hypothese Arbeitslosigkeit

Zentralisierungsgrad

550

In diesem Zusammenhang wird von der Internalisierung von Lohnextemalitäten gesprochen. Hier besteht ein enger Zusammenhang zur Theorie von Mancur Olson (1991, S. 62 ff.), der das Problem bei der Befolgung von Gruppeninteressen vor allem darin sieht, daß negative Effekte im Hinblick auf Dritte produziert werden. Diese treten jedoch in um so geringerem Maße auf, je umfassender das Interesse der jeweiligen Gruppe ist. Olson (1991a, S. 138) liefert eine genaue Definition des umfassenden Interesses.

208

Martin Dietz

Bei einem mittleren Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen - bspw. auf Branchenebene - sind demnach die schlechtesten Ergebnisse zu erwarten. Hier greifen weder die Vorteile der zentralen noch die der dezentralen Regelungen. Letztere besitzen ihre Stärken in der höheren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an die konkreten Bedürfnisse der Unternehmen. Lohnverhandlungen, die weiter von der betrieblichen Ebene entfernt ablaufen, gehorchen eher dem Macht- als dem Marktmechanismus. 551 Da die Machtstruktur der Gewerkschaften in den einzelnen Branchen jedoch höchstens zufallig der Struktur der jeweiligen Arbeitsproduktivitäten entspricht, werden sich Ergebnisse einstellen, die von denen bei freier Lohnbildung abweichen (Külp 1996, S. 157 f.). Die positive Bewertung zentraler Lohnverhandlungen stellt nur eine mögliche Interpretation dar. So ist es gerade auf zentraler Ebene besonders leicht, die Partikularinteressen der Gewerkschaftsmitglieder im politischen Prozeß durchzusetzen. Schließlich sind die Verhandlungspartner nicht direkt von den Lohnabschlüssen betroffen, sondern handeln lediglich als Agenten der Unternehmen oder der Beschäftigten (Külp 1996, S. 156).552 Ohnehin ist die Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Situation durch die Tarifvertragsparteien aus Sicht der IOT zu bezweifeln. Ein kraftvolles Argument gegen die Internalisierungshypothese besteht letztlich darin, daß diese auf der Annahme basiert, daß den Parteien die nötigen Informationen überhaupt zur Verfügung stehen. Allerdings dürfte die Planungskompetenz der Verbände beschränkt sein, weil sich das relevante Wissen dezentral in den einzelnen Unternehmen befindet. 553 Übereinstimmung herrscht im wesentlichen darüber, daß die Nivellierung der Lohnstruktur mit der Zentralisierung der Lohnverhandlungen zunimmt - dies gilt sowohl horizontal (sektorale Lohndifferentiale) als auch vertikal zwischen Berufsgruppen. 554 Für Deutschland läßt sich zeigen, daß die Lohnspreizung nach unten gering ist, so daß die relativ hohen Löhne der Geringqualifizierten die große Arbeitslosigkeit in diesem Bereich erklären können (Schob und Weimann 2003, S. 50; Eger und Nutzinger 1999, S. 167 ff.).555 Die Lohnentwicklung im mittleren Segment war über die Jahre relativ stabil, während die Gehälter im Bereich der höher und der geringer Qualifizierten vergleichsweise stark angestiegen sind. Innerhalb der Gruppen hat sich nur im Bereich der Geringqualifizierten keine größere Lohnspreizung ergeben (Franz 2003, S. 325 f f ) . Dort wird der Einsatz arbeitssparenden technischen Fortschritts besonders attraktiv. Da

551

Der Ansatz von Calmfors und Driffill (1988) stellt also eine Synthese aus der korporatistischen Betrachtungsweise und einem Marktansatz dar (Schnabel 1993, S. 260 f.). Flanagan (1999, S. 1154 ff.) diskutiert die Ansätze ausführlich.

552

Auch Traxler (2003, S. 533 ff.) findet keinen Hinweis dafür, daß zentrale Lohnverhandlungen grundsätzlich zu einer besseren Internalisierung fuhren.

553

Lindbeck und Snower (2001, S. 1854) verweisen auf Parallelen zwischen den Internalisierungsargumenten bei zentralen Lohnverhandlungen und den Bemühungen sozialistischer Länder, Güterpreise zentral festzulegen.

554

Vgl. Traxler (2003, S. 531 ff.), Blau und Kahn (1999, S. 1453) sowie OECD (2004, S. 134 f.). Nickeil und Layard (1999, S. 3069) beschreiben die Nivellierung für den Fall der ,zentralisiertesten' Lohnfestsetzung, nämlich für staatlich garantierte Mindestlöhne.

555

Die These, daß die geringe Lohnspreizung schlicht die Qualifikationsunterschiede widerspiegelt, wird in empirischen Untersuchungen verworfen. Die Hauptursache ist in den unterschiedlichen Institutionen zu sehen (Bertola 2004, S. 12).

Kapitel 7: Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene

209

zudem Arbeitsgänge betroffen sind, die relativ leicht zu automatisieren sind, dürfte die Substitution keine großen Probleme verursachen. Der vermehrte Einsatz von Kapitalgütern stärkt wiederum die Produktivität der Höherqualifizierten und kann die dort steigenden Löhne erklären. Schließlich bilden die zunehmenden Qualifikationsanforderungen gemeinsam mit der Humankapitalentwertung eine Eintrittsbarriere, die die Entstehung von Langzeitarbeitslosigkeit begünstigt (Schob und Weimann 2003, S. 39 ff.; Franz 2003, S. 328). Von einem eindeutigen Zusammenhang zwischen Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen und makroökonomischen Variablen wie der Höhe der Arbeitslosigkeit kann aufgrund der bestehenden empirischen Evidenz nicht gesprochen werden (Traxler 2003, S. 535).5S6 Die gemischten Ergebnisse sind zunächst damit zu begründen, daß es sich beim Zentralisierungsgrad um einen empirisch nur begrenzt geeigneten Indikator handelt (Bean 1994, S. 615). Bereits die Umsetzung der gesetzlich formulierten institutionellen Regelungen in testbare Indikatoren bereitet Schwierigkeiten, wie die unterschiedlichen Reihungen verschiedener Autoren belegen.557 Die Effekte einzelner Institutionen sind zudem nur schwer zu isolieren (Fitzenberger und Franz 1994, S. 348; Moene und Wallerstein 1993, S. 445 f.). Es bestehen Wechselwirkungen mit anderen Institutionen, die wiederum denselben Meßproblemen unterliegen. Positive oder negative institutionelle Wirkungen müssen daher im Hinblick auf das Zusammenspiel verschiedener Institutionen untersucht werden (Siebert 1997, S. 39; Belot und van Ours 2000, S. 14 ff.). Das institutionelle Umfeld ist also ebenso zu berücksichtigen wie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die historisch gewachsenen industriellen Beziehungen (Flanagan 1999, S. 1172 f.). So hängt die volkswirtschaftliche Effizienz zentraler Verhandlungssysteme davon ab, ob die Parteien sich konfliktbereit oder kooperativ geben. Die Härte der Verhandlungsziele sowie das Verhandlungsklima bestimmen in hohem Maße die tatsächlich auftretenden Transaktionskosten. Die konkrete Ausgestaltung der Lohnverhandlungen dürfte daher eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen wie der institutionelle Rahmen. So ist es denkbar, daß die Transaktionskostenvorteile zentraler Verhandlungen genutzt werden, um Mindestanforderungen festzulegen, während die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen weiter auf der Unternehmensebene verbleibt. Trotz einer starken Zentralisierung, was die allgemeinen Grundregeln betrifft, besteht dann im Prinzip ein dezentrales System.558 Im Hinblick auf das deutsche Tarifsystem, das dem mittleren Zentralisierungsgrad zugeordnet werden kann, ist zu fragen, warum die durchaus zu beobachtende Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften in den vergangenen Jahren kaum positive Veränderun-

556

Calmfors (2001, S. 19) faßt zusammen, daß in etwa die Hälfte der Untersuchungen die Hump-shape-Hypothese stützt, während die andere Hälfte für die Korporatismus-These spricht. Siehe ebenfalls die Überblicksartikel von Flanagan (1999) sowie der OECD (2004, Kapitel 3.).

557

Schon die Definition des Zentralisierungsgrades ist mit Problemen behaftet. Soskice (1990, S. 37 ff.) weist daraufhin, daß geringfügige Veränderungen der Klassifizierungen zu vollkommen anderen Ergebnissen fuhren.

558

Dies gilt bspw. für das dänische Tarifsystem - vgl. Wolfgang Zank: Ein stiller Konsens, in: Die Zeit, Nr. 47/1998, S. 32.

Martin Dietz

210

gen mit sich gebracht hat. Die Antwort ist wohl darin zu sehen, daß eine Zurückhaltung auf hohem Lohnniveau bei einem starken betrieblichen Kostendruck und den vielfältigen Ausweichmöglichkeiten, die den Unternehmen zur Verfügung stehen, nur bedingt Erfolg verspricht. Die Unternehmen orientieren sich zudem nicht allein an den Lohnsteigerungsraten, sondern an der Entwicklung der gesamten Lohnkosten, die in Deutschland zu einem großen Teil durch die steigenden Beitragssätze der Sozialversicherungen bestimmt werden. Weiterhin sind die durch formale Institutionen begründeten Lohnrigiditäten (Mindestlohncharakter der Tariflöhne) sowie die Beschränkungen, die den Unternehmen bei der Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen auferlegt werden (Bestandsschutz sowie betriebliche Mitbestimmung), entscheidende Gründe für die mangelnde Attraktivität des Faktors Arbeit.559 Die Lohnsteigerungsrate ist also nur ein Aspekt - die genannten Faktoren müssen gemeinsam betrachtet werden, wenn eine Aussage über den Zusammenhang von Arbeitsmarktordnung und Arbeitsmarktergebnis getroffen werden soll. 7.1.2. Lohnverhandlungen bei heterogenen Unternehmen Bei der Beurteilung von Lohnverhandlungssystemen sollte beachtet werden, daß die betroffenen Unternehmen nicht homogen sind. In zentral ausgehandelten Tarifverträgen wird jedoch eine Aufteilung der Rente zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten vorgenommen, die sich an der Situation eines repräsentativen Unternehmens orientiert.560 Damit entfaltet das Ergebnis unterschiedliche Wirkungen auf die heterogenen Unternehmen. So können produktive Unternehmen in einem beschützten Markt durchaus von einem zentralisierten und unflexiblen Arbeitsmarktsystem profitieren. Starre Institutionen und vor allem hohe Löhne schwächen die Position von relativ arbeitsintensiv produzierenden Konkurrenten und stellen für neue Unternehmen Markteintrittsbarrieren dar (Haucap et al. 2001).561 In letzteren sind kaum Arbeitnehmer nahe der Rentengrenze beschäftigt, durch die eine natürliche Fluktuation erreicht wird. Hohe Fluktuationskosten fallen daher besonders stark ins Gewicht. Auf diese Weise wirken verkrustete Arbeitsmarktstrukturen auf den Gütermarkt zurück. Die Heterogenität der Unternehmen in Bezug auf die Gewinnsituation besteht nicht nur auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, sondern kommt auch innerhalb der Branchen zum Tragen. In jeder Branche sind in jeder konjunkturellen Phase Unternehmen zu finden, die eine hohe Rendite erwirtschaften, solche, die im Durchschnitt liegen und solche, die um das Überleben kämpfen. 562 In den einzelnen Phasen ändert sich lediglich die Verteilung der mit gutem, durchschnittlichem oder schlechtem Ergebnis operierenden Unternehmen (Schohl 1999, S. 217 ff.). Die Unternehmen weisen damit einen unter559 560

561 562

Siehe die Diskussion in den Abschnitten 7.2. bis 7.4. Beim repräsentativen Unternehmen muß es sich nicht unbedingt um das Durchschnittsunternehmen handeln, da Gewerkschaften bemüht sein werden, Abschlüsse in ertragreichen Regionen oder Branchen als Referenzpunkt für andere Tarifbereiche zu implementieren. Die Möglichkeit, zentrale Lohnabschlüsse als Markteintrittsbarriere zu nutzen, wurde zuerst von Williamson (1968) anhand des Pennington Case beschrieben. Daher kann die Forderung nach einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik genaugenommen nur auf der Unternehmensebene erfüllt werden.

Kapitel 7: Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene

211

schiedlich hohen Spielraum im Hinblick auf die Lohnsetzung auf, und zwar auch im Aufschwung, in dem Gewerkschaften dazu tendieren, die verbesserte allgemeine Wirtschaftslage in hohe Lohnabschlüsse umzusetzen. Während gewinnträchtige Unternehmen durch die an Durchschnittswerten orientierten Lohnabschlüsse noch Spielraum zur Lohndifferenzierung nach oben besitzen, können die Lohnabschlüsse für unterdurchschnittlich am Markt operierende Unternehmen durchaus zu einem Problem werden, das sie im Wettbewerb weiter unter Druck setzt. 563 Eine betriebliche Lohnbildung kann der Heterogenität der Unternehmen naturgemäß besser gerecht werden, so daß auch schlechter plazierte Unternehmen nicht durch zentral festgelegte Löhne weiter unter Druck geraten und frühzeitig aus dem Markt ausscheiden müssen. Da Beschäftigte in schlecht laufenden Unternehmen zu Gehaltseinbußen bereit sind, wenn dadurch ihr Arbeitsplatz erhalten bleibt, befindet sich eine an der Geschäftslage orientierte, dezentrale Lohnfindung auch im Einklang mit den Reziprozitätsnormen in den Arbeitsbeziehungen. Von Gewerkschaften wird eine solche Auslegung des Günstigkeitsprinzips, die mit einer dezentraleren Ausgestaltung des Arbeitsmarktes einhergehen könnte 564 , generell als Türöffner für die Ausbeutung der Arbeitnehmer durch die Unternehmen abgelehnt. 565 Es sollte jedoch deutlich geworden sein, daß Unternehmen eben nicht an einer Hire-and-fire-Kultur interessiert sind, sondern auch in Krisenzeiten Beschäftigungssicherung betreiben, wenn das Arbeitsmarktsystem ein solches Vorgehen in betriebswirtschaftlich vertretbarer Form zuläßt. In einem dezentralen Lohnverhandlungssystem ist es den produktiveren Unternehmen letztlich freigestellt, höhere Löhne zu zahlen. Diese können als Anerkennung der Leistung der Arbeitnehmer angesehen werden und sind gleichsam geeignet, qualifizierte und motivierte Arbeitnehmer aus anderen Unternehmen anzulocken. Damit würde der Erfolg auf dem Gütermarkt auch auf dem Arbeitsmarkt zu einem Wettbewerbsvorteil werden. 566

563

Hier wird deutlich, daß eine makroökonomische Betrachtung die Marktprozesse nicht ausreichend berücksichtigt. Dies gilt dann auch für eine an makroökonomischen Größen orientierte Lohnpolitik.

564

Das Günstigkeitsprinzip nach §4, Abs. 3 TVG besagt, daß Abweichungen vom Tarifvertrag nur dann möglich sind, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger sind. In der Rechtsprechung wird die Günstigkeit stets als Abweichen von den tariflichen Regelungen nach oben ausgelegt. Zu einer Diskussion siehe Dichmann (1992, S. 185 ff.).

565

Die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, Heide Pfarr (2002, S. 4 f.), führt aus: „Die rein subjektive Interessenlagen der einzelnen Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz können und dürfen nicht maßgebend sein. Ihre existentielle Angewiesenheit auf den Erwerb und Erhalt eines Arbeitsplatzes ist ja gerade der Grund für ihre arbeitsvertragliche Verhandlungsschwäche. [...] Käme es auf die Sicht der Beschäftigten an, würde das Bestandsschutzinteresse alle anderen Bewertungskriterien verdrängen. Ein drohender Arbeitsplatzverlust könnte für die unmittelbar Betroffenen fast jedes Zugeständnis gerechtfertigt erscheinen lassen." Dieser Aspekt gilt zwar unabhängig vom Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen. In Abschnitt 7.1.4. wird jedoch gezeigt, daß die Löhne bei dezentralen Verhandlungen tendenziell niedriger ausfallen und damit zu einer positiven Beschäftigungsentwicklung beitragen können.

566

212

Martin Dietz

Vereinzelt wird behauptet, daß durch zentrale Lohnverhandlungen ausgelöste Lohnsteigerungen sogar volkswirtschaftlich w ü n s c h e n s w e r t seien, da hohe Löhne die Untern e h m e n zu technischem Fortschritt animierten und damit den Prozeß schöpferischer Zerstörung vorantreiben würden. 5 6 7 H o h e Lohnabschlüsse wären dann als M o t o r des technischen Fortschritts anzusehen (,Produktivitätspeitsche'). D i e s e m A r g u m e n t ist entgegenzuhalten, daß Branchen mit starkem Wettbewerbsdruck schon aufgrund der Gütermarktkonkurrenz zu Effizienz u n d innovativem Verhalten g e z w u n g e n sind, und es hierzu keiner zusätzlichen, künstlichen M e c h a n i s m e n bedarf. 5 6 8 Weiterhin ist zu beachten, daß es sich bei Volkswirtschaften nicht u m abgeschlossene Systeme handelt. W e n n sich ein U n t e r n e h m e n im internationalen W e t t b e w e r b mit Anbietern befindet, die zu geringeren Kosten auf ähnlich gut ausgebildetes Personal zurückgreifen können, entsteht zunächst ein Wettbewerbsnachteil. Als M a ß n a h m e n stehen den U n t e r n e h m e n neben verstärkten B e m ü h u n g e n , im Inland technischen Fortschritt zu etablieren, auch die A b w a n d e r u n g in Billiglohnländer oder die Auslagerung bestimmter Leistungen im Produktionsprozeß als Alternativen zur V e r f ü g u n g . W e r d e n die beiden letzten Möglichkeiten ergriffen, treiben die gestiegenen L ö h n e j e d o c h nicht den technischen Fortschritt voran, sondern schlagen über eine sinkende N a c h f r a g e nach Arbeit voll auf den Arbeitsmarkt durch. 7.1.3.

Tarifentlohnung und E f f e k t i v e n t l o h n u n g

Die Frage, wie die zentrale E b e n e der Tarifverhandlungen und die Ebene der betrieblichen L o h n f m d u n g (Effektiventlohnung) z u s a m m e n h ä n g e n , kann w e d e r

empirisch

noch theoretisch als beantwortet gelten. Dies trifft sowohl für die Entwicklung der L o h n s p a n n e als A u s m a ß der übertariflichen Entlohnung als auch f ü r die Lohndrift als die Veränderung der Lohnspanne in der Zeit zu {Schnabel

1995, S. 28; Meyer

1995,

S. 59). Die Markterklärung für die Entwicklung der L o h n s p a n n e zielt darauf ab, daß bei Vollbeschäftigung höhere Löhne gezahlt werden müssen, u m A r b e i t n e h m e r aus besteh e n d e n Arbeitsverhältnissen zu lösen. U m g e k e h r t sollte eine steigende Arbeitslosenquote die Lohnspanne s c h r u m p f e n lassen. Allerdings ist die empirische Evidenz für diese Theorie gemischt. So spricht das Einhergehen hoher Arbeitslosigkeit mit einer stabilen übertariflichen Entlohnung gegen den Marktansatz {Pull 1996, S. 608). 569 Z u d e m w u r d e in Abschnitt 5.4.2.2.(5) herausgearbeitet, daß die interne Lohnstruktur relativ unabhängig von den Marktkräften ist. D a g e g e n haben f o r m a l e Institutionen wie Kündigungsschutzregeln oder Transferleistungen ebenso wie die H ö h e des U n t e r n e h m e n s g e w i n n e s Einfluß auf den Effektivlohn. 5 7 0

567

Vgl. Alfred Kleinknecht. Löhne rauf für den Fortschritt, in: Die Zeit, Nr. 47/1998, S. 29.

568

Auch bei geringem Wettbewerb impliziert die Gewinnmaximierung den Zwang zu effizienter Produktion.

569

Als Erklärung mag dienen, daß die Arbeitsmarktsituation bereits in den Tariflohn eingeht {Schlicht 1992, S. 446 f.).

570

Ein positiver Zusammenhang zwischen Lohnspanne und dem Unternehmensgewinn erklärt somit die prozyklische Lohndrift {Schlicht 1992, S. 446 f.).

Kapitel 7: Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene

213

Für die Jahre 1973 bis 1993 findet Schnabel (1997a) einen positiven Zusammenhang zwischen Tarif- und Effektivlöhnen. Allerdings steigt der Effektivlohn nicht eins zu eins mit dem Tariflohn an. Vielmehr fallt die Lohnspanne um so geringer aus, je höher das Tariflohnniveau ist (Schnabel 1994, S. 19 f.). Aufgrund einer deutlich negativen Korrelation mit den Tariflohnzuwachsraten kann die Lohnspanne als Korrekturmechanismus der Tarifabschlüsse angesehen werden (Franz 2003, S. 299). Die Abnahme von Lohnspanne und Lohndrift läßt darauf schließen, daß die Lohnbildung auf Verbandsebene den Unternehmen bei gegebener Wirtschaftslage immer weniger Spielraum zur eigenen Ausgestaltung der Lohnstruktur bietet. Dieser Effekt wird durch die Zunahme der Lohnschere - der Differenz zwischen Brutto- und Nettolohnsumme - verstärkt. Da ein Teil der Jobrente - sei es durch Steuern, Sozialversicherungen oder durch die Tariflöhne - bereits zentral verteilt wird, kann die Motivationsfunktion des Lohnes in relationalen Beziehungen nur noch begrenzt genutzt werden.571 Diese Aspekte sollen im folgenden aufgegriffen werden, indem untersucht wird, welche Effekte zentrale Lohnverhandlungen auf die Regelmechanismen in den Arbeitsbeziehungen haben und welche Rückwirkungen sich wiederum auf den Arbeitsmarkt ergeben. 7.1.4. Motivationseffekte und zentrale Lohnverhandlungen Diese Fragen sollen nun anhand eines erweiterten Right-to-Manage-Modells diskutiert werden. Auf der zentralen Ebene wird die Lohnhöhe in einem kooperativen Spiel von den Verbänden festgelegt. Der Tariflohn bildet einen Mindestlohn, der für den gesamten Arbeitsmarkt bindend sein soll. Auf der zweiten Stufe schließt sich die Findung des Effektivlohnes auf der Unternehmensebene an. Erst nach Abschluß des Arbeitsvertrages bestimmt der Arbeitnehmer sein Anstrengungsniveau. Als unangemessen empfundene Löhne werden im Rahmen der Möglichkeiten durch Arbeitsverweigerung bestraft, während faire Angebote mit positiven Leistungen beantwortet werden. 7.1.4.1.

Mindestlöhne als Referenzpunkte

Im Hinblick auf die Festlegung des Leistungsniveaus stellt sich die Frage, an welchem Lohnsatz sich die Arbeitnehmer orientieren. Die Arbeitsmarktexperimente in Abschnitt 5. machten deutlich, daß der Gleichgewichtslohn auf freien Märkten einen solchen Referenzpunkt darstellt. Die Unternehmen müssen einen Lohnsatz zahlen, der den (aus übergeordneter Perspektive) markträumenden Lohn übertrifft, um die positive Lohn-Leistungs-Beziehung zu aktivieren. Akerlof (1982, S. 559) führt aus: „In gift exchange the usual norm is that gifts should be more than the minimum required to keep the other party in the labor relationship." Die Effektiventlohnung erklärt sich also aus ihrer Motivationswirkung. Beim Geschenkaustausch innerhalb der Arbeitsbeziehung spielt neben der Lohnhöhe auch die hinter der Zahlung vermutete Intention eine Rolle. Reziprozität wird laut Rabin 571

Eine aufgehende Lohnschere kann so viele Mittel binden, daß Arbeitslosigkeit aus Kapitalmangel entsteht. Das Institut der deutschen Wirtschaft gibt an, daß die Ausgaben für Sozialleistungen im Jahr 2000 bereits 32 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betrugen und damit anderthalbmal so hoch lagen wie die Anlageinvestitionen (iwd 2001, S. 1).

214

Martin Dietz

(1998, S. 25) vor allem dann zu erreichen sein, wenn es sich um Handlungen handelt, die im Kompetenzbereich der Parteien liegen, über die also nicht von Dritten entschieden wurde: „When motivated by reciprocal altruism, for instance, people differentiate between those who take a generous action by choice and those who are forced to do so." Arbeitnehmer sehen Mindestlöhne laut Brandts und Charness (2003, S. 7) als erzwungene Löhne: „In particular, a minimum wage regime may be seen as forcing employers to be generous beyond what they otherwise would be."572 Dagegen hätte derselbe Lohn in einem freien Markt möglicherweise sogar als großzügig gegolten. Da der Mindestlohn in der Regel oberhalb des markträumenden Lohnsatzes liegt, wird tendenziell die Nachfrage nach Arbeit sinken. Es kommt zu Mindestlohnarbeitslosigkeit. Zusätzlich verändert sich durch die Einfuhrung exogener Lohnuntergrenzen die subjektive Auffassung darüber, welche Löhne als großzügig anzusehen sind {Brandts und Charness 2003, S. 25).573 Nun übernimmt der Tariflohn die Rolle des Marktlohnes als Referenzpunkt. Die Zahlung des Tariflohnes gilt als selbstverständlich und muß daher überboten werden, um positive Reziprozität auszulösen. Zunächst kann vereinfachend davon ausgegangen werden, daß die Unternehmen die Macht haben, sich als Lohnsetzer zu betätigen. Der Effizienzlohn wirkt dann als Aufschlag auf die zentrale Lohnvorgabe. 574 Greift man auf die s-fÖrmige Lohn-LeistungsBeziehung aus Abschnitt 5.4.2.1. zurück, so wird die Einführung eines Tariflohnes WTL oberhalb des Gleichgewichtslohnes WGG dazu fuhren, daß sich die Lohn-LeistungsKurve nach rechts verschiebt (Abbildung 16) Abbildung 16: Mindestlöhne und die positive Lohn-Leistungs-Beziehung

572 573 574

Mindest- und Tariflöhne werden hier in ihrer Wirkung als identisch betrachtet. Eine Anhebung des Tariflohnes wird auch deswegen als Signal angesehen, die Effektivlöhne anzuheben, weil ansonsten eine Schlechterstellung der Beschäftigten in der allgemeinen Lohnhierarchie eintreten würde (Schlicht 1992, S. 444 f.). Alternativ besteht die Möglichkeit, auf Untemehmensebene eine zweite Lohnverhandlung zu modellieren. Dann kommt die Marktmacht der Insider ein weiteres Mal zum Tragen. In diesem Fall verschwimmen die Grenzen zwischen Effizienzlohnargumenten und der Insider-Outsider-Theorie.

Kapitel 7: Wechselwirkungen zwischen zentraler und dezentraler Ebene

215

Die Einführung eines Mindestlohnes geht also mit einer Erhöhung des Effizienzlohnes von wo*, wenn der Marktlohn als Referenzpunkt wirkt, auf wi* einher. Eine gegebene Leistung (