Die ‚Alleinherrschaft‘ der russischen Zaren in der ‚Zeit der Wirren‘ in transkultureller Perspektive [1 ed.] 9783737012416, 9783847112419


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Die ‚Alleinherrschaft‘ der russischen Zaren in der ‚Zeit der Wirren‘ in transkultureller Perspektive [1 ed.]
 9783737012416, 9783847112419

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Macht und Herrschaft Schriftenreihe des SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“

Band 10

Herausgegeben von Matthias Becher, Elke Brüggen und Stephan Conermann

Diana Ordubadi / Dittmar Dahlmann (Hg.)

Die ‚Alleinherrschaft‘ der russischen Zaren in der ‚Zeit der Wirren‘ in transkultureller Perspektive

Mit 3 Abbildungen

V&R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Auswahl auf den Allrussischen Thron des Zaren und Großfürsten Michail Fedorovicˇ, St. Petersburg 1913, in: Rossijskaja Gosudarstvennaja biblioteka (Russische Staatsbibliothek in Moskau), otdel IZO. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2511-0004 ISBN 978-3-7370-1241-6

Inhalt

Vorwort zur Schriftenreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autokratische Herrschaftsmodelle und ihre Machtinstrumente Christoph Witzenrath Versklavung, Befreiung und Legitimität im Moskauer Reich: Avraamij Palicyn und die ‚Zeit der Wirren‘ . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Werner Autocracy and Consensus: Aspects of Ho¯jo¯ Rule in Japan’s First Shogunate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Herrscherwahlverfahren, Herrschaftseliten und Machtübergänge Diana Ordubadi Das Berufungsverfahren von Michail Romanov im Vergleich zur Wahl von Boris Godunov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Theresa Wilke Erkaufte Herrschaft. Das politische Kräfteverhältnis zur Zeit der Utpala-Dynastie (855–939) in Kaschmir . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Shigekazu Kondo The “Horse-Race” for the Throne: Court, Shogunate, and Imperial Succession in Early Medieval Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

6

Inhalt

Moskau als drittes Rom? Die Bedeutung der religiösen Ideen für ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ David Khunchukashvili Die heiligen Städte als eschatologische Legitimationssymbole der Zarenmacht unter den Rjurikiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Konrad Vössing Konstantinopel – das Neue Rom, die heilige Stadt Konstantins? . . . . . . 159 Ekaterina Makhotina Klosterhaft als Sozialdisziplinierung? Russische Klöster der Frühen Neuzeit als Räume des Strafens, der sozialen Fürsorge und der ‚Korrektur der Seele‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Machtbehauptungen in einer politisch-sozialen Krisensituation Daniela Mathuber Die Vorbildwirkung des ersten falschen Dmitrij für samozvanstvo und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Dittmar Dahlmann Der ‚Falsche Dmitrij‘ (Pseudodemetrius) in der Publizistik und Literatur West- und Mitteleuropas vom frühen 17. bis ins 20. Jahrhundert oder Russland als der „Boden des Despotismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Mechthild Albert / Lena Ringen Jugendliche Herrscher als Spielball der Macht – Zum Verhältnis von minderjährigen Thronfolgern und ihren Ratgebern im Kastilien Alfons’ XI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Die Rolle der Frauen Diana Ordubadi Die Hochzeit der ersten gekrönten russischen Zarin Marina Mniszech und die Rolle der Frauen in den Machtverhältnissen Moskowiens . . . . . . . 327 Linda Dohmen „Auf Vermittlung unserer geliebten Gemahlin“. Königinnen als Intervenientinnen in ostfränkischen Herrscherurkunden (843–911/918)

. 357

Liste der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Vorwort zur Schriftenreihe

Im Bonner Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ werden die beiden namengebenden Vergesellschaftungsphänomene vergleichend untersucht. Sie prägen das menschliche Zusammenleben in allen Epochen und Räumen und stellen damit einen grundlegenden Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften dar. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des disziplinär breit angelegten Forschungsverbundes, die Kompetenzen der beteiligten Fächer in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu bündeln und einen transkulturellen Ansatz zum Verständnis von Macht und Herrschaft zu erarbeiten. Hierbei kann der SFB 1167 auf Fallbeispiele aus unterschiedlichsten Regionen zurückgreifen, die es erlauben, den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu schärfen. Die Reihe „Macht und Herrschaft“ enthält Beiträge, die den interdisziplinären Zugriff auf das Thema und die transkulturelle Perspektivierung abbilden. Die Arbeit des Bonner Forschungsverbundes ist von vier Zugängen zu Phänomenen von Macht und Herrschaft geprägt, die auch den Projektbereichen des SFB 1167 zugrunde liegen: Die Themen der Spannungsfelder „Konflikt und Konsens“, „Personalität und Transpersonalität“, „Zentrum und Peripherie“ sowie „Kritik und Idealisierung“ stehen im Zentrum zahlreicher internationaler Tagungen und Workshops, die dem Dialog mit ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland dienen. Dieser wichtige Austausch, dessen Erträge in der vorliegenden Reihe nachzulesen sind, wäre ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und das kontinuierliche Engagement der Universität Bonn zur Bereitstellung der notwendigen Forschungsinfrastruktur nicht möglich, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Matthias Becher – Elke Brüggen – Stephan Conermann

Einleitung

Als Projektband des Teilprojekts „Samoderzˇcy i edinoderzˇavie – Die Begründung des zentralistischen Alleinherrschaftsanspruches der russischen Zaren in der ‚Zeit der Wirren‘“ im Rahmen des Bonner Sonderforschungsbereichs SFB 1167 „Macht und Herrschaft“ setzt dieses Buch die Forschungen aus dem Bereich der Osteuropäischen Geschichte in einen transkulturellen und interdisziplinären Kontext. Die Publikation ist so strukturiert, dass zu allen grundlegenden Aspekten der Projektforschung ein Pendant aus anderen SFB-Teilprojekten geboten wird. Ausgehend vom moskowitischen Beispiel werden auf diese Weise die Analogien und Unterschiede beim Umgang mit ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ grenzund epochenübergreifend aufgezeigt. Als Grundlage des interdisziplinären Diskurses widmet sich das erste Kapitel dem Phänomen der autokratischen Herrschaftsmodelle und ihrer Machtinstrumente. Bisher wurde das spezifische Wesen der russischen Selbstherrschaft nur sporadisch in der internationalen Forschung und in einzelnen Aspekten lediglich aus rein nationaler russischer Sicht untersucht. Nun werden die Interpretationen des griechischen Modells der ‚Autokratie‘ im Kontext des moskowitischen und japanischen Kulturkreises in ihrer jeweiligen praktischen Umsetzung beispielhaft angeschaut. Im zweiten Kapitel „Herrscherwahlverfahren, Herrschaftseliten und Machtübergänge“ werden der Einfluss der Eliten auf die Thronbesetzungen sowie die Formen der Herrschaftsausübung an exemplarischen Beispielen aus Moskowien, Kaschmir und Japan multiperspektivisch untersucht. Der dritte Abschnitt zur Bedeutung der religiösen Ideen für ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ stellt die Vorstellung über ‚Moskau als drittes Rom‘ in den Fokus und setzt sich kritisch mit diesem Narrativ des 19. Jahrhunderts auseinander. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Bedeutung der ‚heiligen Städte‘ als Legitimationssymbole der Zarenmacht gewidmet. Die Darstellungen zur Idee über das byzantinische Erbe der Moskauer Selbstherrscher werden durch die Analyse aus der Alten Geschichte zu Kaiser Konstantin und seinem ‚Zweiten Rom‘ vertieft. Erweitert wird der Blick

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Einleitung

auf die Rolle der Kirche als Staatsinstrument durch den Beitrag über die russischen Klöster des 17. Jahrhunderts als Räume der Sozialdisziplinierung. Um die Machtbehauptungen in einer politisch-sozialen Krisensituation geht es anschließend im vierten Kapitel, wobei das sog. Phänomen der ‚Selbsternannten‘ (russ.: samozvanstvo) in Moskowien in den Fokus genommen wird. Das Verhältnis von jungen, ehrgeizigen Thronanwärtern zu ihren einflussreichen Ratgebern oder auch Konkurrenten werden am russischen und kastilischen Beispiel erläutert. Mythen und Legenden über die Machtinhaber, die sich in wirtschaftlich und politisch schweren Zeiten besonders intensiv verbreiten, werden auf ihre Wirksamkeit und ihre Bedeutung für die Wahrnehmung sowie die öffentliche Legitimitätsanerkennung der jeweiligen Herrscher untersucht. Das fünfte Kapitel des Bandes behandelt schließlich die Formen der weiblichen Macht und die Möglichkeiten der Teilhabe von Frauen an der Herrschaft in der Vormoderne. Von russischer Seite wird die Hochzeit der ersten gekrönten russischen Zarin Marina Mniszech analysiert, um die Rolle der Frauen in den Machtverhältnissen Moskowiens zu illustrieren, wobei sie vor allem als Legitimationsinstrumente für ihre männlichen Verwandten benutzt, aber nicht als selbstbewusste politische Objekte der russischen Politik wahrgenommen wurden. Der Artikel geht auf die Tragik von Marinas Schicksal ein, indem ihr ‚westlich liberal‘ geprägtes Verhalten den klaren patriarchalischen russischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts von einer ‚guten‘ und einer ‚schlechten‘ Frau entgegengesetzt wird. Fortgesetzt wird die Auseinandersetzung mit der Stellung der Frauen in Herrschaftssystemen mit einem Beitrag aus der Mediävistik über die Königinnen als Intervenientinnen in ostfränkischen Herrscherurkunden (843–918). Genauer erläutert werden der rechtliche Status einer königlichen Gemahlin sowie ihre Darstellung in der karolingischen Geschichtsschreibung im Kontext der allgemeinen Sakralisierung der königlichen Herrschaft. Für diesen spannenden und anregenden Austausch und die sich daraus entwickelnden Diskussionen möchten wir allen Autorinnen und Autoren aus den Fachbereichen der Geschichtswissenschaft, Romanistik, Japanologie und Tibetologie ganz herzlich danken. Unser besonderer Dank gilt darüber hinaus dem SFB 1167 an der Universität Bonn allgemein sowie seinem Sprecher Matthias Becher zusammen mit den weiteren Herausgebenden der vorliegenden Publikationsreihe Elke Brüggen und Stephan Conermann, die solche interdisziplinären Kooperationsprojekte wie dieses möglich machen. Ganz herzlich zu danken haben wir außerdem Viktoriya Shavlokhova, der studentischen Mitarbeiterin des Teilprojektes, für all ihre organisatorische und redaktionelle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Bandes. Diana Ordubadi und Dittmar Dahlmann

Autokratische Herrschaftsmodelle und ihre Machtinstrumente

Christoph Witzenrath

Versklavung, Befreiung und Legitimität im Moskauer Reich: Avraamij Palicyn und die ‚Zeit der Wirren‘

Abstract The cellarer Palitsyn disparaged conditions in the Time of Troubles on the backdrop of experiences akin to the concept of counter slaving zone, a form of the slaving and no-slaving zone specific to Muscovy. In the latter, political organization and religious rules restrict enslavement of certain in-groups, exerting demand in neighboring no-slaving zones by coercion or sale. In Muscovy, a physical and symbolical counter slaving zone developed since the middle of the sixteenth century. It was based on the religious obligation of the tsar and subjects for ransom, military liberation of captives and to secure subjects from enslavement for sale to external, heterodox people. Palitsyn criticized coercive appropriation of labor, often in collaboration with or directly by local actors and the depopulation of the counter slaving zone which had collapsed during the Smuta. Autocracy, which may be translated originally as sovereignty, appeared as proven counter measure since the fragmented power bases destroyed administration on which the counter slaving zone was based.

Die Bewertung der südlichen und östlichen Grenzgebiete des Moskauer Reiches hat sich in neueren Studien stark verändert. Abgesehen von den Werken Solov’evs und einiger Aufsätze über diese speziellen Regionen konzentrierte sich die Aufmerksamkeit vor dieser Neubewertung auf die zentralen Gebiete und die Hauptstadt.1 Inzwischen ist eine wachsende Zahl von Studien zu diesen Gebieten erschienen, und es herrscht die Ansicht vor, wie Brian Boeck zusammenfasst, dass der Staat von den Grenzen her wuchs.2 Sogar grundlegende soziale Prozesse 1 Vgl. Marc Bassin, Turner, Solov’ev, and the „Frontier Hypothesis“. The Nationalist Signification of Open Spaces, in: The Journal of Modern History 65 (1993), 473–511. Solov’ev betrachtete Russland von einer nationalistischen Warte aus als organischen europäischen Staat, der seine durch Umweltfaktoren determinierten Grenzen immer schon gefunden hatte; den Nomaden kam eine durchweg negative Rolle in Russlands Entwicklung zu. 2 Vgl. Brian J. Boeck, Imperial Boundaries. Cossack communities and empire-building in the age of Peter the Great, Cambridge, UK/New York 2009; Nancy Shields Kollmann, The Russian Empire 1450–1801, Oxford 2017; Christoph Witzenrath, Cossacks and the Russian Empire, 1598–1725. Manipulation, rebellion and expansion into Siberia (Routledge studies in the history of Russia and Eastern Europe 8), London/New York 2007.

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Christoph Witzenrath

wie die Entstehung der Leibeigenschaft und der fortgesetzte relative Rückstand im Urbanisierungsgrad, wie man ihn im Vergleich mit den allerdings ungleich mehr Überschüsse produzierenden Regionen in West- und Mitteleuropa, am Mittelmeer und im Nahen Osten ausmachen kann, sind längst mit dem Ausbau dieser Grenzgebiete in Beziehung gesetzt worden.3 Angesichts dieser grundlegenden Neueinschätzungen ist jedoch ein Bereich nahezu vollständig ausgespart geblieben. Es ist, als sei die politische Kultur unberührt geblieben von der wachsenden Bedeutung der Grenzregionen. Die Legitimität der Zaren wurzelte, glaubt man selbst jüngsten Publikationen, denen solides Fachwissen unterstellt werden kann, einzig in ihrer dynastischen Abkunft.4 Dieser Artikel soll zur Klärung dieser Frage einen wichtigen Mosaikstein beitragen, indem einer der zentralen Texte der ‚Zeit der Wirren‘ daraufhin befragt wird, welche Rolle die südliche Grenze in der Wahrnehmung des Schriftstellers spielte. In der Analyse der russischen Literatur des frühen siebzehnten Jahrhunderts herrscht trotz der kritischen Neubewertungen der jüngsten Zeit vielfach noch ein direkter oder indirekter Eurozentrismus vor. Die Veränderungen der historischen Interpretationen lassen sich anhand der Bewertungen der ‚Erzählung‘ Avraamij Palicyns verfolgen. Noch Günther Stökl ordnete diese Schrift dem „erstarrten altmoskauer Lebens- und Denkstil“ zu, der „in seinen Grundvoraussetzungen aufgelockert werden“ musste, bevor die Europäisierung Wirkung zeigen konnte.5 Er erkannte darin primär einen pathetischen Lobgesang auf die wiederhergestellte alte Ordnung, frei von jedem Zweifel an deren idealer Vollkommenheit.6 Anthologien und Überblicke sehen das siebzehnte Jahrhundert und die ersten Dekaden des achtzehnten als letztes Kapitel der frühen russischen Literatur. Lindsey Hughes bemerkte, dass Historiker, die Russland am europäischen Maß messen, generell die geringeren Ergebnisse der Moskauer Buchkultur mit einem Mangel an Gelehrsamkeit verbinden. Sie begründet diese Differenz mit einem Mangel an höherer Bildung und Elementarschulen. Dem Hinweis, dass selbst Isaac Newton, ein frommer Christ, sich mit Fragen der Astrologie und Alchemie beschäftigte und generell im Europa der damaligen Zeit der Masse der Bevölkerung die Welt nicht etwa durch die Gesetze der Physik, sondern durch das Eingreifen der göttlichen Vorsehung erklärt wurde, kann man 3 Vgl. Chester S. L. Dunning, Russia’s First Civil War. The Time of Troubles and the founding of the Romanov dynasty, University Park PA 2001, 76–77; Michael Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier. The making of a colonial empire, 1500–1800, Bloomington, IN 2002; Sergej M. Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejsˇich vremen, Moskva 1959–66 [1851–76], 2:648. 4 Vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, 3. Aufl., München 2016, 288; Dunning 2001, 116–121. 5 Günther Stökl, Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart (Kröners Taschenausgabe 244), 5. Aufl., Stuttgart 1990, 325. 6 Vgl. ebd., 326.

Versklavung, Befreiung und Legitimität im Moskauer Reich

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sich nicht verschließen.7 Um eine angemessenere Einordnung der Moskauer Periode bemüht, bleibt diese Einlassung dennoch unspezifisch und an europäischen Maßstäben orientiert sowohl hinsichtlich Palicyns Buch als auch für die Moskauer Literatur insgesamt. Selbst die Zugeständnisse an Palicyn, er stelle in der historischen Erzählung lebenswirkliche Ereignisse in den Mittelpunkt und zeige Interesse an Persönlichkeiten,8 sind mangels anderer Maßstäbe an europäischen Normen orientiert. Stefan Plaggenborg hat kürzlich eine wegweisende Neuinterpretation wichtiger Aspekte der altrussischen Literatur vorgelegt. Seine Beobachtung, dass im Zentrum der von ihm so genannten Pravda-Kultur die Fügsamkeit der Bevölkerung stand, ist zutreffend. Fügsamkeit versteht er im Unterschied zu auf Zwang beruhendem Gehorsam als aktives Einfügen in die Ordnung. Sie beruht ihm zufolge auf der Anerkennung des Sakralen, die von vornherein Unterordnung bedeute: „[Hingegen n]icht zwangsläufig Unterwerfung, da subjektive Rechte und Freiheiten durch ‚Glaube‘ nicht in Abrede gestellt sein müssen. An der Unterordnung […] kam in Altrussland niemand vorbei. Daher war das Bejahen ein prinzipiell unproblematischer Vorgang. Macht konnte es erzwingen, der Glaube fordern, Würdenträger der Kirche verlangen, Intellektuelle avant la lettre legitimieren und die Herrschaft veralltäglichen. Bei dieser Aufzählung könnte man es bewenden lassen […]. Das würde aber dem sozialen Aspekt einer von pravda geformten Gesellschaft nicht gerecht. Sie lebte zusätzlich von der Einsicht in die Gerechtigkeit der Ordnung selbst, und zwar trotz allen Elends, schlechter Herrscher und tagtäglich fühlbarer Ungerechtigkeit […]“.9 Im Weiteren unternimmt Plaggenborg eine wichtige Unterscheidung: Pravda konnte Gesellschaftsbildung verhindern, und zwar ausdrücklich solche in einem europäischen Sinn. Sie unterband jedoch weder den Einspruch gegen die Ordnung und das Machtsystem noch den Konflikt. Der Einspruch jedoch richte sich nur gegen die jeweilige Störung, die auch vom Herrscher ausgehen konnte. „Die Widerrede argumentierte kasuistisch, nicht systematisch. […] Das Nichthinterfragen der gegebenen politischen Herrschaft“ steht im „Zusammenhang eines solchen Denkens [in Kategorien der pravda] als Gesamtzusammenhang einer Kultur“.10 Eine wichtige Frage, die sich an das Quellenmaterial aus der ‚Zeit der Wirren‘ richtet, ist daher, ob tatsächlich keine systematisierten Argumente für 7 Vgl. Lindsey Hughes, Cultural and Intellectual Life, in: Maureen Perrie (ed.), Cambridge History of Russia, 3 Bde., Bd. 1, From Early Rus’ to 1689, Cambridge 2006, 640–662; Paul Bushkovitch, Cultural Change among the Russian Boyars 1650–1680, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 56 (2000), 89–111. 8 Vgl. Hughes 2006, 656. 9 Stefan Plaggenborg, Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland, Paderborn 2018, 345–346. 10 Plaggenborg 2018, 346.

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Christoph Witzenrath

die Wiederherstellung der Ordnung vorgebracht wurden. Stand also die Einsicht in die Gerechtigkeit der Ordnung unvermittelt und fraglos neben der tagtäglich fühlbaren Ungerechtigkeit, lediglich vermittelt durch das Sakrale? Was machte den Herrscher zu einem gerechten und, um auf ein in der jüngeren Forschungsliteratur zu Recht betontes Epitheton zu sprechen zu kommen, frommen Herrscher?11 An dieser Stelle klafft in der neuesten Literatur zum Moskauer Reich noch immer eine Lücke, die Daniel Rowland in seiner Dissertation in zweierlei Hinsicht zusammenfasste. Er stellte fest, dass keine säkulare Theorie der Legitimität ausgearbeitet wurde.12 Dies ist allerdings eine Eingrenzung des Gegenstands, die mit dem neuen Interesse an Religionsgeschichte stark an Relevanz verloren hat. Die nach all der Zeit unbeantwortete Frage der Geschichte des Moskauer Reichs stellte er schon damals und bis heute gültig fest, sei: „Was ging in der Politik vor sich? Gab es irgendwelche fundamentalen Meinungsverschiedenheiten? Falls es eine Opposition gab, warum merkte man von ihr nicht mehr?“13 Auf einige dieser Fragen wurden inzwischen Antworten gegeben. Hartmut Rüss hat mit einiger Berechtigung eingeworfen, dass es die Ressourcen nicht gab, die ein Auseinandertreten von Großfürst und Bojaren ermöglichen oder gar rechtfertigen konnten. Die häufigen militärischen Einsätze beanspruchten die vorhandenen, sehr begrenzten Ressourcen ohnehin bis zum Äußersten.14 Nun könnte man einwenden, dass so ausgedehnte militärische Abenteuer auf eine übertriebene Machtfülle der Führung hindeuten. Die Hypertrophie des Staates in der Moskauer Periode ist oft genug diagnostiziert worden, ebenso wie die Staatsbedingtheit der Gesellschaft.15 Die jüngere Forschung hat hier allerdings eingewandt, dass dieser Staat im Grunde kaum ausreichte, um das Territorium effektiv zu beherrschen; weder war die Bürokratie flächendeckend, noch konnten die zentralen Ämter ohne zusätzliche Einnahmen auskommen. Moskau war auf die Zusammenarbeit mit dem Landadel und anderen, lokal dominierenden Gruppen angewiesen.16 Hätte sich also ein mit ungenügenden Ressourcen wirt11 Vgl. Daniel Rowland, Did Muscovite Literary Ideology Place Limits on the Power of the Tsar?, in: The Russian Review 49 (1990), 125–55. 12 Vgl. Daniel Rowland, Muscovite political attitudes as reflected in early seventeenth century tales about the time of troubles, Yale University 1976, ii. 13 Rowland 1976, 4. 14 Vgl. Hartmut Rüss, Herren und Diener. Die soziale Mentalität des russischen Adels, 9.– 17. Jahrhundert, Cologne 1994. 15 Vgl. Marshall Poe, The Russian Moment in World History, Princeton, NJ 2006; Hans-Joachim Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich. Zar und Zemlja in der altrussischen Herrschaftsverfassung 1613–1689. Teilw. zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schrift, Leiden 1974. 16 Vgl. Kollmann 2017, 160; Valerie A. Kivelson, Autocracy in the Provinces. The Muscovite gentry and political culture in the seventeenth century, Stanford, CA 1996; Witzenrath 2007.

Versklavung, Befreiung und Legitimität im Moskauer Reich

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schaftender Staat eben mit weniger Einfluss begnügen müssen? Um es auf die Spitze zu treiben: Waren die Moskauer Herrscher nur brutale Emporkömmlinge und militaristische Expansionisten? Hier stellt sich nicht nur die Frage des angemessenen Maßstabes, sondern auch die der Selbstwahrnehmung.

Sklavenraubzüge, no-slaving zones und Monarchie im Moskauer Reich Die Exponenten in der Debatte um die Bewertung der moskowitischen Expansion kommen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. So hat Chester Dunning der Expansion unter Boris Godunov eine wichtige Rolle in der Konfliktkonstellation der ‚Zeit der Wirren‘ zugewiesen.17 Andere Stellungnahmen fallen weniger differenziert aus, etwa Norman Davies’ Diagnose einer bulimia politica aus dem teilweise verständlichen Blickwinkel eines Historikers Polens, der sich gegen die traditionelle nationale Meistererzählung Russlands wehrt.18 Doch Polen, viel stärker in die europäischen Gepflogenheiten eingebunden, hat es mit seinen Mitteln gerade nicht erreicht, die Steppengrenze zu stabilisieren. Nancy Kollmann wie auch Brian Boeck, der die Donkosaken eingehend untersucht hat, sprechen hingegen von einer vorsichtigen Konsolidierung der südlichen Steppengrenze im 17. Jahrhundert.19 Einiges spricht dafür, den drei Jahrzehnten vor der ‚Zeit der Wirren‘ den Stempel einer aggressiven südlichen Expansionspolitik aufzudrücken: In den 1570er Jahren nahm Ivan IV. die südliche Expansion wieder auf, und Boris Godunov baute eine weitere südliche Grenzbefestigungslinie, deren Auslieger der Hauptstadt der Donkosaken am unteren Lauf des Flusses, Razdory, gefährlich nahe kamen. Mit dem Ziel vor Augen, die Steppengrenze zu sichern, hatte Godunov sich nicht nur dem Moskauer Landadel entfremdet, sondern die Bewohner der zunehmend dichter bevölkerten Steppengrenzregionen fast einhellig zu seinen Feinden gemacht. Doch selbst wenn Dunning die imperialen Bestrebungen hervorkehrt, kommt er nicht umhin, zuzugeben, dass die Anlässe für diese Entscheidungen sich auf defensive Impulse zurückführen lassen. 1572 verheerten die Krimtataren Moskau und 1591 standen sie ein weiteres Mal in den Moskauer Vororten, wo sie wiederum tausende Gefangene machten. Solche großen Feldzüge, an denen mehr als zehntausend Tataren teilnahmen, überdecken eine große Zahl an jährlich wiederkehrenden

17 Vgl. Dunning 2001, 83. 18 Vgl. Norman Davies, Europe. A history, London 1997, 654–655. 19 Vgl. Kollmann 2017, 72.

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Christoph Witzenrath

kleineren Einfällen, deren Hauptziel die Gefangennahme von Sklaven war.20 Die 1590er Jahre waren vom unnachgiebigen Streben nach Schließung der Grenzen ebenso bestimmt wie von zunehmenden Hungersnöten aufgrund der an Kälte zunehmenden Kleinen Eiszeit, die Russland an der nördlichen Grenze des Ackerbaus hart traf.21 Diese beiden Entwicklungen überschnitten sich und verstärkten einander. Sie brachten in den Jahren nach der Thronbesteigung Godunovs Unzufriedenheit und wachsende soziale Unruhe, die bei Gelegenheit in Aufbegehren gegen den als illegitim empfundenen Zaren umschlug. An der Steppengrenze hieß dies, dass die Grenzbefestigungsprojekte Spannungen erzeugten, die davon unabhängig waren, ob sie uns heute notwendig oder zu ambitioniert erscheinen. Da die ohnehin geringen verfügbaren Ressourcen im Verlauf der Dekade klimatisch bedingt weiter abnahmen, versuchte Godunov, sein Ziel durch zunehmende Ausbeutung der Besatzungen der Grenzfestungen zu erreichen. Da diese überwiegend aus verarmten Landadligen und Bauern bestanden, die erst kürzlich vor der Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und steigenden Lasten aus dem Inneren des Landes geflohen waren und über geringe Reserven verfügten, machte sich Godunov keine Freunde. Man hatte den ehemaligen Flüchtigen zunächst ein auskömmliches Gehalt und ein Stück Land versprochen. Doch dann wurde aus der Auszahlung eine Steuer, für die sich die frisch gebackenen Dienstleute des Zaren wieder selbst vor den Pflug spannen sollten – trotz ihrer militärischen Verpflichtungen und über diese hinaus. Alle drei Vorgänge – die Migrationen zur Grenze, die Diensteinstellung und die auferlegten Steuern brachen die symbolischen und praktischen Grenzen zwischen den sozialen Gruppen nieder. So entstand eine in der Opposition zu Godunov vereinte und verarmte Grenzlandgesellschaft noch bevor die ‚Zeit der Wirren‘ begann.22 Es bleibt festzuhalten, dass dies einen sehr speziellen Fall von imperialer Überdehnung23 darstellt. Nicht nur die Bauern, sondern sogar das Militär gerieten in Abhängigkeit, weil der Herrscher und die Elite die Mittel für die Expansion nicht mehr aufbringen konnten und daher die Steuern und Abgaben anhoben. Dabei diente diese Steuer nur sekundär expansiven Zielen: Der wichtigste und erste Antrieb blieb Vorwärtsverteidigung und die Sicherung der 20 Vgl. Brian L. Davies, Warfare, State and Society on the Black Sea Steppe, 1500–1700, London 2007, 1–33. 21 Vgl. Kollmann 2017, 25–28; Vladimir V. Klimenko, Sommerlicher Frost, ungeheure Hungersnöte und eine warme Arktis. Extreme klimatische Verhältnisse in Moskowien an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613, Göttingen 2019, 57–73. 22 Vgl. Dunning 2001, 73–122. 23 Vgl. Joseph Calder Miller, The Problem of Slavery as History. A global approach, New Haven, CT 2012.

Versklavung, Befreiung und Legitimität im Moskauer Reich

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Siedlungen im fruchtbaren und, besonders in der Kleinen Eiszeit, klimatisch günstigeren Waldsteppengebiet. Die erst unter Ivan III. erworbenen Fürstentümer von Rjazan’ und Severien südöstlich und südwestlich von Moskau, bis dahin den Überfällen aus der Steppe voll ausgesetzt, entwickelten sich schon im 16. Jahrhundert zu Brotkörben des Reiches.24

Versklavung und Monarchie Wie eigentümlich und nachgerade prägend diese Situation war, zeigt ein Exkurs in die Geschichte der Monarchie, wie sie die Sklavereigeschichtsschreibung porträtiert hat. Es mag zwar so erscheinen, als sei der Schutz der Untertanen die ureigenste und ursprüngliche Aufgabe des Herrschers. Diese Einschätzung führt weiterhin oft zur Kennzeichnung des Moskauer Reiches als traditionell und veränderungsfeindlich.25 Doch die Entwicklung der Imperien führt vor Augen, wie voraussetzungsreich, historisch kontingent und brüchig dieser Anspruch war und blieb. Joseph Calder Miller hat sich aus dem Blickwinkel der Sklavereigeschichte mit der Entstehung der Monarchie seit etwa 500 v. Chr. auseinandergesetzt. In den frühen Eroberungsreichen orientierten sich der Herrscher und die militärischen Eliten auf die Expansion hin, waren den Göttern zugewandt und kümmerten sich nicht weiter um die unterworfenen Bevölkerungen. Sie lebten von der Beute, dem Verkauf der Gefangenen und von Steuern. Letztere wuchsen in dem Maße, in dem die Expansion fortschritt, an, bis eine kritische Schwelle der imperialen Überdehnung erreicht war. Ab diesem Moment bewirkten die wachsenden Transaktionskosten, dass die Steuerzahler überlastet wurden. Die weitgespannten sozialen Netzwerke und die Schriftlichkeit ermöglichten es den Kaufleuten, die Transaktionskosten zu begrenzen und dennoch Gewinn zu machen. Sie legten ihr Geld unter anderem in Krediten für Bauern mit Steuerrückständen an. Als diese ihre Schulden nicht bedienen konnten, gerieten sie in Schuldsklaverei; damit verloren die Herrscher Steuerzahler. Lange blieb ein prekäres Gleichgewicht der Interessen bestehen, doch wo dieses in Frage gestellt wurde, sahen sich die militärischen Eliten herausgefordert. Die Lösung fand sich in einer neuen Ideologie des besorgten Herrschers, der seine Untertanen aus der Schuldsklaverei befreite. So marginalisierte der frischgebackene Monarch die Konkurrenz der Kaufmannschaft um Arbeitskräfte ohne eigene Kosten; abhängige Bevölkerung durfte von nun an nur noch die militärische Elite besitzen.26 Wesentlich 24 Vgl. Kollmann 2017, 24. 25 Vgl. Hildermeier 2016, 303. 26 Vgl. Miller 2012.

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für unseren Gegenstand ist dabei die Kontingenz und Störanfälligkeit monarchischer Sorge für die Untertanen. Die Völkerwanderung unterbrach viele dieser Praktiken und Traditionen und führte andere wiederum ein. Selbst das Römische Reich kannte nicht alle diese Institutionen – insbesondere der Loskauf war privat, allenfalls kirchlich organisiert.27 Im Bereich der ostslawischen Orthodoxie führte im Mittelalter schon die Lage am Steppenrand, die für wikingische Sklavenräuber und -händler schiffbaren Flüsse und das Senioratsprinzip in der Thronfolge zur Zersplitterung der politischen Organisation – schlechte Voraussetzungen, um der Versklavungszone zu entkommen. Jeffrey Fynn-Paul hat diesen Zusammenhang für das Mittelalter insbesondere im Mittelmeerraum, aber auch darüber hinaus, beschrieben. Die Begrifflichkeit der Versklavungs- und Nicht-Versklavungszonen hat Fynn-Paul 2009 anhand von Quellenmaterialien des europäischen Mittelalters und des Mittelmeerraums konzeptualisiert.28 Obwohl sie zunächst unter Historikern und Historikerinnen der Sklaverei diskutiert wurde, waren diese von Anfang an Fragen der Staats- und Imperienbildung interessiert und mittelbar auch an solchen nach Autorität und Loyalität. Anhand der Geschichte Mittelund Osteuropas ist dieses Konzept allerdings bislang kaum untersucht worden.29 Fynn-Paul hat zunächst sechs Säulen seiner Theorie benannt, auf die er seine konzeptuellen Überlegungen gründet: Politische Organisation schützt Menschen vor Versklavung, während politische Desorganisation den umgekehrten Effekt haben kann. Weiterhin kannten viele Gesellschaften geographische Gebiete, die ‚Versklavungszonen‘ waren, also Orte, an denen Sklaven gefangen genommen oder gekauft werden konnten. Demgegenüber brachten viele Gesellschaften ‚Nichtversklavungszonen‘ (no-slaving zones) oder, wie hier in begrifflicher Präzisierung vorgeschlagen wird, Gegenversklavungszonen hervor, in denen zumindest theoretisch Versklavung verboten oder im letzteren Falle nach bestimmten Kriterien eingeschränkt war. Aus Nicht-Versklavungszonen konnten Versklavungszonen werden und umgekehrt. Viertens waren die Nichtversklavungszonen nicht-monotheistischer Gesellschaften recht durchlässig, während monotheistische Gesellschaften eher dazu neigten, einen absoluten Bann gegen die Versklavung der Mitglieder ihrer Religionsgemeinschaft zu verhängen. Fünftens können Versklavungszonen auf internen Brüchen einer Gesellschaft 27 Vgl. Youval Rotman, Byzantine Slavery and the Mediterranean World, Cambridge, MA 2009. 28 Vgl. Jeffrey Fynn-Paul, Empire, Monotheism and Slavery in the Greater Mediterranean Region from Antiquity to the Early Modern Era, in: Past & Present 205 (2009), 3–40. 29 Von Historikerinnen Europas und des Mittelmeers vgl. Juliane Schiel, Sklaven, in: Michael Borgolte (ed.), Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin 2014, 251–265. Jeffrey Fynn-Paul/Damian Alan Pargas (edd.), Slaving Zones. Cultural Identities, Ideologies, and Institutions in the Evolution of Global Slavery (Studies in Global Slavery 4), Leiden/Boston 2018. Hauptsächlich über die mittelalterliche Rus’ vor 1100: Fynn-Paul 2009, 5, 17, 21, 23.

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beruhen. So können bestimmte Gruppen, wie Kriminelle, Arme, Menschen einer gewissen Rasse, Glaubens oder Ethnizität derartig markiert werden, dass sie zu legitimen Versklavungsopfern werden, während andere davon ausgenommen bleiben; hinzugerechnet werden kann Staatsbürgerschaft, politische Überzeugung und geographische Marker. Identität und Ideologie spielen daher Schlüsselrollen bei der Bestimmung der tatsächlichen Grenzen der Versklavungszonen, die oft genauso oder noch wichtiger seien als politische und ökonomische Organisationen.30 In abgewandelten, analytisch allerdings etwas weniger differenzierten Begriffen haben Stanley Engerman und David Eltis in ihrem bahnbrechenden Überblick über die Geschichte der Sklaverei und sozialen Abhängigkeit darauf hingewiesen, dass die Kriterien für Versklavbarkeit (eligibility) ein wichtiges vernachlässigtes Forschungsfeld darstellen.31 Einige der interessantesten Beobachtungen Fynn-Pauls betreffen die ökonomischen und entwicklungspolitischen Auswirkungen der Versklavungszonen. Die Versklavungszonen politisch organisierter Gesellschaften konnten gründlicher ausgebeutet werden als diejenigen politisch unorganisierter Gesellschaften. Dies lag daran, dass erstere potenziell zu Versklavungszonen mit langer Dauer werden konnten, aber auch an den umfangreicheren ökonomischen Kenntnissen, die mit politischer Organisation einhergehen und die effektive Nachfrage nach Sklaven erhöhen konnten. Er verweist auf Afrika und Russland, allerdings eher im Mittelalter, als wichtige Beispiele.32 Umkehrschlüsse bedürfen gesonderter Nachweise, doch der Gedanke, dass sich in Russland eine Abwehr gegen Sklavenjagden politisch formiert hat, liegt schon wegen des klaren Wandels in diesem Bereich seit dem Mittelalter nahe: Mithin eine Gegenversklavungszone, die teils mit extraökonomischen Mitteln agierte. Hinzu kommt, dass die Sklavenjagden seit dem 15. Jahrhundert im Umfang sogar noch zunahmen, weil das ehemalige Mongolenreich politisch immer stärker auseinanderfiel. Nomaden fingen Sklaven in den Dörfern ein und verkauften sie südlich der Steppe auf der Krim oder über die Wolga.33 Die Eigenschaften des Moskauer Reiches, die zum Interpretationsschema der Gegenversklavungszone passen, sind spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhun30 Vgl. Fynn-Paul 2009, 3–4. Stephan Conermann, Rezension von: Jeff Fynn-Paul/Damian Alan Pargas (eds), Slaving Zones. Cultural Identities, Ideologies, and Institutions in the Evolution of Global Slavery, Leiden/Boston 2018, in: sehepunkte 19 (2019), http://www.sehe punkte.de/2019/01/32757.html (19. 01. 2020). 31 Vgl. David Eltis/Stanley L. Engerman, Dependence, Servility, and Coerced Labor in Time and Space, in: David Eltis/Stanley L. Engerman (edd.), The Cambridge World History of Slavery, 3 Bde., Bd. 3: AD 1420–AD 1804, Cambridge 2011, 1–21. 32 Vgl. Fynn-Paul/Pargas 2018, 3. 33 Vgl. Davies, 2007.

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dert recht zahlreich. Dazu zählt die äußere Zielrichtung der gegen den Sklavenhandel gerichteten Monarchie: Die berittenen Dienstleute des Zaren wehrten Überfälle ab. Durch den kostspieligen Bau von Steppenbefestigungslinien und Festungen am Steppenrand sowie die Zusammenarbeit mit Kosaken konnten Einfälle früher erkannt und unterbunden oder nach dem Überfall gestoppt werden, um die Gefangenen zu befreien. Den Rekrutierungsbedürfnissen dieser Festungen räumte Moskau oft Vorrang ein selbst gegenüber den drängenden Forderungen der Hauptstütze der Monarchie außer den Bojaren, des Landadels, der beharrlich die Rückführung seiner flüchtigen Bauern auch von der Steppengrenze forderte. Die Verpflichtung zum Loskauf, das Steuersystem und der Schutz der im Loskauf engagierten Händler bildeten ein komplexes System für die Rückführung von Gefangenen.34 Der Begriff des souveränen Herrschers (samoderzˇec), oft im nicht ganz korrekten Vorgriff auf spätere Verwendung als Autokrat übersetzt, richtete sich im Moskauer Reich zunächst gegen den Herrschaftsanspruch der Dschingisiden, aber auch gegen die Tributforderungen der Tataren, die letztere mittels Überfällen und Versklavungspraktiken durchsetzten.35 Der Zar stellte sich als Beschützer seiner „christlichen Herde“ dar und forderte Arbeitskräfte von den Tataren zurück, wie dies vor der finalen Eroberung von Kazan’ geschah. Tataren, die diesen Forderungen nachkamen, galten als loyale Untertanen und trotz muslimischen Glaubens sogar als Vorbilder für christliche Bojaren. Diejenigen, die dies nicht taten, wurden als Feinde, Unterdrücker, „Wolf“ oder „Schlange“ gebrandmarkt, sie durften enteignet, deportiert und sogar versklavt werden. Ein zyklisches Herren-Sklaven-Modell legitimierte den Übergang von der Oberherrschaft der Tataren zur Herrschaft Moskaus, doch es ließ zugleich den Ausgang dieser Verschiebungen offen. Der Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten und die Eroberung des Gelobten Landes fungierten als rhetorische Figur der Rechtfertigung für die Expansion des Neuen Israel an die Mittlere und Untere Wolga, nach Sibirien, ans Schwarze Meer und in den Kaukasus.36 34 Vgl. Hans Hecker, Die Christenpflicht als Rechtsnorm. Der Loskauf der Gefangenen im Ulozˇenie von 1649, in: Uwe Halbach (ed.), Geschichte Altrusslands in der Begriffswelt ihrer Quellen (Festschrift zum 70. Geburtstag von Günter Stökl), Wiesbaden 1986, 154–163; Christoph Witzenrath, Sklavenbefreiung, Loskauf und Religion im Moskauer Reich, in: Heike Grieser/Nicole Priesching (edd.), Gefangenenloskauf im Mittelmeerraum. Ein interreligiöser Vergleich, Hildesheim 2015, 287–310. 35 Vgl. Marc Szeftel, The Title of the Muscovite Monarch up to the Seventeenth Century, in: Canadian-American Slavic Studies 13 (1979), 59–81. 36 Vgl. Christoph Witzenrath, Slavery, Redemption and Liberation in Russia, 1550–1725, in Vorbereitung; Witzenrath 2015; Christoph Witzenrath, The Conquest of Kazan’ as Place of Remembering the Liberation of Slaves in Sixteenth- and Seventeenth- century Muscovy, in: Ders. (ed.), Eurasian Slavery, Ransom and Abolition in World History, 1200–1860, Farnham, Surrey, UK 2015, 295–308; Christoph Witzenrath, Introduction. Slavery in Medieval and

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Neben diese, eher nach außen gerichteten Maßnahmen lässt sich auch eine im Inneren wirkende Zielrichtung ausmachen: Dazu zählen die erst im 16. Jahrhundert abgeschlossene Aufhebung der Teilfürstentümer, die ehemals interne, ostslawische Sklavenhändler und -jäger beherrscht hatten und als Kerne eines neuen Zerfalls bereitstanden. Manche von ihnen wurden vorübergehend an kooptierte tatarische Beschützer der Steppengrenze vergeben.37 Inwieweit die Einheitsrhetorik der Großfürsten von Moskau hier eingeordnet werden kann, ist bislang eine offene Frage. Alle Untertanen leisteten anlässlich der Thronbesteigung einen Kreuzesschwur auf ihre Loyalität gegenüber dem Zaren: In ihren Petitionen betonten die Rückkehrer aus der Sklaverei im Süden und Zentralasien ihr unfreiwilliges Ausscheiden aus dem Herrschaftsverbund infolge Gefangenschaft.38 Die Gegenversklavungszone kombinierte Züge von nach außen gerichteter Ablehnung der Versklavung von Russisch-Orthodoxen durch heterodoxe Sklavenjäger oder Sklavenhändler jeglicher Herkunft mit der Verlängerung der Schuldknechtschaftsfristen unter Boris Godunov. Die Dynamik der Entstehung und Ausformung der Leibeigenschaft lässt sich in allgemeinen Zügen zusammenfassen als zunehmende asymmetrische Abhängigkeit, mit Hilfe derer eine zu starke Abwanderung der Arbeitskräfte der die Grenzen bewachenden Dienstleute in entfernte und ausgedehnte Grenzländer und zu besseren Bedingungen gewährenden Bojaren und Klöstern verhindert werden sollte. So versuchte man, Arbeitskräfte zumindest zu halten angesichts mangelnden äußeren Nachschubs und unmöglicher Externalisierung der Arbeitskräfteproblematik in Kolonien, wie dies in der Renaissancesklaverei geschah.39 Die auf den Zaren als Moses ausgerichtete Idee des Neuen Israel als Ausgang aus der Sklaverei und InbeEarly Modern Eurasia. An overview of the Russian and Ottoman Empires and Central Asia, in: Christoph Witzenrath (ed.), Eurasian Slavery, Ransom and Abolition in World History, 1200–1860, Farnham, Surrey, UK 2015, 1–77. 37 Vgl. Lawrence N. Langer, Slavery in the Appanage Era. Rus’ and the Mongols, in: Christoph Witzenrath (ed.), Eurasian Slavery, Ransom and Abolition in World History, 1200–1860. Farnham, Surrey, UK 2015, 145–170. Bulat R. Rachimzjanov, Kasimovskoe chanstvo (1445– 1552 gg). Ocˇerki istorii, Kazan’ 2009; Bulat R. Rachimzjanov, Moskva i tatarskij mir. Sotrudnicˇestvo i protivostojanie v e˙pochu peremen, XV–XVI vv., S.-Peterburg 2016; Janet Martin, Tatars in the Muscovite army during the Livonian War, in: Eric Lohr/Marshall Poe (edd.), The Military and Society in Russia, 1450–1917, Leiden 2002, 365–388; Janet Martin, Multiethnicity in Muscovy. A consideration of Christian and Muslim Tatars in the 1550s– 1580s, in: Journal of Early Modern History 5 (2001), 1–23. 38 Vgl. Witzenrath, in Vorbereitung. Vgl. Elena Smolarz, Speaking about Freedom and Dependency. Representations and Experiences of Russian Enslaved Captives in Central Asia in the First Half of the 19th Century, in: Journal of Global Slavery (2017), 44–71; Petr S. Stefanovicˇ, Der Eid des Adels gegenüber dem Herrscher im mittelalterlichen Russland, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (JBfGOE) 53 (2005), 497–505. 39 Vgl. Witzenrath 2015. Vgl. Dunning 2001, 76–77.

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sitznahme des Gelobten Landes begünstigte indirekt die Interpretation der Zarenherrschaft als sakralisierte Autokratie, die die griechische Lehnsübersetzung ebenfalls zuließ.40

Die Legitimierung der Romanovs Eine nähere Beschäftigung mit Palicyns „Erzählung […] aufgrund welcher Sünden Gott uns seine gerechte (pravednoe) Strafe auferlegte“ kann daher nicht bei der Kasuistik stehenbleiben, sondern muss die unterliegenden Erklärungsmuster in den Blick nehmen. Insofern bietet es sich an, auch den zweiten Teil des Titels mit einzubeziehen, in dem weltlicher und aktiver berichtet wird: „und wie die ganze slawische Sprache aufstand und alle Orte in Russland mit Feuer und Schwert heimgesucht wurden“.41 Zunächst soll der Hintergrund des Schriftstellers beleuchtet werden. Avraamij Palicyn hatte bereits im weltlichen Leben Erfahrung gesammelt, bevor er Mönch und Kellermeister des größten, wohlhabendsten und einflussreichsten Klosters des Moskauer Reichs, des Dreifaltigkeits-Sergiev-Klosters nördlich der Hauptstadt wurde. Sein Einfluss auf die moskowitische Bevölkerung und seine Kenntnisse der Verhältnisse bemessen sich an seinem Vorleben als Spross des Landadels im Moskauer Bezirk, Voevode von Kolja und Cholmogory, Sendbote des Zaren in den nördlichen Gebieten und Vermesser in den südlichen Bezirken Temnikov und Sˇack. Er hatte in den Jahren von 1582 bis 1587 an der erfolgreichen Abwehr der Überfälle der Krimtataren und an der Zuweisung von Ländereien an die Arzamaser Dienstleute im Südosten teilgenommen. Sein Aufstieg auf der sozialen Rangstufenleiter wurde durch die Ächtung von 1587/1588 jäh unterbrochen, über deren Ursachen nichts bekannt ist. Nach Verbannung und Konfiskation seiner Güter legte er den Mönchseid ab. Erst im Jahr 1600 wurde der Bann formal aufgehoben. Nach Stationen in der kürzlich eroberten, tatarisch geprägten Region der mittleren Wolga Svijazˇsk und Soloveck wurde er 1607/1608 Kellermeister im Dreifaltigkeitskloster, ein herausgehobener Posten im größten und einflussreichsten Kloster des Moskauer Reichs.42

40 Vgl. Boris A. Uspenskii/Viktor M. Zhivov, Tsar and God. Semiotic aspects of the sacralization of the monarch in Russia, in: Boris A. Uspenskii/Viktor M. Zhivov/Marcus C. Levitt (edd.), „Tsar and God“ and other essays in Russian cultural semiotics, Boston 2012, 1–112. 41 Russkaja Istoricˇeskaja Biblioteka (RIB), 40 Bde., Bd. 13, S.-Peterburg 1892, stolbec 473. 42 Vgl. Anatolij T. Sˇasˇkov, Avraamij (v miru Averkij Ivanov Palicyn), in: Dmitrij M. Bulanin/ Dmitrij S. Lichacˇev/Anatolij A. Turilov (edd.), Slovar knizˇnikov i knizˇnosti drevnej Rusi. XVII v., cˇast’ 1, S.-Peterburg 1992, 36–47.

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Avraamijs Autorenschaft ist für die erste Fassung in Frage gestellt worden; jedoch können diese Zweifel als überholt angesehen werden.43 Hinsichtlich der hier im Vordergrund stehenden Fragestellungen ändern die teils umfangreichen Veränderungen späterer Fassungen nichts an der Einordnung. Die wenngleich gemilderte Sozialkritik bleibt auch in den späteren Fassungen erhalten und lässt sich auf Palicyns gewandelte Lebensumstände ebenso wie die veränderten Erfordernisse der Zeit zurückführen. Dagegen bleibt der erzählerische und institutionelle Rahmen gleich, die die sehr spezifisch moskowitische Sozialkritik motivieren. Die Erzählung Avraamij Palicyns beginnt mit dem ausführlichen Titel: „Geschichte zum Gedächtnis an vorausgegangene Generationen, auf dass die Wohltaten nicht vergessen werden, die uns die Mutter des Wortes Gottes gewährt hat […] Heute aber sollten Menschen jeglichen Alters verstehen, und ein jeder soll seine Ohren öffnen, um welcher Sünden willen der Herr unser Gott seine gerechte Strafe Russland von einem Ende zum anderen auferlegt hat, und warum die ganze slawische Sprache aufrührerisch wurde und alle Orte in Russland von Feuer und Schwert verheert wurden.“44

Gleich zu Anfang wird hier eine Gruppe konstruiert, die auf dem Merkmal Sprache fußt und deren eigentlich hierarchische Verfasstheit in Frage gestellt wurde. Ganz dem monarchischen Modell verpflichtet, denkt Palicyn die genannte Gruppe als von Gott her bestimmt, von der Gottesmutter vor der Vernichtung gerettet. Die Betonung liegt auf der Überwindung der Wirren, und der Schwerpunkt der Erzählung auf der Frage nach dem Warum. Schon im ersten Absatz findet diese Frage ihre erste Antwort: Boris Godunov wird eingeführt als fähiger Regent und Kanzler im Auftrag des Zaren Fedor Ivanovicˇ, „der sich selbst wenig um das irdische Zarenreich kümmerte.“ Die Erzählung greift den Vergleich mit dem biblischen Joseph in Ägypten auf, der sowohl vom Patriarchen Jov als Vorbild in dessen Lob des Boris Godunov aufgenommen wurde,45 als auch im Zentrum der Wandmalereien im Facettenpalast aus der Zeit Godunovs steht. Die Wandgemälde, die eine Wand des Thronraumes fast vollständig einnehmen, stellen Josephs Geschichte als die eines von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauften Familienmitglieds dar, das Karriere macht und am Ende alle vor der Hungersnot rettet.46 In Jovs ‚Leben des Zaren Fedor Ivanovicˇ‘ steht der Vergleich mit dem biblischen Joseph im Zeichen seiner Fähigkeiten als Lenker des Landes, der sich, wie es das Muster der Monarchie

43 44 45 46

Vgl. Sˇasˇkov 1992; vgl. Rowland 1976. RIB, Bd. 13, stolbec 473. Vgl. Polnoe Sobranie Russkich Letopisej, Bd. 14, 7. Vgl. Aida Nasibova/B. Kuznecov/B. Grosˇnikov (edd.), Granovitaja palata Moskovskogo Kremlja. The faceted chamber in the Moscow Kremlin, Leningrad 1978; Ivan E. Zabelin, Materialy dlja istorii, archeologii i statistiki goroda Moskvy, Bd. 1, Moskva 1884.

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verlangt, vorausschauend um seine Untertanen kümmert.47 Palicyn hingegen schreibt aus der Perspektive des Überlebenden und will auf etwas anderes hinaus: In einer für die Moskauer Periode der russischen Geschichte typischen Unterscheidung schreibt er Godunov große Fähigkeiten als Regent zu, kritisiert jedoch, dass Godunov „die göttlichen Schriften nicht kannte und sich deshalb zu sehr der Menschenliebe [im engeren Sinne einer Bruderliebe] ergab“.48 Palicyn fordert damit die Frage heraus, wie der Regent und spätere Zar die Sorge um die Wohlfahrt seiner Untertanen übertreiben könne; eine Frage, auf die er schon bald eine für die spezifische Moskauer Auffassung von Monarchie charakteristische Antwort geben wird. Zunächst bezichtigt Palicyn Godunov des Mordes am letzten Sohn Ivans IV., Dmitrij, da er selber Zar werden wollte.49 Dmitrij starb Jahre, bevor deutlich wurde, dass Fedor ohne männlichen Nachfolger sterben würde. Daher reiht sich sein Tod viel zwangloser, als es die hergebrachte Interpretation will, in die Reihe der Exilierungen von Mitgliedern der Zarenfamilie ein, die als Rivalen des regierenden Zaren betrachtet wurden. Als solche bedrohten sie nicht nur aus der Bojarenperspektive potenziell den inneren Frieden. Manchmal zog dies den Tod des Exilanten nach sich, meist ohne dass Genaueres bekannt wurde. Dieses größtenteils unauffällig vollzogene Beschneiden des Stammbaums der Dynastie kam in Interregnen und Regentschaften häufig vor.50 Es interessierte kaum jemanden, wie der Zarensohn Dmitrij Ivanovicˇ in Uglicˇ zu Tode gekommen war, nachdem die erste Unruhe verflogen war. Da es Godunov als Regent in den folgenden Jahren nach 1591 gelang, das Zarenreich zu stabilisieren, konnten Zweifel an seiner Legitimität nur die Gegenversklavungszone in Frage stellen. Als er jedoch selbst den Thron bestieg und insbesondere nach seinem Tod sowie angesichts eines von vielen als legitim betrachteten Herausforderers ließen sich die alten Geschichten zur Mobilisierung und für eigene Machtansprüche rivalisierender Bojarenclans nutzen. Hingegen war es gegen das Ende der ‚Zeit der Wirren‘ hin, nach der Zarenwahl von 1613, Palicyns Ziel, eine neue Dynastie als monarchischen Kern und Stabilitätsanker der Moskauer Gegenversklavungszone zu etablieren. Daher war er wenig daran interessiert, solche zuweilen kontraproduktiven Methoden ans Licht zu zerren. Angesichts der Folgen eignete sich dieses spezielle Ereignis zudem bestens dazu, es einem Feind in die Schuhe zu schieben, der sich nicht mehr wehren konnte. Es spielt für die hier aufgeworfenen Fragen keine Rolle, ob Dmitrij auf jedenfalls ungeklärte Weise tatsächlich davon kam, wie dies einige Forscher zu 47 48 49 50

Vgl. Polnoe Sobranie Russkich Letopisej, Bd. 14, 7. Vgl. RIB, Bd. 13, stolbec 474. Vgl. RIB, Bd. 13, stolbec 475. Vgl. Kollmann 2017, 149; vgl. Dunning 2001, 119–137.

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beweisen versuchen oder offen halten.51 Der in der einfachen, ungebildeten Bevölkerung verbreitete Glaube an seine Wiederauferstehung rief zumal angesichts seiner noch dazu von Palicyn hier verbreiteten Heiligsprechung schon unter Zar Vasilij Sˇujskij zwei klar definierte Erzählungen auf. Christus steigt auch in den slawischen Versionen der Höllenfahrt hinab zu deren Fürsten, um ihm anschließend durch Auferstehung zu entkommen. Er befreit im orthodoxen liturgischen Theater jedoch nicht nur die Patriarchen, wie in den lateinischen Versionen, sondern eine große Schar Gefangener aus dem Gefängnis der Hölle, die der Höllenfürst anschließend schmerzlich vermisst, als seien ihm seine Arbeitskräfte genommen worden.52 Die zweite Erzählung ist das ‚Große Geistliche Lied‘ über die Fahrt des Hl. Georg (Egor), eine im 18. Jahrhundert aufgezeichnete mündliche Überlieferung. Georg steht aus einem Grab oder einer Grube wieder auf, in die ihn der Krimkhan gesteckt hatte. Auf seiner Rückreise zur als Weisheit versinnbildlichten Kirchengemeinde und Mutter fordert er im Dienste des Khans stehende Schäferinnen auf, „ihr drei Schwestern aus der Heimat, reinigt euch im Jordan, erlöst53 und bekreuzigt euch“.54 In Gruben hielten Tataren ihre Gefangenen und Sklaven, wenn Gefahr drohte, damit sie nicht entkommen konnten.55 Gerade an der südlichen Steppengrenze rief das Bild von der Wiederauferstehung eines Zarensohnes mithin ein komplexes Gefüge von Legitimitätsvorstellungen auf, die aufs engste mit Gefangenschaft und Befreiung verbunden waren. Diese Mythen fügen sich zwanglos in das starke Echo ein, das der als Dmitrij Ivanovicˇ auftretende erste Thronprätendent in den Steppengrenzgebieten des Moskauer Reiches fand.56 Palicyn musste es angesichts der Desorganisation und Volatilität der Steppengrenze darum gehen, den Tod Dmitrijs durch eine klare Schuldzuweisung umso gewisser erscheinen zu lassen. Wer auch immer der Falsche Dmitrij und sein Nachahmer waren, er durfte auf keinen Fall der entkommene echte Zarensohn gewesen sein, um die Etablierung der neuen Dynastie gegen jegliche

51 Vgl. Dunning 2001, 119–137. 52 Vgl. Paulina Lewin, Ukrainian Drama and Theater in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Toronto 2008; Irene Rima Makaryk, About the Harrowing of Hell = Slovo o zbureniu pekla. A seventeenth century Ukrainian play in its European context (Carleton Renaissance plays in translation 15), Ottawa 1989. 53 Iskupaites’ ist ein Wortspiel, in dem ‚schwimmen‘ ebenso mitschwingt wie Erlösung und der weltliche Loskauf (iskupites’). 54 Marija S. Vladysˇevskaja, Svjatoj Georgij i gnosticizm. Semantika imen v predanijach o sv. Georgii, in: Fedor B. Uspenskij (ed.), Imenoslov. Zametki po istoricˇeskoj semantike imeni, Moskva 2003, 70–102. Ich danke Cornelia Soldat, die mich auf diesen Text aufmerksam gemacht hat. 55 Vgl. Gennadij A. Sanin, Otnosˇenija Rossii i Ukrainy s Krymskim Chanstvom v seredine XVII veka, Moskva 1987, 195–96. 56 Vgl. Dunning 2001, 134–161.

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Gefahr eines weiteren Prätendenten mit dem gleichen Namen möglichst abzusichern.57 Nicht nur die mit Gefangenschaft und Befreiung verquickten Mythen um den Falschen Zaren Dmitrij, sondern auch Godunovs Rolle in der Steppengrenze spielte eine zentrale Rolle im Fortgang der ‚Zeit der Wirren‘. Palicyn greift dies auf, und zwar durchaus unterstützend und lobend. Da diese Einschränkung seiner generellen Tendenz, Godunov als Übeltäter, strafenswerten Sünder und Ursache der Smuta darzustellen, widerspricht, verdient sie die ganze Aufmerksamkeit als ein Vorgang, der offenbar im Bewusstsein der Zeit hoch präsent war. Zur Krönung Godunovs bemerkt Palicyn: „Er stand bei der Krönung unter der Hand des [Patriarchen] Jov – man weiß nicht, wozu – und stieß die folgenden, überheblichen und gotteslästerlichen Worte aus […]: ‚Niemand wird in meinem Reich arm und mittellos sein!‘ […] Zwei Jahre später war Russland in neuem Wohlstand erblüht. Zar Boris sorgte für jegliche Frömmigkeit und für die Verbesserung aller dem Reich nötigen Dinge. Dabei hielt er sich an sein gegebenes Wort und tat für die Armen und einfachen Menschen, was er konnte. Seine Wohltaten für letztere waren groß, [während] er die Übeltäter schwer bestrafte – und war aufgrund dieser Ordnung allgemein beliebt.“58

In diesem positiven Urteil über Godunovs Fähigkeiten als Regent ist er sich mit anderen zeitgenössischen Kritikern Godunovs einig. Die jüngere Forschung hat das von den Apologeten der Romanovs verbreitete negative Bild Godunovs hinterfragt und seine Leistungen hervorgehoben. Dazu zählt auch die Ruhe am Hof in den 1590er Jahren, als sich Godunov nach den bitteren Auseinandersetzungen der 1580er und frühen 1590er Jahre keiner merklichen Opposition mehr gegenübersah. Dass Palicyn sich zu solchen positiven Wertungen genötigt sieht, fällt umso mehr ins Gewicht, als er sie mit Warnungen und tendenziösen Wertungen einiger Aspekte von Godunovs Politik geradezu umstellt.59 Wie noch zu zeigen sein wird, ist die Klammer, in die Palicyn Godunovs „gotteslästerliche“ Äußerungen bei der Thronbesteigung setzt, der Hinweis auf die Auswirkungen auf die Steppengrenze. Besonders in diesem Politikfeld, der südlichen Steppengrenzgebiete, kam Palicyn jedoch nicht umhin, Godunov ein weiteres Mal zu loben, da die weiteren Entwicklungen der heranbrechenden Wirren untrennbar mit dessen unstrittigen Verdiensten verbunden waren. In eben diesen widersprüchlichen Regungen und Evaluationen treten Grundannahmen und Ziele der Politik Palicyns, und über

57 Vgl. Sergej F. Platonov/John T. Alexander, Boris Godunov, Tsar of Russia, Gulf Breeze, FL 1973, 139; Dunning 2001, 65; Ruslan G. Skrynnikov, Boris Godunov, transl. Hugh F. Graham, Gulf Breeze, FL 1982, x–xii. 58 RIB, Bd. 13, stolbec 477; Vgl. Rowland 1990. 59 Vgl. RIB, Bd. 13, stolbec 478–481, s. unten.

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ihn hinaus der gesamten Epoche unter der Überschrift ‚Über den Beginn des Banditentums und der Verräter in ganz Russland‘ gleich im ersten Satz hervor: „Zar Boris folgte in manchem dem Vorbild des Zaren Ivan Vasil’evicˇ [IV.], indem er die Grenzgebiete bis zum Rand mit Kriegsleuten anfüllte, damit die [südlichen] Grenzstädte besser gegen die Ungläubigen [Moslems] verteidigt waren, als selbst die polnischen und severischen.“60

Palicyn widmet sich hier dem größten Grenzproblem des Moskauer Reichs vor dem 17. Jahrhundert, den Einfällen tatarischer Sklavenjäger, Spaltprodukten des Mongolischen Weltreichs, die unter den neuen Bedingungen nicht genügend andere Einkommensquellen fanden. Aus dem Gebiet vom Karpatenbogen bis an den Kaukasus führten sie zwischen 1475 und 1700 nach in Quellenmaterialien gut abgestützten Hochrechnungen rund 1,5 bis 2 Millionen Menschen zu den Sklavenmärkten am Schwarzen Meer, im Mittleren Osten und Zentralasien.61 Während des 16. Jahrhunderts machte das Moskauer Militär große Anstrengungen, um diese ausgesetzten Grenzgebiete gegen die oft mehrmals jährlich auftretenden Überfälle zu sichern. Dabei dehnten sie auch den Moskauer Herrschaftsbereich bis in die Steppe und die Weidegebiete der Nomaden aus, womit diese einen weiteren Grund hatten, ihren Nebenerwerb auszudehnen. Unter Zar Vasilij III. wurden ab 1503 die alten Steppengrenzfürstentümer Severien im Südwesten und 1521 Rjazan’ im Südosten annektiert. Dort lebte schon lange eine Bevölkerung mit kriegerischem Ruf, die es gewohnt war, Sklavenjäger und alle, die ihre Freiheiten und Vorrechte einschränken wollten, zu bekämpfen.62 Moskau hatte Severien im Krieg gegen Polen-Litauen erobert und 1523 annektiert. Während des 16. Jahrhunderts blieb dieses Gebiet dennoch von der Hauptstadt aus schwer zu verwalten. Während der ‚Zeit der Wirren‘ wurde es zum Einfallstor der Rebellen, wo dem Thronprätendenten Dmitrij, der sich als Sohn Ivans IV. darstellte, sogleich Unterstützung geboten wurde.63 Für Palicyn ergibt sich daraus das Problem, diese Schwierigkeiten Moskaus zu erklären, ohne die Rolle der Hauptstadt in der Steppengrenze dabei zu deutlich zu kritisieren. Dabei greift er immer wieder auf den moskowitischen Gegenversklavungsdis60 RIB, Bd. 13, stolbec 481. 61 Vgl. Halil Inalcik (ed.), An Economic and Social History of the Ottoman Empire, Cambridge, UK 1997; Aleksej Andreevicˇ Novosel’skij, Bor’ba moskovskogo gosudarstva s tatarami v pervoj polovine XVII veka, Moskva 1948, 436; Alan Fisher, Muscovy and the Black Sea slave trade, in: Canadian–American Slavic Studies 6 (1972), 575–594; Sanin 1987, 243; Dariusz Kołodziejczyk, Slave Hunting and Slave Redemption as a Business Enterprise. The northern Black Sea region in the sixteenth to seventeenth centuries, in: Oriente Moderno 25 (2006), 149–159; Mikhail Kizilov, Slave trade in the early modern Crimea from the perspective of Christian, Muslim, and Jewish sources, in: Journal of Early Modern History 11 (2007), 1–31. 62 Vgl. Dunning 2001, 74. 63 Vgl. Dunning 2001, 73–74.

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kurs zurück. Als dankbarer Sündenbock bot sich Godunov an, dessen Rolle allerdings nicht gering veranschlagt werden kann. Palicyn setzt seine Beschreibung des Anfangs der Wirren in drastischen Worten fort: „Wenn Übeltäter zum Tode verurteilt und in diese […] severischen Städte entfliehen, entkommen sie dort ihrem Tode. Während vieler Jahre versammelten sich dort die Schurken, seit der Zeit Ivans IV. bis zum Falschen Dmitrij. Durch den Verstand und die Härte des Zaren Ivan wagten solche Schlangen es nicht, sich zu bewegen. Zar Fedor, der wie ein festes Seil war, fesselte alle mit seinen Gebeten. Unter dem überheblichen Herrscher Boris Godunov [hingegen] haben viele unter den Wohlgeborenen, nicht nur aus seinem Geschlecht, sondern auch die mit ihm durch Heirat verbundenen, viele Menschen gegen ihren Willen gezwungen, ihnen zu dienen. Darunter waren nicht nur einfache Menschen wegen einer bestimmten Tätigkeit oder besonderen Fähigkeit, sondern auch solche von altem Adel mit großem Besitz […], fähige Kämpfer in der Schlacht, hell und von schöner Gestalt. Viele andere folgten diesem schlechten Vorbild der Anführer, versklavten (v nevolju porabotivajusˇcˇe) wen sie konnten und erwirkten die Dienstverschreibung mit Gewalt und Folter. Sie flößten ihnen auch drei oder vier Becher [Branntwein] ein, damit sie gegen ihren eigenen Willen bezeugten, dass sie Sklaven wurden.“64

Dieser Bericht verkürzt einen komplexen Krisenzusammenhang auf wenige eindrückliche, um die Schuld Godunovs kreisende Bilder. Schon die Belastungen des Livländischen Krieges und die Verwüstungen der Opricˇnina unter Ivan IV. trieben viele Bauern und verarmte Adlige an die südlichen Grenzen. Dort fanden sie von Steuern unbelastetes Land, bessere Böden und günstigeres Klima vor als im Norden. Es waren allerdings die Reformen des Grenzschutzes unter demselben Zaren und die Bauprogramme Godunovs, die diese umfangreichen Wanderungsbewegungen möglich machten. Erst die Aktivitäten des Staates ließen dort also eine no-slaving zone für Orthodoxe Christen entstehen, in deren Deckung sie sich dem Ackerbau widmen konnten. Die Versprechungen der Steuerfreiheit für Bauern und Grenztruppen waren ansonsten, ohne den organisierten Schutz der Staatsgewalt, weitgehend gegenstandslos. Die flächendeckenden Steppenbefestigungslinien, anders als vereinzelt stehende Festungsstädte, rückten nur langsam nach Süden vor: Nach der alten Verteidigungslinie am Fluss Oka, der etwa einhundert Kilometer südlich Moskau vorbeifließt, entstand noch etwas weiter südlich seit den 1570er Jahren eine neue. Erst die Belgoroder Linie, die seit den 1630er Jahren gebaut wurde, stieß tief in die Waldsteppe vor.65 Die Knechte und Sklaven, denen Bojaren und andere Herren auf ihren Höfen Unterkunft und Verpflegung gewährten, gaben ihnen Ansehen und waren ein 64 RIB, Bd. 13, stolbec 487–8. 65 Vgl. Davies 2007.

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Zeichen ihres Status. Außerdem konnten Kriegsknechte auf die Verpflichtung der Grundbesitzer angerechnet werden, Soldaten zu stellen. Als sich zum Ende des 16. Jahrhunderts hin die klimatischen Bedingungen stetig verschlechterten, kam ein anwachsender Strom von Schuldknechten dazu, die von den Vorzügen des Status als Knecht oder Sklave Gebrauch machten, wie Steuerbefreiung und freie Verköstigung. Bald fehlten jedoch die Voraussetzungen für diese Form der Großzügigkeit, und die Herren wollten oder konnten ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen:66 „Zur Zeit der Großen Hungersnot erkannten [die Besitzer] dann, dass man derartig viele Knechte nicht ernähren konnte und begannen, ihre K[riegsk]nechte in die freie Wildbahn (na volju) zu entlassen […], manche haben sie förmlich aus ihrem Haus gejagt.“67 So entstand ein Teil des sozialen und militärischen Unruhepotentials, das in der ‚Zeit der Wirren‘ zu Anarchie und Bürgerkrieg beitrug. Da es Palicyn um den sozialen Zusammenhalt durch die moralischen Gesetze der Kirche zu tun ist, beziehungsweise um dessen Verlust und Wiederherstellung, betont er die Schuld der Besitzer an der Not der Schuldknechte, die aus temporärer Abhängigkeit nach einem Jahr ohne Rückzahlung in einen dauerhaften Sklavenzustand fielen: „Vor der großen Hungersnot hatten viele begonnen, sich ungehörig zu benehmen […]. Sie wollten sich in die Länge und die Breite erhöhen in der Nichtigkeit dieser Welt und es in allem den höchsten Würdenträgern und Mitgliedern der Zarenfamilie an Gold- und Silberbesitz gleichtun, an Pferden, Gefährten und der Zahl der Sklaven – doch sie beschränkten sich nicht auf eben solche, sondern nahmen sie von den Kaufleuten und Bauern […] und für all diese Überheblichkeit hat uns der Herr mit dem Hunger gestraft […].“68

Für sich genommen erscheint diese Aussage leicht als weiterer Beweis für die Einfältigkeit und Wundergläubigkeit moskowitischer Gottesfurcht. Im Zusammenhang des Textes dagegen gibt sich das barocke Vanitas-Moment als starke Ermahnung zu erkennen, die inneren Grenzen der Gegenversklavungszone für Schuldverknechtung und Versklavung zu beachten. Die Strafe Gottes bekräftigt den Aufruf und die Verpflichtung zum Zusammenhalt und zur Solidarität in der Gemeinschaft der Gläubigen: „Wer Weizen aus den Getreidespeichern des Zaren gab für das blutlose Opfer für alle Wohltaten des Schöpfers [Prosphoren], dem gebot [Godunov], anstelle dessen Roggen zum Gottesopfer zu geben. Obgleich es nicht aufgrund seines Befehls geschah, sondern wegen unserer Sünden, so erhielten wir doch vom großen Lebensspender [‚Nah-

66 Vgl. Richard Hellie, Slavery in Russia, 1450–1725. Chicago 1982; Richard Hellie, Slavery, in: Philip W. Goetz/Robert Machenry/Jacob Eli Safra/Dale Hoiberg (edd.), The New Encyclopaedia Britannica, Chicago/London 1993, 288–300; Witzenrath 2015. 67 RIB, Bd. 13, stolbec 483. 68 RIB, Bd. 13, stolbec 488.

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rungsspender‘; Gott] Mangel und Vernichtung der Saaten. […] Darüber soll niemand lachen! Ist das nicht überheblich und ein Mangel an Gottesfurcht? Was verlangt Gott von uns? Ist das nicht das Wesen von allem? Gottes ist die Erde und ihre Erfüllung, die Welt und alles, was auf ihr lebt, und es ist an ihm, allem Lebendigen täglich Nahrung zu geben.“69

Als Analyse des Verfalls der Gegenversklavungszone angesichts der klimatischen Katastrophe taugt das kaum, da die materiellen Voraussetzungen für den Unterhalt der Knechte nicht mehr vorhanden waren. Aus der Perspektive nach der Smuta jedoch, als es um die Wiederherstellung der Sicherheit insbesondere vor äußerer und zum Teil innerer Versklavung ging, war es sinnvoll, die alten Verpflichtungen wieder verbindlich zu machen. Mit intakten orthodoxen Moralvorstellungen ließ sich das leichter bewerkstelligen.

Pseudo-Dmitrij Da es 1612 um die Wahl einer neuen Dynastie ging, die die Мoskauer Gegenversklavungszone wieder einen soll – Palicyn gehörte dabei zu den engagiertesten und bis heute bekannten Propagandisten des Widerstands gegen die Polen – sollte die polnische Option diskreditiert werden, mit der der Zar Dmitrij identifiziert wurde. Dazu greift Palicyn passenderweise in die Zitatkiste der Vorstellungswelt, in der das Moskauer Reich ein Neues Israel darstellte: „Wie der Streitwagen des Pharaos entgegen seiner Absicht in den Abgrund gerissen wurde, so hat sich auch die russische Herrschaft der Unvernunft überantwortet.“70 Dass die Pferde und das Heer mit Pharao selbst beim Auftakt zur Flucht aus Ägypten in die Tiefe des Roten Meeres gerissen wurden, dient hier als Präfiguration der Übel, die den russischen Staat infolge der Anerkennung des PseudoDmitrij als Zar überwältigten.71 Das Moskauer Reich hat in diesem Bild den Schritt in den Zusammenbruch der eigenen Gegenversklavungszone gemacht und wird nun von Gott für den Abfall vom rechten Glauben und, wie das Bild des Pharao nahelegt und der weitere Text ausführt, die Versklavung der orthodoxen Christen gestraft. Pseudo-Dmitrij, in dem Palicyn den entlaufenen Mönch Grigorij sieht, macht er den Vorwurf, dieser habe die Moskowiter gegen die Krimtataren aufgehetzt und letztere gezielt beleidigt. Sein Ziel sei dabei nicht die im Sinne der Gegenversklavungszone wünschbare Eroberung der Krim als Ausgangspunkt und 69 RIB, Bd. 13, stolbec 484–485. ˇ erepnin (edd.), 70 RIB, Bd. 13, stolbec 493. Vgl. Ol’ga A. Derzˇavina/E. V. Kolosova/Lev V. C Skazanie [o osade Troickogo Sergieva Monastyria ot Poliakov i Litvy] Avraamija Palicyna, Leningrad 1955. ˇ erepnin 1955, 291. 71 Vgl. Derzˇavina/Kolosova/C

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Zolllager des Sklavenhandels, sondern der Verrat an den Moskowitern und deren Auslieferung als Sklaven an die Krimtataren gewesen: „[…] wie [der römische Kaiser] Julian Apostat, der [vom Christentum abfiel und] Christen tötete und die Hagarsöhne gegen sich aufbrachte, so sandte er dem Krimkhan unwürdige Geschenke, einen Pelz aus Schweinehaut und machte so unreine Geschenke.“72

Diese dem Pseudo-Dmitrij unterstellte Handlungsweise, die angeblich den Krimkhan erniedrigen sollte und gegenüber seinen Untertanen niederträchtig war, wird zum einen nicht von den Quellen gedeckt; Pseudo-Dmitrij versuchte, durch einen Feldzug über Astrachan’ auf die Krim die Steppengrenze zu stabilisieren. Allerdings hat er offenbar einen Brief kopiert, in dem Ivan IV. den Sultan beleidigt hatte.73 Zum anderen zeigt sich darin wiederum die Absicht Palicyns, Pseudo-Dmitrij für das Zerbrechen der Gegenversklavungszone verantwortlich zu machen. Die Bezeichnung „Hagarsohn“ war in einfachem pejorativem Gebrauch Glaubensbezeichnung und stand stellvertretend für Tataren und andere aus Moskauer Sicht in östlicher und südlicher Himmelsrichtung lebende Völkerschaften. Darüber hinaus schloss sie Konnotationen des Sklavenhandels ein, was sich nicht nur in der Bewertung Zar Dmitrijs zeigt, der zum Feldzug gegen die Krimtataren rüstete, „[…] doch es war ihm nicht um den Sieg über die Hagarsöhne zu tun, sondern er trachtete danach, jenen alle orthodoxen Christen auszuliefern. Mit Schiffen über den Don und auf der Steppe hieß er die Heere ziehen und füllte Moskau mit Polen [die seine Bundesgenossen bei diesem Feldzug seien] 74: so wollte er die Christen den Hagarsöhnen ausliefern, und Moskau den Polen.“75

Die Auslieferung und der Verkauf der eigenen Angehörigen, der hier erstmals anklingt, sind im Moskauer Reich verbreitete Motive. Die Wandgemälde im zu Zeiten der Regentschaft Boris Godunovs ausgemalten Thronsaal des Facettenpalasts im Moskauer Kreml legen dies den Söhnen des biblischen Jakob zu Last, die ihren Halbbruder Joseph „an die Ismaeliten verkauften.“ „Die Ismaeliten verkauften Joseph“ wiederum „an die Ägypter,“76 treten also als Menschen72 RIB, Bd. 13, stolbec 496. ˇ erepnin 1955, 291; Dunning 2001, 221. 73 Vgl. Derzˇavina/Kolosova/C 74 Tatsächlich gab es weder aus Polen noch vom Vatikan militärische Unterstützung; Dmitrij konnte einige tausend weißrussische, litauische und polnische Freischärler mobilisieren, Veteranen seiner früheren Kampagne um den Moskauer Thron: Dunning 2001, 221. 75 RIB, Bd. 13, stolbec 497. 76 Witzenrath, in Vorbereitung; Nadezˇda E. Mneva, Zˇivopis’ konca XVI–nacˇala XVII veka, in: Istorija Russkogo Iskusstva 3 (1955); Zabelin 1884, 1255. Nasibova/Kuznecov/Grosˇnikov 1978. Heute sind die Wandgemälde verdeckt von einer hölzernen Verschalung, auf der sich Gemälde des 19. Jahrhunderts befinden. Der Übersetzung der Beschreibungen von 1672

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händler in Erscheinung. Pseudo-Dmitrij wird somit des Verrats an der Gegenversklavungszone bezichtigt, die in diesen Wandgemälden ausgerufen wurde. Das rechtfertigte seine Verdammung, Absetzung und rufmörderische Hinrichtung, von der Palicyn auf den nächsten Seiten berichtet.

Vasilij Sˇujskij Palicyn stellt den Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der Gegenversklavungszone des Moskauer Reiches und der Schwäche der Monarchie sehr deutlich dar. Mit diesem Ziel benutzt er unter anderem Novgorod als Sündenbock, das sich aus Moskauer Sicht seiner Verpflichtungen wieder bewusst werden soll: „Vier Tage nach der Ermordung des Entlaufenen Mönches [Pseudo-Dmitrij] wurde Vasilij Ivanovicˇ Sˇujskij von einigen Niederrangigen im Zarenpalast zum Zaren ausgerufen und in den Palast gebracht. Keiner unter den Würdenträgern hatte zugestimmt und das übrige Volk hatte ihn auch nicht dazu gedrängt. Darüber sah Russland sich gespalten: manche liebten ihn, andre hassten ihn. Der Norden erinnerte sich nur noch allzu gut an die Verwüstung Novgorods durch [Zar] Ivan [IV.] Vasil’evicˇ und wollte solche Leiden nicht noch einmal erdulden; daher strebten sie von der Moskauer Staatsgewalt fort. Damit brachten sie viel Übel über ganz Russland [Rossija], denn sie brachten den [Falschen Dmitrij] auf den Thron, brachten so Verzweiflung über die christliche Bruderschaft und fügten sie dem polnischen Königreich in sklavischer Untertänigkeit (v rabotu) an. Zar Sˇujskij […] unternahm gegen diese Gauner nichts, außer zu beten. Und so ging ein jeder in ganz Russland gegen einander mit dem Schwert auf die Straße, es war noch nie eine so fürchterliche Zeit und sie wird nicht wiederkommen!“77

Diese Zustände betrafen vor allem die südwestlichen und westlichen Grenzgebiete, was Palicyn wieder zu seinem Thema führt, der Zerstörung des Moskauer Reiches durch das Zerbrechen der Gegenversklavungszone: „[dort] setzten manchmal die Städte die Truppen des Zaren Vasilij fest, oder suchten einander zu übertrumpfen und mit Feuer und Schwert zu verwüsten. Zu ihrer eigenen Versorgung kamen jedes Jahr die Krimtataren, Nogaier und Dnepr-Kosaken und trieben geraubte Menschen wie Vieh zu ihren eigenen Behausungen.“78

Die Überfälle der Krimtataren und Nogaier mit dem Ziel, Sklaven davonzutreiben, wuchs sich zu einem der zentralen Probleme der ‚Zeit der Wirren‘ aus.79 bei Zabelin zufolge sind deren Motive und Inschriften sowie die der alten Wandgemälde identisch. ˇ erepnin 1955, 116. 77 RIB, Bd. 13, stolbec 499; Derzˇavina/Kolosova/C 78 RIB, Bd. 13, stolbec 501. 79 Vgl. Dunning 2001.

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Ähnlich betont Palicyn die Teilung des Adels in das Lager in Tusˇino und die Hauptstadt als Ursache für die Verwüstungen und die Schutzlosigkeit der Menschen, auf die sich die „Polen, Litauer und die verräterischen Kosaken stürzten […] wie die Wölfe auf die Lämmer.“80 Der Verrat der Gegner Sˇujskijs erweist sich Palicyn zufolge darin, wie ihre Haltung zum internen Handel mit Gefangenen und Lösegeld führte, der die Bevölkerung zu Grunde richtete: „Die Polen standen beiseite und sahen sich diesen Verrat an; wenn es Beute zu verteilen gab, dann nahmen sie sich die besten Gefangenen mit Gewalt. Die Verräter, obwohl in der Mehrheit, ließen sich dies freudig gefallen. Schöne Gefangene, Frauen und Knaben und Kinder, nahmen sie nicht nur den schwächsten Verrätern ab, sondern auch deren Anführern. Manche nahmen sie sich zur Unzucht, andere ließen sie arbeiten. [Da] ihre Verwandten [die Gefangenen] den Polen nicht abnehmen konnten, mussten sie sie loskaufen zu einem hohen Preis, wie es ihnen ihre große Freundschaft oder Nächstenliebe eingab. Die Polen aber trieben ihren Schabernack mit den russischen Verrätern: man konnte ihnen Gewalt antun [oder] ihnen bei der Entgegennahme des Preises [die Gefangenen] nicht übergeben und ein neues Lösegeld verlangen; andere wiederum ließen sie nach Zahlung des Lösegeldes ziehen, nahmen sie jedoch auf dem Weg mit Waffengewalt wieder gefangen.“81

Avraamij Palicyn erklärt, wie die Auflösung der Hierarchie als wichtiger Bestandteil der politischen Organisation in der Gegenversklavungszone zum Verfall des Schutzes gegen Sklavenjäger führte: „Jeder wollte aus seinem Rang, zu dem er berufen war, höher aufsteigen: Sklaven wollten Herren werden, Unfreie strebten zur Freiheit [nevolnii k svobode], Krieger wollten Bojaren sein. […] Sie spielten Zaren wie die Kinder und ein jeder verlangte mehr Gehalt als es seinem Maß entsprach. […] Sie gingen nach Tusˇino, küssten dort das Kreuz des Herrn82 und ließen sich von den Feinden Gottes Land übertragen. Dann gingen sie nach [Moskau] zurück und verlangten vom Zaren Vasilij (Sˇujskij) mehr als zuvor, woraufhin sie wiederum zum Verräter [Pseudo-Dmitrij] abzogen. Viele haben so den ganzen russländischen Staat geschwächt, [indem] einer nicht nur zweimal, sondern fünf und sogar zehnmal in Tusˇino und Moskau erschien. […] So haben sie nicht nur ihre Väter und Brüder für Silber verkauft, sondern auch ihre eigenen Köpfe, ja sogar ihre Seele.“83

Der letzte Satz ist ein leicht abgewandeltes Zitat aus dem kanonischen Recht der Hundertkapitelsynode von 1551, das 1649 in das Gesetzbuch aufgenommen wurde. Es legt die Verpflichtung des Zaren und aller Gläubigen zum Loskauf der Gefangenen fest.84 Diese Sprachebene, die die gemeinsamen Ursprünge von 80 81 82 83 84

RIB, Bd. 13, stolbec 502. RIB, Bd. 13, stolbec 504. Sie leisteten dem zweiten Pseudo-Dmitrij den Untertaneneid. RIB, Bd. 13, stolbec 505–506. Vgl. Hecker 1986.

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Loskauf und Erlösungsglauben, von Monarchie und Monotheismus in der Sprache des Sklavenmarkts evoziert, kann sich unmittelbar auf den Gebrauch in der Bibel stützen. Sie gehört zu den Grundlagen des Moskauer Reichs und seiner Rhetorik, wie sie sich seit den 1550er Jahren herausgebildet hatten.85 Diese Verpflichtung zum Loskauf, zur Freilassung und zur Befreiung der Gläubigen, der eigenen Gruppe bringt Palicyn auch im Folgenden mittels biblischer Exodus-Referenzen zum Ausdruck: „Wie schon Pharao und die Ägypter nicht die Taten Gottes anerkennen wollten und [infolgedessen] das Wunder vom Roten Meer [der Auszug der israelitischen Sklaven aus Ägypten] unter allen Völkern bekannt wurde, so machen sich die Moskowiter durch ihre Kollaboration mit den Verkündern des Antichristen, den Polen und Lutherischen bei allen Völkern lächerlich. […] und alle Gebiete Russlands stürzten aus der Erhabenheit in die Verödung. […] Wer erträgt es zu sehen, wie die Hagarsöhne jedes Jahr heranreiten und Menschen gefangen nahmen und wie Vieh [wegtrieben]. […] Gegen sie aber hat Russland sich nicht gewendet, sondern es hat ein jeder gegen seine Brüder gekämpft.“86

Es ist eine typische Wendung der moskowitischen Literatur, sich selbst mit dem Gegner gleichzusetzen, also mit Pharao, wie dies mutatis mutandis etwa in der ‚Klage über den Untergang der Zarenstadt‘ [Konstantinopel] geschieht. Diese Wendung geschieht hier doppelt: Zurück in die Opferposition, der Sturz aus der Erhabenheit in die Verödung und Versklavung. Dieses Stilelement des Sturzes aus der Gnade Gottes ist typisch für die Sprache, in der die Bibel die Beziehung Israels zu seinem Gott und Herrn beschreibt. Darin gibt sich die Einsicht zu erkennen, dass die inkriminierten Verhaltensweisen – in analytischen Termini gewendet – eine neue, interne Versklavungszone etablierten und zugleich das gesamte Territorium des Moskauer Reichs für die nomadischen Sklavenjäger öffneten. Palicyn beschreibt eindringlich Menschenjagdszenen, an denen sich in Wald und Feld im Schein nächtlicher Feuer neben Kosaken und Polen gerade die moskowitischen „Verräter“ beteiligt haben sollen.87 Dies unterstreicht, in welchem Maß aus seinem Blickwinkel eine interne Versklavungszone aus politischer Desorganisation entstand. Palicyns Thema sind dabei gerade die durch existentielle Not, unmittelbare Verfolgung und Orientierungslosigkeit hervorgerufenen Entsolidarisierungen unter Nachbarn. In diesem Zusammenhang bezichtigt Palicyn auch die dem Zaren dienenden Tataren des Verrats: „Der von [Zar] Boris eingesetzte Khan von Kasimov lief zum Verräter von Tusˇino [Zweiter Pseudo-Dmitrij] über und führte überall Krieg 85 Vgl. Witzenrath, in Vorbereitung; Witzenrath 2015. 86 RIB, Bd. 13, stolbec 508–509. 87 Vgl. RIB, Bd. 13, stolbec 511–512.

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zusammen mit den Polen und russischen Verrätern – [seine angeblichen Übeltaten in den Grenzstädten werden aufgezählt].“88 Damit wird Palicyn den Diensttataren schwerlich gerecht, denn gerade die Kasimover Tataren waren Boris Godunov treu ergeben und führten unter seinem General Vasilij Sˇujskij eine blutige Vergeltungskampagne gegen die severischen Städte am Rande der Steppe und an der Grenze zu Polen, die sich dem Thronprätendenten Dmitrij zugewandt hatten.89 Die Inthronisation Sˇujskijs mochten sie gerade auf dem Hintergrund der Moskauer Legitimationsrituale und – legenden, die sie mittlerweile teilten, ebenso wenig verstehen wie die im selben Atemzug angeklagten Kazan’er Tataren.90 Diese Verzerrung fällt umso mehr auf, als Palicyn, wie erwähnt, selbst zugegeben hatte, dass Zar Sˇujskijs Thronbesteigung gerade unter den Orthodoxen Christen des Moskauer Reichs umstritten war. Dies unterstreicht, dass die Gegenversklavungszone zusammengebrochen war, und mit ihr das Vielvölkerreich. Die Kirche bildete die gemeinschaftsstiftende Grundlage dieser Gegenversklavungszone, deren mangelnden Schutz Palicyn auf den folgenden Seiten wortmächtig und in allen blutrünstigen und emotional bewegenden Details beschwört, um fortzufahren: „Es steht geschrieben, ‚ihr seid der lebendige Tempel Gottes. Wie Gott selbst gesagt hat: Wenn ich unter ihnen Platz nehme und ihnen gleiche, und sie werden meine Leute – Söhne und Töchter […] und wie sagt Johannes Chrysostomos: ‚Die Kirche besteht nicht aus steinernen oder hölzernen Wänden, sondern aus den Gläubigen.‘“91

Mit Plaggenborg kann dies als ekklesiologische Gesellschaft verstanden werden, die „hierarchisch geordnet ist; zur Spitze ausgerichtet; gemeinschaftlich solidarisch; ihre Mitglieder sind auf den Hüter der Gerechtigkeit fixiert, in der Ordnung, im Erkennen und im Handeln stets mit Bezug zum Sakralen; Gehorsam ist Fügung in die Ordnung.“92 Allerdings sind Hierarchie und Ordnung, die das Moskauer Reich unter hohem sozialem Druck verwirklicht hat,93 kein Selbstzweck. Ein hohes Maß an politischer Organisation, das Palicyn einklagt, ist, wie Fynn-Paul zeigt, Voraussetzung der no-slaving zone oder genauer, der Moskauer Gegenversklavungsˇ erepnin (edd.), 88 RIB, Bd. 13, stolbec 509; Ol’ga A. Derzˇavina/E. V. Kolosova/Lev V. C Skazanie [o osade Troickogo Sergieva Monastyrja ot Poljakov i Litvy; […]] Avraamija Palicyna, Moskva 1955. 89 Vgl. Dunning 2001, 168–169. 90 Vgl. Matthew P. Romaniello, The Elusive Empire. Kazan and the creation of Russia, 1552– 1671, Madison, WI 2012, 46–49. 91 RIB, Bd. 13, stolbec 516–517. 92 Plaggenborg 2018, 350. 93 Vgl. Valerie Kivelson, Desperate Magic. The Moral Economy of Witchcraft in Seventeenth Century Russia. Ithaca, NY 2013.

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zone. Bei allgemeiner und zunehmender Ressourcenknappheit macht dieses hohe Maß an Organisation zum Zweck der Verhinderung von Versklavung und Verteidigung die Verteilungsgerechtigkeit zur einzigen Alternative der ‚Fixierung auf den Hüter der Gerechtigkeit‘. Diese Alternativen können in akuten Situationen nur mittels etablierter partizipativer Institutionen umgangen werden. Wirkliche Verteilungsgerechtigkeit ist stets nur in Annäherungen zu erreichen; ihre Wahrnehmung ruht auf gesellschaftlichen Konsensen, die stets voraussetzungsvoll sind. Am einfachsten ist es unter Bedingungen der Knappheit, einen Hüter der Gerechtigkeit auszurufen, besonders, wenn dieser ein Motiv hat, sich so darzustellen. Im Ausklang stimmt Palicyn noch einmal einen Klagegesang an, der seine grundlegenden Beweggründe und Gedanken zusammenfasst: „Ist es uns nicht allen offenbar, dass uns die gerechte, zornig-schnelle Strafe Gottes ereilte für all dieses verübte Unheil? Dazu zählt schon der erste Kreuzeskuss [Untertaneneid]94 auf Boris, der häretische Kreuzeseid auf den [Pseudo-Dmitrij], sodann auf den rechtgläubigen Zaren Vasilij Ivanovicˇ Sˇujskij […] und die Freundschaft mit Verrätern und falschen Zaren, und mit den Polen, Kosaken und Räubern. Wie soll das anders zugehen, als dass dabei die Kirche Gottes beschmutzt wird? Die im Glauben Starken gestatten den Feinden Gottes keinen Zugang [zur Gemeinschaft der Gläubigen …] Wo ist der ganze russische Wohlstand? Wurden nicht alle vollständig vernichtet und verhöhnt? Wo ist das allgemeine Volk Christi? Sind nicht alle übel und bitter zugrunde gegangen? Wo sind die unzählbar Vielen, die in den Städten und Dörfern arbeiteten, die Herde Christi? Haben sie nicht alle ohne Gnade gelitten und wurden in die Sklaverei geführt?“95

Eine knappere Zusammenfassung des Zusammenbruchs der Gegenversklavungszone, ihrer Voraussetzungen und Effekte, wie sie hier geboten wird, lässt sich auf allgemeinverständlicher Ebene nur schwer formulieren. Obwohl die historischen Vorgänge davon nicht vollständig abgebildet werden, lässt sich ein gedachter Weg von Leichtgläubigkeit und Verrat an den Legitimationsprinzipien der Monarchie und an den Glaubensartikeln der monotheistischen Religion über politische Destabilisierung zu Sklaverei und Untergang verfolgen. Diese Analyse soll nicht die Alternativlosigkeit dieser Zusammenhänge behaupten, sondern das politische Bewusstsein zumindest Palicyns und eines Teils seiner Zeitgenossen, die diesen Text kopierten und lasen, beleuchten.

94 Im russischen Feiertag der Kreuzeserhöhung schwingen deutliche Untertöne eines Befreiungsnarratives mit: Witzenrath, in Vorbereitung. ˇ erepnin 1955, 126. 95 RIB, Bd. 13, stolbec 522; Avraamij/Derzˇavina/Kolosova/C

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Schluss Für Avraamij Palicyn ist ein guter und legitimer Zar fromm und orthodox, doch der Frage, ob er von den Rjurikiden abstammt, wird erstaunlich wenig beziehungsweise keine feststellbare Bedeutung zugemessen, sieht man einmal von der zur Förderung einer Gegenversklavungszone notwendigen Polemik um die Pseudo-Dmitrijs ab. Neben der Zustimmung zur Akklamation eines Zaren oder, etwa im Falle Vasilij Sˇujskijs, deren problematischer weitgehender Abwesenheit, ist das wichtigste Kriterium der Umgang mit der südlichen Grenze und deren stetig an Bedeutung zunehmender, oft unruhiger und rebellischer Grenzlandgesellschaft. Das ist angesichts der zentralen Bedeutung des damit verbundenen Problemknäuels für den Moskauer Staat nur angemessen. Palicyn geht jedoch über eine allgemeine Besprechung der Problemlagen deutlich hinaus. Aus heutiger Forschungssicht entspricht seine Darstellung und Analyse gerade den ideologischen Rezepten, die zu seiner Zeit verfügbar waren, und zwar unabhängig davon, ob in Westeuropa oder der übrigen Welt. Das Moskauer Reich gründete sich spätestens mit den Eroberungen der 1550er Jahre auf dem, was man mit heutigen Begriffen in Anlehnung an Jeffrey Fynn-Paul das ideologische Gerüst einer „Gegenversklavungszone“ nennen kann.96 Palicyn griff diese Ideen auf und nutzte sie, um den Kataklysmus der ‚Zeit der Wirren‘ begreifbar zu machen und die Forderung nach einer starken, verlässlichen Monarchie mit einem ‚barmherzigen‘ Zaren im Zentrum, der sich um die Befreiung und den Loskauf der Gefangenen und Sklaven sowie den Schutz vor Sklavenhandel und -jagd kümmert, zu untermauern. Dazu nutzte er eine im Alten Testament angelegte, wenigstens implizit befreiungstheologische Interpretation der Bibel.97 Diese Interpretationen des Monotheismus begünstigten die Zurückdrängung des Sklavenhandels, indem sie eine stärkere politische Organisation förderten. Solche Schwerpunktsetzungen erschließen sich einerseits auf dem Hintergrund einer nur wenig über das Subsistenzniveau hinausreichenden Binnenagrarwirtschaft am Rande der klimatischen Zone, in der Ackerbau möglich war, auf verhältnismäßig wenig fruchtbaren, aber im Übermaß zur Verfügung stehenden Böden. In der Kleinen Eiszeit unterlag die Moskauer Agrarwirtschaft einem zusätzlichen Stresstest. Andererseits steht diese Priorisierung im Gegensatz zu den – relativ betrachtetet – Überflussgesellschaften im Süden, die einen hohen Arbeitskräftebedarf entwickelten, den sie aufgrund der Versklavungsverbote im ‚Haus des Islam‘ außerhalb ihres Herrschaftsbereichs zu 96 Zur Transfergeschichte dieser im Sinne der Nichtversklavungszone monarchischen Ideen: Witzenrath, in Vorbereitung. 97 Zu späteren Ausprägungen von Befreiungstheologien im Russländischen Reich: Alexander I. Negrov, An Overview of Liberation Theology in Orthodox Russia, in: HTS Teologiese Studies/Theological Studies 61 (2005), 327–345.

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decken suchten. Der resultierende Abfluss an Arbeitskräften zwang die Versklavungszone primär in die Reproduktion; Steigerungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die auch in Auseinandersetzung mit dem wachsenden Einfluss Europas notwendig erschienen, wurden so erschwert. Mit dem Begriff der Gegenversklavungszone steht also ein Ansatz zur Untersuchung transimperialer Marktmechanismen bereit, der Essentialisierung vermeidet sowie politische und kulturelle Rahmenbedingungen berücksichtigt. Der Zusammenbruch dieser ohnehin stark belasteten Ordnung ging daher mit einer Zunahme der Versklavung einher, die Palicyn im zugrunde gelegten Text beklagt und mit den Schwächen der Monarchie – ja, sogar mit den ökonomischen Schwächen von Boris Godunovs Politik der Verteilung von Getreide in der Krise – in Verbindung bringt. Dazu nutzt er, ganz entsprechend der Rolle der Ideologie in der Gegenversklavungszone, eine betont monotheistische Sprache. Die Sklavenjäger, -händler und ihre inländischen Handlanger bezeichnet er als Antichristen, was in einer Überlieferungslinie mit früheren Texten wie der oft mit seiner ‚Skazanie‘ aufgefundenen Geschichte von Kazan’ liegt,98 wo sie auch als Teufel und Drachen erscheinen. Aus dem Rückblick der Zeit unmittelbar nach der Smuta ist die Herrschaftsform, die als Autokratie auf dem Zusammenwirken von uneingeschränkter Zarenmacht und Bürokratie mitsamt ihrer innewohnenden Hierarchisierung beruht, vorzuziehen, da die polnische Besatzung die für die Aufrechterhaltung der noslaving zone notwendigen Verwaltungen nicht wiederherstellte; dies geschah erst unter den Romanovs, seit den oft negativ bewerteten späten Jahren Michails. Der Sinneswandel zur umfassenden Befestigung der Steppengrenze anstelle der Wiedergewinnungspolitik des Zarenvaters, Patriarchen und heimlichen Herrschers Filaret gegenüber Polen kam bezeichnenderweise erst nach der harten Lektion der missglückten Belagerung der wichtigen Grenzfestung Smolensk 1632. Das Moskauer Reich war an seiner südlichen Grenze verwundbar, weil die Dienstleute ausblieben, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wenn Tataren ihre Bauern forttrieben.99 Diese Entwicklung, die die ‚Zeit der Wirren‘ umfasst, zeigt, dass Errungenschaften der no-slaving zone unter bestimmten Bedingungen verloren gehen oder verlernt werden konnten. Sie blieben jedoch aus den Quellen oder dem Gedächtnis abrufbar. Eine Bewertung und Würdigung der institutionellen Macht- und Herrschaftsstrukturen des Moskauer Reiches aus den globalen, regionalen und ökologischen Bedingungs- und Beziehungsfaktoren heraus erscheint aussichtreicher und produktiver als der mittlerweile diskreditierte direkte oder indirekte 98 Stichwort: Avraamij [Palicyn], Dmitrij M. Bulanin/Dmitrij S. Lichacˇev/Anatolij A. Turilov (edd.), Slovar’ knizˇnikov i knizˇnosti drevnej Rusi. XVII v., cˇast’ 1, S.-Peterburg 1992. 99 Vgl. Davies 2007.

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Vergleich mit einem idealisierten Europa. Nicht zuletzt steht das Interpretationsmuster der (Nicht-)Versklavungszone als tertium comparationis bereit, das bislang auf die europäische Frühe Neuzeit noch nicht angewendet wurde. Gerade die neuerdings als Transottomanica bekannt gewordenen transkulturellen Überlappungszonen sind vielversprechende Gegenstände einer Suche nach analogen, aber auch unterschiedlichen Phänomenen.100

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Christian Werner

Autocracy and Consensus: Aspects of Ho¯jo¯ Rule in Japan’s First Shogunate

Abstract The Kamakura shogunate (1185–1333) is typically portrayed as the advent of autocratic rule by the Ho¯jo¯ family, who dominated the regime’s administration, rendering the nominal ruler – the shogun – increasingly powerless. One of the most influential approaches to elucidate these developments is found in the work of the late Sato¯ Shin’ichi. The historian postulated a three-staged process outlining the evolution of the Kamakura polity: that of a shogunal-patrimonial autocracy, an era of consultative governance, and finally, a new type of “autocratic” rule by the headship (tokuso¯) of the main Ho¯jo¯ lineage. The final stage of this ‘tokuso¯ autocracy’ has been characterized by three core aspects: (1) institutionalization of the lineage chief ’s personal council as the highest governing body, (2) tokuso¯ hegemony over the wider Ho¯jo¯ lineage group, and (3) creation of a personal network of vassals who occupied key positions in the shogunate administration. However, Sato¯’s research has to be seen within the wider context of his work, centered around two general concepts: arbitrary decision-making by a single entity (‘sensei’), and consensual decision-making by a collectivity (‘go¯gi’). These two concepts should be interpreted as dichotomous ideal-typical constructs determinative of premodern historical polities. Consequently, this paper outlines the validity of such a conceptual framework for a transcultural approach to premodern political history, through the discussion of several key topics of shogunate history centered on the decline of direct shogunal rule and the emergence of council government.

Introduction In the year 1180, Minamoto no Yoritomo 源頼朝 (1147–1199), warrior noble exiled to the Kanto¯ region far to the east of the imperial capital of Kyoto, spearheaded a rebellion that, within years, saw him firmly established as the archipelago’s supreme warrior leader. Yoritomo is regarded as the founder of what historians now call the Kamakura shogunate (1185–1333), the first shogunate government in history.1 When mere decades later, however, the most 1 Historians proposed several alternative founding dates; see, for example, Takahashi Nor-

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powerful man in the Kyoto court – Retired Emperor Gotoba 後鳥羽天皇 (1180– 1239, r. 1183–1198) – called for a crusade against the shogunate, his objective was not to defeat a shogunal successor. His objective was to oust a certain Ho¯jo¯ Yoshitoki 北条義時 (1163–1224), Yoritomo’s brother-in–law, from his position of authority in Kamakura. But Gotoba failed; it took another century, until the year 1333, when his descendant Godaigo 後醍醐天皇 (1288–1339, r. 1319–1339) was successful in overthrowing the Kamakura warrior government. One famous edict of the sovereign’s leading general, his own son Moriyoshi 護良親王 (1308– 1335), condemned a certain “lay monk Takatoki, descendant of Tokimasa, local official of Izu province.”2 This contemptuous expression referred to Ho¯jo¯ Takatoki 北条高時 (1303–1333), of the very same Ho¯jo¯ lineage that Gotoba sought to remove from power a century before. For more than a century, the shogunate had remained firmly in the grasp of the Ho¯jo¯ lineage. What had happened that Yoritomo’s legacy was quickly and decisively usurped by the Ho¯jo¯? This question has driven countless scholars to study the Kamakura shogunate and the Ho¯jo¯ clan’s rise to power. One of the most influential of these was historian Sato¯ Shin’ichi: his ideas on the emergence of Ho¯jo¯ rule, first published in 1955, have long achieved the status of paradigm.3 The quantity of research building on his ideas and terminology is ever-growing; but whereas modifications of and elaborations on his ideas are commonplace, an outright rejection of his propositions has been exceedingly rare.4 Nevertheless, an often-overlooked aspect of Sato¯’s theories on Ho¯jo¯ ascendancy is that they have a firm place in the wider context of his work, where concepts of ‘autocratic’ and ‘consensual’ modes of governance are of central significance. I would argue that these more general concepts permit an abstraction suitable to transcultural approaches to history. Consequently, this paper’s intent is two-fold: to serve as an introduction to these theoretical considerations on Ho¯jo¯ governance, and to present several key ¯ tsu To¯ru et al. (eds.), Iwanami ko¯za Nihon rekishi, 22 vols., iyuki, Kamakura bakufu ron, in: O vol. 6: Chu¯sei 1, Tokyo 2013, 97–128, esp. 99–101. Professor Kondo’s paper in this volume also suggests a different date. ¯ to¯nomiya Moriyoshi-shinno¯ ryo¯ji 大塔宮護良親王令旨, Kamakura ibun 2 Genko¯ 3(1333) 4/1, O doc. 32075. Compiled in Kamakura ibun, ed. Takeuchi Rizo¯, 52 vols., 1971–1997 (CD-ROM edition 2008). 3 Cf. Sato¯ Shin’ichi, Kamakura bakufu seiji no senseika ni tsuite, in: Sato¯ (ed.), Nihon chu¯seishi ronshu¯, Tokyo 1990 (Orig. 1955), 67–111. 4 For example, Hosokawa Shigeo, Kamakura bakufu tokuso¯ sensei ron, Tokyo 2000; Hosokawa Shigeo, Kamakura bakufu no metsubo¯ (Rekishi bunka raiburarı¯ 316), Tokyo 2011, esp. 108–110; Uwayokote Masataka, Kamakura bakufu to kuge seiken, in: Asao Naohiro (ed.), Iwanami ko¯za Nihon rekishi, 26 vols., vol. 5: Chu¯sei 1, Tokyo 1975, 35–77, esp. 66. For a more critical reception, see Andrew E. Goble, The Ho¯jo¯ and Consultative Government, in: Jeffrey P. Mass (ed.), Court and Bakufu in Japan. Essays in Kamakura History, Stanford/New Haven 1982, 168–190, who was clearly influenced by Uwayokote’s ideas.

Autocracy and Consensus: Aspects of Ho¯jo¯ Rule in Japan’s First Shogunate

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topics of shogunate history, centered on the decline of direct shogunal rule and the emergence of council government, to exemplify the analytical approach.

Autocracy and Consensus Sato¯ framed a sequence of three distinct political configurations, each characterized by either more autocratic or consensual modes of decision-making, to describe the evolutionary process of the Kamakura shogunate: (1) a ‘patrimonial’ monocracy by the shogun himself (sho¯gun dokusai 将軍独裁); (2) ‘consultative government’ by warrior elites who were the shogun’s subjects (shikken seiji 執権 政治); and (3) autocratic rule by the head of the main Ho¯jo¯ lineage (the tokuso¯ 得 宗; hence: tokuso¯ sensei 得宗専制).5 For all intents and purposes, these three stages outline the convenient narrative of a monolithic, dictatorial regime that was supplanted by a consultative type of government, which, in turn, reflected the consensus of the powerful warriors of Kamakura. However, successive elimination of several of the most powerful warrior families shifted the balance of power increasingly towards the Ho¯jo¯ family, who traditionally had monopolized access to the office of shikken 執権,the highest official presiding over the shogunate’s council.6 The Ho¯jo¯ leader eventually came to exercise a type of authority

5 Sato¯’s terminology is difficult to translate satisfactorily, especially since the fields of possible meanings for the terms dokusai and sensei are significantly overlapping. Earlier attempts included mainly: “shogunal authoritarianism,” “assembly rule under the early Ho¯jo¯ regents,” ¯ nin War. History of its Origins and “Ho¯jo¯ (Tokuso¯) authoritarianism”, in Paul Varley, The O ¯ nin, New York/London and Background, with a Selective Translation of The Chronicle of O 1967, 17; and “shogunal authoritarianism, consultative government, and Ho¯jo¯ autocracy,” in Goble 1982, 169. However, the term dokusai literally means “to decide matters alone, by oneself” and is a common translation for the concept of dictatorship: a form of government which concentrates power in the hands of either a specific class, group or individual. Moreover, the Japanese term is more nuanced and can also be translated as despotism, autocracy, or tyranny, depending on context. Sensei (commonly found as sensei seiji in dictionaries) is typically employed to translate the concept of despotism – interpreted as an absolute and arbitrary regime of one or several ruling entities. It may encompass the idea of tyranny, but commonly refers to a type of ‘Oriental Despotism’ where divine or sacred qualities may be ascribed to the sovereign. Consequently, it is used as the translation of both Montesquieu’s usage of ‘despotism’ as well as Karl August Wittfogel’s ‘Oriental Despotism’. Literally, the term sensei, removed from such terminological discourse, describes “arbitrary, unrestricted rule.” The conceptual distinction of the terms dokusai and sensei (seiji) is a subject of scholarly debate; Kato¯ Tetsuro¯, Dokusai, in: Kaitei shinpan sekai hyakka jiten (2007), accessed August 6th, 2019, https://japanknowledge.com/psnl/display/?lid=102005243500; Yoshioka Tomoya, Sensei seiji, in: Kaitei shinpan sekai hyakka jiten (2007), accessed August 6th, 2019, https:// japanknowledge.com/psnl/display/?lid=102005243500. 6 Shikken is commonly translated as “shogunal regent,” although I do not think it’s the most ideal analogy.

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no longer reliant on this office – a phenomenon Japanese research has labeled “tokuso¯ autocracy.”7 Historian Kondo¯ Shigekazu once commented on the advent of tokuso¯ rule that “the tokuso¯ had to become the shogun [in all but name].”8 In other words, the tokuso¯’s personal authority had to undergo a transformational process in order to be representative of the transpersonal shogunate authority. But did this mean that the Ho¯jo¯ truly erected an autocratic regime of their own, or are there different implications at work here? Sato¯ had defined three core aspects to this Ho¯jo¯ domination: (1) the institutionalization of the lineage chief ’s personal council as the highest governing body, (2) tokuso¯ hegemony over the entire Ho¯jo¯ clan, and (3) the creation of a personal network of vassals (the miuchibito 御内人) who occupied key positions in the shogunate administration.9 Each of these three factors could easily fill a paper of its own; moreover, the last few decades have shown that especially the exact nature of Ho¯jo¯ hegemony demands thorough revaluation.10 Furthermore, the emergence of what de facto constituted dual vassalage in the form of these miuchibito housemen – of whom many concurrently were in a subordinate relationship to the shogun – is accompanied by implications touching upon the vastly more complex subject of social change within medieval (warrior) society in general.11 One aspect remains: the institutionalization of the Ho¯jo¯ leader’s personal council. As initially stated, Sato¯’s research was profoundly influenced by an approach to history centered around the relationship between the central ruling personage and its surrounding elites. He conceptualized these principles in two dichotomous terms: arbitrary decision-making by a single entity (‘sensei’ 専制, 7 Whereas the translation of sensei as autocracy can be debated, it has been firmly established as its translation in the relevant scholarship; see, for example, translated in Ishii Susumu, The Decline of the Kamakura Bakufu, trans. by Jeffrey P. Mass and Hitomi Tonomura, in: Marius B. Jansen (ed.), Warrior Rule in Japan, Cambridge/New York/Melbourne 1995 (Orig. 1990), 44–90, here: 71. 8 Kondo¯ Shigekazu, Kamakura bakufu to kuge seiken, in: Kondo¯, Kamakura jidai seiji ko¯zo¯ no kenkyu¯, Tokyo 2016 (Orig. 2006), 497–542, here: 531. Note: quotations from scholarly literature in Japanese are translations by myself; in cases of direct quotations, I am indicating that I opted for a translation which stays as close as possible to the original phrase instead of paraphrasing. 9 Sato¯ 1990 (1955), 67–69/81–82. 10 Akiyama Tetsuo, Ho¯jo¯-shi ichimon to tokuso¯ seiken, in: Nihonshi kenkyu¯ 458 (2000), 23–50, suggests a much greater degree of independence – and consequently, interdependence – of the various Ho¯jo¯ lines. Compare with, for example, Sato¯ 1990 (1955), 84–91, and Okutomi Takayuki, Kamakura Ho¯jo¯-shi no kisoteki kenkyu¯, Tokyo 1980, esp. 1–100. 11 For an exemplary case study on miuchibito, see for example, Hosokawa Shigeo, Kamakura bakufu to Sagami bushi. Miuchibito o chu¯shin ni, in: Seki Yukihiko (ed.), Sagami bushidan, Tokyo 2017, 52–66. For a summary of the general implications for the early medieval society, see Furusawa Naoto, Kamakura bakufu to chu¯sei kokka. ‘Tokuso¯ sensei’ ron no saikento¯ o chu¯shin ni, in: Rekishigaku kenkyu¯ 586 (1988), 80–91.

Autocracy and Consensus: Aspects of Ho¯jo¯ Rule in Japan’s First Shogunate

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which may be roughly translated as ‘autocracy’), and consensual decisionmaking by a collectivity (‘go¯gi’ 合議, or ‘consultation’).12 These two concepts may be interpreted as dichotomous ideal-typical constructs, which are determinative of premodern historical polities.13 In practice, these ideal-types contrast the entirely unrestrained capacity of the ruler to enforce his political will on others on the one side with the collectivity of elites aspiring to participation in the formation of political will on the other – consequently restraining the theoretically limitless and arbitrary power of the central ruling entity.14 In other words, this approach facilitates the analysis of a premodern polity by means of a dichotomy between an ideal-typical monocracy (be it evaluated as an autocracy, despotism, or dictatorship) and an inherently consensual form of consultative governance. Incidentally, this notion of ‘consultation’ appears to be surprisingly reminiscent of recent discourse centering on the term ‘Konsensuale Herrschaft’ (consensual rule) in German-language research on medieval history, which typically is interpreted as interaction and cooperation within the ruling elite; however, consultation does not necessarily imply an equal balance of power – and therefore, equivalent agency in the decision-making process – between the constituent members of the ruling elite (which needs to be defined as either including the ruler himself or as being a distinct, antagonistic, group).15 Hence, ‘consultation’ may in theory include a system where members of a group might consult with each other, but only part of that group actually has the capacity to directly determine the specific content of the resulting decision. The weapon of choice employed in establishing a collectivity’s participation (or, in extreme forms, even domination) vis-à-vis an autocratic ruling figure might be described as ‘institutionalization’: the endeavor to introduce and establish ‘traditions’ of consultative gatherings and administrative organization as institutional organs 12 Sato¯ Shin’ichi, Go¯gi to sensei, in: Sato¯ (ed.), Nihon chu¯seishi ronshu¯, Tokyo 1990 (Orig. 1988), 313–325, esp. 314–315. Certainly, in light of autocracy’s prominence in contemporary politics, a different term, such as monocracy, might be less debatable. 13 Sato¯ himself did not explicitly develop his ideas in the form of an abstract methodology; however, a thorough reading of his work strongly implies that these concepts represent ideal types. For a discussion of various ideal types, see Wolfgang J. Mommsen, Ideal Type and Pure Type. Two Variants of Max Weber’s Ideal-typical Method, in: Mommsen (ed.), The Political and Social Theory of Max Weber, Cambridge/Malden, MA 1989 (Orig. 1986), 121–132. 14 Sato¯ 1990 (1988), 314–315. 15 “Konsensuale Herrschaft wird in der Regel als Interaktion und Kooperation innerhalb der herrschenden Eliten interpretiert”; Thomas Ertl, Konsensuale Herrschaft als interkulturelles Konzept, in: Matthias Becher/Stephan Conermann/Linda Dohmen (eds.), Macht und Herrschaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung (Macht und Herrschaft 1), Göttingen 2018, 123–143, esp. 129; see also Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig et al. (eds.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, Berlin 2000, 53–87.

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of the polity; and moreover, the enshrinement of limitations of even the sovereign’s authority in codes of law.16 It is now most peculiar that for a stipulated move towards autocracy (as expressed in Ho¯jo¯ domination) the very institutionalization of a personal deliberative body is one of three determining factors. This is clearly indicative not of pure, but hybrid states between the two concepts actualized within social reality, which makes the ideal-typical approach appropriate. The following sections will elaborate on each distinct phase of Kamakura shogunate history, roughly corresponding to the outline postulated by Sato¯’s three-staged paradigm.

The early Kamakura shogunate Minamoto no Yoritomo laid the foundations of the Kamakura shogunate when he took up arms against his family’s long-time rival Taira no Kiyomori 平清盛 (1118–1181). The Taira-leader came to dominate the imperial court in Kyoto after an altercation with his erstwhile ally, Retired Emperor Goshirakawa 後白河 天皇 (1127–1192, r. 1155–1158).17 Kiyomori’s grandson was the young reigning Emperor Antoku 安徳天皇 (1178–1185, r. 1180–1185). However, the old warrior aristocrat had earned his share of enemies in the ranks of the established courtly elite; especially Prince Mochihito 以仁王 (1151–1180), one of Goshirakawa’s sons, resented Kiyomori, since Antoku’s enthronement had allegedly deprived the prince of the throne. Unsurprisingly, Mochihito issued an edict condemning Kiyomori.18 Although the prince’s insurgence soon cost him his life, his edict spread to several warrior chieftains – especially in the Eastern regions of Japan – who appropriated it as a means to impart rebellions of their own with an air of legitimacy. Minamoto no Yoritomo was the most successful of these Eastern

16 The introductory chapter to Sato¯’s later monography Nihon no chu¯sei kokka might present the most concise example of the resulting interplay; Sato¯ Shin’ichi, Nihon no chu¯sei kokka, Tokyo 1983, 1–10. 17 The early medieval period saw the emergence of rule by the retired emperor, which can be explained as follows: “Insei [i. e., government by the retired emperor] does not refer to the continued exercise of power by a sovereign who had relinquished the throne, but rather to a state where the linear ascendant of the [reigning] sovereign presides over government. In other words, the authority of the sovereign does not lie within the Tenno personally, but is possessed by the sovereign’s family;” Kondo¯ 2016 (2006), 508. 18 The edict is only cited in the official shogunate chronicle, the ‘Azuma Kagami.’ Kiyomori is painted as a stereotypical tyrant defiant of the natural order of things, enemy of the secular and sacred; Azuma kagami 吾妻鏡, ed. Kuroita Katsumi/Kokushi Taikei Henshu¯kai (Shintei zo¯ho kokushi taikei 32–33), 2 vols., Tokyo 1964–1965, Jisho¯ 4 (1180) 4/27.

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warriors: he vanquished not only his eastern rivals, but also annihilated Kiyomori’s descendants – including the child-sovereign Antoku – in the year 1185.19 But until his triumph, Yoritomo was a rebel in the eyes of the court – recourse to Mochihito’s edict was hardly legitimate in light of an enthroned sovereign’s authority. He nonetheless cited this document as the grounds for his arrogation of provincial and local administrative infrastructure to consolidate his powerbase, despite the writ never bestowing such authority upon its recipients; accordingly, it is certainly appropriate to speak of Yoritomo’s early sphere of influence as a rebel kingdom.20 Jeffrey P. Mass summarized the warrior’s situation as follows: “Yoritomo’s hope was to defeat the Taira and restore imperial authority, and to that extent his war aims were entirely traditional. What was fresh was that he would seek to accomplish his aims through the instrument of a private regional lordship. In the event, his objectives and means proved contradictory, since disengagement of the east constituted a historic first step toward repudiation of the center.”21 Yoritomo’s usurpation of the provincial administration – and thus of functions that were traditionally the court’s prerogative – was a consequence of his factual domination over the region.22 But the opportunity for reconciliation with Goshirakawa arose in the tenth month of 1183: over the following years, negotiations with the court successively legitimized and expanded the warlord’s influence beyond the geographical boundaries of the east, while at the same time firmly installing his authority within the classical polity’s framework.23 Possibly the most well-known, and debated, result of this dialog is the appropriation of exclusive appointment rights to provincial and local warrior officials directly subordinate to Yoritomo’s regime – often interpreted as ratifying the delegation of the government’s military responsibilities to the fledgling warrior government.24 Despite the Kamakura shogunate’s roots in the domain of a rebellious warlord, its subsequent incorporation into the symbolic framework of the Kyoto polity firmly established it as a semi-independent realm. In other words, the 19 The authoritative study in English on the events of the so-called Genpei War remains Jeffrey P. Mass, Yoritomo and the Founding of the First Bakufu. The Origins of Dual Government in Japan, Stanford, CA 1999, esp. 13–132. 20 Azuma kagami, Jisho¯ 4 (1180) 8/19. 21 Jeffrey P. Mass, The Early Bakufu and Feudalism, in: Jeffrey P. Mass (ed.), Court and Bakufu in Japan. Essays in Kamakura History, Stanford/New Haven 1982, 123–142, here: 124–125. 22 Kondo¯ 2016 (2006), 500. 23 Ibid., 500–502. Some scholarship suggests that Yoritomo, in fact, needed this association with the courtly center, since his own personage could not provide the sufficient traditional authority to unite all warriors below him; see, for example, Furusawa 1988, 81–82. 24 Azuma kagami, Bunji 1 (1185) 11/28; Jeffrey P. Mass, The Kamakura Bakufu, in: Marius B. Jansen (ed.), Warrior Rule in Japan, Cambridge/New York/Melbourne 1995 (Orig. 1990), 1– 43, here: 14–15; Sato¯ 1990 (1988), 318.

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warrior government concurrently served as the constituent part of the court polity in charge of military affairs, while retaining its character as a primarily regional (eastern) government.25 Yoritomo subsequently joined the ranks of the higher court aristocracy (the kugyo¯ 公卿) and his personal army served as the court’s military.26 The institutions established for the supervision of his substantial following in the budding city of Kamakura, his chosen capital, were modelled after the pattern of aristocratic household administrations. These were staffed primarily by lowerranked members of the court aristocracy who were enticed by the prospects of a tangible career; however, it was Yoritomo himself who autocratically wielded virtually unlimited decision-making authority. The resulting hierarchy can be characterized as one-dimensionally centered around the warrior aristocrat, who was aided by a staff of primarily central court elites, not of provincial warriors; accordingly, Sato¯ defined this first stage as a polity in which “the great Eastern warrior gokenin [御家人 vassals of the shogun] who had been instrumental in the creation of the Kamakura shogunate were completely excluded from the center of political activity.”27

The road to Ho¯jo¯ rule: crisis of shogunal succession and shikken government Yoritomo, though, passed away in 1199, leaving his first son Yoriie 源頼家 (1182– 1204) as successor. Whether Yoriie lacked his father’s political acumen or fell victim to an emerging power struggle within the shogunate is open to interpretation; however, he was soon aided by a council of thirteen elders, comprised of leading court-bureaucrats and the most influential warriors, undermining Yoriie’s authority over judicial arbitration.28 Notwithstanding the intricacies of 25 Refer to the paper by Prof. Kondo in this book for a discussion of the relationship between court and shogunate. 26 Uwayokote 1975, 36–40. The imperial court aristocracy is organized into a complex system of ranks and offices. The top three court ranks constitute the higher aristocracy, the fourth and fifth the lower. Technically, sixth to ninth ranks also exist, but these ‘rank-and-file’ elites do not possess audience rights with the monarch; accordingly, they are excluded from the court aristocracy. After having being reinstated as a member of the aristocracy, Yoritomo was promoted to the junior second court rank in 1185. 27 Sato¯ 1990 (1955), 67. Gokenin is the historical term for ‘vassals’ of the lord of Kamakura (i. e., the shogun). However, Uwayokote stressed that especially the powerful warrior chieftains, while acknowledging Yoritomo as their overlord, retained a high degree of independence. Therefore, whereas they might be removed from the center of power, this does not necessarily mean they were without influence of their own; Uwayokote 1975, 44. 28 Azuma kagami, Sho¯ji 4 (1199) 4/12; Uwayokote 1975, 51. However, it has been pointed out there were no decrees identifiable as collectively issued by this body; Paul Varley, The Ho¯jo¯

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this council’s inception, it can be evaluated as the first curtailment of unimpeded shogunal autocracy. In 1203, Yoriie was ousted from his position in the wake of a conflict between his grandfather Ho¯jo¯ Tokimasa 北条時政 (1138–1215) and the Hiki family 比企 氏, who Yoriie had married into. He was succeeded by his younger brother Sanetomo 源実朝 (1192–1219). Allegedly his own mother, Ho¯jo¯ Masako 北条政 子 (1157–1225), was a driving force behind the incident, which must have had general support by the other powerful gokenin.29 Sanetomo was eleven years old when he was proclaimed shogun by the imperial court. His grandfather Tokimasa, old confidant and father-in–law of Yoritomo, served as the government’s de facto leader. But in 1205, a rift emerged between Tokimasa and his two children, Masako and her brother Yoshitoki: accused of conspiracy, the Ho¯jo¯ elder would spend his remaining years in exile and the siblings took over the reins of the Kamakura government.30 Evaluating these developments is not without difficulty: on the one hand, Jeffrey P. Mass suggested that Yoshitoki was incapable of acceding to his father’s dominant position, since Tokimasa’s authority was not institutionalized (i. e., derived from an office), but predominantly personal in nature.31 On the other hand, Uwayokote Masataka argued that Masako had supplanted the personal authority of her husband after Yoritomo’s death, in effect rendering her son, the new shogun Sanetomo, powerless.32 If we accept both arguments, this led to the creation of a dual government of sorts: Masako represented the personal authority of the lord of Kamakura vis-à-vis the gokenin, and her brother managed the transpersonal government institutions. Although this does not entirely rule out doubts on whether an evaluation of Sanetomo as being completely domi-

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Family and Succession to Power, in: Jeffrey P. Mass (ed.), Court and Bakufu in Japan. Essays in Kamakura History, Stanford/New Haven 1982, 143–167, here: 148. Moreover, the council would disband soon after the death of two of its members. According to the Azuma kagami, Masako convinced him to abdicate and become a lay monk. His younger brother Sanetomo was quickly decided on as his successor; see Azuma kagami, Kennin 3 (1203) 9/2 to 9/10 for an account of the events; Uwayokote 1975, 52. Azuma kagami, Genkyu¯ 2 (1205), the sixth to intercalary seventh month, esp. the entries 6/21, 6/22, 6/23, 7/8, i7/19, and i7/20. Even after these conflicts, politically motivated armed confrontations continued: the Wada family 和田氏 was destroyed in 1213, followed by the Chiba 千葉氏, Miura 三浦氏, and the Nagoe 名越氏 (a branch-line of the Ho¯jo¯). Since it was always the Ho¯jo¯ that came to be the victor of these conflicts, one might be tempted to brush over the particular circumstances surrounding each incident and perceive them as mere stepping stones to the rise of the Ho¯jo¯ tokuso¯ lineage. Refer to Varley 1982; Mass 1995 (1990); and Ishii 1995 (1990) for some English-language overviews of Kamakura shogunate history. Mass 1995 (1990), 22. Uwayokote 1975, 51–53, 61–63.

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nated by his mother over the whole period is entirely accurate, the resulting state of affairs might – somewhat awkwardly – be labeled a ‘dual autocracy.’33 Either way, Sanetomo never received the chance to step out of the shadow of his mother: he was assassinated in 1219.34 The young shogun had remained childless. Emperor Gotoba (1180–1239, r. 1183–1198), saw an opportunity to challenge the ‘leaderless’ east: he refused to uphold an earlier agreement with Masako. Originally he had acceded to promising one of his sons as a successor to Sanetomo, if the Kamakura leader remained without an heir.35 The shogunate elites welcomed the infant Mitora 三寅 (the future shogun Yoritsune 九条頼経, 1218–1256), son of longtime shogunate ally and influential court aristocrat Kujo¯ Michiie 九条道家 (1193–1252) as shogun-designate instead.36 Meanwhile, Gotoba prepared for war. His call to arms during the fifth month of 1221 did not deny the eastern polity’s raison d’être – it stated the defeat of one specific man as his primary objective: Ho¯jo¯ Yoshitoki.37 However, Gotoba did neither find sufficient support within the court aristocracy nor within the ranks of the larger provincial warrior elite and conceded defeat after mere days.38 The conflict known as Jo¯kyu¯ no ran 承久の乱 (Jo¯kyu¯ Disturbance, named after the era it occurred in) should not be evaluated as a clash between two governments, but rather as the strictly personal crusade of Retired Emperor Gotoba.39 The shogunate reaction was equally limited in scope and refrained from attacking the court’s integrity at large: it were mostly Gotoba, his son Juntoku 順徳天皇 (1197– 1242, r. 1210–1221), and their direct associates who would be banished from the capital and stripped of their lands and posts.40 Nevertheless, the incident created a dangerous precedent for shogunate involvement in matters of imperial succession.41 Ho¯jo¯ Yoshitoki passed away in 1224. Yet again, the ‘Azuma kagami’ ascribes Masako an important role in preserving the unity of the Kamakura warriors, as it was she who prevented a rift within the Ho¯jo¯ by proclaiming her nephew Yasutoki 北条泰時 (1183–1242) as her brother’s successor to the family head-

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Ibid., 61–63. Azuma kagami, Kenpo¯ 7 (1219) 1/27. Azuma kagami, Kenpo¯ 7 (1219) i2/12. Azuma kagami, Jo¯kyu¯ 1 (1219) 7/19. Jo¯kyu¯ 3 (1221) 5/15, Kansenji an 官宣旨案, Kamakura ibun doc. 2746. Azuma kagami, Jo¯kyu¯ 3 (1221) 6/15. Uwayokote 1975, 56. Cameron G. Hurst, The Ko¯bu Polity. Court-Bakufu Relations in Kamakura Japan, in: Jeffrey P. Mass (ed.), Court and Bakufu in Japan. Essays in Kamakura History, Stanford/New Haven 1982, 3–28, here: 17. 41 Ibid., esp. 16–22. Refer also to the paper by Prof. Kondo in this same volume for further shogunate involvement in imperial succession.

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ship.42 Masako herself passed away in the summer of 1225. Near the end of the same year, the hyo¯jo¯shu¯ 評定衆 (the legislative shogunate council) convened for the first time.43 The timing of this inaugurating session is conspicuous: it took place on the 21st day of the 12th month in Karoku 1 (1225), exactly the day after Mitora’s coming-of-age ceremony (which qualified him to be appointed to rank and title) and before the child – now bearing the name Yoritsune – was inducted as shogun by the imperial court.44 With the shogunate being headed by a child, the capacity for adjudication became the sole prerogative of the council under Yasutoki’s guidance. This, by itself, was not a new development: his ascendants had handled government affairs in the name of the shogun during Sanetomo’s childhood, as well as before Yoritsune’s appointment to office. But Yasutoki continued to issue documents in his own name parallel to those of the shogunal household administration. This signified a clear evolution of his position from being merely a shogunal representative to an institution of its own. This marked the birth of the office of shikken.45 Furthermore, the Ho¯jo¯ leader was responsible for the compilation and promulgation of a code of laws, the ‘Goseibai shikimoku’ 御成敗式目, in 1232, which was a sign of the shogunate government’s growing political maturity.46 The institution of written law may also be viewed as an impediment preventing the resurgence of inherently arbitrary shogunal monocracy.47 This sequence of events signified not only “the birth of a shogun who had been stripped of his legislative authority,” but also institutionalized the shikkenoffice as a constituent element of shogunate polity.48 It is notable that these events transpired shortly after the death of the most revered (and arguably most powerful) personages in the shogunate – Ho¯jo¯ Yoshitoki, Masako, and the elder ¯ e no Hiromoto 大江広元 (1148–1225), the main architect of Yoristatesman O tomo’s administration – which had disrupted the established power structures. Now, how should we interpret this emergence of council government under Yasutoki’s leadership, whose regime has to be regarded as archetypical of shikken government? Sato¯ himself summarized his ideas as follows: “Although incorporating an inherent enmity between the shikken Ho¯jo¯-lineage and those gokenin constituting the powerful landholding class in the east, it [i. e., shikken 42 Azuma kagami, Gennin 1 (1224) 7/17 and i7/7. 43 Azuma kagami, Karoku 1 (1225) 12/21. 44 Azuma kagami, Karoku 2 (1226) 2/13. The decree is dated Karoku 2 (1226) 1/27. Children take on a different personal name once they formally reach adulthood. 45 Gomi Fumihiko, Sho¯gun, shikken, tokuso¯. Ando to rihi, in: Ishii Susumu (ed.), Chu¯sei no hito to seiji, Tokyo 1988, 311–340, esp. 316. Gomi emphasized the role of the early Ho¯jo¯ leaders strictly as representatives of the shogun and his patrimonial administration, and not as judicial authorities in their own right. 46 Azuma kagami, Jo¯ei 1 (1232) 5/14, 8/10, 9/11. 47 Gomi 1988, 323. 48 Ibid., 323.

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government] certainly symbolized one large step towards the realization of warrior government by the warrior class itself, which overcame the dictatorial rule of the shogun.”49 As expressed best by this quote, central to Sato¯’s concept of shikken government is the notion that a mode of arbitrary rule by a single supreme authority (i. e., the shogunal autocracy) gave way to the participation of a wider group (i. e., the shogun’s subordinate gokenin) in regards to the formulation of political will. By definition, this does not require for this wider group to be unified in either its specific composition or objective; however, this heterogeneity bears potential for conflict precisely because it does not necessarily involve every single (powerful) constituent member of the group equally, although it does require the (tacit) support of the majority.50 Kondo¯ has argued that this development was inevitable: “[S]hikken government was the most suitable government form for a society whose most pressing political issue was the arbitration of law(suits).”51 After all, this task clashed with the inherent role of the lord in a lord-retainer relationship: the shogun, as a warrior leader, could only expect loyalty and service because he guaranteed the safety of his followers’ well-being (and, in extension, economic security) against external threats, and he guaranteed this precisely because he was the recipient of their service. During war, conflicts between warriors could just be solved by joining opposing sides and the subsequent use of military force. But social configurations during peacetime did typically not provide for that option – especially not when the parties involved in a quarrel were potentially subjects of the same lord. It is suffice to say that the act of arbitrating cases – which inevitably would be to the detriment of one of the parties involved – fundamentally went against this principle: fair adjudication, which demanded the neutrality of the judge, always incorporated the potential for a loyal vassal to be found guilty.52 Consequently, the Kamakura shogunate had arguably no other choice than to eventually inhibit the autocratic position of its overlord in matters of judicial authority. This development was the consequence of an inherent conflict between the political functions of shogun and shikken, or rather, “between two modes of

49 Sato¯ 1990 (1955), 68. 50 See also Ertl 2018, 129 for a similar notion. 51 Kondo¯ Shigekazu, Kamakura jidai no seiji ko¯zo¯ to shakai, in: Kondo¯, Kamakura jidai seiji ko¯zo¯ no kenkyu¯, Tokyo 2016, 13–72, here: 16. 52 Ibid., 15–16, for an overview. See also his following two chapters in the same book: Kondo¯ Shigekazu, Monjo yo¯shiki ni miru Kamakura bakufu kenryoku no tenkai. Kudashibumi no henshitsu, in: Kondo¯, Kamakura jidai seiji ko¯zo¯ no kenkyu¯, Tokyo 2016 (Orig. 1981), 75–108; Kondo¯ Shigekazu, Honryo¯ ando to to¯chigyo¯chi ando, in: Kondo¯, Kamakura jidai seiji ko¯zo¯ no kenkyu¯, Tokyo 2016 (Orig. 1992), 109–142.

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rule: one based on lord-retainer-ties and the other on territorial state authority.”53

¯ rule Concentration of power and tokuso Yasutoki, the founding father of shikken government, passed away in 1242. His ailing grandson Tsunetoki 北条経時 (1224–1246) succeeded him as shikken. A few years later, Tsunetoki transmitted the office to his brother Tokiyori 北条時頼 (1227–1263) after an “informal gathering” of several leading shogunate figures at his residence.54 Opposed to Tokiyori, nineteen years old, were Shogun Yoritsugu 九条頼嗣 (1239–1256, age seven) and his retired father Yoritsune (age twentyeight), who had ceded the position to his son two years earlier. Tokiyori’s government is often regarded as a watershed: shogunate-internal strife in 1246 (the Miya So¯do¯ 宮騒動, or Palace Disturbance) drove Yoritsune into exile to Kyoto and purged several members of the Nagoe, an influential branch of the Ho¯jo¯ clan.55 The following year saw the escalation of yet another conflict between Tokiyori and the Miura family, long-term allies of the Ho¯jo¯.56 In 1252, a messenger arrived in Kyoto, requesting the nomination of an imperial prince to replace Yoritsugu – not the last time the shogun were to be deposed by his own vassals.57 In 1256, Tokiyori, plagued by illness, became a lay monk. He was motivated by the wish to designate his son Tokimune 北条時宗 (1251–1284) as head of the Ho¯jo¯ main branch as soon as possible and appointed his cousin Nagatoki 北条長 時 (1230–1264) as his immediate successor to the office of shikken.58 But his condition improved and he returned to being the dominant decision-maker in shogunate politics, although his cousin remained in office. Ample evidence indicates that Tokiyori was involved in a variety of government matters even in retirement: for example, his wishes carried great weight in the selection of personal attendants and guards of the shogunal palace.59 He also appears to have 53 Sato¯ 1990 (1988), 319. Sato¯ had first proposed the notion of two dimensions to shogunal rule in an earlier paper. One should note that this concept presumes both an inherently personal as well as transpersonal dimension; Sato¯ Shin’ichi, Muromachi bakufu ron, in: Sato¯ (ed.), Nihon chu¯seishi ronshu¯, Tokyo 1990 (Orig. 1963), 115–164, esp. 117–120. 54 Azuma kagami, Kangen 4 (1246) 3/23. 55 Azuma kagami, Kangen 4 (1246) i4/18 until 5/25; discussions on how to proceed took place during the sixth month; Yoritsune would arrive in the capital on 7/28. 56 Azuma kagami, Ho¯ji 1 (1247) 6/5. 57 Azuma kagami, Kencho¯ 4 (1252) 2/20. 58 Azuma kagami, Ko¯gen 1 (1256) 11/22. 59 See for example Nihara Yoshitaka, Shikken Tokiyori, Nagatoki-ki no bakusei un’ei ni tsuite, in: Ho¯sei shigaku 79 (2013), 47–60.

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been regularly approached personally with matters requiring government decisions, which Tokiyori usually ordered to be brought to the attention of the hyo¯jo¯shu¯ for deliberation. Unfortunately, we cannot fathom how much the results of these sessions were reflective of his personal wishes.60 Hence, Tokiyori’s rule showed first signs of superseding the office of shikken by a distinctively personal type of authority, with his cousin serving as his direct representative and caretaker of his heir Tokimune. The tradition of the Ho¯jo¯ leader monopolizing the office of shikken for multiple generations had blurred the boundaries between his personal and transpersonal authority – this is often cited as one defining element of ‘tokuso¯ autocracy’.61 However, as initially mentioned, one constituent element of this autocratic rule is the institutionalization of the lineage chief ’s personal supporting council as the highest governing body: the later Kamakura period saw the emergence of the yoriai 寄合, a supreme council which is commonly believed to have evolved out of “informal gatherings” at the residence of the Ho¯jo¯ leader. Especially the ‘Azuma kagami’ mentions many of these meetings, usually in the wake of political upheavals or in face of important political decisions. The earliest mention in sources is commonly dated Kangen 4 (1246) 6/10. The entry describes five men convening in the aftermath of the Palace Disturbance.62 Although in varying configurations, typical participants of these meetings were: (a) tokuso¯; (b) shikken; (c) rensho (連署 co-signatory: the deputy shikken); (d) the eldest member of the Ho¯jo¯; and, especially later, (e) the steward of the tokuso¯ household administration (uchikanrei 内管領) and one or two of his deputies; lastly, also (f) the father-in–law or maternal grandfather of the tokuso¯.63 In other words, the constituent members represented a combination of top shogunate officials, who typically were closely related to the Ho¯jo¯ tokuso¯ lineage, and – most notably – representatives of his personal household. The first instance of an appointment to an office (called yoriaishu¯ 寄合衆) associated with this practice in extant sources is dated on the fifth month of 1289; accordingly, we can conclude that these informal conventions were institutionalized in the form of a new supreme council by this year at the latest.64 This process established an elite – grouped around the personal entity of the tokuso¯ – representative of both personal as well 60 Ibid., 52–57. 61 Sato¯ 1990 (1955), 73. Interestingly, this conforms to sociologist Edward Shils definition of a ‘tradition’: according to Shils, it requires at least three generations (e. g., transmissions of office) for something to be perceivable as a tradition. See Edward Shils, Tradition, Chicago 1981, 12–16, and esp. 15. 62 Azuma Kagami, Kangen 4 (1246) 6/10. 63 Some of these positions typically overlapped, and all of them were also occupying positions of authority within either the shogunate council or the top-echelon of the shogunal household administration; see Okutomi 1980, 170–189, for a detailed analysis of their composition. 64 Kamakura nendaiki, Sho¯an 3 (1301), biographic note of Ho¯jo¯ Tokimura.

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as transpersonal aspects of the shogunate government within an inherently transpersonal system of governing institutions.65 Especially the presence of the tokuso¯ household officials in this council is noteworthy: when Ho¯jo¯ Tokimune, Tokiyori’s successor, unexpectedly passed away in 1284, his son Sadatoki 北条貞時 (1271–1311) became the new leader of the Ho¯jo¯. Although the youth was instantly appointed shikken, an uneasy alliance between his maternal grandfather Adachi Yasumori 安達泰盛 (1231–1285) and his steward Taira no Yoritsuna 平頼綱 (?–1293) dictated the shogunate’s policies.66 Factions centered around the two men clashed during an armed conflict known as Shimotsuki So¯do¯ 霜月騒動 (lit.: Disturbance of the Eleventh Month) in 1285, although there is considerable debate concerning the deeper implications of the incident.67 Having emerged victorious, Yoritsuna came to be the dominant figure in the Kamakura administration’s top echelon, although the extent of his actual influence is not entirely clear.68 In either case, he appears to have been influential enough to arrange for the replacement of Shogun Koreyasu 惟康親王 (1264–1326), who was succeeded by a son of Retired Emperor Gosaga 後嵯峨天 皇 (1220–1272, r. 1242–1246). Some scholars suggest that this, perhaps, hinted at an alliance with the ruling monarch at court, aimed to strengthen the steward’s position in the shogunate.69 But in 1293, Yoritsuna was accused of treason and killed by his lord Sadatoki.70 One of Sadatoki’s first political maneuvers as the new central figure of authority of the shogunate was the abolishment of the shogunal courts of law, which were replaced by six officials reporting to him personally.71 The courts were reinstated in the tenth month of 1294, but Sadatoki reserved for himself the right to issue judgments in “important cases.”72 Even so, Sadatoki’s attempts to change the 65 Hosokawa 2000, 160–161. 66 Kamakura nendaiki, Ko¯an 7 (1284), biographic note of Ho¯jo¯ Sadatoki. 67 The conflict is likely strongly related to the politics of Adachi Yasumori: key questions are (1) whether to consider Yasumori as the last defender of shogunal authority or the architect of institutionalization of tokuso¯ rule; and (2) whether the two parties reflected only a personal power struggle or were manifestations of a subliminal division between gokenin and miuchibito interests; Gomi 1988, 328–335; Ishii 1995(1990), 66–68; Murai Sho¯suke, Shikken seiji no henshitsu, in: Nihonshi kenkyu¯ 261 (1984), 1–28, here: 27; Okutomi 1980, 224–232; Sato¯ 1983, 155. 68 According to some research, Yoritsuna was only capable of exercising direct control over the miuchibito, the housemen of the tokuso¯, but not over the wider gokenin population; Yashiba Yoshimi, Tokuso¯ sensei ni kansuru ichiko¯satsu. ‘Taira no Yoritsuna seiken’ o chu¯shin ni, in: Shinjodai shigaku 20 (2003), 112–131, esp. 121–122. 69 Ibid., 123–128. 70 Ishii 1995 (1990), 71. 71 Kamakura nendaiki 鎌倉年代記, ed. Takeuchi Rizo¯ (Zo¯ho¯ zoku shiryo¯ taisei 51), 3rd Edition, Tokyo 1986, 2–33, Einin 1–2 (1293–1294). 72 Ibid., same entry as above; also, Einin 3 (1294).

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established government traditions continued: in 1297, he abolished the court of appeals (ossokata 越訴方) – just to reinstate the institution the year after.73 In 1300, the court of appeals was again replaced by a council of five personal vassals; and yet again, this decision was promptly reversed: Sadatoki’s adopted brother Munekata 北条宗方 (1278–1305) was designated head of the reinstated court of appeals.74 Many scholars claim that this sequence of events should be evaluated as a manifestation of the autocrat’s failed attempts at institutionalizing the concentration of power on his own personage; however, it is highly likely that Sadatoki was not only encountering resistance from within the general shogunate elite, but also from within the yoriai, in theory his personal advisory body.75 He ultimately failed at uniting the interests of a majority of the elites in Kamakura; after Munekata violently died in 1305, the Ho¯jo¯ leader appears to have retreated from governance affairs.76 Historical records do not consider his son Takatoki, the last tokuso¯, a powerful ruler: when he decided to resign from the shikken office in 1326, it was between his steward Nagasaki Takatsuna 長崎高綱 (?–1333) and Takatoki’s grandfather Adachi Tokiaki 安達時顕 (?–1333) to decide on a successor. Tokiaki favored his own nephew, but Takatsuna championed another member of the Ho¯jo¯, Kanesawa Sadaaki 金沢貞顕 (1278–1333), who had former experience in the shogunate’s top administrative offices. In the end, Sadaaki was appointed shikken on the twenty-third day of the third month, but renounced the office a month later. He apparently feared the wrath of Takatoki’s mother, since Tokiaki had supported Takatoki’s younger brother instead.77 Several shikken succeeded Sadatoki, but it was mostly a matter between the close associates of tokuso¯ Takatoki, even though they originally were only supposed to function as offering counsel to the Ho¯jo¯ clan headship, to decide on even the highest offices.78

Conclusion Sato¯ Shin’ichi originally argued that there were three distinct evolutionary steps by which to describe the Kamakura shogunate’s political evolution: he outlined an encroachment of shogunal autocracy by gokenin consensus, represented by the institutionalization of council rule under the Ho¯jo¯ shikken. But the end of the 73 74 75 76 77

Ibid., Einin 5 (1297); Einin 6 (1298). Ibid., Sho¯an 2 (1300); see also Ishii 1995 (1990), 72–73; Hosokawa 2000, 287–289. See, for example, Murai 1984, 22–23; Hosokawa 2000, 291–297. See Hosokawa 2000, 265–305, for an extensive discussion of Sadatoki’s regime. Ho¯ryaku kanki 保暦間記, ed. Gunsho Ruiju¯ Kanseikai (Gunsho ruiju¯ 26), rev. 3rd Edition, Tokyo 1960 (1st Edition 1929), 1–65, here: 55. 78 Hosokawa 2000, 317–328.

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Minamoto lineage and consecutive replacements of the shoguns, which resulted in minors nominally leading the shogunate for a significant span of Kamakura history, decisively tipped the balance in favor of the council government’s leaders. After many political struggles, a return to direct shogunal rule had become virtually impossible. Although hardly a return to a monocratic form of autocracy, the mid to late Kamakura period was characterized by the emergence of a more personal aspect of shikken rule, which ultimately manifested itself in institutionalization of a new, and smaller, supreme council: the yoriai. The Ho¯jo¯ leader served as the personal focal point around which this council was formed; however, it was not necessarily the tokuso¯ himself who exercised supreme power. We have to assume that not only the personal configurations within this council itself, but also a complex web of power relationships that were incorporating the wider shogunate elites were factors at play in the formation of government authority. Therefore, whereas the Ho¯jo¯ might have succeeded at dismantling the political influence of the shogun, it remains questionable whether they ever succeeded at replacing it with a ‘pure’ autocracy of their own design. Certainly, the political elite institutionalized in the shogunate’s hyo¯jo¯shu¯ council – no matter their exact composition – was never intended to encompass the entire gokenin class, and not even the totality of the central shogunate elite; however, at the very least this council rule must have been implicitly supported by the majority. It is doubtful whether the same can be said of the yoriai, which was significantly more exclusive, and whose inception did not render the hyo¯jo¯shu¯ obsolete. What both these assemblies do have in common is that they institutionalized a mode of consultative decision-making – in other words, the requirement of establishing a consensus between at least a certain part of the ruling elite – firmly within the shogunate polity. The difference was the type of association with the respective person at the top of its hierarchy: the yoriai was organized by more personal criteria than the hyo¯jo¯shu¯ council, whereas the relationship between the shikken and the council members was of a transpersonal nature. Returning to the initially stated dichotomy between arbitrary, personal decision-making and consultation centered around consensus, we can interpret both the yoriai – and consequently the era of tokuso¯ rule – and shikken government as being part of a long era of consensual governance. The marked difference is that due to its smaller scope and more personal association between its members, a ruler could dominate an institution such as the yoriai, should his personal aptitude allow for the overcoming – or unification – of the particular interests of its constituent members (and if we account for what the case of Taira no Yoritsuna suggests, this person may very well be any constituent member of the group). Utilizing ideal-typical concepts as derived from Sato¯’s dichotomous construction of arbitrary decision-making by a single entity (‘sensei’, or ‘autocracy’),

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and consensual decision-making by a collectivity (‘go¯gi’, or ‘consultation’), we can describe historical processes as constantly being in a hybrid state, located somewhere on an axis between two polar opposites. Still, any analysis exclusively based around a single set of criteria is insufficient to adequately reflect the gradual changes within, and complex structures of, a political field.79 Only in combination with other analytical tools, such as further dichotomous sets of ideal types (e. g., personal and transpersonal concepts), it is possible to establish a set of criteria that permits a more accurate description and – most importantly – comparison of the manifold manifestations of premodern governance in history.

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79 The dichotomy of autocratic vs. consensual modes of governance as employed by Sato¯ has been criticized as inadequate before; see, for example, Shimomura Sho¯taro¯, Kamakura bakufu fuekiho¯ to sho¯gun, shikken, tokuso¯, in: Nihon rekishi 732 (2009), 85–94, esp. 92–93.

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Herrscherwahlverfahren, Herrschaftseliten und Machtübergänge

Diana Ordubadi

Das Berufungsverfahren von Michail Romanov im Vergleich zur Wahl von Boris Godunov

Abstract In January 1613 an assembly of the land (Zemsky Sobor) met in Moscow and elected Michail Fedorovicˇ Romanov as the new Tsar of Muscovy. This led to the foundation of a new Russian ruling dynasty. The Zemsky Sobor 1613 is known as the second electoral assembly in Russian history and its formal structure was strongly oriented towards the election of Boris Godunov as Tsar in 1598. Ironically, from the perspective of Russian historiography, Godunov’s coronation marked the beginning of the so-called ‘time of troubles’ (Smuta), which was finally to be concluded with Michail Romanov. The article deals with the procedure of the election of the ruler compared to the election of Boris Godunov. Many structural similarities are masked by the serious difference that Godunov’s accession to the throne was often branded illegitimate in retrospect, while the idea of ‘divine election’ (bogoizbrannost’) of Michail Romanov gained more and more importance in the following centuries of Romanov rule. However, before the nomination of the Zemsky Sobor in the second half of 1612, the whole thing did not look so clear-cut, because in 1613 the state assembly had the choice between several Muscovite and foreign candidates. The Polish prince Vladislav, the son of the Swedish king Karl Filip, the son of the second Lzˇedmitrij and his Polish wife Marina Mniszech Ivan, the Moscovite princes Pozˇarskij, Trubeckoj, Mstislavskij and Golicyn were on the selection, along with the sixteen-year-old Michail Romanov. A closer look is taken at which candidates were supported by which fractions within the very divided assembly. Finally, the role of the ruling elites is examined in order to show how Michail Romanov was finally chosen by unanimous vote as the most neutral compromise candidate, thereby helping to strengthen the phenomenon of Russian autocracy (samoderzˇavie).

Im Januar 1613 tagte in Moskau eine Landesversammlung (Zemskij Sobor), die den sechzehnjährigen Michail Fedorovicˇ Romanov zum neuen Zaren Moskowiens wählte. Dadurch wurde nicht nur eine neue russische Herrscherdynastie gegründet, sondern es fand auch die sog. krisenhafte ‚Zeit der Wirren‘ (smuta oder smutnoe vremja) im Moskauer Vielvölkerreich nach verbreiteter Meinung ihr Ende. Interessant anzumerken ist es, dass der Zemskij Sobor 1613 als die zweite Herrscherwahlversammlung in der russischen Geschichte gilt und sich

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seiner formellen Struktur und seiner Form nach an dem Zemskij Sobor von 1598 stark orientierte.1 15 Jahre zuvor durfte nämlich der Zar Boris Godunov als erster durch eine solche Landesversammlung ausgerufener Selbstherrscher den Thron besteigen.2 Ironischerweise markierte Godunovs Krönung aus der Sicht der russischen Geschichtsschreibung eben den Beginn der Smuta und einer tiefen gesellschaftlichen und ökonomischen Krise im Lande, die mit Michail Romanov endlich beendet werden sollte.3 Die sogenannten Bestätigungsurkunden (utverzˇdennaja gramota) anlässlich der beiden ‚Wahlen‘ der neuen Herrscher durchliefen mehrere redaktionelle Bearbeitungen und wurden mit dem Ziel verfasst, den jeweiligen Thronprätendenten zu legitimieren. Daher können sie keineswegs als glaubwürdige Quellen über den Ablauf der entsprechenden Wahlverfahren dienen.4 Dafür bieten sie jedoch unschätzbare authentische Einblicke in die auf der staatlichen Ebene offiziell zu etablierende Sichtweise auf die Machtübergänge in Moskowien zuerst seitens der Regierung Godunovs und dann der Romanov-Familie. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden konkurrierenden Darstellungen besteht allerdings darin, dass die Godunovsche Version nach dem Thronsturz seines Sohnes Fedor 1605 intensiv angezweifelt und kritisiert wurde, während die Idee über die ‚göttliche Auserwähltheit‘ (bogoizbrannost’) von Michail Romanov und seiner Mission der Rettung5 des ganzen Moskauer Staates vor den Folgen der 1 Vgl. Dmitrij I. Antonov, Smuta v kul’ture srednevekovoj Rusi. E˙voljucija drevnerusskich mifologem v knizˇnosti nacˇala XVII veka, Moskva 2009, 152. 2 Vgl. dazu ausführlich Diana Ordubadi, Die Berufung zur Herrschaft 1598 und die Legitimation des Zaren Boris Godunov, in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613, Göttingen 2019, 179–197. Der vorliegende Beitrag nimmt öfter Bezug auf meinen hier zitierten Artikel über Boris Godunov und folgt ihm in der Argumentation. 3 Beide Daten – 1598 und 1613 – sind lediglich als retrospektiv in die Geschichtsschreibung eingeführte fiktive Zäsuren zu verstehen, die nur als solche auch verwendet werden. 1598 wird oft nicht nur mit der Wahl Godunovs zum neuen Zaren, sondern mit dem Tod des letzten Rjurikiden-Zaren Fedor Ioannovicˇ und dem Aussterben der alten Herrscherdynastie assoziiert. Auch 1613 wurde selbstverständlich die tiefe gesellschaftliche und politische Krise in Moskowien nicht über Nacht beendet. „Das Datum ist eher symbolisch gewählt, um zu suggerieren, dass eine erfolgreiche Begründung einer neuen Dynastie von Selbstherrschern für die Wiederherstellung der politischen Stabilität in Russland sorgen konnte.“ Diana Ordubadi/ Dittmar Dahlmann, Die ‚Zeit der Wirren‘ und die Moskauer Selbstherrscher (1598–1613) aus russischer Perspektive und in zeitgenössischen ausländischen Berichten, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen, Göttingen 2019, 273–297, hier 274. 4 Vgl. Andrej Pavlov, K istorii utverzˇdennoj gramoty 1613 g., in: Vestnik SPbGU [SanktPeterburgskogo Gosudarstvennogo universiteta] 2 (2015) 3, 11–19, hier 11; Ordubadi 2019, 185; Sergej Platonov, Drevnerusskija Skazanija i Povesti o Smutnom vremeni XVII veka kak istoricˇeskij istocˇnik. Izsledovanie S. F. Platonova, S.-Peterburg 1888, 320. 5 Die ersten Erwähnungen dieser Mission des ersten Romanov-Zaren finden sich aber bereits als Begründungen seiner Kandidatur in den Urkunden des Zemskij Sobor 1613, vgl. z. B. Gramota

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Smuta in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten der Romanov-Herrschaft immer mehr an Gewicht gewann.6 Dabei sah das Ganze vor der Berufung des Zemskij Sobor in der zweiten Hälfte des Jahres 1612, direkt nach der ‚Vertreibung der polnischen Interventen‘ aus der russischen Hauptstadt, noch gar nicht so eindeutig aus. Im Unterschied zu Boris Godunov, der 1598 seine Wahlversammlung mit Hilfe des ihm ergebenen Patriarchen Iov selbst initiiert und in vielerlei Hinsicht gesteuert hatte,7 konnte Michail Romanov zum Zeitpunkt der Einberufung des Zemskij sobor von 1613 nicht einmal damit rechnen, dass seine Kandidatur überhaupt in Erwägung gezogen würde.8 Während außerdem Godunov als einziger Thronprätendent im Rahmen des von seinen Anhängern inszenierten Verfahrens zur Verfügung stand, konnten sich die Mitglieder der Landesversammlung von 1613 zwischen mehreren moskowitischen und ausländischen Kandidaten entscheiden. Zuerst musste aber dafür ein umfassender und repräsentativer Zemskij Sobor formiert werden. Da man sich im Wahlverfahren des neuen Zaren an das Prozedere orientierte, wie es in der Bestätigungsurkunde Boris Godunovs beschrieben wurde, sollte die wahlberechtigte Landesversammlung aus den Vertretern beinahe aller Bevölkerungsschichten aus dem ganzen Land bestehen. Seit November 1612 wurden daher Einladungen aus Moskau im Namen der Leiter des ‚zweiten russischen Aufgebots‘ (vtoroe narodnoe opolcˇenie), unter anderem der Fürsten Dmitrij Pozˇarskij und Dmitrij Trubeckoj, in unterschiedlichste russische Städte herausgeschickt.9 Bereits darin wurden die Vertreter der Regionen angewiesen, auf dem Zemskij Sobor stets „frei“ (vol’no), „unerschrocken“ (bestrasˇno) und „direkt/offen ohne jede List“10 (prjamo bezo vsjakie chitrosti) aufzutreten.

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Zemskogo sobora carju Michailu Fedorovicˇu ob izbranii ego na carstvo, in: Ljudmila E. Morozova, Na puti iz Smuty. Izbranie na carstvo Michaila Fedorovicˇa, Moskva 2005, 313– 317, hier 316: podati nam blagorodiem svoim izbavu oto vsech nachodjasˇcˇich nas bed i skorbej. Gramota Zemskogo sobora velikoj gosudaryne starice Marfe Ivanovne ob izbranii ejo syna carem, in: ebd., 317–321, hier 319: […] cˇtob bylo vecˇno i postojatelno […] Rosiiskoe gosudarstvo aki solnce sijalo i na vse storony ˇsirilos’, […] i nikotoraja krov’ i vojna pri nem gosudare ne byvala. I po milosti vsemogusˇcˇego Boga i po izbraniju vsech ljudej ego, gosudarja, na Vladimirskoe i Moskovskoe gosudarstvo gosudarem carem i velikim knjazem svea Rusii obrali […]. Vgl. z. B. dazu Andrej L. Batalov/Irina A. Vorotnikova, (edd.), Kniga o izbranii na prevysocˇajsˇij prestol Velikogo Rossijskogo carstvija velikogo gosudarja carja i velikogo knjazja Michaila Fedorovicˇa vseja Velikija Rossii samoderzˇca. Rukopis’, kommentarii, tekst, Moskva 2014; Platonov 1888, 319–324. Vgl. Ordubadi 2019, 183–186. Vgl. Hans-Joachim Torke, Michail Fedorovicˇ 1613–1645, in: Ders. (ed.), Die russischen Zaren 1547–1917, 2 Auflage, München 1999, 90–107, hier 92. ˇ erepnin, Zemskie sobory Russkogo gosudarstva v XVI–XVII vv., Moskva 1978, Vgl. Lev C 187–188. Stepan B. Veselovskij, Akty podmoskovnych opolcˇenij i zemskogo sobora. 1611–1613 gg., ˇ erepnin 1978, 187. Moskva 1911, 99. Zit. in eigener Übersetzung nach C

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Den Initiatoren des Herrscherberufungsverfahrens lag offensichtlich viel daran, einen vertrauenswürdigen Volksentscheid zu organisieren, durch dessen Entscheidung ein neuer Zar unanfechtbar in allen Ecken des Moskauer Reichs legitimiert und anerkannt werden konnte. Da sich die Anreise der Wahlmänner aus den entfernten Regionen des Reichs verzögerte, wurde die Eröffnung der Herrscherwahlversammlung von Ende 1612 auf Januar 1613 verlegt, um der Bezeichnung ‚Rat des ganzen Landes‘ (Sovet vsej zemli) oder ‚Allweltlicher Rat‘ (Vselenskij sovet)11 auf jeden Fall sicher zu entsprechen.12 Damit unterschied sich diese Landesversammlung gravierend von dem Zemskij sobor des Jahres 1598, dessen Tätigkeit von Moskau aus komplett durchinszeniert wurde und „unter keinen Umständen als ein einheitliches, durchorganisiertes Verfahren beschrieben werden“13 konnte. 1613 dagegen lässt sich anhand der Versammlungsurkunden und -beschreibungen14 ein intensiver Einfluss der an der Herrscherwahlversammlung beteiligten Elitegruppen (Klerus, Bojaren, Dienstadlige u. a.)15 feststellen, während die meisten Kandidaten selbst überhaupt nicht anwesend waren. Darüber hinaus wurde bei diesem Verfahren nichts mehr dem Zufall überlassen und der Sobor tagte über einen Monat lang, bis die Entscheidung am 21. Februar 1613 offiziell in der UspenskijKathedrale des Kreml getroffen wurde.16 Die Tätigkeit der Herrscherwahrversammlung im Januar 1613 wurde mit einem gemeinsamen Gebet aller eingetroffenen Mitglieder des Sobor und einem strengen dreitägigen Fasten eröffnet,17 um sich vor dem Treffen einer so wichtigen Entscheidung „von allen Sünden zu reinigen“18 und „die gleiche Gesinnung vom menschenliebenden Gott in den Herzen“ zu empfangen (cˇelovekoljubivyj Bog […] vlozˇi v serdca edinomysˇlenie)19. Den Vorsitz des Sobor übernahm der Metropolit von Rostov Kirill, der angesichts der krisenhaften Umstände im Moskauer Staat vorübergehend zum Kirchenoberhaupt des Landes vom ‚zweiten russischen Aufgebot‘ erklärt worden war.20 Die erhoffte gleiche Gesinnung, die 11 Vgl. Dmitrij V. Cvetaev, Izbranie Michaila Fedorovicˇa Romanova na carstvo, Moskva 1913, 2, 7. 12 Vgl. E˙l’vira Sokolova, E˙voljucija soslovno-predstavitel’skoj vlasti v Rossii s serediny XVI do serediny XVII vv. Na osnove kandidatskoj dissertacii, Moskva 2013, 156. 13 Vgl. Ordubadi 2019, 186. 14 Zur Quellenlage und zur Zusammensetzung des Zemskij sobor 1613 vgl. ausführlicher Ljudmila E. Morozova, Na puti iz Smuty. Izbranie na carstvo Michaila Fedorovicˇa, Moskva 2005, 126–138; Pavlov 2015, 13f.; Cvetaev 1913, 15f., 20. 15 Vgl. dazu ausführlicher Aleksandr S. Kozacˇa, Zemskie sobory Smutnogo vremeni, Moskva 2004, 118. ˇ erepnin 1978, 194. 16 Vgl. C 17 Vgl. Cvetaev 1913, 23. 18 Sokolova 2013, 147. 19 Gramota Zemskogo sobora, 315. 20 Vgl. dazu ausführlicher Morozova 2005, 132; Cvetaev 1913, 19.

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schließlich unbedingt durch eine einstimmige21 Entscheidung zugunsten eines der möglichen Thronprätendenten bestätigt werden musste, ließ jedoch auf sich warten. Denn laut der offiziellen Bestätigungsurkunde von Michail Fedorovicˇ dauerten die Besprechungen „mehrere Tage“ (po mnogie dni), wobei mit „großem Lärm und Weinen“ (s velikim ˇsumom i placˇem)22 heftig diskutiert wurde. Nach den systematischen Ausschlusskriterien einigte man sich zuerst darauf, wer von den möglichen Kandidaten für diese Versammlung nicht mehr in Frage kommen durfte. Der endgültige Beschluss diesbezüglich wurde in mehreren Urkunden der Zeit anschließend in fast gleichen Formulierungen mehrmals festgehalten: „Der Moskauer Staat soll einen Herrscher moskowitischer Abstammung erhalten, denjenigen Herrscher, den Gott gibt, aber keine litauischen oder deutschen Könige und ihre Prinzen, auch keine Zaren und ihre Söhne aus anderen Ländern dürfen für die […] Moskauer Herrschaft ausgewählt werden, auch Marinka mit dem Sohn dürfen für die Herrschaft nicht gewünscht werden.“23

Hinter dieser relativ schlichten Formulierung verbargen sich mindestens drei konkrete mögliche Kandidaten auf den russischen Thron, deren Erwähnung nun strengstens verboten wird und einem Staatsverrat gleichen sollte. Gemeint waren im Einzelnen der polnisch-litauische Prinz Vladislav, der Sohn des schwedischen Königs Karl Filip und der Sohn des zweiten Lzˇedmitrij (Pseudodemetrius) und der ersten gekrönten russischen Zarin, Marina Mniszech,24 Ivan Dmitrievicˇ. Der kategorische Ausschluss dieser drei Kandidaten sollte verdeutlichen, dass Moskowien sich nun nach so einer langen und brutalen ‚Zeit der Wirren‘ stärker auf 21 Vgl. Torke 1999, 93. 22 Sergej Belokurov (ed.), Utverzˇdennaja gramota ob izbranii na Moskovskoe gosudarstvo ˇ erepnin 1978, 194. Überliefert Michaila Fedorovicˇa Romanova, Moskva 1906, 43. Zit. nach C sind zwei Versionen der Bestätigungsurkunde von Michail Romanov, die beide Originale sind, aber beim Vergleich mehrere Abweichungen voneinander aufweisen. Es ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine frühere und eine spätere Version des gleichen ˇ erepnin 1978, 190; Pavlov 2015, 12–16. Die Dokuments handelt. Vgl. dazu ausführlicher C Ausgabe von Belokurov stellt eine frühere Version der Urkunde vor, die im Oruzˇejnaja palata aufbewahrt wird. Eine spätere Version, das sog. ‚Archivexemplar‘, liegt in der Russischen Staatsbibliothek in Moskau, abgedruckt in: Gramota utverzˇdennaja o izbranii na Rossijskij prestol Carem i Samoderzˇcem Michaila Feodorovicˇa Romanova-Jur’evych – za podnisaniem byvsˇich pri vybore vsjakago cˇina i zvanija ljudej. Pisana 1613 goda, v maie mesjace, in: Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov (SGGD), chranjasˇcˇichsja v Gosudarstvennoj kollegii inostrannych del 1, Moskva 1813, 599–643. 23 Na Moskovskoe gosudarstvo obrati gosudarja iz moskovskich rodov, kogo gosudarja Bog dast, a litovskogo i nemeckogo krolja i korolevicˇev i inych zemel’ carej i carevicˇev na Vladimerskoe i na Moskovskoe gosudarstvo ne obirat’, a Marinki s synom na gosudarstvo ne chotet’. Zit. in eigener Übersetzung nach Gramota carja Michaila Fedorovicˇa Zemskomu soboru o soglasii stat’ carem, in: Ljudmila E. Morozova, Na puti iz Smuty. Izbranie na carstvo Michaila Fedorovicˇa, Moskva 2005, 344–351, hier 346. 24 Vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag über Marina Mniszech in diesem Band.

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eigene Traditionen (sog. Starina) und die Prinzipien der russischen Orthodoxie zurückbesinnen und daher unbedingt einen gebürtigen Moskowiter auf den Thron setzen wollte. Die Befürchtung, dass einer der unerwünschten Kandidaten bei der Erhebung seiner Thronansprüche trotzdem erfolgreich sein könnte, war unter den Umständen eines in 1613 politisch und wirtschaftlich zerrütteten Moskauer Reichs mehr als gerechtfertigt. Nach der ‚Vertreibung der polnischen Truppen‘ aus Moskau im Jahre 1612 ging von der Kandidatur des polnischen Prinzen Vladislav wohl die kleinste Gefahr aus.25 Allerdings schienen noch 1610 die Bojaren im Kreml, die nach der Absetzung des Zaren Vasilij Sˇujskij die Macht übernahmen, seine Kandidatur zu unterstützen.26 Den schwedischen Prinz Karl Filip wählten die Groß-Novgoroder auf den Thron27 und sogar die Fürsten Pozˇarskij und Trubeckoj als Führer des ‚zweiten russischen Aufgebots‘ stimmten seiner Kandidatur auf dem Jaroslavl’er Sobor 1611 noch zu.28 Der Grund für eine solche stille Akzeptanz ausländischer Kandidaten vor 1613 ist mit der in Moskowien bis dahin verbreiteten Idee zu erklären, dass ein gottgewollter legitimer Zar unbedingt herrscherlicher Abstammung (gosudarev syn) sein sollte,29 zumal Gott eine solche Familie und all ihre (männlichen) Abkömmlinge bereits für die Herrschaft gesegnet hatte. Vladislav und Karl Filip entsprachen erwiesenermaßen durch ihre königlichen Väter diesem Kriterium. Allerdings führten die bürgerkriegsähnlichen Umstände 1611–1613 und die polnische Intervention dazu, dass alle ausländischen Einflüsse auf das politische System Moskowiens als äußerst negativ wahrgenommen wurden und dass der Zemskij Sobor 1613 postulieren musste, nur einen ‚eigenen‘ Kandidaten moskowitischer Abstammung in Betracht zu ziehen.30 Formal hätte man den Sohn des zweiten Lzˇedmitrij als ‚eigenen‘ carevicˇ betrachten können, doch da seine Mutter Marina Mniszech eine überzeugte polnische Katholikin und aus moskowitischer Sicht Anhängerin der „Römischen Häresie“ (Rimskoj eresi)31 war, konnte er bereits deswegen von der Wahl ausgeschlossen werden. Da jedoch auch 1613 im Lande viele Anhänger des TusˇinoLagers des mittlerweile getöteten zweiten Lzˇedmitrij, vor allem in den Reihen des Kosakentums, zu vermuten waren,32 wurde in die Sobor-Dokumentation das 25 Vgl. Cvetaev 1913, 27. 26 Vgl. Sokolova 2013, 148–149. 27 Vgl. dazu ausführlicher Adrian Selin, Die Kandidatur des schwedischen Prinzen Karl Filip auf den russischen Thron und Groß-Novgorod. Die Entwicklung einer Intrige 1611–1615, in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613, Göttingen 2019, 225–243; Cvetaev 1913, 25–26. 28 Vgl. Sokolova 2013, 150–151. 29 Vgl. ebd.; Antonov 2009, 150: ‚ideja nasledovanija prestola po stepeni praroditelej‘. 30 Vgl. Sokolova 2013, 151. 31 Zit. in eigener Übersetzung nach Gramota utverzˇdennaja, in: SGGD 1, 1813, 613. 32 Vgl. dazu Cvetaev 1913, 30; Torke 1999, 92.

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ausformulierte Erwähnungsverbot von möglichen Thronansprüchen sowohl von Marina selbst als auch ihres Sohnes Ivan aufgenommen. Die Angst vor der Popularität der beiden im Lande ist wohl so groß gewesen, dass die gleiche Passage sogar im Text des allgemeinen Treueschwurs für Michail Fedorovicˇ wieder auftauchte.33 Bei der allgemeinen Volksvereidigung im ganzen Lande mussten die Untertanen ihrem Herrscher nicht nur ihre ergebene Treue schwören, sondern auch bezeugen, nicht einmal den Gedanken zu hegen, Marina und ihren Sohn zu suchen und auf den Thron zu wünschen.34 Auch in diesem Aspekt lässt sich eine direkte Analogie zum Berufungsverfahren von Boris Godunov entdecken. Der Text des Treueschwurs für den Zaren Boris 1598 konzentrierte sich nämlich auch „auf die Pflichten und Loyalitätsbekundungen der Untertanen dem neuen, vom Volk gewählten Herrscher gegenüber. Besonders wichtig […] war die Passage, in der alle Untertanen schwören mussten, nicht einmal an die Möglichkeit der Herrschaft des Zaren Simeon zu denken und unverzüglich der Boris’ Regierung alle zu verraten, die es zu versuchen gedachten, Simeon auf den Moskauer Thron zu setzen.“35 Bei dem befürchteten „Kandidaten handelte es sich um den getauften tatarischen Chan Simeon Bekbulatovicˇ, dem Ivan der Schreckliche nach Opricˇnina-Jahren zwischenzeitlich den Moskauer Thron als einem Platzhalter überlassen hatte. Nach einigen Monaten wurde Simeon vom Zaren wieder abgesetzt […]. Die Tatsache jedoch, dass Simeon – zumindest formal gesehen – bereits völlig legitim den Zarentitel durch den Willen Ivans IV. innegehabt hatte, machte seine Kandidatur für Godunov in der Tat sehr gefährlich.“36 Und so griffen die Machthaber sowohl 1598 als auch 1613 in den Fällen, in denen die Illegitimität eines Gegenkandidaten sich nicht zweifelsfrei beweisen ließ, zu verpflichtenden Maßnahmen und Drohungen. Bis dahin musste sich der Zemskij Sobor 1613 aber auf einen der möglichen Thronanwärter moskowitischer Abstammung einigen. Wie der Osteuropa-Historiker Hans-Joachim Torke schrieb, verdankte Michail Fedorovicˇ „seine Thronbesteigung […] einer Reihe von glücklichen Umständen und obendrein einer kräftigen Agitation. Denn die Wahlversammlung war zunächst heftig zerstritten.“37 Die beiden wichtigen Figuren des ‚zweiten russischen Aufgebots‘ – Fürst Dmitrij Pozˇarskij und Fürst Dmitrij Trubeckoj – kamen nicht nur aufgrund ihrer moskowitisch aristokratischen Abstammung, sondern auch ihrer bewiesenen Verdienste beim Schutz des Heimatlandes und der Friedensstiftung im Moskauer Staat für den Zarenthron durchaus in Frage. Zwischenzeitlich sollen

33 34 35 36 37

Vgl. Belokurov 1906, 71. Vgl. ebd. Ordubadi 2019, 190. Ebd., 188f. Torke 1999, 93.

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sogar die Nachrichten über die Auswahl Pozˇarskijs kursiert sein.38 Dass Dmitrij Pozˇarskij sich nicht behaupten konnte, „obwohl er anscheinend viel Geld unter den Teilnehmern der Reichsversammlung verteilen ließ“39, erklärt Torke mit „der Rivalität zwischen seinem Heer und den einflussreichen Kosakentruppen unter Trubeckoj“40. Die russische Historikerin Sokolova fügt dem hinzu, dass Pozˇarskij zwar aus einer fürstlichen, aber dabei einer wenig bedeutsamen Familie stammte, was dazu führte, dass ihn die Vertreter des einflussreichen Hochadels kaum unterstützen wollten.41 Dass es durchaus Pläne gab, den einflussreichen Fürsten Dmitrij Trubeckoj42 in den Mittelpunkt der Wahlen zu stellen, bestätigt die Tatsache, dass der Zemskij Sobor zu Beginn seiner Tätigkeit eine Schenkungsurkunde (zˇalovannaja gramota)43 für Trubeckoj erließ, mit der ihm für seine Verdienste um den Moskauer Staat die Region Vaga als Erbgut (votcˇina) verliehen wurde.44 Anzumerken ist, dass Vaga als ziemlich reich galt und deswegen regelmäßig an die einflussreichen oberen Ränge des Moskauer Adels verschenkt wurde: so gehörte sie während der Herrschaftszeit des letzten Rjurikiden Fedor seinem Regenten Boris Godunov und ging unter Vasilij Sˇujskij an seinen Bruder Dmitrij über.45 Das Entscheidende ist aber, dass in der Urkunde selbst die Verdienste und Talente des Fürsten Trubeckoj dermaßen ausgeschmückt und ihm teilweise die von Pozˇarskij zugeschrieben wurden, dass der Verdacht naheliegt, dass sie den Weg für Trubeckojs endgültige Legitimierung als neuer Zar ebnen sollte.46 In vielerlei Hinsicht erinnerte dieses Dokument seiner Form nach an die andere Urkunde aus dem Jahre 1598,47 das sog. Bojarenzeugnis (bojarskoe svidetel’stvo), das vom Patriarchen Iov als eine Lobeshymne für Boris Godunov vorgelesen wurde und alle möglichen Argumente für Godunovs Thronanspruch zusammenfasste.48 Im Unterschied zum Zaren Boris reichte so eine Ode für Trubeckoj aber nicht aus. Die Unterschriften unter der Schenkungsurkunde bezeugen, dass er offensichtlich den Klerus und die niederen Heeresränge auf seiner Seite hatte, allerdings – wie Pozˇarskij auch – nicht den Zuspruch des oberen Bojarentums.49 Gegen ihn und seine gute Reputation sprach zudem die Tatsache, dass er einen Teil seiner 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Vgl. Sokolova 2013, 153. Torke 1999, 92. Vgl. dazu auch Kozacˇa 2004, 135. Ebd. Vgl. Sokolova 2013, 153. Vgl. Cvetaev 1913, 35. Vgl. Kozacˇa 2004, 132. Vgl. Morozova 2005, 127. Ebd. Ebd., 130. Ebd. Vgl. Ordubadi 2019, 183. Morozova 2005, 130.

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Karriere im Tusˇino-Lager des zweiten Lzˇedmitrij durchlaufen und von dem ‚selbsternannten Zaren‘ (car’-samozvanec) seinen Bojarenrang erhalten hatte.50 Unter mehreren weiteren Kandidaten russischer adliger Abstammung, die beim Zemskij Sobor in Betracht gezogen werden konnten,51 verdienen zudem die Fürsten Fedor Ivanovicˇ Mstislavskij sowie Vasilij Vasil’evicˇ Golicyn eine besondere Erwähnung. Mstislavskij bekleidete den Vorsitz der Bojarenduma noch bei der Absetzung des Zaren Vasilij Sˇujskij und spielte eine aktive Rolle im sog. Siebener-Bojaren-Rat (semibojarsˇcˇina)52, der zwischen 1610 und 1612 die offizielle Regierung im Kreml übernahm. Dabei diskreditierte er sich einerseits allerdings stark durch eine enge Zusammenarbeit mit dem polnischen König Sigismund.53 Andererseits gehörte er aber einer der ältesten Bojarenfamilien im Lande an und war sogar mit den Rjurikiden durch die mütterliche Linie verwandt, was wohl der Grund dafür gewesen war, dass sein Name als würdiger Thronprätendent bereits 1606 und 1610 unter den Bojaren besprochen wurde.54 Daher erscheint es immerhin logisch, dass auch 1613 seine Kandidatur zumindest formal angeschaut wurde. Dennoch existieren keine direkten Hinweise darauf, dass Mstislavskij als ein offizieller Kandidat ins Gespräch gebracht wurde,55 was von Vasilij Vasil’evic Golicyn keinesfalls behauptet werden kann. Auch Vasilij Golicyn gehörte einer hochadligen russischen Familie an und war außerdem als tapferer Kämpfer gegen die polnische Intervention bekannt, was ihm sicherlich zusätzliche Sympathiepunkte bei der Landesversammlung verschaffte.56 Problematisch dagegen war die Tatsache, dass er sich zur Zeit der Tagung des Zemskij Sobor in polnischer Gefangenschaft befand und sein Schicksal somit ungewiss erschien.57 Darüber hinaus war es denkbar, dass Golicyn aufgrund seiner hocharistokratischen Abstammung, ähnlich wie Vasilij Sˇujskij, zu einem ‚Bojarenzar‘ zu werden drohte, was eindeutig keinen Zuspruch seitens des Dienstadels finden konnte.58 Für die Kandidatur des sechzehnjährigen Michail Romanov, der sich schon allein aufgrund seines jungen Alters in keiner Weise während der ‚Zeit der Wirren‘ hatte diskreditieren können, plädierte aktiv eine Fraktion der Versammlung unter Leitung des Bojaren Fedor Ivanovicˇ Sˇeremetev.59 Nach einer in 50 Ebd., 129. 51 Vgl. Cvetaev 1913, 33–35. 52 Vgl. zu semibojasˇcˇina ausführlicher Vitalij G. Anan’ev, Semibojarsˇcˇina (1610–1612 gg.). Sostav i politicˇeskaja sud’ba. Avtoreferat dissertacii, S.-Peterburg 2007. 53 Vgl. Cvetaev 1913, 33; Sokolova 2013, 152. 54 Cvetaev 1913, 33. 55 Ebd.; Sokolova 2013, 152. 56 Vgl. Cvetaev 1913, 34. 57 Vgl. Kozacˇa 2004, 136. 58 Vgl. Sokolova 2013, 152. 59 Vgl. Kozacˇa 2004, 137; Torke 1999, 93.

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der Forschung verbreiteten Meinung setzte sich Sˇeremetev für Michail aus eigennützigen Überlegungen in der Hoffnung ein, den unerfahrenen Jüngling auf dem Thron gut kontrollieren und seine Herrschaftsausübung steuern zu können.60 Als das erste Argument zugunsten des jungen Romanov galt seine Verwandtschaft mit dem Zarengeschlecht der Rjurikiden durch die erste Ehefrau Ivans IV. (des Schrecklichen) Anastasija Romanova-Jur’eva. Dem altbewährten Prinzip der dynastischen Kontinuität, geknüpft an die altrussische traditionelle Ordnung der Starina, konnte somit durch die Figur Michails problemlos entsprochen werden. Die Tatsache, dass die Familie Romanov nicht zum obersten Bojarentum gehörte, machte Michail in den Augen des Dienstadels zu einem attraktiveren Kandidaten als jemand aus einem altaristokratischen fürstlichen Geschlecht (iz knjazˇat).61 Zudem war das traurige Schicksal der Romanov-Familie unter Boris Godunov allgemein bekannt und erweckte entsprechende Sympathien für den Sohn von Fedor Nikiticˇ Romanov. Als gewählter Zar hatte Godunov nämlich eindeutig Angst, dass dieser einflussreiche Cousin des letzten Rjurikiden-Zaren Fedor Ioannovicˇ ihm den Thron streitig machen könnte. Daher wurde auf Godunovs Befehl hin allen RomanovBrüdern ein kurzer Prozess wegen angeblicher Hexerei und des geplanten Zarenmordes gemacht, nach dem Michails Vater verhaftet, enteignet, verbannt und zwangsweise zum Mönch geschoren wurde.62 Unter dem neuen Namen Filaret konnte er jedoch innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche Karriere machen. Unter Lzˇedmitrij I. wurde er zum Metropolit von Rostov ernannt und nahm aktiv an der Krönung von Marina Mniszech teil.63 Im Tusˇino-Lager des zweiten Lzˇedmitrij wurde er sogar zum russischen Patriarchen ausgerufen.64 Diese Umstände wurden ihm bemerkenswerterweise aber niemals zum Vorwurf gemacht. Immerhin stand 1613 nicht seine Kandidatur, sondern die seines unbescholtenen Sohnes zur Auswahl. Außerdem befand sich Filaret zu dieser Zeit in polnischer Gefangenschaft, was aus ihm in den Augen der Landesversammlung eine Art Märtyrer65 und aus Michail entsprechend den Märtyrer-Sohn machte. Zu guter Letzt stimmte das Ganze auch den Klerus auf dem Zemskij Sobor zugunsten Michails ein, da gehofft wurde, dass unter seiner Herrschaft die Stellung der russisch-orthodoxen Kirche innerhalb des politischen Systems Moskowiens gestärkt werden könnte.66 60 61 62 63

Vgl. Ebd. Vgl. Sokolova 2013, 153. Vgl. dazu ausführlicher Ruslan Skrynnikov, Boris Godunov, Moskva 2003, 263–270. Vgl. Boris Uspenskij, Car’ i patriarch. Charizma vlasti v Rossii. Vizantijskaja model’ i ee russkoe pereosmyslenie, Moskva 1998, 198. 64 Ebd., 202. 65 Vgl. Torke 1999, 92. 66 Vgl. Sokolova 2013, 153.

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Somit handelte es sich bei Michail um einen neutralen Kompromisskandidaten für den Zarenthron, unter dem die meisten der auf der Herrscherwahlversammlung vertretenen Fraktionen mit der Verwirklichung ihrer Interessen rechnen durften. Dabei muss eindeutig den Forschern zugestimmt werden, die sich gegen die These aussprechen,67 dass Michail Romanov seine Thronbesteigung vor allem bzw. fast ausschließlich dem Kosakentum verdankt. Bereits die Tatsache, dass unter der Bestätigungsurkunde 1613 keinerlei Unterschriften der Kosakenatamane zu finden sind, zeugt davon, dass die Steppenkrieger bei der Herrscherwahlversammlung keine Oberhand hatten und an sich keine entscheidende Rolle für die Durchsetzung der Kandidatur Michails spielen konnten.68 Nicht auszuschließen ist jedoch, dass sie auf anderen Wegen die Petitionen zugunsten des Romanov-Zaren in Moskau verbreiteten. So hielt z. B. der Kellermeister des Troice-Sergiev-Klosters und ein aktives Mitglied des Zemskij Sobor von 1613, Avraamij Palicyn, in seinem Werk ‚Istorija v pamjat’ vpredidusˇcˇim rodom‘ aus den 1619/1620er Jahren fest, dass, während der Zemskij Sobor tagte, ihn immer wieder einfache Leute aus den Reihen des Kleinadels und der Kosaken sowie die ‚Stadtleute‘ (posadskie) aus unterschiedlichen Städten aufgesucht und darum gebeten hätten, auf der Landesversammlung für Michail Romanov zu plädieren.69 Solche im Nachhinein verfassten Erzählungen dienten offensichtlich dazu, beim Leser den Eindruck zu erwecken, Michail sei durch die ‚Stimme des Volkes‘ als einzig wahrer gottgewollter Zar von der Herrscherwahlversammlung ausgerufen worden. Obwohl es sich bekanntlich um ein retrospektiv konstruiertes Narrativ handelt, kann davon ausgegangen werden, dass die für Michail seitens Sˇeremetevs initiierte Agitation auch mit Hilfe solcher Lobesbriefe und Bittschriften der in sich sehr zerstrittenen Landesversammlung verhelfen sollte, sich ausgerechnet für Romanov zu entscheiden. Am 7. Februar 1613 stimmte schließlich die Mehrheit des Sobor für seine Kandidatur. Nach altrussischer Tradition konnte aber ein Zar nur einstimmig gewählt werden, „zumal die ‚Wahl‘ als Gottes Wille begriffen wurde.“70 Daher wurde in der Tätigkeit des Zemskij Sobor eine zweiwöchige Pause eingelegt, um in der Zwischenzeit im ganzen Lande Stimmung für Michail Fedorovicˇ als ‚neuer Zar und Selbstherrscher‘ zu machen.71 Am 21. Februar konnte der Sobor sich endlich einigen und verkündete seine einstimmige Entscheidung über die Berufung von Michail Romanov zur Herrschaft auf dem Moskauer Thron. ˇ erepnin 1978, 198–199; Torke 1999, 92; Morozova 67 Vgl. z. B. Sokolova 2013, 154–155; C 2005, 137. 68 Vgl. dazu ausführlicher Morozova 2005, 137. 69 Avraam Palicyn, Skazanie Avraama Palicyna, S.-Peterburg 1909, 339. Vgl. dazu auch ˇ erepnin 1978, 196; Kozacˇa 2004, 137–138. C 70 Torke 1999, 93. 71 Vgl. ebd.; Kozacˇa 2004, 138–139.

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Nun musste Michail die Wahl aber auch noch offiziell annehmen. Da er sich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht in Moskau befand, sondern zusammen mit seiner Mutter Marfa Ivanovna in Kostroma untergekommen war, wurde im Namen des Zemskij Sobor eine große Gesandtschaft vorbereitet, die Michail untertänigst bitten sollte, seiner ‚von Gott für ihn vorgesehenen Bestimmung‘ zu folgen und das ‚Zepter der Selbstherrschaft‘ (skipetr samoderzˇavija) zu übernehmen. „Im Verständnis des russischen Phänomens von samoderzˇavie (Selbstherrschaft) ist unter anderem die Erklärung für den scheinbaren Widerspruch zwischen der Auserwähltheit des Herrschers von Gottes Gnaden und seiner gleichzeitigen Wahl durch das Volk, stellvertretend durch den Zemskij sobor, zu suchen.“72 In der russischen Kirchenlehre wurde der Gedanke etabliert, dass Gott stets einen Auserwählten für die Position des Herrschers vorsehe, „auf den er mit Hilfe verschiedener Zeichen auch hinweise.“73 „Vor allem in Krisenzeiten sei es daher die Aufgabe der Kirche und des Volkes gewesen, den Richtigen zu erkennen und ihn zum Zaren zu wählen. […] In dieser Konstellation kam dem Volk eine besonders interessante Rolle zu. Während einem einzigen einfachen Menschen jegliches Mitspracherecht bei der Wahl eines Herrschers gänzlich abgesprochen worden ist, wurde bei der allgemeinen Stimme des Volkes (glas naroda) eine gewisse Verselbstständigung vorausgesetzt, ähnlich wie bei einer Naturgewalt, die wiederum als ein Zeichen Gottes gedeutet und somit zur Stimme Gottes proklamiert wurde.“74 Bogoizbrannost’ bzw. Gottes Wille sei bei einem Herrscherwahlverfahren daher wirklich entscheidend gewesen.75 Und da die Zarenmacht als Gottes Gabe, aber auch als große Bürde galt, gehörte die sog. Idee der Anflehung (ideja ob umolenii) 76 des ausgesuchten Thronkandidaten zur Prozedur der neuen Herrscherernennung unweigerlich dazu. Nicht zuletzt auch deswegen erinnerte der Ablauf der Kostromaer Gesandtschaft77 zu Michail Romanov, wie dieser in den offiziellen Urkunden anschließend beschrieben wurde, sehr stark an die Berufung Boris Godunovs in allen wesentlichen Punkten. ˇ erepnin bezeichnete solche Darstellungen in den Der sowjetische Historiker C Quellen als „literarische und diplomatische Schablone“ (literaturnyj i diplomaticˇeskij trafaret), um stilistisch von den Phasen der Anflehung Boris Godunovs nicht abzuweichen.78 So sollen Michail und seine Mutter Marfa Ivanovna, die unter Boris Godunov, ähnlich wie ihr Mann auch, ins Kloster geschickt wurde und seitdem eine geschorene Nonne war, zuerst mit „Wut und Tränen“ (s gnevom 72 73 74 75 76 77 78

Ordubadi 2019, 191. Ebd. Ebd., vgl. dazu auch Antonov 2009, 145. Ordubadi 2019, 192. Vgl. Antonov 2009, 145, 148. Vgl. dazu ausführlicher Morozova 2005, 143–152. ˇ erepnin 1978, 200. C

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i placˇem) 79 die Einladung des Zemskij Sobor zur Herrschaft abgewiesen haben. Die Anflehung und die Verhandlungen dauerten wohl einige Stunden. Dabei brachten die zahlreichen Mitglieder der Gesandtschaft, unter denen auch Fedor I. Sˇeremetev und Avraamij Palicyn waren, zum Treffen mit den Romanovs im Ipat’ev-Kloster nicht nur eine große Menge der lokalen Bevölkerung mit,80 sondern auch „wundertätige Ikonen der Heiligen Mutter Gottes sowie der großen Moskauer Wundertäter Petr, Aleksej und Iona“ (cˇudotvornye ikony precˇistye Bogorodicy i velikich moskovskich cˇudotvorcov Petra, Alekseja i Iony).81 Auf diese Weise wurde in der bereits seit Boris Godunov bewährten Szenerie viel Wert darauf gelegt, an diesem 14. März 1613 die Berufung des Zaren auf den Thron sowohl durch das ganze anwesende Volk als auch durch Gottes Willen symbolisch darzustellen. Kennzeichnend ist auch, dass die Anflehung von Michail genauso wie die von Boris82 in den Mauern eines Klosters, d. h. wiederum auf heiligem und gesegnetem Boden stattfand. Auch anfängliche kategorische Ablehnungen der ‚herrschaftlichen Bürde‘ gehörten fast schon zum Standardrepertoire dazu. Dadurch dass Boris und Michail jeweils mit Nachdruck betonten, die Thronbesteigung niemals im Sinn gehabt zu haben,83 sollte die Demut des Kandidaten nachgewiesen und außerdem bestätigt werden, dass er nicht von Machtgier besessen sei und nicht zur Selbstverherrlichung neige.84 Eine nach langem Zögern erzwungene Akzeptanz der durch niemand anderen als ‚den Himmelsvater auferlegten herrschaftlichen Aufgabe‘ konnte laut dem Narrativ sowohl bei Godunov als auch bei Romanov nur unter Androhung ernsthafter Konsequenzen erreicht werden. So wurde der Legende nach eine der wichtigsten russischen Ikonen der Madonna von Vladimir (Vladimirskaja Bogomater’) dem sich widersetzenden Godunov vom Patriarchen Iov mit den Worten präsentiert, dass die Mutter Gottes zu ihm käme, um den Willen ihres Sohnes zu erfüllen, dem sich kein Sterblicher widersetzen dürfe.85 Michail dagegen wurde von einem der Gesandten vorgeworfen, dass er im Falle einer endgültigen Ablehnung der Krone für alle möglichen Unglücke im ganzen Moskauer Reich verantwortlich sein werde, weil der Staat (gosudarstvo) dann zusammen mit dem wahren russisch-orthodoxen Glauben unweigerlich von Ausländern ausgeraubt und vernichtet zu werden 79 80 81 82 83 84

Morozova 2005, 149. Ebd. Gramota carja Michaila Fedorovicˇa, 349. Vgl. dazu ausführlicher Ordubadi 2019, 186. Vgl. Morozova 2005, 149; Ordubadi 2019, 186. Vgl. Antonov 2009, 148. Zu Vorwürfen des Stolzes gegenüber Godunov vgl. ausführlicher Ordubadi 2019, 186, 193–194. 85 Ordubadi 2019, 187.

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drohe und dass fürs Blutvergießen der wehrlosen Opfer Michail und Marfa persönlich von Gott verflucht und bestraft würden.86 Kennzeichnend ist die Rolle, die bei dem ganzen Verfahren für Michails Mutter vorgesehen war. Es reichte nicht aus, dass Michail die Herrschaft einfach annahm, er musste dafür unbedingt auch die öffentliche Segnung seiner Mutter erhalten, worum Marfa Ivanovna von dem Zemskij sobor und den angekommenen Gesandten angefleht wurde.87 Obwohl sie dabei offensichtlich nur stellvertretend für Filaret, den Vater Michails, aufgrund der Minderjährigkeit ihres Sohnes gefragt wurde, passt eine solche Vorgehensweise zu einer etablierten Praxis im patriarchalischen Moskowien, wenn Frauen als anerkannte Legitimationsinstrumente für ihre männlichen Verwandten agieren konnten, sich danach aber schnell wieder in den politischen Hintergrund zurückziehen mussten.88 Auch Godunov erhielt 1598 eine zusätzliche Segnung seitens seiner Schwester Irina, der Witwe des letzten Rjurikiden-Zaren Fedor Ioannovicˇ, und wurde so durch das Wort der Zarin-Nonne in seiner Legitimität bestätigt.89 Die Mutter des ersten Romanov-Zaren behielt aber ihren aktiven Einfluss auf den Sohn auch in den ersten Jahren seiner Herrschaft bei, was von den Zeitgenossen teilweise äußerst negativ registriert wurde. Ungeachtet dessen, dass sie sich offensichtlich ganz intensiv in die Heiratspläne ihres Sprösslings einmischte, hatte sie gleichsam einen zweiten Thron neben ihm inne und schien in allerlei politischen Angelegenheiten die Befehle mit Michail zusammen zu erlassen.90 Bei den Verhandlungen mit den Gesandten aus Moskau brachte sie auch am 14. März 1613 völlig zu Recht zur Sprache, dass im Falle von Michails Einwilligung, den Thron zu besteigen, ihr Mann Filaret als Vater des Zaren in seiner polnischen Gefangenschaft zusätzlich, möglicherweise lebensbedrohend, gefährdet sein könnte.91 Daraufhin versicherte man ihr und Michail, dass alles Mögliche in die Wege geleitet werde, um Filaret aus seiner misslichen Lage zu befreien und gesund in die Heimat zurückzubringen.92 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass dies ein wirklich zugkräftiges Argument zu sein schien, denn ohne 86 Vgl. Morozova 2005, 151: Nakonec odin iz poslov skazal, cˇto esli Michail okoncˇatel’no otkazˇetsja ot prestola, to v Moskve nastupit skorb’ i pecˇal’, poskol’ku gosudarstvo budet okoncˇatel’no razoreno neprijateljami, a pravoslavnaja vera budet raschisˇcˇena. Za vsjo eto i za krov’ nevinnych zˇertv Bog vzysˇcˇet s Marfy i Michaila. 87 Gramota velikoj gosudaryni staricy inokini Marfy Ivanovny Zemskomu soboru o soglasii ee syna stat’ carem, in: Ljudmila E. Morozova, Na puti iz Smuty. Izbranie na carstvo Michaila Fedorovicˇa, Moskva 2005, 351–357, hier 354. 88 Vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag über Marina Mniszech und die Rolle der Frauen in den Machtverhältnissen Moskowiens in diesem Band. 89 Vgl. Ordubadi 2019, 188. 90 Hartmut Rüss, Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels, 9.–17. Jahrhundert, Köln 1994, 233. 91 Vgl. Gramota velikoj gosudaryni staricy inokini Marfy Ivanovny, 355. 92 Morozova 2005, 151.

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dies könnte das Schicksal Filarets völlig ungewiss bleiben. Und so erteilte Marfa Ivanovna Michail am gleichen Tag in Kostroma ihren Segen und ihr Sohn verkündete sein Einverständnis, der neue russische Zar zu werden. Feierlich gekrönt wurde Michail Fedorovicˇ dann einige Wochen später, am 11. Juli 1613, in der Uspenskij-Kathedrale im Moskauer Kreml.93 Obwohl Michail Fedorovicˇ offiziell als alleiniger Selbstherrscher der ganzen Rus’ gefeiert wurde, gab es in der russischen Geschichtsforschung seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Behauptungen, dass seine tatsächliche Macht von Anfang an durch den Willen der Bojarenduma eingeschränkt gewesen sei.94 Da keinerlei schriftliche Dokumente darüber existieren, dass Michail sich verpflichtet hätte, seine Entscheidungen stets nur im Einklang mit dem Willen seiner Berater zu treffen, wurde von seinem mündlichen Versprechen ausgegangen, nicht gegen die Wünsche der Bojaren zu regieren.95 Unter Berücksichtigung des historischen Kontextes des Zemskij Sobor 1613 erscheint diese Vermutung aber sehr unrealistisch. Nach den erschütternden Jahren der Smuta etablierte sich nämlich in der russischen Gesellschaft die Überzeugung, dass samoderzˇavie die einzige für Russland geeignete Regierungsform sei, die die letzte mögliche Rettung des Moskauer Staates nach der ‚Zeit der Wirren‘ sein könne.96 Die Macht des neuen Zaren unter diesen Bedingungen offiziell einzuschränken zu versuchen, wäre im Grunde einem Verbrechen gegen den Willen des Allmächtigen gleichgekommen. Denn die russische Kirchenlehre behauptete, dass Gott den Menschen eben nach dem Vorbild der eigenen Pantokratie einen Zaren als Selbstherrscher gegeben habe.97 „Das wesentliche Merkmal von samoderzˇavie bestehe dann darin, dass zuerst der Wille Gottes bei der Auswahl des Herrschers und anschließend der Wille des Monarchen die Quelle der Gesetze sei, die für alle seine Untertanen gelten und von den Wünschen dieser Untertanen völlig unabhängig seien.“98 Selbstverständlich bedeuteten solche theosophischen Thesen keineswegs, dass Michail Fedorovicˇ und alle seine Nachfolger auf dem russischen Thron sich dem Einfluss ihrer Herrschaftseliten entziehen konnten oder in der Tat über eine uneingeschränkte Macht in ihrem Reich verfügten. Alleine schon bei Michail ist z. B. die Bedeutung seiner beiden Eltern für die Herrschaftsausübung in Mo93 Vgl. dazu ausführlicher Irina A. Bobrovnickaja, Vencˇanie na carstvo v Moskovskoj Rusi v XVI–XVII vekach, in: Svetlana A. Amilechina/Irina A. Bobrovnickaja/Elena A. Morsˇaˇ ast’ 1: XVI–XVII veka, kova (edd.), Vencˇanija na carstvo i koronacii v Moskovskom Kremle. C Moskva 2013, 11–23, hier 17–22. 94 Vgl. dazu Kozacˇa 2004, 147–148. 95 Vgl. Torke 1999, 93. 96 Vgl. dazu ausführlicher Ordubadi 2019, 191. 97 Ebd.; Nikon Episkop Serpuchovskoj, Samoderzˇavie po obrazu Bozˇija Vsederzˇitel’stva, Moskva 1906, 2. 98 Ordubadi 2019, 191.

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skowien nicht wegzudenken. Nach der Rückkehr aus polnischer Gefangenschaft 1619 übernahm Filaret den Posten des russischen Patriarchen und konzentrierte somit nicht nur die ganze weltliche und geistliche Macht im Lande in den Händen der Romanovs, sondern übernahm auch die doppelt aktive Rolle im Verhältnis zu seinem Sohn als geistiger Vater und blutsverwandter Mentor. Auch der Zemskij Sobor, der Michail auswählte, wurde nach seiner Krönung nicht direkt aufgelöst, sondern funktionierte noch einige Jahre als Beratungsgremium des jungen Zaren weiter.99 Fedor I. Sˇeremetev machte am Hofe Michails eine ausgezeichnete Karriere und repräsentierte somit den gesamten BojarenStand, dessen durch die Ereignisse der ‚Zeit der Wirren‘ diskreditierte Position im politischen Machtgefüge Moskowiens durch die Berufung eines Kandidaten aus den eigenen Reihen wieder stabilisiert und gestärkt werden konnte.100 Weder die Mitglieder des Zemskij Sobor noch die Bojarenduma waren somit daran interessiert, den von ihnen ausgesuchten Zaren durch zusätzliche Bedingungen seiner Herrschaftsübernahme zu verschrecken. Im Gegenteil waren es Michail und seine Mutter, die jeden Grund für Zweifel hatten, wenn man die traurigen Schicksale von Michails Vorgängern auf dem Thron seit Godunov bedenken würde: niemand von ihnen konnte die Macht behaupten und sie alle wurden im Laufe der Smuta von ihrer Umgebung verraten. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte lässt sich daher durchaus behaupten, dass in der Tat Michail Fedorovicˇ Romanov derjenige war, der die Bedingungen stellen101 und nach 15 langen ‚Jahren der Wirren‘ zur Manifestierung des Phänomens der russischen Selbstherrschaft (samoderzˇavie) beitragen konnte.

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Diana Ordubadi

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Theresa Wilke

Erkaufte Herrschaft. Das politische Kräfteverhältnis zur Zeit der Utpala-Dynastie (855–939) in Kaschmir

Abstract Looking at the constant changes of personnel on the Kashmiri throne the first half of the 10th century could also be described as a ‘time of turmoil’. Here, too, the kings were dependent on influential elites (namely the Eka¯n˙gas and especially the Tantrins), from whom they had to literally buy their enthronement. Within 30 years of rulership of the Utpala dynasty there appears a notable accumulation of depositions and (re)appointments of kings, more than in any other period in Kashmir. In addition, there occurs a wide discrepancy from otherwise fairly reliable succession concepts. Thus, here we find the only example in Kalhana’s ‘Ra¯˙ jataran˙gin¯ı’ in which a father follows his son on the throne. This is the time when the ˙ Tantrins reached the peak of their power degrading the kings to mere sources of constant income. Only when the king allied himself with another elite group, the Da¯maras, and thus helped ˙ them to gain more power and influence, too, he finally regained more autonomy. But also the Da¯maras, which remained significant at least until the 12th century, often had mainly ˙ their own advantages in mind.

1.

Ausgangslage

Das Kaschmirtal im äußersten Nordwesten des heutigen Indien stellte im Mittelalter1 das Zentrum eines regionalen Königreichs dar, das dank seiner Lage in einem hohen Bergmassiv gut gegen Eroberungsfeldzüge von außen geschützt

1 Gemeint ist etwa der Zeitraum zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert. Vgl. Hermann Kulke/Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens, Von der Induskultur bis heute, 2., verb. und aktualisierte Aufl., München 1998, 137. Dieser europäische Hilfsbegriff für eine indische Epoche soll insbesondere der zeitlichen Verortung dienen, der im zu jener Zeit vorrangig hinduistisch geprägten Indien ohne das christliche Gepräge auskommen muss, doch zumindest einige strukturelle Parallelen aufweist. Vgl. ebd., 137f., sowie Walter Slaje, Kaschmir im Mittelalter und die Quellen der Geschichtswissenschaft, in: Indo-Iranian Journal 48 (2005), 1– 70, hier 4–6.

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war.2 Durch diese strategisch günstige Lage war der Einmarsch größerer Truppen schwierig und nur über enge, gut befestigte Passbollwerke, die sog. dva¯ras (Tore), möglich.3 Zwar berichtet Kalhana über Zeiten, in denen Kaschmir die Oberhoheit ˙ fremder Könige anerkennen musste, doch konnten die kaschmirischen Herrscher und Herrscherinnen vergleichsweise unabhängig von äußeren Einflüssen regieren.4 Die Geschichten der Herrscher von Kaschmir werden in der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘, ˙ dem ‚Wellenstrom der Könige‘, erzählt, einer historiographischen Erzählung, die mit dem kaschmirischen Dichter Kalhana ihren Anfang nahm.5 Kalhana war der ˙ ˙ Sohn eines Ministers des Königs 135Harsa6 (reg. 1089–1101) und erlangte wohl ˙ durch die Erzählungen seines Vaters tiefe Einblicke in die höfische Kultur des ausgehenden 11. Jahrhunderts.7 Zudem griff er auf diverse schriftliche Quellen zurück, die heute verloren sind, und sicherte dadurch auch Informationen aus früheren Jahrhunderten.8 Zwar liegt der Beginn seiner ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ (fortan ˙ KRT) in Legenden über die ersten Könige Kaschmirs, doch wandelt sich das Werk in seinem Verlauf zu einem zeitgeschichtlichen Bericht über die politischen Ereignisse der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, der Lebenszeit Kalhanas. Neben ˙ 2 Vgl. Walter Slaje, Kashmir Minimundus, India’s Sacred Geography en miniature, in: Roland Steiner (ed.), Highland Philology. Results of a Text-Related Kashmir Panel at the 31st DOT [Deutscher Orientalistentag, Anm. d. Verf.], Marburg 2010 (Studia Indologica Universitatis Halensis 4), Halle/S. 2012, 9–32, hier 10f. 3 Vgl. Marc. A. Stein, Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı. A Chronicle of the Kings of Kas´mı¯r. Translated, ˙ ˙ with an Introduction, Commentary, and Appendices, übersetzt von Marc A. Stein, 2 Bde., Westminster 1900, Bd. 1, 108 sowie 213, Anmerkung zu 5.214. 4 Über die wenigen Könige, die bis 1150 herrschten und laut Kalhana nicht aus Kaschmir ˙ stammten, vgl. Konrad Klaus/Theresa Wilke, Die Thronbesteigung Durlabhavardhanas und weitere ‚unübliche‘ Fälle des Herrschaftsübergangs im mittelalterlichen Kaschmir, dargestellt nach der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ des Kalhana, in: Tilmann Trausch (ed.), Norm, Normabweichung ˙ ˙ in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft und Praxis des Herrschaftsübergangs 3), Göttingen 2019, 135–157, hier 139f. 5 Vgl. Walter Slaje, Kingship in Kas´mı¯r (AD 1148–1459). From the pen of Jonara¯ja, court Pandit ˙˙ ¯ bidı¯n (Studia Indologica Universitatis Halensis 7), Halle/S. 2014, 30. Mehr to Sulta¯n Zayn al-‘A ˙ dazu s. Konrad Klaus, Kalhanas ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘. Ein Pendant zur ‚Kaiserchronik‘?, in: Elke ˙ ˙ (edd.), Erzählen von Macht und Herrschaft, Brüggen/Stefan Conermann/Mathias Herweg Die ‚Kaiserchronik‘ im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung (Macht und Herrschaft 5), Göttingen 2019a, 133–160, hier 135f., 145–148. 6 Die tiefgestellten Ziffern vor einem Herrschernamen wurden von Konrad Klaus (u. a. Konrad Klaus, Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir, dargestellt nach der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ des ˙ Kalhana, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht ˙ und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen (Macht und Herrschaft 11), Göttingen 2019b, 145–171) eingeführt und geben an, welchen Platz ein König in der Reihe der von Kalhana behandelten Könige einnimmt. ˙ 7 Vgl. dazu Stein 1900, Bd. 1, 17. 8 Vgl. Slaje 2005, 10, sowie genaueres zu Kalhanas Quellen bei Walter Slaje, Geschichte ˙ schreiben. Vier historiographische Prologe aus Kaschmir, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 158 (2008), 317–351, hier 326.

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Augenzeugenberichten wie denen seines Vaters fanden zunehmend auch Kalhanas eigene Beobachtungen Eingang in sein Werk. ˙ Ab der Mitte des 9. Jahrhunderts, mit der Thronbesteigung König 108Avantivarmans (reg. 855/856–883), werden die in der KRT angegebenen Daten historisch fassbar.9 108Avantivarman war der erste König der Utpala-Dynastie (utpalakula- n., ‚das Geschlecht des Utpala‘)10, die von 855 bis 939 über Kaschmir herrschte11 und die für den vorliegenden Beitrag von zentraler Bedeutung ist. Eine Übersicht über die bekannten Angehörigen der Utpala-Dynastie sowie ihre Verwandtschaftsbeziehungen untereinander findet sich in dem beigefügten Stammbaum (s. Abb. 1). 108Avantivarmans Vater Sukhavarman (gest. 855) und sein Großvater Utpala (gest. 853) waren unter den Königen der Ka¯rkota-Dynastie ˙ (etwa 625–855)12 mächtige Minister gewesen, die sich beide vergeblich um ihre eigene Thronbesteigung bemüht hatten.13 Erst ihr Sohn bzw. Enkel 108Avantivarman profitierte von ihrem Streben nach Macht und gelangte dank eines weiteren einflussreichen Ministers auf den Thron.14 Dieser hatte zuvor König ¯ pı¯da, den letzten Herrscher der Ka¯rkota-Dynastie, vom Thron ver107Utpala ˙ ˙ drängt. Die 28-jährige Herrschaft 108Avantivarmans wird von Kalhana positiv ˙ bewertet, da er besonnen und gerecht regierte.15 Der folgenden Untersuchung sei noch vorausgeschickt, dass hinsichtlich der Frage nach der Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir die Herrschaft idealerweise vom Vater auf den ältesten Sohn überging.16 Dabei spielte es – zumindest nach Quellenlage – keine Rolle, von welcher Frau des Königs dieser Sohn geboren worden war, solange es sich um eine seiner rituell geheirateten Frauen handelte. Königssöhne von Frauen, die zwar dem Harem des Königs angehörten, aber nicht mit diesem verheiratet waren, blieben in der Regel von der Thronfolge ausgeschlossen.17 Auf König 108Avantivarman folgte sein Sohn 109S´amkaravarman (reg. 883– ˙ 902), der für seine Herrschaft im Unterschied zu seinem Vater von Kalhana ˙ 9 Vgl. Stein 1900, Bd. 1, 97 sowie Slaje 2005, 10. 10 Vgl. KRT 5.461. 11 Vgl. Michael Witzel, Kashmiri Brahmins under the Ka¯rkota, Utpala and Lohara Dynasties, 651–1151 CE, in: Eli Franco/Isabelle Ratié (edd.), Around˙ Abhinavagupta. Aspects of the intellectual history of Kashmir from the ninth to the eleventh century (Leipziger Studien zu Kultur und Geschichte Süd- und Zentralasiens 6), Berlin 2016, 609–643, hier 609. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. KRT 4.717. 14 Vgl. KRT 4.715–717. Näheres dazu s. Klaus 2019b, 155–157. 15 Vgl. KRT 5.122. 16 Vgl. Klaus/Wilke 2019, 154f. 17 Vgl. Theresa Wilke, Harsa von Kaschmir, Ein Herrscherportrait aus dem mittelalterlichen ˙ Indien (Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz. Veröffentlichungen der Fächergruppenkommission für Außereuropäische Sprachen und Kulturen. Studien zur Indologie 5), Wiesbaden 2019, 62f.

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Theresa Wilke

Abb. 1: Die Utpala-Dynastie von Kaschmir (855/6–939).

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heftig kritisiert wird. Den plötzlichen Tod von zwanzig oder dreißig Söhnen ´ 109Samkaravarmans führt Kalhana daher auch auf einen Fluch der leidenden ˙ ˙ Untertanen zurück.18 Als er im Jahre 902 an den Folgen einer Verwundung starb, die er sich während ausgedehnter Eroberungsfeldzüge im indischen Ausland zugezogen hatte, hinterließ er lediglich zwei minderjährige Söhne, 110Gopa¯lavarman (reg. 902–904) und 111Samkata (reg. 904). Diese beiden folgten ihm ˙ ˙ nacheinander und unter der Vormundschaft der Königin 112Sugandha¯ auf den Thron. 112Sugandha¯ war die Tochter des Sva¯mira¯ja, eines Fürsten einer nördlich von Kaschmir gelegenen Region,19 und vermutlich die Hauptkönigin 109S´amka˙ ravarmans. Als seine beiden Söhne innerhalb kurzer Zeit auf dem Thron verstorben waren, war die Linie seines Vaters 108Avantivarman erloschen. An diesem Punkt setzte eine Phase der kaschmirischen Geschichte ein, die in diesem Beitrag behandelt werden soll.

2.

Auftritt zweier neuer politischer Akteure

Zunächst übernahm 109S´amkaravarmans Ehefrau, Königin 112Sugandha¯ (reg. 904– ˙ 906), selbst die Herrschaft und zwar auf Bitten der Untertanen, wie Kalhana ˙ erzählt.20 112Sugandha¯ hoffte jedoch, die Herrschaft an einen zu diesem Zeitpunkt noch ungeborenen Sohn des verstorbenen 110Gopa¯lavarman abgeben zu können. Als dieses Kind nach der Geburt starb, fasste sie den Entschluss, die Herrschaft auf einen entfernteren Verwandten zu übertragen.21 Beinahe beiläufig erwähnt Kalhana an diesem Punkt, dass sich die Tantrins (tantrin- m. etwa ‚Soldat‘), ein ˙ militärischer Verband von Fußkämpfern (pada¯ti) des kaschmirischen Heeres, kurz zuvor zusammengeschlossen hatten und dadurch in der Lage waren, die Herrscher des Landes zu bestimmen.22 18 Vgl. KRT 5.210: „Nachdem sich der Fluch [seiner] Untertanen [auf ihn] gelegt hatte, kamen zwanzig oder dreißig Söhne dieses sich auf Abwegen befindenden Königs ums Leben, ohne krank zu sein.“ Übersetzung Klaus 2019b, 157. Hier kündigt sich eine Krise hinsichtlich der Frage nach einem geeigneten Thronfolger somit gewissermaßen bereits an. Möglicherweise passt diese kurze Bemerkung Kalhanas in das Muster, dass die Vergehen eines Königs bereits ˙ gegen seine eigene Nachkommenschaft karmisch wirksam werden. Vgl. KRT 7.1583: „Ein Feuer, das der Qual entsprang des Peinigens des Volkes, verlöscht nicht, ohne vorher [auch] die Sippe, Reichtum [und] die Lebenskräfte [dieses] Herrschers aufgezehrt zu haben.“ Übersetzung Slaje 2019a, 263). 19 KRT 5.157. 20 Vgl. KRT 5.243. In der KRT wird von insgesamt drei Herscherinnen berichtet. Statistisch betrachtet sind Frauen auf dem Thron von Kaschmir somit eher eine Ausnahme, doch ihre Legitimität wird zumindest von Kalhana nicht grundsätzlich angezweifelt. Vgl. Klaus/Wilke ˙ 2019, 155. 21 Vgl. KRT 5.247. 22 Vgl. KRT 5.248.

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„Zu jener Zeit war dort [im Tal von Kaschmir] die Menge der Tantrin-Fußkämpfer, nachdem sie sich vereint hatte, im Stande die Könige zu Fördern oder zu Hemmen.“23

Die Tantrins werden in diesem Vers erstmalig von Kalhana erwähnt und spielen ˙ von da an in seiner Erzählung hin und wieder eine mehr oder weniger große Rolle. Die 30 Jahre zwischen 906 und 936 dürfen jedoch mit Recht als die Blütezeit ihrer Macht gelten.24 In Kalhanas Darstellung werden die Tantrins als organi˙ sierte Fußkämpfer klar von den berittenen Einheiten des Heeres unterschieden und treten gelegentlich auch als Wachpersonal des Königs in Erscheinung.25 Leider wissen wir ansonsten sehr wenig über die Tantrins, etwa über die Hierarchie innerhalb dieses Zusammenschlusses, über die Art und Weise ihrer Rekrutierung, über ihre Anzahl,26 über die Waffengattungen, die sie genutzt haben könnten,27 oder welchen Rang sie innerhalb des gesamten kaschmirischen Heeres eingenommen haben könnten. Laut Kalhanas Darstellung herrschte Königin 112Sugandha¯ anschließend zwei ˙ Jahre lang, weil die Tantrins ihr wohlgesonnen waren. „Daraufhin übte Sugandha¯, die sich auf die Eka¯n˙gas stützte, für die Dauer von zwei Jahren selbst die Herrschaft durch die Freundschaft der Tantrins aus.“28

Die Eka¯n˙gas bildeten ebenfalls eine militärische Einheit und waren wohl eine Art Leibwache des Königs bzw. der Königin.29 Außerdem hatten sie vermutlich die Funktion von königlichen Steuereintreibern, die einen Teil dieser Einnahmen als Lebensunterhalt einbehalten durften.30 Von Kalhana werden sie ebenfalls erst˙ 23 KRT 5.248: tasmin ka¯le mahı¯pa¯lanigraha¯nugrahaksamam | tatra tantripada¯tı¯na¯m krta˙ ˙ Ra ˙¯jasamhaty abhu¯t kulam || Die Wiedergabe der Sanskritverse folgt der Textedition in: ˙ taran˙gin¯ı of Kalhana. Edited, Critically, and Annotated. With Text-Comparative Data from ˙ and other Available Materials by Vishva Bandhu, ed. und übers. v. Original˙ Manuscripts ´ Vis´vabandhu Sa¯strı¯, 2 Bde., Hoshiarpur 1963–1965. 24 Vgl. Stein 1900, Bd. 1, 219, Anmerkung zu 5.248. 25 Vgl. ebd. So waren die Tantrins beispielsweise maßgeblich an der Ermordung König 136Uccalas (reg. 1101–1111) beteiligt, unter dem sie als Palastwache dienten. KRT 8.303. 26 Einen Hinweis bietet nur Kalhanas Bemerkung, dass bei der großen Schlacht im Jahr 935 fünf- oder sechstausend Tantrins˙fielen und anschließend nur noch wenige übrig waren. Vgl. KRT 5.334. 27 Denkbar wären hierbei neben typischen Nahkampfwaffen wie Schwertern auch Distanzwaffen wie beispielsweise Handschleudern, mit denen Steine verschossen und Gegner schwer verletzt oder sogar getötet werden konnten, vgl. Walter Slaje, Schleuder, Katapult, Armbrust und Kanonen. Zur weniger bekannten Militärtechnologie des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Indien, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 169,1 (2019b), 111–139, bes. 115–119. 28 KRT 5.249: tatah sama¯´sritaika¯n˙ga¯ svayam samvatsaradvayam | Sugandha¯ vidadhe ra¯jyam sa¯ ˙ a¯m || ˙ ˙ ˙ mitratvena tantrin ˙ 29 Vgl. Dineschandra Sircar, Indian Epigraphical Glossary, Delhi et al. 1966, 106. 30 Stein vermutet daher ihren Ursprung in eben dieser Funktion lokaler Steuereintreiber, vgl. Stein 1900, Bd. 1, 119f., Anmerkung zu 5.249.

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mals zu diesem Zeitpunkt und ohne jedwede einführende Erklärung erwähnt. Von da an sind sie in der KRT bis ins 11. Jahrhundert textlich nachweisbar. Zuletzt gewährte ihnen König 132Ananta (reg. 1028–1063) aus Dankbarkeit für ihre Treue zusätzlich zu den unsicheren Steuereinnahmen ein verlässlicheres Auskommen, vermutlich in Form von Ländereien.31 Im Jahr 1101 gibt Kalhana ˙ noch einmal einen Hinweis darauf, dass es die Eka¯n˙gas zu jenem Zeitpunkt noch 32 gegeben haben dürfte, aber ob sie sich von da an zu einer anders bezeichneten Einheit entwickelten oder schlicht bedeutungslos wurden, ist unklar. Ähnlich wie bei den Tantrins ist ansonsten wenig über die Eka¯n˙gas bekannt. Dass diese beiden militärischen Einheiten, die Tantrins und die Eka¯n˙gas, an dieser Stelle erstmalig bei Kalhana Erwähnung finden, bedeutet wohl nicht, dass ˙ es sie nicht bereits vorher gegeben hätte. Es scheint, als hätten sie erst zu Beginn des 10. Jahrhunderts eine solche politische Bedeutsamkeit erreicht, dass sie in der KRT Erwähnung finden. Im Jahr 906 nun versammelte Königin 112Sugandha¯ neben den Ministern (mantrin) und den Fürsten (sa¯manta)33, die beide etablierte Gruppen im politischen Geschehen darstellten, auch die Tantrins und die Eka¯n˙gas, um einen geeigneten Thronfolger zu bestimmen.34 Offenbar versprach sie sich von dieser Versammlung, dass die beteiligten Parteien zu einer Einigung hinsichtlich des nächsten Thronfolgekandidaten finden würden, damit sie alle dessen Herrschaft anschließend unterstützten und stabilisierten. Die Auswahl der Teilnehmenden zeigt somit, wer – zumindest nach Auffassung Königin 112Sugandha¯s – das notwendige politische Gewicht besaß, um diese Entscheidung zu treffen. Der bei dieser Versammlung geäußerte Wunsch Königin 112Sugandha¯s war die Inthronisierung 114Nirjitavarmans, der ein Enkel des Bruders 108Avantivarmans war und also einer Nebenlinie der Utpala-Dynastie angehörte.35 Mütterlicherseits war 114Nirjitavarman darüber hinaus mit 112Sugandha¯ verwandt, sodass sie womöglich hoffte, einen guten Einfluss auf ihn ausüben zu können.36 Die Minister erhoben jedoch umgehend Einspruch, da sie ihn für ungeeignet hielten. Nicht umsonst trug 114Nirjitavarman ihrer Meinung nach das Epitheton Pan˙gu- ‚der Lahme‘, das laut Kalhana wohl daher rührte, dass er sich gerne ausgedehnten ˙ nächtlichen Vergnügungen hingab und anschließend den Tag verschlief.37 Noch 31 Vgl. KRT 7.161–162. 32 Vgl. KRT 7.1604. An dieser Stelle hoffte König 135Harsa (reg. 1089–1101) auf die Hilfe der Eka¯n˙gas im Kampf gegen seine Feinde, doch dazu kam˙ es nicht mehr. 33 Gemeint sind vermutlich die Oberhäupter benachbarter Fürstentümer, die unter kaschmirischer Oberherrschaft standen, vielleicht auch in Form von Vasallen. 34 Vgl. KRT 5.250. 35 Vgl. KRT 5.251–252. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. KRT 5.253–255.

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während darüber gestritten wurde, entschieden die Tantrins offenbar eigenmächtig die Inthronisierung 113Pa¯rthas (reg. 906–921).38 Er war der älteste, aber mit einem Alter von etwa 10 Jahren dennoch ein minderjähriger Sohn eben jenes ¯ war damit abgesetzt und 114Nirjitavarmans, des ‚Lahmen‘. Königin 112Sugandha wurde von den Tantrins aus dem Palast vertrieben. Damit rächten sie sich laut Kalhana wohl auch für Schmähungen, die ihnen seitens eines vertrauten Mi˙ nisters und Geliebten der Königin während ihrer Herrschaftszeit angetan worden waren.39 Während 112Sugandha¯ daraufhin notgedrungen den Palast verließ, musste sie feststellen, dass ihre einstigen Diener nun in den Diensten der Tantrins standen40 – und somit implizit auch nicht in denen des neuen Königs. Im Jahr 914, etwa sechs Jahre nach Königin 108Sugandha¯s Absetzung, ergriffen die Eka¯n˙gas Partei für sie und versuchten, sie erneut auf den Thron zu heben.41 Die Tantrins stellten sich jedoch hinter den amtierenden König 113Pa¯rtha und besiegten die Eka¯n˙gas auf dem Schlachtfeld. 112Sugandha¯ wurde in den Kerker geworfen und dort ermordet.42

3.

Die erkaufte Herrschaft

Der von den Tantrins inthronisierte minderjährige König 113Pa¯rtha wurde zu einer Marionette seines Vaters 114Nirjitavarman und der Minister. Um den Status quo zu erhalten, waren sie alle nach Kalhanas Darstellung nur noch damit be˙ schäftigt, Bestechungsgeld für die Tantrins herbeizuschaffen, indem sie die Untertanen ausbeuteten.43 Kalhana bemerkt dazu explizit, dass die Könige von ˙ diesem Zeitpunkt an in den Diensten der Tantrins standen – anstatt diese in den Diensten der Könige – und dass die Tantrins nun so mächtig waren, dass sie bestimmen konnten, wen sie auf den Thron hoben. „Wie Steuereintreiber vom Dorf (gra¯maka¯yastha) richteten sich die Könige gegenseitig zugrunde, indem sie den Tantrins dienten [und ihnen] immer höhere Bestechungsgelder gaben. Der Lebensunterhalt der Könige dort im Tal [von Kaschmir], der einst durch seine Könige mittels [der Eroberung von Fürstentümern wie] Kanyakubja¯ usw. beschafft wurde, wurde [nun] aus der Gabe von Wechseln (hundika¯da¯na) der Tantrins ˙˙ [bestritten].“44 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. KRT 5.255. Vgl. KRT 5.256. Vgl. KRT 5.258. Vgl. KRT 5.259. Vgl. KRT 5.262. Vgl. KRT 5.264. KRT 5.265–266: bhu¯bhujo gra¯maka¯yastha¯ iva¯nyonyavipa¯tanam | datta¯dhika¯dhikotkoca¯ vi˙ ¯ s tatra mandale | tantrina¯m dadhus tantrisevaya¯ || yadra¯jaih Kanyakubja¯dya¯ vilabdha ˙ ˙˙ ˙ ˙ hundika¯da¯na¯d bhu¯bhuja¯m jı¯vika¯bhavat || ˙˙ ˙

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Die Wahl der Tantrins richtete sich also danach, welcher Thronfolgekandidat ihnen die höchsten Bestechungsgelder zahlen konnte. Im weiteren Verlauf wurde daher bald auch die Vergabe von Ministerämtern an die finanziellen Möglichkeiten der jeweiligen Kandidaten geknüpft. „Vom König wurde der zum Minister genommen, welcher das Geld für die Wechsel (hundika¯dhana) der Tantrins herbeiführte, indem er die Untertanen verkaufte [und ˙˙ damit] in eine derartige [üble Lage brachte].“45

Der König konnte folglich seine eigene Zahlungsfähigkeit gegenüber den Tantrins aufbessern, indem er zahlungswillige und zahlungsfähige Minister für ihre Bestallung bezahlen ließ. Diese Praxis führte unweigerlich zu einer zunehmenden Ausbeutung der Untertanen, da nun sowohl die Könige als auch deren Minister dadurch an die Macht kamen, dass sie skrupelloser als ihre Konkurrenten Abgaben von den Untertanen eintrieben. Nach Kalhanas Auffassung sind es aber genau diese beiden, der König und ˙ sein Ministerstab, in deren Verantwortung der Schutz und das Wohl der Untertanen liegen. Daher werden in der gesamten KRT regelmäßig sowohl die Könige als auch ihre jeweiligen Minister als eigennützig kritisiert, wenn sie diesen Pflichten nicht nachkommen.46 Im Jahr 917/918 spitzte sich die Lage für die Untertanen weiter zu, als eine Überschwemmung große Teile der Ernte zerstörte, sodass es in der Folge zu einer Hungersnot kam, die hunderte Opfer forderte.47 Dennoch gelang es den Ministern und den Tantrins aus dieser Notlage Profit zu schlagen, indem sie die königlichen Reisvorräte zu hohen Preisen an das hungernde Volk verkauften.48 Inzwischen – so scheint es – war König 113Pa¯rtha der Minderjährigkeit entwachsen, und es häuften sich die Zerwürfnisse zwischen ihm und seinem Vater und Vormund 114Nirjitavarman. Mal gelang es 113Pa¯rtha, seine Herrschaft durchzusetzen, mal überging sein Vater ihn durch Intrigen mit den Tantrins.49 Im Jahr 921 setzten die Tantrins König 113Pa¯rtha schließlich ab und inthronisierten an seiner statt 114Nirjitavarman (reg. 921–923). Nach etwa zwei Jahren an der 45 KRT 5.275: a¯deyah ksma¯bhujah so ’bhu¯n mantrı¯ yas ta¯dr´s¯ıh praja¯h | vikrı¯ya va¯hayann a¯sı¯t ˙¯ dhanam ˙ ˙ ˙ ˙ tantrina¯m hundika || ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ 46 Vgl. Theresa Wilke, Zum Scheitern beraten, zwei Ratsszenen im Kontext des Sturzes König Harsas, in: Alheydis Plassmann (ed.), Die Figur des Ratgebers (Macht und Herrschaft), ˙ Göttingen 2020 in Druckvorbereitung. 47 Vgl. KRT 5.271–273. 48 Vgl. KRT 5.274. Die Bauern mussten einen Teil ihrer Ernte an den König abtreten, der von entsprechenden Amtsinhabern eingetrieben wurde. Vgl. u. a. KRT 4.628. Die dadurch entstandenen Vorräte wurden dann an jene Bevölkerungsteile verkauft, die selbst keine Landwirtschaft betrieben, und generierten so Einkommen für den König. Vgl. Stein 1900, Bd. 2, 6, Anmerkung zu 8.61. 49 Vgl. KRT 5.280.

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Macht verstarb dieser König. Vor seinem Tod hatte er noch seinen Zweitgeborenen, den noch minderjährigen 115Cakravarman (reg. 923–933), zu seinem Nachfolger erklärt.50 Er überging somit seinen ältesten Sohn 113Pa¯rtha und hob entgegen den Regeln der normalerweise geltenden Primogenitur einen seiner nachgeborenen Söhne auf den Thron. Kalhana nennt für diese Entscheidung ˙ keine Gründe, doch der Verdacht liegt nahe, dass 113Pa¯rtha aufgrund der vorangegangenen Rivalität mit seinem Vater bewusst von diesem hintangesetzt wurde.51 Gegen 115Cakravarman erhoben sich daraufhin die Tantrins, da sie nun auf der Seite 113Pa¯rthas standen.52 Als Erstgeborenem des verstorbenen Königs hätte ihm die Thronfolge wohl mit einem gewissen Recht zugestanden, doch welche Gründe die Tantrins dazu bewogen, sich dieses Mal für ihn einzusetzen, bleibt offen. Auf Seiten des Kindkönigs 113Cakravarman standen wiederum die Eka¯n˙gas und trugen somit dem Willen des verstorbenen Königs 114Nirjitavarman Rechnung. In diesem Kampf um die Thronfolge errangen die Eka¯n˙gas den Sieg, sodass 113Cakravarman anschließend für etwas mehr als 10 Jahre regieren konnte – aufgrund seiner Minderjährigkeit die meiste Zeit davon unter der Vormundschaft seiner Großmutter.53 Über diesen vergleichsweise langen Zeitraum weiß Kalhana allerdings nicht viel zu berichten. ˙ Im Jahr 933 gelang es den Tantrins schließlich, König 115Cakravarman vom Thron zu verdrängen. Nach Kalhanas Darstellung lag dies an seinen Ministern ˙ und Verwandten, die den Tantrins das erforderliche Bestechungsgeld nicht weiter zahlten.54 Allerdings ernannten die Tantrins daraufhin nicht den von ihnen zuvor unterstützten 113Pa¯rtha, sondern einen weiteren Sohn 114Nirjitavarmans zum König: 116S´u¯ravarman (reg. 933–934). In der Folge konkurrierten die drei Brüder ¯ rtha, 115Cakravarman und 116S´u¯ravarman um den Thron, indem sie bzw. ihre 113Pa jeweiligen Parteigänger sich gegenseitig hinsichtlich der Höhe ihrer Zahlungsangebote an die Tantrins überboten. Als der amtierende 116S´u¯ravarman bereits im Jahr nach seiner Thronbesteigung die Bestechungsgelder für die Tantrins nicht weiter aufbringen konnte, holten sie 113Pa¯rtha (reg.2 934–935)55 zurück auf den Thron. Etwa ein weiteres Jahr später war es wiederum 115Cakravarman (reg.2 935), der mit den höchsten Summen Bestechungsgeldes die Tantrins für sich gewann 50 Vgl. KRT 5.288. 51 Nur in seltenen Fällen wurde – sofern es mehrere Söhne gab – der älteste bei der Thronfolge übergangen und meistens wird die Abweichung von dieser Regel dann auch von Kalhana ˙ erklärt. Vgl. dazu Klaus 2019b, 163f. 52 Vgl. KRT 5.289. 53 Vgl. KRT 5.289–290. 54 Vgl. KRT 5.293. 55 Bei ‚reg.1‘, ‚reg.2‘ und ‚reg.3‘ handelt es sich um die erste, zweite oder dritte Amtszeit eines Königs.

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und damit zum zweiten Mal König wurde.56 Und noch im selben Jahr musste 115Cakravarman aus dem Palast fliehen, da auch er das Geld für die Bestechung der Tantrins nicht mehr bezahlen konnte.57 Nach 115Cakravarmans Flucht machte sich nun einer der Minister Hoffnungen auf den Thron und sandte daher seinen jüngeren Bruder 117S´ambhuvardhana ˙ (reg. 935–936), der ebenfalls Minister war, mit einem Angebot zu den Tantrins. ´ 117Sambhuvardhana hinterging seinen Bruder jedoch und verhandelte mit den ˙ Tantrins über seine eigene Inthronisierung.58 Als Meistbietender gelangte er so im Jahr 935 mit Hilfe der Tantrins auf den Thron. Erstmals seit der Thronbesteigung König 108Avantivarmans im Jahr 855/856 ging die Herrschaft nun also auf jemanden über, der nicht der herrschenden Dynastie angehörte. Diese Entwicklung war vermutlich nur dadurch möglich geworden, dass sich die Mitglieder der Königsfamilie zu diesem Zeitpunkt finanziell bereits völlig verausgabt hatten und den üblichen Regeln bei der Auswahl des Thronfolgers keine Geltung mehr beigemessen wurde. In der gesamten KRT werden nur sehr wenige Versuche beschrieben, den Thron zu erlangen, obwohl es noch männliche Angehörige der herrschenden Dynastie und somit legitime Thronfolger gab.59 Diesen Ausnahmen ist gemein, dass ihre Herrschaft jeweils nur von kurzer Dauer war.

4.

Ein Pakt zwischen König und Da¯maras als Gegengewicht zu ˙ den Tantrins

Nachdem 115Cakravarman den Thron zum zweiten Mal verloren hatte, traf er auf seiner Flucht einen Da¯mara namens Samgra¯ma60 – ob zufällig oder nicht, wird ˙ ˙ nicht erzählt. Die Da¯maras waren eine Gruppe feudaler Landbarone mit größerem ˙ Landbesitz.61 Ihr Verhältnis zum König war häufig zwiespältig und immer wieder kam es zu Konflikten.62 Über den Ursprung der Da¯maras ist wenig bekannt, doch ˙ erzählt Kalhana von einer interessanten Bemerkung des Königs 96Lalita¯ditya (reg. ˙ etwa Mitte des 8. Jahrhunderts). In einer von einem Boten übermittelten Rede dieses Königs wird die Ansicht vertreten, dass den Bauern stets nur genau so viel 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. KRT 5.297. Vgl. KRT 5.302. Vgl. KRT 5.303–304. Vgl. Klaus/Wilke 2019, 154. KRT 5.306. Vgl. Sircar 1966, 340, Slaje 2014, 295. Das Misstrauen gegenüber den als zu mächtig empfundenen Da¯maras veranlasste Könige ˙ immer wieder dazu, sie verfolgen und töten zu lassen. Einen Extremfall zeigt Kalhana zur Zeit ˙ brachte, des Königs 135Harsa (reg. 1089–1101), der jeden, der ihm den Kopf eines Da¯maras ˙ vor dem Palast reich belohnte. Die˙ abgeschlagenen Köpfe reihten sich schließlich in Massen auf. KRT 7.1235–1237.

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ihrer jährlichen Ernte gelassen werden sollte, wie diese für ihre Versorgung innerhalb eines Jahres benötigten. Sollten sie nämlich mehr als das Nötigste zurückbehalten können, so würden sie sich praktisch zwangsläufig zu Da¯maras ˙ entwickeln, die mächtig genug seien, die Befehle des Königs zu missachten. Daher sei größte Sorgfalt bei der Eintreibung der Abgaben von den Bauern walten zu lassen, um dies zu verhindern.63 Es scheint sich bei den Da¯maras also ursprünglich ˙ um zu Wohlstand gekommene Bauern gehandelt zu haben. Der Da¯mara Samgra¯ma erkannte nun den umherstreifenden ehemaligen ˙ ˙ König 115Cakravarman, grüßte ihn ehrerbietig und bat ihn, Platz zu nehmen.64 ¯ma daraufhin seine Geschichte und bat ihn um 115Cakravarman erzählte Samgra ˙ Hilfe, den Thron zurückzuerobern.65 Samgra¯ma sah sich zwar durchaus in der ˙ Lage, dem König zu helfen, da er die militärischen Fähigkeiten der Tantrins offenbar geringschätzte,66 doch misstraute er ihm, da er überzeugt war, dass sich Könige stets undankbar gegenüber ihren einstigen Verbündeten zeigen würden.67 Er und 115Cakravarman tranken daher im Rahmen ihres Bündnisses einen Eidestrank (pı¯takos´a), durch den 115Cakravarman verpflichtet werden sollte, den Da¯maras stets Gunst und Schutz zu gewähren, wenn diese ihn im Kampf um ˙ den Thron unterstützten.68 Samgra¯ma gelang es anschließend, die Da¯maras ˙ ˙ hinter 115Cakravarman zu vereinen, damit diese mit ihm gegen die Tantrins kämpften. Im Jahr 936 besiegte 115Cakravarman die Tantrins in der Schlacht und ritt in die Hauptstadt S´rı¯nagara ein, wo er von den Ministern, den Fürsten und den Eka¯n˙gas empfangen wurde.69 117S´ambhuvardhana, der versuchte, die Tan˙ trins wieder um sich zu sammeln, wurde vor 115Cakravarman gebracht und von einem seiner Diener erschlagen.70 ˙ bhuvardhana dafür kritisiert, dass er sich den Thron Obwohl Kalhana 117S´am ˙ mittels Betrugs erschlichen hat, scheint er dessen Herrschaft hier insofern anzuerkennen, als er seine Diener für den Verrat an ihrem Herrn verurteilt.71 Wie der Da¯mara Samgra¯ma befürchtet hatte, vergaß König 115Cakravarman ˙ ˙ bald nach seinem dritten Amtsantritt seine Dankbarkeit gegenüber dem einsti63 64 65 66 67 68

69 70 71

Vgl. KRT 4.347–348. Vgl. KRT 5.307. Vgl. KRT 5.308. Die Tantrins werden in der wörtlichen Rede des Da¯mara mit Grashalmen (trna) gleichgesetzt, ˙ Überlegenheit – als bedeutungslos ˙˙ um sie – trotz ihrer eventuell zahlenmäßigen und nichtsnutzig darzustellen. Vgl. KRT 5.309. Näheres zum Brauch des pı¯takos´a, mit dem in Kaschmir Verträge geschlossen wurden, s. Bernhard Kölver, Textkritische und philologische Untersuchungen zur Ra¯jataran˙gin¯ı des ˙ Kalhana (Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland. Supplementband ˙ 12), Wiesbaden 1971, 175–179. Vgl. KRT 5.341–347. Vgl. KRT 5.348. Vgl. KRT 5.349–350.

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gen Bündnispartner und wurde vertragsbrüchig. Er ließ mehrere Da¯maras hin˙ richten, obwohl diese sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen.72 Überhaupt erwies er sich in dieser seiner letzten Regierungszeit als übler Herrscher, der von Kalhana massiv für seine Vergehen kritisiert wird. Schließlich wurde er ˙ am 25. Mai 937 von einigen Da¯maras während eines nächtlichen Toilettengangs ˙ und unter dem Jubel einiger seiner Ehefrauen ermordet.73 Dass der Einfluss der Tantrins im Jahre 936 nicht vollends durch die Da¯maras ˙ und König 115Cakravarman zerschlagen worden war, zeigt das traurige Schicksal seines ältesten Bruders 113Pa¯rtha. Auf Befehl seines Sohnes, des grausamen Königs 118Unmatta¯vanti (reg. 937–939), beteiligten sich die Tantrins an seiner Ermordung.74 Angestiftet wurde 118Unmatta¯vanti von einem machthungrigen Minister namens 123Parvagupta, der sich von der Ermordung der Mitglieder der Königsfamilie bessere Chancen versprach, eines Tages selbst den Thron zu besteigen.75 König 118Unmatta¯vanti schaltete dadurch nicht nur seine eigenen Konkurrenten aus, sondern trug auch zum Ende seiner Dynastie bei.76 Kurz vor seinem Tod im Jahr 939 erklärte er den minderjährigen 119S´u¯ravarman II. (reg. 939) in dem wohl irrigen Glauben, dieser wäre sein Sohn, zu seinem Nachfolger.77 Bereits ein Jahr später wurde 119S´u¯ravarman II. gewaltsam abgesetzt, und der Thron fiel eher zufällig an 120Yas´askara (reg. 939–938), einen Brahmanen ohne jede Verbindung zur königlichen Familie.78 Es war die Machtlosigkeit der Könige der Utpala-Dynastie gegenüber den Tantrins und ihr Buhlen um die Herrschaft mit Geld, die sie in den Augen dieses hintertriebenen Ministers 123Parvagupta als würdelos und gering erscheinen ließ. „[Der Minister] Parvagupta, der die Könige seit der Drangsal durch die Tantrins als Würmern ähnlich angesehen hatte, bemühte sich ständig, [selbst] die Herrschaft zu erlangen.“79

Nach der insgesamt zehn Jahre währenden Herrschaft von 120Yas´askara und zwei weiteren Königen bestieg 123Parvagupta am 2. März 949 den Thron von Kaschmir

72 73 74 75 76

Vgl. KRT 5.405. Vgl. KRT 5.413. Vgl. KRT 5.431. Vgl. KRT 5.427. Vgl. KRT 5.479: „Wenn Pa¯rthas Sohn (i. e. Unmatta¯vanti) nicht auf Veranlassung [seines] Dieners [i. e. des Ministers Parvaguta] sein eigenes Geschlecht vollständig vernichtet hätte […]“. Klaus 2019b, 160. 77 Vgl. KRT 5.445–448. 78 Zu den Umständen der Thronbesteigung 120Yas´askaras s. Klaus 2019b, 159f. 79 KRT 5.421: a¯ tantriviplava¯d drstva¯ kı¯tapra¯ya¯n mahı¯patı¯n | Parvaguptah sarvada¯bhud ˙˙˙ ˙ ˙ ra¯jya¯va¯ptikrtodyamah || ˙ ˙

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und begründete so die Abhinava-Dynastie (949–980),80 ehe er bereits im darauffolgenden Jahr am 6. Juli 950 an einer Krankheit starb.81

Schluss Die etwa 30-jährige Zeitspanne zwischen dem Ende der Herrschaft Königin ¯ s im Jahr 906 und der dritten und letzten Thronbesteigung 115Ca112Sugandha kravarmans im Jahr 936 stellt eine Phase in der Geschichte des kaschmirischen Mittelalters dar, in der bestimmte militärische Gruppen einen maßgeblichen Einfluss auf die Herrschaftsübergänge ausübten.82 In dieser Zeit regierten fünf Könige, auf die sich acht Thronbesteigungen verteilen. Die Herrschaftsdauer der einzelnen Herrscher ist dabei – wie auch Kalhana selbst feststellt83 – auffällig ˙ kurz (im Mittel etwa vier Jahre). Nur die beiden jeweils ersten Regierungszeiten ¯ rthas (reg.1 906–921) und 115Cakravarmans (reg.1 923–933) sind dabei 113Pa deutlich länger als zwei Jahre. Eine Ursache dafür könnte zum einen in der Minderjährigkeit der beiden gelegen haben: Als Marionettenkönige erhoben sie keine nennenswerten eigenen Machtansprüche und waren leicht zu kontrollieren. Daneben fand ihre jeweilige Thronbesteigung zu Beginn jener Phase statt, in der Könige sich dazu gezwungen sahen, ihre Position mittels Geld zu erkaufen und zu sichern. Zu dieser Zeit waren die Schatzkammern (kos´a) der Königsfamilie vermutlich noch um einiges besser ausgestattet, als dies später der Fall war, sodass die geforderten Summen auch noch längere Zeit gezahlt werden konnten. Die Könige, die zu ihrer Machtausübung und Herrschaftssicherung auf ein Heer angewiesen waren, gerieten in Abhängigkeit von einer mächtigen militärischen Abteilung, den Tantrins. Diese hatten sich um 906 zusammengeschlossen und dadurch nach Aussage Kalhanas spürbar an Macht gewonnen. Die Tantrins ˙ nutzten diese Stärke aus, indem sie die Könige für ihre Unterstützung zahlen ließen. Ihre zunächst einzigen Gegner waren offenbar die Eka¯n˙gas, die sich im Zweifel militärisch zur Wehr setzten, während sich die Minister – wie auch die Könige – den Forderungen der Tantrins unterwarfen. Die offen ausgetragenen Konflikte zwischen den Tantrins und den Eka¯n˙gas nahmen jeweils unterschiedliche Ausgänge, doch scheint es, als hätten die Eka¯n˙gas ihre Unterstützung nicht – oder zumindest nicht hauptsächlich – von der Zahlungsbereitschaft ihres Kandidaten abhängig gemacht. Kalhana erwähnt in diesem Zusammenhang nie, ˙

80 81 82 83

Vgl. KRT 6.129. Vgl. KRT 6.148. Weitere Fälle dieser Kategorie finden sich bei Klaus 2019b, 168f. KRT 5.279: „Die Könige jener Zeit konnten sich keine lange Herrschaftszeit sichern […]“.

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dass auch an die Eka¯n˙gas Bestechungsgeld gezahlt wurde oder dass diese Geld für ihre Unterstützung forderten. Eine weitere Besonderheit dieser Phase in der kaschmirischen Geschichte ist die Tatsache, dass Herrschaftsübergänge nicht mehr dadurch initiiert wurden, dass der bisherige König starb oder – wie in seltenen Fällen – abdankte. Vielmehr entschieden die Tantrins, wann ein neuer König geweiht wurde, und zwar danach, ob der amtierende König ihre finanziellen Forderungen weiterhin erfüllen konnte oder ob ein anderer bereit und in der Lage war, ihnen mehr Geld zu bieten. Die Thronprätendenten wurden gegeneinander ausgespielt, und die Frage der Thronfolge wurde so zu einem Machtinstrument einer Gruppe der Elite, die nur ihre eigenen Interessen verfolgt zu haben scheint. Die enge Kopplung von Macht an das Vermögen setzte sich über die Thronprätendenten hinaus bis in die Reihen der Minister fort, die sich ihre Bestallung ebenfalls erkaufen konnten. Dies wiederum führte zu einer Auswahl von Kandidaten für das Ministeramt, die in Kalhanas Augen dem Wohl der Untertanen nicht dienlich ˙ sein konnten. Trotz der enormen Macht der Tantrins und der völligen Abhängigkeit der Thronprätendenten, ist jedoch festzustellen, dass nur in einem einzigen Fall, nämlich dem 117S´ambhuvardhanas, ein Thronfolger zum Zuge kam, der nicht der ˙ herrschenden Dynastie angehörte, sondern der Sohn eines Ministers war. Vielleicht lag es an 117S´ambhuvardhanas schwacher Legitimation, dass 115Cakravar˙ man für seinen Thronanspruch jenseits des Hofes Unterstützer fand und den Thron 936 gegen den Widerstand der Tantrins zurückerobern und ihre Macht brechen konnte. Möglicherweise hatten die Tantrins mit der Inthronisierung eines Kandidaten ohne Verwandtschaft zum Königshaus also eine Grenze hinsichtlich der Tolerierbarkeit als illegitim empfundener Thronfolger überschritten und gaben so einer anderen Gruppe der Gesellschaft, den Da¯maras, die Chance, den Unmut ˙ darüber für sich zu nutzen. Interessanterweise gab es laut Kalhanas Darstellung keinen einzigen Versuch ˙ der Tantrins, einen aus ihren eigenen Reihen zum König zu ernennen. Diese Beobachtung könnte sich damit decken, dass es in der KRT nur wenige Fälle gibt, in denen jemand ohne den entsprechenden familiären Hintergrund den Thron übernahm. Insbesondere dann, wenn noch Angehörige der herrschenden Dynastie zur Verfügung standen, war dies ein riskantes Unterfangen.84 Der Thron versprach den Tantrins offenbar als finanzielles Druckmittel einen sichereren Zugang zur Macht als die eigentliche Besteigung des Throns durch einen der 84 Vgl. Klaus/Wilke 2019, 154. Nach Darstellung Kalhanas gibt es nur zwei solche Fälle, ´ ´ ˙˙ khara¯ja (reg. 1111), die sich beide 117Sambhuvardhana (reg. 935–936), s. o., und 137Radda-San ˙ ˙ ˙ nur kurze Zeit auf dem Thron halten konnten.

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ihren. Indem sie den Mitgliedern der Königsfamilie den Sitz auf dem Thron verkauften, missachteten sie zwar gewisse Traditionen des Herrschaftsübergangs, doch die Legitimation aufgrund der Abstammung der eingesetzten Könige blieb bestehen. Erst als mit 119S´u¯ravarman II. (reg. 939) der letzte – wenngleich unsichere – Abkömmling der Utpala-Dynastie vom Thron verdrängt worden war, war die Frage nach einem geeigneten Thronfolger völlig offen. Der Thron blieb anschließend sogar für fünf oder sechs Tage völlig unbesetzt.85 Der mächtige Heerführer (kampana¯dhipati),86 der den Palast im Sturm erobert und 119S´u¯ravarman II. in die Flucht geschlagen hatte, übernahm selbst nicht den Thron, obwohl dies nach der Darstellung Kalhanas durchaus im Bereich des ˙ Möglichen gelegen hätte.87 Stattdessen berief er eine Versammlung von Brahmanen ein, die den nächsten König bestimmen sollten. Er hoffte, dass die Wahl auf ihn fallen würde.88 Immerhin galt die königliche Linie als erloschen, und er hatte seine militärischen Fähigkeiten soeben eindrucksvoll bewiesen, doch die versammelten Brahmanen entschieden sich schließlich für einen anderen. Dieser Vorgang zeigt deutlich, dass sich auch dieser militärisch mächtige Heerführer um eine Befürwortung seiner Thronbesteigung bemühen musste, da er keine Legitimation über seine familiäre Herkunft geltend machen konnte.89 In diesem Fall waren es nun Brahmanen, Angehörige des Priester- und Gelehrtenstandes, die über die Thronfolge entscheiden sollten. Alleinige militärische Stärke scheint also auch wenige Jahre nach den Tantrin-Wirren nicht ausgereicht zu haben, einen legitimen Thronanspruch zu erheben. Auch 112Sugandha¯ hatte im Jahr 906 eine Versammlung einberufen, die den nächsten Thronfolger bestimmen sollte. Allerdings war das Ziel dieser Versammlung insofern ungewöhnlich, als es dabei um die Auswahl eines Angehörigen der bereits herrschenden Dynastie ging. Üblicherweise ging die Herrschaft im mittelalterlichen Kaschmir vom Vater auf den (zumeist) ältesten Sohn über. Gab es keine Söhne, so konnte die Herrschaft im Prinzip auf jeden der näheren oder entfernteren männlichen Angehörigen übergehen. Erhoben mehrere Verwandte einen Anspruch, wurde die Angelegenheit entweder militärisch oder mittels mächtiger Parteigänger ausgefochten. Insofern ist weder der Vorschlag 114Nirjitavarmans durch Königin 112Sugandha¯ noch die Entscheidung für 113Pa¯rtha durch die Tantrins ungewöhnlich – beide sind männliche Angehörige einer Nebenlinie der Königsfamilie und somit allem Anschein nach hinreichend für die Thronfolge legitimiert. Doch die Einberufung der Ver85 86 87 88 89

Vgl. KRT 5.465f. Vgl. Stein 1900, Bd. 1, 231f., Anm. z. 5.447. Vgl. KRT 5.456. Vgl. KRT 5.464. Vgl. Klaus 2019b, 159f.

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sammlung durch 112Sugandha¯ bringt bereits zum Ausdruck, wer in ihren Augen die Thronbesteigung eines geeigneten Kandidaten letztlich billigen muss: die Minister, die Fürsten, die Tantrins und die Eka¯n˙gas. Sie alle dürfen somit wohl als einflussreiche Eliten im Umkreis des Herrschers gelten. Die mächtigste Gruppe unter ihnen scheinen – in dieser speziellen Phase der kaschmirischen Geschichte – die Tantrins gewesen zu sein, die durch ihren Zusammenschluss vor allem militärische Schlagkraft besaßen. Sie waren in der Lage, nicht nur den Nachfolger Königin 112Sugandha¯s, sondern auch fast alle Thronfolger der nächsten 30 Jahre zu bestimmen. Die Macht der Tantrins basierte laut Kalhana also auf ihrem Zusammen˙ schluss, der zu Beginn des 10. Jahrhunderts stattgefunden haben muss. Daneben scheint aber zumindest auch die Schwäche der Utpala-Dynastie dazu beigetragen zu haben, dass die Tantrins in dieser Zeit derart mächtig werden konnten. Nach ´ ˙ karavarmans Tod wurden auffällig viele minderjährige Könige dieser Dy109San nastie auf den Thron gehoben.90 Und auch nach der Zerschlagung der Tantrins durch 115Cakravarman im Jahr 936 verbesserte sich die Lage der Königsfamilie nicht – im Gegenteil, sie erlosch bereits drei Jahre später im Jahr 939. Als es 115Cakravarman 936 gelungen war, die vereinigten Tantrins mit der Hilfe der Da¯maras zu besiegen, erwähnt Kalhana erneut jene Gruppen der kasch˙ ˙ mirischen Elite, die sich beim Einzug des Königs in die Hauptstadt S´rı¯nagara um 91 ihn versammelten: Nun waren es nur noch die Fürsten, die Minister und die Eka¯n˙gas. Die Tantrins – so berichtet Kalhana – waren in der Schlacht mit den ˙ Da¯maras vernichtend geschlagen worden, sodass sie zu diesem Zeitpunkt wohl ˙ kein politisches Gewicht mehr hatten. Doch gänzlich ausgelöscht waren sie, wie oben gezeigt, nicht.

Bibliographie Quellen Kalhana, Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı. A Chronicle of the Kings of Kas´mı¯r. Translated, with an ˙ ˙ ˙ Introduction, Commentary, and Appendices, übersetzt von Stein, Marc A., 2 Bde., Westminster 1900. Kalhana, Ra¯jataran˙gin¯ı of Kalhana. Edited, Critically, and Annotated. With Text-Compa˙ ˙ ˙ rative Data from Original Manuscripts and other Available Materials by Vishva Bandhu, ed. und übers. v. S´a¯strı¯, Vis´vabandhu, 2 Bde., Hoshiarpur 1963–1965.

90 Immerhin sechs von zehn Thronfolgern waren bei ihrer (ersten) Inthronisierung minderjährig: 110Gopa¯lavarman, 111Samkata, 113Pa¯rtha, 115Cakravarman und 116S´u¯ravarman. ˙ ˙ 91 Vgl. KRT 5.341–347.

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Theresa Wilke

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Erkaufte Herrschaft

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Shigekazu Kondo

The “Horse-Race” for the Throne: Court, Shogunate, and Imperial Succession in Early Medieval Japan

Abstract From 1183 until 1333 – what historians now call the Kamakura period – two governments coexisted on the Japanese archipelago, respectively located in the eastern and western parts of its largest island Honshu. Their political centers were separated by a distance of about 500 km: the imperial court, ruled by its sovereign, the Tenno, had already existed for 600 years and was located in the west, in Kyoto; Kamakura in the east was home to the newly established shogunate, headed by the eponymous shogun. Although both these governments constituted distinct polities, six of the shogunate’s rulers were invited from the court’s elites, and the court also heeded the shogunate’s counsel pertaining issues of imperial succession. During the latter half of this period, the imperial line was divided into two competing lineages, each with a legitimate claim to the throne. This friction established a practice of dispatching messengers to Kamakura, with the objective to obtain a shogunate counsel that would be in support of one’s own lineage. At the time, the fact that both imperial lineages were sending messengers to Kamakura was subjected to mockery: it was colloquially called a “horse-race”. This paper discusses the topic of imperial succession in the later Kamakura period, elucidating the circumstances surrounding these “horse-races”.

Introduction It was the first month of 1325 when two messengers departed the imperial capital of Kyoto for Kamakura. These two noblemen were Yoshida Sadafusa 吉田定房 (1274–1338), emissary of Emperor Godaigo 後醍醐天皇 (1288–1339, r. 1318– 1339), and Rokujo¯ Aritada 六条有里忠 (1281–1339), a supporter of Crown Prince Kuniyoshi 邦良親王 (1300–1326).1 The princely courier was entrusted with realizing his lord’s claim to the throne, but the imperial envoy had been instructed to prevent Kuniyoshi’s ascension. Both men were eager to ensure that 1 Translator’s note: the correct reading of the prince’s name is not known; hence, some dictionaries also refer to him as Kuninaga. Names of historical persons as well as Japanese authors cited follow the order of family name, personal name; members of the imperial family do not possess a family name.

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the shogunate’s arbitration would be in favor of their own agenda, since the imperial house itself was in disagreement on matters of imperial succession: the reigning sovereign had no intention to abscond the throne in favor of his nephew Kuniyoshi. However, the prince saw himself as the legitimate heir to the throne: his uncle’s enthronement was merely an interim arrangement – and clearly, Godaigo were to gracefully abdicate in his favor. Godaigo’s immediate predecessor, the Retired Emperor Hanazono 花園天皇 (1297–1348, r. 1308–1318) noted in his diary that the people were gossiping about the two men’s efforts in securing shogunate support, calling the affair a “horse-race”.2 Godaigo could not claim to be a linear descendant of Hanazono, his second cousin. Moreover, Hanazono had been preceded by Godaigo’s elder brother Gonijo¯ 後二条天皇 (1285–1308, r. 1301–1308), who, in turn, had succeeded Hanazono’s elder brother Gofushimi 後伏見天皇 (1288–1336, r. 1298–1301). In other words, neither of the last four sovereigns – Gofushimi, Gonijo¯, Hanazono, and Godaigo – had directly succeeded a member of their own direct lineage, and all of them were second cousins to each other. The imperial line bifurcated during the time of their grandfather Gosaga’s 後嵯峨天皇 (1220–1272, r. 1242–1246), and the two resulting lineages had henceforth taken turns on the throne. The lineage that Gofushimi and Hanazono belonged to was known as the Jimyo¯in-line 持明院統; Gonijo¯ and Godaigo were members of the Daikakuji-line 大覚寺統. Originally, the conflict for the throne had been between these two lineages; likewise, the colloquial “horse-race” had first been used in referral to the couriers dispatched by these rivaling factions in their efforts to secure shogunate support. However, another rift occurred within the Daikakuji-line, birthing enmity between Tenno Godaigo and his nephew Kuniyoshi. Thus, the political status quo of the early 14th century was characterized by the necessity of shogunate arbitration to mediate matters of imperial succession, since the imperial line – and with it the supporting nobility at court – was inherently divided on the issue. Let us investigate the circumstances that caused this situation.

Court and Shogunate About five hundred kilometers to the east of Kyoto lies the city of Kamakura, the seat of the shogunate during this period. It was established in the year 1180, when revolt against the court was ravaging the countryside. Its founder was Minamoto no Yoritomo 源頼朝 (1147–1199), one of several rebel leaders. At first, the court 2 Hanazono-tenno¯ 花園天皇, Hanazono-tenno¯ shinki 花園天皇宸記, ed. Murata Masashi (Shiryo¯ sanshu¯ kokiroku hen 62/66/80), 3 vols., Tokyo 1982–1986, Sho¯chu¯ 2 (1325) 1/13.

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declared the shogunate an enemy that needed to be subdued; however, in 1183, Kyoto was occupied by rebels and then-sovereign Antoku 安徳天皇 (1178–1185, r. 1180–1185) escaped the capital. His brother Gotoba 後鳥羽天皇 (1180–1239, r. 1183–1198) replaced the child on the throne, and the imperial court, united under its new sovereign, acknowledged Yoritomo’s hegemony over the east. This marked the birth of a polity in which court and shogunate co-existed for 150 years.3 Over the years, scholarship had proposed several competing interpretations of the court-shogunate relationship: originally, historians had defined the court as a ‘classical’ polity, and the shogunate as ‘medieval’; a long-term process outlined a shift away from the classical polity towards the emergence of a medieval state.4 However, in 1963, Kuroda Toshio criticized the established perception of the Kyoto court as an inherently classical polity: he redefined it as (having undergone a transformation to) a medieval polity, therefore relocating it to a position of parity with the shogunate. Furthermore, Kuroda proposed the theory that these two political constructs – as well as a third entity, which was representing the totality of the various religious institutions – conjointly constituted the medieval Japanese state.5 These three elements were each corresponding to one sociopolitical function: administration (court), military (shogunate), and religion (religious institutions). He defined their relationship as ‘reciprocal complementarity’.6 Twenty years later, Sato¯ Shin’ichi, in part supporting Kuroda’s argument, suggested that whereas the court should indeed be perceived as having undergone a transformation into a medieval entity, both court and shogunate had to be evaluated as co-existing – but distinct – medieval states of their own.7 The persistent opposition of these two influential theories shapes the discourse of contemporary research until the present day. In view of the fact that the relationship between court and shogunate is anything but simple, neither theory could be refuted. One common argument for the rejection of the notion that court and shogunate together constituted a singular state is their spatial separation: for 150 years, a distance of five-hundred kilo3 For a detailed study of the complex relationship between court and shogunate, see Kondo¯ Shigekazu, Kamakura bakufu to cho¯tei (Shirı¯zu Nihon chu¯seishi 2), Tokyo 2016. Translator’s note: English-language research tends to refer to this arrangement as a diarchy, or ‘dual polity’. 4 Ishimoda Sho¯, Chu¯sei ni okeru tenno¯sei no kokufuku, in: Aoki Kazuo et al. (ed.), Ishimoda Sho¯ chosakushu¯, 15 vols., vol. 8: Kodaiho¯ to chu¯seiho¯, Tokyo 1989 (Orig. 1946), 19–32. 5 Translator’s note: religious institutions refers to Buddhist monasteries as well as the various indigenous cults that are nowadays summarily described as Shinto¯; these two practices of worship were not isolated from each other and can be understood as forming a syncretistic relationship. Furthermore, many institutions of both types were influential landholders. 6 Kuroda Toshio, Chu¯sei no kokka to tenno¯, in: Kuroda, Kuroda Toshio chosakushu¯, 8 vols., vol. 1: Kenmon taisei ron, Kyoto 1994 (Orig. 1963), 3–46. 7 Sato¯ Shin’ichi, Nihon no chu¯sei kokka, Tokyo 2007 (1st edition 1983).

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meters separated both political centers. Consequently, it can be argued that the existence of two centers, separated by such a distance for such a notable span of time can only mean the existence of not one, but two distinct governments. Having said that, arguments against the notion of an independent shogunate persist. One reason for this is that not only the shogun himself, but also many other functionaries of the shogunate were recipients of appointments to office by the court. On top of that, these were not even particularly high-ranked offices: the only member of the warrior government who received rank and title equivalent to the court’s ruling aristocracy was the shogun himself; but even he did not receive these honors at a younger age.8 In addition, the members of the Ho¯jo¯ family 北条 氏, who exercised the true power in the shogunate, were only appointed to offices classifiable as mid-ranked bureaucratic or provincial posts. In other words, had the shogunate been located in Kyoto, the court’s center, then the ruling elites of the shogunate would be unable to negotiate on equal footing with the court’s aristocrats due to their significant disparity in social status. However, during this period only very few offices still retained their original function: the vast majority had been repurposed to only signify the rank of an official within court society – most office denominations were no longer indicative of any administrative purpose. Meanwhile, new organizations that de facto fulfilled the administrative duties had been created independently of these original court offices; hence, the shogunate elites that received appointments by the court did not serve as staff in the court’s administration proper.9 In effect, they were simply borrowing court titles in order to represent the status they occupied within their own administration – the shogunate. Consequently, the shogunate elites were not subordinated to the court administration despite being appointed to court offices. Kuroda’s single-state theory, which defined the medieval state as constituent of court, shogunate, and religious institutions, did also not consider the various court offices held by important shogunate members to be fulfilling an administrative function – it was the institution of shogunate as a totality that fulfilled its role as the element of state tasked with military and policing duties.10 Another important point of debate concerning the court-shogunate relationship is the question of their respective ‘sphere of domination’: overly sim8 Translator’s note: in this case, the ruling aristocracy refers to those member of the highranked court nobility (the kugyo¯ 公卿) who also held posts in the central ministry of state (the dajo¯kan 太政官) at court; the shogun, apart from his rank as either a kugyo¯ or, later, a prince, typically was also awarded with one of these central positions. This should be seen more as a symbolical gesture, especially in view of the fact that he was geographically separated from the court’s administration. 9 Sato¯ 2007, 14–27. 10 Kuroda 1994, 25–27.

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plified, if these were identical for each of the two governments, then they would constitute a single state; however, if it were possible to delineate each polity’s sphere as distinct from each other, it would indicate the existence of separate states. A similarly simplified answer to this problem might look like this: the respective geographical territories both governments had jurisdiction over was indeed overlapping, but their domination over the people within these territories was markedly distinct from each other.11 In order to understand this discrepancy, we need to understand a major constitutive unit of early medieval Japanese society: the sho¯en 荘園 (estate). Sho¯en describe land which, under permission of the imperial court polity, is in possession of a legal person who would oversee part of public functions that originally were the responsibility of the state, in order to provide for the expenses required to fulfill the purpose of the estate’s establishment.12 In practice, many of these estates were associated with temples dedicated to the religious objectives (e. g., personal as well as public welfare) of their founders, who for the most part were members of the imperial family. Although originally funded by taxes from the (re-)development of arable lands through its subordinate administrative (e. g., provincial) organizations, over the years, the court became unable to secure the required economic resources to fund its public and religious endeavors on a large scale, thus leading to the birth of the sho¯en system. The legal person acknowledged as ‘proprietor’ of a sho¯en was referred to as honjo 本所; but the person responsible for the estate’s (re-)development on-site was a jito¯ 地頭 (land steward). The honjo wielded authority over instating and dismissing jito¯, and thus secured their share of the profits from the estate. These very jito¯, who wished to break free of their dependence on the honjo, were the shogunate’s foundations. Their desires formed the bed upon which the shogunate grew, since the new warrior government guaranteed the delivery of profits from the sho¯en to the honjo; in exchange, the shogunate appropriated the estate proprietor’s authority over the jito¯ for itself. With the loss of the associated appointment rights on the side of the estate proprietors, the shogunate’s sphere of domination over jito¯ became dissociated from that of the court, and two distinct spheres emerged. 11 Translator’s note: it could indeed be debated whether both court and shogunate had jurisdiction – or enacted domination – over the exact same territory to the same degree or if there were differences; as such, this is, as the author made clear, a massive simplification of the complex state of landownership and administration during the medieval period in Japan. 12 For contemporary studies representative of the state of research on sho¯en, see for example: Kawabata Shin, Sho¯ensei seiritsushi no kenkyu¯, Kyoto 2000; Takahashi Kazuki, Chu¯sei sho¯ensei to Kamakura bakufu, Tokyo 2004; Kamakura Saho, Nihon chu¯sei sho¯ensei seiritsushi ron, Tokyo 2009.

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Kuroda’s theory of court, shogunate, and religious institutions collectively constituting a singular state had defined the relationship between its constituent elements as ‘reciprocal complementarity’, since neither constituent was fulfilling all the functions of the state on its own.13 In contrast, Sato¯’s notion of court and shogunate as separate states defined the relationship between the two as ‘reciprocal determination’: whereas both polities were by itself ‘complete’, they intrinsically were endowed with the potential to influence each other’s specific identity and boundaries through interaction.14 For example, determining the head of each polity (i. e., Tenno and shogun) was a matter relevant to both parties. In order to elucidate this relationship, it is necessary to explain who the respective ruling figures – de jure and de facto – in both court and shogunate were.

De jure and de facto rulers within the imperial court It goes without saying that the de jure leader of the imperial court is the Tenno. Without its sovereign, the court cannot exist. However, during the Kamakura period (1183–1333), it was the linear ascendant of the reigning sovereign – his father or grandfather – who de facto controlled the government.15 Rule of a sovereign’s linear ascendant (i. e., a retired emperor) is called insei 院生 and is the sole prerogative of a linear ascendant, who not necessarily had to have directly preceded the current sovereign on the throne; accordingly, instating an insei government without a living linear ascendant was impossible. Having said that, periods of direct rule by the reigning sovereign were limited to situations when this was deemed inevitable: when a heir to the throne was born to a reigning sovereign, the monarch would typically abdicate in favor of his son and instate an insei government by virtue of now being father to the throne. We can count ten insei rulers over the span of the Kamakura period; three of them – Gofukakusa, Gouda 後宇多天皇 (1267–1324, r. 1274–1287), and Gofushimi – ceded the throne to a successor who was not their direct descendant, and therefore did not come to head an insei government immediately after abdication (refer to the timeline 13 Kuroda 1994, 18. 14 Sato¯ 2007, iv. Translator’s note: whereas Sato¯’s choice of words (相互規定的 so¯go kiteiteki) is obviously conscious of Kuroda’s terminology (相互補完的 so¯go hokanteki), his concept might best be understood as a relationship similar to that of diplomatic ties between states, although on a more fundamental level than that between truly separate countries whose relationship is clearly distinguished by separate territories and a more or less “independent” society. 15 Translator’s note: textbooks typically cite 1185 as the beginning of the Kamakura period; however, the author considers a different interpretation more plausible and thus defines the period as beginning in 1183. Several other interpretations also exist and are debated by Japanese scholarship.

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provided at the end of this paper for an overview of rulers during the Kamakura period). Furthermore, two of these retired emperors each saw two of their sons ascend to the throne; consequently, they each enacted insei rule twice. These two men were the fathers of the four monarchs initially mentioned in the introduction: Fushimi 伏見天皇 (1265–1317, r. 1287–1298), father of Gofushimi and Hanazono; and Gouda, father of Gonijo¯ and Godaigo. One last exception was Gotakakura 後高倉院 (1179–1223), who had never ascended the imperial throne himself; nevertheless, his son did, which qualified him to instate insei government. Moreover, out of the sixteen monarchs which ascended to the throne over the course of the Kamakura period, only two – Gohorikawa 後堀河天皇 (1212–1234, r. 1221–1232) and Gosaga – were designated by the shogunate. Gohorikawa was enthroned in the aftermath of the Jo¯kyu¯ no ran 承久の乱 (Jo¯kyu¯ Disturbance) in 1221, when the court was defeated by the shogunate: in order to deny Retired Emperor Gotoba – instigator of the conflict – further access to power, it was necessary to deny his descendants a claim to the throne. As a result, Gotoba’s older brother Gotakakura took over insei rule when his son Gohorikawa was proclaimed the new monarch. Past research even evaluated the shogunate’s military triumph in this conflict as the warrior government securing the authority to designate the imperial sovereign for itself.16 But in reality, the shogunate’s designation of Gohorikawa presented an anomaly. As long as the court’s inner circles were reaching a consensus on a candidate for the throne on their own, the shogunate did neither disapprove of, nor attempt to interfere in their decision. It was only when the court, struggling to come to an agreement, actively sought out the shogunate’s arbitration that the eastern government reluctantly complied with the request. When Gosaga ascended to the throne aided by shogunate influence, it was because his predecessor Shijo¯ 四条天皇 (1231–1242, r. 1232– 1242) met an untimely death at the age of 10, ending the line of succession. Gosaga was only a relative of the sixth degree to Shijo¯; yet he ascended to the throne by virtue of the shogunate’s nomination.

De jure and de facto rulers within the shogunate Nine men received the title of shogun over the course of 1183 to 1333 (again, refer to the appendix for an overview). The first shogun, Minamoto no Yoritomo, was succeeded by his two sons. But with them, his lineage met its end: his eldest son Yoriie 源頼家 (1182–1204) fell victim to political strife and was assassinated a 16 Uwayokote Masataka, Kamakura bakufu to kuge seiken, in: Uwayokote, Kamakura jidai seijishi kenkyu¯, Tokyo 1991 (Orig. 1975), 2–45, here: 27–28.

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year after being exiled; Yoriie’s brother Sanetomo 源実朝 (1192–1219) was murdered during office. Their next two successors stemmed from the Kujo¯family, one of the most exalted lineages within the court aristocracy; the last four were all imperial princes. All of these courtly shoguns, except for the very last one, were deposed during their lifetime and exiled to Kyoto, and the last head of the shogunate witnessed the fall of the shogunate and returned to the imperial capital, where he died soon after. The shogun-title, which signified the shogunate headship, was granted by the imperial court.17 However, when it came to the de facto authority of the shogunate leader, this title was ultimately inconsequential: for example, Minamoto no Yoritomo, the shogunate founder, was appointed as shogun only thirteen years (in 1192) after he had established his government in Kamakura, and he even renounced the title during his lifetime.18 The same held true for his successor Yoriie: although he inherited his father’s position in 1199, he was not appointed until 1202. But when Yoriie was deposed and replaced by his brother Sanetomo in the wake of a political disturbance, the boy was immediately declared shogun by the court to strengthen his authority as the new head of the shogunate. Yet, when Sanetomo was murdered in 1219, there was no living male successor from the Minamoto lineage remaining. The shogunate elites welcomed a son of the Kujo¯family 九條家 from Kyoto as his successor. This child, Yoritsune 九条頼経 (1218–1256), was a great-grandchild of Yoritomo’s sister. The future shogun was only two years old. Until his adulthood, Yoritomo’s widow (Yoriie’s and Sanetomo’s mother) Ho¯jo¯ Masako 北条政子 (1157–1225) acted as provisional head of the shogunate. She was never declared shogun by the court. Soon after her death in 1225, the eight-year-old Yoritsune’s coming-of-age ceremony was held, and the following year, the court declared the young boy shogun at the anniversary of his predecessor’s death. All of his successors were appointed by the court, as well. In all instances, the court merely fulfilled the shogunate’s request; accordingly, it did not rule over the shogunate just because of its authority over the title of shogun. The shogunate was a government established by warriors, who submitted themselves to the authority of the person they accepted as their supreme leader: Yoritomo.19 But Yoritomo’s successor Yoriie was incapable of truly inheriting his

17 Translator’s note: the title is properly called seii taisho¯gun 征夷大将軍 – supreme general to submit the barbarians in the east. 18 Translator’s note: this discrepancy between the shogun title and being the de facto ruler of Kamakura is being reflected in the appendix, where the term “Lord of Kamakura” (Kamakura-dono 鎌倉殿) is being used instead. 19 Originally it had been thought that the jito¯ armed themselves and thus became warriors; however, more recently the opposite interpretation became dominant: warriors became jito¯ as

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father’s authority. When the warrior elites deposed Yoriie and replaced him with his brother Sanetomo, they refrained from investing the boy with direct decisionmaking capacity; his grandfather Ho¯jo¯ Tokimasa 北条時政 (1138–1215), acknowledged as the shogunate’s preeminent warrior, governed in his stead. His position later came to be called shikken 執権.20 When, after the death of her son Sanetomo, Masako was acting as interim head of the shogunate until Yoritsune’s adulthood, her brother Yoshitoki 北条義時 (1163–1224) served in this position. The Jo¯kyu¯ Disturbance in 1221 was caused by Gotoba’s plot to eliminate Yoshitoki, whom he perceived as the de facto ruler of the shogunate. Many warriors stationed in the vicinity of Kyoto joined Gotoba, but the eastern warriors flocked to the banner of the Ho¯jo¯ siblings in Kamakura. Yoshitoki’s son Yasutoki 北条泰時 (1183–1242) commandeered the shogunate army heading towards the imperial capital and defeated Gotoba’s forces – their victory consolidated the authority of shikken Yoshitoki. The victorious general Yasutoki remained in Kyoto and dedicated himself to sorting out the various problems that arose in the aftermath of the conflict. When his father died in 1224, Masako summoned him back to Kamakura, declaring him the next shikken. Years later, in 1232, Yasutoki was responsible for the promulgation of the fundamental 51 articles of shogunate law (the ‘Goseibai shikimoku’ 御成敗式目), indicative of the existence of a shogunate law distinct from the court’s one. Until the time of Yasutoki’s grandson Tokiyori 北条時頼 (1227–1263, shikken 1246–1256), all men appointed to the office were acknowledged as the head of the Ho¯jo¯ main branch. Tokiyori cracked down on his rivals and consolidated his position as both shikken and leader of the Ho¯jo¯ clan. His linear descendants all inherited the position of the main branch’s headship: Tokimune 北条時宗 (1251–1284, shikken 1268–1284), Sadatoki 北条貞時 (1272–1311, shikken 1284– 1301), and Takatoki 北条高時 (1304–1333, shikken 1316–1326).21 Apart from the head of the Ho¯jo¯’s main branch, who always became shikken, there were also other members of the lineage group that would be elevated to the office: for the eighty-seven years between Tokiyori assuming the position and the fall of the Kamakura shogunate in 1333, he and his direct descendants held the office for a total of fifty-three years. For the remaining time, eight other members of the Ho¯jo¯ were designated shikken; however, even if someone besides the main branch’s a side-effect of large-scale land development over the course of the 12th century; Gomi Fumihiko, Bushi to bunshi no chu¯seishi, Tokyo 1992, 14–15. 20 Translator’s note: Often translated as “shogunate regent” or “shogunal regent”. However, whereas the shikken’s role within the shogunate might overlap with that of a “regent”, it could be argued that he possesses a type of authority not derived from merely representing the shogun. 21 Translator’s note: the main branch’s headship (called tokuso¯ 得宗) had a certain degree of authority over the various Ho¯jo¯ branch lineages that emerged over time.

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head was in office, the actual power remained within the hands of the clan headship. For example, when Sadatoki died in 1311, he had already ceded the office for a decade – the court nonetheless commemorated his death in a way befitting of the shogunate’s most powerful man.22

Bifurcation of the imperial lineage When Gosaga ascended to the throne in 1242, all of his linear ascendants had already passed away; accordingly, there was no insei government. One year later, Gofukakusa was born to the sovereign, who ceded his position to his son at the first opportunity in 1246, instating insei government. Three years later, Gosaga had another son in Kameyama 亀山天皇 (1249–1305, r. 1260–1274), who was named crown prince in 1258 (see figure 1 for an overview of the developing family relations). The following year, the reigning Tenno Gofukakusa heeded his father’s request and abdicated in favor of his little brother. In 1267, Gouda was born to Kameyama and named crown prince just a year later. But Gofukakusa’s son, Prince Fushimi, was two years older than the new heir apparent: Gouda’s designation as crown prince was tantamount to removing Gofukakusa’s descendants from the line of imperial succession, effectively establishing Kameyama’s line as the sole heirs to the throne. All of this transpired during Gosaga’s insei rule; therefore, we can surmise that all of these developments reflected the retired emperor’s will.

Figure 1: Abridged genealogy of the Jimyo¯in and Daikakuji lines (order on the throne indicated by numbers).

22 Kondo¯ 2016, 182–183.

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Gosaga died peacefully in 1272, after 26 years of insei. Gofukakusa, his direct successor on the throne, now was the only living retired emperor; however, he was not a linear ascendant to his brother and therefore unqualified to follow in his father’s footsteps. Therefore, reigning sovereign Kameyama would govern personally. Around this time, the looming Mongol threat pressed for a stable government – and with Gouda, there already was a crown prince who could succeed to the throne.23 Hence, Kameyama was beseeched to abdicate as soon as possible, restoring the status quo of insei governance. This indicates just how strongly the concept of insei was perceived as a constancy by its contemporaries; in contrast, direct rule by the reigning emperor was regarded as a temporary measure, restricted to periods when external circumstances did not permit the instatement of insei. For that reason, Kameyama abdicated in favor of Gouda in 1274. But at the time, Kameyama had no other son besides Gouda who could have been named the successor. His brother recognized the opportunity: Gofukakusa rallied for support of his own son Fushimi’s installation as new crown prince. The erstwhile monarch sought the dialogue with the shogunate’s leader, shikken Ho¯jo¯ Tokimune, and succeeded in securing the warrior government’s endorsement of his plan.24 Formally, the presence of a governing retired emperor, reigning sovereign, as well as a crown prince was symbolic of the ideal stable government; on that account, Tokimune had no reason to withhold his support of Fushimi’s designation. In 1287, Gouda ceded the throne to Fushimi. However, this was neither of his own volition nor by his father Kameyama’s behest: it was by shogunate recommendation.25 The proposal reflected that the rulers in Kamakura were well aware of the situation between Gosaga’s successors. It should also be noted that the enthronement of Fushimi by itself was of no advantage to the shogunate; however, since Gouda and Fushimi were not father and son, this, indirectly, also brought an end to Kameyama’s insei, and Fushimi’s father Gofukakusa came to exercise power instead. Prince Gofushimi was born to Emperor Fushimi in 1288 and named crown prince the following year. But his cousin Gouda already had a son three years older than the new heir apparent: Prince Gonijo¯. Moreover, six months later, another prince – Godaigo – was born to the former emperor. Still, the authority to decide on the crown prince lay in the hands of the insei ruler; hence, in accordance with Gofukakusa’s and Fushimi’s wishes, the infant Gofushimi became crown prince.26 In the same year, the shogunate elites deposed the seventh 23 Translator’s note: the so-called Mongol Invasions of Japan under the Yuan dynasty occurred in 1274 and 1281. 24 Kondo¯ 2016, 147–149. 25 Ibid., 152. 26 Ibid., 154.

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shogun Koreyasu 惟康親王 (1264–1326), replacing him with Prince Hisaakira 久 明親王 (1276–1328), yet another one of Gofukakusa’s children. Gofukakusa, satisfied by achieving all the glory he could wish for in this life, entered monkhood and left the governance affairs to his son Fushimi. The retired monarch remained in good health until his death in 1304 – but formally his insei government was dissolved and the court was ruled directly by the reigning sovereign Fushimi.27 In 1298, the abdicated in favor of his son Gofushimi. Naturally, this signified a return to insei rule – Fushimi remained the de facto ruling figure at court. After Gofushimi, the throne was scheduled to fall into the hands of Gouda’s son, the new crown prince Gonijo¯. Although Gofushimi had a little brother, Hanazono, born a year earlier, the child was not designated crown prince. Despite being backed by the authority invested in the leader of insei government, Fushimi failed at bestowing the title of crown prince to his other son; the arrogance of his close retainer Kyo¯goku Tamekane 京極為兼 (1254–1332) had incurred the shogunate’s wrath, which saw to it that the nobleman was exiled. As the aristocrat’s patron, the sovereign was deemed partially responsible for Tamekane’s transgressions, directly leading to his abdication.28 Although Fushimi had renounced the throne, his reign was not yet over, since he dominated the government as head of insei; however, his abdication meant that if the next crown prince were not of his line, his insei would inevitably come to an end. After a decade of patience, the time had come for Kameyama and Gouda: they succeeded in having Gonijo¯, Gouda’s son, appointed as the new sovereign-designate. A few years later, in 1301, the shogunate proposed a change of the throne, and Gouda, as father to the newly instated Emperor Gonijo¯, came to preside over an insei government of his own.29

The principle of alternate imperial succession Both Gofukakusa and Kameyama still witnessed their respective grandchildren – Gofushimi and Gonijo¯ – ascend to the throne: they passed away in 1304 and 1305, respectively. Both rulers had been unrelenting in their devotion to seeing their own descendants assume the exalted honors of emperorship; however, since they also had been equally powerful rulers, the descendants of both former sovereigns were perceived as being invested with a legitimate claim to the throne.

27 Ibid., 154–155. 28 Ibid., 159–161. 29 Ibid., 162.

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Gofushimi’s reign had been cut short after only three years, ending his father’s insei as well. But the Jimyo¯in line did not have the luxury of remaining passive: Gonjio¯’s enthronement naturally vacated the position of crown prince. If Fushimi’s faction did not take the initiative, they risked being overwhelmed by the supporters of retired emperor Gouda. The Jimyo¯in faction had permitted the installation of Gonijo¯ as crown prince and, recently, even ceded the throne to the prince; accordingly, it seemed plausible to again nominate a crown prince from their own line as a successor to Gonijo¯. Unfortunately, Gofushimi had no male heir. Certainly, he had a brother in Hanazono, but his brother’s enthronement would not qualify Gofushimi to establish insei. Moreover, should Gofushimi eventually have an heir, then Fushimi’s descendants would bifurcate into two lines: those of Gofushimi and Hanazono. In order to prevent this, Fushimi decreed that Gofushimi were to adopt Hanazono, and should a son be born to Gofushimi, then Hanazono were to adopt the child; thus, their lineage would remain united. Moreover, a messenger dispatched by the Jimyo¯in faction succeeded in garnering the shogunate’s support for the installation of Hanazono as the new crown prince. Consequently, Gonijo¯ ascended to the throne on the twenty-first day of the first month of 1301, and Hanazono was named heir apparent on the twenty-fourth of the eight month.30 Unsurprisingly, Gouda’s faction opposed Hanazono’s designation: they, too, dispatched a messenger to the shogunate, stressing that it was not desirable to establish two separate imperial lines with claims to the throne. Furthermore, they claimed that it had been Gosaga’s intent to have the throne transmitted through Kameyama’s descendants.31 The shogunate admitted in its reply that its support of Hanazono might have been a premature decision; however, the letter also stated that both Gofukakusa’s as well as Kameyama’s descendants had a legitimate claim to the throne – so it should be up to the reigning sovereign personally to decide when he would cede the throne to the crown prince.32 This became the standard after which the shogunate would handle affairs of the imperial succession in the future. Gouda, as one of the recipients of the shogunate’s document, noted in his reply to the shogunate that it had been thoughtless to have two competing messengers head to Kamakura.33 Nevertheless, after this incident, sending messengers to the shogunate became established practice by the rivaling factions in order to obtain

30 Ibid., 162–163. 31 Yoshida Tsunenaga 吉田経長, Kichizokuki 吉続記, ed. Zo¯ho Shiryo¯ Taisei Kanko¯kai (Zo¯ho shiryo¯ taisei 30), Tokyo 1965, 163–428, Sho¯an 3 (1301) 11/25. The Kichizokuki is the diary of court aristocrat Yoshida Tsunenaga (1239–1309). 32 Ibid., the entries for Sho¯an 3 (1301) 11/24 and 11/25. 33 Tsunenaga was the official who drafted the letter in Gouda’s name and recorded it in his diary. Ibid., Sho¯an 3 (1301) 12/2.

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support for their own claims to the throne. This did come to be colloquially referred to as a “horse-race”. Gonijo¯ unexpectedly passed away in 1308. He was succeeded by Hanazono.34 Gonijo¯’s younger brother Godaigo was proclaimed the new crown prince. Although Godaigo, too, was a son of Gouda, it had been Gouda’s wish that an offspring of Gonijo¯ should eventually ascend the throne. But there were obstacles to the designation of Gonijo¯’s son Kuniyoshi as crown prince: it had been Kameyama’s deathbed wish (he passed away in 1305) that his son Tsuneaki 恒明親 王 (1303–1351), who had been born to him shortly before his death, should eventually follow him on the throne. Despite that, Gouda ignored his father’s request and established Kuniyoshi as his successor instead. However, members of the court aristocracy raised their voices in support of Prince Tsuneaki, proclaiming their endorsement of Kameyama’s last will. Therefore, opposed factions were pushing for the installation of both princes as sovereign-designate. Hence, when Gonijo¯ passed away and a new crown prince had to be named, enforcing Kuniyoshi’s designation would certainly have resulted in open discord between these two factions – in order to prevent the escalation of the situation, the solution for the time being was the installation of a third prince as heir apparent: Godaigo.35 After ten years on the throne, Hanazono abdicated in favor of Godaigo in 1318. Originally, the next crown prince would have to be chosen out of Gofushimi and Hanazono’s descendants – in Prince Ko¯gon光厳天皇 (1313–1364, r. 1331–1333) they even had a suitable candidate available – but Gouda pressured the court to designate Gonijo¯’s son Kuniyoshi instead.36 Had the court strictly adhered to the principle of alternate succession, it would have been Kuniyoshi’s turn only after Godaigo had ceded the throne to Ko¯gon; however, Gouda was not willing to wait. He wanted to make sure that Gonijo¯’s offspring would be enthroned during his own lifetime. It is suffice to say that both factions corresponded multiple times with the shogunate concerning the selection of the next crown prince. The shogunate, however, was not invested in the issue of selection at all, but feeling unable to disrespect Gouda, its arbitration ended up being in support of the former monarch’s request. Although both the Jimyo¯in (Gofukakusa’s descendants) and the Daikakuji (Kameyama’s descendants) lines had a claim to the throne, both reigning Emperor Godaigo and Crown Prince Kuniyoshi stemmed from the Daikakuji line. However, Godaigo was the prince’s uncle: in other words, if his nephew were to 34 Shijo¯ and Gonijo¯ were the only sovereigns during this period (1183–1333) who passed away before ceding the throne to a successor. 35 Kondo¯ 2016, 223–225. 36 Ibid., 2016, 227–228.

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ascend to the throne, Godaigo’s descendants would be removed from the line of imperial succession. Without a doubt, Godaigo must have seen Kuniyoshi and his patron Gouda as obstacles to securing his own enduring rule; however, his animosity was directed against the shogunate, which had endorsed both Gofushimi’s and Kuniyoshi’s nomination, thus effectively removing his own children from the line of imperial succession. Beginning in 1321, the sovereign began plotting to overthrow the shogunate. At the same time, he abolished Gouda’s insei and ruled directly. A mere three months after Gouda’s death in the sixth month of 1324, a conspiracy instigated by Godaigo was exposed and several of his close associates were imprisoned. Despite that, the shogunate, overwhelmed by Godaigo’s fearless stance, as portrayed by the messenger who had been sent to Kamakura in order to illuminate the incident’s details, chose to not further question the sovereign’s personal involvement. At the time, the shogunate’s political leadership was weakened, feeling incapable of taking a harsh stance against the sovereign.37 Shortly after this incident, both Godaigo and Kuniyoshi sent messengers on a “horse-race” towards Kamakura; with Godaigo’s plotting against the shogunate having become public, the prince saw a chance to rally for the sovereign’s abdication in his favor. Although both were of the Daikakuji line, they were rivals competing for an advantageous shogunate reaction concerning the imperial succession. Thus, the “horse-race” that originally had taken place between the Jimyo¯in and Daikakuji lines occurred yet again – but this time between members of the same lineage. Hanazono, who wrote about this event in his diary, was of the Jimyo¯in line; thus, he belonged to the traditional rivals of the Daikakuji-line. However, whereas he commented on the “race” between the two with contempt, he also noted that his own faction, the Jimyo¯in-line, should side with the crown prince: after all, if Kuniyoshi’s efforts were rewarded and Godaigo had to cede the throne to the prince, then – finally! – Ko¯gon, who had been passed over once due to Gouda’s pressure, could be nominated as the new crown prince. In other words, the conflict of interests between Godaigo and Kuniyoshi indicated the aligning of interests between Kuniyoshi and the Jimyo¯in-line. However, their hopes would be shattered, since the shogunate’s arbitration did not endorse Kuniyoshi’s motion. Had the warrior government enforced Godaigo’s abdication and punished the sovereign for his intrigue, it certainly would have had the support of the majority of the imperial court’s aristocracy. In light of this situation, one cannot fathom why the shogunate leaders decided in Godaigo’s favor. Their mistake did come back to haunt them a few years later, since it directly led to the fall of the Kamakura shogunate. Moreover, Prince Kuniyoshi

37 Ibid., 2016, 228–229.

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never saw himself on the throne: he passed away in 1326 at the age of twentyseven. Nonetheless, Ko¯gon was instated as the new crown prince. In 1331, Emperor Godaigo escaped the capital, raising an army to overthrow the shogunate; the shogunate troops, which had occupied the capital, installed Ko¯gon on the throne by Retired Emperor Gofushimi’s decree. Godaigo was defeated, captured by the shogunate forces, and banished. The deceased Prince Kuniyoshi’s son, Prince Yasuhito 雍仁親王 (1320–1355), was installed as the next crown prince. The struggle for the throne between the Jimyo¯in and Daikakuji lines had endured for decades. However, not even Godaigo’s downfall and the enthronement of Ko¯gon, tantamount to the replacement of the Daikakuji with the Jimyo¯in line, did abolish the precedent: the new crown prince still was of the Daikakuji line. The shogunate upheld its adherence to the established principle of alternate succession between the two lines.38

Conclusion In 1333, widespread warrior revolt toppled the shogunate under Ho¯jo¯ control. The exiled Godaigo declared his continued reign on the imperial throne and triumphantly returned to Kyoto, deposing of both the reigning Emperor Ko¯gon and Crown Prince Yasuhito. He instated his own son Tsuneyoshi 恒良親王 (1324–1338) as heir apparent instead. Under Godaigo’s reign, court and shogunate were erstwhile unified. But his unified government did only last for a mere two years, and Ashikaga Takauji 足利高氏 (1305–1358), one of the military leaders of the former shogunate, became head of a new shogunate government, which was opposed to Godaigo’s polity. In 1336 Takauji instated Retired Emperor Ko¯gon’s insei, and installed Ko¯gon’s younger brother Ko¯myo¯ 光明天皇 (1321– 1380, r. 1336–1348) on the throne – because Ko¯gon was head of an insei government, he most likely had adopted his brother Ko¯myo¯. Godaigo survived an attack by the Ashikaga, fleeing the capital. But when he returned to Kyoto (implicitly acknowledging both Ashikaga rule and Ko¯myo¯’s right to the throne), Ko¯gon, Ko¯myo¯, and the Ashikaga all revered him as a former sovereign, and designated his son Nariyoshi 成良親王 (1326–1344) the next crown prince. Despite the fact that Ko¯myo¯ was victorious over Godaigo and acceded to the throne, Godaigo’s son was declared to be his eventual successor. The victors both within court and within the new shogunate aimed for reconciliation by honoring the principle of both imperial lines possessing a legitimate claim to the throne. Godaigo, however, was not satisfied: again, he left the capital and erected his base of operations in the countryside roughly one-hundred kilometers to the 38 Kondo¯ 2016, 239–241.

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south of Kyoto, announcing his continued reign on the imperial throne. He died in 1339, and his rule was continued by his descendants; however, since there was another sovereign – descended from Ko¯gon and Ko¯myo¯ – in Kyoto, for about sixty years there were two emperors heading a northern and southern court. Despite that, Kyoto had always been the location of the imperial court: it would be a stretch to say that the southern faction, comprised of Godaigo and his supporters, truly functioned as a government on the same level of sophistication as its northern counterpart. The southern court did not possess the strength to fight the Ashikaga shogunate on equal footing, but since the new polity was plagued by constant internal strife, Godaigo and his descendants were able to find allies in the ranks of the shogunate segregationists and thus maintained their own independence – until 1392, when one of Godaigo’s descendants submitted to the Ashikaga shogunate, ending the era of two courts. Overall, Godaigo’s achievement of uniting court and shogunate under his own person remained just an intermission in the larger developments of history, which saw the end of the Kamakura shogunate under Ho¯jo¯ control, and the resurgence of shogunate rule by the hands of the Ashikaga. However, in 1867 the last shogunate, ruled by the Tokugawa, was overthrown. The new Meiji government declared the Tenno its nominal sovereign. The masterminds behind the creation of this modern imperial nation-state looked back upon Godaigo, who once had achieved the establishment of a united government by destroying the Kamakura shogunate, as their archetype. The militaristic nation of their design persisted until 1945, promoting a view of history that idealized Godaigo’s achievements. Post-war historiography has spent decades to revise this perception of history – but even today, remnants of a romanticized Godaigo-image remain. Hence, historians today still need to direct their efforts towards an objective reassessment of Godaigo’s reign. Translated from Japanese by Christian Werner, M. A.

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Moskau als drittes Rom? Die Bedeutung der religiösen Ideen für ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘

David Khunchukashvili

Die heiligen Städte als eschatologische Legitimationssymbole der Zarenmacht unter den Rjurikiden

Abstract Starting in the second half of the 15th century in Moscow, the ideas of Christian tsardom began to be developed in the narrative and iconographic sources, in rituals and in the liturgy. By the end of the 16th century the Grand Duchy of Moscow not only grew territorially into the largest European continental empire, encompassing a myriad of different ethnicities and religions, it also gradually developed theologically and politically from the once completely insignificant family domain of the Moscow Rurikids to a Christian tsardom based on divine grace, with a tsar seen as a manifestation of Christ on earth. The holy cities, which legitimized the position of Moscow from various perspectives, played a central role in the conceptions of rule designed during this period. The aim of this article is to provide a brief overview of the use of the image of the holy cities for the purpose of legitimizing the rule of the Moscow princes and tsars of the Rurikid dynasty, drawing on examples from selected narrative, visual and ritual sources. Such a review will show what different, yet interrelated ideas of rule existed in late medieval Moscow and how strongly the formulation of the respective concepts of rulership depended on the context in which they originated. It will also be shown that the conceptions of power to be discussed here had an eschatological-apocalyptic background. The Christian tsardom legitimized by the holy cities was thus above all an eschatological tsardom.

Einführung Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts fing in der Moskauer Rus’ die Ausformulierung der Vorstellungen vom christlichen Zarentum in den narrativen und ikonographischen Quellen, in den Ritualen sowie in der Liturgie an. Das Moskauer Großfürstentum verwandelte sich allmählich nicht nur territorial bis zum Ende des 16. Jahrhunderts ins größte europäische Kontinentalreich, das unterschiedliche Ethnien und Religionen umfasste, es entwickelte sich zudem auch im theologisch-politischen Sinne Schritt für Schritt von der einst völlig unbedeutenden Familien-Domäne der Moskauer Rjurikiden zu einem auf Gottesgnadentum basierenden Zarentum mit einem als Abbild Christi auf Erden imaginierten Zaren an seiner Spitze. Eine zentrale Rolle in den während dieser

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Zeit entworfenen Herrschaftsvorstellungen, die die Macht der Moskauer Herrscher biblisch zu begründen versuchten, spielten die heiligen Städte, die die Stellung Moskowiens aus unterschiedlichen Perspektiven legitimierten. Die Heranziehung der heiligen Städte zum Zweck der Herrschaftslegitimation war keineswegs ein Moskauer Phänomen. Vielmehr bildete die Identifikation des jeweiligen Machtzentrums mit einer jeweils eine unterschiedliche Art von Macht symbolisierenden Stadt eine kontinuierliche Tradition, deren Wurzeln auf die schon seit dem 4. Jahrhundert praktizierte Bezeichnung von Konstantinopel als Νέα Ῥώμη, sprich das neue Rom, zurückgeht.1 Seit dieser Zeit bildet die Heranziehung der Würde der jeweiligen heiligen Stadt zum Zweck der Herrschaftslegitimation einen immanenten Bestandteil der mittelalterlichen sowie frühneuzeitlichen Machtkonzepte sowohl in der orthodoxen als auch in der katholischen Ökumene. Hingewiesen sei beispielsweise auf die Imagination Konstantinopels als das neue Jerusalem seit dem 6. Jahrhundert,2 auf die Gleichsetzung von Tarnowo, der Hauptstadt des zweiten bulgarischen Reiches mit dem neuen Rom in der bulgarischen Übersetzung der Manasses-Weltchronik3 oder auf die Proklamationen von Florenz durch Savonarola4 um 1500 und

1 Dazu siehe unter anderem bei Demetrius John Georgacas, The Names of Constantinople, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 78 (1947), 354. Ausführlicher zur Verwendung der Gestalt des neuen Jerusalems in der byzantinischen politischen Theologie siehe bspw. bei Petre Guran, The Constantinople – New Jerusalem at the Crossing of Sacred Space and Political Theology, in: Aleksej Lidov (ed.), Novye Ierusalimy. Ierotopija i ikonografija sakral’nych prostranstv, Moskva 2009, 35–57; vgl. auch den Beitrag von Konrad Vössing in diesem Band. 2 Die älteste überlieferte Quelle, in der ein solcher Vergleich gezogen wird, ist Wolfram Brandes zufolge die Vita Danielis Stylitae. Wolfram Brandes, Das ‚Meer‘ als Motiv in der byzantinischen apokalyptischen Literatur, in: Evangelos Chrysos/Dimitrios Letsios/Heinz A. Richter/Reinhard Stupperich (edd.), Griechenland und das Meer. Beiträge eines Symposions in Frankfurt im Dezember 1996 (Peleus Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns 4), Mannheim/Möhnesee 1999, 123f., Fußnote 29. Diese Gleichsetzung Konstantinopels mit Jerusalem war in der Kiever Rus’ spätestens seit der um ca. 1050 gehaltenen berühmten Predigt des Metropoliten Ilarion (Slovo o zakone i blagodati) bekannt. Zur quellenkritischen Analyse und Edition dieser Rede siehe Aleksandr Moldovan, „Slovo o zakone i blagodati“ Ilariona, Kiew 1984. 3 Ivan Dujcˇev/Marina Salmina (edd.), Srednebolgarskij perevod chroniki Konstantina Manassii v slavjanskich literaturach, mit der Einführung von Dmitrij Lichacˇev, Sofia 1988, 152. 4 Zum möglichen Zusammenhang zwischen den apokalyptischen Predigten von Savonarola und den durch die Endzeiterwartungen geprägten Gemälden von Sandro Botticelli siehe den Aufsatz von Heinrich Dormeier, Apokalyptische Vorstellungen in der italienischen Kunst um 1500, in: Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann/Johannes Schilling (edd.), Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, hier 37f.

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Münster um 1534 durch die Täufer5 zum neuen bzw. himmlischen Jerusalem, um einige Beispiele aus einer ganz anderen Perspektive zu geben. Das Ziel dieses ins Thema einführenden Artikels ist es, einen Überblick über die Heranziehung sowie Aktualisierung der Würde der heiligen Städte zum Zweck der politisch-eschatologischen Herrschaftslegitimation der Moskauer Großfürsten und Zaren der Rjurikiden-Dynastie anhand von ausgewählten narrativen, visuellen und rituellen Quellen zu verschaffen. Eine solche Übersicht wird zeigen, welch unterschiedliche und dennoch mit einander zusammenhängende Herrschaftsvorstellungen im spätmittelalterlichen Moskowien nebeneinander existierten und wie stark die Ausformulierung des jeweiligen Herrschaftskonzepts von seinem Entstehungskontext abhing. Ebenso soll gezeigt werden, dass die hier zu besprechenden Machtentwürfe eschatologisch-apokalyptischen6 Hintergrund hatten. Das durch die heiligen Städte legitimierte christliche Zarentum ist somit vor allem ein eschatologisches Zarentum gewesen – so die These des Artikels.

Moskau als das neue Konstantinopel Die Wirkung von Konstantinopel auf das Weltbild und das Leben der Bewohner der Kiever sowie Moskauer Rus’ ist schwer zu überschätzen: Die Hauptstadt des Reichs der Rhomäer war das religiöse, kulturelle und wirtschaftliche Zentrum der orthodoxen Ökumene. Konstantinopel spielte eine zentrale Rolle in der Verbreitung der Orthodoxie in der Kiever Rus’, die russische Kirche unterstand dem konstantinopolitanischen Patriarchat, die Kirchen der Kiever Rus’ ahmten die schönsten Sakralbauten der Hauptstadt des byzantinischen Reichs nach und vieles mehr. Gleichzeitig war Konstantinopel auch das Zentrum der christlichen Macht: Aus dieser Stadt würden z. B. die Insignien der russischen Zaren stammen, worüber die in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts entstandene kompi5 Dazu siehe stellvertretend bei Claus Bernet, „Gebaute Apokalypse“: die Utopie des Himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 215), Mainz 2007, 91–116. 6 Zum Unterschied zwischen Eschatologie und Apokalyptik im Rahmen dieses Artikels lässt sich folgendes sagen: In Anlehnung an Bernard McGinn und Richard Landes verstehe ich Apokalyptik als jene Variante der Eschatologie, die das Ende der Welt in der nahen Zukunft erwartet und die eigene Gegenwart als die Zeit des Antichristen bzw. des unmittelbar bevorstehenden Jüngsten Gerichts betrachtet. Die Apokalyptik ist dementsprechend eine Steigerung der Eschatologie, die mit den sich intensivierenden Endzeiterwartungen zusammenhängt. Stellvertretend seien folgende Abhandlungen genannt: Bernard McGinn, Visions of the End, Apocalyptic Traditions in the Middle Ages (Records of Civilization: Sources and Studies 96), New York 1979, 4 und Richard Landes, The Fear of an Apocalyptic Year 1000. Augustinian Historiography, Medieval and Modern, in: Speculum 75 (2000), 101.

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latorische „Erzählung von den Vladimirer Fürsten“(Skazanie o knjaz’jach vladimirskich) berichtet – eine der bedeutendsten Quellen für die Erforschung der russischen Herrschaftsvorstellungen, die allerdings einen rein fiktiven Charakter trägt und als historische Quelle daher völlig ungeeignet ist.7 Von der Existenz des Byzantinischen Reichs hing sogar die Fortexistenz der ganzen Welt ab, ein Gedanke, der in der wohl einflussreichsten außerbiblischen apokalyptischen Quelle schlechthin, der Apokalypse des Pseudo-Methodius, zum ersten Mal so deutlich ausformuliert wurde. Diese ursprünglich auf Syrisch im Laufe des letzten Drittels des 7. Jahrhunderts als Reaktion auf die arabische Expansion verfasste apokryphe Apokalypse8 war auch in der Kiever sowie in der Moskauer Rus’ verbreitet. Eine der Kernbotschaften dieser syrischen Apokalypse – die Fortexistenz des Römischen, sprich Byzantinischen Reichs bis zum Anbrechen der Endzeit – wurde durch die Verfasser der in der Rus’ ebenso stark verbreiteten Viten von Andreas Salos und Basilius Novus aufgegriffen,9 sodass es 7 Zur textuellen sowie historischen Analyse dieser Quelle siehe die immer noch relevante Monographie von Rufina Dmitrieva, Skazanie o knjaz’jach vladimirskich, Moskva/Leningrad 1955. 8 Die westeuropäische Forschungsliteratur zur Apokalypse des Pseudo-Methodius ist breit und fruchtbar. Hier sei stellvertretend nur auf einige zentrale Abhandlungen hingewiesen. Von grundlegender Bedeutung für die inhaltliche Interpretation dieser Quelle ist die Untersuchung von Paul J. Alexander, The Byzantine Apocalyptic Tradition, Berkeley/Los Angeles/London 1985. Zur Rezeption des pseudo-methodianischen Gedankenguts im mittelalterlichen Westeuropa siehe Ders., The Diffusion of Byzantine Apocalypses in the Medieval West and the Beginnings of Joachimism, in: Ann Williams (ed.), Prophecy and Millenarianism. Essays in Honour of Marjorie Reeves, Harlow 1980, 53–106. Für die bis dato ausführlichste Studie des zentralen Motivs dieser syrischen Apokalypse, der Endkaiser-Weissagung, siehe die Monographie von Hannes Möhring, Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000. Von primärer Bedeutung sind die Forschungen sowie die Quellenedition der syrischen Apokalypse des Pseudo-Methodius durch Gerrit J. Reinink: Gerrit J. Reinink, Die syrische Apokalypse des Pseudo-Methodius. Text und Übersetzung (Corpus scriptorum Christianorum orientalium 540), Lovanii 1993. Zum Wirken der Endkaiser-Weissagung in Byzanz siehe u. a. den Beitrag von András Kraft, The Last Roman Emperor Topos in the Byzantine Apocalyptic Tradition, in: Byzantion 82 (2012), 213– 257. Die zentrale Abhandlung zur Überlieferungsgeschichte dieser Apokalypse in der Rus’ bleibt weiterhin die Monographie von Vasilij Istrin, Otkrovenie Mefodija Patarskago i apokrificˇeskija videnija Daniila v vizantijskoj i slavjano-russkoj literaturach, Moskva 1897. 9 Zur Vita von Andreas Salos siehe vor allem die Forschungen und die Edition des Texts von Lennart Ryde´n. Stellvertretend sei hier auf die folgende Abhandlung hingewiesen: Lennart Ryde´n, The Andreas Salos Apocalypse. Greek Text, Translation, and Commentary, in: Dumbarton Oaks Papers 28 (1974), 197–261. Für eine andere Meinung hinsichtlich der Entstehungszeit der Vita siehe bei Cyril Mango, The Life of St. Andrew the Fool Reconsidered, in: Ders., Byzantium and its Image. History and Culture of the Byzantine Empire and its Heritage, London 1984, 297–313. Zur kirchenslavischen Übersetzung der Vita siehe Aleksandr Moldovan, Zˇitie Andreja Jurodivogo v slavjanskoj pis’mennosti, Moskva 2000. Zur Vita von Basilius Novus siehe die immer noch einzige ausführliche Spezialuntersuchung zum Thema ˇ ast’ I. Izsledovanie, Odessa von Sergej Vilinskij, Zˇitie sv. Vasilija Novago v russkoj literature. C ˇ ast’ II. Teksty zˇitija, Odessa 1913 und Ders., Zˇitie sv. Vasilija Novago v russkoj literature. C

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anzunehmen ist, dass dieser Gedanke zumindest im klerikalen Milieu durchaus bekannt war. Vor allem war es die Vita von Andreas Salos, die eine zentrale Rolle in der Verbreitung des Gedankens von der Fortexistenz Konstantinopels bis zum Jüngsten Gericht in der orthodoxen Ökumene spielte. Der Fall Konstantinopels im Jahre 1453 muss somit sowohl für die eschatologisch denkenden Bewohner des Byzantinischen Reichs selbst als auch für die gesamte Slavia Orthodoxa nicht nur ein außergewöhnliches politisches Ereignis, sondern auch ein sicheres Zeichen für das sich nähernde imminente Jüngste Gericht gewesen sein. Der Fall der Hauptstadt der orthodoxen Ökumene war umso mehr ein apokalyptisches Ereignis10, weil er in das eschatologische Zeitschema perfekt hineinpasste: Die orthodoxen Länder rechneten mit dem Jüngsten Gericht im Jahre 7000, was dem Jahre 1492 nach unserer heutigen Zeitrechnung entspricht. Die biblischen Referenzen dafür sind vor allem der 90. Psalm sowie der 2. Petrusbrief, die den Gedanken an das Ende der Welt im Jahre 7000 prägten.11 Nun, dass 7000 Jahre sieben Schöpfungstagen dieser Logik zufolge entsprachen, versteht sich von selbst. Der achte Tag sollte dieser Schriftauslegung zufolge ewig sein.12 Die mit diesem Jahr zusammenhängende Endzeitstimmung war ein Phänomen der orthodoxen Länder und spielte innerhalb der katholischen Welt so gut wie keine Rolle, was bei weitem nicht bedeutet, dass die eschatologische Stimmung nicht auch im zeitgenössischen Westeuropa durchaus präsent war, wenn auch in ganz anderen Formen. Die Belege für die endzeitliche Stimmung in der Moskauer Rus’ im Bezug auf das Jahr 7000 sind schon in den Abhandlungen des Moskauer Metropoliten Kiprian, der zwischen den Jahren 1389 und 1406 das Amt innehatte, zu finden. In seinen „Antworten an Hegumen Afanasij“ ist die folgende Warnung zu finden: „Nun ist die letzte Zeit angebrochen und das Ende der Zeiten kommt zum Ende 1911. Zur neuesten Edition der Vita siehe Denis Sullivan/Alice-Mary Talbot/Stamatina McGrath (edd.), The Life of Saint Basil the Younger. Critical Edition and Annotated Translation of the Moscow Version (Dumbarton Oaks Studies XLV), Washington 2014 sowie Tat’jana Pentkovskaja/Ljudmila Sˇcˇegoleva/Sergej Ivanov (edd.), Zˇitie Vasilija Novogo v drevnejsˇem slavjanskom perevode, Moskva 2019. 10 Dazu siehe u. a. den Beitrag von Wolfram Brandes, Der Fall Konstantinopels als apokalyptisches Ereignis, in: Sebastian Kolditz/Ralf C. Müller (edd.), Geschehenes und Geschriebenes. Studien zu Ehren von Günther S. Heinrich und Klaus-Peter Matschke, Leipzig 2005, 453–470. 11 Ps 90, 4: „Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.“, 2 Petr 3,8: „Das eine aber, liebe Brüder, dürft ihr nicht übersehen: dass beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind.“ Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg/Basel/Wien 2008. 12 Zur Symbolik des achten Tages siehe ausführlich bei Gerhard Podskalsky, Ruhestand oder Vollendung? Zur Symbolik des achten Tages in der griechisch-byzantinischen Theologie, in: Günter Prinzig/Dieter Simon (edd.), Fest und Alltag in Byzanz. Hans-Georg Beck zum 18. Februar 1990, München 1990, 157–166.

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sowie das Ende dieser Welt, der Teufel aber knurrt und will uns alle wegen unserer Faulheit und Sorglosigkeit verschlingen.“13 Sein Nachfolger, Metropolit Fotij (1410–1431) griff ebenso immer wieder die Frage nach der baldigen Parusie in seinen Schreiben auf und wies schon explizit auf das Ende der Welt im Jahre 7000 hin: „Dieses kurze Zeitalter kommt zu Ende, die Nacht kommt, das Ende unseres Lebens, die Zeit, in der nichts mehr gemacht werden kann. Das siebte Jahrtausend läuft aus, das achte kommt und wird ewig sein. Selig sei derjenige, der sich für das ewige achte Jahrtausend vorbereitete […].“14 Eines der besten Beispiele dafür, dass dieses Zeitschema zumindest im klerikalen Milieu durchaus ernst genommen wurde, sind die sogenannten Paschalii: Sie stellen die mathematischen Tabellen dar, mit deren Hilfe das Osterdatum ausgerechnet wurde.15 Keine einzige von den überlieferten Paschalii lief über dieses Jahr hinaus. In einigen solchen Paschalii sind wörtliche sowie sinngemäße Auszüge aus der Apokalypse des Pseudo-Methodius zu finden,16 was noch ein Beleg dafür ist, dass diese Abhandlung die Endzeiterwartungen auch in der Moskauer Rus’ prägte. Die älteste solcher Paschalii mit den Auszügen aus der Offenbarung wurde am Anfang des 15. Jahrhunderts verfasst und endete ebenso mit dem Jahr 1492. Im Bezug auf das Jahr 1459 ist in vielen Paschalii die folgende Anmerkung zu finden: „Hier ist die Angst, hier ist der Kummer. Genauso wie jener Zyklus mit der Kreuzigung Christi sein Ende fand, so endete auch dieses Zeitalter, in dem wir deine weltweite Parusie erwarten.“17 Dass eine solche Anmerkung im Jahre 1459 mit der Geburt des Antichristen zusammenhängt, der

13 […] nyne zˇe est’ poslednee vremja i letom” skoncˇanie prichodit’, i konec’ veku semu; bes” zˇe velmi rykaet’, chotja vsech” proglotiti, po nebrezˇeniju i lenosti nasˇej. Russkaja istoricˇeskaja biblioteka, izdavaemaja archeograficˇeskoju kommissieju, 40 Bde., Bd. 6, S.-Peterburg 1880, 266f. Fortan als RIB 6 zitiert. 14 Sej vek” malovremennyj prechodit”; grjadet” nocˇ’, zˇitija nasˇego prestanie, kogda nikto uzˇe ne mozˇet” delat’. Sed’maja tysjacˇa soversˇaetsja; os’maja prichodit’, i ne preminet”, i uzˇe nikak” ne projdet. Blazˇen”, kto ugotovil” sebja k” os’moj tysjacˇe, budusˇcˇej i bezkonecˇnoj […]. Zitiert nach Stepan Sˇevyrev, Istorija Russkoj Slovesnosti, Band 3, Moskva 1858, 339. Für eine der ältesten Abhandlungen zum Thema, die bis heute von Bedeutung ist, siehe die Monographie von V. Sacharov, E˙schatologicˇeskija socˇinenija i skazanija v drevne-russkoj pis’mennosti i vlijanie ich na narodnye duchovnye stichi, Tula 1879. 15 Ausführlich zu den Paschalii siehe die Monographie von A. Romanova, Drevnerusskie kalendarno-chronologicˇeskie istocˇniki XV–XVII vv., S.-Peterburg 2002. 16 Anatolij Turilov/Andrej Pliguzov, Drevnejsˇij juzˇnoslavjanskij pis’movnik tret’ej cˇetverti XIV veka, in: Russkij feodal’nyj archiv XIV–pervoj treti XVI veka, Moskva 1987, 557 sowie Romanova 2002, 93, 97, 105–106. 17 Zde strach, zde skr”b’, zde beda velika: V raspjatii Christove sij krug’ byst’, i se leto na konci javisja, v” ne zˇe cˇaem v”semirnoe tvoe prisˇestvie. Zitiert nach Gelian Prochorov, Knigi Kirilla Belozerskogo, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 36 (1981), 58. Beispiele aus anderen Paschalii bei Romanova 2002, 97.

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genauso wie Jesus Christus 33 Jahre leben werde, ist wohl die logischste Erklärung.18 Doch das Fatumjahr lief vorbei, das Jüngste Gericht fand aber nicht statt. Neue Paschalii mussten für das achte Jahrtausend erstellt werden. Die erste Paschalija für die nächsten zwanzig Jahre des achten Jahrtausends verfasste der Moskauer Metropolit Zosima.19 Im Vorwort zu dieser Paschalija musste er allerdings rechtfertigen, warum die Welt weiterbestehen blieb, obwohl Konstantinopel fiel und die 7000 Jahre ausgelaufen waren. Warum blieb das Jüngste Gericht dennoch aus?20 Die Antwort, die Zosima darauf gab, wurde zum wohl ersten politischeschatologischen Herrschaftskonzept der Moskauer Rus’: Moskau sei von nun an das neue Konstantinopel und der Moskauer Großfürst sei der neue, der dritte Konstantin: „Und nun, in den letzten Zeiten, genauso wie in den ersten, pries Gott den wahren rechtgläubigen und christusliebenden Großfürsten und Alleinherrscher, seinen Nachfahren,21 Ivan Vasil’evicˇ [Ivan III., D. Kh.], diesen neuen Konstantin, den neuen Zaren des neuen Konstantinopels – Moskau […].“22 Die Proklamation von Moskau durch Zosima zum neuen Konstantinopel hatte mit den herrschaftlichen Ansprüchen auf die durch die Osmanen eroberte Hauptstadt des gefallenen Byzantinischen Reichs nichts zu tun, was inzwischen wohl als Forschungskonsensus gelten darf. Von einem Anspruch auf das byzantinische Erbe im politisch-territorialen Sinne kann hier somit keine Rede sein. Vielmehr ging es Zosima um eine Erbschaft im eschatologisch-soteriologischen Sinne. Der Fortbestand Konstantinopels als Hort des wahren Glaubens in der Hauptstadt des Moskauer Großfürstentums, des letzten unabhängig gebliebenen orthodoxen Staates, war die Antwort des Metropoliten auf die apokalyptische 18 Ich teile hier die Meinung von Aleksej Alekseev, Pod znakom konca vremen. Ocˇerki russkoj religioznosti konca XIV–nacˇala XVI vv, S.-Peterburg 2002, 64. 19 Zur ausführlichen quellenkritischen Analyse sowie zur Edition dieser Paschalija siehe bei I. Tichonjuk, „Izlozˇenie Paschalii“ Moskovskogo mitropolita Zosimy, in: Issledovanija po istocˇnikovedeniju istorii SSSR XIII–XVIII vv. Sbornik statej, Moskva 1986, 45–61. Tichonjuk zeigt überzeugend, dass Konstantinopel in der ältesten Fassung der Paschalija nicht mit Rom, sondern mit Jerusalem verglichen wurde. Ebd., 54f. 20 Dass die Motivation von Zosima durch die Endzeiterwartungen geprägt war, wird in der Forschung seit der ersten Auseinandersetzung mit den Paschalii in einem im Jahre 1860 erschienenen anonymen Artikel immer wieder betont. Drevnija russkija paschalii na os’muju tysjacˇu let ot sotvorenija mira, in: Pravoslavnyj sobesednik 3 (1860), 332f. Die jeweiligen Akzentsetzungen, auf die ich im Rahmen dieses kurzen Überblicks nicht näher eingehen kann, unterscheiden sich aber erheblich voneinander. 21 Gemeint ist Vladimir der Heilige, der bei Zosima zum zweiten Konstantin wird. 22 I nyne zˇe, v’ poslednjaja sia leta, jakozˇe i v” pervaa, proslavi Bog” srodnika ego, izˇe v” pravoslavii prosiavsˇago, blagovernago i christoljubivago velikogo knjazja Ivana Vasilevicˇa, gosudarja i samoder”zˇca vseja Rusi, novago carja Konstjantina novomu gradu Konstjantinu – Moskve […]. Mitropolita Zosimy izvesˇcˇenie o paschalii na os’muju tysjacˇu let, in: RIB 6, 795– 802, hier 799.

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Herausforderung seiner Zeit.23 Sie stand unter dem Einfluss derjenigen Verbindung zwischen dem Fall Konstantinopels und dem Ende der Welt, die in den oben thematisierten eschatologischen Abhandlungen ausformuliert wurde. Von nun an sei es der Fortbestand Moskaus, der zur Garantie für die weitere Existenz der Welt wird. So lässt sich die Logik des Metropoliten wohl am plausibelsten skizzieren. Konstantinopel war für Zosima somit nicht bloß eine irdische Stadt, sondern vielmehr ein eschatologisch geprägtes Symbol des Ortes, an dem der wahre Glaube bestehen bleibt. Daher war es für ihn auch so wichtig, nach dem Fall Konstantinopels seine Würde genau in diesem eschatologisch-soteriologischen, nicht im politischen Sinne, auf das Machtzentrum der Moskauer Rus’ zu übertragen, um erklären zu können, warum diese Welt weiterhin existierte.24 Von dem politischen Chiliasmus kann entgegen der These von Jakov Lur’e in der Argumentation von Zosima allerdings wohl keine Rede sein. Lur’e vermutete, dass Zosima das Ende der Welt nun am Ende des 8. Jahrtausends sehe.25 Diese Interpretation widerspricht allerdings dem Text des Vorworts zur Paschalija. Vielmehr wies Zosima mit Hilfe der Paraphrase von Matthäus 24,36 ausdrücklich darauf hin, dass niemand von dem Tage und von der Stunde des Jüngsten Gerichts wisse, auch die Engel im Himmel nicht, sondern allein der Vater.26 Die Paschalija verfasste Zosima seinen eigenen Worten zufolge auch nicht bis zum Ende des 8. Jahrtausends, sondern vielmehr für das 8. Jahrtausend, und zwar nur für die ersten 20 Jahre. Daher kann festgestellt werden, dass Zosimas Konzept mit der Johanneischen Erwartung einer tausend Jahre dauernden Herrschaft der Gerechten nichts zu tun hat. In Anlehnung an Kazakova und Lur’e sieht nun auch Stefan Plaggenborg in dem Schreiben von Zosima eine „antibyzantinische Tendenz“, die „nicht von der

23 Für eine der besten Analysen des Schreibens von Zosima siehe den Beitrag von Michael Flier, Till the End of Time. The Apocalypse in Russian Historical Experience Before 1500, in: Valerie A. Kivelson / Robert H. Greene (edd.): Orthodox Russia. Belief and Practice under the Tsars, 2003, 152–156. 24 Lur’e weist zu Recht darauf hin, dass es zahlreiche andere Beispiele für den Vergleich zwischen den russischen Fürsten und Konstantin dem Großen gab. Jakov Lur’e, Ideologicˇeskaja bor’ba v russkoj publicistike konca XV–nacˇala XVI veka, Moskva/Leningrad 1960, 378. Allerdings trugen sie zuvor einen ehrenvollen, wenn nicht schmeichelhaften Charakter. Hier handelte es sich hingegen um die soteriologische Aufgabe des neuen Konstantins – Ivans III. – angesichts der baldigen Parusie. 25 Vgl. Lur’e 1960, 383. 26 […] smirenyj Zosima, mitropolit” vseja Rusi, trudoljubno potsˇcˇavsja napisati paschaliju na osmuju tysjasˇcˇu let”, v” nejzˇe cˇjaem’ vsemirnago prisˇestvia Christova. O dni zˇe i cˇjase niktozˇe ne vest’, jakozˇe i bozˇestvenyj Evangelist” glagolet’: ‚ni aggeli, izˇe sut‘ na nebesech”, tokmo Otec’. RIB 6, 800.

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Hand zu weisen“ sei.27 Zwar ist es in der Tat nicht mehr möglich, die Anlehnung ans byzantinische Erbe im direkten politisch-imperialen Sinne zu verstehen, wie dies in der vorrevolutionären Forschung immer wieder, allerdings bei weitem nicht durchgehend der Fall war. Dennoch sehe ich, genauso wie schon Nina Sinicyna, im Schreiben Zosimas keine „antibyzantinische Tendenz“28. Kazakova und Lur’e zufolge verfolge Zosima mit Hilfe des Zitats aus Matthäus 19, 3029 den Gedanken der Ersetzung des byzantinischen Imperiums nach seinem endgültigen Fall im Jahre 1453 durch das Moskauer Großfürstentum, worin sie auch einen Beleg für die antibyzantinische Botschaft der Paschalija sehen wollen.30 Eine solche Interpretation ist allerdings in dieser antibyzantinischen Bravourform im Text an keiner Stelle zu finden. Vielmehr benutzte Zosima diesen Vers im rein soteriologischen Sinne, genauso wie dies im Matthäus-Evangelium selbst der Fall ist, allerdings nicht als ein Beleg für den Gegensatz zwischen den Ersten und den Letzten, sondern im Sinne einer Kontinuität zwischen der Apostelzeit und der christlichen Herrschaft Konstantins des Großen einerseits und zwischen dem ersten, zweiten (Vladimir der Heilige) und neuen (Ivan III.) Konstantin andererseits.31 Genauso wie es in den ersten Zeiten die Apostel waren, die den Glauben bewahrten und verbreiteten, waren es nach ihnen Konstantin der Große, Vladimir der Heilige und nun Ivan III., die die Rolle der Beschützer der Orthodoxie übernahmen. Auch vom Fall Konstantinopels spricht Zosima an keiner Stelle, weil nämlich die Würde dieser Stadt im Zentrum der Moskauer Rus’ weiterlebt. Hätte er die Herrschaft des Moskauer Großfürsten in der Tat dem byzantinischen Imperium gegenüberstellen wollen, hätte er den Fall Konstantinopels wohl nicht unerwähnt gelassen. Von einem Gegensatz, geschweige denn einer antibyzantinischen Polemik kann im Vorwort zur Paschalija des Metropoliten Zosima daher keine Rede sein.32 Warum proklamierte Zosima schließlich Ivan III. zum wörtlich „neuen“ und nicht zum zweiten Konstantin? Weil der zweite Konstantin für Zosima Vladimir 27 Stefan Plaggenborg, Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland, Paderborn 2018, 72. 28 Nina Sinicyna, Tretij Rim. Istoki i e˙voljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XV–XVI vv.), Moskva 1998, 124. 29 „Viele aber, die jetzt die Ersten sind, werden dann die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein.“ Mt 19, 30. Die Bibel 2008. 30 Vgl. Natalija Kazakova/Jakov Lur’e, Antifeodal’nye ereticˇeskie dvizˇenija na Rusi XIV– nacˇala XVI veka, Moskva/Leningrad 1955, 190. 31 Vgl. RIB 6, 797f. 32 Auch Boris Uspenskij betont, dass Zosima mit dem Rückgriff auf die entsprechende Stelle aus dem Matthäus-Evangelium lediglich auf die Beendigung eines langen Zyklus hinweist, der von den Aposteln bis zu seinen Lebzeiten dauerte, und dem Anfang eines neuen Zyklus, der den vorherigen wiederholt. Boris Uspenskij, Vosprijatie istorii v Drevnej Rusi i doktrina ‚Moskva – tretij Rim‘, in: Ders., Izbrannye trudy. Band I. Semiotika istorii – semiotika kul’tury, Moskva 1996, 93f. Keine antibyzantinische Polemik lässt sich hier erkennen.

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der Heilige war, der erste getaufte russische Fürst, der nach seiner Taufe eine aktive, zum Teil durchaus gewalttätige Christianisierung des Landes vorantrieb. Durch diese Parallele verstärkte Zosima in gewissem Sinne die dynastische Legitimation der Herrschaft Ivans III. Er sei nicht einfach nur deswegen der neue Konstantin, weil Konstantinopel erobert wurde, sondern auch weil er der Nachfahre und Nachfolger Vladimirs des Apostelgleichen, des zweiten Konstantin, sei. An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass Ivan III. hier als Zar nur im Zusammenhang mit seiner Gestalt des neuen Konstantin bezeichnet wird. Ansonsten wird er weiterhin Großfürst genannt. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Vorstellung vom christlichen Zaren noch in ihrer Anfangsphase war.33 Bemerkenswert ist zudem auch, dass Zosima in seiner Paschalija kein festes Datum für das Jüngste Gericht mehr nannte. Er wies lediglich darauf hin, dass man auf die Parusie nun im 8. Jahrtausend warten solle, doch er verzichtet darauf, ein konkretes Jahr zu nennen, um solche Situationen wie im Jahre 1492 in der Zukunft zu vermeiden.34 Dennoch war sogar dieser vorsichtige Hinweis Zosimas auf das 8. Jahrtausend als eine sehr breite Zeitspanne, in der das Jüngste Gericht stattfinden werde, für seine Nachfahren offensichtlich zu gefährlich, weswegen sie ihn aus den späteren Abschriften der Paschalija tilgten.35 Das feste Datum des Jüngsten Gerichts durfte von nun an nicht mehr näher definiert werden.

Die Moskauer Rus’ als das dritte und letzte ‚Rhomäische Zarentum‘ Die heutzutage wohl bekannteste, wenn auch zu seiner Zeit bei weitem nicht die einflussreichste politisch-eschatologische Herrschaftsvorstellung der russischen Geschichte,36 nämlich die Vorstellung von der Moskauer Rus’ als dem dritten und letzten ‚Rhomäischen Reich‘, das meistens verkürzt als ‚Moskau – das dritte Rom‘ bezeichnet wird, stammt aus der Feder des Pskover Mönchs Filofej. Eine aus33 Der Vergleich eines russischen Herrschers gleichzeitig mit Konstantin dem Großen und Vladimir dem Heiligen wurde viele Jahrzehnte später in einer anlässlich der Eroberung von Kazan’ verfassten und bisher nicht edierten Quelle aufgegriffen, deren Autor den Zaren Ivan IV. mit diesen beiden Herrschern für seinen Sieg vergleicht, weil er ebenso wie sie den wahren Glauben verteidige und verbreite. Dazu siehe bei Jaroslaw Pelenski, Russia and Kazan. Conquest and Imperial Ideology (1438–1560s), Haag/Paris 1974, 292, Fußnote 9. 34 Vgl. RIB 6, 800. 35 So fehlt z. B. die entsprechende Stelle im sogenannten Mirotvornyj krug für die nächsten 532 Jahre des Novgoroder Priesters Agafon, der das Vorwort zur Paschalija von Zosima aufgriff. Stattdessen ist zu lesen, dass die Parusie zu jeder Zeit eintreffen könne: ponezˇe ˇcaem’ vsemirnago prisˇestvija Christova na vsjako vremja. Ebd., Anmerkung 8. 36 Zur Aktualisierung des Gedankenguts von Filofej ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe den Aufsatz von Marshall Poe, Moscow, the Third Rome. The Origins and Transformations of a „Pivotal Moment“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge 49 (2001) 3, 412– 429.

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führliche Auseinandersetzung mit den kaum noch zu überblickbaren Thesen zur Entstehungszeit und Autorschaft der jeweiligen Schreiben, die Filofej zugeschrieben werden, würde den Rahmen dieses Artikels heillos sprengen.37 Daher beschränke ich mich auf einige kurze Informationen, die den heutigen Wissensstand widerspiegeln: Im Vergleich zur älteren Historiographie38 sind sich die heutigen Erforscher des Gedankenguts von Filofej darin größtenteils einig, dass der Pskover Mönch diese Herrschaftsvorstellung in zwei Briefen formulierte. Den ersten Brief adressierte er in den 20-er Jahren des 16. Jahrhunderts an den Pskover Beamten Michail Munechin, den zweiten nur wenige Jahre später an den Großfürsten Vasilij III. Während die Autorschaft Filofejs in Bezug auf den ersten Brief nie angezweifelt wurde, äußerte vor allem Aleksandr Gol’dberg sowie in einer etwas milderen Form die ihm folgende Nina Sinicyna gewisse Bedenken hinsichtlich des zweiten Briefes. Alle anderen, Filofej durch die ältere Forschung zugeschriebenen Schreiben werden heutzutage meistens anderen anonym gebliebenen Autoren zugeschrieben oder als kompilatorische Varianten dieser zwei Briefe angesehen, wobei auch hier keine Einigung in Sicht ist.39 Überraschenderweise hat die nahezu uferlose Forschung zu den Herrschaftsvorstellungen von Filofej, von wenigen Ausnahmen40 abgesehen, es nahezu vollkommen verkannt, den Entstehungsimpuls des antiastrologischen Briefes von Filofej zu berücksichtigen, was zu zahlreichen, bis heute weiter tradierten Interpretationsirrtümern führte. In denjenigen Abhandlungen, in denen der astrologische Kontext dennoch angesprochen wird, kommt er zu kurz und nur verzerrt vor. Daher werde ich nun überblicksmäßig41 im ersten Schritt darauf eingehen, um im zweiten Schritt das Gedankengut Filofejs zu beleuchten. Im Jahre 1499 verfassten Johannes Stöffler und Jakob Pflaum ein Ephemeridenwerk mit dem Titel Almanach nova plurimis annis venturis inservientia. In 37 Für einen Literaturüberblick bis zur Mitte der 1990er Jahre siehe die Monographie von Sinicyna 1998, 13–57. 38 Stellvertretend sei auf die grundlegende Monographie von Vasilij Malinin hingewiesen, die die Filofej-Forschung die nächsten Jahrzehnte prägte. Vasilij Malinin, Starec eleazarova monastyrja Filofej i ego poslanija. Istoriko-literaturnoe izsledovanije, Kiev 1901. 39 Für die Polemik mit Gol’dberg und Sinicyna siehe beispielsweise den Beitrag von Andrej Korenevskij, Kem i kogda byla „izobretena“ teorija „Moskva – tretij Rim“?, in: Ab Imperio, 1–2/2001, 87–124. Aus seiner Sicht war Filofej der Autor aller drei Scheiben: an Munechin, an Vasilij III. und des sogenannten Schreibens Ob obidach cerkvi. Der Chronologie der Entstehung dieser Briefe, die Gol’dberg und Sinicyna vertreten, stimmt er zu. 40 Die Rede ist vor allem von den Monographien von Malinin und Sinicyna, in denen der astrologische Kontext zwar angesprochen, aber dennoch stark verkürzt und verzerrt geschildert wird. Was im Fall von Malinin noch durchaus erklärbar ist, weil die Untersuchung der Sintflutdebatte noch im Anfangsstadium war, liegt dies im Fall von Sinicyna am ausgebliebenen Konsultieren der inzwischen schon vorhandenen reichen Literatur zum Thema. 41 Dieser Frage ist ein Kapitel meiner laufenden Dissertation, die 2021 im Druck erscheinen soll, gewidmet.

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dem Almanach wiesen die Astrologen auf 20 sehr seltene Planetenkonjunktionen, deren 16 im ‚wässrigen Zeichen‘ stehen würden und im Februar des Jahres 1524 zu erwarten seien, hin. Diese Konstellationen würden zu großer „Veränderung, Umwälzung und Umwandlung“ führen und alle Lebensbereiche betreffen. Die entsprechende Stelle lautet auf Deutsch wie folgt: „In diesem Jahre wird weder eine Sonnen- noch eine Mondfinsternis sichtbar sein. Aber im laufenden Jahre werden äußerst bewundernswerte Bewegungen der Wandelsterne stattfinden. Im Monat Februar nämlich werden 20 Konjunktionen eintreten, von denen die einen (zumindest) mittelmäßiger Art, die anderen (sogar) bedeutungsvoll sein werden. 16 davon werden in wässerigen Zeichen stehen. Diese Naturereignisse werden für annähernd den ganzen Erdkreis, für sämtliche Zonen, Reiche, Provinzen, Staaten, sowohl für Würdenträger, als auch für das niedere, ungebildete (besser primitive) Volk, für die Tiere, die Fische (eher Meeresungeheuer) und für alle Lebewesen der Erde eine Veränderung, eine Umwälzung bedeuten, wie uns dieselbe während Jahrtausenden weder durch Geschichtsschreiber, noch durch die Vorfahren überliefert worden sind (sic!). Deshalb, christliche Männer, erhebet euer Haupt.“42

Wie aus dieser Vorhersage ersichtlich ist, prophezeiten die Astrologen keine zweite Sintflut. Zu der Frage, wann die ersten Umdeutungen geschahen, gibt es zwar einige mehr oder weniger überzeugend klingende Thesen. Die wirkliche Sintflutdebatte, die in der gesamten bisherigen Filofej-Forschung außer Acht gelassen wurde, entflammte erst 1518/19.43 An der Debatte beteiligten sich „56 Schriftsteller mit insgesamt mindestens 133 Drucken“.44

42 Übersetzt von Ernest Hentges, Geschichtliche Notizen. Johannes Stöffler, in: Astrologische Rundschau. Organ der astrologischen Gesellschaft in Deutschland. Zeitschrift für astrologische Forschung XVI (1924/1925), 151. Für die Verbesserungsvorschläge der deutschen Übersetzung bedanke ich mich bei Prof. Hans-Christian Günther. Für das Original siehe bei Johannes Stöffler/Jakob Pflaum, Almanach nova plurimis annis venturis inserventia 1499–1531, Ulm 1499. Die zitierte Stelle befindet sich auf dem ersten Blatt von ephemerides anno vir ginei partus 1524. Im Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek, das von Hand paginiert wurde, entspricht es Blatt 389. 43 Zur Frage hinsichtlich des Anfangs der Sintflutdebatte gibt es durchaus unterschiedliche Erklärungsansätze. Dazu siehe ausführlicher bei Paola Zambelli, Many Ends for the World. Luca Gaurico Instigator of the Debate in Italy and in Germany, in: Dies. (ed.), „Astrologi hallucinati“. Stars and the End of the World in Luther’s Time, Berlin/New York 1986, 239–263, Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 26), Tübingen 1990, Gerd Mentgen, Astrologie und Öffentlichkeit im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 53), Stuttgart 2005 sowie bei Ottavia Niccoli, Prophecy and People in Renaissance Italy, übers. von Lydia G. Cochrane, Princeton 1990. Zum Verhältnis zwischen der Astrologie und Reformation siehe vor allem die neue Monographie von Robin Bruce Barnes, Astrology and Reformation, Oxford 2016. Wichtige Einblicke in die Sintflutproblematik aus der Perspektive des Druckwesens bietet Jonathan Green, Printing and Prophecy. Prognostication and Media Change 1450–1550, Ann Arbor 2012.

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Zum Verbindungsglied zwischen der im Almanach getroffenen Vorhersage einerseits und dem Schreiben von Filofej an Munechin andererseits ist der Lübecker Arzt Nicolaus Bulow geworden. Nicolaus Bulow besuchte die Moskauer Rus’ zwei Mal. Seine erste Reise ins Land der Rjurikiden hing mit der Gesandtschaft Maximilians I., die Georg von Thurn um ca. 1490 leitete, zusammen.45 Während dieses Aufenthalts nahm Nicolaus Bulow einigen deutschen Quellen zufolge an der Erstellung der neuen Ostertafel für das 8. Jahrtausend teil, die Aufgabe, die dem Novgoroder Erzbischof Gennadij durch den Metropoliten Zosima anvertraut worden war.46 Das nächste Mal besuchte Bulow das Zarenreich um 1506 und war hier bis zu seinem Tode als Hofarzt Vasilijs III. tätig. Nikolaus Bulow war bekannt als ein entschiedener Befürworter der Einigung der russischorthodoxen und römisch-katholischen Kirche. Diesen Gedanken äußerte er unter anderem in seinen nicht erhalten gebliebenen Briefen an einflussreiche russische Kleriker und Beamte. Bekannt war Bulow auch für seine Übersetzungstätigkeit. So lieferte er höchstwahrscheinlich die erste russische Übersetzung eines deutschen medizinischen Traktates.47 Entscheidend für das Thema dieses Beitrags ist seine Übersetzung jener oben besprochenen Stelle aus dem Almanach von Stöffler und Pflaum, in der es um die 16 Planetenkonjunktionen 44 Gustav Hellmann, Aus der Blütezeit der Astrometeorologie. J. Sto¨ fflers Prognose fu¨ r das Jahr 1524, in: Ders., Beitra¨ge zur Geschichte der Meteorologie, 5 Bde., Bd. 1, Berlin 1914, 6. 45 Harald Raab konnte einen schriftlichen Beleg für seinen Novgoroder Aufenthalt für das Jahr 1494 ausfindig machen. Harald Raab, Über die Beziehungen Bartholomäus Ghotans und Nicolaus Buelows zum Gennadij-Kreis in Novgorod, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 8 (1958/59), 420 und 422. Zur Biographie von Nicolaus Bulow hat schon die vorrevolutionäre russische und deutsche Forschung wichtige Ergebnisse geliefert. Für die wohl ältesten Auseinandersetzungen mit der Biographie von Nicolaus Bulow siehe den Beitrag: „Nicolaus Bulow“, in: Eduard Pabst, Beiträge zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands, Reval 1868, 83–86. Zur Biographie des Lübecker Arztes siehe unter anderem bei Daniil Svjatskij, Astrolog Nikolaj Ljubcˇanin i al’manachi na Rusi XVI veka, in: Izvestija naucˇnogo instituta imeni P. F. Lesgafta XV/1–2 (1929), 46–55, Norbert Angermann, Nicolaus Bulow. Ein Lübecker Arzt und Theologe in Novgorod und Moskau, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 46 (1966), 88–90, Ders., Neues über Nicolaus Bulow und sein Wirken im Moskauer Rußland, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge 17 (1969) 35, 408–419, David Miller, The Lübeckers Bartholomäus Ghotan and Nicolaus Bülow in Novgorod and Moscow and the Problem of Early Western Influences on Russian Culture, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 9 (1978), 395–412 sowie entsprechende Stellen in der Monographie von Elke Wimmer, Novgorod – ein Tor zum Westen? Die Übersetzungstätigkeit am Hofe des Novgoroder Erzbischofs Gennadij in ihrem historischen Kontext (um 1500), Hamburg 2005. 46 Dies folgt unmittelbar aus der ‚Gramota novgorodskogo archiepiskopa Gennadija sobornomu duchovenstvu o paschalii na os’muju tysjacˇu let i predislovie k samoj paschalii‘ vom 21. Dezember 1492, in: RIB 6, 802. 47 Zur Übersetzungstätigkeit von Nicolaus Bulow siehe den Aufsatz von Boris Morozov/Re˙m Simonov, Datirovka i atribucija mediko-astrologicˇeskich rascˇetov, pripisannych k travniku 1534 goda, in: Drevnjaja Rus’. Voprosy medievistiki. 4 (2004) 18, 5–21.

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im ‚wässrigen Zeichen‘, die im Jahre 1524 stattfinden sollten, ging. Einer der Adressaten von Bulow war der oben bereits angesprochene Pskover Beamte Michail Grigor’evicˇ Munechin, der sich seinerseits an den Mönch Filofej mit der Bitte um eine Stellungnahme hinsichtlich der astrologischen Prophezeiung aus dem Almanach von Stöffler und Pflaum wendete. Dies folgt unmissverständlich aus dem Vorwort zur Antwort von Filofej an Munechin, in dem eine nahezu makellose Übersetzung dieser Stelle zu finden ist, auf die zum ersten Mal Aleksandr Gol’dberg hinwies.48 Die erste Formulierung der Herrschaftsvorstellung über das Moskauer Reich als die dritte und letzte Verkörperung des ‚Rhomäischen Reiches‘ stammt den quellenkritischen Untersuchungen von Aleksander Gol’dberg und Nina Sinicyna zufolge aus dem Antwortschreiben von Filofej an Munechin genau zu dieser Frage. Filofej polemisiert in der ersten Hälfte des Briefes mit der im Almanach getroffenen Vorhersage sowie insgesamt mit der astrologischen Lehre von der Wirkung der Sterne auf die Schicksale der Welt. Weil die Forschung zu Filofej wegen der Nichtberücksichtigung der inzwischen umfangreich gewordenen Fachliteratur zur westeuropäischen Judizialastrologie und der Sintflutdebatte sowie der offensichtlich ausgebliebenen Quellenanalyse des Almanachs selbst nahezu ausnahmslos verkannt hat, dass in der Prognostik von Stöffler und Pflaum und somit in der fast wörtlichen Übersetzung dieser Vorhersage durch Bulow noch keine Sintflutvorhersage getroffen wurde, hat sie die antiastrologische Polemik Filofejs aus einem falschen Blickwinkel betrachtet und dem Pskover Mönch somit diejenigen Gedanken zugeschrieben, die anhand des Textes nicht nachgewiesen werden können, was wiederum zwangsläufig die inhaltliche Interpretation des Briefes erheblich verzerrte. In jenen wenigen Forschungen, die den astrologischen Entstehungskontext dieses Briefes überhaupt angesprochen haben, wird nämlich die irreführende Meinung vertreten, Filofej habe gegen die Sintflutvorhersage argumentiert, was nicht der Fall ist. Schon ein Blick auf den Almanach hätte gereicht, um feststellen zu können, dass in ihm keine Sintflut und dementsprechend auch kein Ende der Welt49 für das Jahr 1524 vorhergesagt wurden, weil er nämlich bis zum Jahre 1531 reicht. Auch einer seiner Autoren, Johannes Stöffler, wehrte sich gegen die Uminterpretation seiner darin getroffenen allgemeinen Vorhersage im Sinne einer zweiten Sintflut in

48 Dazu bei Aleksandr Gol’dberg, Tri „poslanija Filofeja“ (Opyt tekstologicˇeskogo analiza), in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 29 (1974), 70. 49 Dies wird irrtümlicherweise in der gesamten Filofej-Forschung behauptet, wenn in ihr auf den astrologischen Kontext überhaupt eingegangen wird, weswegen ich an dieser Stelle auf die Auflistung von entsprechenden Beiträgen verzichte.

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seinem 1523 verfassten Expurgatio adversus divinationum XXIV anni suspitiones.50 Eine weitere ausführliche Auseinandersetzung mit der Wirkung der Astrologie auf den Inhalt des Briefes von Filofej an Munechin sowie mit den entsprechenden Stellen des Briefes, die in der Forschung als Spuren der SintflutThematik betrachtet wurden, würde allerdings zu weit weg vom Thema dieses Artikels führen sowie seinem Überblickscharakter nicht gerecht werden. Mit dieser Frage werde ich mich sehr ausführlich an einer anderen Stelle beschäftigen.51 Daher gilt die Aufmerksamkeit nun der eschatologisch geprägten Herrschaftsimagination von Filofej, die er in dem antiastrologischen Brief an Munechin zum ersten Mal entworfen hat. Die erst mit der Zeit berühmt gewordene Formel, die Filofej mit der ganzen vorangeschickten Argumentation vorbereitete, lautet wie folgt: Da vesi, christoljubcˇe i bogoljubcˇe, jako vsja christianskaja carstva priidosˇa v konec i snidosˇasja vo edino carstvo nasˇego gosudarja, po prorocˇ’skim’ knigam’ to est’ Romeiskoe carstvo. Dva ubo Rima padosˇa, a tretii stoit, a cˇetvertomu ne byti.52 Doch wie rechtfertigt Filofej die Übertragung dieser Würde auf die Moskauer Rus’? Warum verfügen weder das territorial weiterhin unabhängige Rom, sprich das Heilige Römische Reich, noch das eroberte Konstantinopel, sprich Byzantium, über den würdevollen Rang des Glaubenshorts? Die Argumentation von Filofej lässt sich stark verkürzt53 auf folgende Weise zusammenfassen: Der orthodoxe Glaube und die staatliche Unabhängigkeit sind die Kriterien, die Filofej zufolge weder das unabhängige Heilige Römische Reich noch das eroberte Byzanz erfüllten. Das 50 Stöffler schließt zwar Überschwemmungen oder Schiffsbrüche nicht aus, die Möglichkeit einer zweiten Sintflut lehnt er aber ab. Ausführlicher dazu bei Talkenberger 1990, 250f. 51 Die Frage nach dem Nichtvorhandensein der Polemik mit der Sintflutvorhersage im antiastrologischen Schreiben von Filofej an Munechin wird ausführlich in meinem laufenden Dissertationsprojekt behandelt. Hier ist auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit der vorhandenen Forschung sowie die Thematisierung des Jahres 1524 als des terminus post quem für die Verfassung des Briefes zu finden. Ebenso beschäftige ich mich ausführlich mit der in sich sehr widersprüchlichen Polemik von Maksim Grek gegen die Judizialastrologie und die Sintflutvorhersage, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 52 Zitiert nach Sinicyna 1998. Obwohl Hildegard Schaeder eine andere Fassung als Grundlage für ihre deutsche Übersetzung herangezogen hat, sind die Unterschiede in diesem Absatz, abgesehen von einer Stelle, auf die ich hinweisen werde, kaum relevant, weswegen ich auch ihre Übersetzung angebe: „Denn wisse, Du Christus Liebender und Gott Liebender: Alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen übergegangen in das Eine Reich unseres Herrschers, gemäß den prophetischen Büchern: das ist das Russische [Sinicyna zufolge war die primäre Variante ‚Rhomäische‘, D. Kh.] Reich. Denn zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.“ Philotheos von Pskov an Michail G. Misjur’ Munechin, in: Hildegard Schaeder, Moskau. Das Dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, 2. Aufl., Darmstadt 1957, 204. 53 Ausführlicher dazu siehe vor allem das vierte Kapitel der bereits zitierten Monographie von Nina Sinicyna.

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erste Rom existiere zwar immer noch als ein unabhängiges Reich, es sei aber schon vor vielen Jahrhunderten vom Glauben abgefallen und könne daher nicht mehr als Hort des wahren christlichen Glaubens gelten. Die Argumentation hinsichtlich des zweiten Rom ist hingegen auf den ersten Blick nicht so eindeutig. An einer Stelle schreibt Filofej, das zweite Rom, Konstantinopel, sei zwar erobert worden, habe aber seinen Glauben erhalten: Asˇcˇe ubo Agariny vnuci Grecˇ’skoe carstvo priasˇa, no very ne povredisˇa, nizˇe nasil’stvujut grekom’ ot very otstupati.54 Einige Passagen früher postulierte Filofej hingegen, das griechische Zarentum sei bereits vor 90 Jahren zerstört worden, weil die Griechen den orthodoxen Glauben verraten hätten und zum Katholizismus übergetreten seien. Gemeint ist damit das 1438 stattgefundene Konzil von Ferrara-Florenz.55 Beide Aussagen widersprechen einander allerdings nur auf den ersten Blick: Der territorialen Eroberung durch die Osmanen wird scheinbar der Glaubensabfall gegenübergestellt. Dies ist allerdings nur ein Scheinwiderspruch: Im ersten Fall geht es um die Schuld der Griechen für den Untergang ihres Reichs – die Kirchenunion mit den Katholiken, im zweiten Fall um das Weiterleben des christlichen Glaubens auch unter den Türken, die dem nicht im Wege stehen.56 Dies reicht allerdings dennoch nicht aus, um den Status des ‚Rhomäischen Reichs‘ zu erhalten, so die Logik des Pskover Mönchs. Daher sei es nur die Moskauer Rus’, die beide Kriterien erfülle. Die Garantie des unveränderten Fortbestehens der orthodoxen Moskauer Rus’ als des dritten und letzten ‚Rhomäischen Zarentums‘ bis zum Jüngsten Gericht sei somit die Aufbewahrung des wahren Glaubens, dessen Garant der Moskauer Großfürst sei. Wenn nun auch die Moskauer Rus’ vom Glauben abfallen werde, werde es kein neues, viertes Rom mehr geben, weil die Geschichte zu ihrem Ende kommen werde. Die Sterne seien dabei aber wirkungslos und können dem Moskauer Großfürsten nicht behilflich sein, weil sie über keine eigene Kraft verfügen und daher nichts über die Schicksale dieser Welt verraten könnten. So lässt sich die Logik von Filofej mit dem heutigen Wissensstand wohl am plausibelsten skizzieren. 54 Zitiert nach Sinicyna 1998, 343. In der deutschen Übersetzung lautet die Passage wie folgt: „Als die Hagar-Enkel das griechische Reich einnahmen, da haben sie dem Glauben keinen Schaden angetan, noch die Griechen gezwungen, den Glauben zu verlassen.“ Schaeder 1957, 202. 55 In der älteren Forschung wurde darin oft der Fall Konstantinopels im Jahre 1453 gesehen, was in die Argumentationsstruktur von Filofej nicht hineinpasst. Zum ersten Mal hat die These, Filofej habe das Konzil von Ferrara-Florenz im Sinne gehabt, Andreyev geäußert. Nikolay Andreyev, Filofey and His Epistle to Ivan Vasil’yevich, in: The Slavonic and East European Review, 38 (1959) 90, 22. 56 In dieselbe Richtung argumentiert in der gesamten Forschung meines Wissens nur Sergej Filippov, Religioznaja bor’ba i krizis tradicionalizma v Rossii XVII veka (Russica Pannonica 19), Budapest 2007, 108.

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Rom ist bei Filofej somit nicht nur eine konkrete Stadt, nicht nur ein Zentrum des ehemaligen Imperiums. Filofej projizierte auf die Moskauer Rus’ nicht die imperiale Macht des einst mächtigen Imperium Romanum – die These, die in der Filofej-Forschung längst anerkannt ist, die aber in der Forschung, die sich nicht speziell mit dem Gedankengut des Pskover Mönchs auseinandersetzt, dennoch hin und wieder vorkommt. Vielmehr verstand der Pskover Mönch Rom als ein Symbol des Ortes, an dem der wahre Glaube erhalten bleibe.57 Dafür spricht auch das Adjektiv romejskoe (‚rhomäisch‘), das in der ältesten Fassung des Briefes Sinicyna zufolge vorkommt. Dabei stützte sich Filofej aller Wahrscheinlichkeit nach auf die slavische Übersetzung der ‚christlichen Topographie‘ von Kosmas Indikopleustes, eines byzantinischen Kaufmanns, bei dem das ‚Rhomäische Reich‘ keinem irdischen, sprich durch Menschen geschaffenen Reich im Rahmen der danielischen Vier-Reiche-Lehre entspricht, sondern vielmehr für das durch Gott erschaffene, ewige christliche Reich steht.58 Bei allen Unterschieden, die zwischen der oben besprochenen Paschalija von Zosima und dem antiastrologischen Brief von Munechin beim genauen Vergleich aufgezeigt werden können, ist ein Zusammenhang dennoch kaum übersehbar: In beiden Fällen dienen die heiligen Städte nicht als Belege für territorial-politische Ansprüche. Vielmehr werden sie im soteriologisch-eschatologischen Sinne verstanden: Die Orte, an denen die wahren Christen bis zum Jüngsten Gericht ihre einzige Hoffnung finden können. Aus dieser Perspektive betrachtet, bildet der Gedankengut Filofejs keinen klaren Gegensatz mehr zur Vorstellung von der Moskauer Rus’ als dem neuen himmlischen Jerusalem, worauf im nächsten Schritt einzugehen sein wird. Beide Vorstellungen verkörpern dieselbe Botschaft: Der Herrschaftsbereich der Rjurikiden sei der einzige, Filofej zufolge auch der letzte Ort, an dem der wahre Glaube weiterlebt. Daher ist auch die Trennung zwischen diesen Vorstellungen59 57 An dieser Stelle sei auf die Monographie von Sinicyna hingewiesen, in der dieser Gedanke immer wieder und wohl am deutlichsten zum Ausdruck gebracht wurde. 58 Ausführlicher zur Wirkung dieser Herrschaftsvorstellung des byzantinischen ‚Indienfahrers‘ bei Filofej siehe bei Sinicyna 1998, 237. Für die entsprechende Stelle in der kirchenslavischen Übersetzung der christlichen Topographie siehe bei V. S. Golysˇenko/V. F. Dubrovina (edd.), Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov, Moskva 1997, 78. Für dieselbe Stelle in der deutschen Übersetzung siehe bei Horst Schneider, Kosmas Indikopleustes. Christliche Topographie – textkritische Analysen, Übersetzung, Kommentar, Turnhout 2010, 65. 59 So postuliert Daniel Rowland in seinem Aufsatz, dass „Bible in general, and the Old Testament in particular, loomed far larger in the historical imagination of Muscovites than did any image of Rome.“ Daniel Rowland, Moscow – The Third Rom or The New Israel?, in: The Russian Review 55/4 (1996), 592. Dies scheint mir ein Äpfel-Birnen-Vergleich zu sein. Die Bibel und die kirchenväterliche sowie apokryphe Literatur bildeten die Grundlage im gleichen Maße sowohl für die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem als auch vom neuen ‚Rhomäischen Reich‘. Filofej ging es ja nicht um Rom als eine konkrete territoriale Einheit an sich, sondern um Rom als Symbol für den Zufluchtsort des wahren Glaubens, was er ebenso

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wohl eher künstlich. Beide Vorstellungen haben unterschiedliche Entstehungskontexte und daher unterschiedliche Argumentationsstrategien. In ihrem Kern stimmen sie aber überein. Aus diesem Grund scheint es auch nicht wirklich zielführend, zu behaupten, dass das Gedankengut von Filofej kaum Einfluss auf die Herrschaftsvorstellungen seiner Zeit ausübte, nur weil der Rom-Vergleich in dieser sprachlichen Form in den offiziellen Dokumenten des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1589 nicht vorkommt. Die Vorstellung von der Moskauer Rus’ als dem eschatologisch legitimierten Ort des wahren Glaubens war in der Luft und wurde auf unterschiedlichste Art und Weise immer wieder neu formuliert. Die Formel von Filofej stellt somit zwar eine wahrlich sehr originelle, aber dennoch nur eine von vielen Varianten ein und desselben Gedankens dar, die Moskauer Rus’ sei der letzte Ort, in dem der wahre Glaube weiterhin bestehenbleiben werde.

Moskau als das neue himmlische Jerusalem Im Vergleich zu den oben besprochenen politisch-eschatologischen Herrschaftsvorstellungen hat die Vorstellung von Moskau als dem neuen bzw. dem himmlischen Jerusalem keinen Referenztext, in dem ihre klare Formulierung zu finden wäre. Vielmehr ist sie in zahlreichen visuellen sowie rituellen Quellen überliefert. Daher werde ich im Weiteren exemplarisch auf zwei solche Quellen eingehen, um diese Vorstellung herauszukristallisieren. Begonnen werden soll mit dem zweifelsohne bedeutendsten christlichen Fest des vorpetrinischen Russland – dem Palmsonntagsritual. Dass das Palmsonntagsfest mit der Eschatologie unmittelbar verbunden ist, ist nicht sofort ersichtlich, geht es hier doch in erster Ebene um die Nachbildung des Einzugs Christi in Jerusalem. Aus der topographischen und architektonischen Dimension wird der eschatologische Hintergrund des Feiertages sowie der Rezeption der Stadt Jerusalem in der Moskauer Rus’ insgesamt deutlicher: Die während des Fests zu beobachtende Prozession führte nämlich von der Mariä-EntschlafensKathedrale (Uspenskij sobor) zur Basilius-Kathedrale, deren Architektur das himmlische Jerusalem symbolisiert und die in dieser Zeit auch als ‚Jerusalemer Kathedrale‘ (Ierusalimskij sobor) bezeichnet wurde.60 Auch Jerusalem, genauso biblisch untermauerte, und zwar mit Hilfe der aus der Offenbarung des Johannes stammenden Gestalt eines Weibes in der Wüste. Am Ende des Aufsatzes schreibt Rowland allerdings, dass beide Vorstellungen eher „complementary rather than contradictory“ rezipiert worden seien und dass der im Titel des Aufsatzes angegebene Widerspruch der falsche sei. Ebd., 613. Das ist eine Feststellung, der ich mich gerne anschließe. 60 Ausführlicher dazu siehe die Monographien von Nikolaj Brunov, Chram Vasilija Blazˇennogo v Moskve. Pokrovskij sobor, Moskva 1988, 224–225, Michail Il’in, Kamennaja letopis’ Moskovskoj Rusi. Svetskie osnovy kamennogo zodcˇestva XV–XVII vv., Moskva 1966, 52

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wie Konstantinopel und Rom in den oben besprochenen Konzepten, galt nicht nur als eine konkrete Stadt, sondern vielmehr als ein Symbol, eine Allegorie für die Erlösung in den letzten Tagen: Im Rahmen des Palmsonntagsfestes wurde es daher mit dem himmlischen Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes gleichgesetzt, worin die für die orthodoxe Theologie typische Überlappung von zwei Zeitebenen sichtbar wird – die gegenwärtige Zeit und die eschatologische Zeit, worauf John Meyendorf hinwies.61 Als Vermischung beider Zeitebenen betrachtete die Moskauer Variante des Palmsonntagsfestes zum ersten Mal Ernst Kantorowicz: „Palm Sunday and Second Coming, ‚historical‘ and ‚eschatological‘ Adventus, those are two themes which should be clearly distinguished from one another. Yet, it is in the nature of things, and of mediaeval thinking in particular, that occasionally the one concept would supersede or even take the place of the other. More rarely it seems that the two forms of the Adventus were blended.“62 In Anlehnung an die impulsgebende Beobachtung von Kantorowicz sowie auf die semiotisch-anthropologischen Studien von Clifford Geertz kommt Michael Flier nun zu einer ähnlichen Interpretation dieses Rituals, indem er darin „both a ‚model of‘ and a ‚model for‘ social and psychological reality“ sieht. „Performed on an annual basis, the Palm Sunday Ritual provided a model for reinforcing the spiritual commitment of the Russian faithful to the salvation of mankind ordained by the First Coming of the Messiah and the Resurrection, a prefiguration of the Second Coming and the universal victory over death.“63 In dieser Feststellung von Michael Flier wird sehr gut das oberste Ziel des Rituals formuliert: die Verleihung der Hoffnung auf die Rettung der Seelen im Jüngsten Gericht, sowie Andrej Batalov, Sobor Pokrova Bogorodicy na Rvu, Istorija i ikonografija architektury, Moskva 2016, 339f. Batalov äußert sich allerdings skeptisch gegenüber allen biblischen Allegorien in der Architektur der Kathedrale. Ebd., 365f. Aus seiner Sicht liegen die Wurzeln dieses Spitznamens der Kathedrale eher in der Rolle, die sie im Rahmen des Palmsonntagsfests spielte. Ebd., 341. 61 Vgl. Ioann Mejendorf, O liturgicˇeskom vosprijatii prostranstva i vremeni, in: Konstantin Akent’ev (ed.), Liturgija, architektura i iskusstvo vizantijskogo mira. Trudy XVIII Mezˇdunarodnogo kongressa vizantinistov (Moskva, 8–15 avgusta 1991) i drugie materialy, posvjasˇcˇennye pamjati O. Ioanna Mejendorfa, S.-Peterburg 1995, 9. 62 Ernst Kantorowicz, The „King’s Advent“ and the Enigmatic Panels in the Doors of Santa Sabina, in: The Art Bulletin XXVI (1944), 229. Kantorowicz gründete seine in der Forschung allerdings erst viel später aufgegriffenen Schlussfolgerungen auf den herausragenden Aufsatz von Georg Ostrogorsky, in dem der berühmte Byzantinist den Zusammenhang zwischen dem Bekanntwerden der Konstantinischen Schenkung und der Einführung des Palmsonntagsfests zwischen dem Heiligen Römischen Reich, Byzanz, Serbien und der Moskauer Rus’ analysierte. Georg Ostrogorsky, Zum Stratordienst des Herrschers in der Byzantinisch-Slawischen Welt, in: Ders., Byzanz und die Welt der Slawen. Beiträge zur Geschichte der Byzantinisch-Slawischen Beziehungen, Darmstadt 1974, 101–121. 63 Michael Flier, Breaking the Code. The Image of the Tsar in the Muscovite Palm Sunday Ritual, in: Michael Flier/Daniel Rowland (edd.), Medieval Russian Culture, Band II, Berkeley/Los Angeles/London 1994, 220.

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wofür die rituelle Verwandlung Moskaus während des Palmsonntagsfests ins himmlische Jerusalem steht. Dass eine solche Interpretation des Palmsonntagsrituals keineswegs seiner Rezeption durch die Zeitgenossen sowie Vorfahren Ivans IV. widerspricht, kann mit Beispielen schon aus dem 4. Jahrhundert belegt werden, worauf Gertrud Schiller hinweist: „Die ersten Darstellungen des Einzugs, die dem 4. Jh. angehören, sind außer von der Palmsonntagsliturgie auch von der symbolischen Deutung der Stadt Jerusalem beeinflußt. Jerusalem ist nicht nur die politische und ideelle Hauptstadt des Judentums, das dort im salomonischen Tempel seine großen Feste feierte, oder die Stätte der Passion Christi, sondern zugleich die ewige Stadt, das himmlische Jerusalem der Christenheit. Bei den ältesten Darstellungen des Einzugs im hellenistischen Bereich liegt der Akzent auf dieser symbolischen Deutung; es wird der Einzug Christi in die Himmelstadt als Triumph über den Tod verbildlicht.“64 Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang auf den erst 1559 wiederentdeckten Sarkophag des im Jahre 359 verstorbenen römischen Stadtpräfekten Iunius Bassus Theotecnius hingewiesen. Neben zahlreichen anderen auf dem Sarkophag abgebildeten christlichen Motiven ist auch die Szene des Einzugs Christi in Jerusalem zu sehen. In dieser Szene ist Georg Daltrop zufolge weniger „auf die bevorstehende Passion angespielt als vielmehr auf den in das himmlische Jerusalem vorausreitenden Christus, jugendlich triumphierend“.65 Dieses Beispiel zeigt anschaulich, dass die Theologie des Palmsonntagsfests in der Moskauer Rus’ seiner langen Auslegungsgeschichte vollkommen entsprach und, wie es für die christliche Exegese typisch ist, zwei Bedeutungsebenen beinhaltete: Zeit und Ewigkeit, irdisches Leben und ewiges Leben, neues Jerusalem und himmlisches Jerusalem. Die älteste Quelle, in der der Ablauf der Moskauer Variante des Palmsonntagsrituals ausführlich geschildert wird, ist der Bericht des englischen Diplomaten Anthony Jenkinson. Die Rolle, die der Zar während des Rituals spielt, beschreibt Jenkinson auf folgende Weise: First, there is a horse covered with white linnen cloth down to the ground, his eares being made long with the same cloth like to an asses eares. Upon this horse the Metropolitane sitteth sidelong like a woman […] One of the Emperours noble men leadeth the horse by the head, but the Emperour himselfe goyng on foote, leadeth the horse by the ende of the 64 Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, Band II: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1968, 29. 65 Georg Daltrop, Anpassung eines Relieffragmentes an den Deckel des Iunius Bassus Sarkophages, in: Rendiconti. Pontificia Accademia Romana di Archeologia 51/52 (1979/80), 157– 170, hier 164f. Den Interpretationen von Schiller und Daltrop schließt sich auch Elizabeth Struthers Malbon an. Elizabeth Struthers Malbon, The Iconography of the Sarcophagus of Junius Bassus, Princeton 1990, 53f.

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reine of his bridle with one of his hands, and in the other of his handes he had a braunch of a Palme tree (Hervorhebung D. Kh.): after this followed the rest of the Emperours Noble men and Gentelemen, with a great number of other people. In this order they went from one church to another within the castle [Kremlin], about the distance of two flights shot: and so returned agayne to the Emperours Church [Cathedral of the Dormition], where they made an end of their service.66

Von besonderem Interesse hinsichtlich der Rolle des Zaren im Rahmen des Palmsonntags ist die Deutung des folgenden Satzes aus dem Bericht von Jenkinson: the Emperour himselfe goyng on foote, leadeth the horse by the ende of the reine of his bridle with one of his hands, and in the other of his hands he had a braunch of a Palme tree. Für Jenkinson war der Stratordienst Ivans IV. ein klares Zeichen für die Untergebenheit des Zaren und die Anerkennung der höheren Stellung des auf dem Pferde sitzenden Metropoliten.67 Diese Meinung hat sich auch in der Historiographie durchgesetzt. In Anlehnung an Jenkinson interpretiert Paul Bushkowitch die Rolle des Zaren im Ritual auf folgende Weise: „Its message was not the glorification and reinforcement of autocracy but rather the humility of the Tsar before the church, more specifically the metropolitan of Moscow.“68 Dabei kritisiert er die Meinung eines der ersten Erforscher des Rituals, Vasilij Savva, der als erster in der Erniedrigung des Zaren vor dem Metropoliten die Frömmigkeit des Herrschers versinnbildlicht sah: „His [gemeint wird Savva, D. Kh.] escape was to assert that the ceremony revealed the ‚piety‘ of the ruler, which is simply wrong: on Palm Sunday the Tsar showed humility before a living person, the head of the Russian church, not God or Christ.“69 Dies ist eine überraschend kurzsichtige Schlussfolgerung von Bushkovitch, weil das 66 The commentary of Anthony Jenkinson and his entourage 1557–1558, zitiert nach Flier 1994, 214f. Es ist allerdings wichtig anzumerken, dass die Prozession zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Basilius-Kathedrale führte. Dies ist erst seit 1559 möglich geworden, als die Kirche des Einzugs in Jerusalem, eine von neun Kirchen, die ihrerseits die Basilius-Kathedrale bilden, eingeweiht wurde. Batalov 2016, 349. Fedor Gornostaev zufolge hing die Architektur dieser Kirche von Anfang an mit der Palmsonntagsprozession zusammen. Ebd., 350. 67 Vgl. Flier 1994, 228. 68 Paul Bushkovitch, The Epiphany Ceremony of the Russian Court in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: The Russian Review 49 (1990) 1, 3. 69 Ebd. Zur Rolle des ‚Eselführers‘ wird der Zar auch im Aufsatz von Frank Kämpfer herabgestuft. Den alternativen, meines Erachtens überzeugenderen Deutungen, wie die von Hubert Faensen und Vladimir Ivanov, wollte er kein Existenzrecht zusprechen. Hubert Faensen/ Vladimir Ivanov, Altrussische Baukunst, München 1972, 440, Frank Kämpfer, Über die theologische und architektonische Konzeption der Vasilij-Blazˇennyj-Kathedrale in Moskau, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 24 (1976), 489. Zur meines Erachtens viel überzeugenderen Argumentation von Vladimir Savva siehe seine Monographie. Vladimir Savva, Moskovskie cari i vizantijskie vailevsy. K Voprosu o vlijanii Vizantii na obrazovanie idei carskoj vlasti moskovskich gosudarej, Char’kov 1901, 165–175. Obrjad ˇsestvija patriarcha na osljati, izobrazˇavsˇij v”ezd Christa vo Ierusalim, daval carju odnu rol’: vyrazit’ svoe smirenie pred Christom, kotorogo v obrjade e˙tom izobrazˇal patriarch. Ebd., 175.

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ganze Fest eine große Allegorie darstellt, wie Kantorowicz und Flier zeigten: Moskau war das neue und gleichzeitig himmlische Jerusalem, das Moskauer Volk das in den letzten Zeiten zu rettende Volk Israel, der auf dem Pferd sitzende Metropolit symbolisierte den auf einem Esel nach Jerusalem einreitenden Jesus Christus70, daher konnte sich auch der Zar nicht erniedrigen, indem er dem imaginierten Jesus Christus Stratordienst leistete. Von der nicht sofort ersichtlichen eschatologischen Dimension des Palmsonntagsfests kann nun zu einer visuellen Quelle übergegangen werden, deren eschatologische Grundlage kaum infrage gestellt werden kann.71 Die Rede ist von der monumentalen Ikone „Geheiligt sei das Heer des himmlischen Königs“ (Blagoslovenno voinstvo nebesnogo carja). Diese Ikone, welche die vielleicht am besten erforschte Ikone der Regierungszeit Ivans IV. ist,72 schreibt die Geschichte des Moskauer Reiches in die Heilsgeschichte ein, da sie nach Meinung der meisten ihrer Erforscher die Eroberung von Kazan’ im Jahre 155273, diesen Höhepunkt der Regierungszeit Ivans IV., mit der Zerstörung von Jericho gleichsetzt 70 Dass dies eine richtige Interpretation der Rolle des Metropoliten ist, folgt deutlich aus dem folgenden Textauszugs aus einer 1678 erschienenen synodalen Deklaration, die das Feiern des Palmsonntags außerhalb Moskaus verbot: Blagocˇestivejsˇіi Samoderzˇci nasˇi blagovoljat” v” nem”, pokazanіja radi narodu pravoslavnomu obraza smirenіja svoego i blagopokorenіja pred” Christom” Gospodem”, ibo obycˇaj vsesmirennyj prіjasˇa, ezˇe vozsedsˇu Patrіarchu na zˇrebja, vo pamjat’ v”echanіja Gospodnja vo Іerusalim”, smirjati vysotu svoju car’skuju i skipetrokrasnyma rukama si uzde togo osljati prikasatisja i tako vedusˇcˇe to dazˇe do chrama sobornago sluzˇitelstvovati Christu Gospodu. Die Übersetzung dieser Stelle durch Michael Flier lautet: „Our most pious autocrats deign to be in it, in order to show the Orthodox people the image of their humility and submission before Christ the Lord, for they have accepted this most humble custom, that is, having seated the Patriarch on a colt, in memory of the Lord’s entry into Jerusalem, to humble their exalted royal status and take hold of the reins of that ass with their scepter-beautiful hands and thus lead it to the cathedral church to serve Christ the Lord.“ Zitiert nach Michael Flier, Muscovite Ritual in the Context of Jerusalem Old and New, in: Canadian-American Slavic Studies 49 (2015), 149. 71 Der wohl einzige mir bekannte Historiker, der die eschatologische Grundlage dieser Ikone infrage stellt, ist Kocˇetkov. Seine Argumentation ist allerdings schwer nachvollziehbar: Auf der Ikone seien keine bösen Kräfte zu sehen, daher habe sie nichts mit dem Jüngsten Gericht zu tun. I. Kocˇetkov, K polemike ob ikone „Blagoslovenno voinstvo nebesnogo carja“ […], in: O. D’jacˇenko/L. Evseeva (edd.), Ikonograficˇeskie novacii i tradicija v russkom iskusstve XVI veka. Sbornik statej pamjati Viktora Michajlovicˇa Sorokatogo (Trudy central’nogo muzeja drevnerusskoj kul’tury i iskusstva 3), Moskva 2008, 331. Zum einen sind sie es gar keine Voraussetzung dafür. Zum anderen werden die bösen Kräfte in der Gestalt der brennenden Stadt dargestellt. 72 Ein ausführlicher bibliographischer Überblick bis zum Ende der 1990er Jahre ist im Artikel von Sorokatyj zu finden. Viktor Sorokatyj, Ikona „Blagoslovenno voinstvo nebesnogo carja“. Nekotorye aspekty soderzˇanija, in: Drevne-russkoe iskusstvo. Vizantija i drevnjaja Rus’. K 100-letiju Andreja Nikolaevicˇa Grabara (1896–1990), S.-Peterburg 1999, 399–407. 73 Der erste Historiker, der auf den Zusammenhang zwischen der Ikone und der Eroberung von Kazan’ hinwies, war Aleksandr Presnjakov. Dazu siehe Aleksandr Presnjakov, E˙pocha Groznogo v obsˇcˇem istoricˇeskom osvesˇcˇenii, in: Annaly. Zˇurnal vseobsˇcˇej istorii 2 (1923), 197.

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und das Heer des Zaren mit dem Heer des Erzengels Michael identifiziert.74 Die Eroberung von Kazan’ verbindet somit das Palmsonntagsfest, dessen Prozession zur anlässlich des Sieges über die Tataren gebauten Basilius-Kathedrale führte, mit dieser Ikone, die demselben Ereignis gewidmet ist, falls diese Interpretation dem Vorhaben der Ikonenmaler tatsächlich entsprach. Die allegorische Projektion biblischer Ereignisse auf Russland stellt Frank Kämpfer zufolge auch die wichtigste Neuheit der Ikone dar: „Bis dahin waren trans-empirische Sachverhalte (Wunder, Himmelfahrten u. ä.) Phänomene des Heiligen Landes gewesen, nun trugen sich analoge Ereignisse im russischen Land zu, ein für das Medium Bild, wenn auch nicht für das Schrifttum, revolutionärer Akt.“75 Diese in sich schlüssige Feststellung ist ebenso nur im Rahmen jenes Erklärungsansatzes gültig, der die Verbindung zwischen der Ikone und der Eroberung von Kazan’ postuliert, was Kämpfer als ein Faktum betrachtet, was wiederum kein Faktum ist. Einer der wenigen Kunsthistoriker, der jegliche historischen Parallele bestritt, war Viktor Sorokatyj, der die Botschaft der Ikone auf die Eschatologie begrenzte und daher jedwede politische Komponente entschieden zurückwies. Sorokatyj analysierte die Ikone im breiten ikonologischen Kontext, indem er das Motiv des zum himmlischen Jerusalem reitenden Heeres auf anderen Ikonen wie die Apokalypse-Ikone aus dem Nationalmuseum in Stockholm76 oder die Ikone des Jüngsten Gerichts aus der Auferstehungskathedrale in Tutaev analysierte. Sorokatyj kam zu dem Schluss, dass diese Ikonen, die eine sehr ähnliche Motivik aufweisen, mit der Ikone „Geheiligt sei das Heer“ nicht verwandt seien. Diese komparative Vorgehensweise erlaubte es ihm, durchaus überzeugend zu postulieren, dass keine zwingenden Belege für den Zusammenhang zwischen der Ikone „Geheiligt sei das Heer des himmlischen Königs“ und einem konkreten militärischen Ereignis existieren.77 74 Für eine fundierte theologisch-semiotische Analyse der Ikone siehe unter anderem den Aufsatz von Daniel Rowland, Biblical Military Imagery in the Political Culture of Early Modern Russia. The Blessed Host of the Heavenly Tsar, in: Michael Flier/Daniel Rowland (edd.), Medieval Russian Culture. Band II, Berkeley/Los Angeles/London 1994, 183–199. 75 Frank Kämpfer, „Rußland an der Schwelle zur Neuzeit“. Kunst, Ideologie und historisches Bewußtsein unter Ivan Groznyj, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge 23 (1975) 4, 519. 76 Sehr ausführlich zu dieser Ikone siehe die Dissertation von Andrej Konotop, Kompozicija „Sˇestvija k nebesnomu Ierusalimu“ na ikone „Strasˇnyj sud“ iz Nacional’nogo muzeja Sˇvecii (istocˇnikovedcˇeskie problemy), Moskva 2007. 77 Sorokatyj 1999, 413. Diese Schlussfolgerung erlaubt es Sorokatyj, die Ikonen mit einer früheren Zeit zu datieren. Lilija Evseeva widerspricht Sorokatyj: Nur ein so großes Ereignis wie der Sieg über Kazan’ habe eine solch monumentale Ikone ins Leben rufen können. Lilija Evseeva, Esˇcˇe raz k polemike ob ikone „Blagoslovenno voinstvo nebesnogo carja…“, in: O. D’jacˇenko/Lilija Evseeva (edd.), Ikonograficˇeskie novacii i tradicija v russkom iskusstve XVI veka. Sbornik statej pamjati Viktora Michajlovicˇa Sorokatogo (Trudy central’nogo muzeja

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Die Vorstellung von Moskau als dem neuen/himmlischen Jerusalem findet ihre wohl ausführlichste visuelle Ausgestaltung genau in dieser monumentalen Ikone mit Hilfe der Abbildung Moskaus bzw. eher der ganzen Moskauer Rus’ als des himmlischen Jerusalem, unabhängig davon, ob ihre Entstehung mit der erfolgreichen Kazan’-Kampagne zusammenhängt oder nicht.78 Im Vergleich zum Palmsonntagsfest kommt die Quelle dieser Gestalt – die Offenbarung des Johannes – dieses Mal sehr deutlich zum Ausdruck. Die Heranziehung des himmlischen Jerusalem zur Herrschaftslegitimation des russischen Herrschers brachte die zentrale Aufgabe des als Abbild Christi imaginierten Zaren deutlich zum Ausdruck: Die Aufbewahrung des wahren Glaubens innerhalb seines christlichen Reichs, was die Rettung im Jüngsten Gericht ermöglichen sollte. In diesem Punkt unterscheidet sich die Vorstellung von Moskau als dem neuen / himmlischen Jerusalem von den oben geschilderten Szenarien der Macht, die der Metropolit Zosima im Vorwort zur Paschalija und der Pskover Mönch Filofej im antiastrologischen Brief an Munechin schilderten, keineswegs: Alle diese politisch-eschatologischen Machtentwürfe zeugen davon, dass das christliche Zarentum in den ersten Jahrzehnten des 8. Jahrtausends als eschatologisches Zarentum imaginiert wurde.

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Konrad Vössing

Konstantinopel – das Neue Rom, die heilige Stadt Konstantins?*

Abstract After the conquest of Constantinople by the Ottomans in 1453 and its end as religious and political centre of orthodoxy, in Russia the question arose which role Moscow had to play in view of the new conditions within the oecumene. Under the impression of an end-time expectation, a claim to leadership was formulated that originated in the idea that the Muscovite Rus’ had to be seen as the embodiment of the Third and Last Roman Empire. In this context, Moscow was referred to as New Constantinople and its ruler, the Grand Prince, as New Constantine. Against this background, this article will focus on the narrative of Constantinople as Second Rome and the legend of its Christian foundation by Constantine the Great in 330 AD. After the victory over his last remaining rival Licinius and the achievement of autocracy in 324, Constantine was looking for a residence in the eastern part of the Empire, which could be oriented in a specific way to his new rule. His choice fell on Byzantium, an old city strategically located at the Bosporus, which he re-founded as ‘city of Constantine’, that is ‘Constantinople’. In the following years Constantine promoted the city with extraordinary privileges and a major building program, which was later interpreted as an attempt to equate its importance with that of the Roman capital. Even in the ancient sources, the city was soon referred to as Second and New Rome, but this was by no means an expression of equal rank; however, it must be admitted that Constantinople was intended to be more than just another imperial residence: It should be the city that represented his final victory and his new rule. That Constantinople would become the undisputed capital of the Roman East from the 5th century onwards was not predictable at that time. The praise of the city primarily concerned the glory of its founder. In a more particular sense this was the case with regard to the religious perspective. According to the ideal of Constantine as the first Roman emperor who openly confessed his sympathies to Christianity, from the later Christian perspective Constantinople seemed to be founded as a Christian city. * Ich danke besonders Herrn David Hamacher, nicht nur für vielfältige Anregungen und Diskussionen, sondern auch für seine einleitende Darstellung des ‚dritten Roms‘, des gedanklichen Ausgangspunkts der Untersuchung. Dank sei an dieser Stelle auch Dittmar Dahlmann und Diana Ordubadi ausgesprochen, die es auf sich genommen haben, die altrussischen Originalstellen zu überprüfen und zu transliterieren; Gleiches gilt auch für die Zitation der modernen russischen Forschungsliteratur.

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However, such a reading cannot be verified from the ancient sources; nevertheless, there is some evidence that the religious character of the city was intentionally kept ambiguous, apparently in order to prevent its actual statement, the outright triumph of its founder, from associating it with a confession in a rather offensive way, both to the supporters of the old cults and those of the new religion. Constantine’s apparently successful attempt to keep his city open for a pagan as well as for a Christian interpretation may well have been based on the hope that this ambiguity would later be decided in the Christian sense; as we know, this finally came true. Only then, when the Christian and the imperial Constantinople were established, the city and its (in this sense legendary) founder could become points of reference for ideas that can be found not least in Russian history.

Am Ende des 15. Jahrhunderts erwartete man in Russland das Ende der Welt. Ausgehend von den Berechnungen der byzantinischen Ära sah die orthodoxe Christenheit dem Szenario der Apokalypse anno mundi 7000, d. h. im Jahr 1492 unserer Zeitrechnung, unruhig entgegen.1 Die Erwartung der Endzeit manifestierte sich nicht zuletzt in dem Umstand, dass der Kalender der russisch-orthodoxen Kirche nicht über das bezeichnete Jahr hinausging, sodass sich schließlich der Moskauer Metropolit Zosima veranlasst sah, seinen Schwestern und Brüdern im Glauben neue Ostertafeln vorzulegen, mit deren Hilfe sich das höchste Fest der Christenheit zumindest auch für die nächsten 20 Jahre terminieren ließ.2 In der Vorrede zu seiner Paschalija zeichnet Zosima in wenigen Worten den Verlauf der christlichen Welt- bzw. Heilsgeschichte nach, nicht ohne

1 Die Anzahl der Weltjahre ergibt sich dabei aus der Verbindung der sieben Schöpfungstage (Genesis 1,1–2,3) mit Psalm 90 (4: „Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.“) und dem zweiten Petrusbrief (3,8: „Das eine aber, liebe Brüder, dürft ihr nicht übersehen: dass beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind.“); Einheitsübersetzung. Einen Überblick über die Grundlagen der byzantinischen Zeitrechnung bieten: Anthony Bryer, Chronology and Dating, in: Elizabeth Jeffreys/John Haldon/Robin Cormack (edd.), The Oxford Handbook of Byzantine Studies, Oxford 2008, 31–37; Pavel Kuzenkov, How old is the World? The Byzantine Era and its Rivals, in: Elizabeth Jeffreys (edd.), Proceedings of the 21st International Congress of Byzantine Studies, Volume III: Abstracts of Communications, Aldershot 2006, 23f.; Venance Grumel, La chronologie (Traité d’Études Byzantines 1; Bibliothèque Byzantine), Paris 1958, 98–128. 2 Der Originaltext ist ediert in: Ivan A. Tichonjuk, Izlozˇenie paschalij moskovskogo mitropolita Zosimy, in: Issledovanija po istocˇnikovedeniju istorii SSSR XIII–XVII vv, Moskva 1986, 45–61. Die von Zosima ‚veranschlagten‘ 20 Jahre sind dabei als Bußfrist zu verstehen. Gennadij, der als Erzbischof von Novgorod von Zosima mit der Anfertigung eigener Ostertafeln beauftragt wurde, gibt sogar die Termine für die nächsten 70 Jahre an, vgl. Makarij (Bulgakov), Istorija russkoj cerkvi 4, 1, Moskva 1996, 541–546. Siehe hierzu auch Frank Kämpfer, Beobachtungen zu den Sendschreiben Filofejs, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge 18 (1970) 1, 1–46, hier 41 mit Anm. 187.

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dabei auch auf die Verhältnisse der eigenen Zeit einzugehen.3 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang seine Ansprache des amtierenden Großfürsten Ivan III. Vasil’evicˇ (reg. 1462–1505): „Heute nun, in diesen letzten Jahren [vor der Wiederkunft Christi], hat Gott den gütigen und christusliebenden Großfürsten Ivan III. erhöht, den neuen Konstantin, Herrscher der neuen Konstantinsstadt Moskau und des ganzen russischen Landes und vieler anderer Länder.“4

Der Vergleich eines russischen Regenten mit Konstantin dem Großen war keineswegs neu. Schon der erste getaufte Kiever Großfürst, Vladimir I. Svjatoslavicˇ (reg. 978/980–1015), unter dessen Herrschaft die Christianisierung der Rus’ ihren Anfang nahm, sowie der erste Moskauer Großfürst, Ivan I. Danilovicˇ Kalita (reg. 1328–1341), waren zuvor als ‚(neuer) Konstantin‘ bezeichnet worden.5 Während sich die Aussage dieser früheren Vergleiche jedoch mehr oder weniger darin zu erschöpfen scheint, dass die so adressierten Herrscher in den Augen der Nachgeborenen (ebenso wie Konstantin) als Vorkämpfer des Christentums zu gelten hatten, stand die Ansprache Ivans III. unter gänzlich anderen Vorzeichen.6 So wie einst Konstantin als römischer Kaiser von Gott zum ‚ersten rechtgläubigen Zaren‘ erhoben und später aufgrund seiner Taten für den christlichen Glauben ‚apostelgleich‘ genannt wurde, kam nun – gemäß dem biblischen Gleichnis von den Ersten und den Letzten (Matthäus 20,16) – Ivan III. die (gottgegebene)

3 Der Originaltext ist editiert in: Russkaja Istoricˇeskaja Biblioteka, 40 Bde., Bd. 6, S.-Peterburg 1880, 795–802 (Nr. 118). Eine neuere Edition des Textes bietet neben einigen weiterführenden Erläuterungen, die seinen Inhalt wie seine Überlieferungsgeschichte betreffen, auch eine italienische Übersetzung: L’idea di Roma a Mosca, secoli XI–XVI. Fonti per la storia del pensiero sociale russo – Ideja Rima v Moskve XV–XVI veka. Istocˇniki po istorii russkoj obsˇcˇestvennoj mysli (Da Roma alla Terza Roma. Documenti e Studi. Documenti 1), Rom 1989, 123–125 und 333–335 ( jeweils Nr. 21). 4 Russkaja Istoricˇeskaja Biblioteka VI (1880), 799: I nyne zˇe, v posleˇdnjaja sia leta, jakozˇe i v pervaa, proslavi Bog srodnika ego, izˇe v pravoslavı¯i prosı¯javsˇago, blagovernago i christoljubivago velikogo knjazja Ivana Vasil’evicˇa, gosudarja i samoderzˇca vseja Rusi, novago carja Konstjantina novomu gradu Konstjantinu – Moskveˇ…; Übersetzung: Katharina Heyden, Die ‚Erzählung des Aphroditian‘. Thema und Variationen einer Legende im Spannungsfeld von Christentum und Heidentum (Studien und Texte zu Antike und Christentum 53), Tübingen 2009, 45f., mit Anm. 102. 5 Vgl. Marshall Poe, Moscow, the Third Rome. The Origins and Transformations of a ‚Pivotal Moment‘, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge 49 (2001) 3, 412–429, hier 414, mit entsprechenden Belegstellen. 6 Mit Poe 2001, 414, lässt sich das entsprechende Signifikat dieser Vergleiche als „great Christian leader“ fassen. In eine ähnliche Richtung weist zudem der Vergleich Ol’gas, der ersten Angehörigen des Kiever Fürstenhauses, die sich taufen ließ, mit Helena, der Mutter Konstantins, vgl. Peter Nitsche, Translatio imperii? Beobachtungen zum historischen Selbstverständnis im Moskauer Zartum um die Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge 35 (1987) 3, 321–338, bes. 329–331.

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Verantwortung zu, in Erwartung des baldigen Weltendes für den Schutz und das Wohl der Christenheit zu sorgen.7 Im Zusammenhang dieser Analogie wird auch Moskau erstmalig in der russischen Literatur als ‚neues Konstantinopel‘ bezeichnet.8 Die eschatologisch begründete Gleichsetzung der Kapitale mit der heiligen Stadt Konstantins, die ihrerseits als ‚Neues Rom‘ gefeiert worden war, ist dabei stets als ‚Vorläufer‘ eines Translationsgedankens verstanden worden, der seinen wohl bekanntesten Ausdruck in einer Reihe von Sendschreiben gefunden hat, die gemeinhin dem zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Kloster Eleazar bei Pskov wirkenden starec (Mönch) Filofej zugeschrieben wird.9 In einem Brief an Michail Munechin, den Sekretär Vasilijs III. Ivanovicˇ (reg. 1505–1533), Sohn und Nachfolger Ivans III., lässt sich dieser Gedanke in Gestalt einer prägnanten Formel greifen:10 „Denn wisse, du Christus Liebender und Gott Liebender [gemeint ist Vasilij III.]: Alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen übergegangen in das Eine Reich: das ist das Russische Reich. Denn zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.“11

7 Vgl. Russkaja Istoricˇeskaja Biblioteka VI (1880), 798–800: I byst’, po prechozˇdenı¯i let, proslavi Bog pravoslavnago pervago carja Konstantina […] i narecˇen byst’ raven Apostolom. […] i nyne zˇe, v poslednjaja sia leta, jakozˇe i v pervaja, proslavi Bog srodnika ego, izˇe v pravoslavı¯i prosı¯javsˇago, blagovernago i christoljubivago velikogo knjazja Ivana Vasil’evicˇa, gosudarja i samoderzˇca vseja Rusi, novago carja Konstantina novomu gradu Konstantinu – Moskve, i vsej russkoj zemli i inym mnogym zemljam gosudarja, jakozˇe i Gospod’ recˇe […]. 8 Vgl. Ihor Sˇevcˇenko, Byzantium and the East Slavs after 1453, in: Ders., Ukraine Between East and West. Essays on Cultural History to the Early Eighteenth Century (The Peter Jacyk Centre for Ukrainian Historical Research. Monograph Series 1), Edmonton/Toronto 1996, 92–111, hier 96: „He called Ivan the new Constantine, which was routine, and Moscow the new Constantinople, which was said for the first time in recorded Russian history.“ 9 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Filofej und den ihm zugeschriebenen Schriften ist mittlerweile als eigenständiges Forschungsfeld zu betrachten, sodass an dieser Stelle ein Hinweis auf einige maßgebliche Titel genügen soll: Vasilij Malinin, Starec Eleazarova monastyrja Filofej i ego poslanija, Kiev 1901; Poslanija starca Filofeja. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von V. V. Kolesov, in: D. S. Lichacˇev/L. A. Dmitrieva/A. A. Alekseeva (edd.), Biblioteka literatury drevnej Rusi, Tom 9, Konec XV – pervaja polovina XVI veka, S.-Peterburg 2000, 290–305; Kämpfer 1970; Ders., ‚Sendschreiben Filofejs‘ oder ‚Filofej-Zyklus‘? Argumente gegen die Ergebnisse Alexander Goldbergs in: Canadian-American Slavic Studies 13 (1979), 126–138 in Auseinandersetzung mit: Aleksandr Gol’dberg, Tri „poslanija Filofeja“. Opyt tekstologicˇeskogo analiza, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 29 (1974), 68–97. Siehe auch Nina Sinicyna, Tretij Rim. Istoki i e˙voljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XV–XVI vv.), Moskva 1998, 13–57. 10 Zur näheren Einordnung dieses Briefes siehe Kämpfer 1970, 2–5. 11 Kolesov 2000, 298: Da veˇsi, christoljubcˇe i bogoljubcˇe, jako vsja christianskaja carstva priidosˇa v konec i snidosˇasja vo edino carstvo nasˇego gosudarja, po prorocˇeskim knigam, to est’ Romeiskoe carstvo: Dva ubo Rima padosˇa, a tretii stoit, a cˇetvertomu ne byti; Übersetzung: Hildegard Schaeder, Moskau – das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, 2. Auflage, Sonderausgabe, Darmstadt 1957, 204 (Anlage I).

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Nimmt man weitere Passagen aus den Sendschreiben hinzu, gewinnt das Gesamtbild an Kontur: In Anlehnung an die bis auf das Buch Daniel (2; 7) zurückgehende mittelalterliche Vorstellung von der Abfolge der Weltreiche entwickelt Filofej die Idee einer translatio imperii romani: Drei Reiche, allesamt Verkörperungen Roms, lösen einander ab, ehe ein viertes, ewiges Reich in der Wiederkunft Christi seinen Anfang nimmt.12 Die Zuordnung Moskaus als ‚drittes Rom‘ geht dabei von einem weltgeschichtlichen Ereignis aus, dessen Nachwirkungen zu Lebzeiten Filofejs noch deutlich spürbar waren: die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453. Mit dem Fall dieses religiösen wie politischen Zentrums der Orthodoxie sah man sich in Russland unweigerlich mit der Frage konfrontiert, welche Rolle Moskau angesichts der neuen Verhältnisse innerhalb der Ökumene zufiel. Unter dem Eindruck der Endzeiterwartung postuliert Filofej in seinen Sendschreiben dementsprechend einen neuen ‚Führungsanspruch‘, der im oben genannten Translationsgedanken seinen Ursprung hat.13 Gemäß dieser Vorstellung war das Alte Rom durch die Häresie des Apollinarismus gefallen, das Neue Rom, Konstantinopel, durch seinen Beitritt zur Kirchenunion mit den Lateinern.14 Nun war die Zeit Moskaus gekommen, als Drittes und (im irdischen Saeculum) Letztes Rom. Auch wenn Filofejs Ausführungen von inneren Widersprüchen nicht frei sind und insgesamt doch eher vage bleiben – möglicherweise lag gerade hierin der Grund für ihre Popularität in späteren Zeiten –, ist ihr eschatologisch begründeter, paränetischer Impetus klar erkennbar. Wie schon Zosima in der Vorrede 12 Vgl. Nitsche 1987; Edgar hösch, Die Idee der Translatio Imperii im Moskauer Russland, in: Europäische Geschichte Online, Mainz 03. 12. 2010, in: http://www.ieg-ego.eu/hoesche-2010 -de (10. 10. 2019). Siehe auch William Hammer, The Concept of the New or Second Rome in the Middle Ages, in: Speculum 19,1 (1944), 50–62; wieder in: Bernhard Kytzler (ed.), Rom als Idee (Wege der Forschung 656), Darmstadt 1993, 138–157. 13 In der Forschung ist dieses Postulat wiederholt politisch als universal gedachter Herrschaftsanspruch Moskaus gedeutet worden, vgl. Hugo Rahner, Vom ersten bis zum dritten Rom, Innsbruck 1949/1950; wieder in: Kytzler 1993, 188–204; Wilhelm Lettenbauer, Moskau – das dritte Rom. Zur Geschichte einer politischen Theorie, München 1961; Herbert Leiner, …und das dritte Rom wird Moskau sein. Anspruch und Realität des russischen Imperiums von Iwan dem Schrecklichen bis zur Gegenwart, Bonn 1981; Illya Kozyrev, Moskau – das dritte Rom. Eine politische Theorie mit ihren Auswirkungen auf die Identität der Russen und der russischen Politik, Göttingen 2011. Siehe hierzu weiterhin Dimitri Strémooukhoff, Moscow the Third Rome. Sources of the Doctrine, in: Speculum 28 (1953) 1, 84–101; sowie Peter Nitsche, Moskau – das dritte Rom?, in: Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht (13. Februar bis 31. Mai 2004), Katalog der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, München 2004, 101–109. 14 […] vo istinu oni eretiki, po svoemu zˇelaniju otpavsˇie ot pravoslavnoj christianskoj very […]. V eres’ Apollinarija vpali, prel’sˇcˇennye Karlom-carem i papoj Formozom“. Vgl. Poslanie o neblagoprijatnych dnjach i cˇasach, in: Dmitrij S. Lichacˇev u. a. (edd.), Biblioteka literatury drevnej Rusi, tom 9, S.-Peterburg 2000, 295. Vgl. Robert L. Wolff, The Three Romes. The Migration of an Ideology and the Making of an Autocrat, in: Daedalus 88,2 (1959), 291–311.

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zu seiner Paschalija nimmt auch der Mönch aus Pskov mit Vasilij III. den russischen Regenten in die Pflicht, sich der heilsgeschichtlichen Bedeutung seiner Herrschaft bewusst zu werden und dementsprechend zu handeln. Im Rahmen der (Selbst-)Bestimmung des Moskauer Reiches als letzter Hort des wahren Glaubens bildeten Konstantin als erster rechtgläubiger Kaiser sowie das von ihm gegründete Konstantinopel als heilige Stadt wichtige Bezugspunkte für das neue russische Selbstverständnis.15 Aktuell erleben wir, dass sich auf diese alten Denkfiguren auch Ausprägungen einer neobyzantinischen Staatsdoktrin stützen, die teilweise mit einer geradezu apokalyptischen Selbstwahrnehmung verknüpft wird: Russland als letztes Bollwerk des Heiligen (das katechôn aus dem zweiten Brief an die Thessalonicher).16 Derartige Konstruktionen leben von Abstraktionen und geistigen Eindeutigkeiten, die nur deshalb Anspruch auf reale historische Konkretisierung erheben können, weil sie sich auf ebenso eindeutige historische Ursprünge berufen. Die Frage ist folglich in vielerlei Hinsicht berechtigt: Was bleibt von Konstantins Neuem (und erstmals christlichem) Rom bei umgekehrter Perspektive, wenn wir also von den Verhältnissen im frühen vierten Jahrhundert ausgehen? *** Das traditionelle und vielgefeierte Gründungsdatum des historischen Konstantinopel ist der 11. Mai 330 n. Chr.17 Aber schon im Herbst 324 traf Kaiser Konstantin I. (reg. 306–337), der später der Große genannt wurde, die Entscheidung, der uralten, am Bosporus gelegenen Stadt Byzantion mit ‚Konstantinsstadt‘ (Κωνσταντινούπολις/Konstantinoupolis) einen neuen Namen zu geben, sie zu 15 So gesteht Filofej dem Vorbild Konstantins gegenüber Vasilij III. nicht zuletzt eine autoritative Bedeutung zu: Ne prestupaj, Car’, zaveta, cˇto polozˇili tvoi predki – velikij Konstantin, i blazˇennyj svjatoj Vladimir…, i drugie blazˇennye svjatye, togo zˇe kornja, cˇto i ty. Vgl. Poslanie velikomu knjazju Vasiliju, v kotorom ob ispravlenii krestnogo znamenija i o sodomskom blude, in: Lichacˇev 2000, 303. „Übertritt nicht, o Zar, die Gebote, die deine Vorfahren aufgestellt haben, der große Konstantin […] und die übrigen gesegneten Heiligen, deren Wurzel bis zu Dir reicht.“ Übersetzung: Schaeder 1957, 207 (Anlage II). Im Rahmen seiner chronologischen Darstellung lässt seinerseits Zosima das Narrativ der (gottgewollten) christlichen Gründung Konstantinopels durch den römischen Kaiser als zentralen Ausgangpunkt seiner Berufung auf Konstantin im Kontext der eschatologisch gedeuteten Weltgeschichte erkennen: I Bozˇeju voleju sotvori grad vo imja svoe i narecˇe i grad Konstjantin, ezˇe est’ Car’grad, i narecˇesja Novyj Rim. Vgl. 1492 g. Mitropolita Zosimy izvesˇcˇenı¯e o paschalı¯i na os’muju tysjacˇu let, in: Russkaja Istoricˇeskaja Biblioteka VI, 798. „Und durch Gottes Willen schuf er [Konstantin] eine Stadt mit seinem Namen und nannte sie Stadt Konstantins, das ist Zárgrad, und wurde Neues Rom […] genannt.“ Übersetzung: Kämpfer 1970, 40. 16 Vgl. Michael Hagemeister, ‚Bereit für die Endzeit.‘ Neobyzantinismus im postsowjetischen Russland, in: Osteuropa 11–12 (2016), 15–42. 17 Grundlegend Theodor Preger, Das Gründungsdatum von Konstantinopel, in: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 36 (1901), 336–342 (= Preger 1901a).

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privilegieren und in spektakulärer Weise auszubauen.18 Damit war der Grundstein zu einer Erfolgsgeschichte gelegt, die nicht nur mehr als ein Jahrtausend lang ein ganzes (byzantinisches) Reich prägte, sondern, wie einleitend ausgeführt wurde, darüber hinaus auch wichtigen Einfluss auf das Selbstverständnis eines späteren und sich als ‚sukzessiv‘ verstehenden Imperiums hatte. Aufgabe der folgenden Überlegungen ist es, von dieser gewaltigen ‚Karriere‘ Konstantinopels abzusehen und vom Ursprung her zu fragen: Gründete Konstantin überhaupt ein Neues Rom, d. h. eine mit der alten Kapitale rivalisierende Hauptstadt, und konzipierte er sie als christliche Stadt? Beide Fragen sind tatsächlich negativ zu beantworten, was eine alternative Interpretation der Gründung notwendig macht, die im letzten Teil dieser Darstellung vorgestellt werden soll.

1.

Konstantinopel als neue Hauptstadt (‚Neues Rom‘)?

Die Alternative zur Gründung als neue Hauptstadt ist schnell zu finden. Denn der spätantike Kaiser war äußerst mobil; er verfügte über eine ganze Reihe von Residenzen,19 und Konstantinopel war vielleicht nur in diesem Sinne als neue ‚Stadt des Kaisers‘ gedacht. Zum östlichen Pendant Roms wäre die Stadt dann erst von Konstantins Nachfolgern gemacht worden.20 Konstantin suchte offenbar, nachdem er am 18. September seinen Gegner, den Kaiser des Ostens, Lici18 Dass er schon 324 Byzantion umbenannte und seinen Entschluss verkündete, damit eine Neugründung zu verbinden, zeigen nicht nur die Münzen dieses Jahres, sondern auch eine Rede des Themistios, in der der Anfang von Konstantinopel in dieses Jahr datiert wird (Oratio 4,18: 58b; Übersetzung Leppin/Portmann, 94). Ab 324 tragen außerdem Münzen den Stempel der Prägestätte Konstantinopel, der M(oneta) Const(antinopolis), siehe Gilbert Dagron, Naissance d’une capital. Constantinople et ses institutions de 330 à 451, Paris 1974, 32; ab 325 taucht der Name in Kaisergesetzen auf, siehe Otto Seeck, Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n. Chr. Vorarbeit zu einer Prosopographie der christlichen Kaiserzeit, Stuttgart 1919, 2. Auflage, Frankfurt/M. 1984, 175. Zur verwirrten Chronologie von Sozomenos, Kirchengeschichte 2,3,2 siehe Bruno Bleckmann, Constantin und die Donaubarbaren. Ideologische Auseinandersetzungen um die Sieghaftigkeit Constantins, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 38 (1995), 38–66. 19 Noël Duval, Les résidences impériales: leur rapport avec les problèmes de légitimité, les partages de l’Empire et la chronologie des combinaisons dynastiques, in: François Paschoud/Joachim Szidat (edd.), Usurpationen in der Spätantike. Akten des Kolloquiums ‚Staatsstreich und Staatlichkeit‘ (Solothurn/Bern 1996) (Historia Einzelschriften 111), Stuttgart 1997, 127–153. 20 Emanuel Mayer, Rom ist dort, wo der Kaiser ist. Untersuchungen zu den Staatsdenkmälern des dezentralisierten Reiches von Diocletian bis zu Theodosius II. (Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 53), Mainz 2002, 91–93 (mit weiterer Literatur), und Albrecht Berger, Konstantinopel. Geschichte – Topographie – Religion (Standorte in Antike und Christentum 3), Stuttgart 2011, 8.

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nius, bei Chrysopolis (heute ein Stadtteil von Istanbul), auf der Byzanz gegenüberliegenden Seite des Bosporus entscheidend besiegt21 und damit den Orient gewonnen hatte, eine Residenz in dieser Region, die in besonderer Weise auf seine neue Herrschaft ausgerichtet werden konnte. Das nahe gelegene Nikomedien (heute Izmit)22 kam dafür kaum infrage; das ergab sich aus der engen Verbindung, die Kaiser Diokletian mit dieser bithynischen Metropole am Marmarameer geknüpft hatte, in deren Nähe er 284 zum Kaiser erhoben worden war und die er zu ‚seiner Stadt‘ gemacht hatte. Von hier aus hatte er auch seine Religionspolitik (inklusive der Christenverfolgungen) ins Werk gesetzt, und da Konstantin damit und mit vielen anderen Traditionen der ‚Viererherrschaft‘ (Tetrarchie) des Diokletian gebrochen hatte, lag es nahe, dass Nikomedien dies auf lange Sicht zu spüren bekommen würde. Tatsächlich verlor die Stadt nach der Gründung Konstantinopels unaufhaltsam an Bedeutung, auch wenn der Kaiser sie keineswegs systematisch gemieden hat.23 Für Byzanz dagegen sprach (von ideologischen Gründen abgesehen) vor allem die günstige, den Bosporus beherrschende strategische Lage auf einer Landzunge zwischen dem Marmarameer und einer tief eingeschnittenen Flussmündung in den Bosporus. Sie war schon von Kaiser Septimius Severus am Ende des zweiten Jahrhunderts erkannt und honoriert worden.24 Aber diese Vorzüge können nicht die Klassifizierung Konstantinopels als neue Hauptstadt begründen. Gibt es entsprechende Textzeugnisse? Konstantins Förderung der Stadt wird zwar in mehreren Quellen als der Versuch bezeichnet, ihre Bedeutung der Roms gleichzumachen (wie wir gleich sehen werden), aber das sollte nicht überbewertet werden. Denn das Ziel, in die Nähe Roms zu kommen, war schon öfter und für verschiedene Städte formuliert worden, etwa für Dio21 Origo Constantini (= Anonymus Valesianus I) 27. Viel verlustreicher für seine römischen Soldaten war allerdings Licinius’ Niederlage bei Adrianopel zweieinhalb Monate zuvor gewesen. 22 Turgut H. Zeyrek, Nikomedeia: (IÖ 264/263 – IS 358). Arkeolojik açıdan genel bir deg˘erlendirme, Istanbul 2005. 23 Hier feierte er z. B. 325 sein 20-jähriges Regierungsjubiläum. 24 Zunächst hatte er Stadt und Mauern allerdings, weil die Bewohner den Usurpator Pescennius Niger unterstützt hatten, drei Jahre belagern und 196 zerstören lassen. Die Neugründung als colonia (mit dem Beinamen Antoninia oder Antoniniana, siehe Hesychios von Milet, 38) könnte anlässlich der Erhebung Caracallas zum Mitherrscher seines Vaters erfolgt sein (vgl. Historia Augusta, Das Leben Caracallas 1,7). Zum dann folgenden Wiederaufbau siehe Dagron 1974, 15–19; Sarah Bassett, The Topography of Triumph in Late-Antique Constantinople, in: Fabian Goldbeck/Johannes Wienand (edd.), Der römische Triumph in Prinzipat und Spätantike, Berlin/Boston 2017, 511–554, hier 513. Dass um 240 die Mauern immer noch nicht wiederaufgebaut waren (Herodian 3,1,7), erlaubt nicht, das severische Konstantinopel insgesamt zu einer Legende zu machen (so Timothy Barnes, Constantine. Dynasty, Religion and Power in the Later Roman Empire (Blackwell Ancient Lives), Chichester 2011, 112f., der die Stadt erst durch Licinius wieder wirklich auferstehen lässt).

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kletians Nikomedien oder für Konstantins Trier,25 ohne dass diesen Lobsprüchen mehr zugrunde lag als eine allgemeine kaiserliche Förderung. Das aber war bei Konstantinopel tatsächlich anders. Hier traf der Kaiser in den folgenden Jahren auch entsprechende Entscheidungen, die die Stadt in einmaliger Weise aus allen anderen (von Rom abgesehen) heraushoben. Diese Privilegierung ist nicht nur faktisch erfolgt, sondern expressis verbis und mit öffentlicher Beurkundung. So jedenfalls sollten wir den Kirchenhistoriker Sokrates Scholastikos (erste Hälfte des fünften Jahrhunderts) verstehen, der von einer entsprechenden Inschrift berichtet, die nach dem Gründungsakt öffentlich aufgestellt wurde: „Durch ein Gesetz legte er fest, dass die Stadt ‚zweites Rom‘ (deutera Rômê) genannt wurde; dieses Gesetz wurde in eine Steinstele eingeschrieben und öffentlich neben der Reiterstatue des Kaisers aufgestellt,“ auf einem Platz, den Sokrates den ‚Feldherrenplatz‘ (Strategion) nennt.26 Spricht gegen Sokrates’ Glaubwürdigkeit, dass dieses Gesetz sonst nirgends überliefert ist, obwohl es doch genug Interessenten gegeben haben dürfte, die es hätten verbreiten können? Die Frage ist, was hier konkret mit ‚Gesetz‘ gemeint ist. Sokrates dürfte die präzise Nachricht, dass eine Inschrift auf dem Strategion die Bezeichnung ‚Zweites Rom‘ mit der Autorität des Herrschers versehen hatte, kaum erfunden haben. Sie wird auch durch Hesychios von Milet, einen Geschichtsschreiber des sechsten Jahrhunderts, bestätigt: „Dabei verlieh Konstantin ihr [der Stadt Konstantinopel] auch alle Rechte, mit dem älteren Rom zu rivalisieren, wie er auf dem Forum, das Strategion heißt […] auf einer steinernen Tafel niederschrieb.“27 Obwohl des Kaisers Wort gleichbedeutend mit dem Gesetz war, ist Sokrates‘ Charakterisierung missverständlich; sie basiert aber auf einer öffentlichen Bestätigung eines ehrenvollen – wenn auch nicht zum Namen gehörenden – Titels durch den Kaiser: Konstantinopel war dadurch tatsächlich auf rhetorischer Ebene zur Zweiten Stadt des Reiches geworden.28 Man sollte allerdings nicht die faktische Abstufung übersehen, an der diese ehrenvolle Klassifizierung nichts änderte, die ja auch gar keine Gleichrangigkeit behauptete. Die Stadt wurde von Konstantin mitnichten als ‚Neues Rom‘ geehrt, 25 Nikomedien: Laktanz, Die Todesarten der Verfolger 7,10; Trier: Panegyrici Latini 6(7),22,4 (von 310 n. Chr.). Zeugnisse aus dem fünften Jh., die, als Konstantinopel tatsächlich die Hauptstadt des Ostens geworden war, die Situation zurückprojizieren, können hier beiseite bleiben (z. B. Sozomenos, Kirchengeschichte 2,3,5). 26 Sokrates, Kirchengeschichte 1,16,1. 27 Hesychios von Milet 39. 28 Dem entsprechen die Bilder der hier geprägten Münzen mit Darstellungen der personifizierten Städte Rom und Konstantinopel, siehe Gudrun Bühl, Constantinopolis und Roma. Stadtpersonifikationen der Spätantike (Akanthus Crescens 3), Kilchberg/Zürich 1995, 45–54; vgl. auch Noel Lenski, Constantine and the Tyche of Constantinople, in: Johannes Wienand (ed.), Contested Monarchy. Integrating the Roman Empire in the fourth century AD (Oxford Studies in Late Antiquity), Oxford 2015, 330–352, hier 338f.

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womit eine Art Überbietung des Alten ausgedrückt oder zumindest ermöglicht worden wäre.29 Das ‚Zweite Rom‘ – deutera Rômê, lateinisch altera Roma, wie Optatianus Porfyrius, ein christlicher Hofdichter Konstantins des Großen, schon 324 oder 325 formulierte –,30 war gegenüber dem ‚Ersten‘ erkennbar zweitrangig. Daran änderte auch die Bezeichnung soror Romae nichts, die derselbe Autor in einem anderen Gedicht gebraucht; denn Konstantinopel war in diesem Bild zweifellos die kleine und jüngere Schwester oder, wie Augustinus es noch im frühen fünften Jahrhundert sagte, „gleichsam Roms Tochter“. Hintergrund dieser Vergleiche ist einerseits eine klare Rangordnung, andererseits aber auch der Anspruch Konstantinopels, in irgendeiner Form Mitherrscherin Roms zu sein, herausgehoben über alle anderen Städte des Reiches.31 Das ‚Neue Rom‘ taucht in unseren Quellen erst im Jahre 357 auf, 20 Jahre nach Konstantins Tod, als der Redner Themistios im Auftrag des Senats von Konstantinopel vor Kaiser Constantius II. (reg. 337–361) eine Rede hielt, in der das ‚Neue Rom‘ dem Alten gegenübergestellt wurde. Dabei ist das ‚Alte Rom‘ hier jedoch (noch) keineswegs das geschwächte oder gar vergangene; es heißt vielmehr, dass Konstantinopel sich keineswegs schäme „den zweiten Rang nach dem ersten Rom einzunehmen“, „der Königin der Städte“.32 29 Vom ‚Neuen Rom‘ Konstantins sprechen allerdings z. B. Karen Piepenbrink, Die Sieben Hügel am Goldenen Horn. Konstantin der Große, in: Kai Brodersen (ed.), Höhepunkte der Antike, Darmstadt 2006, 202–215, hier 210; Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian, 284–565 n. Chr., 2., vollständig bearbeitete und erweiterte Auflage, München 2007, 96; Brian Croke, Reinventing Constantinople. Theodosius I’s Imprint on the Imperial City, in: Scott McGill/Cristiana Sogno/Edward Q (edd.), From the Tetrachs to the Theodosians. Later Roman History and Culture, 284–450 (Yale Classical Studies 34), Cambridge 2010, 241–264, hier 241; Bassett 2016, 517. 30 Carmen 4,5f. Der Autor gewann 325 den Kaiser dafür, ihn aus der Verbannung zurückzuholen. Er dürfte sehr genau darauf geachtet haben, wie Konstantin seine Städtegründung verstanden wissen wollte; vgl. Meike Rühl, Panegyrik im Quadrat. Optatian und die intermedialen Tendenzen des spätantiken Herrscherbildes, in: Millennium 3 (2006), 75–101. Altera Roma sollte nicht mit „das andere Rom“ übersetzt werden (so z. B. Rolf Köhn, Konstantinopel. Roms Tochter oder Schwester? Zur Selbst- und Fremddeutung der Stadt Konstantins des Großen, in: Unikate. Berichte aus Forschung und Lehre 34 (2009), 34–45, hier 36); alter ist die übliche Form der zweiten Ordinalzahl und ersetzt secundus geradezu zwingend, wenn es (wie hier der Fall) nur um zwei Einheiten geht. 31 Optatianus Porfyrius, Carmen 18,33–35; zur Datierung (wohl ungefähr zeitgleich mit Carmen 4) siehe Polara II, 103. Augustinus spricht in De civitate Dei 5,25 von der Gründung Konstantinopels als einer Stadt, die, wie eine Tochter Roms, Anteil an der römischen Herrschaft hat. Den Aspekt der Herrschaft Roms – wie wenig konkret sie auch war – betont auch Sokrates an der genannten Stelle 1,16 (Romê basileuousa). 32 Themistios, oratio 3,3f., 41CD und 42C; vgl. dazu Gilbert Dagron, L’Empire romain d’Orient au Ive siècle et les traditions politique de l’hellénisme. Le témoignage de Thémistios, Paris 1968, 205–212. Dass die Rede für einen Vortrag in Rom gedacht war, muss dabei natürlich bedacht werden. Noch 379 redete Themistios (in Thessaloniki) aber nicht anders (siehe unten Anm. 34).

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Auch Julian (der spätere Nachfolger des Constantius) scheute sich nicht, als er 355 in Konstantinopel eine Rede auf den Kaiser hielt, dessen Residenzstadt „nach Rom den zweiten Rang einnehmen“ zu lassen, nicht ohne allerdings hinzuzufügen, sie sei Dank der Förderung durch den gegenwärtigen Kaiser zur größten aller übrigen Städte des Reiches geworden. Mit Blick auf Antiochia, Alexandria und Karthago war das zwar eine panegyrische Hyperbel, es wäre aber absurd gewesen, sie so weit zu steigern, dass der Vorrang Roms infrage stand.33 Auch in der frühen Herrschaftszeit des 379 auf den Thron gekommenen Kaisers Theodosius († 395) war der politische, urbanistische und kulturelle Abstand des ‚Großen Rom‘ zur Stadt am Bosporus, in der die Kaiser Jahr für Jahr immer nur kurz ‚vorbeischauten‘, noch immer nicht zu leugnen.34 Dieser Kaiser aber, der sich 380 taufen ließ, Konstantinopel zu seiner ständigen Residenz machte, den größten Teil seiner Regierungszeit hier verbrachte und das Stadtgebiet noch einmal um fast das Doppelte erweiterte (es umfasste nun ca. 13 km²), hat die entscheidenden Impulse für die weitere Entwicklung gesetzt. Erst unter ihm gewann die hochfliegende Rhetorik früherer Jahrzehnte Realität.35 Nach seinem Tod wurde die Stadt durch die nun dauerhafte Trennung der beiden Reichshälften (auch wenn diese nach wie vor ein gemeinsames Ganzes bildeten) tatsächlich zur zentralen Kaiserresidenz des Ostens, während sich das Westreich langsam destabilisierte.36 Unter Kaiser Justinian (527–565) war es dann erstmals möglich (und auch sachlich angemessen), den städtebaulichen Vorrang Konstantinopels vor der alten Reichshauptstadt zu verkünden.37 33 Julian, oratio 1, p. 41 A. Sozomenos dagegen konnte im fünften Jh. behaupten, schon unter Konstantin sei Konstantinopel an Reichtum und Einwohnern Rom überlegen gewesen (Kirchengeschichte 2,3,6). 34 Themistios, oratio 14,5, 183a–184a (gehalten 379 in Thessaloniki). 35 Cyril Mango, Le développement urbain de Constantinopel (IVe–VIIe siècles) (Travaux et Mémoires du Centre de Recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance, Collège de France, Monographies 2), Paris 1985, 23–36; Croke 2010; Rene Pfeilschifter, Der Kaiser in Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 44), Berlin/ Boston 2013, 41–44. Aus Theodosius’ Zeit stammt – bezogen auf den kirchlichen Bereich – die erste Bezeugung des Titels ‚Neues Rom‘ (siehe Heinrich Chantraine, Konstantinopel – vom zweiten Rom zum Neuen Rom, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), 3–15, hier 13f.); aus seiner Zeit stammt auch das dichterische Städtelob der Stadt des Bischofs und Literaten Gregor von Nazianz (Übersetzung bei Hans-Georg Beck, Konstantinopel – das neue Rom, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 71 (1964), 166–174, hier 172; wieder in: Kytzler 1993, 127–137, hier 135), der sie als „junges“ und alle anderen Städte überragendes Rom preist, ohne auf die alte Hauptstadt überhaupt Bezug zu nehmen. 36 Vgl. David Potter, The Unity of the Roman Empire, in: McGill/Sogno/Watts 2010, 13–32. 37 Zum berühmten Preisgedicht des Paulos Silentiarios, eines Beamten und Dichters im Konstantinopel des sechsten Jhs., anlässlich der Einweihung der gerade restaurierten Hagia Sophia im Jahr 563, Maria Luigia Fobelli, Un tempio per Giustiniano. Santa Sofia di Costantinopoli e la Descrizione di Paolo Silenziario. Presentazione di Maria Andaloro, Rom 2005,

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Auch wenn die Rangordnung zwischen Rom und Konstantinopel also weder von Konstantin noch von seinen Söhnen noch überhaupt im vierten Jahrhundert in Frage gestellt wurde, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass hier am Goldenen Horn mehr als nur eine weitere Kaiserresidenz entstehen sollte. Dies zeigten nicht nur der neue, direkt mit dem Kaiser verbundene, „ewige“ Name38 und die auf Rom bezogenen ehrenden Bezeichnungen: nur Konstantinopel galt als Roms Mitherrscherin. Es ließ sich auch an den getroffenen Maßnahmen ablesen, die alles übertrafen, was Kaiser sonst für ihre Residenzstädte taten. In keinem dieser Fälle haben wir eine so gewaltige Erweiterung des Stadtgebietes. Konstantinopels ummauerte Fläche wurde dagegen verdreifacht, indem man die Befestigungen auf der Halbinsel ca. drei Kilometer weiter nach Westen, in Richtung thrakisches Festland, verschob.39 Damit war ein städtisches Territorium geschaffen, das zunächst gar nicht ausgefüllt werden konnte, und nur mit Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten einer neuen Metropole Sinn ergab. Dass in Konstantinopel zuerst die Mauern da waren, dann die Häuser und dann erst die Bewohner kamen, war ebenso exzeptionell wie dass Letztere auch in der Elite Roms gesucht (und gefunden) wurden.40 Nur für Konstantinopel hören wir, dass die Stadt von Anfang an der Provinzverwaltung entzogen war, wenn hier auch erst ab 359 ein

(mit italienischer Übersetzung) Peter N. Bell, Three Political Voices from the Age of Justinian. Agapetus, Advice to the Emperor – Dialogue on Political Science – Paul the Silentiary, Description of Hagia Sophia (Translated Texts for Historians 52), Liverpool 2009 (kommentierte englische Übersetzung). 38 Konstantin sprach selbst vom „ewigen Namen“ (aeternum nomen), mit dem er auf göttliches Geheiß (iubente deo) die Stadt beschenkt habe: Codex Theodosianus 13,5,7 von 334 n. Chr. (missdeutet von Paul Speck, Urbs, quam Deo donavimus. Konstantins des Großen Konzept für Konstantinopel, in: Boreas. Münstersche Beiträge zur Archäologie 18 (1995), 143–173, hier 148f., der deo als Dativ versteht). 39 Zur Vergrößerung des Stadtgebietes siehe Raymond Janin, Constantinople byzantine. Développement urbain et répertoire topographique (Archives de l’Orient chrétien 4a), 2. Auflage, Paris 1964, 26–31 (die Zahlenangabe stammt aus Zosimos, Neue Geschichte 2,30,4). Die Entscheidung dürfte nicht sofort gefallen sein, denn die Mauern der Stadt hatten infolge der Eroberung durch Konstantins Truppen sicher gelitten und wurden zunächst restauriert; die neuen Mauern wurden wohl erst 328 grundgelegt (nach 324 das zweite Gründungsdatum), siehe schon Preger 1901a; Eugenio La Rocca, La fondazione di Costantinopoli, in: Giorgio Bonamente/Franca Fusco (edd.), Costantino il Grande. Dall’Antichità all’Umanesimo. Colloquio sul Cristianesimo nel mondo antico (Macerata 18–20 dicembre1990), 2 Bde., Bd. 2, Macerata 1993, 553–583, hier 565f.; Albrecht Berger, Konstantinopel (stadtgeschichtlich), in: Reallexikon für Antike und Christentum 21 (2006), 435–483, hier 441f.; die Arbeiten scheinen erst unter Konstantins Sohn Constantius II. abgeschlossen worden sein, siehe Julian, oratio 1, p. 41 A. 40 Vgl. Sozomenos, Kirchengeschichte 2,3,4 und Hesychios von Milet 41 zu den teuren Anreizen für eine Übersiedlung.

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senatorischer praefectus urbi bezeugt ist (wie er in Rom amtierte); zuvor regierte ein Prokonsul, der aber in seinen Funktionen einem Stadtpräfekten entsprach.41 Hinzukamen weitere einzigartige Maßnahmen. Die sogenannte (anonym überlieferte) Origo Constantini, ein wohl bald nach 363 verfasster historischer Rückblick auf den Kaiser, überliefert: „Constantin […] schmückte die Stadt prächtig aus […] und trachtete, sie Rom gleichzustellen. Darauf holte er aus allen Gegenden Bürger und schenkte der Stadt so große Reichtümer, dass er dafür fast alle Schätze und kaiserlichen Einkünfte verbrauchte. Dort richtete er auch einen Senat zweiten Ranges ein, dessen Mitgliedern er den Titel Clari verlieh.“42

Offenkundig ging es bei diesem Gremium nicht nur um einen üblichen Stadtrat (der durchaus auch anderswo als ‚Senat‘ der Stadt bezeichnet wurde), sondern um einen Senat, der dem von Rom an die Seite gestellt wurde, zwar in zweitrangiger Position (secundi ordinis),43 aber zugleich oberhalb aller anderen Stadträte einzuordnen. Wenn Konstantin also seine neue Stadt an die Seite von Rom stellte (wenn auch nicht entfernt auf derselben Stufe), Rom aber unstrittig als caput mundi, Hauptstadt der Welt (im Sinn von: des Weltreiches) galt44 – was hindert uns daran, die Stadt am Bosporus als zweite Hauptstadt des Römischen Reiches anzusehen? Tatsächlich gibt es bei der Vorstellung von einer Hauptstadt des Reiches ein drohendes Missverständnis. 41 Dagron 1974, 215–226. Die Stadt gehörte also von Anfang an nur geographisch zu ihrer Provinz (‚Europa‘) bzw. zu der übergeordneten Provinzgruppe, der thrakischen Diözese (‚Diözese‘ war ursprünglich kein kirchlicher Begriff, sondern stammte aus der imperialen Verwaltung). Vgl. auch Codex Theodosianus 14,13,1 zum später verliehenen ‚Italischem Recht‘ (ius Italicum), das von Grundsteuern befreite. Zur staatlich unterstützten Lebensmittelversorgung Konstantinopels (vergleichbar der annona Roms) siehe Peter Herz, Studien zur römischen Wirtschaftsgesetzgebung. Die Lebensmittelversorgung (Historia Einzelschriften 55), Stuttgart 1988, 302–330; vgl. generell Johannes Koder, Lebensmittelversorgung in einer Großstadt. Konstantinopel, in: Falco Daim/Jörg Drauschke (edd.), Hinter den Mauern und auf dem offenen Land. Leben im Byzantinischen Reich (Byzanz zwischen Orient und Okzident 3), Mainz 2016, 31–44. 42 Kap. 30 (Übersetzung König): „Constantinus […] velut patriam cultu decoravit ingenti [sc. Constantinopolim] et Romae desideravit aequari: deinde quaesitis ei undique civibus divitias multas largitus est, ut prope in ea omnes regias facultates exhauriret. Ibi etiam senatum constituit secundi ordinis; claros vocavit.“ 43 Dies zeigt sich auch im mit der Senatorenwürde in Konstantinopel verbundenen Rangtitel Clarus; die Senatoren Roms durften sich mit dem Superlativ Clarissimus schmücken. Zur neuen senatorischen Ämterlaufbahn in Konstantinopel siehe Dagron 1974, 120–124. 44 Vgl. Febronia Elia, Sui privilegia urbis Constantinopolitanae, in: Dies. (ed.), Politica retorica e simbolismo del primato: Roma e Costantinopoli (secoli IV–VII). Atti del Convegno Internazionale (Catania, 4–7 ottobre 2001). Omaggio a Rosario Soraci, Catania 2002, 79–105, bes. 79–96, und Lucietta Di Paola, ‚Roma caput mundi‘ e ‚natalis scientiae sedes‘. Il recupero della centralità di Roma in epoca tardoantica, in: Elia 2002, 119–155.

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Richtig ist, dass Konstantin seit der Erringung der Kaiserherrschaft in Italien durch die Schlacht an der Milvischen Brücke (312) bis zum endgültigen Sieg über Licinius (324) faktisch ein Kaiser des Westens gewesen war, ohne allerdings den Anspruch auf Alleinherrschaft jemals aufzugeben. Im Osten hatte sich Licinius auf die drohende Konfrontation schließlich auch dadurch vorbereitet, dass er die Legitimität seines attackierenden Rivalen in Frage gestellt hatte.45 Nach der Ausschaltung seines Nebenbuhlers war Konstantin zum Herrscher auch des Ostens geworden, was durchaus nach einer symbolischen Repräsentation verlangte. Dennoch kann die Rede von einer östlichen Hauptstadt in die Irre führen, wenn damit nämlich aus moderner Perspektive die Vorstellung verbunden wird, hier sei – unabhängig vom Aufenthaltsort des Kaisers – das (oder das zweite) Zentrum des Reiches gewesen, hier seien die Führungskräfte konzentriert und die Entscheidungen gefällt worden u. s. w.46 Die römische Herrschaft war stattdessen eng an die Person des Kaisers gebunden, und da dieser (umgeben natürlich von seinen Funktionseliten), prinzipiell mobil war, galt dies auch – in Theorie und Praxis – für die Machtzentrale. Wenn man diese Form von – nicht ortsfester – Zentralität im Namen ‚Rom‘ symbolisiert sehen wollte, dann war auch Rom ‚mobil‘, wie es tatsächlich schon der Historiker Herodian um 240 formulierte: „Wo auch immer der Kaiser ist, dort ist Rom“.47 Vergleichbares galt natürlicherweise auch für das Zweite Rom. Seiner Hauptstadtqualität fehlte zunächst auch deshalb jede konkrete und machtpolitische Bedeutung, weil es in administrativer Hinsicht gar keine Reichshälfte gab, der Konstantinopel hätte übergeordnet sein können. Verwaltungstechnisch waren in konstantinischer Zeit die (nach der Auflösung der militärischen Prätorianergarde 312) als zivile Administratoren neugeschaffenen (weiterhin Präfekten genannten) Prätorianerchefs nicht – wie später im vierten Jahrhundert – an Territorien gebunden. Im Osten sind unter Konstantin zwei gleichzeitig fungierende Präfekten nachgewiesen, die aber (obwohl sie in Antiochia sowie in Konstantinopel residierten) keineswegs festen Verwaltungseinheiten mit entsprechenden Strukturen vorstanden.48 Im späteren vierten Jahrhundert hatten 45 Origo Constantini 14f., dazu Kommentar von König, 116–119. 46 Auch für sog. Provinzhauptstädte dürfen wie dies nicht ohne weiteres voraussetzen, siehe Rudolf Haensch, Capita provinciarum. Statthaltersitze und Provinzialverwaltung in der römischen Kaiserzeit (Kölner Forschungen 7), Mainz 1997. 47 Herodian 1,6,5. Dass in den ersten Jh. der Kaiserzeit die Stadt Rom und ihre Bürger ein besonderes Anrecht auf die Person des Kaisers hatten, das dieser nur um den Preis von Spannungen auf Dauer hintanstellen konnte, lag nicht an einer Hauptstadtfunktion, sondern an der engen Bindung, die schon der Prinzeps Augustus mit der plebs (als ihr Ernährer, Sachverwalter und Wohltäter, aber auch Kommunikationspartner) eingegangen war. Diese Bande hielten bis in die Zeit der Severer (193–235). 48 Vgl. Joachim Migl, Die Ordnung der Ämter. Prätorianerpräfektur und Vikariat in der Regionalverwaltung des Römischen Reiches von Konstantin bis zur Valentinianischen Dynastie

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sich solche regionalen Präfekturen zwar herausgebildet, und Konstantinopel war der Sitz des Orient-Präfekten geworden, in Konstantins Zeit war man aber von solchen Entwicklungen noch weit entfernt. Übrigens waren auch die Präfekturen keine unabhängigen Teilreiche, sondern nur Verwaltungseinheiten des einen Imperium Romanum. Von einer Reichsteilung kann man erst nach dem Tod des Theodosius (395) sprechen.49 Wenn wir von der neuen ‚Hauptstadt‘ Konstantins reden, sollte also klar sein, dass wir nicht über Administration und imperiale Zentralität, sondern über Prestige sprechen. Dieses bezog sich ohnehin nur auf den Osten, und es lebte vollständig vom Prestige des Gründers. Konstantins schützende (und Wohltaten spendende) Hand war der alleinige Grund, auf dem die Angleichung an Rom zunächst beruhte.50 Nach dem Tod des Herrschers würde sich zeigen, wer genug Autorität bei den Soldaten hatte, um als Nachfolger bestehen zu können, und wer Interesse daran haben würde, Konstantins Werk in ‚seiner Stadt‘ weiterzuführen.51 Das römische Kaisertum war keine Erbmonarchie, in der eine bevorzugte dynastische Stellung ohne weiteres auf den Thron geführt hätte,52 woraus sich dann die dauerhafte Prominenz Konstantinopels fast von selbst ergeben hätte. Die römischen Kaiser mussten immer um ihre Position kämpfen oder sie zumindest so ausfüllen, dass man eine erfolgreiche Verteidigung erwarten konnte. Gleichzeitig sollten solche

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(Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 623), Frankfurt/M. 1994; Michel Absil, Les préfets du prétoire d’Auguste à Commode. 2 avant Jésus-Christ – 192 après Jésus-Christ (De l’archéologie à l’histoire), Paris 1997; Altay Cos¸kun, Die Praefecti praesent(al)es und die Regionalisierung der Praetorianerpraefecturen im vierten Jahrhundert, in: Millennium 1 (2004), 279–328. Siehe oben Anm. 36. Der Rhetor Themistios formulierte das in seiner Oratio 3 (siehe oben Anm. 32) mit aller Klarheit (die dadurch verschärft war, dass er hier vor allem Constantius II. loben bzw. zu Wohltaten anspornen wollte, während ihm Konstantins Leistung dafür als negative Folie diente). Er hob hervor, dass die Stadt durch Konstantins Tod regelrecht verwaist wäre bzw. „vom Erzeuger verlassen“; auch hätte dieser seine Maßnahmen der Förderung (etwa die Einrichtung des Senats) nur mit dem eigenen Willen und ‚mit Zuckerbrot und Peitsche‘ durchgesetzt, weshalb die neue Pracht auch „trügerisch und vergänglich“ gewesen, nun aber „wahr und dauerhaft“ geworden sei (Oratio 3,13, p. 47d–48b). Themistios, Oratio 3,12, p. 47a zeigt, dass man nach Konstantins Tod in Konstantinopel in dieser Hinsicht sehr skeptisch war: „beinahe alle Menschen glaubten, mit dem Tod deines Vaters [Konstantin] sei die glückliche Zeit der Stadt zu Ende“. So kam es nicht, aber tatsächlich gab es einen Einschnitt. Konstantins Plan, einen dem Sonnengott geweiht Obelisken aus dem ägyptischen Theben nach Konstantinopel zu bringen, wurde bezeichnenderweise nicht umgesetzt; Constantius II. ließ ihn 357 stattdessen nach Rom bringen (Ammianus Marcellinus 17,4,1–13; Corpus Inscriptionum Latinarum VI 1163; Garth Fowden, Nicagoras of Athens and the Lateran Obelisk, in: Journal of Hellenic Studies 107 (1987), 51–57). Vgl. zuletzt Henning Börm, Born to Be Emperor. The Principle of Succession and the Roman Monarchy, in: Johannes Wienand (ed.), Contested Monarchy. Integrating the Roman Empire in the Fourth Century AD (Oxford Studies in Late Antiquity), Oxford 2015, 239–264.

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Kämpfe nach Möglichkeit vermieden werden. Das ging (wenn es, wie in Konstantins letzten Jahren, den übermächtigen Nachfolger nicht gab) nach Lage der Dinge leichter, wenn nicht nur ein Kandidat, sondern mehrere ‚ins Rennen geschickt‘ wurden, die zusammenarbeiten sollten. Dass Konstantin an den Grundprinzipien kaiserlicher Sukzession nichts ändern wollte (und konnte), zeigt seine Nachfolgeregelung. Er hatte zu Lebzeiten vier Personen dadurch zu ‚Mitkaisern‘ und potentiellen Nachfolgern (Caesares) gemacht, dass er sie der relevanten Öffentlichkeit nicht nur als seine (der eigenen Familie entstammenden) Wunschkandidaten, sondern auch als geeignete Herrscher und Heerführer präsentiert hatte. Es sollte also zum Mehrkaisertum zurückgekehrt werden, basierend auf Familie und auf Anerkennung (vor allem bei den Soldaten). Letzteres konnte Konstantin für die Zeit nach seinem Tod natürlich nicht sicherstellen. Für uns ist nun die geringe Bedeutung wichtig, die in diesem Kräftespiel die Stadt Konstantinopel hatte. Von den vier Caesares erhielt der bestplatzierte, des Kaisers ältester Sohn Konstantin II. den Nordwesten und sollte vor allem in Trier Hof halten, während der (was bisherige Leistungen, Autorität und Machtmittel angeht) letztplatzierte, der sich auch nicht lange behaupten konnte, Konstantins Neffe Dalmatius (oder Delmatius), in Konstantinopel residieren sollte, ohne dass dieser Ort seine Position irgendwie aufgewertet hätte.53 Gerade die gewissermaßen gegenläufigen Entwicklungen, die Konstantinopel und Rom im vierten und fünften Jahrhundert genommen haben, zeigen: Prestige lässt sich nur in Machtpositionen umwandeln, wenn diese auch andere, ‚handfestere‘ Grundlagen haben als die Gunst eines Herrschers. Roms imperiale Phase endete erst im fünften Jahrhundert, die von Konstantinopel begann am Ende des vierten.54 Dabei ist aber zu beachten und zu beobachten, dass diese Karriere ein langsamer Prozess war, in dem sich verschiedene Entwicklungen in verschiedenen Lebensbereichen verknüpften und gegenseitig verstärkten, ein Prozess, der zwar auf Konstantins Entscheidung zurückging, mit ihr aber keineswegs gesichert war.

53 Da Constantius II. Asien und den Orient ab dem Marmarameer erhielt (Epitome de Caesaribus 41,20: „Constantius a freto Propontidis Asiam atque Orientem“; seine Hauptresidenz war sicher Antiochia), muss Konstantinopel zum Reichsteil des Dalmatius (Griechenland, Makedonien und Thrakien) gehört haben, wogegen es in der Stadt (und bei den Soldaten) aber heftigen Widerstand gab. 54 Vgl. oben Anm. 35.

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2.

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Eine christliche Stadt?

Konstantins Entscheidung für Konstantinopel ist durch unsere bisherigen Beobachtungen zwar näher bestimmt, aber noch nicht erklärt worden. Wenn ihr nicht die Planung einer neuen Hauptstadt zugrunde lag, bleibt die Frage bestehen, warum er so gewaltigen Aufwand betrieb. In der konstantinfeindlichen Quellentradition spielt in diesem Zusammenhang die berühmte Affäre um den Kaisersohn Crispus eine Rolle, der am Sieg über Licinius (mit einer Seeschlacht vor Gallipoli) einen bedeutenden und zunächst auch gefeierten Anteil gehabt hatte, früh im Jahre 326 jedoch in Pola auf der Halbinsel Istrien abgeurteilt und wenig später durch Gift hingerichtet wurde, womit offenbar auch die Tötung von Konstantins zweiter Ehefrau Fausta, die bald danach in Rom erfolgte, zusammenhing – insgesamt die dunkelste Episode von Konstantins Herrschaft.55 Dies gilt übrigens in des Wortes doppelter Bedeutung, da wir über die Hintergründe dieser familiären Katastrophe nichts Verbürgtes in Erfahrung bringen können, nicht zufällig sicherlich, sondern weil wichtige Informationen erfolgreich zurückgehalten wurden. Gerade die absolute Geheimhaltung spricht dafür, dass der Hintergrund der Affäre nicht ein – vergleichsweise normaler – Hochverratsvorwurf war, sondern dass die Herrschaft des Kaisers schwerer und im Innersten getroffen war (wie das auch die Gerüchte um ein sexuelles Verhältnis zwischen Crispus und Fausta nahelegen, sei es nun real gewesen oder fingiert).56 Die genannte Quellentradition behauptet nun, dass die Hinrichtungen in Konstantins eigenem Haus ihn in Rom derart verhasst gemacht hätten, dass er sich gedrängt gesehen habe, die alte Hauptstadt zu verlassen und eine Alternative zu gründen.57 Den chronologischen Schwierigkeiten dieser Theorie (zwischen der öffentlich gemachten Entscheidung für Konstantinopel und der Affäre von 326 lagen ja viele Monate) könnte man dadurch entgehen, dass man auf Ent55 Siehe besonders Ammianus Marcellinus 14,11,20; Epitome De Caesaribus 41,12; Zosimos, Neue Geschichte 2,29; Philostorg, Kirchengeschichte 2,3f.; 2,4a; dazu die Kommentare von Paschoud und Bleckmann/Stein. 56 Vgl. auch Klaus Rosen, Qui nigrum in candida vertunt. Die zeitgenössische Auseinandersetzung um Constantins Familientragödie und die Bekehrung, in: Bizantinistica. Rivista di studi bizantini e slavi 5 (2003), 113–140; Barnes 2011, 144–150; Johannes Wienand, La famiglia e la politica dinastica di Costantino, in: La famiglia e la politica dinastica di Costantino, in: Costantino I. Enciclopedia Costantiniana sulla figura e l’immagine dell’imperatore del cosiddetto Editto di Milano 313–2013, 3 Bde., Bd. 1, Rom 2013, 23–52, hier 38f., der allerdings von einer rein politischen Krise ausgeht: Crispus habe nach zehn Jahren als Caesar die Herrschaftsbeteiligung als Augustus gefordert. Damit bleibt jedoch die Schärfe der Reaktion und das Besondere der Krise, nämlich die Hinrichtung von Konstantins Ehefrau, die gar kein Interesse an Crispus’ Aufstieg gehabt haben kann, unerklärt. 57 Siehe besonders Zosimos, Neue Geschichte 2,29,2–30,1. Zosimos, der letzte pagane Historiker der Antike, verfasste sein Werk um 500.

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wicklungen zwischen dem Startschuss im Jahre 324 und dem feierlichen Gründungsakt 330 hinweist. In der Zwischenzeit (und eben nach dem Frühjahr 326) hätte der Charakter der Maßnahme tatsächlich verändert, konkret also die Qualität der Gründung gegenüber einem ursprünglichen Plan entscheidend aufgewertet werden können. Zum einen aber hätte eine solche dezidierte und spektakuläre Abwendung von Rom in den Quellen wohl auffälligere Spuren hinterlassen, zum anderen wäre gerade die Stadt Byzanz, aus der Crispus den Licinius mit seinem entscheidenden Seesieg faktisch vertrieben hatte,58 denkbar ungeeignet gewesen als Ort, der diesen ältesten Sohn des Kaisers und die früheren dynastischen Hoffnungen hätte vergessen machen können: Crispus’ Sieg in den Dardanellen hatte Konstantins Truppen den Weg freigemacht, und diese Verbindung blieb immer lebendig, nicht zuletzt durch das im alten Stadtzentrum aufgestellte ‚Gründungsmonument‘ der Stadt, ein mit der Siegesgöttin bekröntes Schiff des Typs ‚Liburne‘.59 Wir müssen diese Interpretation also ins Reich der negativen ‚Propaganda‘ verbannen. Bleibt somit als weitere Erklärung für die Gründung nur noch ein religiöses oder religionspolitisches Motiv des Kaisers übrig? Sollte hier vielleicht eine dezidiert christliche Hauptstadt entstehen, was später dann im fünften Jahrhundert und in byzantinischer Zeit, fraglos ihr Attribut war und als welche sie Eingang fand in die Geschichte der translatio imperii russischer Prägung, wie eingangs gezeigt wurde? Um diese Frage, die früher ohne weiteres positiv beantwortet wurde,60 angehen zu können, muss man sich zunächst klarmachen, wie in dieser Gründungszeit der Stadt das Verhältnis Konstantins zum Christentum und zur christlichen Kirche geartet war. Bekanntlich war Konstantin kein getaufter Christ. Dennoch war er der Urheber der sogenannten ‚Konstantinischen Wende‘, mit der im Jahr 312, nach der siegreichen Schlacht an der Milvischen Brücke, ein neues Verhältnis zwischen römischem Staat und christlicher Religion begann.61 Dieses führte nun 58 Origo Constantini 27. 59 Maria Radnoti-Alföldi, Phoenix aus der Asche. Die Liburna, ein Gründungsmonument von Constantinopolis (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der JohannWolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. 42,2), Stuttgart 2004. Crispus’ Liburnen hatten in der Seeschlacht bei Kallipolis in den Dardanellen gegenüber den größeren Schiffen seines Gegners die Oberhand behalten (Origo Constantini 27; Zosimos, Neue Geschichte 2,23,3– 24,3). 60 Das änderte sich mit der Arbeit von Dagron 1974. 61 Klaus Martin Girardet, Die Konstantinische Wende. Voraussetzungen und geistige Grundlagen der Religionspolitik Konstantins des Großen, Darmstadt 2006, 39–105; Ders., Der Kaiser und sein Gott. Das Christentum im Denken und in der Religionspolitik Konstantins des Großen (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 27), Berlin/New York 2010, 44–88, wobei hier auf die Forschungsdiskussion nicht eingegangen werden kann. Unstrittig sollte sein, dass auch die Rede von einer Wende nicht unvereinbar ist mit einem längeren Prozess, sondern vor allem deren punktuellen Anfang

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aber nicht dazu, dass die christliche Religion unter allen anderen im Römischen Reich gepflegten religiones schnell eine exklusive Vorrangstellung errang (ganz zu schweigen von einer Qualität als Staatsreligion), sondern zunächst nur dazu, dass sie offenkundige kaiserliche Sympathie genoss und vom Herrscher allseits erkennbar besonders gefördert wurde. Zwischen seinen Äußerungen und Aktionen gegenüber den Christen und ihrer – keineswegs einmütigen – Kirche (als deren Förderer, aber auch Zuchtmeister er sich verstand) und seiner Politik als Kaiser der Römer insgesamt muss genau unterschieden werden. Unabhängig davon, welche persönliche religiöse Überzeugung wir dem Kaiser zuschreiben wollen, muss klar sein, dass das Imperium Romanum in Konstantins Zeit mitnichten monotheistisch (geworden) war. Schon vor diesem Hintergrund und vor jeder Betrachtung konkreter Zeugnisse erweist sich somit die Rede von einer christlichen Stadt Konstantinopel als problematisch. Denn eine solche Qualifikation wäre nicht kompatibel gewesen mit den traditionellen Kulten in der Stadt, hätte also eine radikale religiöse Transformation erfordert.62 Konstantin hätte sein (sei es auch zweitrangiges) ‚Rom‘ in religiöser Hinsicht revolutionieren müssen, zumal die Stadtbevölkerung – wie die östliche Reichsbevölkerung insgesamt – sicher nicht mehrheitlich christlich war. Ein solcher Bruch dürfte nur dann angenommen werden, wenn unsere Quellen ihn und die dann zu erwartenden Konfrontationen glaubwürdig überlieferten. Bei unserer Suche sind also vielleicht Anzeichen für eine besonders hervorgehobene Stellung des Christentums in der Stadt zu erwarten, nicht für seine Dominanz. Was literarische Quellenzeugnisse angeht, ist zunächst die berühmte Kaiserbiografie des Bischofs Eusebios von Caesarea zu nennen, der bald nach dem Tod des Kaisers (337) ein Loblied auf ihn verfasst hatte, dessen panegyrischer Charakter den Quellenwert dieser Schrift zwar nicht zerstört, bei der Interpretation jedoch immer im Auge behalten werden muss. Hier heißt es nun zur Gründung Konstantinopels: „Mit außerordentlicher Pracht würdigte er (scil. Konstantin) die Stadt, die nach ihm benannt war; er schmückte sie mit zahlreichen Bethäusern, mit den größten Märtyrerkirchen und mit sehr prächtigen Gebäuden, teils vor der Stadt, teils in der Stadt. Durch diese ehrte er zugleich das Andenken der Märtyrer und weihte seine Stadt dem Gott der Märtyrer. Völlig beseelt von der Weisheit Gottes hielt er es für gerecht, die Stadt, der er seinen Namen zu geben beschlossen hatte, von allem Götzendienst zu hervorheben soll. Zur Taufe kurz vor seinem Tod Edward Yarnold, The Baptism of Constantine, in: Studia Patristica 26 (1993), 95–101; Marilena Amerise, Il battesimo di Constantino il Grande. Storia di una scomoda eredità (Hermes Einzelschriften 95), Stuttgart 2005; Johannes Wienand, Der Kaiser als Sieger. Metamorphosen triumphaler Herrschaft unter Constantin I. (Klio Beiheifte, Neue Folge 19), Berlin 2012, 463f. 62 Nur sehr wenige Forscher sind bereit, eine solche Revolution für wahrscheinlich oder überhaupt möglich zu halten, siehe unten Anm. 92.

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reinigen. So zeigten sich in ihr nirgendwo mehr Bilder der angeblichen Götter, die in den Tempeln verehrt werden, und es gab auch keine Altäre mehr, die mit Opferblut befleckt waren, keine Brandopfer wurden dargebracht, keine Feste zu Ehren von Dämonen gefeiert noch sonst irgendetwas getan, was bei den Dämonenverehrern üblich ist.“63

Wenn wir diese Charakteristik für bare Münze nehmen könnten, wäre hier tatsächlich das belegt, was wir eben als für den historischen Kontext unpassend ausgeschlossen haben. Einerseits hätte es in Konstantinopel nur christliche Kultbauten gegeben, andererseits seien Tempel und andere Stätten des alten Götterglaubens, die es ja aus der früheren Zeit der Stadt gegeben haben muss, systematisch entfernt worden. Weder für das eine noch für das andere gibt es jedoch irgendeinen archäologischen Hinweis. Was Kirchen angeht (der Autor bleibt hier bemerkenswert vage), gibt es auch in literarischen Quellen nur eine belastbare Bezeugung: die Irenenkirche, die wohl identisch mit der vorauszusetzenden Bischofskirche Byzantions war, die sicher schon länger bestand.64 Bei zwei Märtyrer-Kirchen ist möglich, aber nicht sicher, dass sie unter Konstantin erbaut wurden.65 Hinzu kommt die berühmte Apostelkirche, in der Konstantin beigesetzt wurde, von der wir aber nicht wissen, wann sie vollendet wurde und vor allem nicht, ob sie überhaupt als Kirche (und nicht als Grabmonument) geplant und begonnen wurde.66 Auch wenn es also Arbeiten an der ‚Friedenskirche‘ gab und Konstantins Palast sicher einen christlichen Kultort beher-

63 Eusebios, Das Leben Konstantins 3,48; vgl. auch Sozomenos, Kirchengeschichte 2,3,8. 64 Vgl. Sokrates, Kirchengeschichte 1,16,2; 2,16,16 (Konstantin hatte die Kirche offenbar vergrößert und zur ‚Friedenskirche‘ umbenannt bzw. neu dediziert). Die heutige Kirche stammt in der Grundsubstanz aus justinianischer Zeit, Wolfgang Müller-Wiener, Bildlexikon zur Topographie Istanbuls. Byzantion, Konstantinupolis, Istanbul bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1977, 112–117; Urs Peschlow, Die Irenenkirche in Istanbul. Untersuchungen zur Architektur (Istanbuler Mitteilungen, Beihefte 28), Tübingen 1977. 65 Sie waren den lokalen Märtyrern Akakios und Mokios (innerhalb und außerhalb der Mauern) geweiht, siehe Dagron 1974, 393–395; Claudia Barsanti, Costantinopoli, in: Costantino I. Enciclopedia Costantiniana sulla figura e l’immagine dell’imperatore del cosiddetto Editto di Milano 313–2013, 3 Bde., Bd. 1, Rom 2013, 471–491, hier 482 (mit Literatur). 66 Müller-Wiener 1977, 405–412 (mit Literatur); Rudolf Leeb, Konstantin und Christus. Die Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin dem Großen als Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnisses als christlicher Kaiser (Arbeiten zur Kirchengeschichte 58), Berlin/New York 1992, 93–120; Speck 1995; Ders., Konstantins Mausoleum. Zur Geschichte der Apostelkirche in Konstantinopel, in: Ders. (ed.), Varia VII, Bonn 2000a, 113–156; Arne Effenberger, Konstantins Mausoleum, Apostelkirche – und kein Ende?, in: Birgitt Borkopp/Thomas Steppan (edd.), Lithostroton. Studien zur byzantinischen Kunst und Geschichte. Festschrift für Marcell Restle, Stuttgart 2000, 67–78; Cyril Mango, Constantine’s Mausoleum and the Translation of Relics, in: Byzantinische Zeitschrift 83 (1990), 51–61, hier 54; Mark Johnson, The Roman Imperial Mausoleum in Late Antiquity, Cambridge 2009, 119–129; Jonathan Bardill, Constantine, Divine Emperor of the Christian Golden Age, Cambridge 2012, 367–376; Martin Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike. Die Religionspolitik Konstantins des Großen, Freiburg 2013, 149–163.

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bergte:67 verglichen mit dem Bauprogramm Konstantins in Palästina (namentlich in Jerusalem) sowie mit den von ihm errichteten Basiliken am Lateran und am Vatikan in Rom war das kein wirklich auffälliges Bauprogramm, zumal offenbar nirgends öffentlicher Grund für kirchliche Zwecke umgenutzt wurde. Umgekehrt hören wir von keinem einzigen Tempel der Vorgängerstadt, der unter Konstantin eine andere Funktion bekommen hätte oder gar abgebrochen worden wäre. Angesichts der durchaus kritischen Beobachtung, unter der der Kaiser bei denen stand, die seine Religionspolitik ablehnten, kann als sicher angenommen werden, dass wir von derartigen Affronts der nichtchristlichen Bewohner der Stadt irgendeine Nachricht hätten. Wir müssen die exklusiv christliche Prägung Konstantinopels, die Eusebios seinem Helden zuschreibt, also als Wunschbild des Autors verabschieden bzw. als Teil seiner Stilisierung Konstantins zum christlichen Kaiser par excellence. Auf der anderen Seite entspräche es ebenfalls nicht unseren Zeugnissen für die konstantinische Frühzeit Konstantinopels, wenn wir sie als eine in religiöser Hinsicht ganz traditionelle Stadt ansähen, die sich von den Residenzen seiner Vorgänger nicht unterschied. Belastbare Hinweise auf die öffentliche Präsentation und Förderung paganer Kulte fehlen nämlich. Zwei entscheidende Themen sollen hier betrachtet werden, an denen das Verhältnis Konstantins zur religio

67 Dies machen sowohl Zahl und Bedeutung seiner christlichen Berater als auch seine Position und seine Politik als Sympathisant und Förderer der christlichen Kirche wahrscheinlich. Nicht unplausibel ist die Hypothese, die spätere Hagia Sophia sei zunächst eine der ‚Weisheit‘ gewidmete Halle des Palastes gewesen (Speck 1995, 145f.; Ders., Das Konzept Konstantins des Großen für Konstantinopel: Die Umgestaltung der Audienzhalle zur Hagia Sophia und das Schicksal des Kapitols, in: Ders. (ed.), Varia VII, Bonn 2000b, 159–165, hier 160), bis sie dann von Constantius II. zu einer ‚richtigen‘ Kirche umgebaut und 360 dediziert wurde (Sokrates, Kirchengeschichte 2,16,16; 2,43,11). Das passt auch zur ungewöhnlichen Benennung als ‚Sophia‘ (Sokrates, Kirchengeschichte 2,16,16: „die große Kirche, die nun auch ‚Sophia‘ genannt wird“ zeigt entgegen dem ersten Anschein, dass die Benennung nach der ‚Weisheit‘ primär war und die Kirchengründung überdauerte); zu den dort aufgestellten, noch im sechsten Jh. zu sehenden nichtchristlichen Bildwerken (Kaiserdarstellungen und Figuren der Sternsagen) sowie zur Begründung des Baus im Jahr 326 (so das Chronicon Paschale, 544, 11–15) siehe Martin Wallraff, Gab es eine konstantinische Hagia Sophia in Konstantinopel?, in: Reinhardt Harreither et al. (edd.), Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Christliche Archäologie (Wien 19.–26. 9. 1999). Frühes Christentum zwischen Rom und Konstantinopel, Teil 1 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Archäologische Forschungen 14/Studi di antichità cristiana. Pubblicati a cura del Pontificio Istituto di Archeologia Cristiana 62), Wien/Rom 2006, 767– 774, hier 768f. Ob man die Halle deshalb als „astrologisches Staats- bzw. Stadtheiligtum“ Konstantins (ebd., 769) identifizieren kann, ist allerdings fraglich. Die ‚große Kirche‘ ist jedenfalls nicht von Konstantin gegründet worden, denn Eusebios kennt sie nicht (vgl. Das Leben Konstantins 3,48,2), hätte aber sicher nicht versäumt, auf sie hinzuweisen.

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Romana in der Stadt abgelesen werden kann.68 Das Schicksal der traditionellen Tempel und der Gründungsakt von 330. Jede griechische Stadt hatte ihre sie beschützenden (und deshalb am Ort, meist auf der Akropolis besonders verehrten) Stadtgottheiten. Byzantion war hier keine Ausnahme. Tatsächlich wissen wir, dass hier Artemis-Selene, Aphrodite und Apollon-Helios auf der Akropolis, die in der Nähe der späteren Hagia Sophia lag, verehrt wurden.69 Entscheidend ist nun die Nachricht, dass diese Tempel einerseits nicht angetastet wurden, und da es auch kein allgemeines Opferverbot gab,70 blieben sie (wie die anderen Tempel der Stadt) sicher auch‚ in Funktion; andererseits verfügte Konstantin sehr wohl eine Neuerung: Was jetzt wegfiel, war die öffentliche Finanzierung der Opfer für die Stadtgötter und damit die Teilnahme bzw. die Verantwortung der städtischen Autoritäten.71 Man kann hier durchaus von einem Einschnitt sprechen – oder auch, mit Blick auf ihr Fortbestehen, von Kontinuität. In diesem ‚Einerseits/Andererseits‘ haben wir die Ursache der divergierenden Quellenaussagen: auf der einen Seite – am weitesten gehend – Eusebios, aber auch der Kirchenhistoriker Sozomenos sowie Augustinus,72 auf der anderen Seite etwa die Historiker Zosimos und Hesychios von Milet. Je nach Standpunkt konnte man hier einen substantiellen Wandel oder die Wahrung religiöser Traditionen sehen. 68 Der Terminus religio Romana spiegelt bereits eine christliche Perspektive, siehe Konrad Vössing, Das Verhältnis ‚religio‘ – ‚superstitio‘ und Augustins De ciuitate dei, in: Christof Müller/Robert Dodaro/Allan D. Fitzgerald (edd.), Kampf oder Dialog? Begegnung von Kulturen im Horizont von Augustinus ‚De ciuitate dei‘. Internationales Symposion (Rom 25.– 29. September 2012) (Cassiciacum. Forschungen über Augustinus und den Augustinerorden 39/Res et signa. Augustinus-Studien 11), Würzburg 2015, 141–185, bes. 172–177. 69 Malalas, Weltchronik 13,13. 70 Eusebios, Das Leben Konstantins 2,45,1; 4,23. 25,1 behauptet das Gegenteil, es gibt aber durchschlagende Gründe (unter anderem fehlende sonstige Zeugnisse, abgesehen von Codex Theodosianus 16,10,2 von 341 n. Chr.), ihm nicht zu folgen, siehe Girardet 2006, 128f.; Martin Wallraff, Die antipaganen Maßnahmen Konstantins in der Darstellung des Euseb von Kaisareia, in: Johannes Hahn (ed.), Spätantiker Staat und religiöser Konflikt. Imperiale und lokale Verwaltung und die Gewalt gegen Heiligtümer (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 34), Berlin/New York 2011, 7–18 (ob allerdings Konstantins Ziel wirklich „eine Art christlich geläutertes Heidentum als Staatsreligion“ gewesen ist, 14, ist sehr fraglich); anders Barnes 2011, 109–111, der sich jedoch nur auf Eusebios berufen kann; Palladas’ Klage über das Ende des ‚Hellenismos‘ (Anthologia Graeca X 90,3–6) ist zu allgemein, um eine konkrete Maßnahme zu bestätigen, abgesehen davon, dass die Datierung in die Zeit Konstantins alles andere als sicher ist (siehe unten Anm. 92). 71 Malalas, Weltchronik 13,13. Hierzu passt das von Eusebios überlieferte Opferverbot bei Amtshandlungen (Das Leben Konstantins 2,44). Diese Einschränkungen galten natürlich auch für die anderen Tempel der Stadt, etwa für den des Castor und Pollux, den Konstantin in den Neubau seines Hippodrom integriert hatte, siehe Zosimos, Neue Geschichte, 2,31,1. 72 De civitate Dei 5,25: Gründung der Stadt „ohne irgendeinen Tempel oder eine Statue für die falschen Götter“ (sine aliquo daemonum templo simulacroque).

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Was die Einrichtung neuer Kulte angeht, scheint es allerdings mit Zosimos’ Bericht über den Neubau zweier Tempel im alten Stadtzentrum (an der sogenannten Basilika) einen Beleg für einen eindeutigen Akt des traditionellen Götterkults zu geben. Der heidnische Historiker nennt als Gottheiten die Tyche (das ‚Glück‘ der Stadt, symbolisiert in einer weiblichen Sitzstatue) von Rom und die von Konstantinopel, wobei er beklagt, dass die statuarische Darstellung Letzterer eigentlich die kleinasiatische Göttermutter Rhea (Kybele) gezeigt habe; Konstantin habe der Statue die flankierenden Löwen nehmen und eine Art Gebetsgestus anfügen lassen.73 Schon dies deutet auf eine Distanzierung vom traditionellen Kult. Überliefert ist außerdem, dass der Kaiser der Tyche Konstantinopels bei den Gründungsfeierlichkeiten kein traditionelles Opfer darbrachte.74 Auch dürften wir den Begriff ‚Tempel‘ nicht im klassischen Sinn verstehen. Zosimos beschreibt die Lage als „am äußersten Ende einer der Säulenhallen“, die den Platz umgaben, und Sokrates als „in der Basilika“.75 Das spricht für Exedren (große halbkreisfömige Nischen), die in die Säulenhallen integriert waren, ohne dass wir uns davor einen Altar vorstellen müssten. Städtepersonifikationen waren in dieser Zeit Abstraktionen, die Ehrungen erfuhren, aber keine Opfer brauchten.76 Was Eusebios und seine Nachfolger über die religiöse Prägung der Stadt berichten, kann also nicht für bare Münze genommen werden, stand aber den Tatsachen insofern nicht diametral entgegen, als der Kaiser die Verehrung der Fortuna des Ersten und des Zweiten Rom in religiös neutraler Form ins Werk setzte. Wie aber ist vor diesem Hintergrund das neue ‚Kapitol‘ der Stadt zu verstehen? Konstantins Neugründung brachte in vielerlei Hinsicht neue Traditionen in die Stadt. Eine ergab sich aus der Qualität als Schwesterstadt Roms und Mitherrscherin. Konstantinopel war nicht nur eine griechische Polis im Römischen Reich, sondern auch selbst römisch. Das galt auf der faktischen Ebene, da sie den Orient mit dem Balkan verband, der keineswegs als Ganzes griechisch geprägt war, und da, von der Bevölkerung abgesehen, auch die vom Kaiser in die Stadt gebrachte Elite und die Verwaltung teilweise sicher lateinisch geprägt war.77 Es galt aber auch in ideologischer Hinsicht. Eine Stadt mit dem Anspruch (wie wenig konkret er sich auch auswirkte), an der Seite Roms das Imperium Romanum zu beherrschen, musste selbst auch eine römische Stadt (civitas Romana) sein. 73 Zosimos, Neue Geschichte, 2,31,2f. (Sarah Bassett, The Urban Image of Late Antique Constantinople, Cambridge 2004, 155). 74 Siehe unten zu Anm. 88f. 75 Zosimos, Neue Geschichte 2,31,2; Sokrates, Kirchengeschichte 3,11,3–4 (anlässlich eines demonstrativen Opfers, das Julian hier für die Tyche der Stadt darbrachte). 76 Bühl 1995, 30–34. 77 Vgl. Sozomenos, Kirchengeschichte 2,3,4 und Hesychios von Milet 41.

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Hierzu würde passen, dass wir in Konstantinopel (wenn auch erst in späten Quellen) von einem neuen ‚Kapitol‘ hören. Üblicherweise war das Kapitol der Ort, an dem in römischen Städten die Götter-Trias Jupiter, Juno und Minerva verehrt wurde.78 Ein Teil der Forschung nimmt nun tatsächlich an, dass Konstantin auch für eine solche Anlage in seiner neuen Stadt verantwortlich war.79 Damit handelt man sich aber eine Reihe von Schwierigkeiten ein: Warum schweigen die Quellen davon (die erste Bezeugung stammt von 407 und nirgendwo wird ein Bezug zu Konstantin hergestellt)?80 Warum lag das ‚Kapitol‘ von Konstantinopel nicht (wie sonst üblich) im Zentrum der Stadt, sondern ganz am westlichen Ende der Hauptstraße?81 Ein Jupiter-Kult passt auch in keiner Weise zu Konstantins Religionspolitik, nicht nur weil es sich um eine eindeutig pagane Gottheit handelt, sondern auch weil Jupiter von seinem Gegenspieler Licinius als dessen besonderer Schutzgott herausgestellt worden war.82 Schließlich stehen die wenigen Beschreibungen, die wir haben oder zumindest erschließen können,83 im Widerspruch zu einer Tempelanlage: erkennbar wird ein großer Platz, dessen Säulenhallen durch große Exedren erweitert waren. In einem Teil von ihnen waren im frühen fünften Jahrhundert Schulen untergebracht; hier wurde 425 die neugegründete Universität der Stadt angesiedelt.84 Mit Konstantin hat das alles 78 Vgl. Basset 2004, 256, Anm. 55. 79 Siehe z. B. Mango 1985, 28–30; Mayer 2002, 161–68; La Rocca 1993, 569–571; Bassett 2004, 31–32; Barsanti 2013, 480. 80 Die um 630 entstandene ‚Osterchronik‘ erwähnt das „Kapitol“ für dieses Jahr, wobei deutlich wird, dass es eine christliche Ikonographie hatte: Chronicon Paschale, p. 570, 6f. (Dindorf). 81 Zur Lage am Ende der sog. Mesê, wo sich diese in zwei Richtungen teilte, siehe Zeynep Kuban, Konstantins neue Polis. Konstantinopel, in: Alexander Demandt/Josef Engemann (edd.), Konstantin der Grosse. Geschichte, Archäologie, Rezeption. Internationales Kolloquium (Trier 2005), Trier 2006, 221–233, hier 329f.; Skizze: Frank Alto Bauer, Stadt, Platz und Denkmal in der Spätantike. Untersuchungen zur Ausstattung des öffentlichen Raums in den spätantiken Städten Rom, Konstantinopel und Ephesos, Mainz 1996, 231, Abb. 72. 82 Zu Licinius’ Jupiter-Prägungen siehe Wienand 2012, 288–290; siehe auch ebd., 314. 83 Speck 1995, 147f.; Ders. 2000b, 162. Specks These, der annahm, dass hier an zentraler Stelle die berühmte Konstantin-Statue stand, die dann erst unter Constantius II. auf die Porphyrsäule des neuen Forums gesetzt worden wäre (zustimmend Albrecht Berger, Konstantinopel, die erste christliche Metropole?, in: Heinrich Schlange-Schöningen (ed.), Konstantin und das Christentum, Darmstadt 2007, 204–215, hier 206), ist allerdings problematisch, siehe Franz Alto Bauer, Stadtverkehr in Konstantinopel. Die Zeremonialisierung des Alltags, in: Dieter Mertens (ed.), Stadtverkehr in der antiken Welt. Internationales Kolloquium zur 175-Jahrfeier des DAI Rom (21.–23. April 2004 Rom), Wiesbaden 2008, 193– 211, hier 193, Anm. 2. 84 Codex Theodosianus 14,9,3; vgl. Heinrich Schlange-Schöningen, Kaisertum und Bildungswesen im Spätantiken Konstantinopel (Historia Einzelschriften 94), Stuttgart 1995, 114–126; Konrad Vössing, Alexandria und die Suche nach den antiken Universitäten. Alte Fragen und neue Funde, in: Franco Bellandi/Rolando Ferri (edd.), Aspetti della scuola nel mondo romano. Atti del convegno (5.–6. dicembre 2006 Pisa) (Supplementi di Lexis 51), Amsterdam 2008, 221–251, bes. 234–239; für die spätere Geschichte siehe Paul Speck, Die

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nichts zu tun, und es erfordert am wenigsten interpretatorischen Aufwand, wenn wir die Anlage weder in die konstantinische Gründungszeit datieren noch als ‚echtes‘ Kapitol ansehen. Es bleibt zwar das Rätsel der (späten) Benennung als ‚Kapitol‘, das wir aber hier beiseitelassen können. Was die Feierlichkeiten im Mai 330 angeht, sind wir nun in der Lage, die entsprechenden Charakterisierungen unserer Quellen, die erneut sehr stark differieren, in den Kontext der Politik Konstantins in Konstantinopel einzuordnen. Es wäre nach dem bisher Gesagten ja äußerst überraschend, wenn der Kaiser sein strategisches ‚Einerseits/Andererseits‘, mit dem er sowohl seine paganen als auch seine christlichen Anhänger zufriedenstellen wollte, beim feierlichen Akt der Gründung aufgegeben hätte.85 Tatsächlich ist von traditionellen Elementen der Feier die Rede,86 die aber dennoch ebensowenig einem paganen Gründungsakt entsprach wie einer christlichen Weihung.87 Symptomatisch für den von außen betrachtet geradezu synkretistischen Anstrich der Veranstaltung ist das, was der Chronist Malalas von Konstantins eigener Handlung berichtet, als der Kaiser eine symbolische Darstellung Konstantinopels (die eben schon erwähnt wurde) einweihte: „Die Tyche der Stadt aber, die von ihm erneuert und in eigenem Namen errichtet wurde, nannte er, nachdem er Gott ein Opfer dargebracht hatte, ‚Anthousa‘ [die Blühende].“ Der Kaiser vollzog also, wenn wir dem Zeugnis Glauben schenken dürfen,88 bei dieser Gelegenheit sehr wohl eine Art Opfer. Es wich von der bei solchen Weihen üb-

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kaiserliche Universität von Konstantinopel. Präzisierungen zur Frage des höheren Schulwesens in Byzanz im 9. und 10. Jahrhundert (Byzantinisches Archiv 14), München 1974. Das wäre etwa der Fall, wenn der 11. Mai als der Tag gewählt worden wäre, an dem der Priester Mokios hier während der diokletianischen Christenverfolgung hingerichtet worden war (so Barnes 2011, 127). Das Datum ist bezeugt (Hippolyte Delehaye, Synaxarium Ecclesiœ Constantinopolitanœ e codice Sirmondiano nunc Berolinensi adjectis (Propylœum ad Acta sanctorum novembris), Brüssel 1902, 674–676; Ders., Les Origines du culte des martyrs, Brüssel 1912, 234), und der Märtyrer hatte in der Stadt auch seine Kirche (siehe Anm. 65), nirgends aber gibt es einen Hinweis auf eine Verbindung mit dem Gründungsdatum, die im späteren vierten Jh. ja prominent gewesen sein müsste. Eine christliche Widmung der Stadt (an die Theotokos) ist erst 622 erfolgt (anachronistisch ist Zonaras, Weltchronik 13,3, p. 180 Dindorf), im Zuge der überstandenen Bedrohung durch die Sasaniden 622 (Delehaye 1902, 673). Warum der 11. Mai gewählt wurde, wissen wir nicht. Zonaras, Weltchronik 13,3, p. 180 Dindorf (der von der Beteiligung des Astrologen Valens berichtet) ist allerdings anachronistisch, siehe David Pingree, The Horoscope of Constantinople, in: Yasukatsu Maeyama/Walter Saltzer (edd.), ΠΡΙΣΜΑΤΑ. Festschrift für Willy Hartner, Wiesbaden 1977, 305–315. Vgl. Dagron 1974, 41f. Die Abgrenzung des Stadtgebiets mithilfe einer Lanze (siehe unten Anm. 110) erinnerte natürlich an Romulus, ohne aber noch im Kontext eines augurium zu stehen. Eine echte christliche Weihung fand wohl erst knapp 200 Jahre später statt, siehe oben Anm. 85. Malalas, Chronik 13,7. Lenski 2015, 341f. weist darauf hin, dass die verwandten Termini in diesem Passus auf eine alte lateinische Quelle deuten. Dass es um eine Handlung im Rahmen der Gründung geht, zeigt der Kontext.

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lichen Form aber insofern ab, als es nicht in der Tötung eines Tieres bestand (diese Opfer, die eindeutig mit dem traditionellen Götterkult verbunden waren, vermied der Kaiser prinzipiell und expressis verbis);89 anzunehmen ist vielmehr ein Weihrauchopfer. Ob dabei der Empfänger eindeutig und exklusiv adressiert wurde und ob er – die Stadtgöttin oder der Gott der Christen – überhaupt fixiert wurde, ist fraglich. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass bei den Gründungsfeierlichkeiten tatsächlich paganes und christliches Kultpersonal anwesend war, ohne dass aber die eine oder andere Richtung die Möglichkeit erhielt, die Zeremonie definitiv zu vereindeutigen. Verbunden war die Gründung der Stadt mit zwei Prozessionen: mit der einen wurde die berühmte Statue des Kaisers zu seinem neuen Forum gebracht, bevor sie dann oben auf einer gewaltigen Porphyrsäule platziert wurde.90 Christliche Elemente dieser demonstrativen Übereignung der Stadt an ‚ihren‘ Kaiser sind nicht erkennbar. Welche Bedeutung die Statue für Konstantin hatte, zeigt auch die zweite Prozession, die, wie der Kaiser selbst festlegte, künftig an jedem Geburtstag der Stadt durchgeführt werden sollte: mit ihr wurde ein vergoldetes hölzernes Abbild der Statue vom Forum in den Hippodrom gebracht, eine Art Triumphzug, der uns später noch beschäftigen wird.91 Wichtig ist, dass auch hier eine christliche Imprägnierung der Zeremonie ausgeschlossen werden kann – dies auch deshalb, weil wir von einer kleinen, aber aussagekräftigen Veränderung der Statue erfahren: sie trug nicht nur (wie die auf dem Forum) einen Globus, sondern auf diesem eine Statuette der Tyche Konstantinopels, die wir schon als Personifikation ihres Glücks und ihres Wohlergehens kennengelernt haben. Auch wenn hier erneut schwer einzuschätzen ist, welche genaue Vorstellung die Zuschauer mit dieser ‚Stadtgöttin‘ verbanden, eine christliche Interpretation lag sicher fern. Wenn wir nun also als Ergebnis festhalten dürfen, dass Konstantin keineswegs eine dezidiert christliche Stadtgründung vornahm,92 sondern vielmehr bei der 89 Vgl. auch sein Reskript an die umbrische Stadt Hispellum (Corpus Inscriptionum Latinarum IX 5265), in dem er der Stadt den Neubau eines Kaiserkult-Tempels erlaubte, jedoch mit dem Zusatz, dass dies nicht mit „abergläubischem Betrug“ (Z. 47: fraudes superstitionis) verbunden werden dürfe. 90 Siehe unten Anm. 105. Die Säule dürfte schon vor dem Transport der Statue aufgestellt worden sein. 91 Siehe unten Anm. 120. 92 Deutlich weiter als nur eine christliche Gründung anzunehmen, geht zuletzt wieder Barnes 2011, 111–113 und 126–131: „Constantine razed the existing city of Byzantium to the ground and destroyed its temples, shrines and public buildings“ (111); „Constantine’s new city was a Christian city, totally free of any trace of paganism“ (127); vgl. auch oben Anm. 85 und 87). Weder aber geht er ausreichend auf die anderslautende Überlieferung und die Gegenargumente ein noch kann er, von Eusebios und späteren christlichen Konstruktionen abgesehen (Eusebios, Das Leben Konstantins 3,48; Sozomenos, Kirchengeschichte 2,3,7), antike Zeugnisse anführen, die diese Interpretation stützen. Dass zwei Epigramme des Palladas „were

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religiösen Prägung bewusst vage blieb, ist klar, dass diese Form der Zurückhaltung kein Selbstzweck und nicht die eigentliche Nachricht war. Religiöse Neutralität zu vermitteln, war ja in der Antike (und bis weit in die Neuzeit hinein) bekanntlich nichts Positives, mit dem irgendjemand hätte gewonnen werden können. Es ging vielmehr nur darum, die eigentlichen Aussagen der Stadtgründung und ihrer Bauten nicht dadurch zu behindern oder gar zu entwerten, dass sie in einer entweder für die Anhänger der alten Kulte oder die der neuen Religion anstößigen Weise mit einem religiösen Bekenntnis verbunden waren. Welches aber sollte die eigentliche Botschaft sein?

3.

Konstantinopel als Stadt des Triumphes Konstantins

Zwar gibt es im heutigen Istanbul einige sichtbare Relikte aus der Zeit Konstantins, sie sind und bleiben aber vereinzelt, da archäologische Untersuchungen in der pulsierenden modernen Stadt aus naheliegenden Gründen sehr schwierig sind. Wenn wir nach den Motiven für Konstantins über die Errichtung einer Residenz weit hinausgehende Herausstellung der Stadt suchen, sind wir deshalb wesentlich auf literarische Zeugnisse angewiesen. Zum einen sind es Aussagen, die seine Politik und deren Motive erklären, zum anderen solche, die die Resultate beschreiben. Zur ersten Gruppe gehört natürlich auch die Darstellung des Eusebios, von der wir jedoch schon gesehen haben, dass sie ein unrealistisches Bild zeichnet. Mehr Zutrauen verdienen Quellentraditionen, für die Konstantin nicht der christliche Kaiser par excellence war. Hier ist etwa die schon genannte Schrift Origo Constantini zu nennen, die an der schon zitierten Stelle das Motiv für die Gründung knapp umreißt, bevor der Autor auf die konkreten Maßnahmen eingeht: „Konstantin aber gab Byzanz in Erinnerung an seinen großartigen Sieg seinen eigenen Namen: Konstantinopel.“93 Dem entspricht die Aussage des Kirchenhistorikers Philostorg. Er war zwar (anders als der genannte Anonymus) Christ; da er aber im Streit um das Konzil von Nizäa (325) bzw. die Definition der written in the newly founded Constantinople and mock its Christian character“ (128) stützt sich auf Kevin Wilkinson, Palladas and the Foundation of Constantinople, in: Journal of Roman Studies 100 (2010), 179–194; der Bezug von Anthologia Planudea 282 und Anthologia Graeca X 56,17f. auf Konstantinopel ist aber nicht eindeutig, und die Datierung ins frühere vierte Jh. unsicher (pace Kevin Wilkinson, Palladas and the Age of Constantine, in: Journal of Roman Studies 99 (2009), 36–60; siehe Rodney Ast, Rezension: Kevin Wilkinson, New Epigrams of Palladas: A Fragmentary Papyrus Codex (American Studies in Papyrology 52), Durham 2012, in: Bryn Mawr Classical Review 2014, in: http://bmcr.brynmawr.edu/2014/20 14-02-23.html (10. 10. 2019). 93 Kap. 30 (Übersetzung König): „Constantinus […] autem ex se Byzantium Constantinopolim nuncupavit ob insignis victoriae memoriam.“

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Gottheit Christi gegen die in seiner Zeit – er schrieb seine (nur fragmentarisch erhaltene) Kirchengeschichte nach 425 – herrschende Orthodoxie stand, bemühte er sich um ein von dieser unabhängiges, auch aus paganen Quellen schöpfendes Konstantinbild. Seine Darstellung ist zwar hinsichtlich des christologischen Streits von seinen eigenen Interessen geprägt; sie profitiert aber, was die Gründung Konstantinopels angeht, paradoxerweise davon, dass der Autor die entscheidenden Impulse für die Geschichte von Kirche und Christentum weniger von den Herrschern (und auch nicht von Konstantin) ausgehen lässt, sondern von Predigern, Wundertätern und Bischöfen.94 Das führt zwar zu Verzerrungen, an der einen oder anderen Stelle, aber auch zu realistischeren Darstellungen kaiserlicher Politik. Konstantins Motiv bei der Neugründung der Stadt ist ein solcher Fall. Es heißt hier: „Als dieser Konstantin nunmehr das 25. Jahr seiner Kaiserherrschaft antrat (Konsuln waren in jenem Jahr Gallicanus und Symmachus), wollte er eine große Stadt gründen als Denkmal seiner Kaiserherrschaft und seines Ruhmes für die nachfolgenden Generationen“.95

Prinzipiell ist die hier beschriebene Motivation zwar nicht besser überliefert als andere (etwa diejenige, von der der Zeitgenosse Eusebios seine Leser überzeugen möchte), sie hat aber den entscheidenden Vorteil, dass sie nicht nur zum historischen Kontext und dem sich daraus ergebenden Handlungsspielraum des Kaisers passt, sondern auch zu dem, was wir über das tatsächliche konstantinische Bauprogramm erfahren. Den historischen Kontext bestimmten im Wesentlichen drei Faktoren: Von der nur teilweisen Christianisierung auch im Osten des Reiches, die eine exklusiv christliche Deutung der neuen Stadt gar nicht erlaubte, war schon die Rede. Hinzu kam, dass auch der neue Senat sicher nicht nur christlich geprägt war. Der zweite Faktor bestand in der nicht zu übersehenden Tatsache, dass Konstantins Erfolg ein weiteres Mal (wie schon 312 vor Rom) auf einem gewonnenen Bürgerkrieg beruhte. War für die Legitimation eines römischen Herrschers schon immer nichts besser geeignet als ein militärischer Sieg, galt dies doch uneingeschränkt nur für die Niederwerfung äußerer Feinde. Waren Römer die Gegner, musste bei der Darstellung des Sieges (bzw. seiner Umdeutung) schon immer besonderer Aufwand betrieben werden. Das hatte schon Augustus vorgeführt, und die Reihe ließe sich lange fortsetzen.96 Konstantin konnte noch nicht auf die 94 Siehe die Philostorg-Ausgabe von Bleckmann/Stein, Bd. 1, Einleitung, 50f. (Q). 95 Philostorg, Kirchengeschichte, Fragment 2,9a. 96 Für die Spätantike siehe zuletzt etwa Matthias Haake, ‚Trophäen, die nicht vom äußeren Feind gewonnen wurden, Triumphe, die der Ruhm mit Blut befleckt davon trug…‘. Der Sieg im imperialen Bürgerkrieg im ‚langen dritten Jahrhundert‘ als ambivalentes Ereignis, in: Henning Börm/Marco Mattheis/Johannes Wienand (edd.), Civil War in Ancient Greece

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im vierten Jahrhundert entwickelten Darstellungen der Sieghaftigkeit dezidiert christlicher Kaiser im Kampf mit Konkurrenten zurückgreifen.97 Ihm boten sich aber zwei andere Möglichkeiten: Zum einen konnte er versuchen, seinen Sieg mit der Abwehr von äußeren Feinden, also von Barbaren, zu verbinden;98 zum anderen konnte er sich – unter Berücksichtigung des erstgenannten Faktors – in allgemeiner und religiös uneindeutiger Weise als den von einer göttlichen Vorsehung zum Heil des Reiches auserwählten Sieger darstellen, wie er dies auch schon nach seinem Erfolg gegen Maxentius in Rom getan hatte: Man denke an die noch heute zu lesende Inschrift auf dem Siegesbogen, die den „göttlichen Antrieb“ als Ursache seines Erfolgs nennt;99 welche Gottheit hier aktiv war, wird bezeichnenderweise nicht gesagt. Münzdarstellungen seines Feldzeichens, des berühmten Labarum, das von einem Christogramm gekrönt war, sind hier kein Gegenbeispiel, da dieses Zeichen zwar vorhanden (und für Konstantins Selbstverständnis auch sicher wichtig) war, auf seinen Münzen wurde es aber viel zu klein und viel zu selten dargestellt, als dass es die Interpretation seines Sieges tatsächlich hätte bestimmen können bzw. sollen.100 Insgesamt gilt auf diesem Feld, dass es nicht darum ging, die Haltung des Kaisers gegenüber dem Christentum tatsächlich zu verrätseln und unerkennbar zu machen (seine Sympathie für die Kirche war unübersehbar), wohl aber darum, sich nicht in der Form festzulegen, dass Anhänger der alten Kulte ausgeschlossen wurden. Der dritte Faktor, der die Situation nach Konstantins Sieg bestimmte, war die offen zutage liegende politische Ausnahmestellung, die der Kaiser nun innehatte: die unangefochtene (und auch jenseits der Grenzen ungefährdete) Alleinherrschaft im Römischen Reich. Man muss lange in der Kaisergeschichte zurückgehen, um eine ähnliche Machtstellung zu finden. Kaiser Diokletian hatte ja 293 das Mehrkaisertum nicht zuletzt deshalb eingeführt, weil die vielfältigen Herausforderungen und Bedrohungen es in den vergangenen Jahrzehnten einem einzelnen Kaiser geradezu unmöglich gemacht hatten, sich über längere Zeit zu behaupten. Konstantin hatte dagegen nun auf der Ebene der Machtpolitik einen Gipfel erreicht, der eine dauerhafte Repräsentation geradezu erforderte, zumal er diese Position dezidiert auch für seine Familie errungen hatte. Das dynastische Prinzip, das Diokletian hatte verabschieden wollen (ein Projekt, dessen letztes

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and Rome. Contexts of Disintegration and Reintegration (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 58), Stuttgart 2016, 237–301. Siehe hierzu Hartmut Leppin, Coping with the Tyrant’s Faction: Civil-War Amnesties and Christian Discourses in the Fourth Century AD, in: Wienand 2015, 198–213. Licinius’ Armee war ja tatsächlich nicht unwesentlich durch gotische Hilfstruppen unterstützt worden, siehe Origo Constantini 27. Corpus Inscriptionum Latinarum VI 1139 = 31245: instinctu divinitatis (Z 3). Mit den Feierlichkeiten nach dem Sieg von 312 endet die Zurückhaltung in der kaiserlichen Repräsentation, Bürgerkriegssiege ‚triumphal‘ zu begehen (siehe Wienand 2012, 215–222). Zu den Münzdarstellungen des Labarum von 327 siehe Wienand 2012, 260–263.

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Relikt gewissermaßen Licinius darstellte), war machtvoll ins Römische Reich zurückgekehrt. Betrachten wir nun vor dem Hintergrund dieser drei den allgemeinen Kontext bestimmenden Faktoren (Reichsbevölkerung und Eliten waren religiös gemischt, der Kaiser war nach einem siegreichen Bürgerkrieg erstmals seit langer Zeit Alleinherrscher) Konstantins städtebauliche Maßnahmen am Bosporus. Sie lassen sich, um das Ergebnis vorwegzunehmen, zu großen Teilen im Rahmen der Siegesthematik verstehen: die Stadt als Konstantins steingewordenes Siegeszeichen im Osten, das die Erinnerung (memoria) an den triumphalen Alleinherrscher wachhalten sollte. Bei römischen Memoria-Bauten müssen wir prinzipiell im Auge behalten, dass sie nur zum kleineren Teil auf die aktuelle Bedeutung in der Bauzeit ausgerichtet waren; das größere Ziel lag in der Zukunft. Sie waren dann erfolgreich, wenn sie sich mit immer wiederkehrenden Praktiken der Erinnerung verbanden und auf diese Weise ihre Themen dauerhaft ins Gedächtnis der Stadt, also ihrer Bürger und ihrer Besucher, aber auch der Beobachter, eingeschrieben werden konnten. Für den Historiker ist es also wichtig, nicht nur die neuen ‚Installationen‘ (seien es neue Straßen und Plätze, Gebäude oder Bildwerke) in den Blick zu nehmen, sondern ebenso das damit verbundene Tun und Geschehen. Die Stadtanlage Konstantinopels war durch eine zentrale Straße geprägt, die auch so benannt wurde (Mesê – die Mittlere), die beim sogenannten Augusteion im umgestalteten alten Stadtzentrum begann und zunächst zum neuen Konstantin-Forum führte, dann aber infolge der Stadterweiterung weiter nach Westen. Die Straße gabelte sich schließlich, um das sich in Richtung Festland verbreiternde Gebiet zu versorgen. Da das Gelände anstieg, lag das am Ende der Nordwest-Straße errichtete Mausoleum Konstantins, das er (wie Augustus in Rom) schon zu seinen Lebzeiten hatte anlegen lassen, hoch über der Stadt. Die Gabelung der Hauptstraße (nach Westen ging es durch das ‚Goldene Tor‘ zur quer über den Balkan führenden Via Egnatia, nach Nordwesten Richtung Adrianopel) wurde durch das sogenannte Kapitol akzentuiert.101 Man kann also feststellen, dass der gesamte Verlauf der Hauptachse von ihrem Ursprung bis zum Austritt aus dem Stadtgebiet im Nordwesten durch konstantinische Bauten geprägt war. Dies war auch deshalb von großer Bedeutung, weil diese kolonnadengeschmückte Prachtstraße nicht nur der wichtigste Verkehrsweg war, sondern vom Kaiser auch repräsentativ genutzt wurde, wie wir gleich sehen werden. Dass es ihm dabei darauf ankam, bald von diesen Möglichkeiten der neuen 101 Für Rekonstruktionen des konstantinischen Stadtplans von Konstantinopel siehe etwa Berger 2006, 436–443; Bauer 2008, 196, Abb. 3; Bassett 2016, 514, map 7; zum Forum siehe unten Anm. 104; zum Mausoleum Konstantins und zum Kapitol siehe oben Anm. 66 und Anm. 77–84.

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Anlagen profitieren zu können, zeigt die große Schnelligkeit, mit der Konstantin bauen ließ. Sie fiel schon den Zeitgenossen auf, war allerdings mit Qualitätseinbußen und Provisorien erkauft.102 Als der Kaiser 337 starb, war die Stadt immer noch eine gewaltige Baustelle. Insgesamt lassen sich drei neue Komplexe identifizieren, denen unterschiedliche Funktionen zukamen, allesamt von großer Prominenz und Bedeutung für die kaiserliche Herrschaft: Zunächst der Kaiserpalast, der wie auf dem Palatin in Rom eng mit einem dem Circus Maximus ebenbürtigen Hippodrom verbunden war, das nicht nur dem Vergnügen diente, sondern der Ort war, an dem der Kaiser sich seinem Volk zeigte und mit ihm kommunizierte.103 Einer anderen Art von Vergnügen dienten die gewaltigen Kaiserthermen. Auf dem konstantinischen Kaiserforum schließlich stellte sich nicht nur (wie im Palast, jedoch mit stärker politischen Akzenten) die kaiserliche Herrschaft dar, sondern auch ihre Verbindung mit der neuen städtischen Elite; denn einen Annex dieses großen kreisrunden Platzes bildete – wie die Curia Iulia an Caesars Forum Iulium in Rom – der Sitz des neuen Senates. In spezifischer Weise der Siegesthematik gewidmet war neben dem Hippodrom, auf das gleich noch eingegangen werden wird, vor allem das neue Forum.104 Ein von doppelgeschossigen Kolonnaden gesäumter runder Platz wurde an der Stelle errichtet, an der die Hauptstraße die früheren Stadtmauern überschritt und somit symbolisch in eine neue Zeit führte. Unübersehbar – wie noch heute – ragte in der Mitte die 35 Meter hohe Ehrensäule aus kaiserlichem Porphyr (‚Purpur‘) empor. Ihre Basis war mit Reliefs geschmückt, die Konstantins Siege verherrlichten und Tribute bringende Barbaren zeigten.105 Oben auf der Säule 102 Zosimos, Neue Geschichte 2,32 könnte man mit Blick auf seine negative Einstellung zu Konstantin als missgünstig ansehen; dass vieles aber wegen der schnellen Entwicklung ‚Kulisse‘ geblieben war, zeigen auch Themistios, oratio 3,13, p. 47c und 11,15, p. 151a (aus den frühen 370er Jahren); vgl. auch Julian, oratio 1, p. 41 A. 103 Zum Hippodrom vgl. Bauer 1996, 247–254; Alessandra Ricci, Architettura Costantiniana a Costantinopoli, in: Istituto dell’Enciclopedia Italiana, Costantino I. Enciclopedia Costantiniana sulla Figura e l’Immagine dell’Imperatore del cosiddetto Editto di Milano, 313–2013, 3 Bde., Bd. 2, Rom 2013, 759–775, bes. 767–769 (769f. zum Palast); zum Palast siehe auch Kostenec 1998. Die kaiserliche Loge (das kathisma) war, wie im römischen Circus Maximus, direkt vom Palast zu erreichen; auch sonst waren die Parallelen zu Rom (etwa durch den Obelisken auf der Spina) unübersehbar, siehe Malalas, Weltchronik 13,7. 8 (dort auch die Nachricht, dass Konstantin anlässlich des ersten Rennens dort, das er sich ansah, erstmals ein Diadem aus Perlen und Edelsteinen getragen habe). 104 Zum Forum Konstantins siehe Janin 1964, 62–64, 174–176; Dagron 1974, 119–146; Müller-Wiener 1977, 255–257; Bauer 1996, 167–187. 105 Zu möglichen Hinweisen auf das Bildprogramm der Reliefs unter der Säule siehe Josef Engemann, Konstantinopel: Warum gründete Konstantin eine zweite Hauptstadt?, in: Florian Schuller/Hartmut Wolff (edd.), Konstantin der Große. Kaiser einer Epochenwende, Lindenberg 2007, 150–175, hier 161 (mit Literatur). Zu den Abmessungen von Säule und Sockel siehe Müller-Wiener 1977, 255–257; siehe auch Cyril Mango, Constantin’s

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war das Kolossalstandbild des Kaisers aus vergoldeter Bronze zu sehen. Wahrscheinlich präsentierte er sich in heroischer Nacktheit,106 wie ihn auch die berühmte Skizze der Tabula Peutingeriana (überhaupt die einzige Abbildung, die wir besitzen) zeigt, die den Kaiser mit einer Lanze und einem Globus, dem Zeichen der Weltenherrschaft, darstellt.107 Auf dem Haupt trug er die berühmte Strahlenkrone.108 Eine Inschrift dürfte einen (ohnehin offensichtlichen) Bezug zur Sonne hergestellt haben, ohne dass der Kaiser allerdings wie auf früheren Münzbildern dem Sonnengott angeglichen oder gar mit ihm identifiziert wurde.109 Entscheidend war seine Qualität als göttlich legitimierter Weltenherrscher. Die Symbolik der Lanze ist vor dem Hintergrund der Stadtgründung zu verstehen, wie Philostorgs Bericht davon erkennen lässt: Konstantin hielt sie bei der feierlichen Grenzziehung (wohl 328) in der Hand und steckte sie, von unsicht-

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Column, in: Ders. (ed.), Studies on Constantinople (Collected Studies Series 394), Aldershot 1993, III 1–6. Vgl. zuletzt Bassett 2004, 192–204 (mit englischer Übersetzung aller relevanten literarischen Quellen); Bardill 2012, 28–42; Barsanti 2013, 479f.; Robert Ousterhout, The Life and Afterlife of Constantine’s Column, in: Journal of Roman Archaeology 27 (2014), 304– 326. Abbildung in Engemann 2007, 167, Abb. 13, dazu Dagron 1974, 51f. Der Zeichner hat allerdings einen Fehler gemacht. Üblicherweise hielten Statuen dieses Typs den Globus in der Linken, und es gibt keinen Grund, warum das in Konstantinopel anders gewesen sein sollte. Mit Anna Comnena haben wir sogar ein (allerdings aus dem zwölften Jh. datierendes, jedoch auf älteren Quellen beruhendes) literarisches Zeugnis dafür (Alexias 12,4,5, p. 66 Leib). Dies kann durch die mittelalterliche Miniatur der Tabula Peutingeriana, deren Genauigkeit auch bei der Darstellung des Kopfes zweifelhaft ist (siehe Anm. 108), nicht erschüttert werden. Was die Accessoires insgesamt angeht, gibt es aber keinen Grund, die Glaubwürdigkeit der Skizze anzuzweifeln (anders offenbar Hartwin Brandt, Konstantin der Große, München 2007, 140: „scheint eine Lanze und ein Kreuzzepter gehalten […] zu haben“). Malalas’ Weltchronik erwähnt die klassische siebenstrahlige Form (13,7). Auf der Miniatur der Tabula Peutingeriana ist die Krone nicht erkennbar. Die kontroverse Diskussion des Charakters dieser Bezüge zum Sonnengott kann hier nicht aufgegriffen werden. Jedenfalls machte eine bestimmte statuarische Darstellungsform den Kaiser noch nicht „zum Helios“ (so Martin Wallraff, Christus Verus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 32), Münster 2001, 133f., 146). Porphyr und Gold waren die kaiserlichen Materialien par excellence: siehe Meyer Reinhold, The History of Purple as a Status Symbol in Antiquity (Collection Latomus 116), Brüssel 1970, 62–70; Mark Bradley, Colour and Meaning in Ancient Rome (Cambridge Classical Studies), Cambridge 2009, 189–211 (Porphyr); Konrad Vössing, Mensa Regia. Das Bankett beim hellenistischen König und beim römischen Kaiser (Beiträge zur Altertumskunde 193), München/Leipzig 2004, 367f. (Gold). Zum Ende von Konstantins Sol-Prägungen in Bronze 318 und in Gold ab 321/322 (als die Konfrontation mit Licinius absehbar war und Konstantin seine Repräsentation stärker durch christliche Elemente bestimmen ließ) siehe Wienand 2012, 296–335. Zur Inschrift (deren Text unterschiedlich überliefert wird, ohne dass wir Möglichkeiten der Verifizierung hätten) siehe zuletzt Bardill 2012, 106–109.

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baren Mächten geleitet (wie er offenbar selbst verbreiten ließ), dort in den Boden, wo im Westen die neuen Tore stehen sollten.110 Säulenmonument und Statue wurden zum Herzstück der Identität der neuen Kaiserstadt, Symbol ihrer Gründung und ihrer Macht. Dennoch gibt es keine zeitnahe Beschreibung des Aussehens der restlos verschwundenen Statue (die 1106 ein Sturm zu Boden warf, wonach sie durch ein Kreuz ersetzt wurde),111 und spätere Zeugnisse sind geprägt von einer schrittweisen Christianisierung und Mystifizierung. Dass sie ursprünglich keinerlei Hinweise auf die christlichen Sympathien des Kaisers gegeben haben kann, zeigt vielleicht am besten das Schweigen des Eusebios, der Forum und Säule sicher kannte. Da die Darstellung, wie zahlreiche Zeugnisse belegen, an den Sonnengott erinnerte (wenn es sich nicht überhaupt um die Umarbeitung einer Sol-Statue handelte), stand sie im Widerspruch zu der vom Kirchenhistoriker behaupteten Christianisierung der Stadt. Unabhängig von der vieldebattierten und kaum entscheidbaren Frage, wie genau im Standbild das Verhältnis zwischen Kaiser und Sonnengott ausgedrückt war, kann man die Säule auf dem neuen Forum also jedenfalls als eine Siegessäule verstehen, und in diesen Zusammenhang gehören auch die ‚neuen‘ Bildwerke, die Konstantin in der Stadt aufstellen ließ. Zum großen Teil waren sie gar nicht neu, aber sie waren es an diesem Ort. Konstantin ließ eine Fülle von Skulpturen aus den alten griechischen Städten herbeischaffen und öffentlich (namentlich im Hippodrom) aufstellen, um seine neue Gründung zu schmücken, ohne Rücksicht auf die ursprünglichen Besitzer, die dadurch, wie Hieronymus schrieb „geradezu entblößt wurden“.112 Sozomenos erwähnt in seiner Kirchengeschichte (2,5) uralte Weihegeschenke, die noch zu seiner Zeit (im fünften Jahrhundert) in den Straßen der Stadt, im Hippodrom und im Palast zu bewundern waren, darunter etwa die berühmte Schlangensäule aus Delphi, mit der die siegreichen Griechen 800 Jahre zuvor ihren erfolgreichen Abwehrkampf gegen die Perser (und die göttliche 110 Philostorg 2,9a,4. 7 (dazu den Kommentar von Bruno Bleckmann); vgl. auch Zonaras, Weltchronik 13,1, p. 179 Dindorf. Siehe dazu Philippe Brugisser, Romulus aux anges. En passant par le récit de Philostorge sur la fondation de Constantinople, in: Paul-Augustin Deproost/Alain Meurant (edd.), Images d’origines, origines d’une image. Hommages à Jacques Poucet (Transversalités 4), Louvain-la-Neuve 2004, 335–367; Philippe Brugisser, Constantin à la lance. La fondation de Constantinople d’après Philostorge, in: Doris Meyer (ed.), Philostorge et l’historiographie de l’Antiquité tardive – Philostorg im Kontext der spätantiken Geschichtsschreibung (Collegium Beatus Rhenanus 3), Stuttgart 2011, 145–168. 111 Zonaras, Weltchronik 3,18. Die Accessoires der Statue waren schon vorher verloren gegangen: Theophanes, Chronik 125f. und 222 (Mango 1987, 193 und 322) erwähnt den Sturz des Globus 477/478 und den des Speeres 541/542 durch Erdbeben. 112 Eusebius, Werke, 7. Bd.: Die Chronik des Hieronymus/Hieronymi chronicon, herausgegeben und in zweiter Auflage bearbeitet von Rudolf Helm (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte 47), Berlin 1956, 232 (zum Jahr 330): paene omnium urbium nuditate.

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Unterstützung dabei) gefeiert hatten.113 Eusebios gibt diesem neuen Dekor aber einen ideologischen Hintergrund, der sicher nicht intendiert war, sondern den der Autor nachträglich und im Bestreben, aus dem gerade verstorbenen Kaiser einen perfekten christlichen Herrscher zu machen, konstruiert hatte: Der Kaiser habe diese Weihegeschenke, die an ihren ursprünglichen Standorten in einem kultischen Kontext gestanden hätten, ganz bewusst aus diesem gelöst, um sie, die nun dem Vergnügen und dem Gelächter der Betrachter dienten, zu profanieren.114 Es gibt keinen Grund, warum Konstantin den nichtchristlichen Teil der Bevölkerung seiner neuen Stadt in dieser Form hätte brüskieren sollen. Es ging hier – wie generell bei der Neugestaltung der Stadt (wie wir gesehen haben) – nicht um religiöse Eindeutigkeit, sondern vor allem um die Eigenart der Weihegaben als Siegeszeichen. Sie waren ja von ihren ursprünglichen Auftraggebern meist als Dank für durch göttliche Hilfe errungene Erfolge gestiftet worden. Intendiert war sicher auch nicht die Demütigung der Ursprungsstädte (die, da teilweise ihrer berühmten Wahrzeichen beraubt, dies dennoch so empfunden haben dürften), sondern ein imperialer Gestus, mit dem Konstantinopel zum einen sichtbaren Anteil an Roms Rolle als Herrscherin der Welt einforderte und beanspruchte, die griechisch-römische Kultur und Tradition zu beherbergen und geradezu zu symbolisieren.115 Zum anderen wurden die früheren Siege, denen die Bildwerke gewidmet waren, auf diese Weise zum Hintergrund der triumphalen Qualität Konstantinopels als Stadt des kaiserlichen Sieges. Von besonderer Bewandtnis war dabei die aus Actium herbeigeholte Statuengruppe eines Esels mit seinem Treiber, die Augustus in dieser Stadt zur Erinnerung an den Sieg über seinen Gegenspieler Marcus Antonius (31 v. Chr.) hatte aufstellen lassen.116 Gerade die Parallele zur Schlacht von Actium, in der 113 Siehe auch Eusebios, Das Leben Konstantins 3,54; Sokrates, Kirchengeschichte 1,16,3; Bassett 2004, 50–78 stellt die Standbilder und ihre (ca. 25) überlieferten Herkunftsorte zusammen; zur Schlangensäule siehe zuletzt Bassett 2004, 224–227; Paul Stephenson, The Serpent Column. A Cultural Biography, Oxford 2016. Dass pagane Bildwerke noch im achten Jh. in der Stadt prominent (und rätselhaft) waren, zeigen die Parastaseis syntomoi chronikai (‚Kurze historische Notizen‘), siehe Averil Cameron/Judith Herrin, Constantinople in the Early Eighth Century. The Parastaseis Syntomoi Chronikai, Leiden 1984; vgl. auch Alessandra Bravi, Griechische Kunstwerke im politischen Leben Roms und Konstantinopels (Klio Beihefte, Neue Folge 21), Berlin 2014, 274–278. 114 Eusebios, Das Leben Konstantins 3,54,1–3; so auch Sozomenos, Kirchengeschichte 2,5,1. 115 Bauer 1996, 316: „Konstantinopel band sich durch den Kunstraub in den Kosmos der antiken Kultur ein.“ 116 Sueton, Das Leben des Augustus 96,2: „Als er [Augustus] bei Aktium zu seiner in Schlachtordnung aufstellten Flotte herabstieg, kam ihm ein Eseltreiber mit Esel entgegen […] Beider Abbild ließ er nach seinem Sieg in dem Tempel aufstellen, den er am Ort seines Lagers errichtete“ (Apud Actium descendenti in aciem asellus cum asinario occurrit: […] utriusque simulacrum aeneum victor posuit in templo, in quod castrorum suorum locum vertit).

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Roms erster Kaiser die Macht errungen hatte, wies überdeutlich auf Konstantins gerade errungene Alleinherrschaft, natürlich ohne dass Licinius dabei namentlich genannt wurde.117 Augustus hatte seinen Sieg immer auch zugleich als die Sicherung des (innenpolitischen) Friedens feiern lassen, man denke an die berühmte Pax Augusta, der ja bekanntlich ein eigener Altar geweiht war,118 und auch Konstantin dürfte diese Verbindung gezogen haben, indem er die bestehende Bischofskirche der Stadt zur ‚Friedenskirche‘ umbenannte.119 Entscheidend für die Funktion, die der Kaiser seiner neuen Stadt als steingewordener Erinnerung an seinen Sieg zugedacht hatte, war seine Entscheidung, die Feiern der Stadtgründung an jedem 11. Mai in einer bestimmten Form wiederholen zu lassen. Dabei wurde eine zweite Konstantin-Statue aus vergoldetem Holz auf einem Wagen, begleitet von fackeltragenden Soldaten, vom Forum über die Mesê bis in den Hippodrom gefahren, wo sie gegenüber der Loge haltmachte und vom Kaiser (und natürlich auch den übrigen Zuschauern) gegrüßt wurde: ein jährlicher Triumphzug ganz eigener Prägung.120 Diese Statue war in religiöser Hinsicht noch neutraler als die auf dem Forum; denn sie akzentuierte den Kaiser vor allem als Gründer, trug sie doch in der Rechten eine Statuette der städtischen Tyche.121 Konstantin war weniger ihr Verehrer als ihr Schöpfer und Beschützer. Unsere Quellen lassen darauf schließen, dass diese zweite Prozession vom Kaiser für die Zeit nach seinem Tod angeordnet wurde.122 Auf diese Weise verpflichtete er auch seine Nachfolger dazu, den Stadtgründer immer wieder als Sieger durch Konstantinopel ziehen zu lassen. 117 Allerdings ließ Konstantin ihn nach seinem Untergang mit biblischer Anspielung verschiedentlich als Schlange oder Drachen darstellen, siehe Haake 2016, 244. 118 Siehe zuletzt Paul Rehak, Imperium and Cosmos. Augustus and the Northern Campus Martius (Wisconsin Studies in Classics), Madison 2006, 96–137; Erika Simon, Ara Pacis Augustae. Der Altar der Friedensgöttin Pax Augusta in Rom (Ponte fra le culture. Schriften des Knauf-Museums Iphofen 3), Dettelbach 2010. 119 Siehe oben Anm. 64. 120 Malalas, Weltchronik 13,8; Hesychios von Milet 42; vgl. Dagron 1974, 37–42; Bauer 2008, 193–195; Bardill 2012, 151–58; Lenski 2015, 242f. Dass die berühmten vergoldeten Bronzepferde, die 1204 aus Konstantinopel nach Venedig gebracht wurden und heute in Kopie den Markusdom schmücken (vgl. Stefan Schweizer, Rosse von San Marco/Quadriga, in: Der Neue Pauly. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 15,2, Stuttgart 2002, 988–991), mit diesem Triumphzug in Verbindung stehen, ist reine Spekulation. 121 Immerhin bleibt hier noch die Symbolik der numinosen Personifikation erhalten, die dann in christlicher Zeit durch das Städtemodell ersetzt wurde, wie es Konstantin auf dem berühmten Mosaik aus dem zehnten Jh. in der Vorhalle der Hagia Sophia trägt (Engemann 2007, 151, Abb. 2). 122 Hier ist Albrecht Berger, Untersuchungen zu den Patria Konstantinupoleos (Poikila Byzantina 8), Bonn 1988, 552, Ders. 2011, 10 gegenüber anderen Interpretationen, die diese Prozession seit 330 schon unter Konstantin jedes Jahr ansetzten, Recht zu geben. Schon Theodor Preger, Konstantinos-Helios, in: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 36 (1901), 457–469, hier 466 (= Preger 1901b), verwies auf die pompa circensis, in der Bildnisse der verstorbenen Kaiser mitgeführt wurden.

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Insgesamt hatte der Kaiser das Kunststück fertiggebracht, die ganze Stadt dauerhaft in den Dienst seiner Siegerqualitäten zu stellen, ohne dass er jedoch hier einen regelrechten Triumph gefeiert hätte, was zum einen angesichts der Bürgerkriegsproblematik schwierig gewesen wäre und zum anderen eine religiöse Brüskierung der Christen bzw. einen Bruch mit der von dezidiert paganen Kultakten absehenden Religionspolitik des Kaisers dargestellt hätte.123 Er brauchte den traditionellen Triumph nicht, um als Sieger und Triumphator par excellence zu erscheinen, und dies jedes Jahr. Gerade der Umzug seines Standbildes war in dieser Hinsicht eindeutig, zu eindeutig sogar für seine Nachfolger, die an dieser Art von ‚Personenkult‘, als die konstantinische Dynastie nicht mehr entscheidend war, kein Interesse hatten.124 Fassen wir zusammen: Konstantin hat kein Neues Rom gegründet, sondern ein Zweites (der Tibermetropole nachgeordnetes), und er hat auch keine zweite Hauptstadt im Sinn eines administrativen Zentrums installiert – schon weil auch Rom nicht eine solche Funktion hatte. Dennoch hat er 324 erstmalig und einmalig Rom eine zweite Stadt als ‚Mitherrscherin‘ an die Seite gestellt. Der damit verbundene gewaltige Aufwand erfordert eine Begründung. In der Religionspolitik suchen wir sie vergeblich. Konstantinopel war keine christliche Gründung und erst recht keine christliche Stadt, aber ihre Identität sollte infolge bewusst herbeigeführter Ambiguität für die christliche Interpretation offen sein. Das war durchaus etwas Neues, aber kann nicht das eigentliche Ziel gewesen sein. Einerseits war Konstantin sicher klar, dass er mit der Gründung Konstantinopels nicht die Konstanten seiner Herrschaft würde ändern, also kein neues Hauptstadtsystem würde einführen können. Andererseits hat er durch die neue Größe der Stadt und die verliehenen Privilegien mehr für die spätere Karriere der Stadt getan, als bei der Gründung anderer Kaiserresidenzen üblich war. Dieses ‚Mehr‘ ist sicher nicht auf eine exzeptionelle historische Weitsicht zurückzuführen, sondern auf einen ungewöhnlich stark ausgeprägten Willen zu herrscherlicher Selbstdarstellung, wie sie seiner damaligen Stellung als unangefoch123 Auch in Rom hatte er nach der Schlacht an der Milvischen Brücke keinen regelrechten Triumph gefeiert (was nicht hinderte, dass Panegyriker die Festlichkeiten früheren Triumphen voranstellten: Panegyrici Latini 4(10),30,5 (321 n. Chr.), vgl. zuletzt Girardet 2010, 76–79; Rene Pfeilschifter, Der römische Triumph und das Christentum. Überlegungen zur Eigenart eines öffentlichen Rituals, in: Fabian Goldbeck/Johannes Wienand (edd.), Der römische Triumph in Prinzipat und Spätantike, Berlin/Boston 2017, 455–486. Siehe auch oben Anm. 99. 124 Es kennzeichnet die Lückenhaftigkeit der Überlieferung, dass wir nicht in der Lage sind, zwischen den in den Quellen genannten Kaisern, die den konstantinischen ‚Gedächtnisumzug‘ in der bisherigen Form beendeten (Julian oder Theodosius I.) begründet zu entscheiden, siehe Berger 2011, 11. Ihre Motivationen wären in religiöser Hinsicht jeweils entgegengesetzt, jedoch vergleichbar gewesen im Wunsch, die Feier der Stadtgründung zu entpersonalisieren.

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tener Sieger sowie als nach langen Jahrzehnten erster Alleinherrscher des Reiches entsprechen sollte. Dieser Konzeption waren Anlage und Funktion der neuen öffentlichen Bauten der Stadt untergeordnet. Was Konstantins offenbar erfolgreichen Versuch angeht, den öffentlichen Raum in religiöser Hinsicht gewissermaßen indifferent zu halten, dürfte er sich durchaus mit der Hoffnung verbunden haben, dass sich diese Offenheit später einmal in christlichem Sinn entscheiden würde. Bekanntlich ist dies dann auch geschehen. Anders war es mit des Kaisers von Anfang an eindeutigen, ja mehr als eindeutigen Aussagen hinsichtlich der eigenen memoria als Herrscher: Für die Nachfolger wurde die Verbindung der Stadt mit der christlichen Kirche essentiell, während die in das Stadtbild eingeschriebene Verherrlichung des Gründers als geradezu ewiger (und damit für sie unerreichbarer) Triumphator à la longue eher störend war. Was aber blieb – und dies bis ins 20. Jahrhundert hinein –, war der Name des Gründers. ‚Istanbul‘, seit 1930 der offizielle Name, bewahrt immerhin die Erinnerung an die römische Vergangenheit,125 wenn die Herleitung aus dem mittelgriechischen eis tan polin („in die Stadt“) richtig ist; denn ‚die Stadt‘ (urbs) war für das ältere Imperium Romanum fraglos Rom gewesen, nach dem Untergang des Weströmischen Reiches aber (476 n. Chr.) übernahm die östliche Hauptstadt dieses Prädikat.

Bibliographie Quellen (Auswahl) [Die Übersetzungen der in Text und Anmerkungen wörtlich zitierten Quellen stammen, wenn nicht anders angegeben, von Konrad Vössing]

125 Ein interessantes Paradox, das der Konstruktivität von Geschichtsbildern entspringt, ist die Tatsache, dass mit dem Vergangenheitsbezug gewollte, aber auch ungewollte Botschaften – je nach dem Kontext der Rezeption – transportiert werden konnten. Schon im ersten Jh. fassen wir ja mit der sog. Geheimen Offenbarung eine romkritische Tradition, in der Rom als „große Hure Babylon“ auch durch seine sieben Hügel gekennzeichnet wird (Kapitel 17). Im siebten Jh. wurde diese Sieben-Hügel-Charakteristik, der in dieser Hinsicht ganz uneindeutigen Geographie zum Trotz, für Konstantinopel übernommen, und zwar aus einer Konstantinopel (und der Reichskirche) gegenüber sehr kritischen Perspektive, siehe Wolfram Brandes, Sieben Hügel. Die imaginäre Topographie Konstantinopels zwischen apokalyptischem Denken und moderner Wissenschaft, in: Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte 2 (2003), 58–71. Was als Stigma gemeint war, entwickelte sich dann aber schnell zu einem (weiteren) positiven Beleg für das ‚Neue Rom‘, der schließlich auch Eingang in das bis heute gültige Wappen der Stadt gefunden hat.

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Klosterhaft als Sozialdisziplinierung? Russische Klöster der Frühen Neuzeit als Räume des Strafens, der sozialen Fürsorge und der ‚Korrektur der Seele‘

Abstract Western research on monasteries as a custody for laypeople has already indicated that Foucault’s ‘disciplining punishment’ did not begin in the modern era, but was already practiced in late Roman monasteries. In this way societies experimented with the techniques of punishment and improvement in premodern times, often in monasteries. Such studies are still pending for Russia in the early modern period. So far, only the function of the monastery as a replacement prison has been mentioned, which it received in the context of the utilitarian, rational-pragmatic politics of Peter I. But if one takes the religious component of the banishment – the penitentiary of the monastery – into the analysis, Russian monasteries present themselves as multidimensional, complex spaces of atonement, punishment and social control, by which one can investigate exemplarily the conflicting relationship between secular and state actors. The article comprehends custody in monasteries as a separate social-cultural phenomenon in early modern Russia and as a special social area of control, communication and conflict. For this reason, the article describes the development of monastic custody in a chronological perspective (1700–1775) and analyzes the diverse functions that were assigned to the monasteries during this period.

Einleitung Im Jahr 1658 nahm das Kirillo-Belozerskij Kloster den Bojarensohn Ivan Ussov auf – doch der junge Mann kam unfreiwillig hierher: Er wurde verbannt aufgrund eines persönlichen Erlasses des Zaren Aleksej Michajlovicˇ. Ivan sollte unter Verantwortung (pod nacˇal1) eines erfahrenen Mönchs stehen, eine einfache Klosterkost bekommen und unablässig (neprestanno) in die Kirche gehen, – so in 1 Zur Begrifflichkeit: Wir werden in den folgenden Ausführungen zeigen, wie sich die ursprüngliche Bedeutung von pod nacˇalstvo – nämlich die Klosterbuße, die dem ‚Unter-Kontrolle-Halten-und-Maßregeln‘ gleich ist, sich im Laufe des späten 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts wandelte und sich dem Diskurs der Strafe und der Zucht (oder Züchtigung = smirenie) annäherte.

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der begleitenden Instruktion, die der Archimandrit Mitrofan vom Zaren bekam und der zu folgen er sich verpflichtete. Die Gründe für Ussovs Verbannung wurden nicht näher als „Ausschreitungen“ (bescˇinstva) definiert.2 Ein ähnliches Schicksal ereilte Jahre später einen weiteren jungen Mann: Der Zar ließ den ‚unehrenhaft‘ lebenden Städter (posadskij cˇelovek) Nikita Petrov für seine Trunksucht 1667 ins Kloster bringen. Auch er sollte hier unter Verantwortung eines älteren Mönchs stehen, der ihn auf einen richtigen Weg bringen sollte, was allerdings offenbar nicht funktionierte, da er ziemlich bald in ein anderes, entlegeneres Kloster (in Kandalaksˇa) überführt werden musste.3 Die Klosterverwahrung ähnelte einer harten Strafe, wie es der Städter Maksim Syrosnik 1684 deutlich zu spüren bekam. Laut der Instruktion sollte er ‚mit angelegten Fesseln‘ im unterirdischen Gefängnis des Kirillo-Belozerskij Klosters gehalten werden (zemljanaja tjur’ma), angeklagt wegen „vielerlei Verbrechen“ (za mnogoe vorovstvo).4 Ein Jahr später, wiederum für diebisches Verhalten, und nun anstelle der Todesstrafe, wurde der Diener Afon’ka ins Kloster verbannt, doch nicht ins Erdloch, sondern zur Klosterarbeit (monastyrskie trudy).5 Dieser Erlass war einer der ersten des jungen Herrschers Peter Alekseevicˇ, bevor der Reformerzar bestimmte rechtliche, soziale und politische Schritte unternahm, welche die Verbannung ins Kloster im 18. Jahrhundert zu einer verbreiteten Praktik machten. Die aufgeführten Fälle sind einige wenige aus der Fülle an Weisungen und Erlassen, die klösterliche Verbannung und Internierung der Laien anordneten. Die von einem großen Kreis an Machtinstitutionen – dem Patriarchen und seiner Kanzlei, den Bischöfen, dem Zaren und dem Amt des Großen Palastes (Prikaz bol’sˇogo dvorca) – veranlassten Verbannungen deuten darauf hin, dass der Kreis der Klosterhäftlinge ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts auch auf Außenstehende – auf weltliche Personen – erweitert wurde.6 Die Verbannten, die podnacˇal’nye, Männer wie Frauen, waren unterschiedlichen Alters und kamen aus allen sozialen Schichten. ‚Für die Ausschreitungen‘ – za bescˇinstva – wurde zur beliebten Formel für die Verbannung unter Überwachung (pod nacˇal). Darunter verstand man unehrenhaftes Benehmen gegenüber der Obrigkeit, Verstandesverwirrung, ‚Melancholie‘, liederliches, ausschweifendes Verhalten, Trunksucht, ‚Unzucht‘ (blud), 2 Otdel pis’mennych istocˇnikov Gosudarstvennogo Istoricˇeskogo Muzeja (OPI GIM), fond (f.) 484, edinica (ed.) 67, stolbec (stb.) 1. (1658). 3 Vgl. OPI GIM, f. 226, ed. 13, stb. 56. (1667) und Archiv SPBII RAN (Archiv Sankt-Peterburgskogo Instituta Istorii Rossijskoj Akademii Nauk), f. 260, ed. 283. 4 OPI GIM, f. 484, ed. 67, stb. 32. 5 Vgl. OPI GIM, f. 484, ed. 67, stb. 23. 6 Es ist vorab anzumerken, dass das Kirillo-Belozerskij Kloster nur eines der vielen Klöster war, in welches die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten jener Zeit verschickten.

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Ehebruch (preljubodejanie) und ein ganzes Spektrum an Verfehlungen, die in dieser Zeit noch keine konkreteren Namen hatten, und erst im Laufe der späteren Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts begrifflich ausdifferenziert wurden. Die Sanktion pod nacˇal wurde nicht näher definiert, was aber bedeutete, dass dieser Begriff ausreichte, damit der Abt / die Äbtissin verstand, was zu tun wart. Seit den altchristlichen Zeiten war die Formel pod nacˇal administrative Praktik der Bischöfe und der Archimandriten gegen ehrvergessene Mönche und bedeutete eine Form der Verwahrung unter Aufsicht eines erfahrenen Mönches, verbunden mit der Askese des Klosterlebens und Fasten, einer religiösen Einweisung in die Erlösungslehre und dem regelmäßigen Partizipieren an kirchlichen Ritualen. Es war offenbar dem Klostervorsteher überlassen, ob dieser darunter die ursprüngliche Bedeutung sah oder ob er es schlichtweg als ‚unter Überwachung nehmen‘ auslegte. In der westlichen Forschung zu Klöstern als Verwahranstalten für Laien wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Foucaultsche ‚disziplinierende Strafe‘ nicht erst in der Moderne einsetzte, sondern bereits in den spätrömischen Klöstern praktiziert wurde.7 So experimentierten Gesellschaften mit den Techniken der Strafe und der Besserung bereits in der Vormoderne, – häufig in klösterlichen Räumen. Für Russland in der Frühneuzeit stehen solche Studien noch aus. Bislang wurde lediglich auf die Funktion des Klosters als eines Ersatz-Gefängnisses hingewiesen, die es im Kontext der utilitaristischen, rational-pragmatischen Politik Peters I. erhielt.8 Doch nimmt man die religiöse Komponente der Verbannung – die Klosterbuße – mit in die Analyse hinein, stellen sich russische Klöster als mehrdimensionale, komplexe Räume der Sühne, Strafe und der sozialen Kontrolle dar, an denen man exemplarisch eine konflikthafte Beziehung zwischen den weltlichen und den staatlichen Akteuren untersuchen kann. Nimmt man noch die felddiensttauglichen Soldaten, die zur Versorgung in die Klöster geschickt wurden, und in hohem Masse auch die ‚Verstandesverwirrten‘ hinzu, erscheint die Verbannung ins Kloster nicht mehr als interessante histo7 Vgl. Julia Hilner, Gregory the Great’s „Prisons“. Monastic Confinement in Early Byzantine Italy, in: Journal of Early Christian Studies 19 (2011) 3, 433–471; Wojtek Jezierski, ‚Monasterium panopticum‘, in: Fru¨ hmittelalterliche Studien 40 (2009) 1, 167–182; Isabelle Heullant-Donat/Julie Claustre/Elisabeth Lusset, Enfermements. Le cloître et la prison (VIe– XVIIIe siècle), Paris 2011; Heinz Steinert/Hubert Treiber, Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Über die „Wahlverwandtschaft“ von Kloster- und Fabrikdisziplin, München 1980. 8 Vgl. Michail Gernet, Istorija carskoj tjur’my, Moskva 1961; Evgenij Anisimov, Derzˇava i vlast’. Carskaja vlast’, politicˇeskij ssysk i russkoe obsˇcˇestvo v 18 veke, Moskva 2019; Aleksandr Pavlusˇkov, Karatel’no-ispravitel’naja sistema Russkoj pravoslavnoj cerkvi v imperskij period, Vologda 2014. Den ersten Schritt zur Auffassung von Klosterverwahrung als einem komplexen soziokulturellen Phänomen, in dem nicht nur die weltliche Macht das Sagen hat, unternahm Sergej Sˇaljapin in seiner Studie: Sergej Sˇaljapin, Cerkovno-penitenciarnaja sistema v Rossii XV–XVIII vekov, Arkhangel’sk 2013.

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rische Marginalie, sondern als ein komplexes, facettenreiches, eigenständiges und gesellschaftliches Phänomen, das nicht nur für die Kriminalitäts- und Strafvollzugsgeschichte Einsichten liefern kann. Klostergefängnisse können als Materialisierung des Phänomens bezeichnet werden, das Stefan Plaggenborg in seiner Monographie als ‚Überlappung der weltlichen und der kirchlichen Sphären im russischen Recht‘ am Beispiel Altrusslands beschrieben hat. Recht und Gerechtigkeit stellten, so Plaggenborg, „eine Verknüpfung von göttlicher Wahrheit und Maßstäben göttlicher Gerechtigkeit sowie ihre Deutungen und Normierungen durch irdische weise Männer“9 dar. Ließe sich etwa die Nutzung russischer Klöster als Räume der Einsperrung der kirchlichen und weltlichen Delinquenten als Institutionalisierung dieses Phänomens bezeichnen? Der folgende Beitrag untersucht die Klosterverbannung im politischen, kirchlichen und rechtlichen Kontext der Zeit. Es setzt sich (1) mit der Praktik der Buße auseinander; (2) schildert die rationalisierenden, utilitaristischen Diskurse der petrinischen ‚Guten Policey‘10 in Bezug auf die Klöster; (3) diskutiert die Gründe für den Wandel der Straflogik vom Strafen zum Bessern. Vorab erfolgt eine Anmerkung zur Sozialdisziplinierung als analytischem Begriff. Die These der sozialen Disziplinierung als einem Top-Down-Prozess ist seit einigen Jahrzehnten überwunden: Zur Grundannahme der Forschungen der frühneuzeitlichen Verwahranstalten wurde die Einsicht, dass soziale Kontrolle nicht nur vertikal (also von den Obrigkeiten zu den Untertanen), sondern auch horizontal die Gesellschaft durchwirkt. Es geht nicht mehr darum, sich in den Studien zur Sozialdisziplinierung darauf zu beschränken, die Kriminalisierung und Repression auf der einen Seite und Erziehung und Integration auf der anderen Seite zu erforschen. Die Konfrontation der obrigkeitlichen Anordnungen, Gesetze und Vorschriften mit subjektiven Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungswelten der Untertanen inner- und außerhalb der Klostermauern spricht eher für eine informelle ‚horizontale‘ soziale Kontrolle. In seiner Studie zu Kriminalität und Justizwesen im frühneuzeitlichen Russland hat Christoph Schmidt auf die soziale Eigendynamik und das Vollzugsdefizit der Obrigkeit hingewiesen, sodass der Begriff der sozialen Disziplinierung in dem Sinne seiner klassischen Vertreter (Gerhard Oestreich, Max Weber, Michel Foucault11) kaum 9 Stefan Plaggenborg, Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland, Paderborn 2018, 215. 10 Die Vorstellung vom petrinischen Staat als ein Polizei-Staat ist in der Forschung längst überwunden. Wir verwenden den Begriff Policey im Sinne von Ordnung und gute Policey – im Sinne von ‚guter Ordnung‘. 11 Sozialdisziplinierung könnte man demnach als einen „alle Ebenen umfassenden Rationalisierungsprozess, welcher zum Kennzeichen der Formierung der europäischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit geworden ist“ verstehen. Sozialdisziplinierung ist somit die Totalisierung jener Disziplinierungstechniken, mit deren Hilfe ein abweichendes Verhalten schon in der Wurzel ausgerottet wird; zur kritischen Diskussion dieses Ansatzes siehe: Martin Dinges,

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gewinnbringend erscheint.12 Wenn also im Folgenden von der disziplinierenden Rolle des Staates / der Kirche die Rede sein wird, sind damit nicht primär Disziplinierungsintentionen der Herrschaft, sondern vielfältige Praktiken der ‚sozialen Kontrolle‘ gemeint.13

Die Praktik der Buße Die in den angeführten Quellen erwähnte Technik des monastyrskoe podnacˇal’stvo war in der byzantinischen religiösen Tradition eine Form der Buße (pokajanie14 oder e˙pitim‘ja). Historisch gesehen, ist die Buße eine ausschließlich kirchliche Sanktion. In Russland wurde sie meistens von den hohen Klerikern angeordnet, die Bischöfe waren die ultimative Instanz.15 Wie bei jeder Form einer von der Kirche angeordneten Sanktion ging es auch hier um eine korrigierende, erziehende und sühnende Strafe, deren Objekt die ‚innere Welt‘ des Delinquenten war. Nach den Gerichten der Heiligen Apostel sollte die Sanktionslogik die Besserung des Sünders anstreben, um somit präventiv gegen die Wiederholung der Sünden zu wirken.16 Eine von Herzen aufrichtige, tiefe und eifrige Reue milderte die Form der Buße und ihre Frist. Laut der achten Regel von Grigorij Nisskij: „In jeder Art des Verbrechens ist zu beobachten, wie der Zustand des zu Heilenden ist, und als ausreichende Voraussetzung sollte nicht die Zeit (denn was

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Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), 5–21, hier 5–6. Vgl. Christoph Schmidt, Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649–1785, Stuttgart 1996, 404. Zur sozialen Kontrolle als einem passenderen Begriff, der den Blick von den staatlich postulierten Normen auf Wertvorstellungen einzelner sozialer Gruppen ausweitet, siehe Schmidt 1996, 17. Pokajanie ist ein komplexer Begriff und kann dreierlei bedeuten: 1) Geständnis der Sünde, Beichte, Bereuen der Sünde; 2) Ritual der Buße und der Abolition; 3) Verzeichnis der Sünden. Siehe: Sergej I. Ozˇegov, Slovar’ russkogo jazyka, 11–17 vek, 28 Bde., Bd. 16, Moskva 1990, 148. E˙pitim’ja meint dabei nur eine von diesen Bedeutungen – das Ritual der Buße. Im ‚Nomokanon‘ (Steuerbuch) ist an einer Stelle ausgeführt, dass auch die weltliche Obrigkeit die Sünder sanktionieren darf: „Sollte es jedoch einige Personen geben, die völlig ungehorsam sind und sich der Korrektur verweigern, ist es niemandem untersagt, diese Personen vor die örtlichen Richter zu bringen. In der Tat hat c. V. dem Synod in Antiochien kanonisch angeordnet, dass Personen, die Unruhe und Aufruhr in der Kirche verursachen, durch die Zivilbehörde bekehrt und wieder zur Besinnung gebracht werden sollen.“ Siehe: ‚Nomokanon‘ (The Rudder) http://s3.amazonaws.com/orthodox/The_Rudder.pdf., 466 (17. 06. 2020). Vgl. Ivan Milovanov, O prestuplenijach i nakazanijach cerkovnych (po kanonam drevnej vselenskoj cerkvi), S. -Peterburg 1888, 7.

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für eine Heilung sollte allein durch die Zeit möglich sein), sondern der Elan von Jenem, der sich mit der Buße heilt, gelten.“17 Die Buße der Sünde sollte in der Kirchenlehre konstruktiv und nicht destruktiv wirken: das kanonische Recht verstand die Strafe (das Martern) als ein Heilmittel und als Besserung des Menschen.18 Die Reue wird als Heilung der Seele verstanden.19 Die orthodoxe Kirche unterschied zwei Arten der Buße: (Kirchen-) Buße (e˙pitim’ja) und Klosterbuße (monastyrskoe pokajanie, monastyrskaja e˙pitim’ja, monastyrskoe podnacˇal’stvo). Traditionell wurde die Buße in folgender Form angeordnet: Beichte während jeder Fastenzeit, Untersagung der Heiligen Sakramente, strenges Fasten (mittwochs und freitags nur Brot und Wasser), öffentliche Reue vor den Kirchentoren, wo der Sünder alle Eintretende um Vergebung bitten sollte, eine bestimmte Anzahl der Vorbeugungen.20 Jeder Büßende stand unter Aufsicht seines Geistlichen Vaters (duchovnyj otec), im Kloster war es der wohlanständige, fromme Mönch (dobrozˇitel’nyj, krotkozˇitel’nyj starec).21 Für unseren Kontext ist der duale Charakter der e˙pitim’ja von großer Bedeutung: der Delinquent hatte sowohl öffentlich (durch bestimmte Rituale in der Kirche), als auch privat, introspektiv (durch Beichte und Gespräche mit dem Geistlichen Vater) seine Reue zum Ausdruck zu bringen. Der Letztere konnte die Buße als Folge der gebeichteten Sünden verhängen.22 In der Klosterbuße beschränkte sich die ‚Öffentlichkeit‘ auf die Gemeinschaft der Mönche. Welche ‚Sünden‘ wurden mit Buße belegt? Laut dem ‚Nomokanon‘ (Kormcˇaja kniga) sind es nachgewiesene ‚wollüstige‘ Sünden (blud, preljubodejanie), rechtswidrige Ehen, die zwischen Blutsverwandten oder Pateneltern geschlossen wurden, oder die als vierte Ehe galten,23 Sexualdelikte wie Inzest oder Sodomie. Die Kirchenbuße sollte sichtbar sein, denn nur das aktive Martern konnte den Sünder bessern und seine Seele reinigen. Das Ziel der e˙pitim’ja war eindeutig die Reue, was sich auch in der ähnlichen Etymologie der Wörter pokajanie (Buße) und raskajanie (Reue) widerspiegelt: egda vidit ego duchovnik umilenny slezy i sokrusˇenija serdecˇnye, i o sich on vozvestit episkopu („wenn sein geistlicher Vater 17 Eintrag ‚E˙pitim’ja‘, in: Pravoslavnaja duchovnaja e˙nciklopedija, 56 Bde., Bd. 18, Moskva 2008, 534. 18 Vgl. Milovanov 1888, 19. 19 In den Regeln der Hlg. Vätern wie Vasilij Velikij, Grigorij Nisskij. Siehe die Begriffserklärung in: Pravoslavnaja duchovnaja e˙nciklopedija, 56 Bde., Bd. 18, 533–535. 20 Vgl. Nikolaj Suvorov, O cerkovnych nakazanijach, S.-Peterburg 1876, 220. 21 Kirchenrechtlich wurde podnacˇal’stvo im Kloster (monastyrskoe podnacˇal’stvo) zum ersten Mal im ‚Stoglav‘ (1551) sanktioniert – als Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Disziplin der Kleriker. Vgl. Sˇaljapin 2013, 108. 22 Vgl. Eintrag ‚E˙pitim’ja‘, in: Pravoslavnaja duchovnaja e˙nciklopedija, 56 Bde., Bd. 18, 534. 23 Das bekannteste Beispiel ist die e˙pitim’ja von Ivan Groznyj für seine siebte Ehe mit Marija Nagaja.

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die Tränen der Reue und die Leiden des Herzens sieht, so soll er dies dem Bischof verkünden“).24 Die Aufsicht durch den Geistlichen und die Reue über die Tat (Tränen der Reue) waren historische, traditionelle Elemente der Buße. Das kanonische Recht sah die Klosterbuße lediglich für den Klosterklerus vor, nicht jedoch für Außenstehende.25 Wie Gregory Freeze überzeugend darstellte, unterschied sich somit die Ostkirche von der Westkirche: in der letzteren wurde die Praktik der Buße als ein wichtiges Hilfsmittel der säkularen Justiz und der sozialen Kontrolle konstituiert, dazu gehörten Praktiken der Einsperrung der Laien in Klöster, regelmäßige individuelle Beichte, Geldstrafen und Sündenablässe. Die Ostkirche kannte die klösterliche Einsperrung für Laien nicht.26 Bei aller Unschärfe, die die Begriffe ‚Ostkirche‘ und ‚Westkirche‘ mit sich bringen, ist dieser Unterschied nicht von der Hand zu weisen. Im Laufe der Zeit, im späten 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert, gingen die Formen der Buße – die einfache und die klösterliche – ineinander über, wechselten sich ab oder ergänzten einander. Wir haben bereits an den Beispielen gesehen, dass im späten 17. Jahrhundert die Klosterbuße unter dem Begriff podnacˇal’stvo oft für die Laien praktiziert wurde. Somit wurde die Buße verschärft, kam doch unvermeidlich zu den sonstigen Frömmigkeitsübungen die Askese des Mönchslebens, eine spezielle nahrungsarme Kost und körperliche Arbeit im Kloster dazu. Die Klosterbuße unterschied sich von der ‚einfachen‘ zunächst dadurch, dass sie in einem geschlossenen Raum stattfand, den man nicht verlassen durfte. Doch immer mehr rückte die eigentliche Praktik vom kanonischen Original ab. Die Klosterbuße, wie sie sich uns am Anfang des 18. Jahrhunderts zeigt, hatte kaum Ähnlichkeit mit ihrer historischen Form. Weder wurde die Reue als Ziel der Klosterverbannung formuliert, noch blieb ihre Form erhalten.

‚Die Sünde vor der Kirche wird zum Verbrechen gegen den Staat‘ Unter monastyrskoe podnacˇalstvo begegnet uns seit der petrinischen Zeit immer mehr eine andere Logik und Funktion: Züchtigen, Zähmen, Isolieren, unter strengen Aufsicht auf Lebenszeit bewahren, etwas, was sich immer mehr der Praktik des smirenie, des Bezwingens, einer internen Strafform im Kloster an24 So wandte sich Metropolit Fotij an die Novgoroder, zitiert bei Suvorov 1876, 177. 25 Vgl. Milovanov 1888, 156. Auch wenn Pravoslavnaja duchovnaja e˙nciklopedija, 56 Bde., Bd. 18, 534 darauf hinweist, dass der Sünder e˙pitim‘ja oft in den Klöstern leistete, wurde es in keinem kirchenrechtlichen oder kanonischen Dekret festgeschrieben (bis 1697). 26 Vgl. Gregory L. Freeze, The Wages of Sin. The Decline of Public Penance in Imperial Russia, in: Stephen K. BATALDEN (ed.), Seeking God. The Recovery of Religious Identity in Orthodox Russia, Ukraine, and Georgia, DeKalb, IL 1993, 53–82, hier 56.

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näherte.27 Smirenie bestand aus körperlicher Bestrafung, Arrest in Hand- und Fußketten oder eingekerkert im Erdloch, Schwerstarbeit im Kloster und karge Kost (Brot und Wasser). Die seelenrettenden Gespräche waren kein Teil dieser Praktik: Die ‚Korrektur der Seele‘ war nicht mehr das Ziel. ‚In den Ketten unter Überwachung halten‘ (derzˇat’ v podnacˇal’stve skovana), wird zur häufigsten Sentenz in den Verbannungserlassen. Wir können davon ausgehen, dass zu Beginn der petrinischen Zeit diese geänderte Form der strengen Buße die Praktik prägte, und von verschiedenen Institutionen eben in dieser Sinngebung angeordnet wurde. Das monastyrskoe podnacˇal’stvo ist nicht mehr Buße, die auf Reue und Besserung aus war (pokajanie), sondern die strafende Zucht (smirenie). Wie kam es dazu? Welche Rolle hatten russische Klöster im Strafsystem? In dem gültigen Gesetzeswerk der weltlichen Herrschaft, dem Gesetzbuch ‚Ulozˇenie‘ (1649), fehlt die Klosterbuße (monastyrskoe podnacˇal’stvo) als strafende Sanktion, wobei diese Praktik eine Realität war. Es ist ein weiteres Zeichen dafür, wie sich die Normsetzung von der Normumsetzung im frühneuzeitlichen Russland unterschied.28 Den Beginn der Rechtssetzung in Bezug auf die Klosterverbannung markierte die Instruktion des Patriarchen Adrian vom 26. Dezember 1697. In der ‚Instruktion an die Priesterältesten (popovskie starosty) und an die frommen Aufseher (blagocˇinnye smotriteli)‘ wurde festgelegt, wer einer strafenden Einweisung ins Kloster oblag. Es war die schwarze Geistlichkeit, cˇernye popy, und Kirchenbzw. Amtsleute, die bei sich ‚schändliche‘ (zazornye) Personen unterbrachten sowie die ‚Raskolniki‘. Diese waren zur Klosterbuße pod nacˇal zu verbannen, die Form und Frist der Klosterbuße war nicht näher bestimmt. Ferner waren es Geistliche, Priester, denen man Verbindungen zu Räubern nachsagte, Mönche und Nonnen, die unrechtmäßig die Weihe vollzogen hatten, Personen, die an der Geburt einesunehelichen Kindes beteiligt waren und Männer und Frauen, die eine vierte Ehe eingegangen waren.29 Somit war es zunächst die Kirche, die die Verbannung der Laien rechtlich regelte. Diese Praktik erweiterte somit das bestehende kanonische Recht.30 In den darauf folgenden Jahrzehnten des 27 In den Urteilen der Kirchengerichte im 18. Jahrhundert bedeutete smirenie körperliche Strafen (Knutung, Auspeitschen). Vgl. Michajlo Abrasˇkevicˇ, Preljubodejanie s tocˇki zrenija ugolovnogo prava. Istoriko-dogmaticˇeskoe issledovanie, Odessa 1904, 518. Smirjat po monastyrskomu obycˇaju („Zähmen auf Klosterart“) meinte tatsächlich das Auspeitschen vor der versammelten Bruderschaft/Schwesternschaft. 28 Vgl. Schmidt 1996, 404. 29 Vgl. Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii (PSZ), 45 Bde., Bd. 1, Nr. 1612, S.-Peterburg 1830, 19. zitiert bei Aleksandr Pavlusˇkov, Penintenciarnaja praktika severnych monastyrej, Vologda 2000, 147. 30 Das Kirchenrecht und das kanonische Recht sind zwei miteinander verbundene, aber eigenständige Bereiche. Das kanonische Recht in der byzantinischen Tradition diente als

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18. Jahrhunderts diente die Instruktion von Adrian als rechtliche Grundlage für die richtenden kirchlichen Institutionen, darunter der Heilige Synod, geistliche Konsistorien, Bischöfliche Kanzleien und Abtei-Gerichte. Im Vergleich zur vorpetrinischen Zeit vergrößert sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Bandbreite der (weltlichen) Akteure, die Klosterhaft als Sanktion verhängten.31 Es sind nun Senat, Geheimkanzlei, Justiz-Kollegium (und alle weiteren neu gegründeten Kollegien wie das Kriegskollegium, das Berg-Kollegium und das Kollegium für Auslandsangelegenheiten), lokale Verwaltungen (Gouvernements- oder Stadtkanzleien). Dies führte zu einer Vergrößerung der Bandbreite der ‚Normverletzungen‘, die mit Klosterhaft geahndet wurden, und die nun unter vagen Begriffen wie nepotrebstva, bescˇinstva verstanden wurden und Unzucht, Ausschreitungen oder Majestätsbeleidigung bedeuten konnten. In der weltlichen Jurisdiktion war bislang weder die Buße noch die Klosterbuße verankert. All die Verbannungen in die Klöster und all die Regelungen der Haft waren durch punktuelle, unsystematische Einzelerlasse geregelt. Peter I. selbst verschickte mehrere Beamte und Diener mit eigenen Erlassen, ohne sich um eine allgemeine rechtliche Kodifizierung dieser Sanktion zu bemühen. Ein Beispiel: „Der Kanzleischreiber Mikitka ist zur Überwachung […] ins Solocˇa-Kloster verbannt und er sollte bei euch im Kloster in Sicherheit gehalten werden, und während des Gottesdienstes hat er in die Kirche zu gehen. Aus dem Kloster darf er nicht hinausgehen und die Zehrration ist die eines Klosterarbeiters.“32

In der petrinischen Zeit wurde die Buße (pokajanie, e˙pitim’ja) – im Gegensatz zur Klosterbuße – zu einem Teil der weltlichen Gesetzgebung, so dass diese auch von den weltlichen Instanzen angeordnet werden konnte. Die Buße als Sanktion erschien im weltlichen Kodex zum ersten Mal 1715, und zwar im ‚Militärreglement‘ (artikul voinskij). Sie wurde komplementär zur weltlichen Strafe (Körperstrafe und/oder katorga) für Ehebruch, Geburt eines unehelichen Kindes, für

Grundlage für das Kirchenrecht, das Rechtssystem der Orthodoxen Kirche, zu welchem auch die Strafsanktionen gegen die Gebotsbrecher gehörten. 31 Ab dem späten 17. Jahrhundert ordneten weltliche und kirchliche Institutionen die Verbannung als Sanktion an: Die zarischen Ämter (des Großen Palasts, das Klosteramt, das Malorossija-Amt, das Strelitzen-Amt, das Preobrazˇenskij-Amt); die Ämter des Patriarchen wie das Amt für geistliche Angelegenheiten (Prikaz duchovnych del, Razrjadnyj prikaz) sowie die Ämter der örtlichen Erzbischöfe. Für den gesamtrussischen Kontext liegt keine Statistik vor, aber man kann davon ausgehen, dass die meisten Verbannungsanordnungen von den Kirchenvertretern ausgingen. 32 Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov (RGADA), f. 1201, op. 1, d. 589, stb. 1. (1699). Erlass Peters I. an den Archimandriten des Solocˇa-Klosters Feodosij zur Verbannung pod nacˇal des Schreibers Mikitka. Alle zitierten Quellen werden in der eigenen Übersetzung der Verfasserin wiedergegeben.

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unbeabsichtigtes Töten, für Blasphemie und magische Handlungen33 angeordnet. Die Buße wird somit von der weltlichen Gerichtsbarkeit beschieden und von Geistlichkeit lediglich ausgeführt. Der Vergleich des Militärreglements mit dem vorherigen Regelwerk, dem ‚Sobornoe Ulozˇenie‘ von 1649, zeigt, dass der Staat seine Jurisdiktion auf ursprünglich kirchliche Bereiche erweiterte, und dass die Buße zu einer von weltlichen Gerichten verhängten Maßnahme werden konnte. Im ‚Ulozˇenie‘ (Kapitel 20, Artikel 80 und Kapitel 22, Artikel 24) sind nur zwei Fälle definiert, in denen der angeklagte Laie zum ‚Kirchengericht‘ geschickt wird: ein rechtswidriges Zusammenleben mit einer Sklavin und der Übertritt zum Islam.34 Das Militärreglement postulierte dagegen die Vorstellung, dass es eine Reihe an Verbrechen/Delikten gab, die beide Bereiche tangieren: die kirchliche und die weltliche Macht. Dazu gehörten: falsche Aussagen, falsches Ausrufen von slovo i delo35, korruptes Verhalten, Majestätsbeleidigung (was generell nicht weiter als ‚unzüchtige Worte‘ (nepristojnye slova), definiert wurde und alle möglichen Regelverstöße (bescˇinstva, Ausschreitungen). Ähnlich wie das ‚Ulozˇenie‘ bestraften das ‚Militärreglement‘ und das ‚Marinereglement‘ (Morskoj Ustav) (1720) die Blasphemie mit der Todesstrafe, wobei die Todesstrafe in der Praktik häufig durch die Klosterinternierung ersetzt wurde. Der Diskurs des Strafbaren wurde erweitert, die Delikte, die sich an das Kanonische Recht anlehnten – Blasphemie, Vergehen gegen die Keuschheit, Bruch des Ehesakraments – wurden nun weltlich bestraft. Die Sünde wurde kriminalisiert. Das ‚Militärreglement‘ spiegelt die grundlegende Charakteristik der Politik Peters wider, in der das Verbrechen vor dem Staat und die Sünde vor der Kirche ineinanderflossen. Aus der Perspektive der Ahndung war die Person, die Gottes Gebote verletzte, gleichzeitig als eine zu sehen, die die Gesetze des Zaren überschritt. Die Buße, wie sie im ‚Militärreglement‘ gemeint war, hatte mit der gleichzeitig weiter existierenden Praktik der Klosterverbannung, podnacˇal’stvo, nichts zu tun. Die e˙pitim’ja wurde mit der Übernahme der preußischen Praktik zum Akt der ‚öffentlichen Buße‘ vor dem Kircheneingang, wo der Sünder bei jedem Eintretenden um Vergebung bitten sollte. Die Säkularisierung der Justiz war ein europäisches Phänomen des frühen 18. Jahrhunderts, wie Freeze darlegte. So hatte z. B. Friedrich Wilhelm I. ähnliche Maßnahmen unternommen, um die richterlichen Kompetenzen der Kirchengerichte zu beschränken. Sein Dekret aus dem Jahr 1716 regelte, dass die öf-

33 Vgl. Suvorov 1876, 179. 34 Vgl. Ebd., 181. 35 ‚Slovo i delo‘ war ein symbolischer Ausdruck für alle Angelegenheiten, die die Majestät betreffen – sowohl seine Ehre als auch seine körperliche Unversehrtheit. Das Ausrufen von ‚slovo i delo‘ brachte die Person zur Befragung direkt in die Geheimkanzlei.

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fentliche Buße nicht „eine Art von Strafe und Beschimpfung der Gefallenen“ sein sollte, „sondern ein Mittel, die Sünder zur Buße zu bringen“.36 Doch in dieser ‚protestantischen Form‘ existierte die Buße nicht lange in Russland. Bereits 1730 kehrte man zum traditionellen, geheimen Bußakt zurück, bei dem die ‚Geistlichen Väter‘ die Hauptrolle bei Beobachtung, Ermahnung und Unterweisung spielten; oder zur Klosterbuße, bei der die ‚Öffentlichkeit‘ sich auf die Brüderschaft/Schwesternschaft bezog und die Buße nun nicht nur aus Beten und Beichten bestand, sondern auch aus Arbeit und Gehorsam gegenüber dem Klostervorsteher. Hier ist es aber wichtig festzuhalten, dass die Buße (pokajanie) und die monastische Internierung (monastyrskoe podnacˇal’stvo) in den Gesetzestexten synonym verwendet wurden. Konfrontiert man aber den Text des Gesetzes mit der Realität, wird schnell deutlich, dass der rein repressive Charakter der Internierung von jeglicher Sorge um die Seele weit entfernt war. Die Klöster dienten unter Peter I. lediglich als Ersatz für Gefängnisbauten für jene, die aufgrund von Alter oder Krankheit für die Zwangsarbeit in Sibirien untauglich waren. Ein weiteres Beispiel: „Der (Vor)Städter (posadskij cˇelovek) Afanasij ist statt der Hinrichtung nach der Knutung ins Kirillo-Belozerskij Kloster zu verbannen, wo er angekettet unter strenger Aufsicht und ohne das Kloster zu verlassen, bis zu seinem Tod zu halten ist.“37 Man sollte jedoch nicht meinen, die Verschärfung der Praktik der Klosterbuße gehe lediglich auf die weltliche Herrschaft zurück. Unter den Resolutionen des Synod finden sich ausreichende Beispiele dafür, dass Menschen für kleine Delikte, wie z. B. für „Sprechen unangemessener Worte im betrunkenen Zustand“38 für lebenslang zur Arbeit im Kloster verurteilt und verschickt werden. Dafür, dass in der petrinischen Zeit aus Klöstern, den ‚Räumen des relativ freien Lebens‘, ‚Räume der Strafe‘ wurden, gab es meines Erachtens zwei Gründe: der Sittenverfall der Geistlichen, die zur quantitativen Vermehrung der Strafzucht (smirenie) als Form der Sanktion statt Buße (podnacˇalstvo) führte; und der Kontext der Veränderung der kirchlichen Organisation in der petrinischen Zeit. Da Peter I. die Klöster utilitaristisch betrachtete und ihre Nutzung als Armenund Waisenhäuser durchzusetzen versuchte, erweiterte er deren ursprüngliche historische Mission. Die gleichzeitige Pluralisierung der Instanzen, die die Buße als Strafform anordnen konnten, wirkten noch stärker auf den veränderten Charakter der Buße ein.

36 Freeze 1993, 56. 37 RGADA, f. 1441, op. 2, d. 4500, l. 12. (1741). Übersetzung E.M. 38 So der Fall des 1729 ins Kirillo-Belozerski Kloster verbannten Hieromönchs [Hieromonachos, E.M.] Melchisidek. Opisanie dokumentov i del, chranjasˇcˇichsja v archive Svjatejsˇego pravitel’stvujusˇcˇego sinoda (ODDS), 50 Bde., Bd. 9, S.-Peterburg 1913, stb. 551.

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Kloster und ‚gute Policey‘ Bezeichnenderweise betrafen die ersten kirchenpolitischen Anordnungen Peters I. das Klosterleben. Der Zar betrachtete die Klöster nicht nur als Zufluchtsorte für vagabundierende Nichtstuer, für Schmarotzer, die sich hier vor der Besteuerung oder der Einberufung in die Armee versteckten,39 oder falsche jurodivye (Narren in Christo), sondern wähnte in ihnen auch gefährliche Nester für verdächtige, illoyale Anhänger der alten Ordnung und somit Gegner seiner pro-westlichen Reformen.40 Tatsächlich waren ‚herumstreunende‘ Mönche und Nonnen (genannt starec oder starica) ein in dieser Zeit weit verbreitetes Phänomen. Menschen suchten bei den wandernden Geistlichen Trost, Hilfe und Hoffnung, etwas, was sie bei den ‚offiziellen‘ Priestern ihrer Gemeinde aus verschiedenen Gründen nicht bekamen, entweder wegen der ‚gehobenen‘, unverständlichen Kirchensprache oder aufgrund der häufigen Korruptheit der Priester. Die Klöster nahmen im Kontext des stark verbreiteten Volksglaubens, des narodnoe pravoslavie (Volksorthodoxie) oder dvoeverie (des Doppelglaubens) einen wichtigen Platz ein.41 Die wandernden Geistlichen fungierten als ein verlbindendes Glied zwischen dem ‚einfachen Volk‘ und den Volksheiligen, als solche galten Narren in Christo, religiöse Dissidenten, klikusˇi oder sonstige Zauberer, von denen man eine höhere Wahrheit erwartete.42 Zugleich boten die Klöster selbst allen möglichen ‚Narren‘ einen Unterschlupf, bis man es ihnen 1731 verbot. Es waren Klöster, die als Gebetsorte verschiedener volksreligiöser Sekten dienten, allen voran den christovery (den Christgläubigen), die vom Staat verfolgt und unterworfen wurden. Bei Peter I., und auch bei seinem späteren engen Berater und Ideologen Feofan Prokopovicˇ, löste alles, was mit dem nichtoffiziellen Glauben, also mit dem Volksglauben zu tun hatte, Unbehagen aus. Somit waren Klöster für Peter und Prokopovicˇ zunächst einmal ein politisches Problem: einer der ersten Erlasse Peters I. verbot es, in Klosterzellen zu schreiben. Den Mönchen wurde der Besitz von Tinte und Papier untersagt.43 Den un-

39 Vgl. Evgenij Anisimov, Peter Pervyj – blago ili zlo dlja Rossii?, Moskva 2017, 228–237. 40 Vgl. Viktor A. Gol’cev, Zakonodatel’stvo i nravy v Rossii XVIII veka, S.-Peterburg 1896, 93. 41 Zu diesem Kontext siehe Elena Smiljanskaja, Volsˇebniki, bogochul’niki, e˙retiki. ‚Narodnaja religioznost’‘ i ‚duchovnye prestuplenija‘ v Rossii XVIII veka, Moskva 2003, 7–25; Eve Levin, Dvoeverie and Popular Religion, in: Stephen K. Batalden (ed.), Seeking God. The Recovery of Religious Identity in Orthodox Russia, Ukraine, and Georgia, DeKalb, IL 1993, 29–51. 42 Vgl. Ksenija Sergazina, Chozˇdenie vkrug. Ritual’naja praktika pervych obsˇcˇin christoverov, Moskva 2015, 34. 43 Vgl. Erlass vom 31. Januar 1701. Nach dem Erlass aus dem Jahr 1718 durfte niemand in geschlossenen Wohnräumen schreiben, außer den Kirchenlehrern (PSZ Bd. 5, 18. August

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durchsichtigen Verhältnissen hinter den Klostermauern versuchte Peter zudem damit entgegenzuwirken, indem er am 18. November 1703 einen Erlass herausgab, dass sich keiner, der nicht zur Bruderschaft bzw. Schwesternschaft gehört, im Kloster befinden dürfe. In der Politik der wirtschaftlichen Restriktionen gegenüber den Klöstern hatte Peter I. an die Anfänge unter seinem Vater Aleksej Michajlovicˇ angeknüpft, der die Offensive auf den Landbesitz der Klöster und die Kirchenreichtümer begonnen hatte.44 Am 24. Januar 1701 wurde das Klosteramt (monastyrskij prikaz) wiederhergestellt, das von Aleksej Michajlovicˇ 1649 gegründet und 1677 abgeschafft worden war, und unter die Leitung des Gouverneurs (voevoda) von Astrachan’, Ivan Musin-Pusˇkin, gestellt. Dieser führte bahnbrechende Neuerungen ins wirtschaftliche Leben der Klöster ein. Alle Mönche wurden gezählt, sodass ihr Bestand normiert wurde, danach orientierte sich auch ihr Sold.45 Auch die sozialen Forderungen der Zeit führten zu Leitlinien für den Umgang mit den Klöstern. Der politische Kurs der Wohlfahrtspolizei bestimmte die Bekämpfung der Bettler und entlaufenen Bauern und das Vorgehen gegen die herumziehenden Mönche.46 Peter erweiterte die Funktionalität der Klöster bedeutend: für ihn wurden sie nun vor allem als soziale Einrichtungen für den Staat interessant. Im ersten Schritt verband Peter die Klosterverbannung mit der Verbannung zur Zwangsarbeit nach Sibirien, einer Strafpraktik, die nun immer mehr an die Stelle der Todesstrafe trat. Nun entschied der wirtschaftliche Rationalismus47 und nicht das Ziel der Verbrechensprophylaxe durch abschreckende Hinrichtungsrituale – spectacles of suffering – um die Wahl der strafenden Sanktion. Nun reichten aber kleinere Delikte aus, um zur Zwangsarbeit verbannt zu werden. Der Erlass vom 19. Dezember 1707 regelte, dass die Delinquenten, die sich nicht für die Schwerstarbeit der katorga eigneten – wegen des Alters oder als Folge der übermäßigen Folter während der Ermittlung – an das Klosteramt (monastyrskij

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1718). Das Verbot des Besitzes von Tinte und Papier für die Mönche wurde 1723 erneuert, PSZ, 19. 1. 1723. In den Zeiten von Aleksej Michajlovicˇ wurde entschieden, dass alle Klöster der erzbischöflichen Herrschaft untergeordnet sind: Metropoliten, Erzbischöfe und Bischöfe. Nominell hat diese Anordnung auch die synodale Periode (1721–1917) überdauert. Seine Politik bezüglich der Klöster richtete sich nach den sozialen Forderungen des Adels und den Bedürfnissen der Macht selbst. Vgl. Vera S. Rumjanceva, Monastyri i monasˇestvo v 17 veke, in: Nina Sinicyna (ed.), Monasˇestvo i monastyri v Rossii 11–20 vv., Moskva 2005, 163–185, 171. Vgl. Pavel Verchovskoj, Ucˇrezˇdenie duchovnoj kollegii i duchovnyj reglament, Rostov na Donu 1916, 112. Der Ukaz vom 1722 regelte, dass die Altgläubigen nicht nach Sibirien zu verschicken seien, sondern nach Rogervik, zum Bau des neuen Hafens. 1727 – Anordnung zur Verschickung der Bettler und der entlaufenen Bauern zum Soldatendienst oder nach Sibirien. Dazu hat Gentes eine umfassende Monografie vorgelegt: Andrew A. Gentes, Exile to Siberia, 1590–1822, Basingstoke, England/New York 2008.

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prikaz) zu verschicken wären. Von hier aus sollten die schwachen und verstümmelten Verbrecher an die Klöster verteilt werden. Vom ‚Seelenheil‘ als Ziel der Klosterverwahrung konnte keine Rede mehr sein. Einen weiteren Schritt in diese Richtung ging Peter 1722 unter Anleitung des ihm mit Rat und Tat zur Seite stehenden Feofan Prokopovicˇ in der ‚Ergänzung zum Geistlichen Reglement‘ (Pribavlenie k duchovnomu reglamentu), dessen Geist sich aus einem Misstrauen gegenüber der Kirche und der grundlegenden Unzufriedenheit mit dem Leben der Geistlichen, der Klosterbruderschaft und derer (fehlender) sozialer Funktion speiste.48 Ein weiteres Mal kommen hier Klöster als Orte vor, die eine die Staatskasse plündernde, dabei doch wohlhabende, aber nicht wirklich nutz-bringende Institution darstellen. So hieß es in Punkt 45 ‚Ergänzung über die Mönche‘ (Pribavlenie o monachach): „und bei den Klöstern, in welchen es vielerlei Wohlstand gibt, sollten Armenhäuser oder Lazarette errichtet werden und es sei anzuordnen, dass man hier den Bedürfnissen der Alten, Kranken, jener, die kein selbständiges Einkommen haben, und der Bettler, zu Gottes Herrlichkeit nachkommt.“49 Das größte Übel seien nach wie vor die vagabundierenden Mönche. Feofan Prokopovicˇ schlug vor, die Mönche, die entflohen waren, „bis zu ihrem Tod in Fesseln zu Klosterarbeiten zu halten“.50 Einen wichtigen Erlass setzten Peter und Feofan Prokopovicˇ51 in Peters letztem Lebensjahr auf: unter dem Titel ‚Manifest über das Mönchtum‘ deklarierte der Ukaz vom 31. Januar 1724, das Klosterleben müsse zu seinen ursprünglichen Traditionen zurückgeführt werden, „weil die Klostereinkleidung (Klostergelübde) drei Teile beinhalte: Askese, Reinheit, Gehorsam“ (nisˇcˇeta, cˇistota, poslusˇanie).52 Dieses Dokument bezeugt den pragmatisch-ökonomischen und utilitaristischen Blick Peters und Feofans auf die Klöster, der am deutlichsten in folgendem Satz zum Ausdruck kommt: „ […] und wenn man sagt, man bete, – so beten wir ja alle, – aber was wäre der Nutzen darin für den Staat?“53 Klöster, deren Zahl gestiegen war (über 700), sollten eine Bestimmung im ‚Wohlfahrtsstaat‘ erhalten.

48 Vgl. Verchovskoj 1916, 153. Den Originaltext siehe bei Pavel Verchovskoj, Ucˇrezˇdenie, 2 Bde., Bd. 2 (Pribavlenie k duchovnomu reglamentu, pribavlenie o monachach), Rostov na Donu 1916, 94. 49 Zitiert in eigener Übersetzung nach Verchovskoj 1916, 102. 50 Ebd. 51 Verchovskoj wies nach, dass die Vorlage von Peter I. kam und Feofan die Vorlage um eine kanonische Begründung ergänzt hatte. 52 Ob’javlenie o monasˇestve: Ukaz 31. 1. 1724 zu den Klöstern und zu den Mönchen, vom Peter I. Zitiert nach Verchovskoj 1916, 102. Übersetzung E.M. 53 PSZRI, 7, Nr. 4450. Übersetzung E.M.

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Die Eingriffe wurden argumentativ durch den Hinweis auf die vielen Defizite im klösterlichen Alltag belegt. Peter und Feofan kritisierten im Erlass vom 31. Januar 1724: „Wahrlich, es ist nach dem alten Sprichwort: weder Gott noch dem Menschen; der große Teil der Menschen flieht (in die Klöster) vor Steuern und aufgrund der Trägheit, um das Brot umsonst zu essen. Aber es gibt auch einen anderen Weg, das Leben nicht arbeitsfaul, sondern nützlich zu führen, – wenn man direkt den Armen, Alten und Kindern dient.“54

Peter machte sich Gedanken über die praktische Nutzungsänderung einiger Klöster: „[…] in den Klöstern sollen die außer Dienst gestellten Soldaten und die Findelkinder sein, und beizubringen sei ihnen Lesen- und Schreiben, und zwar Grammatik, Arithmetik und Geometrie, aber es ist besser, dieser Unterricht wäre nicht unter der monastischen Aufsicht, sondern an einem ‚abgesonderten Ort‘ (osoblivoe mesto), in einem aufgelösten Kloster, und in den Frauenklöstern sollen statt der Geometrie, weibliche Berufe unterrichtet werden, und dazu auch noch Sprachen, hier seien auch Waisen zu erziehen und zu unterrichten.“55

Ihm pflichtet Feofan Prokopovicˇ bei: „[…] die Mönche haben abwechselnd die Kranken zu pflegen. Es ist zudem gewinnbringend, wenn sie aufgefordert werden, eine Zunft (remeslo) zu erlernen.“56 Die Klöster seien zu verpflichten, „die Kranken und felddienstuntauglichen oder kriegsverletzten Soldaten zu verpflegen“.57 Männer und Frauen58 konnten in die Klöster zur Versorgung aufgenommen werden, auf Antrag der Kriegs- oder Admiralitätskollegien, durch Erlasse des Zaren oder auf eigenes Gesuch hin. Der Erlass bestimmte die Richtlinien, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Nutzung der Klöster als karitative Institutionen regelten. Der erste Punkt bestimmte, dass die außer Dienst gestellten Soldaten, die nicht arbeiten können, und die anderen Armen den Klöstern zugeschrieben werden sollten. Peter I. ließ sich dabei von den Beispielen der Klöster in den Niederlanden, in den deutschen Ländern und in Frankreich inspirieren, in denen viele Klöster von vornherein eine karitative Aufgabe hatten oder die säkularisiert und umgewidmet wurden. In der Verordnung, die die Erziehung der Findelkinder regelte, schrieb Peter vor,

54 Ebd. Übersetzung E.M. ˇ istovicˇ, Feofan Prokopovicˇ i ego vremja, 55 Kabinet del Petra, otd. 1, kn. 31, 56. Zitiert nach I. C S.-Peterburg 1868, 141. Übersetzung E.M. 56 Verchovskoj 1916, 138. Übersetzung E.M. 57 Ebd. 58 Nicht nur pensionierte Soldaten hatten Anspruch auf Versorgung im Kloster, sondern auch ihre Frauen, die über 50 Jahre alt waren, sofern sie kein Einkommen hatten. Siehe RGIA, tom 19, 539. Resolution des Kabinetts Ihrer Majestät vom 19. 2. 1738.

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„es seien aus Brabant Waisenkinder einzuladen, die in den Klöstern erzogen wurden.“59 Den Erzpriestern wurde befohlen, als ‚Aufseher für die Mönche‘ zu fungieren, und es sei über jeden Mönch an den Abt zu berichten, der arbeitsam oder faul sei, ob er vollkommen sei oder mangelhaft, welche Moral des Lebens er an den Tag lege, was von ihm zu erhoffen wäre. Sollte jemand aus der Klosterbruderschaft gegen die Aufnahme der Waisenkinder oder gegen die Einrichtung der Hospitäler in den Klöstern aufbegehren und unter Protest das Kloster verlassen, sei er unter Beobachtung der weltlichen Statthalter zu stellen.60 Die Ideen blieben nicht auf dem Papier. Bald nach Erscheinen des Erlasses erfolgten praktische Schritte, wie die Bestimmung des Moskauer Cˇudov-Klosters und des Voznesenskij Novodevicˇij Klosters als Ort für Kranke, Alte und Krüppel und des Pervenskij-Klosters für die Schulen. Peter unterstellte diese Klöster dem Hauptmann der Leibgarde Baskakov, dem befohlen wurde, die Ein- und Ausgabelisten dieser Klöster zu führen.61 Das Moskauer Andreevskij-Kloster wurde in ein Erziehungsheim für Findlinge umgewidmet, hier wurden sie auf Kosten des Wirtschaftlichen Kollegiums des Synod, das dafür die eingenommenen Steuern der Altgläubigen zur Verfügung stellte, verpflegt. Doch das kühne Projekt Peters zur utilitaristischen Nutzung der Klöster für soziale Zwecke erschien seinen Nachfolgern viel zu revolutionär. Nach seinem Tod wurde vorerst von weiteren pragmatischen Überlegungen Abstand genommen und einige der Waisenhäuser wurden zurück in Klöster verwandelt.62 Nur eine Gruppe der Laien durfte in den Klöstern weiterhin mit Versorgung rechnen – die pensionierten Soldaten. Dies war nicht ganz uneigennützig: die Soldaten stellten in den Klöstern das Wachpersonal für die Internierten. In der petrinischen Zeit entwickelte sich somit eine interessante Heterogenität der Klöster, die nun gleichzeitig als karitative und als isolierend-strafende Einrichtungen fungierten.

Von der ‚Strafe‘ zur ‚Besserung‘ in der nachpetrinischen Zeit Unter den ersten beiden Nachfolgern Peters I., Peter II. und Anna Ioannovna, setzte sich die Straflogik in der Klosterinternierung für jene, die kirchliche oder weltliche Regeln gebrochen hatten, fort. Erst in der Regierungszeit Elizabeths (1742–1762) beginnen die Quellen, auf die Intention der inneren Besserung der 59 60 61 62

Zit. nach Verchovskoj 1916, 149. Übersetzung E.M. Vgl. ebd., 151. ˇ istovicˇ 1868, 141–142. Vgl. C Vgl. ebd., 142.

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Delinquenten seitens der geistlichen und der kirchlichen Herrschaft hinzuweisen. Jetzt wird die Dauer der Haft an das Haftverhalten des Häftlings geknüpft: in der offiziellen Anordnung wird vorgeschrieben, bis er sich bessere und nüchternes und tadelloses Verhalten an den Tag lege. Die Rolle der Kirche – des Synods – als einer verschickenden Instanz wurde größer und in dessen Formulierungen kam wieder die Reue und die aktiv ausgelebte Buße als Zielsetzung der Verwahrung zum Ausdruck. Hier ein Beispiel: Am 2. Februar 1746 beschloss der Synod, den des Ehebruchs angeklagten Maksim Parchomov in das Kirillo-Belozerskij Kloster zu verbannen, wo er „[…] in Klosterarbeit zu halten unter ständiger Aufsicht und unter Bewachung, dass er in Askese und Verzicht lebt, und er sollte angehalten werden, zu jedem Gottesdienst zu kommen und während der Messen stets fleißig für den Sündenerlass zu beten und dafür soll der Abt auf ihn einreden. Und in welchem Zustand er sein wird und insbesondere ob er in seinem Alltag Reue an den Tag legt, darüber sollte allmonatlich an den Synod berichtet werden.“63

Auch die weltliche Obrigkeit übernahm die Technik des traditionellen klösterlichen podnacˇal‘stvo und fasste die Klöster – zumindest in den offiziellen Schriften als claustrum, als Orte der inneren Besserung, auf. Der Raum der Verwahrung hörte auf, lediglich ein repressiver Raum zu sein, und die weltliche Obrigkeit begann an die Reinigung des Gewissens des Delinquenten zu appellieren, dafür nutzte sie eine religiöse Sprache. Im Jahr 1751 wurde der Bauer Kunjavin ins Spaso-Evfimiev-Kloster verschickt: „Der Bauer Michail Kunjavin ist ins Spaso-Evfimiev Kloster zu verschicken, wo er in Klosterarbeit […] zu halten ist, in Ketten, unter ständigen Aufsicht und Wache und während der Bewahrung soll er in die Gotteskirche zu jedem Gottesdienst / Kirchengesang geführt werden, dabei soll ihn ein bestimmter Geistlicher unterweisen, dass ihm sein Vergehen bewusst wird […]. Und wie er die Buße tut, soll an das geistliche Konsistorium in den Eingaben berichtet werden.“64

Den Leutnant Rajtmanov verbannte Zarin Elisabeth durch den Synod im Jahr 1752 zur Klosterverwahrung ins Kirillo-Belozerskij Kloster: „Der Leutnant Osip Rajtmanov soll ohne Unterlass in Klosterarbeit sein und zur aufrichtigen Buße angehalten werden, dafür soll er einen erfahrenen Geistlichen bekom-

63 RGADA, f. 1441, op. 2, d. 5328, l. 6ob. (Vedomost’ o kolodnikach, soderzˇasˇcˇichsja v monastyre s 1722 po 1747 god). Übersetzung E.M. 64 RGADA, f. 1203, op.1, vjaz. 208, d. 4, l. 1–1ob. Übersetzung E.M.

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men und zu jedem Gottesdienst gehen. Es ist über seine Buße / Reue an den Synod zu berichten.“65

In der katharinäischen Zeit konsolidierte sich die Klosterbuße noch mehr als Technik der Besserung bzw. der inneren Reformation. 1783 kam der Unterleutnant a. D. Alexander Teplickij ins Soloveckij-Kloster mit folgender Instruktion: „[…] zur Verwahrung bis zum Zeitpunkt, an dem er in seiner Kühnheit Reue zeigt und sein verdorbenes Leben korrigiert. Von all den Regelbrüchen und Frechheiten sei er abzuhalten, aus der Klosterkost soll er nichts bekommen, aber dazu gebracht werden, dass er sein Zehrgeld mit Arbeit verdient. Und über die Beobachtungen des ReueZeigens und der Korrektur soll jedes halbe Jahr berichtet werden.“66

Das Haftregime war je nach Fall unterschiedlich, doch im Allgemeinen zeichnete sich die Verwahrung im Kloster durch drei traditionelle Elemente von podnacˇal’stvo aus: Askese (Fasten und Arbeit), Kontrolle (bzw. Überwachung) sowie Gebet. 1. Zur Askese (Arbeit und Fasten): in den Haftinstruktionen für jeden einzelnen Häftling wurde die Kostration von Beginn an vorgeschrieben: die eines Arbeiters, Mönchs, ‚Protomönchs‘ (protomonach) usw. Die Ration der Klosterkost war an die Arbeitsleistung gebunden, eine rationalistische Leitidee, die aus den westeuropäischen zeitgenössischen Diskursen bekannt ist und auf den altbekannten Satz – ‚Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen‘ – aus dem 2. Brief des Paulus an die Thessaloniker zurückzuführen sei. 2. Zur Überwachung: Die Kompetenz und Pflicht zur Überwachung der Häftlinge lag nicht nur beim Aufsichtspersonal (Soldaten), sondern auch bei den Mönchen und bei den Brigadeältesten in den Arbeitskommandos. Mit dieser Taktik versuchte die Klosterleitung, die Lücken in der Überwachung zu schließen. In der Realität öffnete es der Denunziation Tür und Tor, auch die Häftlinge klagten gegeneinander, um für sich Vorteile zu gewinnen. Die Soldaten waren als Wächter kaum qualifiziert, oft überfordert und wohl auch nur wenig motiviert, sodass Flucht und tödliche Unfälle unter den Häftlingen oft vorkamen. 3. Schließlich, das Beten oder die Buße. Jeder Häftling (mit Ausnahme der ‚geheimen – politischen – Häftlinge‘) musste jeden Tag in den Gottesdienst geführt werden. Die Klosterbuße schloss die Bruderschaft / Schwesternschaft mit ein. Die Klosterbuße bestand nun nicht nur im Beten und Beichten, sondern auch in Arbeit und Gehorsam gegenüber dem Klostervorsteher, starker Regelgebundenheit, einem dichten Kontrollnetzwerk und ausdrücklicher Negation früherer 65 RGADA, f. 1441, op. 2, d. 6758: Vedomost’ o kolodnikach, soderzˇasˇcˇichsja v monastyre v 1744–1755 gg. Sein Vergehen war Blasphemie. Übersetzung E.M. 66 RGADA, f. 1201, op. 5, d. 5386 (1786): Reestr kolodnikov v Soloveckom monastyre. Übersetzung E.M.

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familiärer oder korporativer Verbindungen. Die Wahrnehmung dieser vorgegebenen Ordnung, unterstützt durch die religiöse Form der Ausübung, sollte den inneren Prozess der Heilung des Geistes unterstützen, wie es das ‚Nomokanon‘ (Kormcˇaja kniga) vorschrieb. Jedem Delinquenten im Kloster stand ein ‚Mentor‘ zur Seite, der gleichsam als ‚Seelenarzt‘ fungierte. Er ‚justierte‘ im Verlauf der Verwahrung die Form und die Dauer der Buße nach. Der Mentor selbst war den höherstehenden Obrigkeiten unterstellt: er hatte an den Klostervorsteher und dann an den Synod über den Besserungsprozess zu berichten. Dadurch, dass das Element der Buße und somit der korrigierenden, disziplinierenden Haftpraktik an Bedeutung gewann, verlagerte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die funktionale Logik der Klosterverwahrung vom ‚Kerker‘ zur ‚Klausur‘. Zugleich war dies kein linearer Transformationsprozess, sondern in widersprüchliche gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet: die körperlichen Strafarten und andere Formen der Verbannung existierten weiter. Wie ist der Wandel oder, korrekter, die Rückkehr zur monastischen Tradition des podnacˇal’stvo zu erklären? Der erste Faktor hängt meines Erachtens mit der zunehmenden Rolle der synodalen Richter und der kirchlichen Obrigkeit in der Verhängung der Klosterbuße zusammen. In der petrinischen Zeit durfte eine Vielzahl von Akteuren – vor allem die Geheimkanzlei – direkt und ohne synodale Resolution in die Klöster verbannen. In der Regierungszeit Elizabeths I. ebbte diese Praktik ab und unter Katharina II., seit 1764, regelte ein besonderer Erlass, dass nur die Bischöfe das Recht hatten, die Buße zu verhängen und deren Inhalte zu bestimmen. Später, 1770, folgte ein weiterer Erlass, dass die Verordnung der Buße stets vom Synod zu bestätigen sei. Die Verfehlungen wurden nach der Form und der Dauer der Bußübungen klassifiziert und kategorisiert. Als zweiter Faktor für den Wandel der Haftlogik kann die Wirkung des Protestantismus und der westlichen, vor allem deutschen Theologie, auf die religiöse Lehre angesehen werden. Dies weist abermals auf die Rolle der Kirche als einem wichtigen Akteur für den Diskurswandel hin.

Kirche und Staat: Kontext der religiösen Aufklärung Die bisherige Forschung hat die Prozesse in der petrinischen Zeit als Ende der historischen ‚Symphonie von Staat und Kirche‘ und als Unterwerfung der Kirche gegenüber dem Staat beschrieben, von nun an sei die Kirche zur ‚Dienerin des Staates‘ geworden.67 Es wird von der Säkularisierung der Kultur gesprochen, von

67 Bereits in der vorrevolutionären Forschung: Verchovskoj 1906. Neuere Forschung: Evgenij Anisimov, Petr I. Rozˇdenie imperii, in: Voprosy Istorii 7 (1989), 3–20; Ders., Petr Pervyj.

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der Institutionalisierung und Bürokratisierung der Kirche, von Subordination und Instrumentalisierung.68 Am deutlichsten hat diesem Bild der Unterwerfung bislang Gregory Freeze widersprochen.69 Betrachtet man aber allein die Verordnung der Buße, die Praktik der Klosterverbannung, stellt sich heraus, dass die Dynamik viel komplexer und vielschichtiger ist, als es die Repressionsthese vermuten lässt. Wie beeinflusste die Veränderung in den Machtstrukturen – die Bürokratisierung – den Wandel bei der Nutzung der Klöster als Gefängnisse? In ihren Forschungen haben Viktor Zˇivov,70 Aleksandr Lavrov71 und Elena Smiljanskaja darauf hingewiesen, dass der Staat die Kirche für die religiöse und soziale Disziplinierung nutzte. In einem Staat, in dem es gravierend an Policeyund Verwaltungsbeamten fehlte, mussten lokale Priester diese Lücke ausfüllen und die Funktion des sozialen Aufsehers übernehmen. Lavrov schreibt: „Da die Kirche weitaus mehr Untertanen ‚erreichte‘ als der Staat selbst, wurde ihr eine besondere Rolle zugewiesen. Aus dieser Perspektive war die reguläre Beichte genauso wichtig wie das reguläre Steuerzahlen, hinter dem einen und dem anderen stand eine einfache Aufgabe – die Untertanen sollten lernen, zumindest etwas ‚regulär‘ [regelmäßig und ordentlich, E.M.] vorzubringen“.72 Die Frömmigkeit sollte im Verlauf des Disziplinierungsprogramms zur sozialen Norm werden,73 die Wurzel dieser Politik finden wir bereits im späten 17. Jahrhundert. Die Forscher, die ihren Blick vor der petrinischen Zeit ansetzten, wiesen die vorpetrinischen Anfänge der ‚disziplinären Revolution‘ der russischer Frühen Neuzeit zu.74 In vielen Regelungen, die die Kirche betreffen, knüpfte Peter an die Politik seines Vaters an. Trotz dieser nominellen Hoheit des Zaren ist in der Forschung auf eine relativ große Freiheit ‚des verlängerten Arms‘ der staatlichen Verwaltung hingewiesen worden. Gregory Freeze schlug für diese Entwicklung den Begriff ‚Mobilisierung der Geistlichen‘ für Policey-Zwecke vor. Tatsächlich ist er zutreffender als die

68

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Blago ili zlo dlja Rossii?, Moskva 2019; Sergej Rimskij, Rossijskaja cerkov’ v e˙pochu velikich reform. Cerkovnye reformy v Rossii 1860–1870ch gg., Moskva 1998. So z. B. Alexander Muller in ‚The Spiritual Regulation of Peter the Great‘ (1972): „through the enactment of the Spiritual regulation, the state institutionalized, within a secular frame of reference, the subordination of the church“ (p. XXXVIII), zitiert nach Joy Demoskoff, Penance and Punishment. Monastic Incarceration in Imperial Russia, Doctoral thesis, Edmonton 2016, 80. Vgl. Gregory Freeze, Handmaiden of the State? The Church in Imperial Russia Reconsidered, in: Journal of Ecclesiastical History 36 (1985), 82–102. Vgl. Viktor Zˇivov, Iz cerkovnoj istorii vremen Petra Velikogo, Moskva 2004, 47–48. Vgl. Aleksandr Lavrov, Koldovstvo i religija v Rossii 1700–1740, Moskva 2000, 343. Ebd., 346. Vgl. ebd., 344. Vgl. Viktor Zˇivov, Osobyj put’ i puti spasenija v Rossii, in: Andrej Zorin/Timur Antasˇev/ Michail Velizˇev (edd.), Osobyl put’. Ot ideologii k metodu, Moskva 2018, 55–105, 80.

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Begriffe Säkularisierung oder Instrumentalisierung: die Kirchenleute waren zwar ‚mobilisiert‘ und an vorgeschriebene Verpflichtungen gebunden, doch der Inhalt und die Form der religiösen Kommunikation blieb ‚ihre‘ Sache. Die lokalen Kirchenoberhäupter hatten an den Synod zu berichten, nicht aber an eine weltliche Instanz. Auch die gerichtliche Funktion der Bischöfe blieb eigenständig, was nicht selten zu Konflikten zwischen den weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten führte. Während des gesamten 18. Jahrhunderts blieb die Stellung der lokalen Kirchenoberhäupter sehr wichtig. Von einer vollständigen Übernahme kirchlicher Bereiche durch den Staat kann nicht die Rede sein. Die Geistlichen beteiligten sich an der Disziplinierung und waren nicht nur Objekte der Disziplinierung, sondern auch aktive Akteure. Für unsere Fragestellung ist es von besonderer Relevanz, wie die Rezeption der westlichen, protestantischen Kleriker die Einstellung der hohen Kirchenbeamten zur Klosterverwahrung verändert hat. Es ist Gregory Freeze zuzustimmen, der darauf hinwies, dass die petrinischen Reformen keineswegs protestantisch waren (sondern als solche im 19. Jahrhundert diffamiert wurden).75 Gut bekannt ist das tragische Schicksal des Arztes Dmitrij Tveretinov, der protestantische Argumente gegen die orthodoxen Dogmen benutzte.76 Der protestantische Einfluss, um den es hier geht, betrifft die ‚diskursive‘, sprachliche Ebene in den Schriften, Reden und Predigten der führenden Kleriker des späten 18. Jahrhunderts und nimmt die Tatsache in den Blick, dass in den höchsten Staats- und Militärämtern des russischen Imperiums viele Westeuropäer und somit Lutheraner waren.77 Was schließlich die religiöse Erziehung angeht, so hatte die „orthodoxe Kirche kaum eine andere Wahl, als dafür die lutherischen Modellen zu übernehmen“.78 Die ‚religiöse Aufklärung‘ verdient eine besondere Aufmerksamkeit. In der neueren Forschung wird zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Phänomen aufs Engste mit den säkularen Ideen der Zeit verknüpft war, sodass die tradierte Vorstellung von einer säkular-religiösen Dichotomie überwunden werden soll. Das Wirken der einflussreichen Kleriker und ihre neuen Konzepte in der Epoche der Aufklärung waren für den Wandel essenziell.79 Hier sollte der Einfluss der protestantischen Lehre eine besondere Aufmerksamkeit bekommen. Wie An75 Vgl. Gregory Freeze, Lutheranism in Russia. Critical Reassessment, in: Hans Medick/Peer Schmidt (edd.), Luther zwischen den Kulturen, Göttingen 2004, 297–317. 76 Vgl. Smilijanskaja 2003, 265–269. 77 Vgl. Ingrid Schierle, Protestantism in Russia during the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries. Introductory Remarks, in: Vivliofika. E-Journal of Eighteenth Century Russian Studies 5 (2017), 2–4, 2. 78 Freeze 2004, 307. 79 Vgl. Barbara Skinner, Guidelines to Faith. Instructional Literature for Russian Orthodox Clergy and Laity in the Late Eighteenth Century, in: The Russian Review 74 (October 2015), 599–623, 600.

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drey Ivanov schreibt: „There has been greater interaction between Russian Orthodoxy and the protestant west than has been acknowledged so far. The penetration of ideas spanned not only theology but also the sublime and sacred spheres of personal and monastic spirituality.“80 Im späten 18. Jahrhundert kamen, laut Barbara Skinner, zwei wichtige Handlungsintentionen zusammen: „desire on the part of the Orthodox church leadership to help the parish clergy engage more actively and fruitfully in the spiritual development of their flock“81 und die Politik der Aufklärung der Zarin Katharina II. Forscher wie Barbara Skinner, Andrey Ivanov, Viktor Zˇivov, Olga Tsapina, Elise Kimerling Wirtschafter und Ingrid Schierle haben in ihren Studien den Einfluss der protestantischen Lehre, vor allem durch die Übersetzung und die Rezeption der Pietisten und der lutherischen Theoretiker (Johann Arndt und andere) auf die Predigt-Texte und Schriften der ‚großen‘ Kleriker aufmerksam gemacht.82 Den Anfang der Verbreitung der pietistischen Lehre machten Hallenser Pietisten bereits in der petrinischen Zeit.83 Der Mönch und Lehrer Gavriil Buzˇinskij wurde zum ersten Sekretär des Hl. Synods und zum führenden Hofprediger, später wurde er zum Bischof von Rjazan’ ernannt. Buzˇinskij übersetzte ‚Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, so itziger Zeit in Europa sich befunden‘ (Frankfurt/M. 1682) von Samuel von Pufendorf, ein von Peter I. besonders geschätztes Buch der Aufklärung.84 Seine Predigten wurden auch später von der russischen Aufklärung hochgehalten: So gab Nikolaj I. Novikov 1784 sie in seiner Bibliothek wichtiger Schriften der Aufklärung heraus.85 Zu den ersten Schriften gehört auch das anonym verfasste ‚Poucˇenie svjatitel’skoe k novopostavlennomu iereju‘ (‚Die Lektion des Prälaten für den neu80 Andrey Ivanov, The Impact of Protestant Spirituality in Catherinian Russia. The Works of St. Tikhon of Zadonsk, in: Vivliofika. E-Journal of Eighteenth Century Russian Studies 5 (2017), 40–72, here 56. 81 Skinner 2015, 599. 82 Zusätzlich zu den schon erwähnten Studien von Schierle, Zˇivov, Freeze und Ivanov siehe: Olga Tsapina, Beyond the Synodal Church. Problems and Perspectives in the Studies of Eighteenth Century Russian Orthodoxy, in: Classical Russia 1 (2006), 19–52; Elise Kimerling Wirtschafter, Religion and Enlightenment in Catherinian Russia. The Teachings of Metropolitan Platon, DeKalb, Il 2013. 83 Vgl. Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert, Berlin 1953. 84 Auf Russisch erschienen unter Vvedenie vo vsjakuju istoriju 1718. Vgl. Winter 1953, 140. Eine weitere Übersetzung Pufendorfs erschien 1724 unter dem Titel ‚Von den Pflichten des Menschen und des Bürgers‘ (O dolzˇnosti cˇeloveka i grazˇdanina). Original in Latein, auf Deutsch erst 1994: ‚Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur‘. 85 Vgl. Winter 1953, 140.

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geweihten Priester‘) aus dem Jahr 1721 (Neuauflage 1754), die Richtlinien zur Erziehung der Kinder, dem Umgang mit den Armen und die Sakramentengabe sowie zur Anordnung der Buße (e˙pitim’ja) beinhaltet.86 Andrey Ivanov demonstrierte am Beispiel des Hl. Tichon von Zadonsk (1724– 1783), des Bischofs von Voronezˇ und Don, dass die führenden orthodoxen Bischöfe sich auf die protestantischen und aufklärerischen Konzepte und Innovationen als Richtlinien für ihre eigenen Reformen der orthodoxen Theologie bezogen und damit einen wichtigen Schritt zur Modernisierung der Kirche machten. Tichon stand unter dem Einfluss des deutschen lutherischen Bischofs Johann Arndt (1555–1621) und des hallensischen Pietismus.87 Er hielt die Lektüre der Bibel und der Schriften von Arndt überhaupt für ausreichend, um ein guter Christ zu sein. Seine eigenen Schriften wie ‚O istinnom christianstve‘ und ‚Duchovnoe sokrovisˇcˇe‘ haben viele Anlehnungen an die Schriften von Arndt.88 Am Wirken Tichons in seiner Diözese kann man auch einen praktischen Einfluss der protestantischen Erziehungsmodelle auf die soziale Disziplinierung sehen.89 Die Schrift ‚Dolzˇnost’ svjasˇcˇennicˇeskaja o semi tajnach svjatych‘ (‚Die Pflichten des Geistlichen in den sieben Heiligen Sakramenten‘) von 1764 stellte ausführlicher dar, wie ein Priester sich um die Erziehung seiner Gemeinde zum christlichen Verhalten bemühen soll, unter anderem wie er die Beichte abnimmt, um das Gefühl der Reue auszulösen.90 Andrey Ivanov stellt überzeugend dar, dass Tichon „ein aktiver Akteur der Reformierung der russischen Orthodoxie“ war, der sich aktiv auf die Beispiele des Protestantismus bezog und somit ein Beispiel für einen „intellektuellen Austausch zwischen Russland und Europa in den Zeiten der Aufklärung“91 lieferte. Am Beispiel des Metropoliten Platon Levsˇin (1737–1812) zeigte Ol’ga Capina, wie er die Ideen der westeuropäischen Wissenschaft und Theologie in seine Predigten und Schriften integrierte.92 Elise Kimerling Wirtschafter zeigte in ihrer Untersuchung auf, wie in seinen neuen Predigten und Instruktionsschriften an die Kleriker Konzepte der Umgestaltung des eigenen ‚Ichs‘, der Regeneration, des inneren Rückzugs zur Einsicht der Sünde und deren Überwindung, der Moralität, des bürgerlichen Allgemeinwohls, freilich angepasst an die Dogmen der Orthodoxie, präsentiert wurden.93 86 87 88 89 90 91 92

Vgl. Skinner 2015, 604. Vgl. Ivanov 2017, 41. Vgl. ebd., 42. Vgl. ebd., 41 Vgl. Skinner 2015, 606. Ivanov 2017, 56. Vgl. Ol’ga Capina, Pravoslavnoe prosvesˇcˇenie – oksimoron ili istoricˇeskaia real’nost’?, in: Evropejskoe prosvesˇcˇenie i civilizacija Rossii, Moskva 2004, 301–314. 93 Vgl. Wirtschafter 2013.

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Levsˇin und Gavriil Petrov (1730–1801) verfassten Lehrschriften, die das Bildungsniveau unter den Klerikern erhöhen sollten, wie z. B. ‚Sobranie raznych ucˇenij na vse voskresnye i prazdnicˇnye dni‘ (1775) – dieses Schriftstück integrierte die protestantischen Schriften, die ins Russische übersetzt wurden.94 Das 1783 veröffentlichte Schulbuch ‚O dolzˇnostjach cˇeloveka i grazˇdanina‘ verbreitete protestantische Lehren über die Pflichten des guten Staatsbürgers.95 Die semantische Verbindung zwischen einem wahren Christen und einem guten Bürger war typisch für die westliche Aufklärungspredigt dieser Zeit.96 Im Allgemeinen zeigen diese Veröffentlichungen, dass die Kirchenoberhäupter mit großem Ernst das Ziel der Verbesserung der Priestermoral sowie eine größere Rolle der Kirche in den Erziehungsangelegenheiten anstrebten. Zum neuen Diskurs der Kleriker bezüglich der Straflogik gehörte auch die Einsicht, dass die Besserung des zu bestrafenden Menschen nur durch aktive Arbeit am Glauben, nicht durch das Martern des Körpers zu erreichen ist. 1780 folgte das bischöfliche Zirkular an die lokalen Verwaltungen, dass der Büßende weder überlastet noch zur Verzweiflung getrieben werden dürfe.97 Die Seele kann durch ora et labora – Gebet und Arbeit – gerettet werden, nicht durch das Aushalten von Körperqualen oder gar die physische Vernichtung (d. h. Hinrichtung). Die Idee der Regeneration geht in den protestantischen Diskurs der Erziehung und Belehrung ein: permanentes Selbst-Verbessern durch gewissenhaft ausgeübte Buße, aufrichtiges Zeigen der Reue sind hier die Fundamente der Bekehrung zum ‚richtigen Christen‘ und ‚guten Bürger‘. Die Veränderung der Sprache der Predigten, deren Unverständlichkeit und Unvermittelbarkeit bereits von Feofan Prokopovicˇ bei Peter I. kritisiert wurde,98 spielte eine wichtige Rolle in der religiösen Aufklärung dieser Zeit. Die Sprache der weltlichen Literatur und die Sprache der Predigten verbinden sich in einer Form, die es möglich macht, die belehrenden und erziehenden Inhalte zugänglich und klar zu formulieren. Die Texte der Prediger ergänzten die ‚Ulozˇenija‘ der aufgeklärten Monarchin Katharina II. Die weltliche Macht konnte somit wei-

94 Vgl. Schierle 2017, 4. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. ausführlicher Stefan Reichelt, Recepcija tvorcˇestva Ioanna Arndta v Rossii, in: Roger P. Bartlett et al. (edd.), Eighteenth-Century Russia. Society, Culture, Economy. Papers from the VII International Conference of the Study Group on Eighteenth-Century Russia, Wittenberg 2004/Berlin 2007, 221–228. 97 Vgl. Freeze 1993, 58. Original: RGIA, f. 796, op. 61, d. 123, ll. 1–2 (1780). 98 Winter argumentiert, dass Peter sich noch am Ende seines Lebens an den Synod mit dem Wunsch wandte, die ins Kirchenslavische übersetzte ‚Einführung in die christliche Lehre‘ von August Hermann Francke möge den russischen Bischöfen Anregung sein, eine kurze, allgemein verständliche Einführung in die Glaubenslehre der russischen Kirche zu verfassen. Winter 1953, 107.

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terhin mit der Unterstützung der Kirche bei der Erklärung der Staatspolitik rechnen. Die für das späte 18. Jahrhundert oft konstatierte ‚Humanisierung‘ der Strafe ist somit nicht so sehr mit den Schriften Cesare Beccarias, ihrer Rezeption durch Katharina II. und der französischen Aufklärung zu erklären, sondern viel eher mit der religiösen Aufklärung und dem Einfluss des Protestantismus auf den Diskurs der Buße, zu welchem auch die ‚korrigierende‘ Rolle der Arbeit gehörte. Der Aspekt der Arbeit der Häftlinge spielte als Mittel von deren Besserung eine wichtige Rolle. Der katharinäische ‚Nakaz o tjurmach‘ von 1766 und die Einrichtung von öffentlichen Almosenhäusern (Prijut obsˇcˇestvennogo prizrenija) 1775 waren zweifellos von den westeuropäischen Modellen – Zucht– und Armenhäusern – als kombinierten Institutionen inspiriert. Diese Einsicht unterstützt das Ergebnis der Diskursanalyse, die Lena Marassinova in ihrer neuen Studie ‚Zakon i grazˇdanin‘ (‚Gesetz und Bürger‘) unternommen hatte, nämlich, dass seit der Elizabethischen Zeit das Legitimationsprinzip für die absolute Herrschaft nicht mehr in den öffentlichen körperlichen Strafen und Hinrichtungsritualen bestand, sondern in der ‚rationalen‘, ‚aufklärerischen‘, ‚humanistischen‘ Praktik der Buße. Nicht mehr die Bestrafung, sondern ‚die Erziehung der Seele‘ stand im Mittelpunkt der erzieherischen Politik.99

Zusammenfassung Während in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Praktik des podnacˇal’stvo eine Form von Strafe war, werden seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Betreuung, Beobachtung und Anweisung zu den Schlüsselbegriffen der Klosterhaft. Zum Ankerpunkt der sozialen Disziplinierung wird das Prinzip ora et labora, religiöse Betreuung und Arbeit, wie wir dies auch in der christlichen Tradition der Westkirche finden. Noch vor der Etablierung der ‚Korrektionshäuser‘ (ispravitel’nye doma) im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts fungierten russische Klöster als ‚disziplinierende‘ Institutionen. Das bedeutet für den Fall Russland ein ähnlich kritisches Überdenken der These von Foucault, dass disziplinierendes Strafen erst in der Moderne entsteht und säkularen Ursprungs ist. Die Anordnungen Peters I. waren frühaufklärerisch im Inhalt und sozialdisziplinierend in der Funktion. Die Kirche hatte vor allem als Instanz der sozialen Kontrolle zu fungieren und in dieser Funktion wurde sie wichtiger als vor den petrinischen Reformen.

99 Beispiele siehe hier: Elena Marassinova, Zakon i grazˇdanin v Rossii vtoroj poloviny XVIII veka. Ocˇerki istorii obsˇcˇestvennogo soznanija, Moskva 2017, 147, 198, 372.

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In Russland traf das Experimentieren mit Praktiken der Strafe und Besserung in den klösterlichen Räumen später als im westlichen Europa ein und hatte mit der verspäteten Zentralisierung der Macht, institutioneller Konfusion und der Spezifik des orthodoxen Dogmas zu tun. Doch die Ähnlichkeit in der Entwicklung der Klöster in Westeuropa und in Russland kann nicht unbemerkt bleiben. Die Verbannung in Klöster zur Strafe oder zur Besserung ist ein eigenständiges, äußerst spannendes geschlechts-, alters- und schichtübergreifendes soziokulturelles Phänomen. An ihm kann man sehen, wie sich der Diskurs der sozialen Disziplinierung entwickelt und wandelt und welche Rolle dabei der Religion zukommt.

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Machtbehauptungen in einer politisch-sozialen Krisensituation

Daniela Mathuber

Die Vorbildwirkung des ersten falschen Dmitrij für samozvanstvo und ihre Grenzen

Abstract The first False Dmitrii appeared in 1603. He was the first of several dozen male and female impostors (samozvanets, samozvanka) to appear in Muscovy and the Russian Empire in the following decades and centuries. This paper shows in which respects he served as model for future impostors and contributed to making the pretender phenomenon (samozvanstvo) a permanent feature of Russian history. Even today it is not fully clear who the first False Dmitrii was, so section 2 addresses again the complicated problem of his true identity. The sources partly contradict each other, partly their trustworthiness is questionable. Besides that, tsar Boris Godunov could have used a fictitious biography to identify the impostor with runaway monk Grigorii Otrep’ev. Denouncing him as concrete person with known relatives, a known past and known moral flaws was far more convincing than denouncing him simply as fraud. Section 3 outlines the most common theories which model could have inspired the first False Dmitrii to pose as Ivan the Terrible’s youngest son. Historians usually assume that he either knew of 16th century-pretenders in Moldavia or of the false Kings Sebastian of Portugal who were active in the period 1584–1602. Neither theory is sufficiently proven, and both rely on the assumption that the first False Dmitrii was Otrep’ev. The paper introduces folk tales about the robber Kudeyar as third possible model. Kudeyar was said to be Ivan the Terrible’s elder half-brother, so from this tale the first False Dmitrii could have gained an inkling how to make use of a cast-aside tsarevitch for his own purposes. Section 4 deals with the first False Dmitrii’s contribution to introducing samozvanstvo permanently in Muscovy. His (temporary) success attracted at least eighteen copy-cat impostors in only seven years between 1605 and 1612. Their high number in a short period of time helped to make royal imposture widely known. Besides that, the later impostors clearly modelled the fictitious stories about their pasts on the first False Dmitrii’s. This way a narrative and behavioural pattern took shape for future impostors to stick to. Last but not least, later impostors profited from the fact that the first False Dmitrii’s downfall in 1606 planted lasting suspicions among the populace that the person on the throne was a fraud and the ‘true ruler’ to be found somewhere else. Many characteristics of the pretender phenomenon in the Time of Troubles can be found also in the 18th and 19th centuries, but certainly not all of them. For example, the appearance of impostors did not always result from a crisis. To draw such a connection would mean that Muscovy and the Russian Empire suffered a permanent crisis for about 300 years.

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The paper proposes to link the appearance of impostors instead with a redefinition of the ruler’s role dating from the mid-17th century that was valid until about 1800. The ideal of direct, personal rule was replaced with indirect rule via institutions. To make up for the loss of the tsar’s importance in governing the country, it was more highlighted than ever that he was the sole person to be able to lead his subjects towards universal prosperity and happiness. An impostor embodied on the one side the promise that contact between ruler and subjects was still possible. On the other side he profited from the assumption that only following the ‘true’ tsar could bring prosperity to the country and its inhabitants.

Einleitung Falsche Herrscher und Herrschersöhne sind aus verschiedenen Ländern und Epochen bekannt. Sie traten unter anderem im Alten Ägypten, dem Römischen Reich, Frankreich, England und Portugal auf. Wie Sergej Solov’ev schon 1868 anmerkte, unterschieden sich die Fälle im Moskauer und Russländischen Reich von den genannten und anderen Beispielen in erster Linie durch ihre Häufigkeit.1 Oleg Usenko kommt für das 17. und 18. Jahrhundert auf insgesamt 147 Fälle.2 Absolute Zahlen wie diese sind immer mit Vorsicht zu genießen, da sie sich nicht nur infolge von (Wieder-)Entdeckungen in den Archiven verändern, sondern auch und sogar hauptsächlich durch die Kriterien, anhand derer HistorikerInnen ihr Material sortieren. Samozvanstvo, der russische Ausdruck für die Aneignung einer fremden Identität, umfasst sämtliche Varianten von einem falschen Zahnarzt/einer falschen Zahnärztin bis zu einem Usurpator/einer Usurpatorin. HistorikerInnen müssen aus dieser Fülle eine Auswahl treffen, und da sich die Auswahl am jeweiligen Forschungsinteresse orientiert, gibt es weder allgemein gültige Kriterien, noch eine sich daraus ableitende objektiv richtige Zahl von Fällen. Die Größenordnung, die durch Usenkos Zahl zum Ausdruck kommt, ist aber korrekt. Es geht nicht um eine Handvoll Fälle in einem begrenzten Zeitraum, sondern um mehrere Dutzend über Jahrhunderte verstreute Fälle. Das wissenschaftliche Interesse an samozvanstvo wurzelt nicht zuletzt in dem Versuch, zu erklären, warum die Aneignung einer fremden (Herrscher-)Identität im Moskauer und Russländischen Reich derart häufig war, was wiederum die Aufmerksamkeit auf die Anfänge des Phänomens in der ‚Zeit der Wirren‘ lenkt. Um diese Anfänge und ihre Nachwirkung geht es auch im vorliegenden Beitrag. 1 Vgl. Sergej M. Solov’ev, Zameˇtki o samozvancach v Rossii, in: Russkij archiv 6 (1868), 265– 281, 265. 2 Oleg G. Usenko, Gendernyj aspekt monarchicˇeskogo samozvancˇestva v Rossii XVII–XVIII vv., in: Gendernaja teorija i istoricˇeskoe znanie. Materialy vtoroj mezˇdunarodnoj naucˇnoprakticˇeskoj konferencii, Syktyvkar 2005, 241–249, 241.

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Im Mittelpunkt steht der erste falsche Dmitrij.3 Er war nicht nur der erste samozvanec im Moskauer Reich, sondern diente auch den späteren samozvancy und samozvanki direkt wie indirekt als Vorbild. Nicht behandelt werden hingegen strukturelle Faktoren, die erklären sollen, warum der erste samozvanec im Moskauer Reich just am Beginn des 17. Jahrhunderts auftrat und nicht schon im 16. Jahrhundert oder sogar noch früher. Wahrscheinlich ist allen HistorikerInnen, die sich jemals mit dem ersten falschen Dmitrij befasst haben, bewusst, dass das große Interesse an seiner Person in einem auffälligen Missverhältnis dazu steht, wie wenige der Angaben über ihn und sein Leben als gesichert betrachtet werden können. Es wird jedoch üblicherweise zu wenig berücksichtigt, dass sich diese Kenntnislücken selbstverständlich auch darauf auswirken, was und wie viel sich über die Ursprünge von samozvanstvo im Moskauer Reich sagen lässt. Deswegen wird am Beginn noch einmal die Frage nach der Identität des ersten falschen Dmitrij aufgeworfen (Abschnitt 2). Danach werden die folgenden Fragen behandelt: Woher kann er die Idee gehabt haben, sich für den jüngsten Sohn Ivans IV. auszugeben, obwohl derlei im Moskauer Reich bis dahin unbekannt war? (Abschnitt 3) Wie sind die Häufigkeit und der lange Bestand von samozvanstvo zu erklären? (Abschnitt 4) Ist es gerechtfertigt, samozvanstvo auch nach der ‚Zeit der Wirren‘ als Krisenphänomen einzustufen? (Abschnitt 5)

Wer war der erste falsche Dmitrij? In fast allen Publikationen, die sich mit dem ersten falschen Dmitrij befassen, sind folgende Angaben zu seiner (vermuteten) wahren Identität zu finden: Es habe sich um Jurij Otrep’ev gehandelt, den Sohn eines Hundertschaftsführers ˇ udov(sotnik) bei den Strelitzen, der unter dem Namen Grigorij Mönch im C Kloster im Moskauer Kreml gewesen sei. Von dort sei er 1602 mit zwei anderen Mönchen Richtung Südwesten geflohen. In der Rzeczpospolita hätten sich ihre Wege getrennt; Otrep’ev habe sich eine Zeit lang in der Sicˇ und in einer Siedlung von Arianern4 aufgehalten, ehe er in Bragin/Brahin im heutigen Belarus’ in die Dienste des Magnaten Adam Wis´niowiecki getreten sei, dem er sich 1603 als jüngster Sohn Ivans IV. offenbarte. Ab diesem Punkt ist das Geschehen nicht mehr strittig.

3 Auf Deutsch auch Pseudo-Demetrius genannt, russ. Lzˇedmitrij. Zur publizistischen und literarischen Bearbeitung der Figur des Falschen Dmitrij vgl. auch den Beitrag von Dittmar Dahlmann in diesem Band. 4 Gemeint sind Anti-Trinitarier.

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Seit Boris Godunov diese Version im September 1604 zum ersten Mal benutzt hatte, akzeptierte sie die überwiegende Mehrheit der Personen, die sich mit der Frage von ‚Dmitrijs‘ Identität befasste. Doch diesem Konsens sollte nicht zu viel Gewicht beigemessen werden. Er könnte auch schlicht deswegen Bestand haben, weil es bis heute niemandem gelungen ist, einen überzeugenden Vorschlag zu machen, wer außer Otrep’ev in die persona von Dmitrij Ivanovicˇ geschlüpft sein könnte. Die Alternative scheint zu lauten, entweder Grigorij Otrep’ev für ‚Dmitrij‘ zu halten oder im Dunkeln zu tappen. Eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten in den vorhandenen Quellen ziehen Godunovs Version in Zweifel. Sie betreffen Details, welche die meisten HistorikerInnen für vernachlässigbar halten. Jedoch ist ihre bloße Existenz ein Hinweis, mit den scheinbaren Gewissheiten vorsichtig umzugehen. Ausführlich auf die Ungereimtheiten und damit verbundene Probleme einzugehen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ich werde mich daher auf zwei Beispiele beschränken, die eine Vorstellung geben, von welcher Art Problem die Rede ist. Das erste Beispiel ist Otrep’evs Alter. Der echte Dmitrij Ivanovicˇ wurde 1582 geboren, wäre also rund 20 Jahre alt gewesen, als der erste samozvanec unter seinem Namen auftrat. Der erste falsche Dmitrij war im passenden Alter oder sah zumindest so aus, als könnte er es sein.5 Jacques Margeret zufolge, einem französischen Söldner, der erst Godunov diente und dann zu ‚Dmitrij‘ überlief, war der Mönch Grigorij Otrep’ev hingegen rund 15 Jahre älter und sah auch nicht jünger aus.6 Eine Manipulation durch Margeret selbst ist unwahrscheinlich, da er überzeugt war, der echte Sohn Ivans IV. sei noch am Leben. Angesichts dessen hatte er es nicht nötig, ‚Beweise‘ zu erfinden. Das bedeutet jedoch nicht, dass seine anonyme Quelle für diese Passage zuverlässig war. Das zweite Beispiel ist die Glaubwürdigkeit des Berichts (izvet), den Varlaam Jackij 1606 nach ‚Dmitrijs‘ Sturz für den neuen Zaren Vasilij Sˇujskij verfasste. Jackij soll einer der beiden Mönche gewesen sein, die mit Otrep’ev aus Moskau geflohen waren. Im Bericht schilderte er Otrep’evs Bewegungen im Jahr 1602 ausführlich, um sich von jedem Verdacht der Konspiration reinzuwaschen. Der izvet lässt keinen Zweifel daran, dass Otrep’ev und der erste falsche Dmitrij ein und dieselbe Person gewesen seien7, doch seine Zuverlässigkeit ist höchst umstritten. Maureen Perrie folgt Paul Pierling in der Einschätzung, dass Jackij eine Reihe von Details nur aus der Autopsie habe wissen können und daher ver5 Vgl. Chester S. L. Dunning, Russia᾽s First Civil War. The Time of Troubles and the Ascension of the Romanov Dynasty, Pennsylvania 2001, 129. 6 Vgl. Chester Dunning (ed.), Jacques Margeret᾽s State of the Russian Empire and Grand Duchy of Muscovy, Ann Arbor/London 1977, 82. 7 Vgl. Maureen Perrie, Pretenders and Popular Monarchism in Early Modern Russia. The False Tsars of the Time of Troubles, Cambridge 2002 [erstmals 1995], 43.

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trauenswürdig sei.8 Chester Dunning füllte hingegen anderthalb Druckseiten mit Gründen, warum der izvet nicht das Papier wert sei, auf dem er geschrieben steht.9 Eine weitere Überlegung zur Identität des ersten falschen Dmitrij ergibt sich aus dem Vergleich mit einem ähnlich gelagerten Fall in England. Heinrich VII. war in seiner Regierungszeit mit den beiden bekanntesten englischen impostors konfrontiert, Lambert Simnel (1486/1487) und Perkin Warbeck (1490–1497). Deren Auftreten war eine Folge des unbekannten Schicksals der ‚Prinzen im Tower‘.10 Nach dem Tod Eduards IV. 1483 bestieg zunächst dessen älterer Sohn als Eduard V. den Thron. Da sich jedoch nur wenige Tage später herausstellte, dass Eduard IV. Bigamist gewesen war, wurde der Kindkönig für illegitim erklärt, abgesetzt und in den Tower gebracht. Sein jüngerer Bruder Richard von York musste ihm wenig später folgen. Über das weitere Schicksal der Buben ist nichts bekannt. Nachdem Heinrich VII. 1485 den Thron bestiegen hatte, ließ er die Kinder Eduards IV. wieder für legitim erklären, damit er dessen Tochter Elizabeth von York heiraten konnte. Ab diesem Zeitpunkt war auch der Thronanspruch der Buben im Tower wieder intakt und ihr Schicksal deswegen für politische Intrigen interessant. Simnel gab sich als der Earl von Warwick aus, ein Neffe Eduards IV. Sein Auftreten bezog sich auf die Behauptung, beide Prinzen seien im Tower gestorben. Warbeck gab sich als Richard von York aus, berief sich also darauf, dass nur Eduard (V.) tot sei. Warwick wie York hätte, sofern in Freiheit und am Leben, einen größeren Anspruch auf den Thron gehabt als der nur weitschichtig mit ihnen verwandte Heinrich VII. (Henry Tudor).11 In beiden Fällen reagierte Heinrich auf die Herausforderung prompt und auf dieselbe Weise. Er ließ bekannt machen, wie der impostor in Wahrheit heiße, wer seine Eltern seien, wo sie wohnten, welchen Beruf der Vater ausübe. Allerdings legen ebenfalls in beiden Fällen Ungereimtheiten nahe, dass diese Biographien zumindest zum Teil fiktiv waren – dass also Simnel nicht Simnel hieß, Warbeck nicht Warbeck hieß und beide mit ihrer angeblichen Verwandtschaft nicht das Geringste zu tun hatten.12 Die Motivation hinter einer solchen Mystifikation ist leicht ersichtlich. Heinrichs Anspruch auf den Thron war, wie gesagt, nicht der stärkste. Angesichts dessen hatte er kaum eine andere Wahl als die Flucht nach 8 Vgl. Perrie 2002, 50. 9 Vgl. Dunning 2001, 127–129. 10 Für eine ausführliche Darstellung des Hintergrunds siehe John Ashdown-Hill, The Dublin King. The True Story of Edward, Earl of Warwick, Lambert Simnel and the ‚Princes in the Tower‘, Stroud 2015, 14–20. 11 Aus genau diesem Grund ließ Heinrich VII. den echten Earl von Warwick bald nach seiner Thronbesteigung inhaftieren. 12 Zu Simnel siehe Ashdown-Hill 2015, 162 und zu beiden siehe Ann Wroe, The Perfect Prince, New York 2003, 195.

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vorne anzutreten und seine Konkurrenten zu enttarnen, bevor jemand auf die Idee kam, diese allzu ernst zu nehmen. Dabei war es viel glaubwürdiger, wenn Heinrich in allen Details angeben konnte, wer ihm das Leben schwer machte, als wenn er Simnel und Warbeck zwar als Hochstapler diffamiert hätte, jedoch eingestehen hätte müssen, nicht genau zu wissen, mit wem er es eigentlich zu tun hatte.13 Boris Godunovs Legitimität war insgesamt fragiler, aber abgesehen davon befand er sich in einer vergleichbaren Situation. So wie Heinrich VII. gegenüber einem Sohn oder Neffen Eduards IV. im Nachteil war, war Godunov gegenüber einem Sohn Ivans IV. im Nachteil. Sobald Godunov begriff, dass der junge Mann in der Rzeczpospolita ein ernstzunehmendes Problem für ihn darstellte, verfiel er auf dieselbe Verteidigungsstrategie wie der englische König mehr als ein Jahrhundert früher: Er machte den (vermeintlichen) wahren Namen des falschen Dmitrij publik, nannte seine Verwandten und die bisherigen Stationen seines Lebens.14 Ob die Angaben authentisch waren oder eine Mystifikation, spielte eine geringere Rolle als der Effekt, den Godunov damit zu erzielen hoffte. Es ist sogar möglich, ein Szenario zu formulieren, wie eine Otrep’ev-Mystifikation zustande gekommen sein könnte. Der gängigen Version zufolge war Otrep’ev zum Zeitpunkt seiner Flucht aus Moskau Diakon und Sekretär des Patriarchen Iov. Iov wiederum war ein Protegé Godunovs15; es ist also gut vorstellbar, dass er den Zaren auf seinen abgängigen Sekretär aufmerksam machte und ihm half, diesen mit dem samozvanec in der Rzeczpospolita zu verschmelzen. Die dritte Komponente in ‚Dmitrijs‘ offizieller Vorgeschichte, Otrep’evs angebliche Faszination für schwarze Magie und Häresie, zählte zum damaligen Standardrepertoire für Verleumdungen16, sodass die konkrete Herkunft zu ermitteln keine zusätzlichen Erkenntnisse erbrächte. Weder das übereinstimmende Vorgehen von Heinrich VII. und Boris Godunov, noch das gerade entworfene Szenario sind ein Beweis dafür, dass Grigorij Otrep’ev als Dmitrij ganz oder teilweise eine Fiktion ist. Diese Möglichkeit muss jedoch definitiv in Betracht gezogen werden, zumal die Ungereimtheiten in den Quellen ebenfalls in diese Richtung deuten. Solche Überlegungen sind mehr als eine Fingerübung in Quellenkritik. Sie sind wichtig, weil die verschiedenen Thesen, warum sich der erste falsche Dmitrij für den jüngsten Sohn Ivans IV. ausgab, wer mögliche Hintermänner waren und an welchen Vorbildern er sich orientiert haben könnte, auf der Prämisse beruhen, dass Grigorij Otrep’ev und der samozvanec dieselbe Person waren. Ihre Plausi13 14 15 16

Vgl. Wroe 2003, 195. Vgl. Perrie 2002, 45. Vgl. Dunning 2001, 91. Vgl. Dunning 2001, 202; Perrie 2002, 103.

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bilität beziehen sie nicht zuletzt daraus, mit Otrep’evs Biographie kompatibel zu sein bzw. eine Brücke von Otrep’ev zu ‚Dmitrij‘ schlagen zu können. Da die Prämisse selbst auf unsicherem Grund gebaut ist, sind letztlich nur Spekulationen darüber möglich, warum und auf welchem Weg samozvanstvo ins Moskauer Reich kam. Vor diesem Hintergrund werden im nächsten Abschnitt die gängigen Thesen zu den möglichen Vorbildern des ersten falschen Dmitrij vorgestellt. Wie sich zeigen wird, ist keine von ihnen wasserdicht.

Die möglichen Vorbilder des ersten falschen Dmitrij Als ein mögliches Vorbild gelten die Prätendenten im Fürstentum Moldau. Zwischen dem Ende des 15. und dem Ende des 16. Jahrhunderts versuchten mehrere Thronprätendenten, ihre Chancen zu erhöhen, indem sie sich als naher Verwandter eines früheren Hospodaren ausgaben.17 Die geographische Nähe zum Moskauer Reich und die zeitliche Nähe zur ‚Zeit der Wirren‘ sind nicht zu bestreiten. Die meisten Moldauer Prätendenten traten in den 1580er Jahren auf, also nicht einmal zwanzig Jahre vor dem ersten falschen Dmitrij. Die Saporoger Kosaken, bei denen sich Otrep’ev/der erste falsche Dmitrij eine gewisse Zeit aufgehalten haben soll, unterstützten selbst mehrere Prätendenten, sodass er durch erstere von zweiteren erfahren haben könnte.18 Zudem tauchen zwei Familien in beiden Kontexten auf: Konstantin/Vasilij Ostrozˇskij protegierte 1578 den Prätendenten Alexandru und soll als Voevode von Kiev zu den frühesten Unterstützern des ersten falschen Dmitrij gehört haben. Dymitr Wis´niowiecki, ein Verwandter von Adam Wis´niowiecki, war in den 1560er Jahren selbst als Prätendent in der Moldau aufgetreten.19 Die Aktivitäten der Familien Ostrozˇskij und Wis´niowiecki wären aber nur ausschlaggebend, falls der erste falsche Dmitrij nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hätte, sondern jemandes Marionette in einem politischen Machtkampf gewesen wäre und dieser Jemand auf den eigenen Erfahrungsschatz zurückgegriffen hätte, um die Intrige zu spinnen. Adam Wis´niowiecki war bei Grenzstreitigkeiten zwischen der Rzeczpospolita und dem Moskauer Reich zu Schaden gekommen und deswegen auf Godunov nicht gut zu sprechen20, doch ihm lässt sich genauso wenig ein Komplott nachweisen wie Ostrozˇskij.

17 Zu ihnen siehe Claudio Sergio Ingerflom, Le tsar c᾽est moi. L᾽imposture permanente d᾽Ivan le Terrible à Vladimir Poutine, Paris 2015, 59–63. 18 Dazu siehe Maureen Perrie, Fugitive Tsars and Zaporozhian Cossacks. The Development of a Seventeenth-Century Stereotype, in: Harvard Ukrainian Studies 28 (2006), 581–590, 583. 19 Vgl. Ingerflom 2015, 60f. 20 Vgl. Perrie 2002, 40.

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Als zweites mögliches Vorbild gelten die falschen Sebastians, die am Ende des 16. Jahrhunderts europaweit Bekanntheit erlangten.21 1578 wurde König Sebastian von Portugal in der Schlacht bei Alkazar-Quibir in Marokko getötet. Sein Gefolge konnte den Leichnam erst Tage später bergen und nur unter erheblichen Zweifeln identifizieren. Derlei war für Schlachten in der Frühen Neuzeit (und den meisten anderen Epochen) beileibe nichts Ungewöhnliches. Allerdings sorgte eine als protonational anzusprechende Empörung darüber, dass ausgerechnet der König von Spanien dem unverheiratet und kinderlos umgekommenen Sebastian nachfolgte,22 dafür, dass die fehlende Gewissheit über das Schicksal des Königs zum Katalysator für Gerüchte wurde, denen zufolge Sebastian nur verwundet worden war und nach seiner Genesung zurückkehren würde. 1584 machte schließlich der erste präsumtive Sebastian von sich reden, der sogenannte Einsiedler von Peñamacor. Marco Tulio Catizone, der letzte falsche König, trat 1598 in Venedig auf und wurde erst 1602 endgültig verhaftet – also in dem Jahr, in dem die Anfänge des ersten falschen Dmitrij liegen. Es ist belegt, dass mit Papst Clemens VIII., dem päpstlichen Nuntius in Krakau Claudio Rangoni und dem polnischen König Sigismund III. zumindest ein paar frühe Unterstützer des ersten falschen Dmitrij über die falschen Sebastians Bescheid wussten.23 Das wäre allerdings nur relevant, falls sie den ersten falschen Dmitrij schon gekannt hätten, bevor sie ihm offiziell zum ersten Mal begegneten bzw. von ihm hörten – in anderen Worten, falls sie ihn als Marionette für die Konversion des Moskauer Reiches zum Katholizismus oder eine anders geartete Unterjochung des Moskauer Reiches aufgebaut hätten. Doch dafür fehlt jeder Beleg. Ebenso ist unbekannt, ob der erste falsche Dmitrij selbst von den falschen Sebastians wusste, und falls ja, wann und wie er von ihnen erfahren hatte. Ein drittes und von der Forschung bislang vernachlässigtes denkbares Vorbild sind die Überlieferungen über den Räuber Kudejar als Halbbruder Ivans IV. Wie bei den Prätendenten in der Moldau und den falschen Sebastians gibt es keine Belege dafür, dass der erste falsche Dmitrij sie kannte, zumal andere Überlieferungen über den Räuber deutlich häufiger belegt sind.24 Dafür weist diese Va21 Die ausführlichste Darstellung ist nach wie vor Miguel d’Antas, Le faux Don Sébastien. Étude sur l’histoire de Portugal, Paris 1866. Für einen Überblick siehe Yves-Marie Bercé, Le roi caché. Sauveurs et imposteurs. Mythes politiques populaires dans l᾽Europe moderne, Paris 1990, 17–81. 22 Sebastians unmittelbarer Nachfolger war sein Onkel Heinrich, der als Kardinal jedoch erst formal vom Zölibat entbunden werden musste und bereits 1580 ohne Nachkommen starb. Philipp II. von Spanien war ein Cousin Sebastians. 23 Vgl. Paul Pierling, La Russie et la Saint-Siège. Études diplomatiques III (Russian Reprint Series LXVI, 3), The Hague 1967 [Original Paris 1901], 41; Perrie 2006, 583. 24 Vgl. A. A. Krupp, Predanija o vremeni Ivana Groznogo, in: Russkij fol’klor 16 (1976), 208–220, 214.

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riante gegenüber den Prätendenten in der Moldau oder den falschen Sebastians zwei Vorteile auf: Sie wäre unabhängig davon, ob der erste falsche Dmitrij und Otrep’ev dieselbe Person waren. Außerdem erscheint es sinnvoller, ein Vorbild anzunehmen, das der samozvanec kennen konnte, ohne auf die Kontakte der Wis´niowieckie, Ostrozˇskie oder wer da sonst noch in Frage käme, angewiesen zu sein. Der Hintergrund zu Kudejar ist folgender. 1525 ließ sich Großfürst Vasilij III. wegen Kinderlosigkeit von seiner Frau Solomonija Saburova scheiden, indem er sie in das Maria-Schutz-Kloster in Suzdal’ schickte. Die verstoßene Ehefrau wurde im Nachhinein auf zweifache Weise überhöht. Zum einen bezeichneten offizielle Darstellungen Solomonija als Heilige, um zu verdecken, dass sie gegen ihren Willen zur Nonne gemacht worden war.25 Zum anderen kursierten sehr bald Gerüchte, Solomonija sei zum Zeitpunkt der Scheidung von ihrem Mann schwanger gewesen und habe im Kloster einen Buben zur Welt gebracht, den sie Georgij genannt habe. Solomonija könnte diese Gerüchte selbst gefördert oder sogar in Umlauf gebracht haben, um zu betonen, dass die Scheidung unrecht und sie sehr wohl in der Lage (gewesen) sei, Vasilij III. den ersehnten Nachfolger zu gebären.26 Noch im 16. Jahrhundert fanden diese Gerüchte eine folkloristische Erweiterung.27 Sie besagte, Solomonija habe um das Leben ihres Sohnes gefürchtet, weil dieser den Thronanspruch Ivans IV. gefährdet habe, und ihn deswegen in den Süden des Reiches geschickt. Dort sei Georgij in tatarische Gefangenschaft geraten und im Laufe der Jahre zu dem Räuber Kudejar geworden.28 Ein tatsächlich existierender Georgij Vasil’evicˇ hätte als erstgeborener Sohn Vasilijs III. einen stärkeren Anspruch auf den Thron gehabt als Ivan IV. In den Überlieferungen über Kudejar als Halbbruder des Zaren ist folglich die Möglichkeit angelegt, dass jemand beansprucht, Georgij bzw. Kudejar zu sein. Ein solcher samozvanec trat nicht auf; nichtsdestoweniger hätte die Geschichte dem ersten falschen Dmitrij zeigen können, dass im Tod des echten Dmitrij Ivanovicˇ das Potenzial für dessen ‚Rückkehr‘ steckte, sofern er die Ereignisse in Uglicˇ 1591 mit entsprechenden Details versah. Wird Solomonija Saburova durch Marija Nagaja ersetzt, die verstoßene erste Ehefrau gegen die unkanonische siebente, Suzdal’ durch Uglicˇ, Georgij durch Dmitrij, Ivan IV. bzw. dessen Regenten durch Boris Godunov, ändert sich nichts Wesentliches. In beiden Fällen geht es um einen Thronanwärter, der ein Kind mit größerem Anspruch fürchtet und dieses 25 Vgl. Isolde Thyrêt, Between God and Tsar. Religious Symbolism and the Royal Women of Muscovite Russia, De Kalb 2001, 35–39. 26 Vgl. Thyrêt 2001, 35. 27 Vgl. Vjacˇeslav I. Strel’skij, Kto zˇe takie Kudejar i kudejary?, in: Problemy slavjanovedenija 4 (2002) [verfasst 1973], 400–415, 401. 28 Vgl. Strel’skij 2002, 403.

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loszuwerden versucht. Und in beiden Fällen gelingt es der Mutter des Kindes, die selbst schlecht behandelt wurde, diese Pläne zu durchkreuzen. Anders als bei der grundsätzlichen Idee, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben, brauchte der erste falsche Dmitrij nicht unbedingt ein Vorbild, das ihm zeigte, wie er die angeeignete Identität plausibel erscheinen lassen konnte. Falsche Herrscher und Herrschersöhne verhielten sich auch dann auf vergleichbare Weise, wenn sie in zeitlich, räumlich und kulturell sehr unterschiedlichen Umfeldern auftraten. Das bedeutet aber nicht, dass es notwendig (oder plausibel konstruierbar) wäre, anzunehmen, das Wissen darüber sei von einem Land ins andere, von einer Epoche in die nächste weitergegeben worden. Die Selbstdarstellung des ersten falschen Dmitrij arbeitete stark mit religiösen Bezügen, was darauf hindeutet, dass er ein solches Vorbild tatsächlich nicht hatte. Er wurde beispielsweise wie Jesus gerechte Sonne (pravednoe solnce) und schöne/rote Sonne (krasnoe solnysˇko) genannt, was dazu führte, dass ein Teil der Bevölkerung glaubte, er sei ebenfalls aus dem Grab auferstanden.29 Samozvansto war stets religiös unterfüttert, und ein samozvanec/eine samozvanka tat gut daran, die eigene Frömmigkeit und gottesfürchtige Lebensführung zu betonen, um als Mitglied der Dynastie glaubwürdig zu wirken. Jedoch war eine explizite Gleichsetzung mit Jesus oder anderen biblischen Vorbildern nach der ‚Zeit der Wirren‘ ausgesprochen selten. Erklärbar ist dieser Unterschied dadurch, dass sich durch das Auftreten des ersten falschen Dmitrij und von dessen Nachahmern in der ‚Zeit der Wirren‘ erst ein Muster herausbildete, wie sich ein vermeintliches Mitglied der Dynastie verhalten sollte (dazu mehr im nächsten Abschnitt). Der erste falsche Dmitrij selbst hatte noch kein solches Muster zur Verfügung und griff darum auf die allgemein bekannten und verständlichen biblischen Referenzen zurück, um seine Botschaft zu verpacken. Als Zwischenbilanz ergibt sich weder bei der Frage nach der wahren Identität des ersten falschen Dmitrij, noch bei den möglichen Vorbildern für samozvanstvo ein so eindeutiges Bild, dass einer Möglichkeit der Vorrang vor den anderen gegeben werden könnte. Deutlich besser lässt sich nachzeichnen, wie die wiederholte Nachahmung seines Vorbilds noch in der ‚Zeit der Wirren‘ dazu führte, dass sich samozvanstvo dauerhaft im Moskauer Reich etablierte und wie sein Sturz die Wahrnehmung des Herrschers veränderte.

29 Dazu siehe Maureen Perrie, Christ or Devil? Images of the First False Dimitry in Early Seventeenth-Century Russia, in: Robert Reid/Joe Andrew/Valentina Polukhina (edd.), Structure and Tradition in Russian Society (Slavica Helsingiensia 14), Helsinki 1994, 105–115, 105–107.

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Der erste falsche Dmitrij und die dauerhafte Etablierung von samozvanstvo Die mindestens vierzehn samozvancy der ‚Zeit der Wirren‘ waren ein Symptom des allgemeinen Autoritätsverlustes der Zentralmacht und trugen dazu bei, den Widerstand gegen Sˇujskij über längere Zeit aufrecht zu erhalten. Primär aber sind sie (bzw. ihre Hintermänner) als Nachahmer des ersten falschen Dmitrij anzusehen. Sein Beispiel hatte gezeigt, dass ein falscher Rurikide glaubwürdig erscheinen und aus dem Betrug für sich selbst wie für seine Mitstreiter persönliche Vorteile herausschlagen konnte.30 Davon wollten auch andere profitieren. Die Nachahmer des ersten falschen Dmitrij während der ‚Zeit der Wirren‘ lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Zur ersten Gruppe gehören alle samozvancy, die als dieselbe persona wie das Vorbild auftraten: der (weitgehend) verhinderte falsche Dmitrij Michail Molcˇanov,31 der zweite, dritte und vierte falsche Dmitrij sowie möglicherweise Ataman Ivan Zaruckij, der gemeinsame Sache mit Marina Mniszech, der Witwe des ersten und zweiten falschen Dmitrij, machte. Sie konnten ihre Existenz nur begründen, indem sie die Geschichte des ersten falschen Dmitrij übernahmen und um die Ereignisse seit dessen Sturz/seit dem Tod des letzten samozvanec unter derselben persona ergänzten. Da es im Zeitraum von 1606 bis 1612 sicher und möglicherweise bis 1614 immer einen falschen Dmitrij gab, wurde diese Geschichte oft wiederholt und verbreitete sich räumlich entsprechend der Ausweitung des Bürgerkriegs. Zur zweiten Gruppe der Nachahmer gehören samozvancy, die zwar nicht die persona Dmitrij Ivanovicˇ benutzten, sich aber an der Geschichte des ersten falschen Dmitrij orientierten, um ihre Existenz plausibel zu machen. Der zweite samozvanec überhaupt trat bereits 1605, noch zu Lebzeiten des ersten falschen Dmitrij, auf. Er hatte sich mehreren Terek-Kosaken angeschlossen, denen der Voevode von Astrachan’ die Entlohnung (zˇalovan’e) schuldig geblieben war. Sie wollten sich beim Zaren darüber beschweren und beschlossen, einen von ihnen zum Rjurikiden zu machen, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Die Wahl fiel auf Il’ja Korovin, der sich als carevicˇ Petr ausgab, ein fiktiver Sohn von Zar

30 Vgl. Dunning 2001, 119. 31 Michail Molcˇanov war ein enger Vertrauter des ersten falschen Dmitrij, der nach dessen Sturz aus Moskau floh und unterwegs überall verkündete, ‚Dmitrij‘ habe sich erneut retten können. Er fand Zuflucht in Schloss Sambor bei ‚Dmitrijs‘ Schwiegermutter, wo er ein halbes Jahr lang vorgab, der Zar zu sein. Wegen seiner geringen äußeren Ähnlichkeit mit diesem sowie wegen des Todes seiner Unterstützerin sah er am Ende davon ab, öffentlich aufzutreten. Zu ihm siehe Dunning 2001, 250–252 und Igor’ O. Tjumencev, Smuta v Rossii v nacˇale XVII veka. Dvizˇenie Lzˇedmitrija II, Volgograd 1999, 69–72.

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Fedor Ivanovicˇ.32 Er behauptete, Fedors Frau Irina hätte einen Buben zur Welt gebracht, diesen aber aus Angst vor ihrem Bruder Boris Godunov mit einem Mädchen – der realen carevna Feodosija – vertauscht.33 Damit übernahm er die Geschichte des ersten falschen Dmitrij, der zufolge Marija Nagaja aus denselben Gründen versucht hatte, ihren Sohn vor demselben Godunov zu schützen.34 Da sich Korovin für einen fiktiven carevicˇ ausgab, konnte er dem Vorbild allerdings nicht darin folgen, dass ein zweites Kind gemeinsam mit dem carevicˇ aufgezogen worden sei, um mögliche Häscher in die Irre zu führen. Stattdessen benutzte er die Version mit dem Austausch. Eine regelrechtes Nest von falschen carevicˇi bildete sich im Zeitraum 1606– 1608 in Astrachan’ und der näheren Umgebung.35 Pavel Karabusˇcˇenko hält sie alle für Strohmänner des Voevoden Ivan Chvorostinin, der als enger Vertrauter des ersten falschen Dmitrij nicht bereit war, Sˇujskij als neuen Zaren zu akzeptieren.36 Von diesen carevicˇi ist nicht überliefert, wie sie ihre Existenz erklärten. Da sich aber alle für fiktive Söhne bzw. Enkel von Ivan IV. ausgaben, mussten sie wie schon Korovin zumindest implizit die Version mit einem vertauschten Kind benutzen. Das Beispiel des ersten falschen Dmitrij brachte also nicht nur eine Reihe weiterer Männer auf die Idee, sich für Rurikiden auszugeben, um ihr jeweiliges Anliegen zu befördern, sondern lieferte ihnen auch eine Blaupause, was sie sagen und tun konnten, um glaubwürdig zu wirken. Die rasche Abfolge dieser Nachahmer – aus den nur sieben Jahren zwischen 1605 und 1612 sind vierzehn sichere und vier fragliche Fälle bekannt – trug wiederum dazu bei, samozvanstvo dauerhaft im Moskauer Reich zu etablieren. Zusätzlich veränderte der Sturz des ersten falschen Dmitrij die Sicht der Bevölkerung auf den Zaren auf eine Weise, die das Auftreten falscher Herrscher erleichterte. Vasilij Sˇujskij rechtfertigte die von ihm angeführte Erhebung damit, dass ‚Dmitrij‘ nicht der sei, für den er sich ausgebe und somit keine Berechtigung habe, zu herrschen. Dieses Argument war nur ein Vorwand, aber es erschütterte dauerhaft bis dahin bestehende Annahmen über den Zaren. Am Beginn des 17. Jahrhunderts war im Moskauer Reich die Unterscheidung von ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Herrschern seit längerem gut bekannt. Der wahre 32 Zu Korovin siehe Tjumencev 1999, 54–59; Perrie 2002, 90–97; 134–144; Maureen Perrie, Pretenders in the Name of the Tsar: Cossack ‚Tsareviches‘ in Seventeenth-Century Russia, in: Hans-Joachim Torke (ed.), Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 56), Wiesbaden 2000, 243– 256. 33 Vgl. Perrie 2002, 90. 34 Vgl. ebd., 39. 35 Zu ihnen siehe Perrie 2000, 246f., Pavel L. Karabusˇcˇenko, Astrachanskoe carstvo, Astrachan᾽ 2009, 175–183. 36 Vgl. Karabusˇcˇenko 2009, 176.

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Herrscher wurde als pravednyj bezeichnet; das Adjektiv wies darauf hin, dass er derjenige sei, den Gott dazu erwählt habe, den Erhalt von pravda zu garantieren. Unter pravda verstanden die Zeitgenossen die von Gott gestiftete, bereits bestehende bestmögliche Ordnung der Welt.37 Ein ‚falscher‘ Herrscher hatte sich das Amt im Unterschied dazu kraft der eigenen Willkür angeeignet,38 was pravda verletzte. Diese Zweiteilung ist etwa im Poslanie na Ugru [Sendschreiben an die Ugra] des Rostover Metropoliten Vassian Rylo aus dem Jahr 1480 zu finden, in dem er den Khan der Goldenen Horde als falschen Herrscher brandmarkt.39 In diesem wie in allen anderen Beispielen, die vor der ‚Zeit der Wirren‘ entstanden, ist der ‚falsche‘ Herrscher immer der andere, fremde, während in Moskau wie selbstverständlich der ‚wahre‘ Herrscher regiert. Der Sturz des ersten falschen Dmitrij führte die Möglichkeit ein, dass auch der Zar des Moskauer Reiches ein Betrüger sein könne. Da sich kein Zeitpunkt benennen ließe, an dem dieser Verdacht von einer anderen Sichtweise abgelöst worden wäre, ist anzunehmen, dass er grundsätzlich bis 1917 wirksam blieb, auch wenn er nicht durchgehend deutlich erkennbar ist. Samozvancy und samozvanki konnten, unabhängig davon, ob sie derlei explizit machten oder nicht, nur als Mitglied der Dynastie auftreten, indem sie den regierenden Herrscher zum Usurpator/die regierende Herrscherin zur Usurpatorin erklärten. Sie profitierten davon, dass ein solcher Verdacht seit dem Sturz des ersten falschen Dmitrij ohnehin im Raum stand und die Anschuldigung sehr einfach zu erheben, aber kaum zu widerlegen war. Am Beginn des 17. Jahrhunderts befassten sich zahlreiche Autoren mit den Lehren, die aus ‚Dmitrijs‘ Regierungszeit zu ziehen seien. Dazu gehörte auch die Frage, ob und wie zukünftig ein Betrüger vom ‚wahren‘ Herrscher unterschieden werden könnte. Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Ivan Timofeev, der im Auftrag der Romanovy die Thronbesteigung von Michail Romanov legitimieren sollte, vertrat in seinem Vremennik [Zeitbuch] den Standpunkt, es gebe keinerlei äußere Anzeichen dafür, ob ein Herrscher von Gott erwählt sei oder nicht. Hingegen vertraten die Fürsten Ivan Chvorostinin und Semen Sˇachovskoj, zwei der ersten säkularen Autoren im Moskauer Reich, in ihren Geschichtswerken die Ansicht, tyrannisches Verhalten könne durchaus auf einen Betrüger hindeuten.40 37 Genauer zu pravda siehe Stefan Plaggenborg, Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland, Paderborn 2018. 38 Vgl. Boris A. Uspenskij, Car’ i samozvanec. Samozvancˇestvo v Rossii kak kul᾽turno-istoricˇeskij fenomen, in: Boris A. Uspenskij, Izbrannye trudy. Tom I Semiotika istorii. Semiotika kul᾽tury, Moskva 1996, 142–183, 146. 39 Vgl. Uspenskij 1996, 146; 156. Für den Hintergrund von Rylos Sendschreiben siehe Plaggenborg 2018, 62–69. 40 Vgl. Vladimir E. Val᾽denberg, Drevnerusskija ucˇenija o preˇdelach carskoj vlasti. Ocˇerki russkoj politicˇeskoj literatury ot Vladimira Svjatogo do konca XVII veˇka (Russian Reprint Series 22), The Hague 1966 [Original Petrograd 1916], 366f.

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Auch später kristallisierten sich zu dieser Frage weder einheitliche, noch in der Praxis belastbare Kriterien heraus. Am weitesten verbreitet war noch die Ansicht, der Erfolg oder Misserfolg eines Herrschers verrate, ob Gott hinter ihm stehe oder nicht.41 Das bedeutete, solange ein samozvanec/eine samozvanka auf freiem Fuß war, konnten AnhängerInnen nicht restlos ausschließen, dass er/sie tatsächlich die Person war, für die er/sie sich ausgab. Sowohl die Nachahmung des ersten falschen Dmitrij, als auch das durch seinen Sturz gesäte Misstrauen gegenüber der Person auf dem Thron verweisen von der ‚Zeit der Wirren‘ aus betrachtet auf die Zukunft. Beides formte samozvanstvo ohne jede Übertreibung über Jahrhunderte hinweg. Doch solche Kontinuitäten dürfen nicht dazu verleiten, samozvanstvo nach der ‚Zeit der Wirren‘ in jeder Hinsicht als bruchlose Fortführung von samozvanstvo während der ‚Zeit der Wirren‘ zu betrachten. Auf welche Schwierigkeiten das führt, zeigt der folgende Abschnitt anhand der Einstufung als Krisenphänomen.

War samozvanstvo ein Krisenphänomen? Samozvanstvo etablierte sich im Moskauer Reich fraglos in einer krisenhaften Zeit und vielleicht auch wegen dieser. Ebenso unstrittig ist, dass das Auftreten des ersten falschen Dmitrij diese Krise mitauslöste und die weiteren samozvancy durch die Opposition zu Sˇujskij dazu beitrugen, sie zu verlängern und zu verschärfen. Daraus folgt jedoch nicht, dass samozvanstvo stets ein Krisenphänomen war. Die Annahme, samozvanstvo sei mit Krisen verknüpft gewesen, hätte kaum ˇ istov stellte richtig fest, dass es vom Auftreten haltbare Konsequenzen. Kirill C des ersten falschen Dmitrij bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 kaum ein Jahrzehnt gab, aus dem nicht mindestens ein Fall bekannt ist.42 Wäre samozvanstvo ein Krisenphänomen, würde das bedeuten, dass sich das Moskauer und Russländische Reich in einem Zeitraum von mehr als drei Jahrhunderten praktisch durchgehend in einer Krise befunden hätte. Diese Annahme ist schon für sich genommen wenig realistisch, aber es soll noch geklärt werden, ob und inwieweit sie mit Definitionen des Begriffs Krise kompatibel ist. Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Krisentheorien würde den 41 Vgl. Oleg G. Usenko, Psichologija social’nogo protesta v Rossii XVII–XVIII vekov. Posobie ˇ ast’ 3, Tver’ 1997, 44. dlja ucˇitelej srednej ˇskoly. C ˇ istov, Russkie narodnye social᾽no-utopicˇeskie legendy XVII–XIX vv, Moskva 42 Vgl. Kirill V. C 1967, 25. Da in der Sowjetunion samozvanstvo ursächlich mit der Leibeigenschaft verknüpft ˇ istov sein Buch wurde und deren Aufhebung folglich als Endpunkt des Phänomens galt, ließ C ˇ istovs Be1861 enden. Es stimmt nicht, dass samozvanstvo 1861 ausstarb, vielmehr trifft C obachtung auch auf den Zeitraum 1861–1917 zu.

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Rahmen des Beitrags sprengen, aber die Probleme lassen sich beispielhaft anhand einer eher weiten und einer eher engen Definition aufzeigen. Bei einer eher engen Definition steht Krise für den Übergang von der bestehenden zu einer neuen Ordnung.43 Drei Jahrhunderte Moskauer bzw. Russländischer Geschichte als praktisch ununterbrochene Kette schwieriger Transformationen zu deuten, ist nicht haltbar. Auf diese Weise bliebe kein Platz für einen wie auch immer gearteten Normalzustand. Das Moskauer und Russländische Reich sähen unnötig defizitär aus und die einzelnen Epochen verlören durch die Einheitsmasse Krise ihr spezifisches Erscheinungsbild. In den Geisteswissenschaften erlebt der Krisenbegriff, der Reinhart Kosellecks Dissertation ‚Kritik und Krise‘44 aus dem Jahr 1954 entnommen ist, seit ein paar Jahren eine Renaissance.45 Koselleck zufolge besteht eine Krise immer dann, wenn die bestehenden Verhältnisse nicht mehr hingenommen, sondern kritisiert werden.46 Diese Definition ist weit genug, um problemlos eine Dauerkrise zu attestieren. Im Moskauer und Russländischen Reich standen als kritisch zu verstehende Äußerungen über den Herrscher bzw. dessen Politik zwar unter Strafe, waren aber nichts Ungewöhnliches. So wäre die Voraussetzung gegeben, um von einer Dauerkrise zu sprechen. Das Problem mit dem Koselleck’schen Krisenbegriff ist, dass er zu unspezifisch ist, weil es eine ‚Krise der Kritik‘ in nahezu allen Ländern gegeben hätte und sich unter dieser Voraussetzung nur schwer Zeitabschnitte benennen ließen, in denen keine Krise herrschte. Wenn aber alles Krise ist, ist nichts mehr Krise, weil sich der Begriff ad absurdum führt. Davon abgesehen ist zu bezweifeln, dass ein solches Krisenverständnis auf die Vormoderne anwendbar ist. Koselleck untersuchte in seiner Dissertation die Frontstellung zwischen ‚dem‘ Absolutismus und ‚der‘ Aufklärung im 18. Jahrhundert und ging davon aus, dass die Kritik der Aufklärer zum Niedergang des Absolutismus geführt habe. In anderen Worten, er setzte sich mit einem Zeitraum auseinander, in den der Übergang von der Vormoderne zur Moderne fällt. Das macht es fraglich, ob dieser Krisenbegriff für vormoderne Gesellschaften passend ist, da diese zwar Kritik an den bestehenden Verhältnissen kannten, aber eben doch in einer anderen Form als die Vertreter der Aufklärung.

43 Vgl. Thomas Mergel, Einleitung: Krisen als Wahrnehmungsphänomene, in: Thomas Mergel (ed.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Vergleich Band 21), Frankfurt/New York 2012, 9–22, 11. 44 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959. 45 Vgl. Mergel 2012, 11. 46 Vgl. ebd., 12.

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Neben den Krisentheorien sind die Ziele der samozvancy und samozvanki, welche diese im Verhör nannten, ein weiteres Argument gegen die Einstufung von samozvanstvo als Krisenphänomen. Anders als insbesondere sowjetische HistorikerInnen gerne behaupteten, lassen sich diese Ziele nur eingeschränkt auf allgemeine Verhältnisse zurückführen, zu denen auch eine Krise gehören würde. Unter den samozvancy gab es echte Aufständische wie den falschen Peter III. Emel’jan Pugacˇev (1772–1774) und Akteure wie Petr Chripunov (1783–1786), ein verhinderter falscher Peter III., die nur eine frühzeitige Verhaftung daran hinderte, einen Aufstand anzuzetteln.47 Ebenso trifft zu, dass mehrere samozvancy ihren potenziellen AnhängerInnen versprachen, die Leibeigenschaft aufzuheben, diverse Abgaben abzuschaffen, alle Adeligen am nächsten Baum aufzuknüpfen und Ähnliches mehr.48 Das könnte durchaus als Reaktion auf eine Krise interpretiert werden. Jedoch betreffen diese Beispiele nur eine Minderheit der samozvancy und samozvanki. Bei dieser Minderheit wiederum lässt sich üblicherweise nicht feststellen, welche Motivation hinter derartigen Versprechungen stand. Falls es keine gegenteiligen Hinweise gibt, ist anzunehmen, dass es sich um eine Art Wahlversprechen handelte – also um etwas, das sie thematisierten, weil sie wussten, dass es ihnen Unterstützung bringen würde, das aber für sie selbst nicht notwendigerweise einen hohen Stellenwert besaß. Die überwiegende Mehrheit der samozvancy und samozvanki verfolgte ihren eigenen Angaben zufolge kleine Ziele, die außer ihnen selbst bestenfalls eine Handvoll Menschen betrafen: Sie wollten die eigene Autorität in familieninternen Konflikten erhöhen wie 1768 die falsche Souveränin Avdot’ja Zavarzina49, ihre mageren Finanzen aufbessern wie 1779 der falsche Souverän Gerasim Savelov50, ein Dach über dem Kopf haben wie 1782 der falsche Abgesandte Peters III. Nikita Golovacˇev51, und so weiter. Bei solchen Aussagen ist immer damit zu rechnen, dass die Angeklagten die eigene Schuld möglichst klein aussehen lassen wollten, aber es handelt sich wohl kaum ausschließlich um Ausflüchte. Die Ziele der samozvancy und samozvanki mochten durchaus aus sozialer Ungleichheit und Missständen resultieren. Es ist aber in den genannten Beispielen und an47 Zu Chripunov siehe RGADA, f. 7, o. 2, d. 2699. 48 Nur eine Auswahl: Der falsche Aleksej Petrovicˇ Timofej Truzˇenik versprach 1732, es werde bald keine Adeligen mehr geben (RGADA, f. 6, o. 1, d. 187, l. 6 ob.). Der falsche Peter III. Gavrila Kremnev stellte 1765 in Aussicht, er werde für zwölf Jahre die Rekrutenaushebungen aussetzen, das staatliche Monopol auf Alkohol und alle Steuern abschaffen (RGADA, f. 6, o. 1, d. 402, l. 8.). Der falsche Souverän Gerasim Savelov kündigte 1779 an, er werde alle Gutsbesitzer in der Umgebung aufhängen lassen, die den Einhöfern Schwierigkeiten bereiten und prahlte, er habe schon Hunderte [sic!] von ihnen auspeitschen lassen (RGADA, f. 6, o. 1, d. 538, l. 6.). 49 RGADA, f. 349, o. 1/cˇ. 1, d. 7113, l. 3. 50 RGADA, f. 6, o. 1, d. 538, l. 4 ob. 51 RGADA, f. 7, o. 2, d. 2544, l. 3 ob.

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deren nicht erkennbar, auf welche Weise die Aneignung einer fremden Identität eine Reaktion auf eine solche allgemeine Krise und nicht nur auf die jeweils individuellen Lebensumstände gewesen sein sollte. Wenn also die zeitliche Verteilung der Fälle von samozvanstvo nicht das Ergebnis von Krisen ist, muss es eine andere Erklärung geben. Wie gesagt, war samozvanstvo nach der ‚Zeit der Wirren‘ fest im Moskauer Reich etabliert. Trotzdem besteht zwischen der Wahl von Michail Romanov zum Zaren 1613 und etwa 1670 eine auffällige Lücke. In diesem Zeitraum traten nahezu alle bekannten samozvancy außerhalb des Moskauer Reiches auf. Ab 1670 schließlich traten samozvancy und samozvanki in kürzeren Abständen und in größerer Anzahl auf, bis in der Regierungszeit Katharinas II. der Höhepunkt erreicht war. Außerdem agierten sie bis auf wenige Ausnahmen auf dem Gebiet des Moskauer/Russländischen Reiches. Nach 1800 ging die Anzahl der Fälle wiederum stark zurück. Die Frage muss also lauten, worin sich der Zeitraum von 1613 bis 1670 von der Zeit nach 1670 unterschied und was vor 1800 anders war als danach. Hier zeigt sich, dass das Herrscherbild chronologisch einer ähnlichen Entwicklung unterworfen war. Die Regierungszeit von Michail Romanov gilt als durch und durch konservativ52 und restaurativ.53 Es war selbstredend nicht möglich, die Zeit vor 1605 oder gar vor 1598 zurückzudrehen, nichtsdestoweniger vermittelte Michail in erster Linie die Botschaft, unter ihm sei alles so, wie es immer schon gewesen sei und die ‚Zeit der Wirren‘ sei nur eine kurze Unterbrechung in einem sonst makellosen Kontinuum gewesen.54 Die Bevölkerung dürfte diese Botschaft im Großen und Ganzen als zutreffend wahrgenommen haben, sodass ein samozvanec, d. h. ein alternativer Herrscher mit vermeintlich größerer Legitimität, nicht sonderlich bis gar nicht attraktiv war. Im Unterschied dazu war während der Regierungszeit von Aleksej Michajlovicˇ das Abrücken vom Gewohnten unübersehbar. Der Zar zog sich aus der als traditionell empfundenen direkten Herrschaftsausübung zurück, die auf dem Ideal beruhte, dass sich alle Untertanen mit ihren Anliegen an ihn wenden konnten und er Missstände ohne zwischengeschaltete Institutionen beseitigen würde. Nunmehr geschah die Herrschaftsausübung in zunehmendem Maß indirekt, über diverse Behörden und Institutionen.55 Der fortschreitende Prozess der Bürokratisierung hätte dazu führen können, die Bedeutung des Zaren in den Augen seiner Untertanen herabzustufen, weil das

52 53 54 55

Vgl. Dunning 2001, 454. Vgl. Plaggenborg 2018, 290. Vgl. Plaggenborg 2018, 277. Dazu siehe Valerie A. Kivelson, The Devil Stole His Mind. The Tsar and the 1648 Uprising, in: The American Historical Review 98 (1993) 3, 733–756.

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Reich auch ohne sein Zutun verwaltet werden konnte.56 Um einem solchen Verlust von Ansehen und Autorität entgegenzuwirken, wurde der Zar zur ‚politischen Ikone‘ stilisiert, wie es Stephen Baehr nannte. Das bedeutet, der Zar galt als irdisches Abbild der Vollkommenheit Gottes. Wollten seine Untertanen dieser Vollkommenheit nacheifern und das Paradies auf Erden wiedererrichten, blieb ihnen kein anderer Weg, als den Zaren nachzuahmen.57 Auf diese Weise erschien er unentbehrlich, auch wenn die Abläufe der täglichen Verwaltung ohne ihn auskamen.58 Samozvanstvo nahm mehrfach auf diese Verschiebungen im Herrscherbild Bezug. Das plötzliche Erscheinen eines (vermeintlichen) Mitglieds der Dynastie vermittelte die Botschaft, dass Begegnungen zwischen Untertanen und Herrscher sowie das unmittelbare Eingreifen des Letzteren bei Missständen nach wie vor möglich seien. In diesem Sinn ist samozvanstvo eine Gegenbewegung zum Prozess der Bürokratisierung, weil es dem Ideal der direkten Herrschaft Rechnung trug. Gleichzeitig profitierten samozvancy und samozvanki von der Stilisierung des Zaren zur politischen Ikone. Auf der einen Seite galt der Zar als einziges mögliches Vorbild auf dem Weg zu Gerechtigkeit und einem guten Leben. Auf der anderen Seite bestand seit dem Sturz des ersten falschen Dmitrij ein Misstrauen gegenüber dem jeweiligen gekrönten Haupt. Wer gerade auf dem Thron saß, war eben nicht mehr zwangsläufig das Vorbild, das den Weg ins Paradies ebnen würde. Dieser Zweifel arbeitete samozvanstvo in die Hände, denn die ‚richtige Ikone‘ konnte überall sein und jede Gestalt annehmen.59 Der deutliche Rückgang von samozvanstvo nach 1800 wiederum hängt damit zusammen, dass der Glaube an die Vorbildwirkung des Kaisers/der Kaiserin sowie daran, dass sein/ihr unmittelbares Eingreifen etwas zum Besseren verändern würde, zunehmend schwand.60 Es steht zu vermuten, dass das von pravda geprägte Herrscherbild an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auch unter der breiten Bevölkerung deutlich an Zustimmung verlor. Das heißt, samozvancy und samozvanki traten in jenem Zeitraum am häufigsten auf, in dem pravda für 56 Stefan Plaggenborg zufolge war genau das im 17. Jahrhundert der Fall, weil der Erhalt der bestehenden Ordnung allmählich wichtiger geworden sei als die Person, welche diese Ordnung repräsentierte, d. h. der Zar (Plaggenborg 2018, 290). 57 Vgl. Stephen L. Baehr, Regaining Paradise. The „Political Icon“ in Seventeenth- and Eighteenth-Century Russia, in: Russian History/Histoire Russe 11 (1984) 2–3, 148–167, 158f. 58 An sich war diese Rollenzuschreibung nicht neu; bereits unter dem Vorzeichen von pravda galt der Herrscher als Garant der bestmöglichen Ordnung. Allerdings verschwand in der ‚Zeit der Wirren‘ der Optimismus, dass der gegenwärtige Zustand bereits der beste sei. Alle Erwartungen verlagerten sich auf die Zukunft. Den Zaren zur politischen Ikone zu stilisieren war demnach der Versuch, die früheren Gewissheiten unter veränderten Voraussetzungen aktiv zu propagieren, um ihre Bindekraft weiterhin nutzbar zu machen. 59 Vgl. Ingerflom 2015, 219. 60 Vgl. Baehr 1984, 164.

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die Herrschaftspraxis keine Rolle mehr spielte, die mit dem Begriff verbundenen Gewissheiten jedoch noch zum Herrscherbild der breiten Bevölkerung gehörten und geglaubt wurden. Am Beginn des 19. Jahrhunderts ersetzte anders als in der Mitte des 17. Jahrhunderts keine neue Herrschaftskonzeption die alte, sodass es keinen Neubeginn gab, sondern nur ein Absterben des Gewesenen. Wie bereits gesagt, starb samozvanstvo nach 1800 nicht aus, aber es ist nicht zu leugnen, dass es im 19. Jahrhundert nicht mehr den Stellenwert hatte wie zwischen etwa 1670 und 1800. Zusätzlich zu den gerade skizzierten großen Entwicklungen sind je nach untersuchtem Zeitraum weitere Faktoren in Rechnung zu ziehen, die das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie begünstigten oder hemmten. Beispielsweise zweifelten nicht wenige Untertanen an der Legitimität einer regierenden Kaiserin, was im 18. Jahrhundert viel Platz für falsche männliche Mitglieder der Dynastie ließ.

Schluss Die Grundlagen, um stichhaltige Aussagen über die kurzfristigen Ursachen für das Aufkommen von samozvanstvo im Moskauer Reich zu machen sind einigermaßen unsicher. Hinter dem ersten falschen Dmitrij kann sich Grigorij Otrep’ev verborgen haben oder auch nicht. Da nicht sicher ist, ob überhaupt von der richtigen Person die Rede ist, ist es nahezu unmöglich, die Hintergründe mit Gewissheit zu erfassen. Auch bei vielen späteren samozvancy ist nicht klar, wer sie waren, doch das macht nichts aus, weil sie bereits innerhalb eines Kontinuums agierten und ihr Auftreten als Teil davon analysiert werden kann. Der erste falsche Dmitrij selbst wurde auf zweifache Weise zu einem Vorbild, das über Jahrhunderte nachwirkte. Erstens ist die Häufung von Nachahmern in der ‚Zeit der Wirren‘ als Hauptgrund dafür anzusehen, dass samozvanstvo im Moskauer Reich so verbreitet und bekannt wurde, dass es später jederzeit wieder belebt werden konnte. Zusätzlich folgten die samozvancy der ‚Zeit der Wirren‘ dem Vorbild ihrer Vorgänger sehr dicht, sodass sich bestimmte Verhaltensmuster herausbildeten. Auch auf dieser Ebene gilt, dass häufige Wiederholung den langen Bestand sicherte. Zweitens säte der Sturz des ersten falschen Dmitrij als Betrüger langfristig Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Person auf dem Thron. Deren Legitimität konnte sehr einfach immer wieder aufs Neue hinterfragt werden. Gleichzeitig sollten die Diskontinuitäten nicht übersehen werden. Für zukünftige Forschungen zu samozvanstvo ist es ratsam, die ‚Zeit der Wirren‘ als eigenen Abschnitt zu betrachten und dann für die Mitte des 17. Jahrhunderts sorgfältig Kontinuitäten von Neuansätzen zu trennen. Nicht auf spätere Epochen

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übertragbar ist etwa die in der ‚Zeit der Wirren‘ gegebene Verknüpfung von samozvanstvo und Krisen. Diesen Zusammenhang zu verallgemeinern, führt auf eine Reihe von logischen und argumentatorischen Problemen. Ebenso wenig ist aus der ‚Zeit der Wirren‘ erklärbar, warum die Hochzeit von samozvanstvo zwischen 1670 und 1800 anzusetzen ist. Die Ursachen dafür sind in der Regierungszeit von Aleksej Michajlovicˇ und einer sich öffnenden Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis des Zaren und dem Herrscherbild der breiten Bevölkerung zu suchen. Erst um 1800 lässt sich hier wieder eine Angleichung beobachten, die sich allerdings nachteilig auf samozvanstvo auswirkte.

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Dittmar Dahlmann

Der ‚Falsche Dmitrij‘ (Pseudodemetrius) in der Publizistik und Literatur West- und Mitteleuropas vom frühen 17. bis ins 20. Jahrhundert oder Russland als der „Boden des Despotismus“1

Abstract Dmitrij was the youngest son of Tsar Ivan IV from his seventh marriage to Marija Nagaja, which was not legitimized by the Orthodox Church. He died in 1591 at the age of nine under circumstances that are still not fully understood. It wasn’t until more than ten years later, in 1603, that the first false Dmitrij appeared, claiming to be the legitimate heir to the throne. To date, it is not entirely clear who this person was. With Polish support, he succeeded in attaining the Russian throne and reigning as tsar for about a year. In 1606, shortly after his marriage to the Polish noblewoman Marina Mniszech, he was murdered by a group of conspirators around Vasilij Sˇuijskij. Soon after his death, writers and publicists in many European countries began to take a closer look at this historical figure. When looking at the issue of ‘Macht und Herrschaft’ in premodern times, my focus is on how this historical topic was dealt with in journalism and literature and what role this problem of ‘Macht und Herrschaft’ played. After a brief overview of the life of False Dmitrij and contemporary journalism about him, there follows a presentation of the two most important German-language works on ‘Demetrius’, Friedrich von Schiller’s (1769–1805) fragmentary drama ‘Demetrius’ and Christian Friedrich Hebbel’s (1813–1863) drama ‘Demetrius’ with the same name, which remained a fragment. As can be seen, the writers and poets who dealt with the ‘Demetrius theme’ also used this to express their view of various forms of government and tried to show to what extent on the one hand, they expressed the view of their time and, on the other hand, their own political views. This may certainly be true in most cases and thus also enables an analytical view of the problem of power and rule, which could only be roughly outlined in this article. In any case, it can be seen that this figure of the usurper enables extensive reflections and that the fundamental importance of the subject of this collaborative research center has lost none of its relevance over the centuries. 1 Die Bezeichnung Russlands als ‚Boden des Despotismus‘ stammt aus Friedrich von Schillers Notizen für sein Demetrius-Drama. Otto Günter/Georg Witkowski u. a. (edd.), Schillers sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in zwanzig Bänden, Bd. 8, Leipzig 1911, 229: Aus den Entwürfen und Gedanken Schillers zu seinem Demetrius-Drama. Schillers Werke, Nationalausgabe, 43 Bde., Bd. 11: Demetrius, ed. von Herbert Kraft, Weimar 1971, 110 (Im Folgenden zitiert als NA 11, 1971 mit Seitenangabe). Ich danke Viktoriya Shavlokhova, stud. Hilfskraft im Teilprojekt 07 des SFB 1167, für ihre Unterstützung bei der Arbeit an diesem Aufsatz.

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Mitte August 2019 erschien im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel aus der Feder von Helmuth Mojem, Archivar im Deutschen Literaturarchiv Marbach, über ein neu aufgefundenes Textfragment aus einem unvollendeten Drama Friedrich von Schillers.2 Es handelte sich um wenige Zeilen aus dem ‚Demetrius-Drama‘ des Dichters, seinem letzten, unvollendeten Werk, das sich mit dem Schicksal des sogenannten ‚Falschen Dmitrij‘ (im Russischen Lzˇedmitrij), auch als Pseudodemetrius oder Demetrius bezeichnet, beschäftigte. Immerhin erschien ein Artikel darüber sowohl dem Archivar in Marbach als auch dem Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wichtig, was mich durchaus überraschte, denn wer aus dem gebildeten Publikum weiß schon, was es mit jenem falschen Dmitrij und Schillers Drama auf sich hat. Als Osteuropahistoriker, involviert in den Bonner SFB 1167 zum Thema ‚Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘, wunderte ich mich vor etwas mehr als zwei Jahren, als ich begann, mich näher mit dieser historischen Gestalt zu beschäftigen, darüber, in welch hohem Maße sich nicht nur deutsche Schriftsteller und Dichter bis ans Ende des 20. Jahrhunderts mit dieser Person auseinandergesetzt hatten. Weder die deutsche noch die west- und mitteleuropäische Geschichtswissenschaft über Russland hat derartiges zu bieten. Dieser Artikel also stammt nicht aus der Feder eines Literaturwissenschaftlers, sondern eines Historikers, der noch nicht einmal im Nebenfach Philologe ist. Mein Blick ist unter der Fragestellung des Themas ‚Macht und Herrschaft in der Vormoderne‘ darauf gerichtet, wie in Publizistik und Literatur mit diesem historischen Thema umgegangen wurde und welche Rolle dabei der Problemkreis ‚Macht und Herrschaft‘ einnahm. Nach einem knappen Überblick über das Leben des Falschen Dmitrij und über die zeitgenössische Publizistik zu seiner Person folgt am Ende eine Darstellung der beiden wohl bedeutendsten deutschsprachigen Werke über ‚Demetrius‘, Friedrich von Schillers (1769–1805) Fragment gebliebenes Drama ‚Demetrius‘ und Christian Friedrich Hebbels (1813–1863) gleichfalls Fragment gebliebenes Drama ‚Demetrius‘ mit dem gleichen Namen. Dmitrij (1582–1591) war der jüngste Sohn des Zaren Ivan IV. des Schrecklichen (im Russischen Ivan Groznyj, 1530–1584) aus seiner siebten Ehe mit Marija (Marfa) F. Nagaja (1553–1612).3 Die Orthodoxe Kirche Russlands hielt jedoch

2 Helmuth Mojem, Machtvoll wie himmlische Schaaren. Was sich hinter einem Schiller-Textfragment verbirgt, das jetzt nach Marbach gelangt ist, in: FAZ, Nr. 187, 14. 8. 2019, 12. 3 Der Beiname Groznyj wird in fast allen mir geläufigen europäischen Sprachen als ‚schrecklich‘ (= terrible etc.) übersetzt. Dies trifft die Bedeutung des russischen Wortes nicht besonders genau. Eher treffen Worte wie ge(streng), gebietend, drohend oder dräuend zu. Vgl. dazu Andreas Ebbinghaus (ed.), Alexander Puschkin, Boris Godunow, Russisch/Deutsch, Stuttgart 2013, 162.

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nur drei Ehen für legitim und betrachtete alle weiteren Heiraten als „viehisch“.4 Nach dem Tode Ivans IV., der das Land sowohl innen- als auch außenpolitisch in einem katastrophalen Zustand hinterlassen hatte, wurde sein Sohn Fedor (1557– 1598) zum Zaren gekrönt. Da er körperlich wie geistig nicht in der Lage war, allein zu regieren, stand ihm ein noch von Ivan IV. initiierter Regentschaftsrat zur Seite, als dessen stärkste Persönlichkeit sich der aus dem niederen Adel stammende ehemalige Opricˇnik Boris Godunov (1552–1605) durchsetzte,5 mit dessen Schwester Irina (1557?–1603) Fedor verheiratet war. Das einzige Kind aus dieser Ehe war die Tochter Feodosija, die bereits im Alter von zwei Jahren verstarb. Um Dmitrij und seine Familie als mögliche Kandidaten für den Thron auszuschalten und Unruhen in Moskau zu verhindern, wurden er und seine Mutter Marija in die Apanage-Residenz Uglicˇ verbannt. Dort kam er im Mai 1591 unter bis heute nicht gänzlich aufgeklärten Umständen ums Leben. Von Seiten der Familie Nagaj und Teilen der Ortsbevölkerung wurde sofort Boris Godunov beschuldigt, sich eines lästigen Konkurrenten durch Mord entledigt zu haben. Bei den nachfolgenden Unruhen wurden mehrere Personen, die des Mordes verdächtigt wurden, umgebracht. Daraufhin setzte Godunov eine Untersuchungskommission ein, an deren Spitze einer seiner heftigsten Widersacher, der Bojar Vasilij Sˇujskij (1552–1612), stand. Die Kommission fand heraus, dass der an Epilepsie leidende Dmitrij sich während eines Spiels selbst in den Hals gestochen habe und daran verstorben sei. Nach der Überführung nach Moskau wurde die Leiche dort begraben. Jedoch endeten die Unruhen erst, als Marija Nagaja ins Kloster geschickt und die Familie verbannt wurde.6 Dmitrij wurde 1606 auf Betreiben Vasilij Sˇujskijs, der von Mai 1606 bis Juli 1610 als Zar regierte,

4 Frank Kämpfer, Ivan (IV.) der Schreckliche, in: Hans-Joachim Torke (ed.), Die russischen Zaren 1547–1917, München 1995, 48. 5 Die Opricˇnina war sowohl ein von Ivan IV. dem Schrecklichen geschaffener Staat im Staate als auch die darin herrschende Terrororganisation. Hans-Joachim Torke (ed.), Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, München 1985, 273–275. Vgl. dazu Manfred Hildermeier, Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013, 252–256; zu Godunov vgl. Chester S. L. Dunning, Russia’s First Civil War. The Time of Troubles and the Founding of the Romanov Dynasty, University Park, PA 2001, 60–72; Ders., A Short History of Russia’s First Civil War. The Time of Troubles and the Founding of the Romanow Dynasty, University Park, PA 2004 ist eine Kurzfassung ohne Anmerkungen und Literaturverzeichnis. Sie wird im Weiteren nicht mehr berücksichtigt. 6 Vgl. Hildermeier 2013, 285; Maureen Perrie, Pretenders and popular monarchism in early modern Russia. The false tsars of the Time of Troubles, Cambridge 1995, 17–22 mit einer Diskussion über die Zuverlässigkeit der zeitgenössischen Quellen; Dies., Popular Social-Utopian Legends in the Time of Troubles, in: The Slavonic and East European Review 60 (1982), 221–243; Dunning 2001, 64f.; George Vernadsky, Die Tragödie von Uglicˇ und ihre Folgen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3 (1955), 41–49.

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und des Metropoliten Filaret (1553/54–1633) heiliggesprochen und galt als politischer Märtyrer.7 Seit dieser Zeit hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Godunov der Anstifter des vermeintlichen Mordes gewesen sei, was im Laufe des 17. Jahrhunderts durch Quellen, die das neue Herrschergeschlecht der Romanovy verbreitete, mehr und mehr zur herrschenden Meinung wurde, die schließlich in Alexander S. Puschkins (1799–1837) Werk ‚Boris Godunov‘ aus dem Jahre 1825 und Modest P. Musorgskijs (1839–1881) gleichnamiger Oper kulminierte und zur allgemeinen Überzeugung wurde.8 Als am 6. Januar 1598 Zar Fedor starb, stand Moskowien erstmals vor einer ernsthaften Nachfolgekrise, denn mit ihm starb das legendäre Herrscherhaus der Rjurikiden aus. Da Fedor keinen Nachfolger bestimmt hatte, blieb im Grunde nur die Möglichkeit, einen neuen Zaren zu wählen. Ein Verfahren und ein Vorgang, der bisher unbekannt gewesen war, denn die Herrschernachfolge blieb auf die Mitglieder der großfürstlichen bzw. zarischen Familie beschränkt. Im Prinzip war Godunov der einzig mögliche und auch denkbare Kandidat, auch wenn es einige Mitbewerber gab, die jedoch kaum öffentlich hervortraten. Für einige Tage fungierte Irina, die Zarenwitwe als Regentin, bevor sie die Macht an den Bojarenrat übergab und zugleich, ebenso wie Patriarch Iov, ihren Bruder als Kandidat empfahl. Danach zog sie sich, wie üblich, in ein Kloster zurück. Die Wahl oblag nun der ‚Reichs- oder Landesversammlung‘ (Zemskij sobor), die Mitte Februar 1598 zusammentrat. Da formale Regelungen fehlten und Godunov taktierte, dauerte es einige Zeit, bis er die Wahl annahm und schließlich Anfang März 1598 gekrönt wurde.9 Was ihm in jedem Falle fehlte, war der genealogische Anspruch, der auf der Blutsverwandtschaft mit den bisher regierenden Rjurikiden begründet war. Godunov hatte in seiner Zeit als ‚Reichsverweser‘, in ausländischen Berichten wurde er als gubernator bezeichnet, durchaus einige Erfolge erringen können. So wurde 1589 die Metropolie zum Patriarchat erhoben10 und die wirtschaftliche ˇ istov, Der gute Zar und das ferne Land. Russische sozial7 Vgl. Perrie 1995, 19f.; Kirill V. C utopische Volkslegenden des 17.–19. Jahrhunderts, ed. von Dagmar Burkhart, Münster et al. 1998, 50f. 8 Vgl. Helmut Neubauer, Boris Godunov, in: Torke (ed.) 1995, 53–67, hier 53. Puschkin schrieb sein Werk 1825, es konnte jedoch erst 1831 veröffentlicht werden. 9 Vgl. dazu ausführlich Diana Ordubadi, Die Berufung zur Herrschaft 1598 und die Legitimation des Zaren Boris Godunov, in: Dittmar Dahlmann/Dies. (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613 (Studien zu Macht und Herrschaft 2), Göttingen 2019, 179–197. 10 Vgl. dazu unter anderem Diana Ordubadi, ‚Moskau als drittes Rom‘ und Konstantinopel. Das Verhältnis zweier christlich-orthodoxer Zentren im 16. Jahrhundert, in: Jan Bemmann/ Dittmar Dahlmann/Detlef Taranczewski (edd.), Core, Periphery, Frontier – Spatial Patterns of Power. Sammelband zur Spannungsfeldtagung „Zentrum und Peripherie“, Göttingen 2021, 123–138.

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Lage besserte sich langsam, jedoch war die Finanzkraft des Staates schwach. Boris Godunov ist in der Historiographie und der Betrachtung durch die Nachwelt einer der umstrittensten Herrscher des Moskauer bzw. Russischen Reiches. Gilt er den einen als einer der ‚fähigsten Herrscher Altrusslands‘, bleibt er für die anderen ein ‚machtbesessener Usurpator‘. Seine Zeitgenossen und die Nachwelt verziehen ihm unter anderem seine Rolle in der Gefolgschaft Ivans IV. nicht und unterstellten ihm jede Form von Niedertracht. So habe er nicht nur Dmitrij ermorden lassen, sondern auch Fedor vergiftet, um auf den Thron zu gelangen.11 Sein Niedergang begann jedoch nicht aufgrund seiner Taten, sondern durch die einsetzende kleine Eiszeit an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert.12 Seit 1601 führten Fröste im Hochsommer, überaus strenge Winter und starke Regenfälle zu mehrfachen Ernteausfällen und damit zu einer der größten Hungersnöte des vorrevolutionären Russland mit vermutlich mehreren hunderttausend Toten. Godunovs Maßnahmen zu deren Bekämpfung reichten nicht aus und Hungerrevolten griffen um sich.13 Schon seit 1600 kursierten vorgeblich oder tatsächlich in Moskowien Gerüchte, dass Dmitrij den Mordanschlag Godunovs überlebt habe. Im Jahre 1603 erschien auf dem Anwesen des litauisch-ukrainischen Magnaten und Fürsten Adam Wis´niowiecki (um 1566–1622), russisch-orthodoxer Konfession, ein junger Mann und offenbarte ihm bald nach seiner Ankunft sein Geheimnis, dass er der überlebende Dmitrij sei, der dem Mordkomplott entkommen konnte und nun Anspruch auf den ihm rechtmäßig zustehenden Moskauer Thron erhebe. Damit trat erstmals in der russischen Geschichte das Phänomen des sogenannten samozvanec auf, ein Selbsternannter oder Selbstberufener, ein Thronprätendent ohne jedweden legitimen Herrschaftsanspruch, der diesen jedoch in Krisenzeiten auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen versuchte. Dieses Phänomen durchzog die russische Geschichte für rund zwei Jahrhunderte und noch im 20. Jahrhundert erlebten wir den Fall ‚Anastasija‘, den Auftritt einer Frau, die behauptete, die jüngste Tochter des russischen Kaisers Nikolaj II. (1868–1918) zu sein, die die Ermordung der Familie 1918 überlebt habe und diesen Anspruch sogar juristisch durchzusetzen versuchte.14 11 Vgl. Hildermeier 2013, 287f.; Perrie 1995, 2f. und 28–30; Dunning 2001, 91–95. 12 Vgl. Vladimir Klimenko, Sommerlicher Frost, ungeheure Hungersnöte und eine warme Arktis. Extreme klimatische Verhältnisse in Moskowien an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in: Dahlmann/Ordubadi 2019, 57–73. 13 Vgl. Dunning 2001, 96–108. 14 Zu den Samozvancy vgl. den Beitrag von Daniela Mathuber in diesem Band; Perrie 1995, 229–238; Dies., Trans-national Representations of Pretenders in 17th-Century Russian Revolts, in: Malte Griese (ed.), From Mutual Observation to Propaganda War. Premodern Revolts in their transnational Representations, Bielefeld 2014, 53–78; Dies., „Royal Marks“. Reading the Bodies of Russian Pretenders, 17th–19th Centuries, in: Kritika 11 (2010), 535–561 mit einer Diskussion der bisherigen Forschung; vgl. mit Vorbehalten auch Gerhard Menzel,

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Wis´niowiecki, der einen Grenzstreit mit Moskowien führte und zudem gute Beziehungen zu den unruhigen Zaporoger Kosaken am Dnepr unterhielt, sah wohl die Möglichkeit, territorialer Gewinne oder einer Vergrößerung des polnisch-litauischen Einflusses in Russland. Er berichtete König Sigismund III. Wasa über das Erscheinen des falschen Dmitrij, woraufhin der König ihn aufforderte, den Prätendenten in die Residenzstadt Krakau zu bringen. Dmitrij hatte, aus welchen Gründen auch immer, zu jenem Zeitpunkt jedoch das Anwesen Adam Wis´niowieckis bereits verlassen und sich dessen katholischem Cousin Konstantin sowie dessen Schwiegervater Jerzy Mniszech, dem Voevoden von Sandomierz, anvertraut, der für einen erneuten Krieg mit Moskowien eintrat.15 Er versprach Dmitrij militärische Unterstützung sowie die Hand seiner Tochter Maryna, forderte aber als Gegenleistung die Abtretung russischer Territorien. Zugleich trat Dmitrij heimlich zum Katholizismus über.16 Im März 1604 reisten Mniszech und Dmitrij an den Krakauer Hof zu einer Audienz mit König Sigismund, der ein glühender Verfechter der Gegenreformation war. Umfassende Informationen über diese Angelegenheit erhielt auch Claudio Rangoni, der päpstliche Nuntius in Krakau, der darüber Papst Clemens VIII. berichtete. Während König Sigismund, Rangoni und einige Angehörige des polnischen Hochadels Dmitrijs Geschichte glaubten, wandte sich die Mehrheit des polnischen Sejm (Reichstag) gegen eine offizielle Unterstützung einer militärischen Intervention.17 Bis Ende August 1604 sammelten Mniszech und Dmitrij eine Truppe von rund 2.500 Bewaffneten, die etwa zur Hälfte aus Dnepr- und DonKosaken bestand, und begannen ihren Marsch auf Moskau.18 In heutiger Betrachtung sind die Erzählungen des Thronprätendenten wenig glaubwürdig. In einer der überlieferten Versionen habe er mehrere Anschläge durch von Godunov gedungene Täter überlebt, da ihn einer seiner Erzieher,

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Falsche Könige zwischen Thron und Galgen. Politische Hochstapelei von der Antike zur Moderne, Frankfurt/M. u. a. 2012, Kap. 16 (Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis und im Fließtext stimmen nicht überein). Zum Fall ‚Anastasija‘ vgl. Peter Kurth, Anastasia. The Riddle of Anna Anderson, Boston 1983. Vgl. Perrie 1995, 40–43; Philip L. Barbour, Dimitry Called the Pretender. Tsar and Great Prince of All Russia, 1606–1606, London/Melbourne 1967, 20–38; dt. Fassung: Dimitrij. Ein Leben für die Zukunft, Dornach [1967]. Zitiert wird nach dem englischen Original. Barbour (1898–1980), ein amerikanischer Linguist, Historiker und Journalist, hegte Zweifel daran, dass Dmitrij ein Usurpator war, und meinte, es sei durchaus möglich, dass er der überlebende Sohn Ivans IV gewesen sei. Barbour war sicherlich einer der besten Kenner von Quellen und Literatur zu Dmitrij. Barbour 1967, 327: „Dimitry himself was convinced that he was genuine, but also to the presumptive truth that in some way he really was.“ Der letzte Halbsatz fehlt in der dt. Fassung: „[…], daß Dimitrij von seiner Echtheit überzeugt war.“ Vgl. Walter Leitsch, Moskau und die Politik des Kaiserhofes im XVII. Jahrhundert. I. Teil 1604–1654, Graz/Köln 1960, 40f.; Dunning 2001, 135f. Vgl. Hildermeier 2013, 288f.; Perrie 1995, 37–39. Vgl. Perrie 1995, 43 und 59; Dunning 2001, 135–137.

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obwohl auch er von Godunov ausgewählt worden war, warnte bzw. schützte. An seiner Stelle sei ein entfernt verwandtes Kind gleichen Alters ermordet worden, er aber entkommen. Der Erzieher sei bald darauf auf der Flucht verstorben, habe aber einen guten Bekannten gehabt, der ihn weiter aufgezogen und kurz vor seinem Tod in ein Kloster gebracht habe. So sei der Zarewitsch Mönch geworden und später von einem Kloster zum anderen gewandert, bis ihn ein anderer Mönch aufgrund seines Ganges und seines mutigen Verhaltens als Dmitrij erkannt habe, woraufhin er nach Polen geflohen sei und sich schließlich Wis´niowiecki zu erkennen gegeben habe.19 Da alle Zeugen schon verstorben waren, 19 Vgl. Perrie 1995, 38f.; Barbour 1967, 7–19; hingewiesen sei auch auf das Werk des deutschbaltischen Schriftstellers Theodor Hermann Pantenius, Der falsche Demetrius, Bielefeld/Leipzig 1904. Pantenius (1843–1915) geht in seiner Schrift, die in der Reihe ‚Monographien zur Weltgeschichte‘ erschienen ist und deren Quellen er nur sporadisch im Fließtext erwähnt, davon aus, dass der echte Dmitrij in Uglicˇ verstorben ist, wahrscheinlich ermordet wurde, und es sich um einen Usurpator handelte, schreibt aber am Ende: „Wirklich entschleiern wird sich das Geheimnis, das die Person des Zaren Demetrius umgibt, wohl nie lassen.“ Pantenius 1904, 120. Barbour stützte sich in seiner Darstellung weitgehend auf die älteren Arbeiten von Nikolaj M. Karamzin (1766–1826), Sergej S. Solov’ev (1820–1879) und Vasilij O. Kljucˇevskij (1841–1911) (siehe dazu sein Quellen- und Literaturverzeichnis) sowie die mehrbändige Quellenedition des russischen Jesuiten Paul (Pavel O.) Pierling (1840–1922), La Russie et le Saint-Siège: Études diplomatique, Paris 1896–1912, Nachdruck The Hague/La Haye 1967 und die zeitgenössischen Berichte von Jacques Margeret (1560?–1619?), engl. Übersetzung: The Russian Empire and Grand Duchy of Muscovy. A 17th-Century French Account, transl. and ed. Chester S. L. Dunning, Pittsburgh 1983, frz. Original: Estat de L’Empire de Russie et Grande Duche de Moscovie […], Paris 1607, danach zahlreiche Neuausgaben bis in die Gegenwart, zumeist ohne Erläuterungen, die erste russische Übersetzung publizierte Nikolaj G. Ustrjalov 1830, erschienen in St. Petersburg; Conrad Bussow (Konrad Bussov, Lebensdaten unbekannt, etwa 1552/53–1617), Moskovskaja Chronika 1584– 1613, ed. Ivan I. Smirnov, Moskva/Leningrad 1961: kommentierte deutsche Fassung und russische Übersetzung), 1991 erschien eine Übertragung ins Neuhochdeutsche: Conrad Bussow, Zeit der Wirren. Moskowitische Chronik der Jahre 1584 bis 1613, ed. Jutta Harney/ Gottfried Sturm, aus dem Frühneuhochdeutschen übertragen von Marie-Elisabeth Fritze, Berlin/Leipzig 1991, englische Übersetzung: Conrad Bussow, The Disturbed State of the Russian Realm, ed. and translated by G. Edward Orchard, Montreal et al. 1994; Isaac Massa (1586–1643), A Short History of the Beginnings and Origins of These Present Wars in Moscow under the Reign of Various Sovereigns down to the Year 1610, transl. and ed. G. Edward Orchard, Toronto/Buffalo/London 1982 und Peter Petrejus de Erlesunda, Historien vnd Bericht von dem Großfürstenthumb Muschkow, mit dero schönen fruchtbaren Provincien und Herrschaften […], Mit der Muschowiter Gesetzen, Statuten, Sitten, Geberden, Leben, Policey vnd Kriegswesen: wie auch, was es mit jhrer Religion vnd Ceremonien vor eine Beschaffenheit hat, kürtzlich vnd deutlich in sechs Thelien zusammen gefasset, beschrieben vnd publiciret, Leipzig 1620. Vgl. dazu Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi, Die ‚Zeit der Wirren‘ und die Moskauer Selbstherrscher (1598–1613) aus russischer Perspektive und in zeitgenössischen ausländischen Berichten, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen (Macht und Herrschaft 11), Göttingen 2019a, 273–297, hier 283–291. Barbour nutzte auch die auf russischen Quellen basierende Darstellung des französischen Schriftstellers und Historikers Prosper Mérimée, Èpisode de l’Histoire de Russie. Les Faux

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musste man die Geschichte glauben oder nicht oder sie zu entsprechenden Zwecken nutzen. Mitten hinein in das sozial, gesellschaftlich und wirtschaftlich tief zerrüttete Moskowien fiel nun die Nachricht, dass Dmitrij, der Sohn Ivans IV. am Leben sei und kommen werde, um sein Erbe anzutreten. Godunov ließ die Nachricht verbreiten, es handele sich in Wahrheit um einen entlaufenen Mönch namens Grigorij (Grisˇa) Otrep’ev.20 Dies war und ist auch eine in der Forschung verbreitete Überzeugung, die allerdings Mitte des 19. Jahrhunderts schon der französische Schriftsteller und Historiker Prosper Mérimée auf der Grundlage des bis dahin veröffentlichten russischen Materials anzweifelte.21 Diese Zweifel wiederholte jüngst auch der US-amerikanische Historiker Chester S.L. Dunning. Gänzlich überzeugen kann weder die eine noch die andere Seite. Keine der Annahmen lässt sich zweifelsfrei belegen. Das von Dunning gezeichnete Bild des Prätendenten Dmitrij ist deutlich zu positiv.22 Mérimée hielt Dmitrij eindeutig für einen Betrüger und für einen Kosaken, der zuvor einige Jahre in einem Kloster verbracht habe, oder möglicherweise auch für einen Popensohn.23 Kritische Stimmen gegen ihn gab es nicht nur von russischer Seite. Der polnische Kaufmann Stanisław Niemojewski hielt ihn für überambitioniert, hochmütig und ungeduldig.24 Sein junger deutscher Kollege, der Augsburger Juwelier Hans Georg Peyerle, der den Falschen Dmitrij auf mehreren Empfängen erlebte, fand keine freundlichen Worte über ihn, hielt ihn für „hoffärtig“ und „halsstarrig“ und kritisierte die erniedrigende Art und Weise, wie er die Mitglieder des russischen Hochadels behandelte.25 Peyerle hatte dabei durchaus Vergleichsmöglichkeiten, denn sowohl er als auch sein Vater und Onkel verkehrten am polnischen Hof in Krakau und Hans Georg Peyerle war mit dem polnischen Thronfolger Władysław gut bekannt, der ihn sogar 1624 in Augsburg besuchte.26 So hält Dunning es auch

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Démétrius, Paris 1852; dt. Der falsche Demetrius. Episode aus der Geschichte Rußlands, Leipzig 1853. Vgl. Hildermeier 2013, 288f.; vgl. dazu auch Mathuber 2020, in diesem Band. Vgl. Mérimée 1853, 208–211. Vgl. Dunning 2001, Kap. 8. Vgl. Mérimée 1853, 214–217. Vgl. Barbour 1967, 271; Aleksander Hirschberg (ed.), Pamie˛tnik Stanisława Niemojewskiego (1606–1608), Lwów 1899, XIf. Hans Georg Peyerle, Journey to Moscow. Beschreibung der Moßcuitterischen Rayß, Welche ich Hanns Georg Peyerle von Augspurg mit herrn Andreasen Nathan und Matheo Bernhardt Manlichen dem Jüngern, Ady 19 Marty Ao 1606 von Crachaw aus, angefangen […] bis zue unserer Gott lob wider dahin ankunft den 15 Decembris 1608, ed., transl. and annotated by G. Edward Orchard, Münster 1997, 114f. Vgl. Dittmar Dahlmann, „Waß nun weitter darauß wirt werden eröfnet die Zeit“. Deutschsprachige Zeitzeugenberichte in der ‚Zeit der Wirren‘ (1598–1613), in: Dahlmann/ Ordubadi 2019, 13–55, hier 43.

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für möglich, dass der falsche Dmitrij doch der richtige gewesen sei.27 Meines Erachtens ist es noch nicht einmal denkbar, dass an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ein prinzliches Mitglied des Herrscherhauses der Rjurikiden, der leibliche Sohn Ivans IV., wenn auch heimlich und aus welchen Gründen auch immer, zum Katholizismus konvertierte. Dies lag meines Erachtens außerhalb der Vorstellungswelt eines Angehörigen der zarischen Herrscherfamilie, denn dadurch bestand die Legitimität der Herrschaft nicht mehr. Übrigens gab es, wie kaum anders zu erwarten, auch auf Seiten der ausländischen Augenzeugen, die zu jener Zeit in Moskowien waren, geteilte Meinungen zur Sache. Der aus Niedersachsen stammende Söldner Conrad Bussow, dessen zwischen 1612 und 1617 abgefasster Bericht über diese Zeit bis heute nicht in einer zuverlässigen Edition vorliegt, hielt ihn für einen Usurpator. Er diente unter Boris Godunov, unter dem Falschen Dmitrij und kurzzeitig auch unter Zar Vasilij Sˇujskij. Hans Georg Peyerle, der enge Verbindungen zur polnischen Fraktion hatte, hielt ihn bei aller Kritik für den echten Sohn Ivans IV.28 Es gelang dem Falschen Dmitrij trotz einiger Rückschläge mit Unterstützung von polnischer Seite und durch zahlreichen Zulauf Moskau zu erobern und sich im Juli 1605 zum Zaren krönen zu lassen. Boris Godunov war Mitte April 1605 wohl an den Folgen eines Blutsturzes verstorben, sein Sohn Fedor (1589–1605) konnte sich nur bis Anfang Juni auf dem Thron halten, dann wurde er zusammen mit seiner Mutter am 10. Juni 1605 erdrosselt.29 Seine Schwester Ksenija (? – 1622), die später von Dmitrij vergewaltigt bzw. gezwungen wurde, seine Geliebte zu werden, starb als Nonne in einem Suzdal’er Kloster.30 Am 17. Juni 1605 trafen sich, von Dmitrij zuvor arrangiert, Mutter und Sohn öffentlich vor den Toren Moskaus, und die Mutter erkannte ihren vorgeblich ermordeten Sohn wieder. Marija (Marfa) Nagaja sagte später aus, sie sei von Dmitrij und seiner Entourage dazu gezwungen worden.31 Nach seiner prunkvollen Krönung im Kreml am 21. Juli 1605 zeigte sich Dmitrij zunächst großzügig, ließ einige verbannte Familien zurückholen, machte Filaret zum Metropoliten von Rostov und begnadigte Vasilij Sˇujskij, der schon zum Tode verurteilt worden war und der die Identität Dmitrijs angezweifelt hatte. Sein Verhalten allerdings provozierte die hauptstädtische Bevölkerung in hohem Maße, denn er ignorierte 27 Vgl. Dunning 2001, 132: „Tsar Dmitrii may have been the real son of Ivan the Terrible; at least he was convinced that he was.“ 28 Vgl. Dahlmann 2019, 46f. 29 Vgl. Dunning 2001, Kap. 11. 30 Vgl. Helmut Neubauer, Fedor Godunov, in: Torke (ed.) 1995, 68f.; Perrie 1995, 78; Pantenius 1904, 89; Gerhard Friedrich Müller, Sammlung Rußischer Geschichte, 6 Bde., Bd. 5, 4. Stück, St. Petersburg 1761, 275 (online auf dem Server des Münchener Digitalisierungszentrums (MDZ)) schreibt, Dmitrij habe „seine Wollust an ihr gesättigt“. 31 Vgl. Perrie 1995, 82f., 86 und 104f.

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die höfische Etikette, machte sich über die geltenden Sitten lustig, hielt sich nicht an Fastenregeln, mied Gottesdienste und umgab sich mit zahlreichen polnischen Beratern, darunter zwei Jesuiten.32 Schließlich heiratete er am 8. Mai 1606 gegen den Widerstand der Bojaren und der Kirche die polnische Adlige Marina Mniszech, die als Katholikin eine Konversion ablehnte und vom Papst keinen Dispens erhielt, aber dennoch zur Zarin gekrönt wurde.33 Die Hochzeitsfeierlichkeiten wurden von zahlreichen Bällen und Maskeraden begleitet, wie sie am polnischen Hof üblich, im Moskau jedoch völlig unbekannt waren. Auch die dort gespielte Musik hatten die Russen noch nie gehört. Zudem wurden die Festivitäten auch am 9. Mai fortgesetzt, einem hohen religiösen Festtag für den besonders verehrten Hl. Nikolaus den Wundertäter.34 Am 17. Mai, wenige Tage nach den großen Feiern, zu denen außer der Braut auch ein Gefolge von rund 2.000 Personen nach Moskau gekommen war, wurde der Falsche Dmitrij von hochadligen Verschwörern unter Führung von Vasilij Sˇujskij auf grauenvolle Weise ermordet. Dem rasenden Mob sollen nach der Tat etwa 400 Polen bzw. Ausländer zum Opfer gefallen sein.35 Vielen Russen galt Dmitrij als „polnischer Gaukler (skomoroch)“, der mit bösen Mächten im Bunde war, als Lateiner, als Verkörperung des Antichristen und als Lügner. Sein Leichnam, der nackt auf dem Marktplatz ausgestellt und geschändet worden war, wurde verbrannt, seine Asche vorgeblich mit einer Kanone („groß geschütz“) „zue der porten, […] zuem ersten in die statt einkhommen hinauß widerumb schiessen lassen, darmit ja nichts von ime überblibe.“36 Zehn Tage später wurde Vasilij Sˇujskij von den Bojaren zum neuen Zaren gewählt, aber rund vier Jahre später, im Juli 1610, wieder seiner Herrschaft enthoben und als Mönch in ein Kloster geschickt. Er starb zwei Jahre danach in polnischer Gefangenschaft. Das Interregnum, die Zeit des Kampfes gegen die ausländischen Invasoren, insbesondere gegen Polen, endete erst 1613, als mit Michail Romanov ein neues Geschlecht in Moskowien die Herrschaft übernahm. 32 Vgl. Hildermeier 2013, 291; Perrie 1995, 86f.; Dunning 2001, Kap. 12. 33 Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Diana Ordubadi zur Marinas Hochzeit in diesem Band. 34 Vgl. Nikolai Findeizen, History of Music in Russia from Antiquity to 1800, 2 vols., hier Bd. 1: From Antiquity to the Beginning of the Eighteenth Century, edd. and annotated by Milosˇ Velimirovic´/Claudia R. Jensen, Bloomington/Indianapolis 2008, 201f.; Claudia R. Jensen, Musical Cultures in Seventeenth-Century Russia, Bloomington/Indianapolis 2009, chap. 1. 35 Vgl. Hildermeier 2013, 292; Dunning 2001, 226–238; Müller 1761, 359 schreibt, dass 2.000 Personen umgekommen seien. Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandschafft an den Russischen Zaar und König in Persien geschehen. […], Schleswig 1656, 232 erwähnt sowohl die „viel Jubilirer mit köstlichen Kleinodien“, die bei der Hochzeit gewesen seien, und gibt an, dass 1.700 Mann „unbarmherzig nieder gemacht“ worden seien. 36 Peyerle 1997, 128; Hildermeier, ebd.; Perrie 1995, 98f.–101; Müller 1761, 358f. schreibt, die Leiche sei verbrannt und die Asche „in die Luft“ gestreut worden.

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In jener Zeit zählte man teilweise ein Dutzend Prätendenten,37 aber nur der erste Falsche Dmitrij, bekannt als Demetrius oder Pseudodemetrius, erlangte Weltruhm, insbesondere durch die literarischen Verarbeitungen seines Lebens. Was, so wird man fragen müssen, war und ist das besondere an seinem Leben und seinem Schicksal? Worin lag die Faszination dieses Lebens und Sterbens? Welchen Zweck verfolgte die Darstellung seines Lebens? Und welchen Sinn erhielt dieses Leben? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass ich die Meinung von Maureen Perrie und einigen anderen Historikern/innen teile, dass der echte Dmitrij, also der jüngste Sohn Ivans IV., im Mai 1591 auf welche Weise auch immer gestorben ist. Alle anderen Geschichten, die erzählt werden, tragen so märchenhafte Züge, dass sie in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht ernst genommen werden können; es ˇ istov oder Maureen Perrie mit sei denn, man beschäftigt sich, wie Kirill V. C 38 Volkslegenden Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelte es sich wohl doch um den entflohenen Mönch Grigorij (Grisˇa oder Grisˇka) Otrep‘ev aus einer kleinadeligen Familie mit Verbindungen nach Uglicˇ, also Aufenthalts- und Todesort des Zarensohnes Dmitrij. Sein weltlicher Name war Jurij Bogdanovicˇ Otrep’ev. Wie Perrie überzeugend argumentiert, hatte Otrep’ev als Diakon in einem Kloster im Moskauer Kreml und später als Schreiber des Patriarchen viele Möglichkeiten, sich über die zarische Familie und über Dmitrij zu informieren. Darüber hinaus galt er als intelligent und gebildet, auch beherrschte er mehrere Fremdsprachen.39 Man kann vermuten, dass das Kind über eine reiche Phantasie verfügte oder aber eine Identitätskrise durchlebte, wie Perrie meint.40 Ebenso sind meiner Meinung nach alle von Zeitgenossen und späteren Historikern oder Schriftstellern geäußerten Verschwörungstheorien verfehlt, aber nachvollziehbar. Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde vor allem von protestantischer Seite die These geäußert, dass es sich um eine jesuitische, in jedem Falle aber katholische Verschwörung handelte, um Moskowien zu katholisieren. Zu den Verfechtern dieser These gehörte unter anderem auch der zeitgenössische niederländische Kaufmann Isaac Massa.41 Sie wurde noch im 20. Jahrhundert nicht nur von dem österreichischen, jedoch in der DDR lebenden und lehrenden Historiker Eduard Winter in seiner Schrift ‚Rußland und das

37 Vgl. Helmut Neubauer, Vasilij Sˇujskij, in: Torke (ed.) 1995, 81–89, hier 88. ˇ istov 1998, 32–62; die Studie ist erstmals 1967 in Moskau erschienen. Begrifflichkeit 38 Vgl. C und Konzept der sovetischen Historiographie, wenn auch leicht abgemildert, wurden beiˇ istovs Ausführungen auseinander. behalten; Perrie 1982 setzt sich umfassend mit C 39 Vgl. Perrie 1995, 37–58. 40 Vgl. ebd., 57. 41 Vgl. Dahlmann/Ordubadi 2019a, 293.

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Papsttum‘ aus dem Jahr 1960 vertreten.42 Auf dieser Basis argumentieren auch heute noch Anhänger der anthroposophischen Lehren Rudolf Steiners wie der russische Maler und Schriftsteller Sergej O. Prokofieff (Prokov’ev).43 Nach der hier vertretenen anthroposophischen Meinung hatte der in Uglicˇ ermordete Zarensohn Dmitrij – Prokofieff legt ausführlich dar, dass der 1605 gekrönte Dmitrij nicht der wahre Zarensohn war – eine „geistig ungewöhnlich hohe Individualität“ und sollte das russische Volk auf eine höhere Stufe heben, was jedoch von „verschiedenen Mächten“ verhindert wurde.44 In jedem Falle befanden sich im Umkreis des Falschen Dmitrij mindestens zwei Mitglieder der Societas Jesu, die mit Papst Paul V. in enger Verbindung standen.45 Innerhalb kürzester Frist erlebte das Moskauer Reich zwischen 1598 und 1605/ 06 zwei Krisen, die seine Existenz nicht nur bedrohten, sondern sogar in Frage stellten. Zunächst musste ein neuer Herrscher gewählt werden, der nicht aus dem traditionellen Herrscherhaus stammte und somit eine spezifische Form einer neuen Legitimation geschaffen werden. Sodann erschien ein Thronprätendent, der erstmals und, wie sich zeigen sollte, einmalig seine Herrschaft mit Waffengewalt erkämpfte und sich gleichsam selbst auf den Thron setzte, ein Samozvanec im wahrsten Sinne des Wortes. Damit wurde die Tradition ein zweites Mal gebrochen, und die Autorität des Zarentums erlitt einen schweren Schaden.46 Diese dramatischen historischen Entwicklungen um den ‚geheimnisvollen‘ und ‚poetischen‘ Thronprätendenten Dmitrij, die sich binnen kurzer Frist abspielten, hatten einen ungewissen und gänzlich offenen Ausgang. Sie boten genügend Stoff für zahlreiche Deutungen und unterschiedliche Versionen. Verkürzt standen sich der Emporkömmling Boris Godunov und der ‚rechtmäßige‘ Herrscher gegenüber. Es kam hinzu, dass das Land, in dem sich diese Ereignisse abspielten, im übrigen Europa kaum bekannt, also auf eine gewisse Art exotisch war. Dies betraf nicht nur die Personen, sondern auch Religion, Normen, Werte und Sitten. Man hörte und las von den Volksmassen, von blutigem Gemetzel und

42 Vgl. Eduard Winter, Rußland und das Papsttum. Teil I: Von der Christianisierung bis zu den Anfängen der Aufklärung, Berlin (Ost) 1960, 274–290. 43 Vgl. Sergej O. Prokofieff, Das Rätsel des Demetrius. Versuch einer Betrachtung aus historischer, psychologischer und geisteswissenschaftlicher Sicht, Dornach 1992, 57. 44 Prokofieff 1992, 56. 45 Vgl. Gertrud von Poehl, Quellenkundliches zur Geschichte des Ersten Falschen Demetrius. Mosquera – Barezzo Barezzi, in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte 7 (1933), 73–87, hier 82f. 46 Vgl. Hedwig Fleischhacker, Russland zwischen zwei Dynastien (1598–1613). Eine Untersuchung über die Krise in der obersten Gewalt, Baden bei Wien 1933, 87. Fleischhacker schreibt: Das Carentum habe seinen „moralischen Zwangscharakter“ verloren.

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zahlreichen Schlachten, Hofintrigen und politischen Parteiungen, genügend Stoff für Dramen und Erzählungen unterschiedlichster Richtung.47 Spätestens mit den Schreiben des päpstlichen Nuntius Claudio Rangoni (1559–1621) vom November 1603 an Papst Clemens VIII. (1536–1605) kursierten in West- und Mitteleuropa Nachrichten über das Auftauchen eines Thronprätendenten in Moskowien.48 Etwa zwei Jahre später erhielten der Kaiser, einige Könige und weitere regierende Häupter im Reich diese Nachrichten direkt von polnischen Gesandten, die allerdings in erster Linie eine Einladung des polnischen Königs Sigismund III. Wasa überbrachten, an dessen für den 11. Dezember 1605 in Krakau geplanter Hochzeit mit der habsburgischen Prinzessin Constanze, einer Schwester der ersten Gemahlin Sigismunds, teilzunehmen. Bei solchen Gelegenheiten berichteten die Gesandten bisweilen auch über die polnisch-russischen Beziehungen und die Lage in Moskowien. Wer als Gesandter in Darmstadt war, ist anhand der vorliegenden Quellen wohl nicht mehr zu ermitteln.49 Der Heidelberger Kirchenrat Dr. Markus zum Lamm (1544–1606) zeichnete diesen Bericht aus dem Oktober 1605 für den Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz (1574–1610) auf, der sich bis heute erhalten hat. Zugleich erhielt der Kurfürst ein Porträt des Falschen Dmitrij, den die polnische Seite als legitimen Herrscher ansah. Bericht und Bildnis (Abb. 1) haben sich bis heute erhalten. Auch Lamm hegte die Überzeugung, dass Dmitrij

47 Vgl. Birgit Osterwald, Das Demetrius-Thema in der russischen und deutschen Literatur. Dargestellt an A.P. Sumarokovs „Dimitrij Samozvanec“, A. S. Pusˇkins „Boris Godunov“ und F. Schillers „Demetrius“, Münster 1982, 12f.; Demetrius, in: Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 10. überarb. und erw. Aufl. unter Mitarbeit von Sybille Grammetbauer, Stuttgart 2005, 182–186. 48 Vgl. Perrie 1995, 38f., 42. 49 Vgl. Walter Leitsch, Das Leben am Hof König Sigismunds III. von Polen, 4 Bde., Wien und Krakau 2009, hier Bd. 3, 1440–1447. Die von Barbour 1967, 362 (diese Stelle fehlt in der deutschen Übersetzung) geäußerte Überzeugung, als Gesandter käme nur der polnische Kronmarschall Zygmunt Myszkowski (1562–1615) in Frage, ein sehr enger Vertrauter Sigismunds III. Wasa, der in Heidelberg und Italien studiert und am 15. März 1604 an dem geheimen Gespräch zwischen König Sigismund III. und dem Falschen Dmitrij teilgenommen hatte, lässt sich nicht belegen. Wie Leitsch 2009, 1980f. ausführt, war Myszkowski damit beauftragt, gemeinsam mit Bischof Marcin Szyszkowski die Braut abzuholen, nachdem sie zuvor noch zum Kaiser in Prag, dann nach Graz und mit der Braut und deren Mutter von dort nach Krakau gereist waren. Für einen ‚Abstecher‘ nach Darmstadt blieb keine Zeit. Zu Myszkowski vgl. Leitsch 2009, 1970–1983; Polski Słownik Biograficzny, tom XXII, Warszawa 1977, 404–407, auch online verfügbar: https://www.ipsb.nina.govpl/a/biografia/zygmuntmyszkowski (letzter Abruf 25. 10. 2019), vgl. auch Theodor Watschke, Polnische Studenten in Heidelberg, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven, N. F. 2, Heft 3 (1926), 46– 67, hier 52. Diesem Artikel zufolge studierten fast alle männlichen Angehörigen der Familie Myszkowski, die anfänglich lutherisch war, in Heidelberg.

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ein lautheres FIGMENTUM [Erdichtung] JESUITISCHE PRAKTICK unnd anstellunng, unnd die vor lenngst gern in das Moschkowitische Großherzogthumb einen fuß gesezt, unnd auch daselbst gern eingenistet hettenn, Gestalt sie dann diesem DEMETRIO mit einer namhafften Summen Golts, und anderem vorschub großen beistandt gethan haben sollenn.50

Selbstverständlich kann man das für eine Verschwörungstheorie halten und liegt damit gewiss nicht falsch. Jedoch waren sowohl die polnischen Bemühungen, den Thron des Moskauer Reiches mit einem eigenen, also katholischen Kandidaten, zu besetzen, als auch die Maßnahmen des Vatikans und auch des Kaisers, dies nach Kräften zu unterstützen, in der Öffentlichkeit durchaus wahrnehmbar, stießen aber auf protestantischer Seite auf massive Ablehnung.51 Im Gegenteil: Für die protestantische Seite war die Herrschaft des jetzigen Zaren oder Großfürsten auf welche Weise auch immer erkauft und daher keinesfalls legitim. Zudem war er, wie Lamm weiter ausführte, mitnichten der Sohn Ivans IV.52 Die ersten gedruckten Nachrichten im Ausland über den Falschen Dmitrij meldeten die ‚Fuggerschen Relationen‘ und die ‚Zeittung auß Danzig‘ seit Januar 1604.53 Umfangreichere Mitteilungen stammten aus der Feder des Jesuiten Barezzo Barezzi (um 1560–1644) in Venedig und erschienen dort 1605 und 1606 auf Italienisch. Ihnen folgten Übersetzungen ins Französische, Spanische und Deutsche, wobei die spanische Version, übersetzt von dem spanischen Jesuiten Juan Mosquera (Lebensdaten unbekannt), erheblich von der Vorlage abwich.54 50 Frank Kämpfer, Pseudo-Demetrius im ‚Thesaurus Picturarum‘. Ein Bild und ein Text zur ‚Zeit der Wirren‘ aus einer Heidelberger Stadtchronik, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), 161–174, hier 167. Großschreibung im Original. Die Originale von Text und Bild finden sich in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt: HS-1971–5, fol. 232v– 243v. Der hier zitierte Text (fol. 242v) wurde am Original überprüft. Vgl. auch Frieder Hepp, Religion und Herrschaft in der Kurpfalz um 1600. Aus der Sicht des Heidelberger Kirchenrates Dr. Marcus zum Lamm (1544–1606), Heidelberg 1993, 229f. und Abb. 68: Bildnis des ‚Falschen Dmitrij‘ vom Oktober 1605. 51 Vgl. Leitsch 1960, 40–43. Die führende protestantische Macht war in jener Zeit Schweden, für das Polen unter Sigismund III. Wasa das Hauptproblem im Kampf um die Herrschaft in der Region war. 52 Vgl. Kämpfer 1985, 167. 53 Vgl. Leitsch 1960, 37f. 54 Vgl. Barezzo Barezzi, Avisi, et lettere ultimamente gionte di cose memorabili succedutte tanto in Africa nel Regno di Biguba [heute ein Teil von Guinea-Bissau DD], ch’e nella Guinea, quanto in Moscovia, doppo l’vltima relatione, che poco fà si stampò, et le cause della conuersione, di due nobilissimi barone Oltramontani, alla santa fede cattolica, Venetia 1606; Ders., Relatione della segnalata et come miracolosa conquista del paterno Imperio, Conseguita dal Serenissimo Giouine Demetrio Gran Duca di Moscouia, in questo anno 1605: colla sua coronatione & con quel che ha fatto doppo che fue coronado l’ultimo del mese di luglio sino a questo giorno, Venetia 1605, frz.: Discours merveilleux et véritable de la conquêste faite par le jeune Démétrius, grand duc de Moscovie du sceptre de son père, avenue de ceste année MDCV, tirez de bon advis, Arras 1605 (ND Paris 1858 auf dem Server des Münchener DigitalisierungsZentrums), span.: Relación de la señalada y como milagrosa conquista del pa-

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Abbildung 1: Zeitgenössisches Porträt des Falschen Dmitrij von unbekannter Hand. Der Text im Bild lautet: Demetrius Iwanowice Magnus Dux Moschoviae 1604 Aetatis Suae 23. Universitätsund Landesbibliothek Darmstadt, Bestand Marcus zum Lamm, Thesaurus Picturarum, Handschrift 1971, Bd. 5, fol. 233r.

Barezzi stand in enger Verbindung zu seinem Landsmann Antonio Possevino (1534–1611), der 1581/82 im Auftrag von Papst Gregor XIII. (1502–1585) Moskowien besucht hatte und dabei einen Waffenstillstand zwischen Ivan IV. und terno Imperio conseguido del Serenissimo Principe Iuan Demetrio, Gran Duque de Moscouia, en el año de 1605. Iuntamente con su coronación y con lo que ha hecho después que fué coronado desde el último de mes de julio basta aora recogido todo de varios y verdaderos avisos venidos de aquella partes en diversas vezes, traduzido de lengua Italiana en nuestro vulgar Castellano. Por Juan Mosquera Religioso de la Compañia de Jesus, Valladolid 1606. Von Poehl 1933, 73–87; Mosquera berichtete von Poehl zufolge über einen Besuch zweier Brüder von Maryna Mniszchówna in Valladolid am 27. Mai 1606 auf ihrer Kavalierstour. Sie hätten im Collegium den Jesuiten über den Falschen Dmitrij erzählt. Ibid, 81. Bei einem Aufenthalt in Rom am Ende jenes Jahres hätten die Brüder über dessen Ermordung berichtet. Ebd., 81, Anm. 7.

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dem polnischen König Stefan Báthory (1533–1586) vermitteln konnte. Zudem publizierte Possevino, der Barezzi mit ausführlichen Hintergrundinformationen versorgte, die Schrift ‚Moscovia‘ über seine dortigen Erfahrungen und seine Begegnungen mit Ivan IV.55 Von der deutschen Übersetzung erschienen 1606 vier Fassungen, eine in München in der Druckerei von Nicolaus (Niclas) Heinrich d. J. (?–1654, auch Hainrich, Henricus, Heinricus und Hainricus), eine zweite in Prag, gedruckt von Kaspar Kargesius (?–1613), eine dritte in Graz bei Georg Widmanstetter (?–1618, später Widmannstetter) und eine vierte in der Druckerei der Fürstabtei St. Gallen von Bartholomäus Schnell in Rorschach (1580?–1649).56 Alle vier Publikationen wurden nicht unter Barezzis Namen publiziert, sondern ohne Nennung eines Autors. Jedoch entspricht die deutsche Version sehr weitgehend der ‚Relatione‘ mit einigen Beigaben aus den ‚Avisi‘. Die vier Ausgaben unterscheiden sich nur in Nuancen voneinander, so dass davon auszugehen ist, dass ihnen nur eine Übersetzung zugrunde lag. Der fast zeitgleiche Druck an vier Orten des deutschsprachigen Raumes spricht dafür, dass für eine möglichst weite Verbreitung des Textes gesorgt werden sollte. Da von der nur rund 40-seitigen, kleinformatigen Schrift noch zahlreiche Exemplare überliefert sind, ist davon auszugehen, dass es recht hohe Auflagen gab. Bis auf Bartholomäus Schnell in der Druckerei der Fürstabtei St. Gallen standen die anderen drei Drucker bzw. Verleger zudem in zumeist enger Ver55 Vgl. Antonio Possevino, Moscovia, Wilna 1586, Antwerpen 1587; eine veränderte Version erschien Köln 1587, Nachdruck Farnborough 1970; engl. Übersetzung der Antwerpener Ausgabe Pittsburgh 1977 mit einer Einleitung und Anmerkungen von Hugh F. Graham, dort, XXIX–XXXII, Angaben zu weiteren Editionen und Übersetzungen sowie zur Rezeption; von Poehl 1933, 84f. 56 Vgl. Historie und warhafftige Beschreibung. Wie durch Wunderliche schickung Gottes der Großmächtige unnd hochgeborne Großfürst in den Moßcowitischen Ländern/sein Vätterliches Reich vberkommen/M.D.C.V. Item/Von desselben Krönung auch was sich von desselben Krönung/vom Brachmonat an/biß zum endt des 1605. Jahrs verlauffen und zugetragen, München: bey Niclas Heinrich 1606. Insgesamt sind weltweit noch etwa 15 bis 20 Exemplare aus den unterschiedlichen Druckorten überliefert. Online sind verfügbar: das Exemplar der HAB Wolfenbüttel, die Exemplare der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) München und der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg (auf dem Server des MDZ) und das Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek (auf dem Server der ÖNB). Das Exemplar der BSB München trägt auf der Titelseite den handschriftlichen Hinweis „Collegij Societatis Jesu Monachij 1607. Das VD17 (= Verzeichnis deutscher Drucke des 17. Jahrhunderts) erfasst nicht alle noch überlieferten Exemplare; zuverlässiger ist der Worldcat, der auch die wenigen Exemplare in den USA (3), Polen (1), Frankreich (1) und der Schweiz (3) nachweist. Vgl. auch Andreas Kappeler, Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Rußlandbildes, Bern/Frankfurt/M. 1972, 247. Er nennt Barezzo Barezzi als Verfasser. Zu den genannten Druckern vgl. jetzt Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing, 2. überarb. und erw. Auflage, Wiesbaden 2015, 333f., 679f. und 862f.

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bindung mit den lokalen Jesuiten. Nikolaus Heinrich kam als Protestant aus Ursel (heute Oberursel bei Frankfurt) nach München und arbeitete dort für den bekannten Drucker und Verleger Adam Berg (1540–1610, auch Adam bzw. Johannes Montanus), dessen Tochter er später heiratete. Um in München seinen Beruf ausüben und heiraten zu können, konvertierte er zum Katholizismus und stand spätestens seit dieser Zeit in enger Verbindung mit den Münchener Jesuiten.57 Der katholische Drucker und Verleger Kargesius (Karges, auch Karchesius) betrieb zwischen 1605 und 1613 sein Gewerbe in der Prager Altstadt und stand gleichfalls in Beziehungen zu den lokalen Jesuiten.58 Georg Widmanstetter war seit 1568 bei Berg in München als Setzer und Korrektor tätig, bevor er 1585 nach Graz übersiedelte und dort ein Jahr später Hofbuchdrucker bei Erzherzog Karl II. Franz von Innerösterreich (1540–1590) wurde. In jenen Jahren gründete Erzherzog Karl II. in Graz eine Universität, die von Jesuiten geleitet wurde. Widmanstetter verlegte und druckte zahlreiche ihrer Schriften.59 In der ‚Historischen und warhafftigen Beschreibung‘ ist der Falsche Dmitrij selbstverständlich der echte und wahre Sohn Ivans IV. Er verkörperte ein besonders helles Exempel der „Göttlichen Vorsehung“, denn sein Überleben sei aus „höherm als Menschlichem rath hergeflossen“ und hätte ohne die christliche Religion nicht geschehen können. Unter „christlicher Religion“ wird im Text ausschließlich die katholische Kirche verstanden, die Demetrius in seiner Zeit in Livland kennen- und schätzen gelernt habe. Seine wundersame Rettung durch seinen Hofmeister war ein deutliches Zeichen Gottes, dass nur er der wahre Erbe des zarischen Thrones sein könne. Ein Zeichen von Gottes Gericht war auch der plötzliche Tod des Tyrannen Boris Godunov, ebenso wie der Selbstmord seiner Frau und seiner beiden Kinder, von denen nur die Tochter gerettet wurde. Die ganze Herrschaft des Demetrius zeige das wunderbare Wirken Gottes im Moskauer Reich, in das bald der wahre katholische Glaube einziehen werde. Nur unter ihm sei eine rechte und gerechte Herrschaft möglich. Der Text endet mit Ereignissen, die sich im August und September 1605 zugetragen haben, also mehr als ein halbes Jahr vor der Ermordung des Falschen Dmitrij im Mai 1606. Das in vier Volkssprachen und nicht auf Latein verbreitete Druckwerk mit einem Umfang von rund 40 Seiten zielte ganz offensichtlich auf das ‚Bildungsbürgertum‘ der Zeit als Zielgruppe ab, das in Zeiten der Gegenreformation entsprechend informiert und für die katholische Sache gewonnen werden sollte. Auch Papst Paul V. erhoffte sich Dmitrij als tatkräftigen Unterstützer der ka57 Vgl. Dieter Breuer, Literatur in der Barockzeit, in: Waldemar Fromm/Manfred Knedlik/ Marcel Schellong (edd.), Literaturgeschichte Münchens, Regensburg 2019, 107–116, hier 109f. 58 Vgl. Encyklopedieknihy.cz online (19. 11. 2019). 59 Vgl. Alexander Rausch, Widmannstetter, Familie, in: Österreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at (19. 11. 2019).

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tholischen Konfession im Moskauer Reich und sandte darüber auch eine päpstliche Urkunde (Breve) an Sigismund III. Wasa mit einer entsprechenden Aufforderung zur Unterstützung „unseres geliebten Sohnes“ (Demetrius), der ein „Werkzeug der Vorsehung“ sei. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Falsche Dmitrij seit Beginn seines Feldzuges von zwei polnischen Jesuiten begleitet wurde.60 Es ist grundsätzlich nicht davon auszugehen, dass ‚Demetrius‘ ein jesuitisches bzw. katholisches oder päpstliches ‚Produkt‘ war, aber doch ebenso grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass diese Seite alles in ihrer Macht stehende unternahm, um Dmitrijs Erlangung der Herrschaft im Moskauer Reich nicht nur zu unterstützen, sondern auch voranzutreiben.61 Gleichfalls 1606 erschien anonym in Amsterdam die Schrift ‚La Lègende de la Vie et de la Mort de Demetrius dernier Grand Duc de Moscovie‘, der ein Jahr später in London die leicht veränderte englische Übersetzung ‚The Reporte of a Bloudie and terrible Massacre in the Citty of Mosco‘ folgte.62 Mit nur geringfügigen Abweichungen wird die Geschichte der Regierungszeit des Falschen Dmitrij von einem Ich-Erzähler geschildert, bei dem es sich möglicherweise um den niederländischen Kaufmann Isaac Massa handelte. Für ihn lag der Hauptgrund für das Scheitern des Falschen Dmitrij darin, dass er sich zu sehr auf den Papst und die Jesuiten gestützt habe: „that the Pope, with his Seminaries, and Jesuites were a principal cause of his ruíne, and totall subuersion“.63 Der Protestant Massa hält weder die Herrschaft eines Orthodoxen noch die eines Katholiken für erstrebenswert und keine der beiden Seiten, weder die polnische noch die russische, ist ihm sonderlich sympathisch. So heißt es an einer Stelle: „For the Poles have no goodnesse in them, but are fulle out as villanous, and bad 60 Vgl. Barbour 1967, 52f. und 173–176; Winter 1960, 278–281. 61 Vgl. Dunning 2001, 124 und passim. 62 Vgl. La Lègende de la Vie et de la Mort de Demetrius dernier Grand Duc de Moscovie, Amsterdam 1606, ein Nachdruck mit leicht verändertem Titel erschien Moskau 1839; The Reporte of a Bloudie and terrible Massacre in the Citty of Mosco, with the fearefull and tragicall end of Demetrius the last Duke, before him raigning at this present, London 1607, abgedruckt in: Sonia E. Howe (ed.), The False Dmitri. A Russian Romance and Tragedy Described by British Eye-Witnesses, 1604–1612, Reprint der Ausgabe London 1916, Cambridge 1972, 27–62. Beide Fassungen sind auch im Internet auf verschiedenen Servern zugänglich. Seit den 1850er Jahren wurde die Vermutung geäußert, dass der Text von Isaac Massa verfasst worden sei. Barbour 1967, 364; dagegen Orchard in seiner Einführung zu Massa 1982, XXIII. Als Grundlage beider Texte sieht Orchard eine anonyme niederländische Broschüre: Warachtige ende eygentlijcke Beschryvinghe vande wonderbare ende seer gedenckweerdighe geschiednissen die in Moscovia zyn voorgevallen ende in dem naestvoorleden ende in den teghenwoordighen jare 1606, […]. Alles vlytichlick beschreven door en geloofverdich Coopman, die doen ter tijd aldaer teghenvoordich was, Amsterdam 1606. Auf dem Server der Universität Utrecht, die das einzige bekannte Exemplar der 13-seitigen Broschüre besitzt. Die Formulierung, dass die Schrift von einem „glaubwürdigen Kaufmann“ stamme, deutet eher auf Massa als möglichen Verfasser. 63 Howe 1916, 60.

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as the Russians“. Daher habe die Hand Gottes auch größeres Unglück verhindert.64 Die Schilderung endet mit der beabsichtigten Heiligsprechung des echten Dmitrij, dem die Menge zahlreiche Wunder zuschrieb.65 Auch dies war dem Protestanten Massa ein Gräuel. Die Absicht der ausführlichen Schilderungen der Misse- und Gräueltaten des Falschen Dmitrij und seiner polnisch-jesuitischen Entourage liegt auf der Hand. Wie schon im Falle der Flugblätter zur Zeit des von Ivan IV. dem Schrecklichen geführten Livländischen Krieges, 1558–1583, wurde der deutschsprachige Leser mit solchen Schreckensbildern vor Macht und Herrschaft der „Tyrannen“ gewarnt.66 Die illegitime Herrschaft, grundsätzlicher gefasst, die Herrschaft derer, die den falschen Glauben vertreten, so die eindeutige Botschaft, führt zu inneren Unruhen und zur Herrschaft des Unrechts, die in letzter Konsequenz Strafen Gottes seien. Auch in der chronikartigen Geschichte des Franzosen Jacques-Auguste de Thou ‚Histoire Universelle depuis 1543 jusqu’en 1607, tome 14: 1601–1607‘, die 1734 vollständig in Paris, aber mit dem Druckort London erschien, findet sich ein längerer Abschnitt über die Ereignisse in Moskowien.67 In Köln wurde 1608 in der Druckerei von Gerhard Grevenbruch, in der ansonsten hauptsächlich Noten gedruckt wurden, die Broschüre ‚Tragoedia Moscovitica‘ publiziert, die 1901 ins Russische übersetzt wurde.68 Die wohl letzte Publikation vor Ausbruch des 64 Ebd, 52. Mehr oder minder deutlich weist der Verfasser auch auf Dmitrijs Ausschweifungen hin. Bei seinen täglichen Besuchen Marynas im Kloster sei er dort so privat gewesen, „that he taught her an other Catechisme“ (S. 36). Auch seien einige der Nonnen im Kloster von Polen nicht nur gezwungen worden, „filthie songs“ zu singen, sondern auch vergewaltigt worden, darunter auch Ksenija, die Tochter von Boris Godunov. Ebd., 58. 65 Ebd., 62. 66 Vgl. Kappeler 1972, 229–246; Cornelia Soldat, „Dem frommen deudschen Leser zur warnung und besserung in druck verfast“ or How to restrict the Power of the Emperor. The „Grumbach affair“ and German Orichnina Pamphlets in the second half of the 16th century, in: Dahlmann/Ordubadi 2019, 155–175. 67 Vgl. Jacques-August de Thou (Thuanus), Histoire Universelle Depuis 1543 jusqu’en 1607, 16 tomes, tome 14, London [Paris] 1734, 497, auf verschiedenen Servern online zugänglich. Das Werk erschien in Fortsetzungen und in immer neuen Auflagen erstmals 1604, letztmals, wie oben genannt, 1734 vollständig, als Druckort wurde London genannt, obwohl die Ausgabe in Paris erschien. Das Werk wurde zunächst auf Latein, dann in einer französischen Version veröffentlicht. 1622 wurde eine deutsche Übersetzung publiziert: Jacobi Augusti Thuani Historische Beschreibung deren Namhafftigsten, Geistlichen und Weltlichen Geschichten […], Frankfurt/M. 1622. Vgl. auch Russia seu Moscovia itemque Tartaria. Commentario Topographico atque politico illustrato, Lugdunum Batavorum [Leiden] 1630, 148f. 68 Vgl. Gerardus Grevenbruc (=Gerhard Grevenbruch), Tragoedia Moscovitica, sive de vita et morte Demetrii, qui nuper apud Ruthenos Imperium tenuit, Narratio, ex fide dignis scriptis & litteris excerpta, Colonia 1608, eine lateinisch-russische Parallelausgabe erschien 1901: A. Braudo et al. (edd.), Moskovskaja tragedija ili razskaz o zˇizni i smerti Dimitrija, S.-Peterburg 1901. Diese Schrift, die bis ins 19. Jahrhundert immer wieder zitiert wurde, ist weitgehend identisch mit den in Anm. 52 genannten Publikationen.

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Dreißigjährigen Krieges war die Schrift des Rostocker Magisters Matthias Schaum aus Bärwalde im Jahre 1614 mit einem der üblichen langen Titel der Zeit.69 Schaum und sein Kölner Vorgänger stehen vollständig in der damaligen Tradition mit ihrer Ansicht, dass Gott die Russen wegen ihrer Gottlosigkeit und ihrer Bilderverehrung, die der Häresie gleichkomme, mit Hungersnöten und Bürgerkrieg bestrafe. Gott habe ihnen zur Strafe auch den hinterlistigen und betrügerischen Boris Godunov geschickt sowie nun den falschen Dmitrij, denn dieser verfolge polnisch-vatikanisch-jesuitische Bestrebungen, Russland dem Katholizismus einzuverleiben. So blieb nur die Hoffnung der Protestanten, dass es Schweden gelingen möge, den minderjährigen Prinzen Karl Filip (Carl Philip, 1601–1622) auf den russischen Thron zu setzen, der den Moskowitern „eine gute Policey, Kirchen und Schulen“ stiften möge oder, falls sie sich widersetzten, solle er sie „mit gewaltiger Handt zerschmettern und sich unterthänig machen“.70 Bis auf den italienischen Jesuiten Barezzi und den Franzosen de Thou wurden die übrigen Flugschriften und Broschüren über Dmitrij und die ‚Zeit der Wirren‘ von protestantischer Seite verfasst. Auch der in Köln lebende Grevenbruch gehörte zum Protestantismus,71 de Thou war zwar Katholik, galt aber als liberal, stand Henri IV. nahe und war Mitverfasser des Edikts von Nantes (1598). Schaums Darstellung ist die geläufige Version nicht nur der damaligen Protestanten welcher Richtung auch immer: Die inneren Unruhen und der Mord an dem Zarensohn, von dem alle Autoren überzeugt waren, waren die Strafe Gottes für das ‚häretische‘ Treiben der Russisch-Orthodoxen Kirche, die sich die Katholische Kirche unter Führung der Jesuiten einverleiben wollten. Da die Religion 69 Vgl. Matthias Schaum, Tragoedia Demetrio-Moscovitica. Wahrhafftige Histori der Wunderseltsamen und Gedenckwürdigen Geschichte, wie es mit dem Demetrio, der sich für einen Großfürsten in der Moschow auffgeworffen, eigentlich einen Anfang und Ende gewonnen. Item was sich ferner im Schwedischen Kriegeswesen bey der Eroberung der mächtigen Stadt Newgarten, und sonsten begeben und zugetragen. Der Wahrheit zum Stewr, und dessen Liebhabern zu gefallen kurtz verfertigt und gestellet durch Matthiam Schaumium, Rostock 1614. Auf dem Server der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden; russ. Moskau 1847. Vgl. auch www.matrikel.uni-rostock.de/periode/1614Ost (17. 07. 2020). Als Herkunftsort Schaums ist Bärwalde angegeben; die Lebensdaten sind unbekannt. Vgl. auch den Artikel von Larisa Mokroborodova, Moskovskoe pravoslavie v zapadnoj bogoslovskoj tradicii. S. Gerbersˇtejn i J. Botvidi, in: Frank Kämpfer/Reinhard Frötschner (edd.), 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii 1549– 1999, Wiesbaden 2002, 235–246, hier 237, 245f. Über Schaum finden sich Einträge im russischen Wikipedia, in der 3. Aufl. der ‚Bol’sˇaja Sovetskaja E˙nciklopedija‘, im ‚Russkij Biograficˇeskij Slovar’‘ sowie im Brokgauz/Efron. Schaum, der an den schwedischen militärischen Interventionen gegen Moskowien teilnahm, nannte zwar mit ‚1583‘ ein falsches Todesjahr Ivans IV. (= 1584), wusste aber unter anderem zu berichten, dass der falsche Dmitrij Ksenija, Godunovs Tochter, „beschlafen“ und dann ins Kloster geschickt habe. 70 Das Buch ist nicht paginiert. 71 Zum geheimen Kölner Protestantismus vgl. Hans-Wolfgang Bergerhausen, Köln in einem eisernen Zeitalter 1610–1686, Köln 2010, 202–210.

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unvernünftig war und an Aberglauben grenzte, wofür insbesondere die intensive Heiligenverehrung als Beispiel herangezogen wurde, gab es auch keine vernünftige Herrschaft. Und wer die Macht, die ihm von Gott gegeben war, missbrauchte, der erhielt gleichfalls entsprechende göttliche Strafen. Dies war, fast ist man geneigt dies als selbstverständlich anzusehen, eine auch in Moskowien weit verbreitete Ansicht der Zeitgenossen in unterschiedlicher Ausprägung.72 Das erste Demetrius-Drama stammte aus der Feder des spanischen Dichters Félix Lope de Vega Carpio (1562–1635) und trug den Titel „El Gran Duque de Moscovia y Emperador Perseguido“. Auch die neuere Forschung kann die Entstehungszeit des Stückes nur ungefähr bestimmen. Vermutlich schrieb Lope den Text zwischen 1606 und 1613 und ignorierte dabei die zwischenzeitliche Ermordung des Thronprätendenten im Mai 1606. Der us-amerikanische Literaturwissenschaftler Ervin C. Brody (1919–?) meint, dass es für Lope wichtig gewesen sei, den Triumph des jungen Prinzen und dessen heldenhafte Taten im Sinne einer „poetischen Gerechtigkeit“ darzustellen. Während der schuldige Boris Godunov seine Strafe erleiden musste, siegte die gute Sache in Gestalt des unschuldigen Jünglings Dmitrij. Lope de Vega stützte sich dabei auf die Publikation von Juan Mosquera aus dem Jahr 1606 und auf den vierten Band des Werkes des spanischen Theologen und Historikers Luis de Bavía ‚Histórica Pontifical y Católica‘ aus dem Jahr 1613.73 Die Figur des Thronprätendenten war dem spanischen Theaterpublikum jener Zeit durchaus bekannt, denn wenige Jahrzehnte zuvor, in den 1570er und 1580er Jahren, hatte es eine ganze Reihe von Personen gegeben, die behaupteten, sie seien der unter mysteriösen Umständen in Afrika ums Leben gekommene König Sebastian (1557–1578). Sie alle erwiesen sich als Lügner. Lope de Vega kehrte mit seinem Stück die Verhältnisse um und erklärte Boris Godunov zum falschen und Dmitrij zum wahren Herrscher.74 Es folgten im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts Demetrius-Stücke aus der Feder spanischer, italienischer, französischer, englischer, niederländischer, schwedischer und böhmisch-tschechischer Autoren, zumeist als Dramen, bisweilen aber auch als Komödien.75 In Russland setzte eine Tradition der Demetrius-Stücke erst am Ende des 18. Jahrhunderts mit Aleksandr P. Sumarokovs (1717–1777) Drama ‚Dmitrij

72 Vgl. Wolf Günther Contius, Profane Kausalität oder göttliches Handeln in der Geschichte. Zum Geschichtsbild in den erzählenden Quellen der Smuta, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 18 (1973), 169–186. 73 Vgl. Ervin C. Brody, The Demetrius Legend and it’s Literary Treatment in the Age of Baroque, Cranbury, NJ 1972, 55–82, Brody wurde in Ungarn geboren und emigrierte nach dem Krieg in die USA; Frenzel 2005, 183. 74 Vgl. Brody 1972, 130f. 75 Vgl. Osterwald 1982, 14; Brody 1972, 131f.

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Samozvanec‘ aus dem Jahre 1771 ein.76 Dmitrij ist von Beginn an ein bösartiger und willkürlich herrschender Tyrann mit grundsätzlich negativen Charakterzügen. Mit Unterstützung der Polen soll der Katholizismus eingeführt werden. Auch wenn er selbst seine negativen Seiten erkennt, so kann er sich doch nicht ändern, denn seine Eigenliebe dominiert alle seine Handlungen. Auch in seiner „Liebe“ zu Ksenija, Vasilij Sˇujskijs Tochter, ist er ein Tyrann. Er betrachtet sie als seinen Besitz und verlangt Unterwerfung. So ist sein Sturz nur folgerichtig. Er verfällt dem Wahnsinn und begeht Selbstmord. In diesem Stück verkörpert der Herrscher alle denkbaren Untugenden und Schlechtigkeiten.77 Die Figur des Dmitrij widerspricht allen Ansprüchen, die an einen guten und aufgeklärten Herrscher gestellt und von ihm erwartet werden, denn der Tyrann verachtet und erniedrigt auch das Volk. Im Kampf des moralisch Guten mit dem Schlechten siegt aber schließlich doch die Tugend, die dem Wohl der Gemeinschaft dient.78 Alexander Puschkins berühmtes Versdrama ‚Boris Godunov‘ gilt als erste große Geschichtstragödie der russischen Literatur. Sie wurde 1825 verfasst, 1831 erstmals gedruckt, aber erst 1870 in einer „gereinigten“ Version aufgeführt.79 Puschkin stützte sich dabei vor allem auf die historischen Werke Nikolaj M. Karamzins (1766–1826) sowie auf seine Kenntnisse der russischen Chroniken. Von Karamzin übernahm er die These, dass Godunov den jüngsten Zarensohn habe ermorden lassen, um nach dem Tode Fedors selbst zum Herrscher zu werden. Darin konnte man eine Parallele zu Alexander I. sehen, der 1801 von der Ermordung seines Vaters Paul gewusst hatte. Da Godunov schuldig war und sich schuldig fühlte, war sein tragisches Ende unabänderlich. Die Herrschaft war illegitim, weil sie auf einem Verbrechen beruhte. Zugleich zog er sich durch seine Politik den Unwillen des Volkes zu, das im Stück ein aktiver Handlungsträger ist. Im Gegensatz zu Karamzin ist Puschkins Figur des Dmitrij jedoch kein Schurke, sondern eher ein Träumer und Liebender, der sein Ziel erreichen wollte, kein Rächer, da er auch nicht der echte Sohn Ivans IV. war. Auch diese Herrschaft war von vornherein zum Scheitern verurteilt.80 76 Vgl. Osterwald 1982, 14f.; Frenzel 2005, 184. 77 Vgl. Osterwald 1982, 28–34; Reinhard Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, 80–83; Brody 1972, 238f. 78 Vgl. Osterwald 1982, 52. 79 Vgl. Osterwald 1982, 14f.; Frenzel 2005, 184; Brody 1972, 239–250; Lauer 2000, 193–195. Alexander (Aleksandr) S. Puschkin (Pusˇkin), Boris Godunow, in: Ders., Gesammelte Werke, 6 Bde., 3. Bd., Frankfurt/M. /Berlin/Weimar 1973, 209–280 mit Erläuterungen 451– 458; Ders., Gesammelte Werke, ed. von Johannes von Guenther, München 1966, 379–469 (ohne Erläuterungen); russ.: in: Socˇinenija. Kommentirovannoe izdanie, ed. David M. Bethea, Moskva 2008, Abdruck der Textfassungen mit Kommentaren; eine zweisprachige, ausführlich kommentierte Fassung bietet Ebbinghaus (ed.), 2013. 80 Vgl. dazu Rolf-Dietrich Keil, Alexander Puschkin. Ein Dichterleben. Biographie, Frankfurt/ M. 2001, 219–225; Gudrun Ziegler, Alexander S. Puschkin mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1998, 75–78.

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Nach Puschkins Stück folgten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Dramen und Romanen von Faddej V. Bulgarin (1789–1859; poln. Jan Tadeusz Bułharyn) ‚Dmitrij Samozvanec‘ im Jahr 1830 und Michail E. Lobanov (1787–1848) mit der Tragödie ‚Boris Godunov‘ von 1835.81 Lev A. Mej (1822– 1862) verfasste drei Theaterstücke, die zur Zeit Ivans IV. des Schrecklichen spielen und in denen tragische Frauenschicksale dargestellt wurden. Zudem übersetzte er unter anderem Friedrich Schillers Demetrius-Fragment ins Russiˇ aevs (1824–1914) Stück ‚Der falsche sche.82 Zu erwähnen sind auch Nikolaj A. C Dmitrij‘ (Dmitrij Samozvanec) von 1865 und Aleksandr N. Ostrovskijs (1823– 1886) zweiteiliges Drama ‚Der falsche Dmitrij und Vasilij Sˇujskij‘ (Dmitrij Saˇ aev in seinem Stück die Gemozvanec i Vasilij Sˇujskij) von 1867.83 Während C schichte zur Rechtfertigung der zarischen Ordnung nutzte, wollte Ostrovskij im Sinne des Historismus zeigen, „wie es gewesen ist“ und „am historischen Beispiel Probleme der Gegenwart“ verdeutlichen. Seine Figur des Dmitrij ist grundlegend positiv. Sie strebt nach einer gerechten Herrschaft und wendet sich gegen jede Form von Tyrannei.84 Graf Aleksej K. Tolstoj (1817–1875) verfasste die Dramentrilogie ‚Der Tod Ivans des Schrecklichen‘ (Smert’ Ioanna Groznogo), ‚Zar Fedor Ivanovicˇ‘ (Car’ Fedor Ioannovicˇ) und ‚Zar Boris‘ (Car’ Boris) aus den Jahren 1865 bis 1870. Sie stellen drei Erscheinungsformen des absoluten Herrschers dar, den grausamen, aber gerechten Ivan, den gütigen, aber politisch schwachen Fedor und den aufgeklärten, aber tragisch scheiternden Boris.85 Anfang des 20. Jahrhunderts folgten schließlich die Studie und das Drama des konservativen Zeitungsverlegers, Journalisten und Schriftstellers Aleksej S. Suvorin (1834–1912) von 1905/06.86 Bei Suvorin ist Dmitrij keine durchgängig 81 Vgl. Frenzel 2005, 184; Brody 1972, 254. 82 Vgl. Lev A. Mej, Carskaja nevesta (Die Zarenbraut), 1849, Pskovitjanka (Die Pskoverin oder Das Mädchen aus Pskov), 1849/50 und der Prolog dazu Bojarynja Vera Sˇeloga (Die Bojarin Vera Sˇeloga), 1849/50: Lauer 2000, 300 und 315f. Bekannt wurden diese Stücke vor allem, weil sie dem Komponisten Nikolaj A. Rimskij-Korsakov (1844–1908) als Vorlage für seine Opern dienten. 83 Vgl. Lauer 2000, 301; Brody 1972, 254–261. Ostrovskij verfasste darüber hinaus ein Stück über Koz’ma (Kuz‘ma) Minin (?–1616), den Novgoroder Kaufmann, der gemeinsam mit Fürst Dmitrij M. Pozˇarskij (1578–1642) die Erhebung gegen die polnisch-litauische Besetzung Moskaus organisierte, und über „Tusˇino“, den zentralen Aufenthaltsort des zweiten falschen Dmitrij (?–1610), der als „Dieb von Tusˇino“ (Tusˇinskij vor), bezeichnet wurde. 84 Lauer 2000, 300f.; Brody 1972, 258f. 85 Vgl. Lauer 2000, 300f.; Brody 1972, 261–265. Alle drei Stücke wurden ins Deutsche übersetzt und zeitgenössisch aufgeführt. ‚Der Tod Ivans des Schrecklichen‘ wurde auch ins Englische übersetzt und am New Yorker Broadway aufgeführt. 86 Vgl. Aleksej S. Suvorin, O Dmitrii Samozvance. Kriticˇeskie ocˇerki, S.-Peterburg 1906; Ders., Car Dmitrij Samozvanec i Carevna Ksenija, S.-Peterburg 1904; Brody 1972, 265–270; Frenzel 2005, 184; Emanuel Salgaller, The Demetrius-Godunof Theme in the German and Russian Drama of the 20th Century, New York University 1955, 415–427. Der Titel von Salgallers Dissertation ist ein wenig irreführend, denn im ersten Kapitel behandelt er die

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positive Gestalt. Einerseits will er gerecht herrschen und ist grundlegend davon überzeugt, der echte Sohn Ivans IV. zu sein, wobei offen bleibt, ob Suvorin auch dieser Meinung war. Andererseits nimmt er Ksenija, Godunovs Tochter, mit Gewalt und zwingt sie, seine Mätresse zu sein. Daher spielt die Beziehung zwischen Ksenija und Dmitrij eine zentrale Rolle in dem Stück. Nach anfänglicher Abneigung zeigt sich Ksenija schließlich überzeugt, dass er der wahre Thronfolger ist und ihre Furcht und ihr Hass wandeln sich in Zuneigung. Dmitrij scheitert schließlich bei seinen Bemühungen, ein gerechter und edler Herrscher zu sein, an den Kräften der Beharrung und den Intrigen der Bojaren unter Sˇujskijs Führung, aber auch an seiner eigenen Unzulänglichkeit. Russland war, so ist zusammenfassend festzuhalten, für eine solche Herrschaft noch nicht reif.87 Im deutschsprachigen Raum spielten russische Themen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zunächst keine große Rolle mehr, und auch die ‚Zeit der Wirren‘ geriet weitgehend aus dem Blickfeld. Bekannt ist nur die Oper ‚Boris Godunov‘ des Hamburger Komponisten Johann Mattheson (1681–1764) aus dem Jahre 1710, die allerdings, möglicherweise aus diplomatischen Rücksichten, zeitgenössisch nicht aufgeführt wurde.88 Jedoch gab es seit dem alleinigen Regierungsantritt Peters I. (1672–1725) im Jahre 1689, der bald den Beinamen ‚der Große‘ erhielt, in großen Teilen des übrigen Europa ein wachsendes Interesse am Russischen Reich, darunter auch im deutschsprachigen Raum. Denn mit seinem Namen waren zahlreiche Reformen verbunden, die häufig pauschalisierend als ‚Europäisierung‘ oder ‚Westernisierung‘ bezeichnet werden. Diese ‚Öffnung nach Westen‘ führte auch dazu, dass seit Peters Zeiten zahlreiche Ehen zwischen Angehörigen des Hauses Romanov und den im übrigen Europa regierenden Häuser geschlossen wurden. Peter selbst machte den Anfang, als er seinen Sohn Aleksej (1690–1718) 1710 mit Prinzessin Charlotte Christine (1694–1715) aus dem Haus Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel verheiratete.89 Im Bereich von Bildung und Wissenschaft agierten die Philosophen Christian Wolff (1679–1754) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) als Berater Peters Demetrius-Dramen, die im deutschsprachigen Raum in der Nachfolge Schillers im 19. Jahrhundert verfasst wurden, und im siebten Kapitel Friedrich Hebbels Demetrius-Fragment. 87 Vgl. Salgaller 1955, 415–426. 88 Im Original hieß die Oper ‚Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Thron oder Die mit der Neigung glücklich verknüpfte Ehre‘. Sie wurde erst 2005 in Hamburg konzertant und in Boston szenisch aufgeführt; 2007 szenisch auch im St. Pauli Theater Hamburg anlässlich der 50-jährigen Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und Petersburg. Holger Böning, Zur Musik geboren. Johann Mattheson. Sänger an der Hamburger Oper, Komponist, Kantor und Musikpublizist. Eine Biographie, Bremen 2014, 71–73; vgl. auch Dmitrij Tschizˇewskij, Eine Oper ‚Boris Godunov‘ aus dem 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 30 (1962), 237–242. 89 Vgl. Reinhard Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, 2 Bde., Göttingen 1964, hier Bd. 2, 356f.

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bei der Gründung der Russischen Akademie der Wissenschaften 1724/25 in St. Petersburg und der danach einsetzenden Wissenschafts- und Bildungspolitik im Lande. Vor allem an der Entwicklung der Wissenschaften und an der Erforschung des Riesenreiches waren zahlreiche deutsche Wissenschaftler beteiligt, während zugleich an den Universitäten des alten Deutschen Reiches die Beschäftigung mit Russland und seiner Geschichte, Sprache und Kultur zunahm.90 Zahlreiche, zumeist noch sehr junge Wissenschaftler aus Deutschland bzw. dem deutschsprachigen Raum wurden seit der Mitte der 1720er Jahre an die gerade gegründete Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg berufen, da einheimische Wissenschaftler fehlten. Die erste russische Universität wurde erst 1755 in Moskau eröffnet.91 Von Beginn an bestanden besonders intensive Beziehungen nach Russland von Seiten der Universität Halle und den dortigen Franckeschen Stiftungen des Pietisten August Hermann Francke (1663–1727) sowie mit der Universität Göttingen; beide Neugründungen des späten 17. (Halle 1694) und frühen 18. Jahrhunderts (Göttingen 1732/34). Bei der Entwicklung der Geschichtswissenschaft spielten dabei vor allem der aus Herford stammende Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) und der im heutigen Kirchberg an der Jagst geborene August Ludwig Schlözer, seit 1804 von Schlözer (1735–1809), eine wichtige Rolle. Während Müller seit 1725 in Russland lebte und das Land nur noch einmal für kurze Zeit verließ, kehrte Schlözer nach einem langjährigen Aufenthalt in Russland, bei dem er auch Müller kennengelernt und von ihm gelernt hatte, wieder nach Deutschland zurück und wurde zum Professor in Göttingen berufen. Beide beschäftigten sich intensiv mit russischer Geschichte und publizierten dazu zahlreiche bahnbrechende Arbeiten. Müller gilt noch heute als ‚Vater der russischen Geschichtsschreibung‘.92 Einen großen Teil der Schlözerschen Schriften kannte Schiller aufgrund seiner Geschichtsprofessur an der Jenaer Universität seit Ende 1788, denn beide beschäftigten sich in der Terminologie Schlözers mit der ‚Universal-Historie‘. Zu diesem Thema hielt Schiller vor einer großen Hörerzahl am 26. Mai 1789 seine 90 Vgl. dazu Dieter Groh, Rußland im Blick Europas. 300 Jahre historische Perspektiven, Frankfurt/M. 1988, Erstauflage 1961; jetzt vor allem die mehrbändigen, von Lew Kopelew herausgegebenen Reihen: West-Östliche Spiegelungen, Reihe A: Russen und Russland aus deutscher Sicht seit dem 9. Jahrhundert, Bde. 1–4, München 1988–2002 und Reihe B: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht seit dem 11. Jahrhundert, Bde. 1–4, München 1988– 2005. 91 Vgl. Hildermeier 2013, 637–639. 92 Vgl. zu Müller Peter Hoffmann, Gerhard Friedrich Müller (1705–1783). Historiker, Geograph, Archivar im Dienste Russlands, Frankfurt/M. et al. 2005; zu Schlözer vgl. Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809), Münster 2003; Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (vormals Peters) (edd.), August Ludwig (von) Schlözer in Europa, Göttingen 2012.

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Antrittsvorlesung mit dem Titel ‚Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?‘.93 Ob Schiller die Schlözerschen Schriften über Russland zur Kenntnis genommen hat, wissen wir nicht. Herbert Kraft, der Herausgeber des ‚Demetrius-Bandes‘ der Schiller’schen Werke hält es für möglich, dass er die Schlözer’sche Ausgabe der ‚Nestor-Chronik‘ von 1802 eingesehen hat.94 In jedem Falle aber las er den vierten und fünften Band von Müllers ‚Sammlung Russischer Geschichte‘, Adam Olearius’ ‚Vermehrte Newe Beschreibung […]‘, Gottlieb Samuel Treuers ‚Einleitung zur Moskovitischen Historie‘, den dritten und vierten Band von Pierre-Charles Levesques ‚Histoire de Russie‘, Bernard Connors ‚Beschreibung des Königreichs Polen und Großherzogthums Litthauen‘ und William Coxes ‚Voyage en Pologne, Russie, Suède, Dannemarc‘.95 Einige dieser Hinweise stammten von seinem Freund und Schwager Wilhelm von Wolzogen (1762– 1809), der an der Heirat des Erbprinzen Carl Friedrich (1783–1853) des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach mit der Großfürstin Maria Pavlovna (1786–1859), Schwester der russischen Kaiser Alexander I. (1777–1825) und Nikolaj I. (1796–1855), im August 1804 einen großen diplomatischen Anteil hatte und als Russlandkenner galt. Schiller sammelte zudem russische Sprichwörter und beschäftigte sich mit kulturhistorischen Details.96 Einige Lesefrüchte aus der eben genannten Literatur sowie Sprichwörter und Redensarten fanden sich in Schillers Nachlass.97 An Wilhelm von Wolzogen schrieb er im Juni 1804: „Costümes aus jener Zeit (es ist jezt 200 Jahre), Münzen, Prospecte von Städten und dergl. wären (mir sehr willkommen).“98 Für den Empfang der neuen Großherzogin im November 1804 in Weimar verfasste Schiller „ein kleines Vorspiel“, ‚Die Huldigung der Künste‘, wie er 93 Vgl. Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln/Wien/Weimar 2002, 57–72. 94 NA 11 1971, 419. 95 NA 11 1971, 418f.: Übersicht über Schillers Quellen. Die wichtigsten sind im Folgenden genannt. Müller 1760/61, Bde. 4 und 5 (online auf dem Server des Münchener DigitalZentrums (MDZ)); Olearius 1656; Gottlieb Samuel Treuer, Einleitung zur Moskovitischen Historie. Von der Zeit an da Moscov aus vielen kleinen Staaten zu einem großen Reiche gediehen, biß auf den Stolbovischen Frieden mit Schweden 1617, Braunschweig/Wolfenbüttel 1720; Pierre-Charles Levesque, Histoire de Russie, 8 Bde., Hambourg/Brunswick 1800; Bernard Connor, Beschreibung des Königreichs Polen und Groß-Hertzogthums Litthauen, Leipzig 1700; William Coxe, Voyage en Pologne, Russie, Suède, Dannemarc, Genève 1786 (engl. Erstausgabe London 1784); vgl. dazu Osterwald 1982, 143–147; Karl-Heinz Hucke/Olaf Kutzmutz, Demetrius, in: Helmut Koopmann (ed.), Schiller-Handbuch, Stuttgart 1998, 513–522, hier 513; Peter-André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2 Bde., Bd. 2, München 2000, 596–607. 96 Vgl. Alt 2000, 597; vgl. dazu auch Peter Drews, Schiller und die Slaven, München/Berlin/ Washington DC 2005, 11–23 über Schillers Russlandstudien im Kontext der Entstehung des ‚Demetrius‘, zur Schillerrezeption in Russland, 24–77. 97 NA 11 1971, 63–82: Kollektaneen, 85–135: Studienhefte und 139–174: Skizzen. 98 Ebd., 422: Schiller an Wilhelm Wolzogen, 16. 6. 1804.

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Anfang April 1805 an Wilhelm von Humboldt schrieb.99 Kurz vor dessen Aufführung begegnete er Maria Pavlovna, die ihn durchaus beeindruckte, bei einem offiziellen Empfang bei Hofe. Die Vorstellung wurde ein großer Erfolg und gefiel offensichtlich auch der Großherzogin.100 Schillers Biograph Peter-André Alt geht davon aus, dass erste Beschäftigungen mit dem Sujet auf das Jahr 1786 zurückgingen, als Schiller sich mit einer geplanten Verschwörungsgeschichte beschäftigte und die Schrift von FrançoisJoachim Du Port du Tertres ‚Histoire des conjurations‘ von 1756 (deutsche Übersetzung von 1766) gelesen habe.101 Die früheren Werke zum ‚Demetrius‘ von Lope de Vega und anderen hat er nach Meinung Alts nicht gekannt, ebenso wenig wohl das Theaterstück von August von Kotzebue (1761–1819) ‚Demetrii Iwanowitsch. Zar von Moskau‘, das im Juni 1782 in St. Petersburg, wo Kotzebue zu diesem Zeitpunkt lebte, uraufgeführt wurde und eine Art von Rehabilitierung des Falschen Dmitrij versuchte, die beim Publikum keinen Beifall fand und ungedruckt blieb.102 In diesem Liebesdrama ist für die Probleme von Macht und Herrschaft kein Raum. Weitgehend unbekannt blieb auch ein sehr kurzes dramatisches Fragment von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), das in der ‚Werke und Briefe-Ausgabe‘ von Sigrid Damm zu recht ‚[Boris]‘ betitelt wurde, denn der Falsche Dmitrij wird weder erwähnt, noch tritt er auf.103 In diesem kurzen Text stehen hingegen die Fragen von Macht und Herrschaft sofort im Zentrum, denn die Kaufleute, mit denen Zar Boris Godunov verhandelt, wollen grundsätzlich verhindern, in Gestalt des echten Dmitrij von einem Zaren tatarischer Herkunft regiert zu werden, was völlig unzutreffend ist, denn der Bojarenclan der Nagie führte sich auf einen am Ende des 13. Jahrhunderts zuge-

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Ebd., 427: Schiller an Wilhelm von Humboldt, 2. 4. 1805. Vgl. Alt 2000, 586–590. Vgl. ebd., 597. Vgl. Gerhard Giesemann, Kotzebue in Russland. Materialien zu einer Wirkungsgeschichte, Frankfurt/M. 1971, 29–40. Nach Giesemanns Angaben existiert nur eine Abschrift, die er für das Regiebuch für die Aufführung am Petersburger Deutschen Theater hält. Nach der Inhaltsangabe des Stückes bei Giesemann 1971, 31, war Kotzebue mit den historischen Sachverhalten wenig vertraut und schrieb ein Liebesdrama, in dem weder Maryna Mniszchówna noch Ksenija Godunova die Geliebten Dmitrijs sind, sondern Helena, die Tochter von Petr I. Basmanov, eines Voevoden (Armeeführers) von Boris Godunov, der später ins Lager des Falschen Dmitrij wechselte. Vgl. auch August von Kotzebue, Selbstbiographie, Wien 1811, 42–44. 103 Vgl. Herbert Kraft, J.M.R. Lenz. Biographie, Göttingen 2015, 316, datiert das Fragment auf die Jahre 1787/88; Alt 2000, 598 auf den Anfang der 1780er Jahre. Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe, 3 Bde., ed. Sigrid Damm, Leipzig/München/Wien 1987, hier Bd. 1, 602f. mit Anmerkungen 776f. Die Herausgeberin datiert das Fragment von gerade einmal eineinhalb Druckseiten nicht. Vgl. dazu auch Giesemann 1971, 33–35. Erstdruck des Lenz’schen Fragments: Karl Weinhold (ed.), Dramatischer Nachlass von J.M.R. Lenz, Frankfurt/M. 1884, 304f.

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wanderten dänischen Vorfahren zurück.104 Die neuere Forschung hat auch die immer wieder – auch von den Zeitgenossen – geäußerten Vermutungen über tatarische Vorfahren Boris Godunovs als „falsch“ oder „unzuverlässig“ zurückgewiesen.105 Schiller fasste den Plan zu einem Drama über die Figur des Falschen Dmitrij um 1802/03, als er es unter dem Titel ‚Bluthochzeit zu Moskau‘ in seiner Dramenliste aufführte. Er begann die Arbeit aber wohl erst im März 1804 und führte sie mit zahlreichen Unterbrechungen, die zumeist seiner Krankheit geschuldet waren, bis zu seinem Tode fort. Trotz seiner umfangreichen historischen Studien stand für Schiller der dramatische Aufbau des Stückes eindeutig im Vordergrund. Dies zeigen auch die überlieferten Skizzen, Szenarien und Entwürfe, wie sie in dem entsprechenden Band der ‚Nationalausgabe‘ abgedruckt sind, sehr deutlich.106 Den Personen werden bestimmte Rollen und Charaktereigenschaften zugewiesen, bestimmte Szenen unter dem Aspekt des dramatischen Theaters entworfen. Dies gilt insbesondere für den ‚Helden‘ des Stückes. Über ihn notierte Schiller in einem Studienheft: „Der f.[alsche] Demetrius glaubt an sich selbst bis auf den Augenblick wo er in Moskau soll einziehen. Hier wird er an sich irre, einer entdeckt ihm seine wahre Geburt und dieß bringt eine unglückselige Veränderung im Charakter des Betrogenen hervor. Der Entdecker wird das erste Opfer derselben. Von jezt an ist Demetrius Tyrann, Betrüger, Schelm.“107 Es kann hier nicht der Ort sein, um die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Stücks ausführlich darzustellen. Überliefert sind zwei Fassungen, die sogenannte ‚Samborfassung‘ (erste Fassung), die Schiller offensichtlich verworfen hat, und die ‚Reichstagsfassung‘ (zweite Fassung). Diese Fassung beginnt mit einer Sitzung des Sejm (polnischer Reichstag), in der ‚Demetrius‘ sich und sein Anliegen mit Erlaubnis des Königs und des Hauses präsentieren darf. Diese Eröffnungsszene ist als eindrucksvolle Massenszene konzipiert, in der der Titelheld als eloquente und sympathische Figur auftritt. Auf König Sigismunds Bemerkung, dass in Polen die Freiheit regiere, antwortet Demetrius, dass er die „schöne Freiheit“ nach Russland verpflanzen wolle, denn er könne nicht über „Sklavenseelen“ herrschen und werde „aus Sklaven Menschen machen“.108 Allerdings ist der Auftritt des Falschen Dmitrij auf einer Sitzung des Sejm eine Erfindung des Dramatikers Schiller, denn er hat nie stattgefunden. Wie oben 104 Vgl. Aleksandr A. Polovcov (ed.), Russkij biograficˇeskij slovar‘, tom 11, S.-Peterburg 1914, 11f. 105 Neubauer, Boris Godunov, in: Torke 1995, 53f.; Ruslan G. Skrynnikov, Boris Godunov, Moskva 1978, 5, engl. Fassung: Gulf Breeze, Fl 1982, 1f. 106 NA 11 1971, Skizzen, Szenar, Entwürfe. Marina ist eine „vornehme Pohlin und Intriguenmacherin“ (255); Boris soll nicht erniedrigt und verächtlich werden (211). 107 NA 11 1971, 96. 108 Ebd., 27.

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ausgeführt, gab es Gespräche zwischen König Sigismund und Demetrius, jedoch keine öffentlichen Reden des Thronprätendenten. Zur dichterischen Freiheit gehört auch die Liebesbeziehung zwischen Demetrius und Ksenija Godunova sowie die Liebhaberrolle des späteren Zaren Michail Fedorovicˇ Romanov, der zur Zeit der Hochzeit erst neun Jahre alt war. Zentral ist die Tragik der Figur des Demetrius, der zunächst von seiner Echtheit subjektiv überzeugt ist und die besten Absichten hat, zum Wohle des Volkes zu herrschen. Dann erfährt er jedoch von seinem ehemaligen Erzieher, dass er die Hauptfigur einer Intrige ist, woraufhin er diese Person, die allein außer ihm die Wahrheit weiß, ermordet und damit zum betrogenen Betrüger mit einer subjektiven Schuld wird. Demetrius verliert den Glauben und das Vertrauen in seine eigene Sendung und greift nun zu „despotischen Mitteln der Machtsicherung, was sein Ansehen beim russischen Volk rasch schwinden läßt“. Er wird zum Despoten.109 Für Schiller galt im Sinne Max Webers die traditionale Herrschaft als „Inbegriff der rechtlich gestützten Ordnung“. Dies zeigte sich an dem späteren Zaren Michail Fedorovicˇ Romanov, der seine Thronansprüche auch dynastisch begründen konnte.110 Wie andere liberal gesonnene Zeitgenossen und spätere Generationen auch betrachtete Schiller das Moskauer bzw. das Russische Reich ohne weitere Begründung als „Boden des Despotismus“. In seinem Studienheft vermerkte er: „5. Günstig ist auch das Fremde des Stoffes und das abgeschloßene ausländische Terrein (1).+(2)., besonders weil es der Boden des Despotismus ist.“111 Der Schiller-Biograph Peter-André Alt bemerkt dazu: „Wo Macht nicht dynastisch, sondern allein persönlich begründet ist, bricht nach Schillers Überzeugung die soziale Ordnung mit dem Verlust des herrscherlichen Charismas zusammen. Das spätere Schicksal Napoleons hat diesen psychologischen Befund letzthin bestätigt.“ In ihrem Artikel über ‚Demetrius‘ im SchillerHandbuch kommen Karl-Heinz Hucke und Olaf Kutzmutz hingegen zu der Schlussfolgerung, dass nur „die Gemüter der Herrschenden“ beruhigt würden, „wenn geschichtliche Wirklichkeit im dramatischen Modell als Utopie ausgegeben“ werde. „Der so konzipierte Demetrius meint in diesem Sinn nicht mehr als die Legitimation und Sicherung von Herrschaft.“112 Nun hat, ein wenig salopp formuliert, der Historiker Schiller gegen den Dramatiker Schiller kaum eine Chance gehabt. Die „geschichtliche Wirklichkeit“, 109 Vgl. Alt 2000, 602–604; Zitat, 604. 110 Vgl. ebd., 602; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, Unvollendet 1919–1920, edd. Knut Borchardt/Edith Hanke/Wolfgang Schluchter, 23 Bde., Bd. 23/I, Tübingen 2013 (= Max Weber-Gesamtausgabe (MWG), ed. Horst Baier †, Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius †, Wolfgang J. Mommsen †, Wolfgang Schluchter und Johannes Winckelmann †, Tübingen 1984–2020). 111 NA 11 1971, 110. 112 Alt 2000, 605; Hucke/Kutzmutz 1998, 517f. und 521.

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was immer das sein mag, galt Schiller ganz offensichtlich als nicht besonders relevant. Weder kümmerte ihn die korrekte Schreibung der Namen, noch eine auch nur näherungsweise korrekte Wiedergabe feststehender historischer Fakten. Um des dramatischen Effekts willen lässt der Dichter Demetrius im polnischen Sejm (Reichstag) auftreten, auf dem er nie gewesen ist. Die „geschichtliche Wirklichkeit“ spielt, um dies festzuhalten, noch nicht einmal als „Utopie“ eine Rolle; wichtiger ist das tragische Schicksal des Titelhelden, der unverschuldet von einem unbewussten zu einem bewussten Betrüger wird. Als Folge spielt die persönliche Macht eine weit größere Rolle als die Form der Herrschaft. In der Nachfolge Schillers gab es eine große Zahl von Schriftstellern, die sich dieses Stoffes annahmen. Zunächst hatte Johann Wolfgang von Goethe beabsichtigt, das Werk zu vollenden, den Gedanken jedoch bald wieder aufgegeben. Darauf folgten zahlreiche Fortsetzer, die weitgehend unbekannt und erfolglos blieben.113 In den 1860er Jahren unternahm dann Friedrich Hebbel (1813–1863) einen erneuten Versuch, aus dem Stoff ein großes Drama zu gestalten, der jedoch gleichfalls Fragment blieb. Er folgte Schillers Grundkonzeption der Wandlung „eines Menschen besten Glaubens in einen bewussten Betrüger.“ Demetrius ist ein außerehelicher Sohn Ivans IV. und kein Werkzeug der Rache, sondern „dient der politischen Intrige der Jesuiten.“ Er ist kein geborener Herrscher, sondern ein außergewöhnlicher Mensch, „dessen ‚Zuviel an Größe‘“ ihm zum Verderben wird. Auch Hebbels Fragment gelangte durch Fortsetzer wie Max Martersteig (1853–1926) und Otto Harnack (1857–1914) „nicht zu wirklicher Vollendung“.114 In Hebbels Stück flieht Demetrius vor seiner Verantwortung als Herrscher und überlässt dem skrupel- und prinzipienlosen Vasilij Sˇujskij den Thron. Auch im späten 19. und im 20. Jahrhundert erschienen noch zahlreiche Theaterstücke und einige Romane, in denen der Falsche Dmitrij die Hauptperson ist. Sie sind in den Arbeiten von Brody, Menzel sowie Emanuel Salgaller teils aufgelistet und teils auch kurz behandelt worden.115 Vollständigkeit wurde damit jedoch nicht erreicht; die Virulenz des Stoffes ist hingegen offensichtlich. Menzel verweist unter anderem auf die wenigen Seiten, die Rainer Maria Rilke in ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ dem Falschen Dmitrij gewidmet

113 Vgl. Frenzel 2005, 184; Alt 2000, 603. 114 Friedrich Hebbel, Demetrius, in: Ders., Sämtliche Werke, 12 Bde., Bd. 9, ed. Hermann Krumm mit Einleitungen und Erläuterungen, Leipzig o. J., 9–130; Frenzel 2005, 184f., dort auch die Zitate; Salgaller 1955, 227–273. 115 Vgl. Brody 1972, 284–299; Salgaller 1955, Kap. 8, 9 und 10; Menzel 2012, 274–277; Walter Flex, Die Entwicklung des tragischen Problems in den deutschen Demetrius Dramen von Schiller bis auf die Gegenwart, Eisenach 1912, 5f. Ob diese Aufzählungen nur annähernd vollzählig sind, konnte aus Zeitgründen nicht überprüft werden. Flex (1887– 1917) zählt für die Zeit nach Schillers Demetrius-Fragment 19 Titel/Verfasser auf, einschließlich seines eigenen Werkes „Demetrius“ von 1909.

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hat.116 Rilke nennt ihn „Grischa Otrepjow“, der ein „falscher Zar“ war, ein Betrüger, der an sich glaubte und sich sicher fühlte, in dem „Wille und Macht […] war, alles zu sein.“ Dmitrij ist der Protagonist, „frei und unbegrenzt in seinen Möglichkeiten“, eines bevorstehenden radikalen Wandels, der aber seinen persönlichen Bindungen an die bestehenden Verhältnisse verhaftet ist und letztlich daran scheitert.117 Menzel verweist insbesondere auf das Theaterstück ‚Der Falsche Zar‘ von Peter Hacks aus dem Jahr 1996, der letzte Teil einer Trilogie, zu der die gleichfalls in jenem Jahr geschriebenen Stücke ‚Bojarenschlacht‘, spielt 862, ‚Tatarenschlacht‘, spielt 1380, gehören. Gemeinsam ist ihnen die Beschäftigung mit nationalen Mythen sehr unterschiedlichen Charakters und deren politische Instrumentalisierung. Alle drei Stücke werden als „Nachdichtungen“ bezeichnet. ‚Der ‚Falsche Zar‘ beruht auf Sumarokovs Tragödie von 1771.118 Dmitrij ist eine ehrgeizige sowie skrupel- und charakterlose Figur ohne Moral, die am Ende Selbstmord begeht. Der Hauptschurke des Stücks allerdings ist Vasilij Sˇujskij, der im Hintergrund die Fäden zieht.119 Sowohl bei Rilke als auch bei Hacks spielt der Begriff ‚Herrschaft‘ ganz offensichtlich keine Rolle mehr, es geht in beiden Fällen nur um die Erringung oder Erlangung persönlicher Macht. Wie der us-amerikanische Literaturwissenschaftler Ervin C. Brody am Ende seiner Studie über die ‚Demetrius-Legende im Zeitalter des Barock‘ feststellte, nutzten die Schriftsteller und Dichter, die sich mit dem ‚Demetrius-Thema‘ beschäftigten, dies auch dazu, ihre Sicht auf unterschiedliche Formen der Herrschaft (various forms of government) zum Ausdruck zu bringen und versuchten zu zeigen, in welchem Maße sie einerseits die Anschauung ihrer Zeit und andererseits ihre eigenen politischen Ansichten ausdrückten. Dies mag in den meisten Fällen sicherlich zutreffen und ermöglicht damit auch einen analytischen Blick auf das Problem von Macht und Herrschaft, das in diesem Beitrag nur grob skizziert werden konnte. In jedem Falle zeigt sich, dass diese Figur des Usurpators weitgehende Reflexionen ermöglicht und die grundlegende Bedeutung der Thematik dieses Sonderforschungsbereiches über die Jahrhunderte hinweg an Aktualität nichts verloren hat.

116 Vgl. Menzel 2012, 276f. Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/M. 2000, 150–153 (= Neuausgabe von Bd. 3: Prosa und Dramen der kommentierten Werkausgabe, Frankfurt/M./Leipzig 1996). 117 Rilke 2000, 151. 118 Vgl. Peter Hacks, Werke, 15 Bde., Bd. 8: Die späten Stücke II, Berlin 2003, 97–213. 119 Vgl. Menzel 2012, 276.

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Mechthild Albert / Lena Ringen

Jugendliche Herrscher als Spielball der Macht – Zum Verhältnis von minderjährigen Thronfolgern und ihren Ratgebern im Kastilien Alfons’ XI.

Abstract The first chivalric romance ‘The Book of the knight Zifar’ and Don Juan Manuel’s collection of exempla ‚The Book of Count Lucanor‘, are both narrative texts written in the first half of the fourteenth century, which stress in different ways the relationship between young successors and their counsellors during the successor’s preparatory education for power and good regency. In the examplary tales analysed in this respect, a critical aspect of the transitions of power is emphasised, namely the special case of the father and ruler dying when the heir to the throne is still in his infancy, as was the case in the historical example of Sancho IV and his son Fernando IV. The focus on and the staging of youth, which invites the possibility of manipulation, illuminates both the influence of the figure of the adviser to the ruler, which is fiercely discussed in mirrors of princes and treatises of the European Middle Ages, and the role of the young heir to the throne or as a child king. On the one hand, the analysis particularly highlights the warning of the fatal influence of power-obsessed tutors, but also the pedagogical skill of a wise philosopher who corrects the behavior and attitude of the prince, his pupil, by means of an entirely alternative strategy.

Obwohl die vielfältigen Bemühungen des weisen Königs Alfons X. von Kastilien (1221–1284), das Wissen von Herrschaft zu normieren, zu kodifizieren und zu tradieren, im Hinblick auf seine eigene Nachfolge tragisch scheitern, werden nach ihm auch weiterhin belehrende politische Texte „von Akteuren der Macht verfasst“.1 Dazu gehören nicht nur pragmatische, sondern auch fiktionale Texte, wie z. B. einerseits die ‚Castigos y consejos/documentos‘ von Sancho IV., dem rebellischen Sohn Alfons’, und die politischen Schriften von Don Juan Manuel, seinem Neffen; andererseits dessen Novellensammlung ‚Libro del Conde Lucanor‘ sowie das anonyme ‚Buch des Ritters Zifar‘, das zu Beginn des 14. Jahr-

1 Hans-Joachim Schmidt, Lerne zu regieren. Anweisungen von König Alfons X. von Kastilien an seinen Nachfolger, in: Andreas Speer/Thomas Jeschke (edd.), Schüler und Meister, Berlin/ New York 2016, 779–796, hier 796.

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hunderts, d. h. knapp 20 Jahre nach dem Tod Alfons’ verfasst wurde2 und sowohl einen Fürstenspiegel als auch zahlreiche herrschaftsrelevante Exempelerzählungen enthält. Anhand dieser beiden stark didaktisierten narrativen Texte soll im Folgenden das Verhältnis zwischen jungen Thronfolgern und ihren Ratgebern erörtert werden, welches einen kritischen Aspekt der Herrschaftsübergänge und einen Sonderfall der in Fürstenspiegeln wie Traktaten heftig diskutierten Rolle des Herrscherberaters darstellt.3 Don Juan Manuel, der selbst vorübergehend als Erzieher des jungen Alfons XI. fungierte,4 betont im Exemplum XXI seines ‚Conde Lucanor‘ das pädagogische Geschick eines Prinzenerziehers, der seinen Zögling zu dessen Bestem überlistet, um seine Trägheit und Ignoranz zu überwinden und ihn auf den rechten Weg zu bringen. Das ‚Buch des Ritters Zifar‘ warnt dagegen vor dem verhängnisvollen Einfluss machtbesessener Tutoren, die den zwar minderjährigen, doch vollgültigen Monarchen fehlzuleiten, zu schwächen und zu entmachten suchen, bis schließlich durch göttliche Intervention (eine Legitimationsstrategie, die im ‚Conde Lucanor‘ eher selten gewählt wird) der rechtmäßige Herrscher triumphiert.

Erster Teil: ‚Libro del Caballero Zifar‘ In diesem ersten spanischen Ritterroman findet sich eine fiktionale Inszenierung genau jener herrscherlich-väterlichen Belehrung im Interesse der Nachfolge, welche Alfons X. in einer Fülle von Texten konstruiert hatte. Der im Umfeld der Regentin María de Molina entstandene Roman schildert, wie ein Außenseiter, der jedoch königlichem Geblüt entspringt, zum König von Menton aufsteigt, indem er sich u. a. im Kampf gegen Empörer zur Verteidigung einer Infantin 2 Zur divergierenden Datierung vgl. u. a. Sophie Coussemacker, Formuler un avis devant le roi: l’émergence du conseil comme structure politique dans le traité du conseil de maître Pierre et le Libro del caballero Zifar, in: Martine Charageat/Corinne Leveleux-Teixeira (edd.), Consulter, délibérer, décider. Donner son avis au Moyen Age (France Espagne, VIIe–XVIe siècles), Toulouse-Le Mirail 2010, 129–155, hier 130; María Luzdivina Cuesta Torre, Prólogos, fábulas y contexto histórico en el ‚Libro del caballero Zifar‘, in: Dies. (ed.), ‚Esta fabla compuesta, de Isopete sacada‘: Estudios sobre la fábula en la literatura española del siglo XIV, Bern 2017, 11–64., hier 61–64. 3 Zu Beratung und Ratgebern vgl. u. a. Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt 2016; Patricia Rochwert-Zuili/Hélène Thieulin-Pardo, Conseil, conseillers et conseillères en péninsule Ibérique au Moyen Âge. Introduction, in: e-Spania 12 (2011), https://journals.openedition.org/e-spania/20555 (29. 08. 2019) sowie Alheydis Plassmann/Dominik Büschken (edd.), Die Figur des Ratgebers in transkultureller Perspektive, Göttingen 2020. 4 Vgl. María Jesús Lacarra, El adoctrinamiento de los jóvenes en El conde Lucanor, in: e-Spania 21 (2015), http://journals.openedition.org/e-spania/24727 (21. 05. 2019).

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bewährt und letztlich durch Heirat die Herrschaft gewinnt. Er hat zwei Söhne: Kronprinz Garfin, den er mit der Herrschaft eines besiegten Grafen belehnt, und der Zweitgeborene Roboan, der auf ähnliche Weise wie sein Vater aufsteigt – durch Aventüren im Dienste der Prinzessin Siringa; darüber hinaus genießt er die Protektion des Kaisers von Trigrida, dessen Nachfolger er wird. Der erste Teil des Romans endet damit, dass der Protagonist, inzwischen König von Menton, seinen erstgeborenen Sohn Garfin als Thronfolger einsetzt und mit der Herrschaft eines entmachteten Grafen belehnt, während der zweitgeborene Roboan seinen Vater um eine angemessene Ausrüstung bittet, um in der Welt Ehre und Ruhm zu gewinnen (honra e pres). In diesem entscheidenden Moment agiert der König wie einst Alfons, indem er nämlich seinen Söhnen gute Ratschläge erteilt und politisches Wissen vermittelt – in Form eines 53 Kapitel und ca. 100 Druckseiten umfassenden Fürstenspiegels, der den zweiten und mittleren Teil dieses Prosaromans ausmacht. Wie es Hans-Joachim Schmidt (2016) für Alfons’ herrschaftsdidaktische Texte herausgearbeitet hat, wird hier der Herrscher als Vater und Lehrmeister inszeniert, dem seine Söhne als Schüler lauschend und lernend gegenübersitzen, wobei das Verhältnis von Vater und Sohn zugleich das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk reflektiert.5 Die 50 Ratschläge des Herrschers bilden ein pädagogisches Kompendium ad usum delphini, welches insbesondere die Erziehung zur Macht thematisiert, bedeutet doch Infante zugleich Kind und Thronfolger. Ein Sonderfall ergibt sich dann, wenn der Vater und Herrscher während der Minderjährigkeit des Thronfolgers verstirbt, wie dies bei Sancho IV. und dessen Sohn Ferdinand IV. der Fall war. Von besonderem Interesse sind diesbezüglich die Kapitel 10 und 32 dieses Fürstenspiegels. Das Exempel von König Tabor (Kapitel 10) berichtet davon, dass der syrische König Fares im Angesicht des Todes die Verwaltung des Reiches und die Erziehung seines achtjährigen Sohnes seinem geliebten Neffen Rages anvertraut, was dieser ihm in die Hand verspricht und den Knaben nach dem Tod des Herrschers als König und Herrn anerkennt. Im Lauf der Zeit baut Rages jedoch seine Machtposition gegen den jungen Thronfolger aus, vernachlässigt absichtlich dessen Erziehung und schmiedet mit einem Vertrauten Pläne für dessen Sturz. Angesichts der drohenden Gefahr für das Reich und dessen legitimen Erben greift Gott selbst ein und warnt den nunmehr 15-Jährigen im Traum vor dem falschen Berater. Daraufhin schart Tabor junge Getreue um sich und plant mit ihnen eine List, um Rages und Joel als Verräter an ihrem ‚natürlichen Herrn‘ zu töten. Dieses geschieht auch mit göttlicher Legitimation als Warnung de non dezir mal nin fazer mal nin buscar mal syn razon a su senor natural („to avoid speaking evil, doing evil, or searching for evil without cause against his 5 Libro del Caballero Zifar, ed. Cristina González, Madrid 1998, 301.

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natural lord“)6 und zur Bekräftigung der rechtmäßigen gegenseitigen Verpflichtung von Herrn und Vasallen im Lehnsverhältnis. In Kapitel 32 wiederum wendet sich der König von Menton direkt an seine beiden Söhne und warnt sie vor all jenen, die sie aufgrund ihres jugendlichen Alters der Macht berauben wollen. Im Interesse des Machterhalts gelte es zumal für junge Herren, Misstrauen walten zu lassen, Verfehlungen gegenüber nicht nachsichtig zu sein und sich vielmehr auf erprobte, loyale Ratgeber zu verlassen. Die in beiden Texten erörterte Problematik eines jugendlichen Herrschers, der zum Spielball von Machtgelüsten falscher Ratgeber und dynastischen Interessenskonflikten zu werden droht, spiegelt offensichtlich die politische Krise, die sich aus der späteren Nachfolge Alfons’ nach dem Tod von dessen unerwünschtem Thronfolger Sancho IV. (1258–1295) ergibt. Dessen Sohn, der spätere Ferdinand IV. (1285–1312), ist erst zehn Jahre alt, als sein Vater stirbt. Um seine Person entspinnt sich daraufhin im familiären Umfeld, speziell von Seiten der Onkel und Angehöriger des Hochadels, ein enges Netz politischer Intrigen, in dem seine Mutter, die Regentin María de Molina (ca. 1265–1321), sich als tatkräftige Politikerin erweist und die Interessen des Thronfolgers mit aller Stärke und letztlich erfolgreich vertritt. Mit dem Plädoyer für ein hartes Durchgreifen der jungen Thronfolger gegenüber unberechtigten Machtansprüchen Dritter, die unter Berufung auf den Begriff des señor natural und auf Gott als metaphysische Legitimationsinstanz des wahren Herrschers als unrechtmäßig verurteilt werden, bezieht der Roman vom Ritter Zifar eindeutig Position in diesem historischen Herrschaftsübergang.7 Die Ausgangssituation des betreffenden Exemplums besteht darin, dass der syrische König Fares, als er dem Tode nahe ist, die Verantwortung für seinen Sohn und sein Reich, entsprechend der Formel cuerpo e fazienda („person and affairs“),8 seinem Neffen Rages überträgt, den er liebte wie sein eigenes Kind, so dass er ihn durch zahlreiche Gunstbeweise förderte und über die Mächtigen des Reiches heraushob. Der Auftrag zur Obhut umfasst den Sohn und das Reich (a su fijo e el reyno „his son and the kingdom“), d. h. personale und transpersonale Instanzen: Verwaltung, Schutz und Verteidigung des Reiches (que anparase el reyno e lo defendiese „to protect and defend the kingdom“) sowie Erziehung, Bildung und Beratung des Sohnes (que lo criase e le enseñase buenas costumbres e 6 González 1998, 277. Die hier und im Folgenden verwendeten englischen Übersetzungen sind der Edition von Nelson entnommen: The Book of the Knight Zifar. A translation of El Libro del Cavallero Zifar, ed. u. übers. v. Charles L. Nelson, Lexington 1983, hier 167. 7 Vgl. María Luzdivina Cuesta Torre, Gefährdete Herrschaft im ‚Libro del caballero Zifar‘, in: Mechthild Albert/Ulrike Becker/Elke Brüggen/Karina Kellermann (edd.), Textualität von Macht und Herrschaft. Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen, Göttingen 2020, 227–259. 8 González 1998, 312; engl. Übers. Nelson 1983, 196.

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lo castigase „to rear his son and show and teach him to be virtuous“), der aufgrund der Doppelnatur des Monarchen, dem body natural und dem body politic laut Kantorowicz, zugleich Kind und König ist.9 Nach einiger Zeit führt der Teufel, d. h. das Böse, den Vormund in Versuchung, seine Macht zu missbrauchen und, undankbar die vergangenen Gunstbeweise vergessend, den Sohn seines Wohltäters für eigene Ambitionen zu instrumentalisieren mit dem Ziel, anstelle des unmündigen Herrschers selbst die Herrschaft auszuüben: Mas el diablo, que non queda de poner mal en los coraçones de los omes, e malos pensamientos, puso en coraçon a este Rages sobrino del rey Fares, que se trabajase de auer el reyno para sy. E el fizolo asy, cuydando que lo podria acabar con el grand poder que auie, desconosçiendo quanto bien e quanta merçed le fiziera el rey Fares padre deste rey Tabor; […].10

Die Macht des Tutors reicht weit: als einer der Mächtigsten des Reiches sucht er auch die übrigen Großen sowie das ganze Volk unter seinen Einfluss zu bringen – ca Rages era el mas poderoso del reyno, ca se trabajaua de tener todos los omes buenos del reyno por sy, e avn los pueblos („Rages was the most powerful man in the kingdom, for he strove to have all the noblemen of the kingdom on his side as well as the commoners.“) –, hat er doch den jungen König in seiner Gewalt: Rages en cuya guarda e en cuyo poder era el rey despues de la muerte del rey Fares su padre („Rages, in whose care and power the king was after the death of King Fares, his father.“).11 Der minderjährige Herrscher wird somit zum Spielball der Macht – als Geisel seines Erziehers, der durch ihn die Herrschaft usurpieren will. Statt seine Erziehungs-, Berater- und Verwaltungsfunktion im Interesse der legitimen Königsherrschaft auszuüben, missbraucht der Tutor das kindliche Alter seines Zöglings, um gerade das Gegenteil zu bewirken, während im ‚Conde Lucanor‘ vielmehr die positiven Absichten des Philosophen betont werden. Rages pervertiert den noch unvernünftigen Knaben, der völlig auf ihn angewiesen und ihm damit ausgeliefert ist, um ihn an der Ausübung seiner herrscherlichen Befugnisse zu hindern, da er doch selbst nach der Königsmacht strebt: el rey Tabor non auia mas de ocho años quando el rey su padre fino, ni auia entendimiento complido para gouernar el reyno assi commo deuia, ni fazia otra

9 González 1998, 272; engl. Übers. Nelson 1983, 163. 10 González 1998, 273; engl. Übers. Nelson 1983, 163. „But the devil, who does not hesitate to place evil in the hearts of men, and evil thoughts, inspired this Rages, nephew of the king, to strive to take the kingdom for himself. Being ungrateful for all the good bestowed on him by King Fares, father of this King Tabor, Rages, thinking he would be successful because of his power, did so strive.“ 11 González 1998, 273; engl. Übers. Nelson 1983, 164.

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cosa saluo lo que mandaua e le aconsejaua Rages.12 Getrieben von seinem Machthunger und seiner bösen Absicht (mal proposito, mala voluntad „evil plans“)13 und aufgrund der Korrelation, dass die Schwäche des Kindkönigs seine eigene Stärke ausmacht, überlässt er den Schutzbefohlenen seinen kindgemäßen Streichen und Spielereien, ohne ihn zu zügeln und ihn auf seine herrscherlichen Funktionen hin zu erziehen, was unter dem in den Begriff des castigar gefassten Auftrag zu verstehen wäre. Vor allem hält er ihn davon ab, das allein dem König zustehende und dessen Position legitimierende Amt des obersten Richters auszuüben, woraus ein allgemeiner Missstand des Reiches resultiert. Der schlechte Ratgeber hintertreibt somit die rechtliche Autorität des Königs und unterhöhlt insofern das Ideal des rey justiciero: En todas las cosas vsaua de moçedad e de trauesuras, que non auia quien lo castigasse ni lo refrenasse para fazer lo contrario, e con todo esto plazia a Rages, por la mala voluntad y el mal proposito en que estaua de reynar. E quando acaesçia que el rey queria fazer justiçia en alguno que lo mereçiesse, Rages lo deffendia luego, diziendo que era suyo, e rogaua por los malfechores, e assi que impedia la justiçia que non se cumpliesse; […].14

Als der heranwachsende Herrscher schließlich 15 Jahre zählt, interveniert Gott selbst, um die vermessenen Pläne des schlechten Ratgebers zu vereiteln, dem schuldlosen Kindkönig sowie seinem leidenden Volk zu Hilfe zu kommen und somit als höchster Richter zu fungieren: Mas Nuestro Señor Dios, al qual pesaua mucho deste tan gran desconosçimiento, no quiso ni consintio que se cunpliesse su mala voluntad ni su mal proposito; mas fue su voluntad que resçibiesse la pena aquel que la merescia por los males del reyno, assi commo agora oyreys: […].15

Gemäß der narrativen Logik des Romans, der im politischen Kontext seiner Entstehungszeit die göttliche Legitimation und Durchsetzung von Herrschaft in Krisensituationen inszeniert, wird der Konflikt zwischen Kindkönig und schlechtem Berater als metaphysischer Antagonismus zwischen Gott und Teufel 12 González 1998, 273; engl. Übers. Nelson 1983, 164. „King Tabor was only eight years old when the king, his father, died, and he did not possess sufficient wisdom to govern the kingdom properly, nor did he do anything except what Rages ordered or advised him to do.“ 13 González 1998, 273; engl. Übers. Nelson 1983, 164. 14 González 1998, 273; engl. Übers. Nelson 1983, 164. „He showed his youth and prankishness in all things, for he had no one to instruct him or to hinder him from doing the contrary, and Rages was pleased with all this, for it suited his evil plans to gain control of the kingdom. When on occasion the king tried to sentence someone who deserved it, Rages prevented it, saying that it was his prerogative. Pleading for the evildoers, he thus prevented justice from being carried out.“ 15 González 1998, 273; engl. Übers. Nelson 1983, 164. „But our Lord God was deeply concerned over such ingratitude and did not want him, nor did He allow him, to be successful in his wicked plans and designs. It was God’s will that any one who deserved it should receive punishment for wrongdoing in the kingdom, as you will now hear.“

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gestaltet. Den treulosen Berater, der den jungen Herrscher behüten und verteidigen sollte (guardar e defender „protecting and defending“) und ihn stattdessen zu enterben sucht, um sich, entsprechend den Einflüsterungen des Teufels, selbst zum Herrn des Königsreichs zu erheben (desheredar al rey e fincar Rages señor del regno „overthrowing the king and leaving Rages lord of the kingdom“), wird die göttliche Strafe ereilen. Die Klärung der ungerechten Lage wird, vom göttlichen Willen gelenkt, durch übersinnliche wie weltliche Verfahren ins Werk gesetzt. Zunächst gibt Gott dem König, trotz seines jugendlichen Alters, einen ahnungsvollen Verdacht gegenüber einem möglichen Verrat ein: Dios es guiador de los que mal non meresçen, e puso en coraçon del rey Tabor, maguer moço, ca non auia mas de quinze años, que parase mientes e viese e entendiese el mal e la trayçion en quel andauan aquellos quel deuian guardar e defender; […].16 Dieses Misstrauen wird durch den vertraulichen Rat (poridat „in secrecy“)17 wahrer Freunde weiter genährt, die ihn warnen und zur Wachsamkeit aufrufen: […] algunos amigos del rey quel amauan seruir, e se sentian mucho destas cosas que veyan e entendian para lo desheredar, dezianlo al rey en su poridat, que parase mientes en ello e se sentiese e non quisiese andar adormido e descuydado de la su fazienda, e abibaronle e despertaronle para pensar en ello.18

Als Tabor daraufhin eines Nachts darüber nachsinnt, sich in der Absicht, König und Herr zu bleiben – para fincar el rey e señor („to remain king and lord“) – mit Gottes Beistand gegen diejenigen, welche ihn enterben wollen, zu erheben, wird die entscheidende Wende, wie so oft in der mittelalterlichen Literatur, durch eine Traumbotschaft herbeigeführt: Gott selbst ruft den jungen König auf diesem Weg zum Handeln auf, um seinen Anspruch auf die Herrschaft zu verteidigen, wobei er ihm die eigene Unterstützung und die seiner Heerscharen zusichert. In Zusammenhang mit der Problematik des minderjährigen Herrschers ist es von besonderer Bedeutung, dass Gott in der Gestalt des Jesuskindes erscheint, als un moço pequeño („a small youth“), den Tabor zunächst für einen seiner jugendlichen Gefolgsleute hält (los suyos moços „his pages“),19 mit denen er anschließend Rat hält, um angesichts der göttlichen Erscheinung das weitere Vorgehen in dem Konflikt zu erörtern. Es ist bezeichnend, dass diese typische 16 González 1998, 273; engl. Übers. Nelson 1983, 164. „God is the guardian of those who do not merit evil, and He inspired King Tabor, although he was a youth of only fifteen years, to observe and understand the evil and treachery of those who should have been protecting and defending him.“ 17 González 1998, 274; engl. Übers. Nelson 1983, 164. 18 González 1998, 273f.; engl. Übers. Nelson 1983, 164. „Some friends of the king who were faithful to him were deeply concerned over what they saw and understood. They told the king in secrecy to pay attention to what was transpiring and warned him to be attentive to his affairs. They alerted him and made him aware of the problems.“ 19 González 1998, 274; engl. Übers. Nelson 1983, 164.

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Beratungsszene offensichtlich nicht als ‚Ältestenrat‘, sondern stattdessen unter gleichaltrigen Jugendlichen erfolgt, die als erstes Argument gegen übereiltes Handeln eben das Ungleichgewicht zwischen jugendlichem Alter und machtvollem Gegner in einem so schwerwiegenden Konflikt zu bedenken geben: Señor, grant fecho e muy graue quieres començar para el ome de la hedat que vos sodes e para quales ellos son, e de tan grant poder.20 Der junge König anerkennt zwar die Berechtigung dieses Einwandes, lässt das Alter jedoch nicht als Hinderungsgrund in einer so dringenden und weitreichenden Angelegenheit gelten: digo que es verdat; mas sy la cosa non se comiença nunca se puede acabar. E porende nos conuiene que començemos con el ayuda de Dios, que sabe la verdat del fecho, e so çierto que nos ayuda.21 Die Redebeiträge von sechs eher skeptischen Beratern und Tabors Gegenrede werden en bloc einander gegenübergestellt, womit diese Beratungsszene einem Typus entspricht, den Coussemacker beschreibt als eine „succession d’avis individuels, souvent divergents, offerts tour à tour au prince, sans qu’il y ait eu de concertation préalable“.22 Dabei obsiegt der junge König mit seiner scheinbar konzessiven und konzilianten, letztlich aber insistenten Argumentation, weiß er doch Gott auf seiner Seite. Schließlich erhält er das Einverständnis seiner jugendlichen Altersgenossen zum Mordkomplott gegen Rages und dessen Verbündeten Joel, das alsbald in die Tat umgesetzt wird. Dabei handelt es sich im Prinzip um den Mord an einem Verräter, war es doch das eindeutige Ziel des illoyalen Erziehers und Beraters, die Macht des rechtmäßigen Kindkönigs zu usurpieren und sich gegen seinen señor natural zu erheben: matemos los commo a traydores e falsos contra su señor natural, e tajemosles las cabeças.23 Der treulose Tutor wird hier explizit als Verräter bezeichnet, sein Tod mithin für rechtmäßig erklärt. Diese Einschätzung entspricht dem unter Alfons X. entstandenen Gesetzeswerk ‚Las siete partidas‘, welches den Sachverhalt des Verrats am König als cabeça de todos los males („Haupt aller Übel“) bezeichnet, dessen Bestrafung in den ‚Partidas‘ II und VII ausführlich erörtert wird.24 Verrat wird nicht nur im offenen Aufstand, sondern auch in Form der 20 González 1998, 274; engl. Übers. Nelson 1983, 165. „Sire, for a man of your age, and considering who they are and how powerful they are, you are audacious to undertake such a momentous task.“ 21 González 1998, 275; engl. Übers. Nelson 1983, 165. „I say that it is true. But, if a thing is never begun, it is never finished. And therefore it is fitting for us to begin with the help of God, for He knows the truth of the matter, and I am certain He will aid us.“ 22 Coussemacker 2010, 139. 23 González 1998, 276; engl. Übers. Nelson 1983, 166. „execute them as traitors and scoundrels against their natural lord, and cut off their heads.“ 24 Zum Verrat vgl. u. a. Aquilino Iglesias Ferreiros, Historia de la traición. La traición regia en León y Castilla, Santiago de Compostela 1972; Francisco Ruiz Gómez, La traición al rey y al reino y su castigo según las ‚Siete Partidas‘, in: Mechthild Albert/Ulrike Becker/Elmar Schmidt (edd.), Alfonso el Sabio y la conceptualización jurídica de la monarquía en las ‚Siete

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Treulosigkeit von oficiales gegenüber ihrem Herrn verübt. Der Verrat tangiert die personale ebenso wie die transpersonale Dimension von Herrschaft. Das Beispiel von Rages und dem Kindkönig Tabor (der gewiss nicht zufällig den Namen desjenigen Berges trägt, wo sich, den Evangelien zufolge, die Verklärung Christi ereignete) schildert nämlich nicht nur den politischen Missbrauch eines Minderjährigen durch seinen Erzieher. Insofern es sich bei dem minderjährigen Knaben um den König von Syrien handelt, illustriert das Exempel vielmehr darüber hinaus das Verbrechen des böswilligen Erziehers als Schädigung der Institution monarchischer Herrschaft sowie des Gemeinwohls. Sein Verrat ist zugleich, wie es die ‚Siete partidas‘ vorsehen, ein „atentado contra la persona del rey, contra el reino y el pro comunal.“25 Trotz seiner Minderjährigkeit ist der verwaiste Thronfolger bereits vollgültiger Herrscher, als den ihn Rages übrigens bei der Übergabe durch den sterbenden König anerkannt hatte, bis er wortbrüchig wird. Ungeachtet seines kindlichen Alters ist Tabor der herrschende König – so wie der Jesusknabe, der ihm zur Wahrung seiner Rechte zu Hilfe eilt, seinen geringen Jahren zum Trotz bereits seinem Wesen nach der allmächtige Gott, uneingeschränkte Weltenherrscher und oberste Richter ist. Das Alter ist akzidentell, so die Botschaft, während das Königtum ein wesenhaftes Attribut darstellt, dem auch der ältere, erfahrene Pädagoge Tribut zu zollen hat. Überdies bestärkt die Intervention des Christuskindes höchstselbst den Status des Monarchen als vicarius Dei. Der von Rages verübte Verrat besitzt vielschichtige Bedeutung; er ist moralischer und rechtlicher, personaler und transpersonaler Natur, wie denn auch die Grenzen der mittelalterlichen Gefühls- und Gesetzesordnung fließend sind (vgl. z. B. die Implikationen des Begriffs amicitia oder amor).26 Zum einen handelt es sich um Wortbruch gegenüber dem alten König, der ihm seinen Sohn in Leib, Hab und Gut, cuerpo und fazienda, zur standesgemäßen Erziehung anvertraut hatte. Zum anderen bedeutet es Undankbarkeit gegenüber dem alten König, dem Rages aufgrund zahlreicher Wohltaten zu Dank verpflichtet war, womit er eine bindende moralische und soziale Obliegenheit aufkündigt. Schließlich ist es vor allem Verrat am jungen König, dem er gegenüber seinem sterbenden Vater Gefolgschaft und Fürsorge versprochen hatte und dem er stattdessen eine zur Herrschaftsausübung befähigende Erziehung sowie vor allem die königliche Prärogative vorenthält, Recht zu sprechen und auszuüben. Als Richter agiert König Tabor dann in Gestalt der Tötung von Rages und Joel, womit er die Strafe für deren Verrat vollstreckt und zugleich den ersten, konstitutiven Akt seiner Partidas‘ / Alfonso the Wise and the Juridical Conceptualization of Monarchy in the ‚Siete Partidas‘, Göttingen, im Druck. 25 Ruiz Gómez, im Druck. 26 Vgl. Schmidt 2019.

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herrscherlichen Macht vollzieht. Folge, Ziel und Zweck dieses Akts der Justiz ist die Anerkennung des Königs als Souverän, wie es in einer Verbindung von Organ- und Bienenmetapher veranschaulicht wird: E todos los otros del regno recudran a la bos del rey asy commo las abejas a la miel, ca aquella es la cabeça a que deuen recudir; ca el rey es el que puede fazer bien e merçed acabadamente en su señorio e non otro ninguno.27 Und in der Tat versammeln sich die omnes buenos del regno („loyal men of the kingdom“), als nach dem Vollzug der Tat (fecho) die Stimme des Königs erklingt (la bos del rey).28 Als damit der rechtmäßige Kindkönig gegenüber dem Ermächtigungsversuch des treulosen Tutors ins Recht gesetzt ist, wird dies abschließend als Sieg der Jugend gefeiert, erfochten von den 13- bis 18-jährigen moços und donzeles des fünfzehnjährigen Herrschers, legitimiert durch das Jesuskind, das am Ort der ‚Hinrichtung‘ zur Unterstützung der gerechten Sache in Erscheinung tritt: [M]arauillaronse mucho de tan pequeños moços commo el rey e los donzelles acometer tan grant fecho; ca ninguno de los donzeles non auia de dizeocho años arriba, e avn dellos eran menores que el rey. E porende los del regno entendieron que este fecho non fuera synon de Dios çiertamente; ca quando demandauan al rey e a cada vno de los donzeles el fecho en commo pasara, dezian que no sabían, mas que vieran la cámara lleña de omes vestidos de blancas vestiduras, sus espadas en la mano e vn niño entrellos vestido asy commo ellos ayudandolos e esforçandolos que conpliesen su fecho.29

Das im Exempel erzählte Wunder beweist, dass mit Gottes Hilfe auch prädestinierte Kinder große Taten vollbringen können und dass Gott zwischen Gut und Böse zu unterscheiden weiß und jedem seine Strafe oder seinen Lohn zumisst. Ganz dem religiösen Tenor des Werks entsprechend, dient das Mirakel der göttlichen Legitimation von Herrschaft. Zugleich veranschaulicht die Beispielgeschichte um den Kindkönig Tabor, durchaus im Sinne der ‚zwei Körper des Königs‘,30 dass sein Lebensalter akzidentell, sein königlicher Status ihm jedoch wesenhaft ist. Diesem zu dienen ist der Erzieher bzw. Berater verpflichtet – ansonsten begeht er Verrat am Monarchen und verdient den Tod. 27 González 1998, 276; engl. Übers. Nelson 1983, 166f. „And all the rest will rally to the voice of the king just as bees come to honey, for they must come, since the king is the one who can dispense all patronage and favors in his kingdom, and no one else.“ 28 González 1998, 277; engl. Übers. Nelson 1983, 167. 29 González 1998, 277; engl. Übers. Nelson 1983, 167. „they were astounded at how youths as young as the king and his pages could carry out so great a task, because none of the pages was over eighteen years of age and some of them were even younger than the king. Therefore, the men of the kingdom realized that this deed had been inspired by God; for when they asked the king and each of the pages how it had happened, they answered they did not know, but they had seen the room full of men dressed in white garments, swords in their hands, and a child among them dressed the same as those aiding them, who urged them to fulfill their task.“ 30 Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957.

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Für die eminente Bedeutung des in Kapitel 10 des Fürstenspiegels erläuterten Exempels vom jungen König Tabor spricht die Tatsache, dass Zifar, der König von Menton, später erneut und komplementär auf die problematische Konstellation zwischen dem jugendlichen Herrscher und seinem Ratgeber eingeht. Er warnt seine Söhne vor jenen schlechten Beratern, die die Unerfahrenheit der Jugend zu ihrem eigenen Vorteil nutzen (de fazer su pro conbusco „to act to their advantage against you“, conplir con busco sus voluntades e fazer lo que quesieren „to fulfill their plans and do what they wish to“), um sich zu diesem frühen Zeitpunkt eine dauerhafte Vormachtstellung zu sichern, welche das Machtverhältnis zwischen Herrn und Berater umkehrt: e querrien sienpre ser señores e apoderados del, e non el dellos („for they wanted to be lords over him and not he over them“).31 Aufgrund der noch nicht voll ausgebildeten Vernunft ist die Jugend eine überaus sensible Phase, während der die Heranwachsenden „wie Wachs“ (commo çera) in der Hand ihrer Tutoren, Erzieher, Berater sind,32 wie es an anderer Stelle heißt, im Exempel von der grausamen Bestrafung einer pflichtvergessenen Mutter, die es in der Erziehung ihres Sohnes an Härte hat fehlen lassen: E çertas de ligero se pueden acostunbrar bien los moços, ca tales son commo çera, e asy commo la çera es blanda e la puede ome amasar e tornar en aquella figura que quesiere, asy el que ha de criar el moço, con la pertiga en la mano, non lo queriendo perdonar, puede lo traer a enformar en las costunbres quales quesiere.33

Diese Formbarkeit gilt freilich auch im Positiven, wenn ein verantwortungsvoller Pädagoge seinen Zögling auf den rechten Weg bringt, wie das im zweiten Teil analysierte Exempel des ‚Conde Lucanor‘ veranschaulicht. Im ‚Caballero Zifar‘ dominieren dagegen die warnenden Beispiele – womöglich vor dem historischen Hintergrund der vielfach versuchten Einflussnahme auf die minderjährigen Thronfolger Ferdinand IV. und Alfons XI. Schutzlos sind die Infanten des ‚Zifar‘ der Einflussnahme skrupelloser Ratgeber ausgesetzt, deren Ziel die Etablierung einer eigenen dauerhaften Machtposition durch die Entmachtung des jugendlichen Herrschers ist. Diesen Kampf um die Macht zwischen Erziehern und Infanten erläutert der König von Menton seinen zur Herrschaft bestimmten Söhnen wie folgt: E otrosy, mios fijos, mientras moços fueredes e non ouierdes entendimiento conplido, punaran los omes que non quesieren vuestra onrra, de fazer su pro conbusco, e non cataran sy non por fazer bien a sy e apoderarse de vos e desfazer e desapoderarvos, 31 González 1998, 312; engl. Übers. Nelson 1983, 195f. 32 Vgl. Lacarra 2015. 33 González 1998, 284; engl. Übers. Nelson 1983, 173. „Certainly youths can be easily trained, for they are like wax, and just as wax is soft and one can knead and shape it in whatever form he wishes, so the one who wants to rear a youth to conform to the customs he approves of, must do so with a rod in his hand and have no compassion.“

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porque quando fueredes grandes e ouieredes el entendimiento conplido, que los non podades de ligero desfazer, […].34

Der verhängnisvolle Einfluss der Berater und Erzieher zeitigt vielfältige Konsequenzen. Zum einen schmeicheln sie den ungezügelten Genüssen der Jugend, um ihre Schutzbefohlenen zu verderben und sich, getrieben von ihrer Gier (dentera),35 auf deren Kosten zu bereichern: E çertas mientra de pequeña hedat fueresdes, non se trabajarían en al sy non de enrriqueçer a sy e en traervos a pobredat, falagandovos e consejandovos que vsedes de moçedades, en comer e en beuer, e en todas las otras cosas que plaze a los moços, […].36

Zum anderen manipulieren sie die unkontrollierten Affekte der Heranwachsenden, speziell den Zorn, um als intrigante mestureros37 Zwietracht zu säen: metiendovos a saña contra aquellos que quesieren vuestro seruiçio e vuestra onrra, e buscarvos han achaques, mezclándolos conbusco porque vos fagades mal […].38 Vor allem aber hindern sie, wie bereits im Falle des Königs Tabor, die jungen bzw. künftigen Herrscher daran, Recht zu sprechen und zu vollstrecken und damit die vornehmste Funktion des Herrschers aus- und einzuüben: maguer fagan por que, nin podades fazer justiçia en aquellos que lo meresçen; ca ellos se pararan a los defender, commo aquellos que non querrán que justiçia se cumpla en ellos nin en otros ningunos.39 In Anbetracht dieser weitreichenden Folgen warnt der Vater und Lehrmeister seine königlichen Söhne davor, ihren Körper und ihre Angelegenheiten (cuerpo e fazienda), d. h. die personalen wie transpersonalen Belange ihres Amtes in jugendlichem Alter solchen treulosen, egoistischen und machtgierigen Beratern anzuvertrauen: E porende vos deuedes 34 González 1998, 312; engl. Übers. Nelson 1983, 195f. „And furthermore, my sons, while you are youthful and do not have your full wisdom, men who do not wish you well will endeavor to act to their advantage against you, and will try only to do well for themselves and to seize power over you, to seek your undoing, and to take away your power. When you are older and have your full wisdom, you may not be able easily to undo them, […].“ 35 González 1998, 312. 36 González 1998, 312; engl. Übers. Nelson 1983, 196. „And certainly while you are young, they will not work at anything else except to enrich themselves and to bring you into poverty, praising you and advising you to pursue youthful ways, eating and drinking, and in all other things that please youths, […].“ 37 Vgl. Mechthild Albert, El mesturero y la economía de las emociones en el orden feudal, Vortrag im Rahmen des International Medieval Meeting, Emotions in the Middle Ages. A historiographical appraisal, Lleida 25.–28. 06. 2018, im Druck. 38 González 1998, 312; engl. Übers. Nelson 1983, 196. „inciting you against those who wish to be at your service and to do you honor. And they will search for excuses for you, discrediting men to you so that you do evil to yourself, […].“ 39 González 1998, 312; engl. Übers. Nelson 1983, 196. „they may give a reason for doing so. Nor will you be able to execute justice against those who deserve it, for they will stand together to defend them, like those who do not wish that justice be carried out against them or against any others.“

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guardar de talesomes commo estos, e non fiar vuestros cuerpo nin vuestras faziendas mucho en ellos; […].40 Entscheidend ist es, vertrauenswürdige, moralisch gute und loyale Berater auszuwählen, die ihre jungen Herrn vor Fehlern und Schaden bewahren, ihr Hab und Gut, ihre Macht und Ehre mehren. Diese Qualitäten werden üblicherweise alten, erfahrenen Ratgebern zugeschrieben, welche der jugendliche Herrscher um sich scharen sollte. Das Beispiel des jungen Königs Tabor und seiner gleichaltrigen Gefährten – Berater und Kampfgenossen – zeigt jedoch, dass die beratende Begleitung eines minderjährigen Herrschers nicht unbedingt eine Frage des Alters, sondern vielmehr des Charakters, der guten oder bösen Absicht sowie der Loyalität gegenüber dem rechtmäßigen Herrscher bzw. dem anvertrauten Schützling, und somit eine Frage des politischen und pädagogischen Ethos ist.

Zweiter Teil: ‚Libro del Conde Lucanor‘ Aborrecida cosa es qui quiere estar solo, e más quien quiere estar con malas compañas.41

In Analogie zu dem auch heute noch gebräuchlichen Sprichwort (prouerbio) Mejor sería andar solo que mal acompañado42 („Es ist besser allein zu sein, als in schlechter Gesellschaft“), spiegelt dieses Isokolon als Bestandteil des ‚Libro del Conde Lucanor‘ (ca. 1330–1335) von Don Juan Manuel nicht nur den Facettenreichtum der zwischen der Rezeption orientalischer und abendländischer Texttradition entstehenden Weisheitslehren/-literatur der iberischen Vormoderne wider. Im Rahmen seiner abstrakten didaktischen Funktion und Kürze, komplementär zum moralisierenden Medium des Exemplums, lässt es sich auch auf zwei politische Figuren beziehen: auf das Verhältnis zwischen jungen Thronfolgern oder minderjährigen Herrschern und ihren Ratgebern als Protagonisten und Antagonisten literarischer Darstellungen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Kastilien Alfons’ XI. Im Hinblick auf den zu vermeidenden Zustand des Alleinseins oder allein Agierens, der durch das oben genannte Zitat evoziert und zu Lasten der als noch gravierender dargestellten Wahl schlechter Gesellschaft eine deutliche Relativierung erfährt, lässt sich als Grundtenor und einer der Schwerpunkte von Don Juan Manuels ‚Libro del Conde Lucanor‘ eine Warnung vor einem die Herrschaft bzw. die Herrschaftspraxis im Allgemeinen stark beeinflussenden transperso40 González 1998, 312; engl. Übers. Nelson 1983, 196. „Therefore you should guard against men such as these and not entrust your person or your affairs to them, […].“ 41 Don Juan Manuel, Libro del Conde Lucanor, ed. Guillermo Serés, Barcelona 2006, 233. 42 Ebd., 231. Bzw. im heutigen Spanisch ¡Mejor solo que mal acompañado!

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nalen Phänomen herauslesen: der Intervention nach Macht strebender ‚falscher‘ Ratgeber. So wird direkt zu Beginn der bekannten Exempla- und Sentenzensammlung, verfasst von einer in Kastilien zentralen politischen Persönlichkeit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, eine diesem Fokus entsprechend repräsentative, für das ganze ‚Libro‘ und für die von Lucanor geschilderten Krisensituationen sprechende Vertrauens- und Loyalitätsfrage eines Königs bezüglich seines engsten Beraters (privado) beleuchtet und auf die Notwendigkeit einer prueba hin ausgerichtet. Dem auf die Probe gestellten und diesbezüglich unwissenden privado werden die Augen von dessen Ratgeber – dem Ratgeber des Ratgebers – geöffnet und die Zweifel des Königs bezüglich der Loyalität seines privado aufgedeckt.43 Rat als zentrale Ressource von Herrschaft44 bildet vor allem auch den Schwerpunkt der Rahmenerzählung, des Dialogs zwischen dem Grafen Lucanor und seinem engsten Vertrauten und Berater Patronio. In drei von dem insgesamt 51 Beispielgeschichten umfassenden ersten Teil des ‚Libro‘ stehen Königssöhne bzw. Infanten im Fokus (Ex. XXI, XXIV, XXV). Nur eines der drei Exempla, das einundzwanzigste und somit der Chronologie der Geschichten entsprechend erste unter diesen, beleuchtet dabei zentral die Figur eines sich bereits im Königsamt befindlichen Thronfolgers.45 De lo que contesció a un rey moço con un muy grant philósopho a qui lo acomendara su padre („Was einem jungen König mit einem großen Philosophen, seinem Erzieher, begegnete“)46 lautet der Titel dieses Exemplums, welcher bereits recht deutlich das 43 Zu Motiv und Funktion der (Loyalitäts-)Probe im ‚Libro del conde Lucanor‘ vgl. Erica Janin/ Juan Harari, La función de la prueba en los ejemplos I y XXIV del Libro del conde Lucanor en el contexto de la relación estamental de don Juan Manuel y Alfonso XI, in: e-Spania 28 (2017), https://journals.openedition.org/e-spania/27285 (28. 04. 2019). 44 Vgl. Plassmann/Büschken 2020. 45 Die anderen beiden Exempla (XXIV, XXV) zeigen zwar auf, dass die Problematik der Nachfolge den Autor intensiv beschäftigte, jedoch wird die Figur des Thronanwärters nicht zentral, sondern eher am Rande und z. T. auch als Kritikfolie herausgehoben. In Exemplum XXIV (De lo que conteció a un rey que quería provar a tres sus fijos a qui lo acomendara su padre que lo criasse) handelt es sich um die Auswahl des geeigneten Thronfolgers mittels einer Probe, die ein rey moro für die Beurteilung seiner drei Söhne entwirft, wobei die Altersreihenfolge bzw. die Primogenitur keine Rolle spielt. Hier steht jedoch nicht etwa der Herrschaftsübergang an sich oder gar das Handeln des Nachfolgers, sondern primär das Prozedere der Probe im Vordergrund. Im Rahmen der Heiratspolitik einer Grafentochter werden im darauf folgenden Exemplum XXV (De lo que conteció al conde de Provencia, cómmo fue librado de la prisión por el consejo quel dio Saladín) dann auf Grundlage einer Liste sämtlicher Kandidaten, die die Kriterien von Reichtum und Macht explizit außer Acht lässt, die Qualitäten der Königssöhne und der Söhne großer Herren pauschal kritisiert und diese als Kandidaten per se für ungeeignet befunden (Serés 2006, 104f.). 46 Meine Übersetzung des Titels aus Serés 2006, 85. Joseph von Eichendorffs Übertragung des ‚Libro del Conde Lucanor‘ ins Deutsche (‚Der Graf Lucanor‘, 1840) kehrt den Titel dieses Exemplums um und fokussiert damit die Agenda der Ratgeberfigur: „Was einem großen Philosophen mit einem kleinen König, seinem Zöglinge, begegnete“, in: Don Juan Manuel, Der Graf Lucanor, übers. v. Joseph von Eichendorff, ed. Harry Fröhlich (Sämtliche

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Verhältnis der Hauptfiguren, ein als rey moço bezeichneter Kindkönig und dessen Erzieher, einem „großen Philosophen“ – entsprechend der durch das ‚Secretum secretorum‘ im europäischen Mittelalter weit verbreiteten literarischen Konstellation Aristoteles’ und Alexanders des Großen – als zentrales Thema hervorhebt. Diesem übergeordnet ist jedoch zunächst zu Beginn des Exemplums die Handlung der Rahmenerzählung. Die verschiedenen Lebenslagen des Grafen, der zentralen Herrscherfigur des ‚Libro del Conde Lucanor‘, und sein Gesuch um Rat bei Patronio bieten immer wieder neue Anlässe für Beispielgeschichten, die die unterschiedlichsten Figuren und Motive der orientalischen und lateinischen Weisheitsliteratur miteinander verweben und nicht immer sui generis einen herrschaftlichen Kontext von Herrschaft implizieren, jedoch stets an die Herrschaft des Grafen Lucanor rückgebunden werden. Ausgangspunkt für das hier näher zu untersuchende Exemplum über den jungen König ist die Verantwortung, die der Graf für den Sohn eines verstorbenen Verwandten zunächst in der Erziehung (este moço criólo yo) übernimmt: –Patronio, assí acaesció que yo avía un pariente a qui amava mucho, et aquel mi pariente finó et dexó un fijo muy pequeñuelo, et este moço criólo yo. Et por el grand debdo et grand amor que avía a su padre, et otrosí por la grand ayuda que yo atiendo dél desque sea en tiempo para me la fazer, sabe Dios quel amo commo si fuesse mi fijo.47

Die Figurenkonstellation der Rahmenerzählung, die letztlich durch jene des Exemplums gespiegelt werden soll, besteht hier also aus dem Grafen und dem Sohn eines ihm nahestehenden verstorbenen Verwandten, dessen sozialer und politischer Status dem Leser verborgen bleibt. Es muss sich bei dem Jungen folglich nicht um einen Königssohn oder Thronfolger handeln. Vielmehr werden hier das Verantwortungsgefühl und die Erwartungshaltung des Grafen zum Ausdruck gebracht, der in seiner Rolle als Erzieher gleichsam als Vater agiert und darauf hofft, dass der Knabe ihm später im Gegenzuge, wenn die Zeit dafür gekommen ist, ebenfalls Unterstützung zukommen lässt. Wie im ‚Buch vom Ritter Zifar‘ wird auch hier die zentrale Herrscherfigur der Rahmenerzählung als Vater und Lehrmeister inszeniert. Et commo quier que el moço ha buen entendimiento et fío por Dios que será muy buen omne, pero porque la mocedat engaña muchas vezes a los moços et non les dexa fazer todo lo que les cunpliría más, plazerme ýa si la mocedat non engañasse tanto a este moço. Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Übersetzungen I), 18 Bde., Bd. 15/1, Tübingen 2003, 92. Die im Folgenden verwendeten deutschen Übersetzungen sind, wenn nicht anders angegeben, dieser Edition entnommen. 47 Serés 2006, 85f.; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 92. „[Patronius], [i]ch hatte einen Verwandten, den ich sehr liebte, der starb und hinterließ ein kleines Söhnchen. Dieses erziehe ich jetzt, theils der Verwandtschaft und Zuneigung wegen, die ich zum Vater hegte, theils weil ich zu seiner Zeit großen Beistand von ihm erwarte; Gott weiß es, ich liebe den Knaben wie meinen eigenen Sohn […].“

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Et por el buen entendimiento que vós avedes, ruégovos que me digades en qué manera podría yo guisar que este moço fiziesse lo que fuesse más aprovechoso para el cuerpo et para la su fazienda.48

Lucanors Anliegen ist es, nicht nur gewissenhaft für die beste Erziehung des Heranswachsenden zu sorgen, sondern diesen auch mit einer von der treffenden Einschätzung Patronios inspirierten, guten Beratung vor den ‚Verführungen‘ oder auch Lastern der Jugend zu bewahren,49 wie es Eichendorffs Übersetzung hier auf den Punkt bringt. Diese Reflexion erfolgt unter Bezugnahme auf cuerpo und fazienda des Jungen. Ersteres impliziert ‚Leib und Seele‘, also die Person und letzteres das ‚Habe‘ aber auch das Handeln in Geschäftsangelegenheiten und die Interaktion mit anderen. Patronios Replik greift im Folgenden jedoch nur die fazienda deste mozo („die Angelegenheit dieses Jungen“)50 auf, um diesen Begriff direkt auf das Verhältnis der Charaktere seiner darauffolgenden, hier angekündigten Beispielgeschichte zu übertragen. –Señor conde Lucanor –dixo Patronio–, para que vós fiziésedes en fazienda deste mozo lo que al mío cuydar sería mejor, mucho querría que sopiéssedes lo que contesció a un muy grand philósopho con un rey moço, su criado. El conde le preguntó cómmo fuera aquello. –Señor conde Lucanor –dixo Patronio–, un rey avía un fijo et diolo a criar a un philósopho en que fiava mucho; et quando el rey finó, fincó el rey su fijo moço pequeño.51

Die Unterbrechung der Figurenrede Patronios durch den auktorialen heterodiegetischen Erzähler markiert den Übergang, das Schwellenelement zwischen der Erzählebene des Rahmens und der Ebene der Beispielgeschichte, des eigentlichen Exemplums. Während es sich im Falle des moços der Rahmenerzählung nicht unbedingt um einen Königssohn oder gar Thronfolger handeln muss, wird dieser auf exemplarischer Ebene dennoch durch einen solchen ge-

48 Serés 2006, 86; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 92. „[…] auch besitzt er [der Knabe] viel Verstand, und ich hoffe zu Gott, daß einst ein tüchtiger Mann aus ihm wird. Da aber die Jugend gar mancherlei Verführungen ausgesetzt ist, vor denen ich diesen Knaben gern bewahren möchte, so bitte ich Euch, sagt mir, wie ich es nach Eurer reifen Einsicht anstellen soll, daß er sich stets so betrage, als es ihm für Leib, Seele und Habe am ersprießlichsten ist.“ 49 Der Begriff der ‚Beratung‘ wird zurückgeführt auf den erst am Ende des Exemplums fallenden Terminus castigar (89), der wie im ‚Libro del Caballero Zifar‘ die Begriffe criar (Erziehen) und enseñar (Bildung) zu einer motivischen Trias der Beratungsinstanz ergänzt. 50 fazienda hier von Serés im weitesten Sinne verstanden als asunto (Angelegenheit). 51 Serés 2006, 86; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 92. „Herr Graf, erwiederte [sic] Patronius, zu diesem Zwecke wünschte ich sehr, Ihr erführet, was einst einem großen Weltweisen mit einem jungen König, seinem Zöglinge, begegnet ist. Der Graf bat, es ihm zu erzählen. Herr Graf, sagte Patronius, ein König hatte einen Sohn und ließ ihn durch einen Philosophen erziehen, in den er großes Vertrauen setzte. Doch der König starb, da sein Sohn noch ein kleines Knäblein war […].“

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spiegelt. Lucanors Part wird dabei mit dem eines großen Philosophen gleichgesetzt, der sich um einen jungen König bemühen muss. Betont wird bei der Vorstellung dieser Charaktere nicht wie im Falle der Rahmenerzählung eine väterliche Beziehung und das entsprechende Verantwortungsgefühl, sondern ausschließlich das vertrauensvolle Verhältnis zwischen dem Philosophen und dem verstorbenen König, folglich der Grund dafür, dass dieser die Erziehung seines Sohnes, des Thronfolgers, nicht irgendwem, sondern gerade dieser Person überträgt. Die Nähe zum König legitimiert diese Aufgabe sowie die damit verbundene Macht und den Einfluss auf die Herrschaft des Thronfolgers. Der Status als philósopho, auf den weder an dieser Stelle noch im weiteren Verlauf der Handlung näher eingegangen wird, welcher jedoch Wissen, Weisheit und Reflexionsvermögen impliziert, scheint, wenngleich nicht explizit, ebenfalls die Legitimität dieser Aufgabe darzustellen, deren Umsetzung in den folgenden Zeilen als deutlich vom Alter des jungen Königs abhängig beschrieben wird: Et criólo aquel philósopho fasta que passó por XV años. Mas luego que entró en la mancebía, començó a despreciar el consejo daquel que lo criara et allegósse a otros consegeros de los mancebos et de los que non avían tan grand debdo con él por que mucho fiziessen por le guardar de daño.52

Mit der Zäsur des 15. Lebensjahres und des Eintritts in die mancebía geht einher, dass der junge König etwa ab diesem Alter beginnt, Ratgeber seines Alters zu favorisieren und sich von seinem vertrauten Tutor, dem Philosophen, abzuwenden – ähnlich wie sich der Thronfolger Tabor im ‚Buch des Ritters Zifar‘ mit zum Teil sehr jungen Ratgebern umgibt und dessen 15. Lebensjahr ebenfalls einen Einschnitt im Leben und eine Änderung seines Verhaltens bedeutet. Lacarra zufolge „ist es schwierig, für dieses Exemplum den biographischen Hintergrund des Autors auszublenden. Don Juan Manuel, der Vormund eines Kindkönigs (Alfons XI.) war, muss zusehen, wie sich der junge Monarch auf neue Berater (Garci Lasso de la Vega und Álvar Núñez de Osorio) einlässt, die später seinen Tod planen.“53 Auch der Grund dafür, dass der rey moço diesen jüngeren und offensichtlich distanzierteren Ratgebern wohlgesonnen ist, wird hier angerissen: Die Sympathie rührt daher, dass sie weniger bemüht sind, den König mit allen Mitteln vor Schaden bewahren bzw. beschützen zu wollen und ihm damit 52 Serés 2006, 86; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 92f. „[…] und jener Philosoph erzog nun den Prinzen, bis er das funfzehnte Jahr zurückgelegt hatte. Sobald dieser aber mannbar wurde, fing er an, den Rath seines Erziehers in den Wind zu schlagen und sich andern Rathgebern von seinem Alter und solchen anzuschließen, die keine Verpflichtung hatten, ihn besonders zu hüten […].“ 53 Meine Übersetzung, nach Lacarra 2015. „es difícil no reconocer en este ejemplo una lectura en clave autobiográfica. Don Juan Manuel, que ha sido tutor del rey niño, tiene que ver cómo el joven monarca se apoya en nuevos consejeros (Garci Lasso de la Vega y Álvar Núñez de Osorio) que llegarán a tramar su muerte […].“

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weniger zu Leibe rücken als sein Erzieher. Dies hat zur Konsequenz, dass sowohl der Körper des Königs als auch die Ausübung seiner Herrschaft und damit auch sein Reich Schaden nehmen: que tan bien las maneras et costumbres del su cuerpo commo la su fazienda era todo muy empeorado.54 Die Termini cuerpo und fazienda werden wiederholt verwendet, um die negative Auswirkung des Verhaltens des Herrschers auf seine Person, aber auch auf transpersonaler Ebene, die Angelegenheiten seines Reiches betreffend, zu verdeutlichen: Et fablavan todas las gentes muy mal de cómmo perdía aquel rey moço el cuerpo et la fazienda.55 Erzeugt wird hier ein negatives Herrscherbild, das allein auf der Meinung des Volkes über den Kontrollverlust des jungen Königs basiert, während keinerlei Konkretisierung seines falschen Handelns oder der falschen Ratgeber erfolgt (worin dieses besteht und um wen es sich bei den Ratgebern seines Alters handelt).56 Die vox populi inszeniert ex negativo die fehlende Erkenntnis des rey moço hinsichtlich seiner defizitären Herrschaftspraxis. Im Folgenden steht – dies verstärkend – die Ratlosigkeit der eigentlichen Ratgeberfigur, des Philosophen, im Zentrum des Interesses: Yendo aquel pleito tan a mal, el philósopho […] se sintía et le pessaba ende mucho, non sabía qué fazer, ca ya muchas vezes provara de lo castigar con ruego et con falago et aun maltrayéndolo, et nunca pudo fazer ý nada, ca la mocedat lo estorvava todo. Et desque el philósopho vio que por otra manera non podía dar consejo en aquel fecho, pensó esta manera que agora oyredes.57

Das Insistieren auf der Tatsache, dass der Philosoph jeden Modus des castigar, der Zurechtweisung, ausprobiert und damit nichts erreicht, führt zu der Erläuterung, dass die Implikationen seines jugendlichen Alters (mocedat)58 den König

54 Serés 2006, 86; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 93. „[hatte er in kurzer Zeit] seine Sitten und Vermögensumstände derart verschlimmert.“ 55 Serés 2006, 86; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 92f. „daß alle Welt sich darüber aufhielt, wie der Jüngling Leib und Gut zu Grunde richte.“ 56 Gemäß dem im dritten Teil des ‚Libro del Conde Lucanor‘ enthaltenen Sinnspruch Usar malas viandas et malas maneras es carrera de traer el cuerpo et la fazienda et la fama en peligro. (Serés 2006, 246; meine Übersetzung: „Falsche Speisen zu sich zu nehmen und eine schlechte [Lebens]weise gefährden Körper, Hab und Gut sowie das Ansehen.“) befindet sich der junge König damit auf Abwegen und bringt neben cuerpo und fazienda auch sein Ansehen (fama) in Gefahr. 57 Serés 2006, 86f.; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 93. „Da nun der Philosoph sah, daß die Sachen so schlimm standen, betrübte er sich sehr, wußte jedoch nicht, was er dagegen thun sollte; denn oft schon hatte er’s versucht, ihn durch Bitten und Liebkosungen und selbst durch Scheltworte auf andre Wege zu bringen, aber niemals hatte er etwas ausrichten können, der jugendliche Uebermuth verdarb Alles wieder, und da er nun auf keine andre Art zum Ziele gelangen konnte, ersann er endlich folgendes Mittel: […].“ 58 Eichendorff bringt dieses mit ‚Uebermuth‘ in Verbindung. Hier ließe sich jedoch genauso gut von trotzigem Verhalten, Ungeduld oder Neugierde bezüglich aller für die Funktion des

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derart verblenden, dass es einer alternativen Strategie bedarf, um an diesen überhaupt herantreten zu können und ihn auf den rechten Weg zurückzuleiten. Der Philosoph ersinnt eine Maßnahme, ein „adoctrinamiento especial“ („eine spezielle Unterweisung“),59 das an die Neugierde des jungen Königs appelliert. Er beginnt am Hofe das Gerücht zu verbreiten, der mayor agorero del mundo,60 der größte Zeichendeuter der Welt zu sein und die Fähigkeit zu besitzen, die Sprache der Vögel zu verstehen – eine Information, die sich vermutlich aufgrund ihres erstaunlichen Charakters schnell verbreitet,61 letztlich auch den jungen König erreicht und dessen Neugierde weckt. Et tantos omnes oyeron esto, que lo ovo de saber el rey moço. Et desque lo sopo, preguntó el rey al philósopho si era verdat que sabía catar agüero tan bien commo lo dizían. Et el philósopho, commo quier quel dio a entender que lo quería negar, pero al cabo díxol que era verdat, mas que non era mester que omne del mundo lo sopiesse.62

In diesem Fall basiert der Rat des einstigen Tutors also auf einer Intervention der Täuschung. Der philósopho findet damit letztlich Gehör beim König und appelliert im Folgenden nun auch an die jugendliche Ungeduld: Et commo los moços son quexosos para saber et para fazer todas las cosas, el rey, que era moço, quexávase mucho por veer cómmo catava los agüeros el philósopho. Et cuanto el philósopho más lo alongava, tanto avía el rey moço mayor quexa de lo saber.63 Hier zögert er den geforderten Beweis seiner Fähigkeiten mit provokativem Hinhalten künstlich hinaus. Mit dem vermeintlich geheimen Wissen kommt der junge König schließlich in Kontakt im Rahmen eines ebenso als private Unternehmung dargestellten

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Königs unwesentlichen Beschäftigungen sprechen, welche im Folgenden hervorgehoben wird. Lacarra 2015. Serés 2006, 87. Agorero bzw. agüero aus dem Lateinischen augurium (Wahrsagung, Prophezeiung). Lacarra (2015) erläutert hierzu mit Hinweis auf die ‚Siete Partidas‘: „Sorprende inicialmente que un consejero de la corte sea intérprete de agüeros, actividad condenada por la Iglesia con la excomunión, y cuya presencia, junto a la de mágicos o encantadores, no estaba permitida en la corte (Partidas, VII, xxiii, 1). Sin embargo, no conviene olvidar que se trata de una ficción, un exemplum, creado por el propio filósofo quien finge tener una capacidad de la cual carece.“ Serés 2006, 87; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 93. „Das hörten so viele, daß es auch zu den Ohren des Königs kam, und dieser fragte nun den Philosophen, ob er sich denn wirklich so gut auf das Wahrsagen verstände, wie die Leute behaupteten. Der Philosoph stellte sich erst, als wollte er’s verläugnen, gab es aber endlich zu, es sei jedoch nicht nöthig, daß es irgend Jemand erführe.“ Serés 2006, 87; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 93. „Und wie denn die Jugend immer ungeduldig ist, Alles zu erfahren und mitzumachen, so war auch der junge König voller Begierde, den Philosophen seine Kunst ausüben zu sehen, und je länger es dieser verschob, je ungeduldiger wurde der König […].“

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Ausfluges mit seinem ehemaligen Tutor. In einem Tal verlassener Dörfer treffen sie auf zwei Krähen, die sich unterhalten. Der Philosoph insinuiert diese Unterhaltung zu verstehen, ohne jedoch dem König das Thema preiszugeben. Stattdessen besteht seine Strategie in der Vortäuschung einer übertriebenen Reaktion, die in dem jungen Herrscher nicht nur Angst und Schrecken auslöst, sondern wiederum dessen Neugierde und Ungeduld schürt: Et desque el philósopho escuchó esto una pieça, començó a llorar muy fieramente et ronpió sus paños, et fazía el mayor duelo del mundo. Cuando el rey moço esto vio, fue muy mal espantado et preguntó al philósopho que por qué fazía aquello. Et el philósopho diol a entender que gelo quería negar. Et desque lo affincó mucho, díxol que más quería seer muerto que vivo, ca non tan solamente los omnes, mas que aun las aves entendían ya cómmo, por su mal recabdo, era perdida toda su tierra et toda su fazienda, et su cuerpo despreciado.64

Hier nutzt der Philosoph schließlich eine weitere Schwäche der Jugend: die Tatsache, dass Jugendliche im Umgang mit Emotionen leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden können. Was der König schließlich doch noch von ihm erfährt – und dafür wird die innerste Erzählebene, die Binnenerzählung, aus dem Reich der Tierwelt eröffnet – ist, dass sich die beiden Krähen über die geplante Heirat ihrer Kinder unterhalten und in diesem Kontext über das Phänomen, dass sich ihr Lebensstandard unter der Herrschaft des aktuellen Königs stetig verbessere, was letztlich auch Einfluss auf die Mitgift habe: que, loado a Dios, después que este rey regnara, que eran yermas todas las aldeas de aquel valle, et que fallava ella en las casas yermas muchas culuebras et lagartos et sapos et otras tales cosas que se crían en los lugares yermos.65 Da die Verbesserung dieser Lebensumstände jedoch auf eine Verwüstung des Landes zurückzuführen ist, wird dem König bewusst, was er mit seinem jugendlichen Leichtsinn und seiner Achtlosigkeit angerichtet hat und gelobt Besserung: Cuando el rey moço esto oyó, pesól ende mucho et començó a cuydar cómmo era su mengua en ermar assí lo suyo.66 64 Serés 2006, 87f.; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 94. „Als der Philosoph dies vernahm, hielt er sich ein Weilchen still, dann aber brach er in ein heftiges Weinen aus, zerriß sich die Kleider und zeigte einen übermäßigen Schmerz. Bei diesem Anblick erschrak der König und fragte, weshalb er sich so gebärdete? Der Philosoph that, als wollte er nicht mit der Sprache heraus, da aber der König immer mehr in ihn drang, rief er endlich aus: er wünsche sich lieber den Tod, denn nicht blos die Menschen, selbst die Vögel wüßten es nun schon, daß durch diese schlechte Wirthschaft Land und Gut verloren und seine eigene Person lächerlich geworden sei.“ 65 Serés 2006, 88; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 94. „[D]enn Gottlob! seit dieser König regiert, stehen alle Dörfer in diesem Thale leer, und ich finde in den verlassenen Häusern Schlangen in Menge, und Eidechsen und Skorpionen und anderes dergleichen Gezücht, das in solchen wüsten Orten heckt […].“ 66 Serés 2006, 88; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 95. „Bei diesen Worten wurde der junge König ganz betroffen, und begann einzusehen, wie sehr er gefehlt, das Seinige so zu verwüsten.“

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Für eine subtile Kritik wird also ein mittels Tier- bzw. Krähenstimmen inszeniertes, ironisch gemeintes Herrscherlob entworfen, das den jungen König letztlich zur Selbsterkenntnis führt. Eine gute Herrschaftspraxis setzt hier eine Intervention der Ratgeberfigur im Sinne eines ‚gouverner les signes‘ voraus, wie Biaggini es bezeichnet: „Pour obtenir un bon gouvernement politique de la part du roi, son conseiller a su ‚gouverner les signes‘ ce qui, dans ce cas, revient à les créer en attribuant des signifiés à des croassements. Le philosophe laisse au roi l’entière responsabilité de l’interprétation de ces signes artificieux, dont l’impact est d’autant plus effectif qu’ils se réfèrent de façon indirecte à sa situation“.67 Die Verantwortung für das Erkennen der misslichen Lage und der Notwendigkeit einer Maßnahme gegen den drohenden Zerfall des Reiches liegt somit beim Herrscher selbst. Durch die fingierten Zeichen des Philosophen, das erfundene Lob der Krähen, gelangt der junge König zur Einsicht und schafft es dank der Unterstützung seines alten Ratgebers in kurzer Zeit, die Ordnung in seinem Reich wiederherzustellen: en guisa que en poco tiempo fue su fazienda endereçada, tan bien de su cuerpo commo de su regno.68 Abschließend wird der Inhalt des Exemplums durch Patronio auf die Situation des Grafen Lucanor übertragen und diese subtile Korrektur zur Idealisierung konstruktiver Kritik bzw. Art des Beratens erhoben (catad alguna manera que por exienplo o por palabras maestradas et falagueras le fagades entender su fazienda).69 Ausgehend von diesem Statement Patronios zur idealen Form der Belehrung, welche in den beiden Schlussversen des Exemplums durch die Figur don Johán im Sinne der Notwendigkeit Freude stiftender Momente des Lernprozesses noch einmal überhöht wird (Non castigues moço maltrayéndol, / mas dilo commol vaya plaziéndol.),70 lässt sich dieses einundzwanzigste Kapitel mit de Looze als Schlüsselexemplum des ‚Libro del Conde Lucanor‘ verstehen. Dieser hebt die Ähnlichkeit zwischen der idealisierten Belehrung und dem im Prolog des Werkes kommunizierten ‚literarischen Projekt‘ Don Juan Manuels hervor: „The points of resemblance between Juan Manuel’s discussion of his literary project in the Prologue and Patronio’s recommendations to Lucanor [im Exemplum XXI] are 67 Olivier Biaggini, Le gouvernement des signes. El Conde Lucanor de Don Juan Manuel, Paris 2014, 197f. 68 Serés 2006, 88; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 95. „so daß in kurzer Zeit seine Angelegenheiten, sowohl im Betreff seiner Person, als seines Reiches, wieder vollkommen geordnet waren.“ Der Begriff des regno (Reiches) fällt hier zum ersten Mal. 69 Serés 2006, 89; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 95. „[…] so sucht ihn irgend auf gute Art, durch Beispiele, passende und einnehmende Worte, auf sein eignes Bestes aufmerksam zu machen.“ 70 Serés 2006, 89; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 96. „Statt den Knaben wild zu zücht’gen, / Such ihn milde zu beschwichtgen.“

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numerous enough, in fact, that it is not unreasonable to see Exemplum XXI as a kind of mise en abîme of at least Book I of the CL. The exemplum undoubtedly takes up many of the major themes that characterize the Book I exempla in general: questions of interpretation, of consejo and counsel, and of the relationship between engaño and truth are among the more important.“71 Diese zentrale Stellung gilt ebenso für die Verankerung von Macht und Herrschaft als Objekte der Reflexion in Don Juan Manuels Werk im Allgemeinen und insbesondere im Exemplum XXI. Wenngleich es hierin nicht explizit um poder, sondern vielmehr um das gobernar, um die Herrschaftspraxis geht, ist die Macht dennoch auf implizitem Wege ein großes Thema. Hier wird nicht vordergründig die Macht der jungen Herrscher-, sondern die der älteren Ratgeberfigur hervorgehoben. Im Mittelpunkt steht jedoch zunächst die immense Herausforderung an den Philosophen, die die Unerfahrenheit des den Launen der Jugend erlegenen Herrschers mit sich bringt, und erst in einem zweiten Schritt die Korrektur (des Herrschers), die dem Philosophen ausschließlich vermittels einer List gelingt – eine Maßnahme, die zwar die Autorität und die Würde des Königs untergräbt, doch letztlich zur Selbsterkenntnis führt. Es geht konkret um die Macht, in die Herrschaftspraxis korrigierend einzugreifen, und dadurch an dieser zu partizipieren. Das komplexe Medium dieser Form von Macht stellt sich hier als eine Verschränkung der Instrumentalisierung von Emotionen, Intrige und Wissen dar und lässt sich analytisch an der Interaktion der beiden zentralen Charaktere – des weisen Philosophen und seines königlichen ‚Zöglings‘ – festmachen. Die ‚falschen‘ ( jungen) Ratgeber werden nicht weiter konkretisiert und stattdessen die positive, wenngleich ‚falsche‘ Agenda des alten Ratgebers (des philósopho) fokussiert. Das Wohl des Herrschers, seines Reiches und das dafür notwendige Korrektiv bzw. die durch die List hervorgerufene Selbsterkenntnis des Herrschers stehen im Zentrum des Interesses und legitimieren eine Art ‚mensonge pédagogique‘, die Biaggini in dieser Form der Beratung durch Lüge, List und fingierte Emotionen erkennt: „le bien du monarque et de son royaume exige parfois que le conseiller ait recours à un mensonge pédagogique.“72 Die Macht der Herrscherfigur scheint in der Dualität von cuerpo et fazienda, also in der Komplementarität von Personalität und Transpersonalität, von Körper und von den ‚Angelegenheiten‘ (Hab und Gut) sowie der Interaktion des Herrschers mit den engsten Vertrauten seines Umfeldes, implizit verankert zu sein. In dem Moment, in dem sich der Terminus tierra zu diesem zweipoligen Verständnis von der Macht des Herrschers hinzugesellt (era perdida toda su 71 Laurence de Looze, Manuscript Diversity, Meaning, and Variance in Juan Manuel’s El Conde Lucanor, Toronto 2006, 148f. 72 Biaggini 2014, 244; vgl. hierzu auch 197.

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tierra et toda su fazienda, et su cuerpo despreciado),73 geht es folglich auch um das zur Herrschaft gehörende Reich im territorialen Sinne.74 Im Gegensatz zu der oben behandelten Episode aus dem ‚Buch des Ritters Zifar‘ stehen bei Don Juan Manuel die guten Absichten des Tutors im Vordergrund. Die Tatsache, dass die Figur des Philosophen hier für die konstruktive Kritik an dem jungen Herrscher und mit dem Ziel, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen, auf fingiert geheimes Wissen setzen muss, anstatt ausschließlich auf Weisheiten rekurrieren oder sich der Macht der Redekunst bedienen zu können, zeugt von einer Fokussierung der Beratungsresistenz bzw. der mangelnden Zugänglichkeit des Königs, die es zurückzugewinnen gilt. In diesem Kontext wird die jugendliche Anfälligkeit einem engaño zu erliegen (hinters Licht geführt zu werden) positiv und zwar zugunsten einer Idealisierung der Beratungsform, einer Schärfung der Sensibilität der Ratgeberfigur in den Blick genommen. Als ideales Prozedere für die Wiederherstellung des Vertrauens und der Zugänglichkeit wird hier also vordergründig der Appell an die jugendliche Neugierde (und den Unterhaltungsdrang) des Königs in Szene gesetzt, wobei die Komponente der daraus resultierenden Kritik am Herrscher hier eher sekundär erscheint. Trotz der Tatsache, dass die Absichten des Philosophen hier eigentlich zum Wohle des Königs und seines Reiches dargestellt und damit als Gegenfolie zu der Episode aus dem ‚Zifar‘ zu lesen sind, spiegelt dieses Exemplum, durch die Fokussierung der durch die moçedat begründeten Verblendung des jugendlichen Herrschers, implizit auch eine Tendenz junger Herrscher, den Weisheiten und Strategien von Ratgebern erlegen zu sein, deren Intention möglicherweise auch negativer Natur sein und illegitimen Machtansprüchen entsprechen kann. Auch wenn dieses Exemplum weitgehend biographisch ausgelegt wird,75 handelt es sich hier jedoch vielmehr um eine theoretische und offensichtliche Idealisierung konstruktiver Methoden der Kritik am und Beratung des Herrschers, denn um eine pragmatische und hinter fiktionalen Figuren versteckte Kritik an dem Verhältnis zwischen Don Juan Manuel und Alfons XI. bzw. an dessen Verhalten gegenüber seinem ehemaligen Tutor. Während die Thematisierung von Herrscherkritik und -beratung im Kontext der Nachfolgeproblematik in den anderen beiden oben genannten Exempla des 73 Serés 2006, 88; dt. Übers. von Eichendorff/Fröhlich 2003, 94. „[dass] Land und Gut verloren und seine eigne Person lächerlich geworden sei.“ 74 Zur territorialen Komponente von Juan Manuels’ Machtverständnis vgl. Olivier Biaggini, L’espace de la frontière et la légitimation du pouvoir nobiliaire dans l’œuvre de Don Juan Manuel, in: e-Spania 31 (2018), http://journals.openedition.org/e-spania/28567 (25. 04. 2019). 75 Vgl. hierzu Lacarra 2015; Biaggini 2014, 244f.: „Le roi est, dans ce cas, un tout jeune homme inexpérimenté et Don Juan Manuel projette peut-être ici sa relation avec Alphonse XI pendant la minorité de celui-ci […].“

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‚Libro del Conde Lucanor‘ im (narrativen) Raum orientalischer Höfe – an dem Hof eines rey moro (Exemplum XXIV) und dem der historischen Herrscherfigur Saladin (Exemplum XXV) – verortet ist, wird sie hier hingegen in einem neutralen kulturellen Erzählraum situiert, in die Geschichte über einen jungen Thronfolger und einen älteren Philosophen, seinen Erzieher und Berater, gekleidet, ohne kulturelle bzw. räumliche Zuordnung. Dies ist umso bemerkenswerter, als es – wie Serés in seiner Edition erörtert – aufgrund der orientalischen Erzähltechnik des arco lobulado, der Verschachtelung von Geschichten in der Geschichte sowie der Rolle der Vogelsprache und der Präsenz eines jungen Königs dennoch sehr wahrscheinlich ist, dass dieses Exemplum auf Grundlage eines arabischen Vorbilds entstanden ist.76 Die fehlende kulturelle Zuordnung der Handlung des Exemplums XXI lässt sich durchaus als Zeichen einer Transkulturalisierung des Themas der Nachfolge auf höherer Abstraktionsebene deuten, welche den anderen beiden Exempla als Ausgangspunkt zu diesem Thema vorgeschaltet ist.77 Darüber hinaus steht das Exemplum XXI auf der Figurenebene in komplementärer Beziehung zum Exemplum XLVI (De lo que contesció a un philósopho que por ocasión entró en una calle do moravan malas mugeres), in dem die Figur des muy grant philósopho78 ein zweites Mal verwendet wird. Hier gerät jedoch der Philosoph durch eine Krankheit sowie aufgrund mangelnder Umsicht und Vorausschau (prudentia) selbst auf Abwege, welche sein Ansehen als weiser und tugendhafter Lehrmeister gefährden. Die moralische Botschaft dieses Exemplums, die jene des Exemplums XXI im Rahmen der Konstellation Schüler-Lehrmeister ergänzt, besteht in der Verurteilung durch seine Schüler, die das Gerücht über Sünde und Laster ihres Lehrmeisters höher einordnen als dessen Wissen und Weisheit. Sie glauben ihm nicht, dass er unabsichtlich und unwissentlich in die Gasse der malas mugeres bzw. der unanständigen Frauen geraten war.79 Diesen schlechten Eindruck korrigiert der muy grant philósopho anhand eines kurzen, seinen Schülern gewidmeten Werkes (librete), in dem er über ventura und desventura (Glück und Unglück bzw. Missgeschick) reflektiert, welche einen jeden – sogar einen Philosophen und Lehrmeister unabhängig von Vorsätzen oder Absichten – treffen oder verfehlen können. 76 Serés 2006, 85. 77 Entsprechend der Chronologie der Exempla-Nummerierung. 78 Serés 2006, 188. Hier handelt es sich um eine Figur, die en una villa del reyno de Marruecos (in einer Stadt im Königreich Marokko) lebt. 79 Serés 2006, 189: fue muy fablado et muy tenido a mal, porque aquel philósopho tan onrado et tan anciano entrava en aquel lugar quel era tan dañoso paral alma et paral cuerpo et para la fama („es wurde viel und sehr schlecht darüber geredet, dass jener so ehrenhafte und so alte Philosoph jenen Ort betreten hatte, der für seine Seele, seinen Körper und sein Ansehen so schädlich war.“; meine ÜS).

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Fazit Ungeachtet der divergierenden Perspektive erweisen sich die beiden hier untersuchten Werke – das ‚Libro del Caballero Zifar‘ wie das ‚Libro del Conde Lucanor‘ – anhand einer für die Herrscher- bzw. Herrschaftsnachfolge entscheidenden Konstellation als überaus aufschlussreich für die Fürstenpädagogik, die personale und transpersonale Dimension des minderjährigen Herrschers sowie die Problematik von Loyalität und Verrat, Tugenden und Lastern im Umfeld von Herrschaft. Die unterschiedliche Gewichtung dieser zentralen Spannungsfelder zeigt die Wahrnehmung und Deutung der Nachfolgeproblematik aus zwei verschiedenen Perspektiven, die ihrerseits jedoch gebrochen sind: zum einen, im Fall Don Juan Manuels, aus dem Blickwinkel des Hochadels, dessen theoretische Nähe zum Zentrum der Herrschaft von seiner peripheren (Macht-)Position als adelantado von Murcia, d. h. Verwalter dieses zurückeroberten Reichs, überlagert wird. Aus diesem Kontrast resultiert eine besondere Sensibilität für die räumliche Artikulation sozialer Verhältnisse, wodurch das Nähe- und Distanzverhalten in der Beziehung zwischen dem Philosophen und dem jungen Thronfolger in den Fokus rückt. Das ‚Libro del Caballero Zifar‘ spiegelt zum anderen, wenngleich aus anonymem Blickwinkel, das Umfeld der Regentin María de Molina und damit nicht nur das Zentrum königlicher Macht, sondern gleichzeitig eine weibliche Formen der Machtausübung inkludierende Perspektive80 auf die in den hier betrachteten Exempla männlich repräsentierte Figurenkonstellation. Die Macht der Regentin und ihres minderjährigen Sohnes bzw. Enkels ist jedoch gefährdet,81 u. a. durch Vertreter des Hochadels, die als Berater und Erzieher Einfluss und Macht zu gewinnen hoffen, was die mehrfache und eindringliche Warnung vor übermächtigen und intriganten Tutoren kindlicher bzw. jugendlicher Herrscher in den Exempla des ‚Libro del Caballero Zifar‘ begründet, dessen Autor dabei auf göttliche Intervention als Legitimationsstrategie rekurriert. Im Kontrast zu diesem negativen Portrait der Tutor- bzw. Beraterfigur inszeniert das aus der Peripherie und aus der Feder eines Vertreters des Hochadels stammende ‚Libro del Conde Lucanor‘ die Idealisierung des weisen und didaktisch klugen Beraters und Erziehers, der auf apologetische Art und Weise, d. h. zwecks Verteidigung der eigenen Interessen des Autors (nämlich die Einflussnahme auf den Thronfolger), transkulturell abstrahiert und philosophisch überhöht wird.

80 Vgl. Janice North, El Caballero de Dios y la muy noble reina: María de Molina’s patronage of the Libro del Caballero Zifar, in: Romance Quarterly 63/3 (2016), 107–115. 81 Vgl. Cuesta Torre 2020.

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In den beiden untersuchten Quellentexten wird nicht nur die Figur des jungen Thronfolgers zum Spielball der Macht, vielmehr wird auch das Verhältnis zwischen Thronfolger und Ratgeber selbst zum Objekt im Wechselspiel verschiedener Strategien der Macht – Intrigen, Emotionen, Wissen – und somit im Sinne der Formbarkeit von Wachs entsprechend jeder neuen Interessens- und Machtkonstellation mit anderer Semantisierung wiederbelebt.

Bibliographie Quellen Libro del Caballero Zifar, ed. Cristina González, Madrid 1998. The Book of the Knight Zifar. A translation of El Libro del Cavallero Zifar, ed. u. übers. v. Charles L. Nelson, Lexington 1983. Don Juan Manuel, Libro del Conde Lucanor, ed. Guillermo Serés, Barcelona 2006. Don Juan Manuel, Der Graf Lucanor, übers. v. Joseph von Eichendorff, ed. Harry Fröhlich (Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Übersetzungen I), 18 Bde., Bd. 15/1, Tübingen 2003.

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Die Rolle der Frauen

Diana Ordubadi

Die Hochzeit der ersten gekrönten russischen Zarin Marina Mniszech und die Rolle der Frauen in den Machtverhältnissen Moskowiens

Abstract In May 1606 grandiose celebrations took place in Moscow on the occasion of the wedding of the ruling Tsar Dmitry Ioannovicˇ and his Polish bride Marina Mniszech. The special thing about the ceremonies in the Kremlin was that on her wedding day the bride was not only married to the ruler, but above all, she was crowned as the tsarina of all Russia, by the Russian patriarch Ignatij. This made her the very first woman in Russian history to be blessed to rule, at least formally, as a fully authorized Empress of Muskovy. The article deals with the tragedy of Marina’s fate and the question of her legitimacy. The ceremonies of her marriage and coronation are looked at both from a Catholic and Russian Orthodox perspective. In addition, the causes for the young tsarina’s demonization in the Russian narrative of the 17th century are searched for. In return their Western-style behaviour is set against Muscovites’ patriarchal ideas of a ‘good’ woman. The paper identifies three essential factors that have negatively influenced Marina’s image in the eyes of the Muscovite population: her loyalty to Catholicism and her unwillingness to convert to the Russian Orthodox confession; her unusual dress according to Polish and French fashion, which in Moscow was considered heretical and a witch’s mark; and finally, the young tsarina could not be forgiven at all for the fact that her whole appearance seemed to trample on all Russian ideas about the role of women in the family and in society. Unfortunately, on her arrival in Moscow Marina still lacked any knowledge of Muscovite culture and apparently also the will to understand the way of thinking and the mentality of her new subjects. She did not want to accept a passive role in the Russian state structure and presumed to use her skills and talents with the same self-evidence in public as if she were a man. For this she was finally punished in a cruel way.

Im Mai 1606 fanden in Moskau pompöse Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit des herrschenden Zaren Dmitrij Ioannovicˇ und seiner aus Polen stammenden Verlobten Marina Mniszech1 statt. Das Besondere an den Zeremonien im Kreml 1 Die Schreibweise des Namens erfolgt in diesem Beitrag in der im Deutschen und Englischen etablierten Form: Marina Mniszech. Daneben existieren noch ebenfalls geläufige polnische und russische Schreibweisen: Maryna Mniszchówna, Marianna Mniczech, Maria Juriewna Mniszech, Marina (Marija) Jur’evna Mnisˇek.

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war, dass die Braut an ihrem Hochzeitstag nicht nur mit dem Herrscher vermählt, sondern vor allem als Herrscherin von ganz Russland vom russischen Patriarchen Ignatij gekrönt wurde. Damit wurde sie zur ersten Frau in der russischen Geschichte, die zumindest formal als vollberechtigte Zarin Moskowiens zur Herrschaft gesegnet wurde.2 Bis dahin wurden die Ehefrauen der Herrscher zwar als Zarinnen tituliert, gemeint wurde damit lediglich, dass sie mit ihrem Ehegatten offiziell nach russisch-orthodoxem Recht verheiratet waren. Die Stellung der Frau, auch einer Zarin, war im stark patriarchalisch gesinnten Moskowien klar definiert und schloss keine Funktionen als repräsentative Machtträgerin neben ihrem Ehemann ein. So durfte z. B. Irina Godunova, die Ehegattin des letzten Rjurikiden-Zaren Fedor,3 der Krönung ihres Mannes nicht einmal als Zuschauerin in der Kirche beiwohnen, geschweige denn mit ihm zusammen als Herrscherin gesalbt werden.4 Obwohl die kirchlichen Zeremonien vom Mai 1606 ordnungsgemäß unter Einhaltung aller Regeln der russischen Orthodoxie abgehalten wurden, blieben sie trotzdem in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich und konnten dem frisch gesalbten Herrscherpaar weder Glück noch Segen bringen. Einige Tage nach der Hochzeit wurde Zar Dmitrij infolge einer Bojarenverschwörung am Hofe als Titelbetrüger (samozvanec) entlarvt und bei seinem Fluchtversuch aus dem Kreml getötet.5 Infolge einer durch seinen Nachfolger auf dem Thron, Zar Vasilij Sˇujskij, initiierten ‚Aufklärungskampagne‘ ging er in die Geschichte als der erste Lzˇedmitrij (Pseudodemetrius)6 ein. In dem im ganzen Land anschließend verbreiteten Schreiben aus Moskau wurde er als entlaufener Mönch Grisˇka Otrep’ev bezeichnet, der sich für den bereits 1591 verstorbenen jüngsten Sohn Dmitrij des Zaren Ivan Groznyj ausgegeben und durch diese Lüge den moskowitischen Thron für sich beansprucht hätte, nachdem er den allerhöchsten Verrat begangen hätte, den ein russisch-orthodoxer Christ aus damaliger moskowitischer Sicht begehen konnte, nämlich heimlich zum katholischen Glauben zu konvertieren und mit Unterstützung des Papstes in Rom Pläne geschmiedet hätte, den Ka2 Boris Uspenskij, Car’ i patriarch. Charizma vlasti v Rossii. Vizantijskaja model’ i ee russkoe pereosmyslenie, Moskva 1998, 194. 3 Vgl. L. Aref ’eva/A. Musatov (edd.), Illjustrirovannaja chronologija istorii Rossijskogo gosudarstva v portretach. Reprint izdanija 1909 goda, Moskva 1990, 76–78; Frank Kämpfer, Fedor (I.) Ivanovicˇ, in: Hans-Joachim Torke (ed.), Die russischen Zaren 1547–1917, 2. Auflage, München 1999, 50–52. 4 Vgl. Ruslan Skrynnikov, Boris Godunov, Moskva 1978, 107. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Dittmar Dahlmann in diesem Band. 6 Zum Phänomen der sog. Selbsternannten und zum ersten Lzˇedmitrij vgl. die Beiträge von Daniela Mathuber und Dittmar Dahlmann in diesem Band. Zum ersten Lzˇedmitrij vgl. außerdem unter anderem Helmut NEUBAUER, Pseudodemetrius 1605–1606, in: Hans-Joachim Torke (ed.), Die russischen Zaren 1547–1917, 2. Auflage, München 1999, 70–79; Vasilij Ul’janovskij, Rossijskie samozvancy. Lzˇedmitrij I, Kiev 1993.

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tholizismus in ganz Moskowien einzuführen.7 Lzˇedmitrij wurde damit beschuldigt, eine gänzliche Vernichtung der russisch-orthodoxen Kirche und auch aller altaristokratischen Bojarenfamilien in Moskowien angestrebt zu haben.8 Solche Verbrechen waren aus der Sicht des einfachen moskowitischen Volkes keinem geringeren als dem Teufel persönlich zuzutrauen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass in der Hauptstadt schnell Gerüchte zu kursieren begannen, die Lzˇedmitrij zum Antichrist erklärten.9 Es ist ebenso wenig überraschend, dass seine Ehefrau Marina, die katholisch erzogen wurde und willentlich nie zur Orthodoxie konvertiert hatte, in manchen zeitgenössischen Quellen als Satans Braut bezeichnet oder dass zumindest ihre dämonische Natur betont wurde.

Marina Mniszech aus moskowitischer Sicht des 17. Jahrhunderts Im Mittelpunkt der Beschuldigungen, die teilweise als Narrativ im russischen Volksmund übernommen wurden, stand eben der Vorwurf der Schändung der russischen Kirche durch diese katholische ‚unreine Braut‘ sowie der Verdacht einer bösen Zauberei. Als wichtige Beweise des Ganzen wurden mit jeder Erzählung immer stärker die für die Moskowiter fremdartig erscheinende und prachtvoll inszenierte Ankunft von Marina mit ihrem polnischen Hof in Moskau sowie ihre Krönung und Hochzeit propagiert. In seinem „Vremennik“10, einem zeitgenössischen Bericht über die ‚Zeit der Wirren‘ in Moskowien, vergleicht der russische Djak (d’jak) Ivan Timofeev Marina mit der „Ehegattin der Apokalypse“, die das Land und den wahren Glauben, wenn nicht mit Wasser, dann mit Blut, ertränkte.11 Timofeev interpretierte die heilige Schrift relativ frei, erschuf aber dadurch für seine Zeitgenossen ein einprägsames und vertrautes Bild12, indem er, wohl ohne es überhaupt bewusst zu merken, auf die damals in Moskau geläufigen und aus 7 Vgl. Manifest Carja Vasilija Ivanovicˇa Sˇujskogo o pochisˇcˇenii Samozvancem Grisˇkoju Otrep’evym Rossijskogo prestola, 1606 Ijun. 2, in: Rossijskij Gosudarstvennyj archiv drevnich aktov (RGADA) // Russisches Staatsarchiv der alten Akten, fond 156, opis’ 1, Nr. 82. Abgedruckt in: Sobranie Gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjasˇcˇichsja v Gosudarstvennoj Kollegii inostrannych del (SGGD), 4 Bde., Bd. 2, Moskva 1819, 308–313. 8 Vgl. ebd.: o dannoj im prisjage Pape vvest’ v Rossiju vmesto grecˇeskoj very Rimskuju; o zlodejskom ego byvsˇem namerenii istrebit’ lucˇˇsich Rossijskich bojar […]. 9 Vgl. Dmitrij I. Antonov, Smuta v kul’ture srednevekovoj Rusi. E˙voljucija drevnerusskich mifologem v knizˇnosti nacˇala XVII veka, Moskva 2009, 75. 10 Über das Dokument „Vremennik“ vgl. ausführlicher Sergej F. Platonov, Drevnerusskija Skazanija i Povesti o Smutnom vremeni XVII veka kak istoricˇeskij istocˇnik. Izsledovanie S. F. Platonova, S.-Peterburg 1888, 128–163. 11 Vremennik Ivana Timofeeva, Online-Version: http://www.hrono.ru/libris/lib_t/tim_text3.h tml (25. 05. 2020). Vgl. Antonov 2009, 140. 12 Vgl. Dmitrij I. Antonov 2009, 93.

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der Bibel abgeleiteten Gender-Vorstellungen über eine ‚gute‘ und ‚böse‘ Frau zugriff. Marina wurde zum einen dargestellt als Aspis, eine schlangenartige Kreatur aus der griechischen Mythologie bzw. als Drache, der mit dem Wasser aus seinem Maul die orthodoxe Kirche als „frommherziges Eheweib“ (blagocˇestivaja zˇena) ertränkt.13 Gleichzeitig spielt bei Marinas Beschreibung ein anderes Bild aus der Bibel eine Rolle, nämlich das der „Hure“ (bludnica) bzw. des „gesetzlosen Eheweibs“ (bezzakonnaja zˇena), das laut der in Moskowien verbreiteten Prophezeiung am Ende aller Tage vor der Ankunft des Antichristen auf den Thron kommen sollte.14 Es stellt sich entsprechend die Frage, was im Erscheinungsbild und beim Auftreten Marinas die Moskowiter dermaßen verärgerte, dass die erste gekrönte Moskauer Herrscherin von ihren Untertanen dermaßen gehasst und verflucht werden sollte. Selbstverständlich muss ihre Darstellung im Kontext des im Kreml vollzogenen Machtwechsels gesehen werden. Die neue Regierung und der neue Zar Vasilij Sˇujskij mussten sich entschieden gegen die möglichen Vorwürfe des Mordes an Marinas Ehemann, dem gottgesalbten Herrscher, wehren oder diesen sogar entgegentreten. Deswegen hatten sie im Grunde fast gar keine andere Möglichkeit, als Lzˇedmitrij und seine Ehefrau mit ihm zu verteufeln. Gleichzeitig war die öffentliche Bedeutung einer Frau im politischen System des patriarchalisch gesinnten Moskowien dermaßen gering, dass der Person Marina zuerst keine besondere Bedeutung beigemessen und sie wie alle anderen Frauen der Moskauer Gesellschaft als stilles Objekt männlicher Intrigen wahrgenommen wurde. Wahrscheinlich auch deswegen wurde sie niemals persönlich im Kreml zu den ‚Verbrechen‘ Lzˇedmitrijs verhört. Die ganzen Befragungen richteten sich ausschließlich an ihren Vater Jerzy Mniszech.15 Diese ignorante Einstellung zur Teilhabe der Frauen an der Herrschaft rettete Marina aber 1606 noch das Leben. Denn obwohl sie als Zarin und Herrscherin offiziell gekrönt worden war, kam es Vasilij Sˇujskij nicht einmal in den Sinn, sie als ernstzunehmende Konkurrentin zu betrachten, die irgendwelche legitimen Ansprüche auf den Thron erheben könnte. Andernfalls hätte man sie wahrscheinlich nicht am Leben gelassen. Aber unter den gegebenen Umständen bezeichnete die moskowitische Regierung sie in allen Briefen und Urkunden an den polnischen König nur noch als Tochter des polnischen Adligen Mniszech, und es wurde sogar viel Wert darauf gelegt, sie nicht einmal namentlich zu erwähnen.16 Dadurch wurde Marina und ihrer ganzen Gefolgschaft unmissverständlich klar gemacht, dass eine Frau im moskowitischen Staatsgefüge nur eine passive Stellung einzunehmen hatte. 13 14 15 16

Ebd. Ebd. Vgl. dazu ausführlicher Vjacˇeslav Kozljakov, Marina Mnisˇek, Moskva 2005, 114–116. Vgl. Kozljakov 2005, 133.

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Allerdings schienen es Marina selbst und ihre Familie etwas anders zu sehen. Der Historiker Hartmut Rüß charakterisierte diesen schmerzhaften Zusammenstoß der polnischen und der moskowitischen Vorstellungen über das weibliche Geschlecht mit folgenden Worten: „Es bedarf keiner besonderen Einbildungskraft, um sich vorzustellen, welche Provokation Auftreten und äußeres Erscheinungsbild von Maryna Mniszech, Tochter des Voevoden von Sandomir, Katholikin und Frau des ersten Pseudo-Dmitrij, in der Moskauer Gesellschaft und in Adelskreisen auslöste. Die verwöhnte, luxusliebende Frau, die die moskowitische Kleidung verachtete und ihr Haar, entgegen den russischen Gepflogenheiten, offen trug, führte nach dem Tode Dmitrijs, indem sie ihr politisches Schicksal mit dem Thronprätendenten von Tusˇino und nach dessen Tod (1610) mit dem Kosakenhetman Zaruckij verband, ein abenteuerliches Leben, das von Flucht, dramatischen Verfolgungen und der steten Hoffnung auf Wiedererlangung der Herrschaft geprägt war. Sie war eine gute Reiterin und zeigte sich – eine Ungeheuerlichkeit – in der Öffentlichkeit mit Säbel und Pistolen bewaffnet. Wenn sie im Kerker zu Tode gebracht wurde, so geschah das […] vor allem aus Rache für die als unerträglich empfundene Gesellschaftsprovokation.“17 Zusätzlich zu dem tragischen Tod ihres ersten Ehemannes Lzˇedmitrij I. und seiner misslungenen ‚Affäre‘ mit dem russischen Thron,18 lag ein weiterer wichtiger Grund für die Verteufelung Marinas vor allem in der äußerst westlichen Haltung der jungen Zarin, die durch ihr Gesamtauftreten alle russischen Sitten und Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft auf eine harte Probe stellte. Nicht zu Unrecht fühlte sie sich einerseits als eine rechtmäßige gekrönte Herrscherin des Moskauer Reichs und nahm sich die Freiheit, sich entsprechend zu verhalten. Andererseits aber fehlten ihr jegliche Kenntnisse der moskowitischen Kultur und offenbar auch der Wille, sowohl die Denkweise als auch die Mentalität ihrer neuen Untertanen zu begreifen. Wenn eine solche Naivität in Bezug auf den Moskauer Staat im Falle eines achtzehnjährigen Mädchens, das gehorsam alles erfüllte, was ihr Vater ihr aufgetragen hatte,19 noch leicht zu erklären ist, so war es seitens eines erfahrenen Militärkommandanten wie Jerzy Mniszech und eines gebürtigen Moskowiters wie Lzˇedmitrij I. kaum 17 Hartmut Rüss, Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels, 9.–17. Jahrhundert, Köln 1994, 233–234. 18 Vgl. dazu Dve vozmutitel’nye gramoty Lzˇedmitrija k rossijanam, v prisoedinenii k nemu, ob otlozˇenii Borisa Godunova i o kljatvennom uverenii, cˇto on istinnyj carevicˇ Dmitrij i ob ubezˇdenii vernopoddanych k priznaniju ego dlja prekrasˇcˇenija mezˇduusobnoj vojny, 1604, in: RGADA, fond 197, opis’ 1, Nr. 40, 41. 19 Zum Verhältnis von Jerzy Mniszech und seinen Kindern, mit deren arrangierten Ehen er seine finanzielle Lage sowie seine gesellschaftliche Stellung stets zu verbessern wusste, vgl. ausführlicher Natalia E˙jl’bart, Sem’ja Mariny Mnisˇek. Nesostojavsˇiesja praviteli Rossii, S.Peterburg 2015, 85–94.

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nachvollziehbar und nur noch fatal. Mehrere gravierende Fehleinschätzungen der Moskauer gesellschaftlichen Ordnung, die Marinas Untergang nicht zweifelsohne bedingten, aber in Kombination miteinander auf jeden Fall einleiteten, lassen sich grob in drei eng miteinander verflochtene Komplexe unterteilen. Der erste und wichtigste Fehler bestand in der groben Unterschätzung nicht nur der Machtposition der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) im politischen System Moskowiens, sondern des viel tiefer gehenden Einflusses der ROK auf die Mentalität der ungebildeten, aber sehr gottesfürchtenden einfachen Menschen im Lande. Marina wusste nicht, dass der katholische Glaube in Moskowien sogar als schlimmer angesehen wurde als der Islam. Wie selbstverständlich nahm sie an, dass ihre christliche Konfession in der neuen Heimat toleriert werde, zumal sie einen weltlichen Herrscher heiratete und durch seine uneingeschränkte Macht vor jeglicher Kritik beschützt würde. Hinter dieser Überlegung steckte nicht unbedingt eine Überheblichkeit, sondern das Vertrauen in bestehende Strukturen sowie auf die in Polen bekannte Praxis. So argumentierten auch die polnischen Gesandten Mikołaj Oles´nicki und Aleksander Gosiewski, die zu Marinas Hochzeit im Namen des polnischen Königs Sigismund nach Moskau kamen und sich nach dem Tode Lzˇedmitrijs I. gegen die Vorwürfe der Bojaren verantworten mussten, angeblich die „Vernichtung der ganzen Orthodoxie“ im Sinne gehabt zu haben.20 Sie verwiesen auf einen eventuellen Präzedenzfall aus dem Jahre 1495, der bereits mehr als hundert Jahre zurück lag, nämlich auf die Ehe der Tochter des moskowitischen Großfürsten Ivans III. Elena mit dem litauischen Großfürsten Aleksander Jagiellon´czyk, dem späteren König von Polen.21 Die russisch-orthodoxe Königin des katholischen Polen, Elena Ioannovna, besaß ihre eigene orthodoxe Kapelle in der Krakauer Kathedrale, wo die russischorthodoxe Liturgie regelmäßig abgehalten wurde.22 Logischerweise entzog sich dies dem polnischen Verständnis, warum Marina als Katholikin nicht die gleichen Freiheiten ihrer Religionsausübung in Moskowien genießen dürfte wie Elena damals in Polen. Völlig unbegreiflich blieb es auch für die polnische Seite, wieso die stets von ihnen erwähnte und angestrebte Annäherung der beiden Konfessionen von der russischen Regierung als Bedrohung für die ganze russische Orthodoxie missverstanden wurde. Marinas Vater Jerzy Mniszech ist es nicht einmal bewusst gewesen, dass die kulturell und religiös in sich sehr verschlossenen Moskowiter in ihrer aggressiven Ablehnung der ‚verhassten Lateiner‘ nicht einmal einen klaren Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten sahen. Naiv vermutete der Voevode von Sandomir und redete es seiner Tochter auch ein, dass die Hochzeit zwischen Marina und Lzˇedmitrij zu einer 20 E˙jl’bart 2015, 116. 21 Ebd. 22 Ebd.

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größeren religiösen Toleranz in Moskowien beitragen könnte.23 Stattdessen erntete Marina für die Ergebenheit ihrem katholischen Glauben gegenüber nur die völlige Empörung und den Abscheu des Moskauer Volkes sowie die sich regelmäßig in moskowitischen Quellen wiederholenden Beschimpfungen als „Weib lutherischen Glaubens“24. Letztere Bezeichnung hatte für Moskowiter ungefähr den gleichen Stellenwert wie ‚Hexe‘ (ved’ma) oder ‚böse Zauberin‘ (koldun’ja). Um dieses fast schon märchenhaftes Bild einer bösen Hexe, der vom Volksmund unter anderem die Fähigkeit zugeschrieben wurde, sich nach Belieben in eine Elster zu verwandeln,25 zu untermauern, mussten Marinas Kritiker nicht lange suchen. Denn nachdem sie sich geweigert hatte, ihren katholischen Glauben für die russische Krone abzulegen, beging sie einen zweiten aus moskowitischer Sicht unverzeihlichen Fehler: auch in der Art, sich zu kleiden und sich zu benehmen zeigte sie keinerlei Bemühen, sich der russischen Kultur anzupassen und damit ihrem Reich den gebührenden Respekt zu erweisen. Dadurch dass sie sich zu offiziellen Anlässen weiterhin nach polnischer Mode kleidete, sich erlaubte, in der Öffentlichkeit nach polnischer Etikette zu tanzen, bei Tisch französische Küche bevorzugte und zudem noch mit der Gabel anstatt mit dem in Moskau gebräuchlichen Löffel aß, blieb sie für die Moskowiter eine äußert fremdartige, provokante und verhasste Erscheinung. Zu guter Letzt konnten die neuen Untertanen der jungen Zarin überhaupt nicht verzeihen, dass sie mit ihrem ganzen Auftreten alle russischen Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Familie und in der Gesellschaft mit Füßen zu treten schien. Marinas drittes gravierendes Verschulden lag somit bereits in ihrem Geschlecht und einem unerhört starken Selbstbewusstsein. Denn auch in dieser Hinsicht war der „starke nominelle und immer mehr durchgesetzte Einfluss der orthodoxen Kirche für die Situation der Frauen in Moskowien“ von enormer Bedeutung.26 In der religiös geprägten Schrift „Gespräch des Vaters mit dem Sohn über die weibliche Bösartigkeit“27 aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird z. B. vor einer starken Frau als dem schlimmsten Übel mit eindeutigen Worten gewarnt:28 „Wehe der Stadt, in der eine Frau die Macht hat, wehe auch dem Haus, in dem die Frau herrscht, Böses wird dem Manne wider23 Ebd. 24 Vgl. dazu Okruzˇnaja Gramota ot Caricy inokini Marfy Feodorovny k voevodam Sibirskich gorodov: o prel’sˇcˇenii eja Lzˇedmitriem Otrep’jevym, in: Sobranie Gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjasˇcˇichsja v Gosudarstvennoj Kollegii inostrannych del (SGGD), 4 Bde., Bd. 2, Moskva 1819, 306–308, hier 306. 25 Kozljakov 2005, 5. 26 Nada Bosˇkovska, Die russische Frau im 17. Jahrhundert, Köln u. a. 1998, 414. 27 Vgl. Ljubov’ V. Titova, Beseda otca s synom o zˇenskoj zlobe, Moskva 1987. Zit. in Übersetzung von Rüss 1994, 230. 28 Vgl. Rüss 1994, 230.

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fahren, der seiner Frau gehorcht.“29 Öfters betonte die Kirche die Unterordnung der Frau unter den Mann.30 Entgegen solchen moskowitischen Vorstellungen kam es Marina jedoch nicht einmal in den Sinn, dass sie nur ein bloßes Objekt der politischen Praxis sein könnte. Das Bestreben ihrer Familie war es, aus ihr ein anerkanntes Objekt der Politik zu machen, was eine eigenständige Krönung, einen eigenen zarischen Thron neben ihrem Ehemann während formaler Anlässe und viele weitere – aus polnischer Sicht harmlose – Verstöße gegen moskowitische Traditionen bekräftigen sollten. Und wiederum spielte hier eine gravierende Unkenntnis der russischen Mentalität seitens der jungen Zarin (und ihres Vaters) eine fatale Rolle. Ihr Verhalten wurde, wie Hartmut Rüß es zutreffend formulierte, als „unerträgliche Gesellschaftsprovokation“31 empfunden, denn „Frauen, die sich aktiv in die Politik einmischten, hatten keinen guten Ruf, und über sie kursierten allerlei Verdächtigungen und Beschuldigungen.“32 Dabei hätte in dieser Hinsicht etwas mehr Fingerspitzengefühl und zurückhaltendes Taktieren bestimmt mehr erbringen können. Denn die Tatsache, dass es in der moskowitischen Gesellschaft nicht üblich war, Frauen öffentlich in den Mittelpunkt des politischen Geschehens zu stellen, bedeutete trotzdem nicht, dass es für hochadlige Damen unmöglich war, aus dem Hintergrund die Fäden zu ziehen und teilweise schleichend eigene Einflusspositionen zu verbessern. So erhielt z. B. die Zarin Irina Fedorovna, die leibliche Schwester von Boris Godunov und die Ehefrau des letzten Rjurikiden-Zaren Fedor, als erste in der moskowitischen Staatspraxis noch als Ehegattin des herrschenden Zaren eine formale Funktion im administrativen Bereich: als ‚Erstberaterin‘ (pervosovetnica) ihres Zarengatten nahm sie an den Bojarenbesprechungen der Staatsangelegenheiten teil.33 Auf diese Weise versuchte ihr Bruder Boris Godunov langsam und vorsichtig den Weg für die Ernennung Irinas zur alleinigen Herrscherin nach dem Tode Fedors zu ebnen. Dennoch ist seine Rechnung nicht aufgegangen. Nach dem Tode Fedors wurde Irina tatsächlich vom Patriarchen Iov zur Selbstherrscherin erklärt, doch schon einige Tage später wurde sie von der Bojarenduma inoffiziell dazu gezwungen, auf den Thron zu verzichten und sich ins Kloster zurückzuziehen.34 Aus der kirchlich geschützten Position als ‚Zarin-

29 Titova 1987, 328. Zit. nach deutscher Übersetzung von Rüss 1994, 230. ˇ astnaja zˇizn’ 30 Bosˇkovska 1998, 414; vgl. dazu ausführlicher auch Natal’ja Pusˇkareva, C russkoj zˇensˇcˇiny v Drevnej Rusi i Moskovii. Nevesta, zˇena, ljubovnica, Moskva 1997. OnlineVersion unter: https://www.booksite.ru/fulltext/life/ofw/oman/1.htm#2 (20. 06. 2020). 31 Rüss 1994, 234. 32 Ebd., 232. 33 Sergej Platonov, Moskva i Zapad v XVI–XVII vekach, Leningrad 1925 / Boris Godunov, Petergof 1921, Reprint der beiden Werke, Moskva 1998, 244. 34 Vgl. Diana Ordubadi, Die Berufung zur Herrschaft 1598 und die Legitimation des Zaren Boris Godunov, in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herr-

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Nonne‘ heraus konnte sie allerdings anschließend durch ihren Segen einen Beitrag zur Legitimation von Boris Godunov beisteuern.35 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die Klöster in Moskowien für viele Frauen nicht nur als Gefängnis dienten,36 sondern auch einen geschützten sozialen Entfaltungsraum bieten konnten. Allerdings war die jeweilige Einrichtung der Lebensbedingungen für einzelne Nonnen (und Mönche) sehr stark von den Umständen abhängig, unter denen sie ins Kloster kamen. Es bleibt aber eine erwiesene Tatsache, dass moskowitische Frauen „im rechtlichen und sozialen Raum als relativ gut geschützt und gesichert gelten konnten,“37 solange sie sich nur an die bestehenden Verhaltensregeln hielten und sich in der Öffentlichkeit als still und fromm zeigten. Denn sofern die Frauen „nicht dem Bild der frommen, bescheidenen, schweigsamen, gehorsamen und demutsvollen Gattin […] entsprachen, galten sie als Inkarnation des Bösen, Leichtfertigen, Hinterlistigen, Grausamen, Sündhaften.“38 Dabei entsprach Marina mit ihrem katholischen Glauben, den als verführerisch geltenden offenen Haaren, einer ungewöhnlichen und freizügigen Kleidung sowie mit ihrer guten weltlichen Erziehung und Ausbildung, nach der sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte, fast zu perfekt einer in Moskowien etablierten Vorstellung von einer ‚schlechten Frau‘. Das entsprechende Konzept ist im ‚Domostroj‘39, eine Art Sitten- und Verhaltenskodex, zu finden, das in der Herrschaftszeit Ivans IV. vom Protopopen Silvestr verfasst wurde und in Kraft trat.40 Demnach zeichneten sich ‚schlechte Frauen‘ durch vier Grundcharakteristika aus: „sie sprachen zu viel, sie waren heidnisch, häretisch […], sie entfalteten sexuelle Aktivitäten und verführten die Männer und waren schließlich schlechte Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen, die Schande und Unfrieden ins Haus brachten“.41 Wie im Falle von Irina Godunova widersprach es jedoch keineswegs der patriarchalischen moskowitischen Vorstellung von einer ‚guten Frau‘, wenn weibliche Verwandte der Zaren oder der Thronanwärter als passive Legitimationsinstrumente für das männliche Geschlecht agierten. Ihre Auftritte in der Öffentlichkeit in solchen Situationen wurden jedoch stets im Vorfeld detailreich –

35 36 37 38 39 40 41

schaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613, Göttingen 2019, 179–197, hier 182. Vgl. dazu ausführlicher ebd., 188. Zum Phänomen der Klosterhaft im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von Ekaterina Makhotina in diesem Band. Rüss 1994, 234. Ebd., 230. Vgl. über ‚Domostroj‘ ausführlicher unter anderem Gerhard Birkfellner, Domostroj (Der Hausvater). Christliche Lebensformen, Haushaltung und Ökonomie im alten Rußland, Osnabrück 1998, Vladimir Kolesov, Domostroj, S.-Peterburg 1994. Bosˇkovska 1998, 415. Ebd.

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wiederum von Männern – inszeniert und blieben immer nur sehr kurzfristiger Natur.42 So musste z. B. auch Marija (Marfa) Nagaja, die letzte, siebte Ehefrau Ivans IV. Groznyj und Mutter des echten carevicˇ Dmitrij, zuerst öffentlich den ersten Lzˇedmitrij als ihren wie durch ein Wunder geretteten Sohn ‚wiedererkennen‘ und dadurch legitimieren.43 Nach seiner Ermordung wandten sich die Bojaren44 und konkret Vasilij Sˇujskij wiederum mehrmals an sie, damit sie ihre Anerkennung des falschen Zaren widerrief. Schließlich wurde in ihrem Namen eine umfassende Urkunde „über ihre Verführung durch Lzˇedmitrij Otrep’ev“45 verfasst, die an mehreren öffentlichen Plätzen vor den Kirchen nicht nur in Moskau, sondern in vielen anderen russischen Städten vorgelesen wurde. Darin bestätigte Nagaja nun wieder, dass ihr echter Sohn Dmitrij noch als Jüngling gestorben sei und dass sie den gekrönten Lzˇedmitrij niemals für ihren Sohn gehalten habe, sondern von diesem nur bedroht und eingeschüchtert worden sei,46 wofür sie nun Buße zu tun bereit sei und so vom gütigen, ‚gottgewollten‘ Zaren Vasilij Sˇujskij begnadigt wurde.47 Auf diese Weise wurde Marija Nagaja zur Legitimation zweier russischer Zaren in Folge hinzugezogen: sowohl Lzˇedmitrij als auch sein Henker und Nachfolger Vasilij Sˇujskij konnten sich schließlich während ihrer Zeit auf dem Thron auf ihr Wort berufen. Nach dem Auftauchen des zweiten Lzˇedmitrij in der politischen Arena Moskowiens wurde eine ähnlich legitimierende Rolle auch Marina Mniszech angeboten, die in der bereits durch den ersten Lzˇedmitrij mit seiner Pseudo-Mutter erprobten Szenerie nun ihren erneut wie durch ein Wunder überlebenden Ehemann anerkennen und legitimieren musste.48 Sie tat es zwar, wollte aber dafür auf keinen Fall wieder in den Hintergrund treten. Die offiziell als russische Selbstherrscherin gesalbte Marina sah nämlich nach dem Vollzug dieser sakralen Zeremonie keinerlei Anlass, sich bedeckt zu halten, und betrachtete ihre Ansprüche auf den russischen Thron in mehr als nur einer Hinsicht als gerechtfertigt.

42 Vgl. dazu unter anderem Isaiah Gruber, The ‚Messianic‘ Idea of Herrschaft in the Time of Troubles, in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613, Göttingen 2019, 199–223, hier 214. 43 Vgl. Vjacˇeslav Kozljakov, Marina Mnisˇek, Moskva 2005, 46. 44 Vgl. Kozljakov 2005, 108. 45 Okruzˇnaja Gramota ot Caricy inokini Marfy, in: SGGD 1819, 306. 46 Vgl. Okruzˇnaja Gramota ot Caricy inokini Marfy Feodorovny in: SGGD 1819, 307. 47 Vgl. Manifest Carja Vasilija Ivanovicˇa, in: RGADA, fond 156, opis’ 1, Nr. 82, list II. 48 Vgl. Kozljakov 2005, 178–179.

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Die Hochzeit in Krakau Im Folgenden wollen wir uns genauer Marinas Hochzeit und ihre Krönung anschauen, um die Begründung ihrer eigentlichen Legitimation schrittweise nachzuvollziehen, aber auch um die Ereignisse aus Marinas Perspektive zu erörtern und somit einen besseren Zugang zu ihrer Verhaltensweise zu bekommen. Für das allgemeine Verständnis von Marinas Position ist es wichtig zu erwähnen, dass zu der Zeit ihrer Hochzeit in Moskau sie und Lzˇedmitrij bereits seit einigen Monaten nach katholischem Brauch verheiratet waren. Am 29. November 1605 (neuer Stil) fand ihre Trauung in Krakau in einer katholischen Kirche statt: stellvertretend für den Zaren nahm sein Gesandter Afanasij Vlas’ev an der Zeremonie teil, die Trauung selbst wurde von Kardinal Bernard Maciejowski vollzogen.49 Aus russischer Sicht konnte dieses Ritual aber nur als eine Verlobung gelten, die in der russisch-orthodoxen Kirche zu Beginn des 17. Jahrhunderts von der Trauung vollständig getrennt war, während in der katholischen Kirche die beiden Riten bereits vereint wurden.50 Entsprechend zweideutig verhielt sich Lzˇedmitrij auch in der Sache, indem er seine polnischen Verwandten und die russischen Bojaren jeweils das glauben ließ, was ihren jeweiligen Vorstellungen am meisten entsprach. So bezeichnete er die bevorstehende Zeremonie in Krakau in seinem Erlass an den russischen Sekretär Jan Bucˇinskij, den er im Herbst 1605 für die Verhandlungen mit dem Vater der Braut nach Polen abgesandt hatte, nur als obrucˇenie (dt.: Verlobung).51 In seinen Briefen an Jerzy Mniszech ab Dezember 1605 nannte er aber Marina nur noch seine „Ehefrau“.52 Die Familie Mniszech ging aber im allgemeinen Titelgebrauch noch weiter und scheute nicht davor zurück, Marina seitdem gegenüber der polnischen Aristokratie als Zarin Moskowiens zu bezeichnen.53 Während also die Krakauer Zeremonie aus moskowitischer Sicht keine besondere Bedeutung hatte, wurde das Fest – wie sich das aus polnischer Sicht auch gehörte – als eine gültige und pompöse Hochzeit unter aktiver Teilnahme des polnischen Königs Sigismund III. zusammen mit seinem Hof sowie den obersten kirchlichen Rängen Polens organisiert. 49 Vgl. Uspenskij 1998, 188, ausführliche Beschreibung dieser Hochzeit vgl. bei Ceremonial ili opisanie vencˇanija posla velikogo knjazja Moskovskogo, Dimitrija Ivanovicˇa, s docˇer’ju Sendomirskogo voevody Mnisˇka, deviceju Marinoj, v Krakove 1605 g., 29 nojabrja, in: Russkaja istirecˇeskaja biblioteka, izdavaemaja Archeograficˇeskoju komissiej (RIB), 40 Bde., Bd. 1, S.-Peterburg 1872, stolbec 51–72; Kozljakov 2005, 52–61. 50 Vgl. Uspenskij 1998, 188. 51 Ebd. 52 Gramota Lzˇedmitrija Otrep’eva Sendomirskomu Voevode Juriju Mnisˇku, in: SGGD, 4 Bde., Bd. 2, Moskva 1819, 254–255, hier 254. 53 Vgl. dazu unter anderem Vjacˇeslav Kozljakov (ed.), Dnevnik Mariny Mnisˇek, S.-Peterburg 1995, 31. [Im Folgenden zitiert als Dnevnik Mariny].

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Man sollte sich einfach vor Augen führen, wie das Ganze auf Marina selbst wirken musste. Alle, die ihr lieb und teuer waren, alle Menschen, deren Meinung und Würdigung sie persönlich und aufgrund ihrer Erziehung wertschätzte, waren bei dieser Hochzeit anwesend. Der Tag der Trauung in Krakau kann daher als ihre Sternstunde in der Heimat gelten. Als Braut trug sie ein elegantes weißes Seidenkleid, geschmückt mit Perlen und anderen Edelsteinen; das Haar war offen mit mehreren Perlen in den Strähnen, die auf ihrem Hinterkopf in einer Perlenkrone zusammenliefen, was wahrscheinlich Marinas herrschaftliche Zukunft symbolisieren sollte.54 Als ihre Trauzeugin agierte die leibliche Schwester König Sigismunds, die schwedische Prinzessin Anna.55 Dabei wurde der Braut mehrmals unmissverständlich klargemacht, was die polnische Heimat und auch der Papst in Rom von ihr als moskowitische Zarin erwarteten. Die Dichter Jan Z˙abczyc, Jan Jurkowski und Stanisław Grochowski, beauftragt vom Vater der Braut, priesen in höchsten Tönen das Bündnis „zweier großer Völker – des polnischen und moskowitischen – vertreten durch Zar Dmitrij Ivanovicˇ und Marina, die Zarin Moskowiens.“56 Der Kanzler des Großfürstentums Litauen Lew Sapieha sprach in seiner Eröffnungsrede davon, dass eine polnische Frau (wie Marina) stets würdig sei, eine herrschaftliche Ehre und Krone zu tragen, denn Polen habe Europa bereits mehrere Herrscherinnen schenken können.57 Kardinal Bernard Maciejowski betonte in seiner Ansprache, dass durch die vollzogene Trauung Marina „als gehorsame Tochter ihres Vaters den Ruhm nicht nur ihrer eigenen Familie, sondern des ganzen Königreichs Polen vermehren werde, durch sie sollte die Freundschaft des polnischen Königs mit dem russischen Zaren erstarken sowie das Bündnis beider Staaten aufblühen.“58 Das Ganze musste sich für Marina als eine große Ehre und beinahe als eine besondere Auserwähltheit anfühlen. Es wurde ihr aufgetragen, als Polin und als Trägerin ihres Glaubens nicht nur als Garantin des politischen Friedens zwischen Moskowien und ihrer Heimat zu agieren, sondern eben auch zur Annäherung bzw. zu einem Dialog zwischen zwei christlichen Konfessionen beizutragen. An der Festtafel erhob Sigismund III. einige Male sein Glas auf die Gesundheit von Marina, der neuen moskowitischen Zarin.59 In seiner Ansprache erläuterte der König noch einmal die ihr nun auferlegte Mission: niemals dürfe sie ihre Heimat vergessen, wo sie erzogen und geehrt worden sei; ihre Aufgabe sei es, ihren von 54 55 56 57 58

Vgl. Kozljakov 2005, 53. Ceremonial, in: RIB, Bd. 1, stolbec 52. Zit. nach Kozljakov 2005, 52; vgl. dazu auch E˙jl’bart 2015, 106–107. Vgl. Ceremonial, in: RIB, Bd. 1, stolbec 56. Zitiert und übersetzt nach Kozljakov 2005, 55. Zur Position des Kardinals bezüglich der Ehe zwischen Marina und Lzˇedmitrij vgl. auch E˙jl’bart 2015, 109. 59 Vgl. Ceremonial, in: RIB, Bd. 1, stolbec 62.

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Gott gegebenen Gemahl stets zur Nachbarschaftsliebe und Freundschaft gegenüber Polen zu leiten und das Wohl des Königtums im Sinn zu behalten; ihren Kindern sollte Marina die Liebe zu polnischen Bräuchen und die Freundschaft mit dem polnischen Volk beibringen.60 Diese Worte sollen einen besonderen Eindruck bei der jungen Braut hinterlassen haben, denn Tränen traten in ihre Augen, und sie kniete ergeben vor Sigismund nieder.61 Dass diese Flut von schönen Reden zumindest teilweise nur der feierlichen Rhetorik ihrer Hochzeit geschuldet war, mag Marina zwar gewusst haben, allerdings konnte sie kaum ahnen, dass der gleiche König Sigismund, der sie gerade so väterlich angewiesen hatte, in einer kritischen Situation keine zwölf Monate später sich von ihr sowohl vor seinem Sejm als auch vor den russischen Gesandten des Zaren Vasilij lossagen und jegliche Teilnahme an ihrer Hochzeit und an ihrem Schicksal leugnen würde.62 Aber an diesem Tag schienen alle wirklich ergriffen und zudem sehr fröhlich zu sein. Marina und Sigismund eröffneten gemeinsam den Ball, danach wurde viel getanzt. Den Vertreter ihres frisch vermählten Ehemannes, Afanasij Vlas’ev, schien Marina dabei kaum zu beachten. Da es Vlas’ev nach moskowitischem Brauch streng untersagt war, Marina als Braut bzw. Ehefrau seines Zaren anzufassen, konnte er ihr auch beim Tanzen keine Gesellschaft leisten. Er weigerte sich sogar, am gleichen Tisch wie Marina zu sitzen, da dies ebenfalls das russische Protokoll verletzen würde.63 Schon während der Zeremonie führte die Diskrepanz zwischen den russischen und polnischen Sitten zu einigen Peinlichkeiten. Nicht einmal beim Ringtausch durfte Vlas’ev die Braut berühren, daher übergab er den Brautring aus seiner Schatulle dem Kardinal, der Marina diesen ansteckte; den Ring von Marina für ihren Ehemann erhielt Vlas’ev ebenfalls vom Kardinal und ließ ihn sofort in der Schatulle verschwinden.64 Obwohl das Verhalten des moskowitischen Diplomaten einerseits gut nachvollziehbar war, denn er bemühte sich lediglich um die Einhaltung der russischen Gepflogenheiten und Sitten,65 sah das Ganze für die polnische Gesellschaft äußerst verklemmt, belustigend und absolut unkultiviert aus. Der negative Ein60 61 62 63

Vgl. ebd., stolbec 67. Vgl. Kozljakov 2005, 60. Vgl. ebd., 133. Vgl. Pis’mo k Samozvancu Otrep’evu ot Sendomirskogo voevody Jur’ja Mnisˇka. Pisano 1605, dekabrja 25, in: SGGD, 4 Bde., Bd. 2, Moskva 1819, 241–245, 243; Nakaz, dannyj ot Lzˇedmitrija Otrep’eva sekretarju Janu Bucˇinskomu, otpravlennomu k voevode Sendomirskomu Jur’ju Mnisˇku, s predlozˇeniem o delach, kasajusˇcˇichsja do nevesty ego Mariny Mnisˇkovoj, in: SGGD, 4 Bde., Bd. 2, Moskva 1819, 228–229, 229. 64 Vgl. Ceremonial, in: RIB, Bd. 1, stolbec 58. 65 Vgl. dazu ausführlicher Nakaz, dannyj ot Lzˇedmitrija Otrep’eva, in SGGD 1819, 229; Nikolaj Karamzin, Istorija gosudarvsta Rossijskogo, Kniga III, Moskva 1989, stolbec 151.

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druck wurde dadurch untermauert, dass, obwohl Vlas’ev selbst sich stets gut benommen und fast gar nichts getrunken hatte, die restlichen Mitglieder der russischen Gesandtschaft dadurch aufgefallen waren, dass sie schnell betrunken und laut wurden, das Essen von den Tellern mit den Fingern griffen und sich in den Mund stopften.66 Dabei wurden ihnen wohl von den Polen einige Fuchshüte und mit Edelsteinen bestickte Mützen gestohlen. Nachdem sie aber versucht hatten, sich bei Vlas’ev zu beschweren, befahl er ihnen, zu schweigen und das Thema nicht mehr zu erwähnen.67 Bei der Zeremonie in Krakau kam es somit nicht einmal ansatzweise zu einer tatsächlichen Annäherung zwischen der polnischen und der moskowitischen Kultur, wobei das aufrichtige Bestreben des Gesandten Vlas’ev betont werden soll, sowohl den guten Willen als auch die große Bewunderung seines Zaren für polnische Bräuche, aber auch die für eine moskowitische Zarin angemessenen Verhaltensregeln der Familie Mniszech zu vermitteln. All seine Anstrengungen wurden allerdings ignoriert und belächelt, während Marina in ihrer eigenen heilen Welt noch etwas weiterleben durfte. Dabei begriff sie nicht einmal, dass ihr Tanzen bei der eigenen Hochzeit oder auch ihre Weigerung, an einem eigenen Tisch zu dinieren, – wie es sich für die ‚gute‘ Braut eines Moskowiters gehörte – in den Augen ihrer neuen Untertanen zu einem empörenden unsittlichen Verhalten gehörte. Durch ihre in Krakau vollzogene Trauung glaubte sie fest daran, bereits verheiratet zu sein. Die Trauung in Moskau nach russisch-orthodoxem Recht war für sie dagegen in jeder Hinsicht fremd und dürfte für sie innerlich keine besondere Bedeutung gehabt haben, was selbstverständlich nicht von der Zeremonie der Krönung behauptet werden kann.

Krönung und Trauung in Moskau Da aus polnischer Sicht Lzˇedmitrij und Marina bereits verheiratet waren, betrachteten die Polen die Zeremonie der offiziellen Krönung Marinas nach ihrer Ankunft in Moskowien als besonders wichtig, um ihren bereits mehrmals betonten Status als russische Zarin rechtlich zu bekräftigen und zu manifestieren. Aus russischer Sicht dagegen war die Zeremonie der Trauung nach russischorthodoxem Ritus besonders relevant, um die ausländische Braut überhaupt als gesalbte Ehegattin des russischen Selbstherrschers anerkennen zu können. Dem Papst in Rom lag viel daran, dass Marina Katholikin blieb, während es für die Moskowiter unvorstellbar war, und Moskau auf der Konversion Marinas zur russischen Orthodoxie bestand, bevor die Trauung in einer russischen Kathe66 Kozljakov 2005, 61. 67 Ebd.

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drale überhaupt möglich sein würde.68 Die ganze Situation verursachte somit viele konfessionelle Schwierigkeiten, die Lzˇedmitrij mit Unterstützung des ihm treu ergebenen Patriarchen Ignatij69 nun lösen musste. Aus dem auf den ersten Blick unlösbaren Dilemma wurde schließlich eine einfallsreiche Lösung gefunden, indem die Krönung Marinas als Herrscherin unmittelbar, aber trotzdem noch vor der Trauung mit Lzˇedmitrij angesetzt wurde.70 Unter normalen Umständen wäre natürlich eine umgekehrte Reihenfolge zu erwarten gewesen. Diese strukturelle Umstellung bot aber die Möglichkeit, die vollzogene Segnung in der russisch-orthodoxen Kirche so zu deuten, dass beide Seiten – sowohl die katholische als auch die moskowitische – zufrieden gestellt werden sollten: für die Polen stellte es sich so dar, dass Marina zur russischen Zarin wurde und katholisch blieb, während von der russischen Seite es so verstanden wurde, dass Marina zum russisch-orthodoxen Glauben konvertierte.71 Eine Schlüsselrolle dabei spielte der Ritus der Myronsalbung (miropomazanie), den Marina bei der Krönung empfing.72 Einerseits sah es wie eine typische ‚Myronsalbung zur Herrschaft‘ (miropomazanie na carstvie) aus, die nach alter russischer Tradition im Rahmen der Krönung erfolgte. Andererseits aber galt diese Myronsalbung in der russischen Orthodoxie als ein grundlegendes Ritual der Vermittlung der Gaben des Heiligen Geistes, durch das die empfangende Person automatisch und mit absoluter Kraft in die russisch-orthodoxe Kirche aufgenommen wurde.73 Offensichtlich wurde Marina in dem Moment russisch-orthodox, ohne es überhaupt zu wissen und daher auch ohne aufzuhören, katholisch zu sein. Und in der Tat wurde die an Marina vollzogene ‚Myronsalbung zur Herrschaft‘ nicht nur 1606 von offizieller kirchlicher Seite in Moskau als das Sakrament der Eingliederung in die russische Orthodoxie gedeutet, sondern auch von russischen Kirchenhistorikern des späten 19. Jahrhunderts als solches bestätigt.74 Da jedoch der ganze Umgang mit der Situation absolut einmalig in Moskowien war, wollten sich nicht alle Zeitgenossen von solch einer ungewöhnlichen Anwendung des Kirchenrechts überzeugen lassen. Allgemeiner Konsens bestand darüber, dass es auf jeden Fall besser gewesen wäre, Marina auf die unumstrittene Weise nach russisch-orthodoxem Ritus neu taufen zu lassen.75 Da dies jedoch allen Vereinbarungen mit der Familie der Braut 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Uspenskij 1998, 192. Vgl. Platonov 1888, 153. Uspenskij 1998, 192. Vgl. ebd., 195. Vgl. ebd., 194. Ebd., 209. Vgl. ebd., 196; Karamzin 1989, stolbec 159. Vgl. Uspenskij 1998, 196; Karamzin 1989, stolbec 152.

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und mit dem Papst in Rom widersprach, griff Lzˇedmitrij zu anderen Methoden, die zumindest einen Teil der russischen Bevölkerung hätten überzeugen können, Marina als ihre Herrscherin zu akzeptieren. So sollte Marina z. B. nach ihrer Ankunft in Moskau zunächst acht Tage lang im Kloster Voznesenskij in der Obhut ihrer ‚Schwiegermutter‘ Maria Nagaja verbringen.76 Die ‚Zarenmutter‘ sollte ihre künftige ‚Schwiegertochter‘ auf die Trauung in einer orthodoxen Kathedrale vorbereiten sowie ihr alle Gepflogenheiten der weiblichen Rolle am moskowitischen Hofe beibringen.77 Als Marina das Kloster betrat, war sie nach französischer Mode in ein weißes, mit Edelsteinen und Perlen geschmücktes Samtkleid gekleidet,78 das verständlicherweise vor dem Hintergrund der asketisch-orthodoxen Institution völlig unpassend wirkte. Selbstverständlich durfte die aufrichtig gläubige Zarenbraut hier auch keine katholischen Priester und Geistlichen empfangen, die sie auf ihrem ganzen Weg aus Polen nach Moskowien begleiteten.79 Den Schock einer verwöhnten jungen Frau kann man sich unter diesen Umständen gut vorstellen. Auch das Klosteressen lag ihr schnell im direkten und im übertragenen Sinne schwer im Magen. Um seiner Braut die Zeit zu erleichtern, schickte jedoch Lzˇedmitrij gleich seine Köche ins Klöster und dieses Problem wurde beseitigt.80 Darüber hinaus überschüttete er Marina mit Geschenken, eins wertvoller und prächtiger als das andere: Schatullen mit Edelsteinen und Perlen, märchenhaft geschmückte Kutschen und prächtige Pferde – das alles wurde Marina immer wieder zugeschickt und zur Verfügung gestellt.81 In der Zwischenzeit fand beim Zaren der Empfang von Marinas Verwandten statt, bei dem der Hofmeister Martin Stadnickij erneut die offizielle Freude der polnischen Seite über das Bündnis von Lzˇedmitrij und Marina als „Einigungssymbol zweier christlicher Völker im erfolgreichen Kampf gegen basurmane (Muslime, Ungläubige)“ zum Ausdruck brachte.82 Dieses Argument der Annäherung zweier christlicher Konfessionen gegenüber der Gefahr einer fremden Religion, einer viel schlimmeren bzw. fremderen Macht, funktionierte tatsächlich eine Zeitlang. Doch es lag an Marina selbst, ihr Entgegenkommen gegenüber der moskowitischen Kultur eindeutiger zu demonstrieren. Unter anderem musste sie ihren für Orthodoxe heidnischen Namen ablegen, was in den offiziellen Unterlagen auch geschah: während der gesamten Zeremonien wurde sie

76 77 78 79 80 81 82

Vgl. Kozljakov 2005, 85. Ebd., 81; Karamzin 1989, stolbec 153–154. Ebd., 84; Karamzin 1989, stolbec 157. Ebd., 85. Vgl. Dnevnik Mariny, 52. Vgl. z. B. ebd., 46, 52. Ebd., 46.

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stets nur als Maria Jur’evna bezeichnet.83 Aber die wichtigste Debatte drehte sich wiederum um die Frage ihrer Bekleidung. Einen Tag vor der Hochzeit gab es einen großen Streit über die Kleidungsfrage zwischen dem Zaren und seinen Bojaren. Die moskowitische Seite forderte, dass Marina während der Krönung und Trauung entsprechend den russischen Traditionen angezogen sein sollte, während Lzˇedmitrij seiner Ehefrau alle Freiheiten gewähren wollte, sich auch an diesem wichtigen Tag nach der polnischen Mode zu kleiden.84 Das ging entschieden zu weit, und Marina wurde schließlich gezwungen, ein für eine moskowitische Zarin passendes Kleid zu tragen. Es muss angemerkt werden, dass unter moskowitischer Kleidung für die Herrscherin ein traditionelles zarisches Gewand verstanden wurde, das nicht nur zum offiziellen Zeremoniell in Kreml gehörte: mit diesem wurde sogar eine sakrale Bedeutung der Herrschaftssegnung verbunden.85 Und so erschien Marina am Tag ihrer Krönung im Kreml nach russischer Mode in einem prächtigen kirschfarbenen Samtkleid, dicht bestickt mit Edelsteinen und Perlen.86 Wie unwahrscheinlich das aus heutiger Sicht auch klingen mag, so wirkte diese äußerliche Verwandlung aus einer nach französischer Mode angezogenen Ausländerin, die acht Tage zuvor ein russisches Kloster betreten hatte, in eine nach russischem Brauch gekleidete Zarenbraut auf das einfache Volk beruhigend und ließ es sogar annehmen, dass Marina den russisch-orthodoxen Glauben annähme.87 Wie bereits erwähnt, wurde Marina Mniszech an diesem Tag zur ersten gekrönten Person weiblichen Geschlechts in der russischen Geschichte. Die zweite wurde Katharina I., die 1724 von ihrem Ehemann Peter I. gekrönt wurde, nachdem er selbst als Herrscher den Kaisertitel angenommen hatte.88 Einen wichtigen Unterschied bildete allerdings die Tatsache, dass Marina unmittelbar 83 Vgl. Obrjad koronovanija Mariny Mnisˇek i brakosocˇetanija eja so Lzˇedmitriem, 1605 goda, in: RGADA, opis’ 1, Nr. 46. Abgedruckt in Auszügen in: Sobranie Gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjasˇcˇichsja v Gosudarstvennoj Kollegii inostrannych del (SGGD), 4 Bde., Bd. 2, Moskva 1819, 289–293, hier 290. 84 Vgl. Konrad Bussov, Moskovskaja chronika 1584–1613, in: A. Liberman (ed.), Chroniki Smutnogo vremeni, Moskva 1998, 11–158. Online-Version von Glava IV: http://www.sedmi tza.ru/lib/text/439071/ (29. 06. 2020). Ausführlicher zu Konrad Bussow vgl. Dittmar Dahlmann, „Was nun weitter darauß wirt werden eröfnet die Zeit.“ Deutschsprachige Zeitzeugenberichte in der ‚Zeit der Wirren‘ (1598–1613), in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613, Göttingen 2019, 13–55, hier 20–32; Diana Ordubadi/Dittmar Dahlmann, Die ‚Zeit der Wirren‘ und die Moskauer Selbstherrscher (1598–1613) aus russischer Perspektive und in zeitgenössischen ausländischen Berichten, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen, Göttingen 2019, 273–297, hier 288–293. 85 Vgl. Uspenskij 1998, 202. 86 Vgl. Dnevnik Mariny, 53. 87 Vgl. Kozljakov 2005, 96. 88 Uspenskij 1998, 194.

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vom Patriarchen und nicht von ihrem Ehegatten gesalbt wurde, d. h. formal wurde sie nicht als Ehefrau des Herrschers gekrönt, sondern als eigene Herrscherin im Besitz der vollständigen zarischen Macht.89 Da jedoch eine derartige, formal zwar völlig korrekte Anwendung des Kirchenrechts in Moskowien erstmalig und somit komplett ungewöhnlich war, wurde die Myronsalbung, die der Patriarch Ignatij an Marina vollzog, von verschiedenen Seiten ganz unterschiedlich gedeutet und sogar gänzlich in ihrer sakralen Wirkung angezweifelt. So schloss sich Patriarch Iov in seiner Urkunde (Prosˇcˇal’naja gramota) von 1607 der polnischen Interpretation der Zeremonie an, nach der Marina katholisch geblieben war, und verurteilte aufs Schärfste, dass die „leidige Braut“ (skvernaja nevesta) Lzˇedmitrijs durch ihr Betreten der heiligen Hallen der russisch-orthodoxen Kirche diese schänden durfte.90 Auch Timofeev schrieb in seinem „Vremennik“ nur noch von einer „gotteslästerlichen Salbung zur Herrschaft und Heirat“91 der „schmutzigen Hündin“ (skvernaja suka) Marina. Sogar Patriarch Filaret, der Vater des ersten Romanov-Zaren Michail, schloss sich 1620 der Verurteilung der vollzogenen Zeremonie an.92 Allerdings bestätigte er dabei die Aufnahme Marinas in die Orthodoxie durch die Myronsalbung, verurteilte allerdings eine solche Vorgehensweise seitens des damaligen Patriarchen als sündhaft und begründete dadurch die Notwendigkeit, alle Konvertiten einzig und alleine durch die erneute Taufe in die Orthodoxie aufzunehmen.93 Filarets Beschuldigungen im Jahre 1620 waren in erster Linie retrospektiv gegen den Patriarchen Ignatij gerichtet, der 1606 als Lzˇedmitrijs Befürworter von der Sˇujskij-Regierung abgesetzt worden war. Ignatijs ‚Verrat‘ an der orthodoxen Kirche wurde allerdings vor allem daran festgemacht, dass der Patriarch Marina als Katholikin die heiligen Hallen der Kreml-Kathedrale angeblich schänden ließ, indem sie diese nicht nur betreten, sondern auch vom Patriarchen als Herrscherin gekrönt wurde und alle Sakramente empfangen durfte.94 An dieser Stelle wird erneut sichtbar, wie eine Frau als Objekt der historischen Ereignisse in Moskowien betrachtet und zum Spielball in der Argumentation der machthabenden Männer untereinander benutzt wurde. Im Falle von Filaret erscheinen seine Beschuldigungen und Huldigungen der ersten russischen Zarin jedoch besonders zynisch, da er nicht nur als unmittelbarer Zeuge, sondern auch als 89 Vgl. ebd. 90 Statejnyj spisok […] Sobornoj prosˇcˇal’noj gramoty, in: Akty, sobrannye v bibliotekach i archivach Rossijskoj imperii archeografii (AAE˙), tom 2, S.-Peterburg 1836, 148–160, hier 155. Zitiert nach Uspenskij 1995, 195. 91 Vremennik Ivana Timofeeva, Online-Version: http://www.hrono.ru/libris/lib_t/tim_text3.h tml (25. 05. 2020). 92 Vgl. Uspenskij 1995, 197. 93 Ebd. 94 Ebd., 202.

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aktiver Teilnehmer der feierlichen Trauung von Marina und Lzˇedmitrij in seiner damaligen Funktion als Metropolit von Rostov beigewohnt hatte.95 Er war sogar derjenige, der die Zarenkrone (carskuju korunu) dem Patriarchen persönlich übergeben durfte, damit Ignatij Marina damit krönen konnte.96 Es muss zudem angemerkt werden, dass Filaret seinen Posten als Metropolit von Rostov direkt auf Empfehlung des Patriarchen Ignatij mit Lzˇedmitrijs Genehmigung kurz vor der Zarenhochzeit angenommen hatte.97 Aber nicht nur diese Tatsache wurde nach der Krönung des ersten RomanovZaren 1613 totgeschwiegen. Noch mehr bemühte sich Filaret darum, seine ganze Tätigkeit am Hofe von Lzˇedmitrij II. zu verschleiern und vergessen zu lassen. Denn ausgerechnet in seinem Tusˇino-Lager wurde er zum ersten Mal vom zweiten Lzˇedmitrij zum Patriarchen der ganzen Rus’ ernannt.98 Es versteht sich von selbst, dass er in dieser Funktion seinen Segen nicht nur dem falschen Zaren, sondern natürlich auch der Herrscherin Marina mehr als nur einmal erteilte. Das Ganze hinderte Filaret aber 1620 nicht daran, Marina aufs Übelste zu beschimpfen, um die Reputation seines möglichen Rivalen Ignatij, den viele noch für den rechtmäßigen Patriarchen hielten, in den Schmutz zu ziehen und dessen Absetzung nachträglich zu legitimieren.99 Dabei gestaltete sich der Verlauf der unter anderem durch Ignatij entworfenen Krönungs- und Trauungszeremonien von Marina und Lzˇedmitrij I. für den Patriarchen selbst auf keinen Fall einfach. Indem er zusammen mit Lzˇedmitrij die Reihenfolge von Marinas Krönung mit der Trauung vertauscht hatte, versuchte er ein weiteres Problem zu lösen, das mit dem Umstand verbunden war, dass Marina sich strikt weigerte, zum russisch-orthodoxen Glauben zu konvertieren.100 Die russische Prozedur der Krönung sah nämlich auch das Sakrament der Eurachistie (pricˇastie) direkt nach der Myronsalbung vor.101 Allerdings wollte Marina auf keinen Fall die Eucharistischen Gaben nach russisch-orthodoxem Brauch empfangen, was ihre Krönung – trotz der Myronsalbung – zu verhindern und die Absegnung ihrer Thronbesteigung als Herrscherin zunichtezumachen drohte. Wie aus der Korrespondenz mit Jerzy Mniszech ersichtlich, bemühte sich Lzˇedmitrij im Vorfeld intensiv darum, die Erlaubnis des Papstes dafür zu er95 Vgl. Uspenskij 1995, 198. 96 Vgl. Obrjad koronovanija Mariny Mnisˇek i brakosocˇetanija eja so Lzˇedmitriem, 1605 goda, in: RGADA, opis’ 1, Nr. 46. Abgedruckt in Auszügen in: Sobranie Gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjasˇcˇichsja v Gosudarstvennoj Kollegii inostrannych del (SGGD), 4 Bde., Bd. 2, Moskva 1819, 289–293, 292. 97 Uspenskij 1998, 198. 98 Vgl. Uspenskij 1995, 202. 99 Ebd., 206. 100 Ebd., 199. 101 Ebd.

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halten, dass Marina zumindest dieses Altarsakrament aus den Händen des russischen Patriarchen empfangen dürfte, „weil sie ohne es nicht gekrönt wird“ (potomu cˇto bez togo koronovana ne budet).102 Papst Paul V. in Rom übergab die Klärung der Frage seinem Inquisitionsgericht, welches die erbetene Option kategorisch ablehnte,103 da diese aus der Sicht Roms einen klaren Verrat des katholischen Glaubens bedeuten würde. Und erneut war der Einfallsreichtum seitens Lzˇedmitrijs und seines Patriarchen gefordert. Als günstig erwies sich hierfür die Tatsache, dass es in der Orthodoxie den Brauch gab, auch das frisch vermählte Ehepaar direkt nach der Trauung am Sakrament der Eucharistie teilhaben zu lassen. Da jedoch dieses Abendmahlssakrament von ein und derselben Person nicht zweimal am gleichen Tag empfangen werden durfte, wurde Marinas Empfang der Eucharistischen Gaben aus der Zeremonie der Krönung in das darauf folgende Ritual der Eheschließung verlegt, d. h. auf den Zeitpunkt, an dem Marina bereits als offizielle Herrscherin gesegnet worden war.104 Nach der Beschreibung eines unmittelbaren Zeugen der Zeremonie, des griechischen Erzbischofs Arsenij E˙lassonskij,105 erwartete aber den Patriarchen diesbezüglich am Tag der Feierlichkeiten eine böse Überraschung:106 das herrschaftliche Paar, d. h. nicht nur Marina, sondern auch Lzˇedmitrij weigerten sich plötzlich – entgegen den allgemeinen Erwartungen – die Eucharistie zu empfangen.107 Der gläubige Arsenij E˙lassonskij bezeichnete diesen Schritt als „das erste große Betrübnis und den Anfang des Skandals sowie den Grund für das große Unglück für das ganze moskowitische Volk und die ganze Rus’“ (e˙to byla pervaja i velikaja pecˇal’ i nacˇalo skandala, i pricˇina mnogich bed dlja vsego naroda moskovskogo i vsej Rusi).108 Nakaz, dannyj ot Lzˇedmitrija Otrep’eva sekretarju Janu Bucˇinskomu, in: SGGD 1819, 229. Ebd. Kozljakov 2005, 49. Uspenskij 1995, 200. Über Arsenij E˙lassonskij vgl. u. a. auch Diana Ordubadi, ‚Moskau als drittes Rom‘ und Konstantinopel. Das Verhältnis zweier christlich-orthodoxer Zentren im 16. Jahrhundert, in: Jan Bemmann/Dittmar Dahlmann/Detlef Taranczewski (edd.), Core, Periphery, Frontier – Spatial Patterns of Power, Göttingen 2021. 106 Uspenskij 1995, 201. 107 In seiner Untersuchung zeigte Uspenskij detailliert, dass die Uneinigkeit in den Quellen darüber, ob Marina die Eucharistie vielleicht doch noch empfangen hatte, auf die Zeugnisse des Patriarchen Filaret (Fedor Nikiticˇ Romanov) zurückzuführen sind, denen kein Vertrauen geschenkt werden dürfe. Dafür erscheint der Bericht von Arsenij E˙lassonskij absolut vertrauenswürdig. Vgl. dazu ausführlich Uspenskij 1998, 204–207. Die Zeugnisse der polnischen Seite über den Empfang der Eucharistischen Gaben durch Marina sind mit der Unkenntnis russischer Rituale durch die Ausländer zu erklären, aber auch dadurch, dass zur Trauungszeremonie nur wenige Polen zugelassen wurden und dem Rest verboten wurde, im entscheidenden Moment die Kirche zu betreten. Vgl. Kozljakov 2005, 96. 108 Arsenij E˙lassonskij, Memuary iz russkoj istorii, in: A. Liberman (ed.), Chroniki Smutnogo vremeni, Moskva 1998, 181–182. Zit. nach Kozljakov 2005, 95.

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Dieser Umstand konnte allerdings die bereits vollzogene Krönung und Myronsalbung der Zarin keinesfalls relativieren oder rückgängig machen. Auch die Verheiratung blieb selbstverständlich ebenfalls rechtskräftig. Nach der Trauung verließ Marina die Kathedrale als rechtmäßige Herrscherin Moskowiens. Dabei trat sie vor ihre Untertanen zwischen zwei Männern: an der rechten Hand wurde sie von ihrem Gemahl Lzˇedmitrij geführt, während sie von der linken Seite durch Vasilij Sˇujskij begleitet wurde, in naher Zukunft ihren gleichzeitigen Retter und Richter.109

Der Moskauer Aufstand und der Verlust des Throns Die Feierlichkeiten anlässlich der zarischen Hochzeit dauerten in Moskau anschließend etwas länger als eine Woche, vom 9. bis zum 17. Mai (alter Stil) 1606. Während Lzˇedmitrij mit seiner nichts ahnenden Ehegattin diese genoss, wuchs unter den Bojaren und in der Stadt eine heftige Unzufriedenheit mit dem Verhalten des Selbstherrschers und seiner polnischen Gäste. Am Tag nach der Trauung wurde der Morgen im Kreml mit lauter Musik von Trompeten und Schlaginstrumenten begonnen. Zusätzlich sang sogar ein Chor von 32 Personen, den Lzˇedmitrij extra für diesen Anlass aus Polen hatte anreisen lassen.110 Dies wurde als ein ungeheuerlicher Verstoß gegen russische Traditionen wahrgenommen, denn an diesem 9. Mai wurde in Moskowien ein wichtiger religiöser Feiertag zu Ehren des Heiligen Nikola Vesˇnij gefeiert, der mit den von der Zarenfamilie veranstalteten Festen nach polnischen Bräuchen unvereinbar war.111 Seit diesem Tag kleidete sich der Zar wieder nach polnischer Mode und erteilte auch Marina seine Erlaubnis bzw. sogar seine Bitte, ihre polnische Kleidung zu tragen.112 Als am darauf folgenden Sonntag die Herrscherin den Patriarchen und die Kleriker zur Geschenkübergabe im Kreml empfing, wurde ihre polnische Kleidung sofort negativ registriert.113 Und erneut bezeichnete Arsenij E˙lassonskij dies als „Ursache und Anlass für viele [baldige] Plagen“,114 für den Tod des Zaren und der Vertreter beider Völker, sowohl der Russen als auch der Polen. Selbstverständlich lag der Grund für das kommende Unglück in Marinas Leben nicht in ihrer Kleidung und noch nicht einmal in ihrer Person. Als äußerst fremdartiges Element im Zarenpalast des Kremls wurde sie in der moskowitischen Wahrnehmung zum willkommenen Sündenbock und zur symbolischen Verkörperung 109 110 111 112 113 114

Kozljakov 2005, 97. Bussov 1998, 60, zit. nach Kozljakov 2005, 100. Kozljakov 2005, 100. Bussov 1998, 60; M[ichail] Chmyrov, Marina Mnisˇek, S.-Peterburg 1862, 15. Kozljakov 2005, 102. E˙lassonskij 1998, 182–183, zitiert nach Kozljakov 2005, 103.

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aller polnischen Vergehen und Einflüsse, die seit ihrer Krönung ausschließlich mit ihrer ‚sündhaft unreinen‘ Erscheinung auf russischem Boden assoziiert wurden. In der angespannten Stimmung im Kreml und in der ganzen Hauptstadt häuften sich solche negativen Eindrücke recht schnell. So wüteten z. B. zwei Tage nach der zarischen Hochzeit mehrere betrunkene polnische Adlige auf den Straßen Moskaus, griffen Passanten an und erlaubten sich, die moskowitischen Damen nur so zum Spaß aus ihren Kutschen zu zerren.115 Dass so etwas bei der einfachen moskowitischen Bevölkerung und auch in den russisch-adligen Familien der Angegriffenen für Aufregung und Wut sorgte, kann man sich gut vorstellen. Aber auch im Palast wurde das Verhalten des frisch vermählten zarischen Paares mit wachsendem Argwohn genauestens beobachtet. Am dritten Tag der Feierlichkeiten befahl der Zar seinen Köchen, alle Gerichte nach polnischen Rezepten zuzubereiten, darunter auch gekochtes und gebratenes Kalbfleisch.116 Dies stieß auf massive Empörung im Palast, denn Kalbfleisch galt in Moskowien als unrein und wurde nicht verzehrt.117 Auch dieser Vorfall bestätigte daher die kursierenden Gerüchte, dass der Zar kein ‚echter‘ und nicht einmal ein gebürtiger Moskowiter sein könne.118 Das Ganze eignete sich im Nachhinein selbstverständlich sehr gut, um den Sturz Lzˇedmitrijs und ‚seine teuflische Seite‘ zu begründen. Der eigentliche Grund für den Machtwechsel im Kreml lag jedoch, vereinfacht formuliert, vor allem darin, dass der Zar selbst – und nicht die Zarin – den Draht zur Bojarenduma als dem Moskauer Regierungsorgan sowie zu den russisch-orthodoxen Klerikern gänzlich verloren hatte. Durch seine selbstsüchtige, arrogante und respektlose Art gegenüber jedem verdienten russischen Rang an seinem Hofe, aber auch durch seine offensichtliche Missbilligung aller moskowitischen Herrschaftstraditionen und religiös geprägten Regeln beraubte er sich der Unterstützung aller wichtigen Elitegruppen im politischen System Moskowiens und beförderte dadurch seinen eigenen Untergang. Am frühen Morgen des 17. Mai 1606 wurde er schließlich von einer Gruppe von Verschwörern auf Geheiß Vasilij Sˇujskijs in seinem Schlafgemach angegriffen und bei einem Fluchtversuch ermordet. Die Palastrevolte war sehr gut vorbereitet und breitete sich in der ganzen Stadt aus. Die Verschwörer sicherten sich die Unterstützung des moskowitischen Heeres und blockierten alle Ausgänge aus der Stadt,119 sodass eine Flucht für Lzˇedmitrij und seine Anhänger praktisch unmöglich war. Drei Tage lang randalierten wütende Volksmassen in 115 116 117 118 119

Vgl. Bussov 1998, 60; Neubauer 1999, 77. Vgl. ebd., 61. Ebd. Vgl. ebd. Kozljakov 2005, 106.

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der ganzen Stadt, raubten, mordeten und griffen jeden an, der ein Pole oder Litauer hätte sein können: auf den Straßen spielten sich wahre Schlachten ab, überall lagen ausgeraubte und verstümmelte Leichen.120 Unter anderem gelyncht wurden alle polnischen Musikanten, deren Musik und deren Instrumente als besondere Häresie und Werkzeuge des Teufels abgestempelt wurden. Die Häuser, in denen Marinas Vater und Bruder mit ihrem ganzen Stab untergebracht waren und sich verschanzen mussten, wurden umzingelt und angegriffen, bis Hilfe aus dem Kreml kam, um sie unter offiziellen Schutz, aber auch Arrest der neuen Regierung zu stellen.121 Marina blieb diese ganze Zeit im Kreml und überlebte eher wie durch ein Wunder. Als ihr Ehegatte ermordet wurde, schlief sie noch in ihren eigenen Gemächern und wurde durch Lärm und Schreie im Palast geweckt.122 Noch nicht zurechtgemacht, nur in ein Nachthemd gekleidet rannte sie hinaus, um zu erfahren, was geschehen war. Ihre Hofdamen hatten gerade noch Zeit, ihre Röcke anzuziehen.123 Die Nachricht über den Tod des Zaren verbreitete sich schnell und führte zu Panik im Palast. Marina versteckte sich im Keller bei den anderen polnischen Adligen, die ihr jedoch dazu rieten, wieder nach oben zu gehen und ein besseres Versteck zu suchen, da man sie unten als erstes suchen würde.124 Sie fasste ihren Mut zusammen und ging die Treppe hoch zurück in ihre Gemächer. Auf dem Weg dahin traf sie auf die marodierende Menge, von der sie lediglich beiseite geschubst wurde. Offensichtlich wurde sie ohne entsprechende Frisur, Kleidung und Schmuck nicht erkannt, denn sonst wäre sie ganz sicher nicht verschont worden.125 Wieder bei ihren Hofdamen angelangt, versuchte sie mit ihnen zusammen, sich in einem der Räume zu verbarrikadieren. Ihr Kammerdiener Jan Osmol’skij versperrte den Hereinstürmenden eine Zeitlang tapfer den Weg, bis er „getroffen, ohnmächtig und dann in Stücke zerhackt wurde“.126 Um sich vor dem wütenden Mob zu schützen, der jetzt gezielt nach der ‚polnischen Zarenhure‘ suchte, versteckte sich Marina unter dem breiten Rock einer ihrer älteren Hofdamen.127 Ihre endgültige Rettung kam schließlich in Gestalt der oberen Bojaren, die nun die Macht im Kreml übernahmen. Marina wurde zusammen mit ihren Hofdamen unter strenger Bewachung, nicht zuletzt auch zwecks ihres eigenen Schutzes, im Kreml sicher untergebracht.128 Der gesamte 120 121 122 123 124 125 126 127 128

Dnevnik Mariny, 58. Vgl. dazu ausführlicher Dnevnik Mariny, 56–62; Kozljakov 2005, 112. Vgl. dazu ausführlicher Dnevnik Mariny, 56; Kozljakov 2005, 108–115. Dnevnik Mariny, 56. Vgl. Kozljakov 2005, 108. Dnevnik Mariny, 56. ˇ hmyrov 1862, 19. Ebd.; C Vgl. Bussov 1998, 64, zit. nach Kozljakov 2005, 109; Chmyrov 1862, 20. Dnevnik Mariny, 56.

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Schmuck und alle Edelsteine, die sie in den vorigen Wochen von Lzˇedmitrij als Geschenke bekommen hatte, wurden ihr abgenommen.129 Erst nach der offiziellen Wahl von Vasilij Sˇujskij zum neuen Zaren zehn Tage später wurde Marina aus dem Kreml entlassen und zu ihrem Vater und dem Rest der Familie gebracht, wo sie sich von dem erlittenen Schock etwas erholen konnte. Kennzeichnend ist, dass der Aufstand und die Wut der Massen tatsächlich als Reaktion auf den Überdruss mit dem Fremdartigen interpretiert werden muss. Offensichtlich hatte Lzˇedmitrij I. den Toleranzbogen seiner Landsleute gänzlich überspannt. Die ersten Beschwerden über das ‚unerträgliche ausländische und teuflische Einwirken‘ wurden schon in der Nacht der Ermordung des falschen Zaren laut. Später wurden sie aber intensiv in der ‚Aufklärungsurkunde‘ des Zaren Vasilij mehrmals wiederholt, ausgebaut, teilweise hinzu erfunden und als Rechtfertigung der neuen Ordnung benutzt.130 Unter den Verbrechen Lzˇedmitrijs wurde immer wieder seine ‚unreine‘ Heirat mit Marina erwähnt. Auch in der Urkunde im Namen von Marija Nagaja, verfasst auf Geheiß von Vasilij Sˇujskij nach dem Tode Lzˇedmitrijs, stand der Vorwurf, dass der selbsternannte Zar eine Polin zur Ehefrau genommen habe, sie nicht habe taufen lassen, sich jedoch in den heiligen Hallen der russischen Kirche mit ihr habe trauen lassen und dadurch die russisch-orthodoxe Kirche geschändet hätte.131 Mit anderen Worten tat Vasilij Sˇujskij alles, um jeden möglichen Zweifel an seinem Anspruch auf den russischen Thron im Keim zu ersticken und gleichzeitig Marina jegliche Legitimität als russische Zarin, die sie zweifelsohne durch ihre rechtmäßige Krönung weiterhin besaß, zu entziehen. Anfangs ist er damit sogar so erfolgreich gewesen, dass die einfachen Moskowiter es nicht einsehen konnten, warum sie die ‚verhassten Polen‘ zusammen mit ihrer ‚Oberhexe Marinka‘ nicht auf der Stelle ermorden durften.132 Im Unterschied zu den in Rage geratenen Moskowitern wusste jedoch Zar Vasilij genau, dass er es sich nicht erlauben konnte, sich das Königreich Polen gleich zum offenen Feind durch die Ermordung seiner Untertanen zu machen. Daher lag es eigentlich auch in seinem Interesse, alle Mniszechs zusammen mit der ganzen Gefolgschaft irgendwann nach Hause, nach Krakau, abreisen zu lassen. Mit dem Ziel, ihr Schicksal zu bestimmen, wurde daher eine moskowitische Gesandtschaft zum polnischen König Sigismund III. entsendet, um die schwierigen Verhandlungen voller gegenseitiger Vorwürfe zu beginnen. In der Zwischenzeit schien es aber zu unsicher, die entthronte Zarin in der Hauptstadt zu behalten, zumal es seit August 1606 an den Rändern des Landes 129 130 131 132

Ebd., 62; Chmyrov 1862, 21. Manifest Carja Vasilija Ivanovicˇa Sˇujskogo, in: RGADA, fond 156, opis’ 1, Nr. 82. Okruzˇnaja Gramota ot Caricy inokini Marfy, in: SGGD, Bd. 2, Moskva 1819, 306. Vgl. Dnevnik Mariny, 71.

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immer wieder zu Aufständen gegen die Sˇujskij-Regierung kam.133 Daher wurde die ganze polnische Gesandtschaft in drei Gruppen geteilt und in verschiedene, weit entfernte russische Städte verschickt. Marina und ihr Vater wurden nach Jaroslavl’ verbannt, wo sie fast zwei Jahre lang lebten, bevor sich ihre Lebenswege mit Lzˇedmitrij II. kreuzten.

Schlussbetrachtung Die Gerüchte, dass Marinas Ehegatte bei dem Moskauer Aufstand überlebt haben könnte und ihm die Flucht gelungen wäre, begannen bereits im Sommer 1606 zu kursieren. Da Marina die verstümmelte Leiche Lzedmitrijs I., die anschließend verbrannt worden war, nicht gesehen hatte, fiel es ihr schließlich leicht, in ihrem trostlosen Jaroslavl’er Exil vorerst an seine (erneute) wundersame Rettung zu glauben.134 Als die Truppen Lzˇedmitrijs II. Marina und ihren Vater auf dem eigentlichen Weg zurück in die polnische Heimat abfingen und 1608 ins TusˇinoLager brachten, wurde Marina mit der traurigen Realität konfrontiert, dass sie längst Witwe war, und es nicht einmal zeigen durfte. Nach anfänglichem Widerwillen ließ sie sich von ihrem Vater überzeugen, den ihr völlig unbekannten Hochstapler als ihren Ehemann anzuerkennen135 und dadurch die eigene Chance, den russischen Thron wieder zu besteigen, zurückzugewinnen. Es ist davon auszugehen, dass spätestens seit diesem Zeitpunkt von der Naivität des jungen Mädchens nichts mehr übriggeblieben war und dass Marina seitdem lediglich ihr aufrichtiger Glaube an die Rechtmäßigkeit ihrer Krönung und somit an die absolute Legitimität ihrer Ansprüche auf den Titel der Selbstherrscherin motivierten. Obwohl sie noch vor ihrer russisch-orthodoxen Vermählung mit dem offiziellen Zaren als eigenständige Herrscherin gesalbt und gekrönt worden war, war es ihr mittlerweile bewusst, dass sie im Moskauer Reich unbedingt eine männliche Figur an ihrer Seite brauchte, die das einfache russische Volk als seinen Zaren anerkennen würde. Nicht zuletzt auch deswegen erklärte sie nach dem Tode Lzˇedmitrijs II. ihren gemeinsamen Sohn Ivan, und nicht sich selbst, zum legitimen Moskauer Thronfolger. Aufgegeben hatte sie dabei auch die Hoffnung, dass ihr Katholizismus in Moskowien akzeptiert werden könnte. Trotz der Anweisungen des Papstes Paul V. in seinem Brief an sie vom April 1606,136 dass er erwarte, dass sie all ihre Söhne im katholischen Glauben erziehen würde, ließ sie 133 134 135 136

Vgl. Kozljakov 2005, 117. Vgl. Dnevnik Mariny, 90. Vgl. Kozljakov 2005, 178–179; vgl. dazu ausführlicher E˙jl’bart 2015, 154–156. Vgl. Pavel Pirling, Dimitrij Samozvanec, Moskva 1912, 342f.

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ihren im Januar 1611 geborenen Sohn russisch-orthodox taufen. Doch alle diese Bemühungen waren vergebens. In der Zwischenzeit veränderte sich das politische Kräfteverhältnis in Moskowien. 1609 verloren Marina und Lzˇedmitrij II. die Unterstützung Polens. 1610 erfolgte die Absetzung des Zaren Vasilij Sˇujskij und im Februar 1613 rief die Moskauer Landesversammlung Michail Romanov zum neuen Zaren aus.137 Unter diesen Umständen bemühte sich die Moskauer Regierung mit allen Mitteln, eine massive politische Zerrüttung und Zersplitterung des Landes zu beenden. Die Existenz eines anderen, wenn auch minderjährigen, Thronprätendenten gefährdete die Macht Michails viel zu sehr. Auf seinen Befehl hin wurden im Juni 1614 Marina mit dem Kind und ihr letzter Beschützer, der Kosakenhetman Ivan Zaruckij, von den Regierungstruppen verhaftet und wie wilde Tiere in Ketten und Käfigen nach Moskau gebracht. Das, was danach passierte, war an Grausamkeit kaum zu überbieten und soll Marina innerlich gänzlich zerstört haben.138 Zaruckij und ihr Sohn wurden zum Tode verurteilt. Im Januar 1615 fand in Moskau in aller Öffentlichkeit die Hinrichtung durch Erhängen eines gerade einmal vier Jahre alten Kindes statt, dessen einzige Schuld darin bestand, Marinas Sohn zu sein. Angeblich ist Marina kurz danach im Moskauer Gefängnis „an Kummer“139 verstorben. Das ganze Leben der ersten gekrönten russischen Zarin wurde somit von mächtigen Männern bestimmt, die sie zum Spielball ihrer Intrigen machten. Zum Schluss fand sie sich von ihnen allen verlassen und verraten: ihr Vater Jerzy Mniszech, der polnische König Sigismund III., der Papst und ihre beiden Ehemänner. Der moskowitische Volksmund schrieb ihr unermesslichen Stolz, sündhafte Machtsucht und völlige Herzlosigkeit zu. Beim genaueren Betrachten finden sich jedoch noch nicht einmal Ansatzpunkte für solche Beurteilungen. Sie verhielt sich lediglich stets entsprechend ihrer ‚liberalen‘ westlichen Erziehung und Ausbildung. Dass sie sich jedoch in der patriarchalischen Gesellschaft Moskowiens anmaßte, ihre Fähigkeiten und Talente mit der gleichen Selbstverständlichkeit öffentlich zu nutzen, als ob sie ein Mann wäre, wurde ihr nie verziehen.

137 Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Diana Ordubadi in diesem Band. 138 Vgl. Kozljakov 2005, 315. 139 Vgl. ebd., 315f.

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„Auf Vermittlung unserer geliebten Gemahlin“. Königinnen als Intervenientinnen in ostfränkischen Herrscherurkunden (843–911/918)

Abstract The long ninth century, that is the time covering the reign of the Carolingian kings and emperors over the Frankish realm(s) from 751 until 911/987, marks a crucial period in the development of medieval queenship, especially concerning the legal status of royal wives and the sacralisation of rulership in general. Although some queens and empresses have gained particular attention, so far little systematic research, e. g. on the depiction of women in Carolingian historiography or their role in royal charters, has been published. Focussing on the Eastern Frankish realms, this paper examines the references to queens as intercessors on behalf of others in royal charters issued by their ruling husbands (or sons). It shows how queens were often deeply involved and personally interested in these transactions and how they used their intimate relationship with the ruler in order to establish a network of personal ties, both with other women – members of the royal family as much as ‘ordinary’ women – but also with leading male magnates of the realm.

Als der ostfränkische König Ludwig, den spätere Historiker ‚den Deutschen‘ nennen sollten, am 29. Oktober 863 dem Nonnenkloster St. Felix und Regula in Zürich Immunität und Schutz verlieh, tat er dies auf Vorschlag seiner „geliebtesten Gemahlin Hemma“.1 Diese sogenannte Interventionstätigkeit mittelalterlicher Herrschergemahlinnen zählt zu deren wichtigsten Betätigungsfeldern, ja, die Häufigkeit ihrer Nennungen als Intervenientinnen oder Petentinnen gilt als Gradmesser ihres Einflusses auf den König und dessen Politik.2 Amalie Fößel 1 Diplom Ludwigs des Deutschen (im Folgenden D LD) 110 (Regensburg, 23. Okt. 863), in: Ludowici Germanici Diplomata, ed. Paul Kehr, in: Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 1, Berlin 1934, 1–274, 158–159, hier 159: qualiter dilecta coniunx nostra Hemma deprecata est celsitudinem nostram, ut nostrae tuitionis defensionisque munitatem super res pertinentes ad monasterium, quod est situm in vico Turegum, facere iuberemus. […] Nos itaque suggestioni a carissimae coniugis nostrae Hemmae libenti animo assensum prebuimus. 2 Für das hochmittelalterliche röm.-dt. Reich vgl. grundlegend Amalie Fössel, Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume (Mittelalter-Forschungen 4), Stuttgart 2000, hier 123–150, bes. 123; zu Interventionen in Urkunden

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hat dabei einen wichtigen Wandel in dieser Praxis seit der Mitte des 10. Jahrhunderts, genauer seit der Heirat Ottos I. mit Adelheid, festgemacht. Während zuvor, das heißt in merowingischen, karolingischen und auch noch frühottonischen Herrscherdiplomen, Königinnen eher selten und sporadisch als Fürbitterinnen und/oder Bittstellerinnen genannt worden seien, erschienen die ottonischen und auch die salischen Herrschergemahlinnen „regelmäßig in dieser Funktion“, bis sich die Praxis durch die unter den Staufern endgültig vollzogene Ablösung der Interventions- durch die Zeugenformel erneut gewandelt habe.3 Allerdings hat das mittelalterliche Königinnentum – ein wesentlich von der anglo-amerikanischen Forschung geprägter Begriff, auf Englisch eleganter queenship4 – auch in karolingischer Zeit, beginnend mit dem Dynastiewechsel von 751 bis ins 10. Jahrhundert, wichtige Veränderungen und Prägungen erfahren. Hier lag der Fokus der Forschung insbesondere auf der Sakralisierung der Stellung der Königin,5 die mit dem 751 eingeleiteten Bündnis zwischen den Karolingern und der römischen Kirche einherging,6 sowie, ebenfalls damit verbunden, auf der allmählichen Durchsetzung des kirchlichen Eherechts, was

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überhaupt vgl. die Überlegungen sowie den Forschungsüberblick bei Sean Gilsdorf, The favor of friends. Intercession and aristocratic politics in Carolingian and Ottonian Europe (Brill’s Series on the Early Middle Ages 23), Leiden/Boston 2014, 1–41. Fössel 2000 (wie Anm. 2), 123, die sich in Bezug auf die geringe Interventionstätigkeit der karolingischen Königinnen insbesondere auf Franz-Reiner Erkens, Die Frau als Herrscherin in ottonisch-frühsalischer Zeit, in: Anton von Euw/Peter Schreiner (edd.), Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, 2 Bde., Bd. 2, Köln 1991, 245–259, 247, bezieht. Vgl. auch grundlegend Alfred Gawlik, Intervenienten und Zeugen in den Diplomen Heinrichs IV. (1056–1105). Der Übergang von der Interventions- zur Zeugenformel (Münchner Historische Studien. Abteilung Geschichtliche Hilfswissenschaften 7), Kallmünz 1970, hier 109. Nikolas Jaspert, Indirekte und direkte Macht iberischer Königinnen im Mittelalter. „Reginale“ Herrschaft, Verwaltung und Frömmigkeit, in: Claudia Zey (ed.), Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert) (Vorträge und Forschungen 8), Ostfildern 2015, 73–130, hier bes. 89, benutzt ebenfalls den „sperrigen“ Begriff des ‚Königinnentums‘, schlägt aber in Anlehnung an einen Quellenfund das Adjektiv ‚reginal‘ vor. Grundsätzlich zur Frage, ob es sich bei allen Gemahlinnen mittelalterlicher Könige um Königinnen gehandelt hat, Janet L. Nelson, Medieval queenship, in: Linda E. Mitchell (ed.), Women in medieval Western European culture, New York/London 1999, 179–207, hier 183. Vgl. grundlegend Janet L. Nelson, Early medieval rites of queen-making and the shaping of medieval queenship, in: Anne J. Duggan (ed.), Queens and queenship in medieval Europe. Proceedings of a conference held at King’s College London April 1995, Woodbridge 1997, 301– 315; Dies., Les reines carolingiennes, in: Alain Dierkens et al. (edd.), Femmes et pouvoirs des femmes à Byzance et en Occident (VIe–XIe siècle). Colloque international organisé les 28, 29 et 30 mars 1996 à Bruxelles et Villeneuve d’Ascq, Villeneuve d’Ascq 1999, 121–132.

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fundamentale Auswirkungen auf die Stellung karolingischer Königinnen hatte.7 Systematisch vergleichende Untersuchungen etwa zur Darstellung karolingischer Königinnen in der zeitgenössischen Historiographie oder etwa auch zu ihrer Rolle in der Urkundenpraxis der karolingischen Könige und Kaiser fehlen dagegen bislang.8 Letzterer Aspekt soll im Folgenden mit Fokus auf das ostfränkische Reich unter Ludwig dem Deutschen (ab 826/843) bis zum Tod des letzten ostfränkischen Karolingers Ludwig (das Kind) im Jahr 911 anhand ausgewählter Beispiele vorgestellt werden, um so einen Einblick in die Rolle karolingischer Herrschergemahlinnen bei der Ausübung königlicher Herrschaft im fränkischen Frühmittelalter zu gewinnen. Urkunden gelten gemeinhin als unmittelbare Zeugnisse der Herrschaftspraxis. Allerdings ist fraglich, inwiefern insbesondere Interventionen als Ausdruck tatsächlichen Einflusses oder doch eher als formelhafte Ehrenbezeugungen zu werten sind. Auch bleiben letzte Zweifel bestehen, ob eine urkundliche Intervention überhaupt als sicherer Beleg einer Anwesenheit am Herrscherhof gelten kann.9 Dennoch zeugen Interventionen und auch Petitionen, also Bitten in eigener Sache, von einer besonderen Nähe zwischen Herrscher und IntervenientIn oder PetentIn, die ihre Angelegenheiten ja überhaupt bis an den Herrscher herantragen mussten.10 Dabei ist die Unterscheidung zwischen IntervenientIn und PetentIn als idealtypisch anzusehen;11 in der Praxis handelte es sich bei 7 Vgl. dazu den grundsätzlichen Überblick bei Linda Dohmen, Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger (Mittelalter-Forschungen 53), Ostfildern 2017, 36–106. 8 Vgl. zu weiteren Desideraten Martina Hartmann, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009, bes. 224–226. 9 Vgl. deutlich positiver Hans-Werner Goetz, Der letzte „Karolinger“? Die Regierung Konrads I. im Spiegel seiner Urkunden, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 26 (1980), 56–125, hier 91, oder Roman Deutinger, Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 20), Ostfildern 2006, 277, die von einem eindeutigen Zusammenhang zwischen Intervention und Anwesenheit bei Hof ausgehen; Gilsdorf 2014 (wie Anm. 2) adressiert diese Frage nicht. 10 Vgl. zu diesem Aspekt des Zugangs zum Herrscher Volker Scior, Das offene Ohr des Herrschers. Vorstellungen über den Zugang zum König in der Karolingerzeit, in: Ders./ Steffen Patzold/Anja Rathmann-Lutz (edd.), Geschichtsvorstellungen. Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter. Festschrift für Hans-Werner Goetz zum 65. Geburtstag, Wien/ Köln/Weimar 2012, 299–325, sowie konkreter auf die Ausstellung von Herrscherurkunden bezogen Philippe Depreux, Bitte und Fürbitte am karolingischen Hof. Zugleich ein Beitrag zur politischen Bedeutung der Ambasciatoren- und Impetratorenvermerke (Mitte 8. bis Mitte 9. Jahrhundert), in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 58 (2012), 57–101; Mark Mersiowsky, Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 60), 2 Bde., Bd. 2, Wiesbaden 2015, 546–604. 11 Sehr kritisch explizit gegenüber der älteren Diplomatik äußert sich diesbezüglich Gilsdorf 2014 (wie Anm. 2), 26–35.

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solchen Personen, die die Forschung gemeinhin als Intervenienten betrachtet, in der Regel keineswegs um vollkommen unbeteiligte Dritte. Zum einen lässt sich in vielen Fällen beobachten, dass sich die eigentlichen Nutznießer der Urkunde, die Empfänger, und die Vermittler des entsprechenden Rechtsgeschäftes nahestanden; zum anderen hatten letztere nicht selten selbst ein Eigeninteresse in der Angelegenheit.12 Im Folgenden soll daher ein kurzer Überblick über die Interventions- und Petitionstätigkeit der (ost-)fränkisch-karolingischen Königinnen von Hemma (Gemahlin Ludwigs des Deutschen 828–876)13 über deren Schwiegertöchter Liutgard (Gemahlin Ludwigs des Jüngeren 874–882)14 und Richgard (Gemahlin Karls III. des Dicken 862–887)15 bis hin zu Uta (Gemahlin Arnulfs von Kärnten 888–899)16 gegeben werden. Letztere war zugleich die Mutter Ludwigs des Kindes, welcher bis zu seinem Tod 911 im Alter von 18 Jahren unverheiratet blieb. Namentlich nicht bezeugt ist die Gemahlin Karlmanns, des ältesten Sohnes Ludwigs des Deutschen sowie Bruder Ludwigs des Jüngeren und Karls des Dicken, die Karlmann vor 861, aber nach der Geburt seines Sohnes Arnulf, der gemeinhin als illegitim gilt, zur Frau genommen haben soll.17 Es ist jedoch nicht völlig auszuschließen, dass es sich bei der von den Quellen nur als „Tochter des Markgrafen Ernst“ identifizierten Gemahlin Karlmanns und der urkundlich bezeugten Mutter Arnulfs namens Liutswind um ein und dieselbe Person handelte.18 Arnulf 12 Für Beispiele, insbesondere aus dem 10. Jh. vgl. Gilsdorf 2014 (wie Anm. 2), 29–35. 13 Zu Hemma allgemein Wilfried Hartmann, Ludwig der Deutsche (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2002, 64–66; Deutinger 2006 (wie Anm. 9), bes. 275–285; Eric J. Goldberg, Regina nitens sanctissima Hemma. Queen Emma (827–876), Bishop Witgar of Augsburg and the Witgar-Belt, in: Simon MacLean/Björn Weiler (edd.), Representations of power in medieval Germany 800–1500 (International Medieval Research 16), Turnhout 2006, 57–95; Hartmann 2009 (wie Anm. 8), 114–116. Hemma starb knapp sieben Monate vor Ludwig nach knapp 49 Ehejahren. 14 Johannes Fried, König Ludwig der Jüngere in seiner Zeit. Zum 1100. Todesjahr des Königs, in: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße 16 (1983), 5–26, der die einzige explizite Untersuchung zu Ludwig dem Jüngeren bietet, geht nicht dezidiert auf Liutgard ein; vgl. zu ihr kurz Deutinger 2006 (wie Anm. 9), 275f.; Hartmann 2009 (wie Anm. 8), 132. Liutgard überlebte ihren Mann um vermutlich drei Jahre. 15 Zu Richgard Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 242–249, dort auch mit weiterer Literatur und Diskussion des Ehetrennungsverfahrens von 887. Richgard starb zu einem unbekannten Zeitpunkt nach 887, vielleicht zwischen 894 und 896. 16 Zu Uta Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 288–292, ebenfalls mit weiterer Literatur. Auch Uta überlebte ihren Mann und starb vermutlich bald nach 906. 17 Vgl. dagegen Matthias Becher, Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 665–682, mit intensiver Diskussion der gängigen Forschungsmeinung. 18 Zur Heirat Karlmanns mit Ernsts Tochter Annales de Saint-Bertin, edd. Felix Grat/Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet, Paris 1964, ad annum 861, 85; Annales qui dicuntur

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selbst hatte zwei Söhne aus einer oder mehreren Beziehungen vor seiner Ehe mit Uta, von denen der ältere, Zwentibold, als (Unter-)König in Lotharingien agierte und in dieser Zeit Oda (897–900) ehelichte.19 Wenn man durch Berücksichtigung Odas Lotharingien, das zu diesem Zeitpunkt unter Arnulfs Oberherrschaft Teil des Ostfrankenreichs war, in die Untersuchung einbezieht, lohnt sich überdies der vergleichende Blick auf die beiden Frauen Lothars II., der ein Vierteljahrhundert vor Zwentibold über dieses Gebiet geherrscht hatte. Lothar II. war der mittlere Sohn Kaiser Lothars I.; er regierte nach dessen Tod 855 zeitgleich zu seinem Onkel Ludwig dem Deutschen im Ostfrankenreich. Unmittelbar zu Beginn seiner Herrschaft heiratete er Theutberga, doch versuchte er nur zwei Jahre später, diese zu verstoßen, womit er auf heftigen Widerstand aus den Reihen seiner Getreuen stieß. Daraufhin brachte er sein Ehetrennungsbegehren vor ein kirchliches Gremium, das seinem Willen entsprach. Zeitgleich unterhielt Lothar II. bereits eine Beziehung zu Waldrada, die er 863 offiziell machte, doch war er 865 auf Druck des Papstes gezwungen, Theutberga wiederaufzunehmen. Seine Beziehung zu Waldrada währte allerdings fort, sodass bei der Frage nach urkundlichen Interventionen der Königin beide Frauen Lothars II. Beachtung verdienen.20 Darüber hinaus soll auch Kunigunde, mit der sich Konrad I., der erste Nicht-Karolinger im Ostfrankenreich, 913 verband, in die Untersuchung einbezogen werden, da Konrads Herrschaft Xantenses a. 790–873 (874), ed. Bernhard von Simson, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [12], Hannover 1909, 1– 39, ad annum 866, 23; zu Arnulfs Mutter Liutswind: Diplom Arnulfs (im Folgenden D Arn) 87 (Regensburg, 9. März 891), in: Arnolfi Diplomata, ed. Paul Kehr (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 3), Berlin 1940, 128–130, 129: Übertragung eines Hofes an die Kirche zu Salzburg, cum iure legum, sicut mater nostra bonae memoriae Liutsuuind ex parte nostra, prasenti tempore in beneficium habere visa est; vgl. zur Frage der Identität dieser beiden Frauen Becher 2008 (wie Anm. 17), bes. 678. 19 Zu Oda vgl. Martina Hartmann, Lotharingien in Arnolfs Reich. Das Königtum Zwentibolds, in: Franz Fuchs/Peter Schmid (edd.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts. Regensburger Kolloquium 9.–11. 12. 1999 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft. Reihe B 19), München 2002, 122–142, 133f.; zu ihrer Herkunft Eduard Hlawitschka, Die Ahnen der hochmittelalterlichen deutschen Könige, Kaiser und ihrer Gemahlinnen. Ein kommentiertes Tafelwerk, 3 Bde., Bd. 1: 911–1137 (Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel 25/1), Hannover 2006, 39–42, mit weiterführender Literatur. Oda heiratete nach Zwentibolds Tod den Grafen Gerhard und starb erst mehr als 50 Jahre später, nach dem 30. Dez. 952, vgl. Winfried Glocker, Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung in der Politik. Studien zur Familienpolitik und zur Genealogie des sächsischen Kaiserhauses (Dissertationen zur mittelalterlichen Geschichte 5), Köln/Wien 1989, 265. Die Namensformen Uta (für die Gemahlin Arnulfs von Kärnten) und Oda (für die Gemahlin Zwentibolds) wurden hier auch zur Unterscheidung der beiden Frauen gewählt. 20 Für einen chronologischen Überblick über den Ehestreit vgl. Karl Josef Heidecker, The divorce of Lothar II. Christian marriage and political power in the Carolingian world (Conjunctions of Religion and Power in the Medieval Past), Ithaca/London 2010; Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 187–204.

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noch stark in ‚karolingischer‘ Tradition stand21 und Kunigunde ansonsten durch ihre Stellung zwischen Karolingern und Ottonen so gut wie keine Berücksichtigung erfährt, aber das Gesamtbild abrundet.22 Dabei gilt es zu betonen, dass im Folgenden nur schlaglichtartig ausgewählte Beobachtungen vorgestellt werden können. Nach einer grundsätzlichen quantitativen Einordnung der Interventionen karolingischer bzw. ostfränkischer Herrschergemahlinnen soll es in einem zweiten Schritt um die in den Urkunden manifestierten Beziehungen im relationalen Dreieck zwischen Intervenientinnen, Empfängern23 und Herrscher gehen. Vor allem über das in den Urkunden verbalisierte Verhältnis des königlichen Ehepaares lassen sich grundsätzliche Überlegungen über den Status der untersuchten Frauen als (Herrscher-)Gemahlinnen und/oder Königinnen ableiten.

Zahlen Ostfränkisches Reich (inklusive Bayern) Name (Ehebeginn/Königtum des Ehemannes*) Hemma (826/840–876) Liutgard (874/876–882)

Anteil der Interventionen/ mit Petitionen (absolut)** 3 von 171 – von 24

Anteil der Interventionen (in %) 1,8 % –

Zeitraum 863–871 –

Liutswind (?) Richgard (862/876–887) Uta (888–899) Kunigunde (913–91827)

– von 28 7/11 von 16324 4/†625 von 17226 2 von 2528

– 4,3/6,7 %

– 877–887

2,3 % 8%

889–898 914–915

* falls späterer Beginn ** jeweils aus dem Ehezeitraum, soweit eingrenzbar 21 Vgl. etwa Goetz 1980 (wie Anm. 9), 56–125. 22 Hartmann 2009 (wie Anm. 8), endet mit den Karolingern; Fössel 2000 (wie Anm. 2), nimmt zumindest in ihrer Übersichtstabelle zu den Interventionen der Königinnen Kunigunde nicht auf, dazu auch 125, Anm. 237; vgl. aber Gilsdorf 2014 (wie Anm. 2), bes. die Graphik 115, der allerdings nur eine Intervention Kunigundes kennt (ebd. 116). 23 Männlich wie weiblich, Einzelpersonen wie Institutionen. 24 Gezählt bis zu Richgards und Karls Trennung im Juni 887, vgl. dazu Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 242–287. Zu den Fällen, in denen die Grenzen zwischen Intervention und Petition besonders stark verwischen, unten Anm. 39. 25 Uta findet in vier als echt geltenden Urkunden Arnulfs sowie in zwei weiteren Spuria Erwähnung, d. h. in zwei gefälschten oder zumindest stark verfälschten Urkunden, wobei die jeweiligen Nennungen Utas nicht unter konkretem Fälschungsverdacht stehen, aber insgesamt doch nur mit Vorsicht hinzuziehen sind. 26 Gezählt ab Januar 888. 27 Dass Kunigunde bereits 915 gestorben sein soll, wie in der Forschung mitunter angenommen, ist nicht belegt. Lediglich wählte sie zu diesem Zeitpunkt ihre Grablege in Lorsch, vgl. Ingrid

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Lotharingien Name (Ehezeitraum/Königtum des Ehemannes) Theutberga (855–857; 865–869) Waldrada (858?–865)

Anteil der Interventionen/ Anteil der Interven- Zeitraum mit Petitionen (absolut)* tionen* (in Prozent) 1 von 4929 2,1 % –30 1 von 4931

2,1 %

869

Oda (897–900) 1 von 1532 6,7 % 898 * jeweils bezogen auf die Gesamtzahl der Urkunden aus dem Ehezeitraum, soweit eingrenzbar

Auf den ersten Blick bestätigt sich der Eindruck einer nur marginalen Interventionstätigkeit der ostfränkischen Königinnen, deren Untersuchung daher keine weiteren Erkenntnisse zu bringen vermag. Allerdings hat bereits Roman Deutinger darauf hingewiesen, dass etwa Hemmas drei bezeugte Interventionen aus 50 gemeinsamen Ehejahren mit Ludwig dem Deutschen, aus denen immerhin 171 im Kern als echt geltende Herrscherdiplome überliefert sind, vor dem Gesamthintergrund der Urkundenpraxis des ostfränkischen Königs zu betrachten sind, und sie entsprechend gar als „beachtlich“ bezeichnet.33 Möglicherweise verloren ist überdies eine weitere Urkunde, in der sich Hemma für das Kloster Corvey einsetzte, womit der Anteil ihrer Interventionen an den Urkunden ihres Ehemannes von 1,8 % auf 2,3 % stiege.34 Entscheidender als diese 0,5 Prozentpunkte ist die Tatsache, dass Hemma die einzige (!) Person in den Diplomen Ludwigs des Deutschen ist, die öfter als einmal in vermittelnder Funktion erscheint. Tatsächlich sind in den Urkunden so selten Interventionen verzeichnet, dass Hemmas Anteil daran sogar fast ein Drittel ausmacht.35 Ebenfalls

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Heidrich, Das Adelsgeschlecht der Konradiner vor und während der Regierungszeit Konrads I., in: Hans-Werner Goetz (ed.), Konrad I. Auf dem Weg zum „Deutschen Reich“?, Bochum 2006, 59–75, hier 74. Gezählt ab Februar 913. Ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Ehejahre Theutbergas und Lothars. Nicht datierbar, da aus einer erzählenden Quelle rekonstruiertes Deperditum, siehe Diplom Lothars II. (im Folgenden D LoII) 42, in: Lotharii II. Diplomata, ed. Theodor Schieffer, in: Monumenta Germaniae Historica. Diplomata Karolinorum 3, Berlin/Zürich 1966, 367–458, 454, wo es auf den Zeitraum 858–859 oder 865–866 eingeordnet wird. Ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Ehejahre Waldradas und Lothars (sofern anerkannt). Gezählt ab Frühjahr 897. Deutinger 2006 (wie Anm. 9), 276. Der Liber Vitae der Abtei Corvey, 2 Bde., Bd. 1, edd. Karl Schmid/Joachim Wollasch (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 40: Westfälische Gedenkbücher und Nekrologien 2/1), Wiesbaden 1983, 99; vgl. dazu Deutinger 2006 (wie Anm. 9), 176, Anm. 9. Vgl. allerdings D LD 73 (Aibling, 20. März 855), ed. Kehr (wie Anm. 1), 102–104 für Kloster Corvey, in dem Hemma keine Erwähnung findet. Insgesamt sind in 13 Urkunden Ludwigs des Deutschen (von 171 im Kern als echt geltenden Urkunden) Interventionen verzeichnet, was einem Anteil von 7,6 % entspricht. Ich danke

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hat Deutinger zurecht darauf hingewiesen, dass die Nicht-Nennung Liutgards in den Urkunden Ludwigs des Jüngeren, auf welchen die Königin zumindest laut Hinkmar von Reims großen Einfluss hatte,36 als Befund an Bedeutung verliert, wenn man bedenkt, dass überhaupt keine Intervenienten in den Diplomen Ludwigs des Jüngeren vermerkt sind.37 Diese Beobachtung lässt sich auf die nicht eindeutig identifizierbare Gemahlin Karlmanns erweitern – auch in dessen Urkunden sind keine Interventionen verzeichnet. Dagegen nimmt Richgard mit einem Interventionsanteil von etwas mehr als 4 % in den Urkunden Karls III.38 einen Platz im Mittelfeld der ostfränkischen Königinnen ein – was durchaus enttäuschen mag, gilt Richgards Einfluss auf ihren Ehemann, mit welchem sie gemeinsam im Jahr 881 die Kaiserkrone in Rom empfing, doch als hoch.39 Tatsächlich tritt Richgard in vier weiteren Urkunden als Empfängerin herrscherlicher Gunst auf und zwar für ihre diversen Stiftungen.40 Simon MacLean hat in diesem Zusammenhang gar von „Richgard’s monastic empire“ gesprochen.41 Überdies verbinden sich bei Richgard Vermittlertätigkeit und Eigeninteresse in besonderem Maße, wenn sie etwa bei Karl die Freilassung ihres Hörigen Bernloh oder auch eine Bestätigung ihrer eigenen Schenkung an eine Dame namens Waltburg erwirkte.42 Quantitativ steht Richgard bei ihren Interventionen allerdings weit hinter Karls Erzkanzler und ihrem eigenen an-

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Tobias P. Jansen für seine Unterstützung bei der Durchsicht der Urkunden insbesondere Ludwigs des Deutschen. Annales Bertiniani, edd. Grat/Vielliard/Clémencet (wie Anm. 18), ad annum 879, 235– 238; vgl. zu Liutgard Silvia Konecny, Die Frauen des karolingischen Königshauses. Die politische Bedeutung der Ehe und die Stellung der Frau in der fränkischen Herrscherfamilie vom 7. bis zum 10. Jahrhundert (Dissertationen der Universität Wien 132), Wien 1976, 140f.; Deutinger 2006 (wie Anm. 9), 275–281, 296–298; Hartmann 2009 (wie Anm. 8), 132. Deutinger 2006 (wie Anm. 9), 276. Nämlich Diplom Karls III. (im Folgenden D KIII) 4 (11. Juli 877, ohne Ortsangabe), in: Karoli III. Diplomata, ed. Paul Kehr (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 2), Berlin 1937, 6f.; D KIII 24 (10. Juli 880), ed. Kehr, 40f.; D KIII 38 (Pavia, 9. Mai 881), ed. Kehr, 64–66 (in zwei Ausfertigungen); D KIII 46 (Mailand, 30. Dez. 881), ed. Kehr, 75f.; D KIII 104 (Metz, 26. Juni 884), ed. Kehr, 167f.; D KIII 109 (Regensburg, 884?), ed. Kehr, 174f.; D KIII 154 (Schlettstadt, 15. Jan. 887), ed. Kehr, 248–250. Vgl. die Zusammenstellung weiterer Quellenstellen bei Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 348–356, dort mit den entsprechenden Literaturnachweisen. Nämlich D KIII 7 (10. Feb. 878), ed. Kehr (wie Anm. 38), 11; DD KIII 42f. (beide Bodman, 14. Oktober 881), ed. Kehr, 70–72; D KIII 96 (Schlettstadt, 19. Februar 884), ed. Kehr, 156f. Simon MacLean, Kingship and politics in the late ninth century. Charles the Fat and the end of the Carolingian Empire (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series 57), Cambridge 2003, 186, mit Karte, 187; vgl. auch Ders., Queenship, nunneries and royal widowhood in Carolingian Europe, in: Past and Present 178 (2003), 3–38, 19–26. D KIII 4 (wie Anm. 38); D KIII 24 (wie Anm. 38).

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geblichen Liebhaber, Bischof Liutward von Vercelli, zurück.43 Für Liutward sind fast fünfmal so viele Interventionen überliefert wie für Richgard, nämlich 34, womit er in nahezu einem Viertel aller Urkunden Karls III. in vermittelnder Funktion erscheint.44 Allerdings handelt es sich bei fast drei Vierteln der Urkunden, in denen Liutward als Intervenient auftritt, um Ausfertigungen für italienische Empfänger; für nicht-italienische Empfänger liegen Richgard und Liutward bezüglich ihrer Interventionen nahezu gleich auf.45 Ihnen beiden kommt damit die Spitzenposition unter den Intervenienten Karls zu, gefolgt von Erzbischof Liutbert von Mainz, Liutwards Rivalen, für den immerhin fünf Interventionen überliefert sind.46 Allerdings nimmt Richgard in der Gesamtschau der Interventionen ostfränkischer Königinnen keineswegs eine herausragende Stellung ein. Vielmehr überraschen die ansonsten nahezu unbekannte Oda und insbesondere Kunigunde durch einen Interventionsanteil an den Urkunden ihrer jeweiligen Ehemänner, der in Kunigundes Fall fast doppelt so hoch ist wie der Richgards. Der Befund ist umso bemerkenswerter, als dass für Konrad und Zwentibold insgesamt eher wenige Urkunden überliefert sind – allerdings muss hier relativierend eingewendet werden, dass Oda mit ihrer einzigen überlieferten Intervention in knapp 7 % der Urkunden Zwentibolds aus ihrer Ehezeit (!) als Intervenientin erscheint, während der Gesamtanteil der Interventionen vermerkenden Urkunden bei Zwentibold durchaus ca. 20 % ausmacht.47

Relationen Doch nicht nur die statistische Aufstellung der von Königinnen getätigten Interventionen gewinnt erst in Relation zur Interventionspraxis der jeweiligen Herrscher an Aussagekraft, selbst wenn diese aufgrund der niedrigen Fallzahlen

43 Zu Liutward, seiner Stellung bei Karl und den Vorwürfen gegen ihn und Richgard vgl. ausführlich Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 380–387, dort 382, auch mit genauer Auflistung seiner Interventionen. 44 Die genaue Auflistung bei Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 382. 45 Nämlich neun Interventionen Liutwards für nicht-italienische Empfänger (zu sieben/acht auf Seiten Richgards). 46 D KIII 64 (Worms, 13. Nov. 882, verunechtet), ed. Kehr (wie Anm. 38), 106–108; D KIII 109 (wie Anm. 38), 174f.; D KIII 164 (Lustenau, 24. Juli 887), ed. Kehr (wie Anm. 38), 266f.; D KIII 167 (Lustenau, 1. Sept. 887), ed. Kehr (wie Anm. 38), 270f.; D KIII 171 (887), ed. Kehr (wie Anm. 38), 276f., vgl. Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 428f. 47 Siehe Zwentiboldi Diplomata, ed. Theodor Schieffer, in: Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 4, Berlin 1960, 1–71, insbes. Diplom Zwentibolds (im Folgenden D Zw) 1, D Zw 3, D Zw 5, D Zw 17 und D Zw 28.

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begrenzt ist. Aufschlussreich ist überdies ein genauerer Blick darauf, für wen sich die ostfränkischen Königinnen denn überhaupt einsetzten. So intervenierte eben jene Kunigunde ausschließlich für das Kloster Lorsch, das ihr offenbar sehr am Herzen lag, wählte sie es doch zu ihrer eigenen Grablege. In einer der beiden Fälle profitierte insbesondere der Lorscher Abt Liuthar von Kunigundes Einsatz.48 Auch Oda setzte sich in ihrer einzigen überlieferten Intervention für eine kirchliche Institution ein, in diesem Fall das Kanonissenstift Essen.49 Allerdings ist Martina Hartmanns Feststellung, dass es sich bei den „Empfänger[n] der Urkunden, in denen die Karolingerinnen intervenierten“ „immer“ um kirchliche Institutionen gehandelt habe, ebenfalls zu relativieren. Vielmehr intervenierten die ostfränkischen Königinnen regelmäßig für Einzelpersonen, die ihrerseits, wie im erwähnten Fall des Lorscher Abts Liuthar, einer kirchlichen Einrichtung nahestehen konnten, doch war dies keineswegs zwangsläufig der Fall. So vermittelte Waldrada eine Schenkung Lothars II. für Bertha, eine Tochter Ludwigs des Deutschen, die in der Forschung gemeinhin als Äbtissin diverser Klöster geführt wird, doch spielen diese Verbindungen in der Urkunde keine Rolle.50 Richgard setzte sich zweimal für Laien ein, zu denen sie ein enges persönliches Verhältnis hatte.51 Dabei erscheint es bemerkenswert, dass sie offenbar selbst nicht über das Recht verfügte, ihren eigenen (!) Hörigen freizulassen; ob ihre Schenkung an Waltburg, deren Mann Huto und Tochter Wulpirga der Bestätigung durch Karl III. bedurfte oder ob es sich hier lediglich um eine Bekräftigung handelte, ist unklar.52 Die Tatsache, dass Waltburg vor ihrem Ehe-

48 Diplom Konrads I. (im Folgenden D KoI) 23 (Frankfurt, 7. Juni 914), in: Conradi I. Diplomata, ed. Theodor Sickel, in: Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1, Hannover 1879–1884, 2–36, 22: Konrad verleiht dem Abt Liuthar auf Lebenszeit das Kloster Lorsch und bestätigt zugleich den Mönchen das Recht der freien Abtswahl nach Liuthars Tode; D KoI 25 (Frankfurt, 8. Februar 915), ed. Sickel, 24: Konrad bestätigt dem Kloster Lorsch die von Kunigunde gemachte Schenkung von Giengen. 49 D Zw 22 (Essen, 4. Juni 898), ed. Schieffer (wie Anm. 47), 58f.: Zwentibold schenkt dem Kanonissenstift Essen Besitzungen in der Stadt Köln sowie in Köln- und Ahrgau und in anderen genannten Gauen. 50 D LoII 34 (Orbe, 22. Januar 869), ed. Schieffer (wie Anm. 30), 440–442. Waldradas Name ist in der im Original erhaltenen Urkunde zu einem späteren Zeitpunkt getilgt und durch Rotrud ersetzt worden, vgl. ebd., 441. Berthas Äbtissinnenstatus ist mehr als zweifelhaft, vgl. dazu Deutinger 2006 (wie Anm. 9), 136f. 51 Wie oben Anm. 42. 52 Zum Besitzrecht von Frauen sowie ihren rechtlichen Möglichkeiten insgesamt siehe Ingrid Heidrich, Von Plectrud zu Hildegard. Beobachtungen zum Besitzrecht adliger Frauen im Frankenreich des 7. und 8. Jhs. und zur politischen Rolle der Frauen der frühen Karolinger, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 52 (1988), 1–15; Dies., Besitz und Besitzverfügung verheirateter und verwitweter freier Frauen im merowingischen Frankenreich, in: Hans-Werner Goetz (ed.), Weibliche Lebensgestaltung im frühen Mittelalter, Köln et al. 1991, 119–138;

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mann genannt wurde, könnte darauf hindeuten, dass die persönliche Beziehung, durch die es zur Schenkung gekommen war – deren endgültiger Nutznießer im Übrigen das Nonnenkloster Andlau sein würde –, zwischen den beiden Frauen Waltburg und Richgard bestand. Letztere setzte sich überdies gemeinsam mit Bischof Liutward von Vercelli für einen Priester namens Ruodbert ein, der zugleich als ministerialis Karls III. bezeichnet wird und wohl Kustos der königlichen Kapelle war.53 Bei Uta stellt sich das Verhältnis von Laien oder allgemeiner Einzelpersonen zu kirchlichen Institutionen als Nutznießer ihrer Interventionen ganz ähnlich dar. In welcher Beziehung sie zu dem Ministerialen Hugbert stand, lässt sich nicht mehr eruieren, zumal der ursprüngliche Text der Urkunde radiert wurde.54 Ebenfalls sind ansonsten keine Beziehungen zwischen Uta und Abt Snello von Kremsmünster bezeugt; das Kloster profitierte selbst nicht von der durch Uta vermittelten Schenkung. Dass insgesamt Geistliche gegenüber Weltlichen als Nutznießer der Interventionen ostfränkischer Königinnen mit ca. 80 %55 deutlich überwiegen, ist angesichts der Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Urkunden wenig erstaunlich. Neben den Verbindungen der ostfränkischen Königinnen zu den Empfängern der Herrscherurkunden wird über den Blick auf die Interventionstätigkeit auch gemeinsames Agieren mit anderen – überwiegend männlichen – Großen des Reiches sichtbar. Insbesondere Richgard intervenierte mehrfach gemeinsam mit Bischof Liutward von Vercelli, der, wie erwähnt, seinerseits die Liste der Intervenienten Karls III. mit weitem Abstand anführt.56 Allerdings ist auch eine gemeinsame Vermittlungstätigkeit Richgards mit Liutwards ärgstem Rivalen, Erzbischof Liutbert von Mainz, überliefert.57 Uta setzte sich ebenfalls gemeinsam

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Doris Hellmuth, Frau und Besitz. Zum Handlungsspielraum von Frauen in Alamannien (700–940) (Vorträge und Forschungen. Sonderband 42), Sigmaringen 1998. D KIII 38 (wie Anm. 38), zu Ruodbert vgl. die Vorbemerkung der Urkunde ebd. 64f. sowie Michael Borgolte, Karl III. und Neudingen. Zum Problem der Nachfolgeregelung Ludwigs des Deutschen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), 21–55. D Arn 143 (Senna Lodigiana, 27. April 896), ed. Kehr (wie Anm. 18), 217–219; zum Verhältnis von ursprünglicher Urkunde und Fälschung siehe die Vorbemerkung ebd. 217f. In D KIII 154 (wie Anm. 38), 248–250 werden ein Laie (Dodo) sowie Bischof Geilo von Langres mit der herrscherlichen Gunst bedacht. Dabei ist der geistliche Status insbesondere zahlreicher karolingischer Königstöchter umstritten, zum Beispiel derjenige der Bertha, siehe oben Anm. 47. Nämlich in D KIII 38 (wie Anm. 38), D KIII 46 (wie Anm. 38); D KIII 104 (wie Anm. 38); zu Liutward oben Anm. 44–45. D KIII 109 (wie Anm. 38); zum Verhältnis Liutwards und Liutberts grundsätzlich Hagen Keller, Zum Sturz Karls III. Über die Rolle Liutwards von Vercelli und Liutberts von Mainz, Arnulfs von Kärnten und der ostfränkischen Großen bei der Absetzung des Kaisers, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 22 (1966), 333–384, bes. 336–338; vgl. auch Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 265–267.

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mit dem Erzbischof von Mainz, in diesem Fall Hatto, bei Arnulf ein;58 Bischof Engilmar von Passau stand für eine Urkunde für die Freisinger Bischofskirche an ihrer Seite.59 Zudem ist Uta die einzige der ostfränkischen Königinnen, die gemeinsam mit einer anderen Frau, nämlich mit Hildegard, der Cousine ihres Mannes, intervenierte, und zwar für das Nonnenkloster (!) Gandersheim.60 Familiäre Konstellationen lassen sich häufiger finden: So setzte sich Hemma gemeinsam mit ihrem Sohn Karlmann für das Kloster Prüm ein, und Oda verwandte sich gemeinsam mit ihrem Vater Otto (dem Erlauchten) bei Zwentibold für das Kanonissenstift in Essen.61 Wenn sich eine ganze Gruppe von Getreuen Konrads I., unter ihnen dessen Bruder Eberhard, Erzbischof Heriger von Mainz sowie ein Kaplan namens Woluinus, beim König für das Kloster Lorsch und dessen Abt Liuthar einsetzte, ist es ganz und gar charakteristisch, dass die Königin, Kunigunde, diese Gruppe anführt (in der Reihenfolge Kunigunde, Heriger, Eberhard, Woluinus).62 In der Hierarchie wird die Gemahlin des Herrschers in den Urkunden ausnahmslos an erster Stelle genannt.

Status – Königin oder Gemahlin? Allerdings liefern die ostfränkischen Herrscherurkunden zumindest des 9. Jahrhunderts im Hinblick auf die eingangs angerissene Frage, ob es sich bei den Frauen der Karolinger tatsächlich um Königinnen handelte oder doch einfach nur um Herrschergemahlinnen, eine eindeutige Antwort. In keiner einzigen dieser Urkunden wird eine Herrschergemahlin zugleich als regina bezeichnet. Vielmehr erscheinen die betreffenden Frauen durchweg als coniu(n)x nostra, wobei die persönliche Beziehung durch ehrende Adjektive wie dilecta, dilectissima oder carissima unterstrichen wird. Karl Brunner hat in einem anderen Zusammenhang ausschließlich in Bezug auf männliche Akteure in den Herrscher- und Fürstenurkunden des 9. und 10. Jahrhunderts die These vertreten, dass derartige Epitheta „diakritische Rangbezeichnungen“ darstellen, die insbesondere das Verhältnis eines Fürsten zum Herrscher zum Ausdruck bringen und ihn dadurch von dessen „übrigen comites“ – comes bedeutet ursprünglich der Gefährte, im Mittellateinischen der 58 D Arn 143 (wie Anm. 54), 218; bei D Arn 154 (Worms, 9. Juni 897), ed. Kehr (wie Anm. 18), 234f. könnte es sich um eine Fälschung (auf echter Vorlage?) handeln. 59 D Arn 170 (Regensburg, 13. Dezember 898), ed. Kehr (wie Anm. 18), 258f. 60 D Arn 107, ed. Kehr (wie Anm. 18), 157–159; die Urkunde selbst ist verloren. 61 D LD 110 (wie Anm. 1); D Zw 22 (wie Anm. 49), 58–60. 62 D KoI 23 (wie Anm. 48), 22: propter […] interventum dilecte˛ coniugis nostre˛ Chunigunde˛ regine˛ atque Herigeri archiepiscopi ac Eberhardi marchionis, fratris videlicet nostri, atque Woluini capellani nostri.

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Graf – unterschieden.63 Während Brunner das Adjektiv carissimus mit dem Ausdruck verwandtschaftlicher Beziehungen in Verbindung bringt und zudem einen offiziellen Charakter betont,64 erkennt er in „‚dilectus‘, obwohl es etwas früher auftritt und vor der Jahrhundertwende [vom 9. zum 10. Jahrhundert] häufiger Verwendung findet, nur die andere Seite zu ‚fidelis‘, wie sich eben noch jahrhundertelang die wechselseitige Lehensbindung in der Anrede ‚mein lieber und getreuer‘ ausdrückte“.65 Dagegen erscheint die Verwendung der Epitheta in den hier in den Blick genommenen Fällen durchaus flexibler. So treten in einer Urkunde Ludwigs des Deutschen seine Ehefrau Hemma und sein Sohn Karlmann gemeinsam als Intervenienten auf, die eine als carissima coniunx nostra, der andere als dilectus filius noster.66 Dies korrespondiert mit der einzig anderen Verwendung von carissima in den hier untersuchten Urkunden, nämlich in einer in zwei Ausfertigungen überlieferten Urkunde Karls III., in der Richgard, carissima coniunx nostra, gemeinsam mit Liutuhardus venerabilis episcopus ac dilectus archicancellarius noster interveniert.67 Hier scheint carissima die Abgrenzung einer (intimen) ehelichen Bindung von engen Beziehungen anderer Art zum Ausdruck zu bringen. Allerdings lassen sich auf der anderen Seite aus der Verwendung oder gerade auch der Nicht-Verwendung des Superlativs keine Rückschlüsse auf die Qualität der ehelichen Beziehungen ziehen. Andernfalls hätte etwa die Ehe Karls und Richgards in der Zeit vom März 884 (dilecta)68 auf den Juni 884 (dilectissima)69 deutlich an Zuneigung gewonnen. Überdies grenzt das unscheinbare dilecta die intervenierende Herrschergemahlin mitunter durchaus von anderen bedeutenden Großen des Herrschers an ihrer Seite ab. So wird etwa unter den in D KoI 23 genannten Intervenienten der an erster Stelle stehenden Kunigunde als einzige eine „diakritische Rangbezeichnung“ (nach Brunner) zuteil, und das obschon es sich bei den nach ihr Genannten um den Erzkapellan und Erzbischof Heriger von

63 Karl Brunner, Die fränkischen Fürstentitel im neunten und zehnten Jahrhundert, in: Herwig Wolfram (ed.), Intitulatio II. Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im neunten und zehnten Jahrhundert, Wien/Köln/Graz 1973, 179–340, hier 197–203, bes. 198. 64 Brunner 1973 (wie Anm. 63), 202 mit Querverweisen auf Beispiele in den Fußnoten. 65 Brunner 1973 (wie Anm. 63), 202. 66 D LD 110 (wie Anm. 1). Auch Ludwigs Tochter Bertha wird in einer Urkunde ihres Vetters Lothar II. als dilectissima patrui nostri gloriosi regis filia bezeichnet, nicht als carissima, während sie anderseits wohl kaum zu den Getreuen des lothringischen Königs gezählt haben dürfte, D LoII 34 (wie Anm. 50), 441. 67 D KIII 38 (wie Anm. 38), 64–66. 68 D KIII 96 (wie Anm. 40), 156. 69 D KIII 104 (wie Anm. 38), 168.

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Mainz, den ersten geistlichen Würdenträger des Reiches, und um den (Mark-) Grafen Eberhard, den Bruder des Königs, handelte.70 Im Gegensatz zu den hier untersuchten ostfränkischen Herrschergemahlinnen des 9. Jahrhunderts findet sich sowohl für die besagte Kunigunde als auch für Uta, allerdings in einer Urkunde ihres Sohnes Ludwigs des Kindes, die Bezeichnung regina.71 Die beiden Urkunden datieren aus den ersten beiden Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts. Zeichnet sich hier bereits der Anfang des 10. Jahrhunderts einsetzende Wandel in der Urkundenpraxis und Kanzleisprache auch in Bezug auf die Titulaturen der Herrschergemahlinnen ab? 72 In einem ähnlichen Sinn könnte es sich auch um spätere Zusätze, also um Verunechtungen handeln, da es sich bei den besagten Texten um abschriftliche Überlieferungen handelt. In beiden Fällen aber tritt der Titel regina neben die Bezeichnung coniux nostra oder im Falle Ludwigs des Kindes mater nostra. Er ersetzt damit nicht diese Spezifizierung der persönlichen Beziehung zwischen dem königlichen Aussteller der Urkunde und der Vermittelnden, sondern ergänzt sie. Die These, dass sämtliche Frauen, die in den Urkunden ‚nur‘ als coniuges bezeichnet werden, keine Königinnen gewesen seien,73 ist dabei nicht haltbar. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf Richgard, für die gar eine Krönung zur Kaiserin bezeugt ist.74 Aufschlussreicher als das Fehlen der regina-Bezeichnung ist vielmehr ein offensichtlich bewusster Verzicht auf den coniux-Titel, wie er für dilectissima nobis Waldrada, die Geliebte/Ehefrau Lothars II., in deren bereits erwähnter Intervention für Bertha bezeugt ist, und zwar zu einem Zeitpunkt, als Waldradas eherechtlicher Status noch immer ungeklärt war.75 Eine sehr ähnliche Formulierung wählte die Kanzlei Lothars II. denn auch kurz zuvor

70 Dazu auch oben bei Anm. 62. 71 Diplom Ludwigs des Kindes (im Folgenden D LK) 12 (Regensburg, 13. Sept. 901), in: Ludowici infantis Diplomata, ed. Theodor Schieffer, in: Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 4, Berlin 1960, 72–238, 113–115, 114; D KoI 23 (wie oben Anm. 48), 22. 72 Zu diesem vgl. Fössel 2000 (wie Anm. 2), 50–61. 73 So etwa konkret Timothy Reuter, Der Uota-Prozeß, in: Franz Fuchs/Peter Schmid (edd.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft. Reihe B 19), München 2002, 253–270, 261, in Bezug auf Uta. 74 Die Zusammenstellung der Quellenbelege bei Johann Friedrich Böhmer, Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751–918 (926), 14 Bde., Bd. 3: Die Regesten des Regnum Italiae und der burgundischen Regna, Teil 1: Die Karolinger im Regnum Italiae 840–887 (888), bearb. Herbert Zielinski, Köln/Weimar/Wien 1991, Nr. 646; vgl. auch Claudia Zey, Imperatrix, si venerit Romam. Zu den Krönungen von Kaiserinnen im Mittelalter, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 60 (2004), 3–51, 13f. 75 D LoII 34 (wie Anm. 50), 440–442.

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mit Bedacht in einer Urkunde für die gekrönte Königin76 (!) Theutberga (Teotberge dilectissime nostrae), von der sich Lothar mit aller Macht trennen wollte.77

Fazit Verglichen mit den Erwähnungen der ottonisch-salischen Königinnen und Kaiserinnen als Vermittlerinnen in herrscherlichen Urkunden sind die der karolingischen Königinnen und Kaiserinnen, in diesem Fall gezeigt am Beispiel der ostfränkischen Herrschergemahlinnen, tatsächlich relativ gering.78 Dennoch lohnt ein genauerer Blick auf dieses wichtige Betätigungsfeld mittelalterlicher Herrschergemahlinnen. Gerade im Vergleich mit den Interventionen männlicher Vertrauter der jeweiligen Herrscher zeigt sich dabei deutlich, dass es sich bei diesen Vermittlungen keineswegs um routinemäßige, gewissermaßen institutionalisierte Vorgänge handelte. Vielmehr intervenierten die ostfränkischen Königinnen, wenn sie selbst ein Interesse an dem Vorgang hatten, wobei ihr Status und das Gewicht, das ihrem Wort beizumessen war, in der Betonung ihrer persönlichen Bindung an den Herrscher zum Ausdruck gebracht wurden.

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76 Theutberga erscheint bereits seit 857/860 im Kontext ihrer Verstoßung als Königin in den zeitgenössischen Quellen, Belege bei Dohmen 2017 (wie Anm. 7), 183, 196; am 15. August 865 wurde diese Stellung durch einen gemeinsamen Gang des Königspaares unter der Krone öffentlich bezeugt und bestärkt, Annales Bertiniani, edd. Grat/Vielliard/Clémencet (wie Anm. 18), ad annum 865, 122, dazu Carlrichard Brühl, Fränkischer Krönungsbrauch und das Problem der ‚Festkrönungen‘, in: Historische Zeitschrift 194 (1962), 265–326, 288f. 77 D LoII 32 (Dodiniaco, 24. November 868), ed. Schieffer (wie Anm. 30), 437f. 78 Siehe hierzu im Vergleich auch noch einmal die Tabelle bei Fössel 2000 (wie Anm. 2), 125, sowie die Graphik bei Gilsdorf 2014 (wie Anm. 2), 115.

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Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Mechthild Albert Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Klassische und Romanische Philologie Abteilung für Romanische Philologie Am Hof 1 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Dittmar Dahlmann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Osteuropäische Geschichte Adenauerallee 4–6 53113 Bonn [email protected] Dr. Linda Dohmen Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung Mittelalterliche Geschichte Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected]

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Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Shigekazu Kondo The Open University of Japan 2–11 Wakaba Mihama-ku Chiba-shi, Chiba 261–8586 Japan [email protected] David Khunchukashvili, M. A. Ludwig-Maximilians-Universität München Historisches Seminar der LMU Geschichte Ost- und Südosteuropas Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München [email protected] Dr. Ekaterina Makhotina Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Osteuropäische Geschichte Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn Adenauerallee 4–6 53113 Bonn [email protected] Daniela Mathuber, M. A. Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien Universität Regensburg Landshuter Straße 4 93047 Regensburg [email protected] Dr. Diana Ordubadi Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected]

Liste der Autorinnen und Autoren

Lena Ringen, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Prof. Dr. Konrad Vössing Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Alte Geschichte Am Hof 1e 53113 Bonn [email protected] Christian Werner, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Dr. Theresa Wilke Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Prof. Dr. Christoph Witzenrat h Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Bonn Center for Dependency and Slavery Studies Heussallee 18–24 53113 Bonn [email protected]

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