Die Perspektive der Moral: Philosophische Grundlagen der Tugendethik 9783050079653, 9783050036298

Die erste Fassung dieses Buches wurde 1994 in einer italienischen Übersetzung unter dem Titel La prospettiva della moral

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German Pages 398 [400] Year 2001

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Philosophische Ethik als Tugendethik
I. Ethik im Kontext der philosophischen Disziplinen
II. Menschliches Handeln und die Frage nach dem Glück
III. Sittliche Handlungen und praktische Vernunft
IV. Die sittlichen Tugenden
V. Strukturen der Vernünftigkeit
Epilog: Von der philosophischen zur christlichen Perspektive der Moral
Verzeichnis der zitierten und weiterführender Literatur
Personenregister
Sachregister
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Die Perspektive der Moral: Philosophische Grundlagen der Tugendethik
 9783050079653, 9783050036298

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Martin Rhonheimer Die Perspektive der Moral

Martin Rhonheimer

D I E

PERSPEKTIVE DER MORAL Philosophische Grundlagen der Tugendethik

Dem Lindenthal Institut, Köln, und dem IMABE Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik, Wien, sei für gewährte Druckkostenzuschüsse herzlich gedankt.

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Ausschnitten aus Prudentia und Iustitia von Jacob Matham nach Hendrick Goltzius, aus der Kupferstichserie Die sieben Tugenden, verlegt von Pieter de Reyger, 1597.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-05-003629-X © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Jochen Baltzer, Berlin Satz: Konzepta, Prenzlau Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

9

Einleitung: Philosophische Ethik als Tugendethik

11

Klassische Ethik in der Tradition von Die „Perspektive der Moral" Normenethische Ansätze der Philosophische Ethik als Philosophische Ethik und religiöser Glaube Moralphilosophie und Struktureigenschaften

11 15 18 22 30 34 35

I.

Ethik im Kontext der philosophischen Disziplinen

41

1. 2. 3. 4.

Das Sollen und das Gute Das Gute und das Richtige Ethik ist reflektierte Praxis Philosophische Ethik und Gott

41 42 42 45

II. Menschliches Handeln und die Frage nach dem Glück

49

1.

Handlungstheorie: Intentionalität und Freiheit menschlichen Handelns

49

a) b) c) d) e)

49 53 56 59 62

2.

Die Perspektive des Handlungssubjekts Zielgerichtetheit und Begriff der „menschlichen Handlung" Zielgerichtetheit und Vernünftigkeit Sittliche Handlungen als „immanente Tätigkeiten" Das letzte Ziel und das Glück

Handlungsmetaphysik und Anthropologie: Bestimmung des menschlichen Glücks

65

a) b) c) d)

65 68 73 79

Zwei Aspekte von „Ziel": „Ziel von etwas" und „Ziel für etwas" Das zweifache Glück dieses Lebens und die Anthropologie der Lust (Aristoteles) . . . Vollkommenes und unvollkommenes Glück (Thomas v. Aquin) Die Zweistufigkeit des Glücks dieses Lebens

6

3.

INHALT

e) Der Gegenstand philosophischer Ethik f) Desiderium naturale und die Denkmöglichkeit eines natürlichen Menschen

80 83

Philosophische Ethik als Lehre von der menschlichen Tugend a) Die Nichtrelativierbarkeit des Menschlichen b) Die menschliche Vernunft: Telos und Maßstab

86 86 87

III. Sittliche Handlungen und praktische Vernunft

91

1.

Glücksstreben und Moral a) Glücksstreben und Handlungsmotive b) Handlungsmotive als Handlungsgegenstände c) Glücklichsein und Gutsein

91 91 94 95

2.

Zur Struktur intentionaler Handlungen a) Intentionen und Gegenstände von Handlungen. Der Begriff der intentionalen Basis-Handlung b) Mittel und Ziele c) Wählen und Intendieren als Willensakte und ihre intentionale Einheit d) Gute Intention und guter Wille

96 96 100 102 105

3.

Praktische Vernunft und die Konstituierung von Gut und Übel a) Das Praktische der praktischen Vernunft b) Gut und Übel in der Perspektive der Moral c) Die Unterscheidungen sittliche/nichtsittliche Güter und richtige/guteHandlungen. . . . d) Die moralische Differenz

108 108 115 118 129

4.

Der objektive Sinn menschlicher Handlungen und seine Bestimmung durch die Vernunft a) Intentionale Handlungen und Handlungsobjekte. Der Begriff der Handlungsspezies . . b) Die Konstituierung der moralischen Differenz und der Handlungsspezies durch die Vernunft c) Naturale und moralisch-intentionale Identität von Handlungsobjekten d) Die Vernunft als Maßstab der sittlichen Bewertung von Handlungsobjekten

135 138 143

Anthropologie der sittlichen Handlung a) Der anthropologische Primat der Vernunft b) Leidenschaften (Affekte, Emotionen, sinnliche Antriebe) und ihr Einfluss c) Der Wille und seine Freiheit d) Wille, Vernunft und Leidenschaft e) Menschliche Natur und Ethik. Der Begriff der Person

146 146 151 157 160 163

5.

132 132

IV. Die sittlichen Tugenden

169

1.

169 169

Der Begriff der sittlichen Tugend a) Vorbemerkungen zum Begriff „Tugend" b) Unterscheidung zwischen intellektuellen („dianoetischen") und sittlichen („ethischen") Tugenden c) Anthropologische und affektiv-kognitive Dimension der sittlichen Tugend

170 173

INHALT

2.

7

Die sittliche Tugend als Habitus der guten Handlungswahl a) Die Aristotelische Definition der sittlichen Tugend b) Die sittliche Tugend als Mitte c) Die habituelle Vervollkommnung der Handlungswahl durch die sittliche Tugend. . . . d) Die Ausformung der sittlichen Tugenden zum Habitus (I): Problematik der Aristotelischen Lösung und Ausweitung der Perspektive e) Die Ausformung der sittlichen Tugenden zum Habitus (II): Erziehung zur Tugend. Autorität und Freiheit

177 177 178 181

3.

Der Organismus der sittlichen Tugenden: Kardinaltugenden und Einzeltugenden. a) Der Begriff der Kardinaltugend b) Die objektive Differenzierung (Spezifizierung) der Tugenden c) Klugheit d) Gerechtigkeit (I): Gerechtigkeit als Wohlwollen und ihr sozialer Charakter e) Gerechtigkeit (II): Menschenrechte und politische Ethik f) Gerechtigkeit (III): Religion g) Starkmut (Tapferkeit) h) Maß i) Der innere Zusammenhang der sittlichen Tugenden

192 192 195 199 204 208 212 214 215 216

4.

Der mitmenschliche Charakter der Tugenden und die Freundschaft a) Der Primat der Person b) Freundschaft. Politische Tugenden und Institutionen c) Sittliche Tugend und das Glück dieses Lebens

220 220 222 225

186 190

V. Strukturen der Vernünftigkeit

227

1.

227 227 231 235 239 245 253

Die Prinzipien der praktischen Vernunft a) Das „von Natur aus Vernünftige" b) Zum Begriff des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) c) Das erste Prinzip der praktischen Vernunft d) Die Konstituierung spezifischer Handlungsprinzipien e) Praktische Prinzipien, Tugenden und intentionale Basis-Handlungen f) Genese und Applikation praktischer Prinzipien: Die Rolle von Erfahrung und Klugheit g) Exkurs: Die Mehrstufigkeit der praktischen Vernunft und das „Gesetz der abnehmenden Gewissheit" h) Prinzipienerkenntnis und affektive Dispositionen

263 267

2.

Sittliches Wissen und Gewissen a) Der Habitus des sittlichen Wissens b) Das Gewissen c) Sittliche Verpflichtung und ihre theonome Begründung

269 269 272 280

3.

Sittliche Normen a) Die Formulierung der Prinzipien als Normen b) Gesetzesnormen, Verhaltensregeln und sittliche Normen c) Normen und Handlungsbeschreibungen; Normenutilitarismus und Tugendethik . . . . d) Absolute Handlungsverbote. Töten und Lügen e) Verbotsnormen: Grenzbedingungen der Wahrung menschlicher Identität

291 291 293 297 303 319

8 4.

Inhalt Ethik des Handlungsurteils (Strukturen der Klugheit) a) Die Einheit der praktischen Vernunft und die Perspektive der Moral (Rekapitulation und Vertiefung) b) Klugheit und Kompetenz c) Kann der Zweck die Mittel heiligen? d) Umstände und Folgen. Prinzipien für die moralische Bewertung von Handlungsfolgen. e) Handlungen mit nichtintentionalen Nebenfolgen f) Güterabwägungskalküle und Folgenbilanzen („teleologische Ethik", Konsequentialismus) g) Klugheit und Gewissen

321

Epilog: Von der philosophischen zur christlichen Perspektive der Moral

363

Verzeichnis der zitierten und weiterführender Literatur

369

Personenregister

383

Sachregister

387

321 328 329 332 334 341 358

Vorwort

Die erste Fassung dieses Buches wurde 1994 in einer italienischen Übersetzung unter dem Titel La prospettiva della morale im Verlag Armando in Rom veröffentlicht. Im Jahre 2000 folgte eine erweiterte Version in spanischer Übersetzung (La perspectiva de la moral) im Verlag Rialp, Madrid. Schließlich ist nun auch die Zeit gekommen, das deutsche Original zu veröffentlichen, allerdings in einer wiederum erheblich erweiterten und aktualisierten Version. Abgesehen von einigen substantiellen inhaltlichen Zusätzen versuche ich hier nun auch auf Kritik an einigen meiner Ansichten und Positionen zu antworten, wie ich sie in der ersten, im deutschen Sprachraum kaum rezipierten Version dieses Buches wie auch in anderen Arbeiten vertreten habe. Dies betrifft vor allem die Studie „Natur als Grundlage der Moral" (Tyrolia, Innsbruck 1987, in einer englischen Übersetzung unter dem Titel Natural Law and Practical Reason: A Thomist View of Moral Autonomy bei Fordham University Press, New York 2000 erschienen) und die breit angelegten Untersuchungen zur ethischen Handlungstheorie bei Aristoteles und Thomas von Aquin, die 1994 unter dem Titel „Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis" ebenfalls im Berliner Akademie Verlag erschienen sind. Im Unterschied zu diesen eher an ein engeres Fachpublikum gerichteten Arbeiten lege ich hier nun eine systematisch konzipierte Darstellung philosophischer Ethik in der Tradition von Aristoteles und Thomas von Aquin vor. Es handelt sich dabei um eine Tugendethik. Dieses Buch erhebt, wie in der Einleitung näher ausgeführt wird, zwar durchaus den Anspruch, ein eigenständiger Beitrag zur ethischen Theorie zu sein, soll aber auch Studien- und Unterrichtszwecken dienen können und ist in diesem Sinne auch als eine Einführung in das Studium der philosophischen Ethik zu verstehen. In dieser Hinsicht vermochte „Die Perspektive der Moral" bereits ihre Dienste zu leisten. bleibt dem Leser überlassen zu beurteilen, wie leistungsfähig und der heutigen Zeit angemessen eine durchgehend an Aristoteles und vor allem an Thomas von Aquin anknüpfende Moralphilosophie ist, wie sie hier vorgelegt wird. Nicht nur das Interesse an Aristotelischer Ethik, sondern auch an Thomas von Aquin und seiner Moraltheorie hat freilich in den letzten Jahren, vor allem im angelsächsischen Sprachraum, erheblich zugenommen. Eine solche „klassisch"orientierte Ethik könnte, so ist die Erwartung, auch im deutschen Sprachraum durchaus als Bereicherung einer Diskussion wirken, in der gerade diese Position oft nur noch in recht oberflächlicher Verzeichnung gegenwärtig zu sein scheint. Keinesfalls soll hier der Anspruch erhoben werden, eine an Aristoteles und vor allem an Thomas von Aquin anknüpfende philosophische Ethik erschöpfe das Thema und mache andere Ansätze einfach überflüs-

10

VORWORT

sig. Wohl aber ist gemeint, dass sie für die grundlegenden Fragen der Ethik ein unverzichtbares Instrument darstellt. Näheres dazu ist in der Einleitung zu finden. Ein ganz besonderer Dank gebührt dem Akademie Verlag und ihren Geschäftsführern Dr. Gerd Giesler und Johannes Oldenbourg, die es gewagt haben, dieses Buch im Rahmen des Ethik-Programms des Verlags herauszubringen, und Herrn Dr. Mischka Dammaschke für die tadellose Betreuung der Drucklegung des Bandes. Martin Rhonheimer

Einleitung: Philosophische Ethik als Tugendethik

Klassische Ethik in der Tradition von Aristoteles und Thomas von Aquin Es mangelt nicht an Einführungen in die philosophische Ethik. Die vorliegende verfolgt einen zugleich theoretischen wie auch didaktischen Zweck. Sie will nicht einen Überblick über verschiedene Ansätze, Argumentationsweisen und Problemfelder im Bereich der Ethik vermitteln. Auch will sie keine Geschichte der Ethik vorlegen. Dieses Buch bietet vielmehr einen methodisch und argumentativ, Schritt für Schritt vorgehenden Grundkurs in philosophischer Ethik, indem es zugleich eine systematische ethische Position - eine ethische Theorie - entwickelt. Näherhin geht es darum, in zusammenhängender Gedankenführung die Grundelemente einer Tugendethik zu erarbeiten, und zwar in bewusster Absetzung von einer Form von Ethik, die sich in erster Linie als Begründungsdiskurs für „sittliche Normen" versteht. Es handelt sich um eine Tugendethik „klassischen" Typs, die, auf die antike Tradition zurückgreifend 1 und in steter Auseinandersetzung mit neuzeitlicher Moralphilosophie, an Thomas von Aquin anknüpft und damit indirekt auch „aristotelisch" genannt werden kann. Aber war Thomas von Aquin nicht Theologe? Gewiss war er das. Und deshalb kann sich Moralphilosophie 2 , die sich an ihm inspiriert, auch nicht darauf beschränken, einfach zu wiederholen oder zu kompilieren, was der Magister der Pariser Universität vor nun über siebenhundert Jahren geschrieben hat. Dies umso mehr, als hier ja philosophische Ethik geboten werden soll. Der Nachweis dafür, dass sich beim Theologen Thomas tatsächlich philosophische Ethik findet, wurde bereits vor Jahren erbracht, obgleich es einer besonderen Bemühung bedarf, aus der theologischen Synthese die philosophische Methodik und die philosophischen Gehalte gleichsam herauszuschälen, und zugegebenermaßen für Thomas das letzte Wort der Moraltheorie das theologische ist3. 1 Vgl. als umfassende Einführung die herausragende Studie von J. Annas, The Morality of Happiness, Oxford 1993. 2 Der Begriff „Moralphilosophie" wird im Folgenden synonym mit „(philosophischer) Ethik" verwendet, und nicht (falls es sich nicht unmittelbar aus dem Kontext ergibt) als Gegensatz zur klassischen Strebens- und Tugendethik. „Moral" hingegen bezeichnet den Gegenstand der Ethik bzw. der Moralphilosophie. Manchmal werde ich allerdings auch, im Sinne der klassischen Tradition, die Adjektive „ethisch" und „moralisch" synonym gebrauchen. 3 Bahnbrechend in dieser Hinsicht war W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz 1964, hier zitiert nach der 2. Aufl. Hamburg 1980. - Meine eigenen Beiträge dazu finden sich vor

12

EINLEITUNG

Es bleibt jedoch die Aufgabe, diese Gehalte zu aktualisieren und bezüglich neuer Fragestellungen und mit einem differenzierteren Problembewusstsein zu präzisieren, zu ergänzen und weiterzuentwickeln. Wir können nicht mehr einfach hinter Kant, J. S. Mill, G. E. Moore, Sartre usw. zurück. Versuchten wir das, wären wir nicht nur um manche Fragestellungen und Lösungsansätze ärmer, sondern wir könnten diese dann auch nicht hinterfragen und gegebenenfalls überwinden. Was not tut, ist nicht ein „zurück zu Thomas" oder „zurück zu Aristoteles", sondern beide, und damit eine ganze mit dem platonischen Sokrates anhebende Tradition in die Gegenwart hinein zu holen, um durch solche Vergegenwärtigung wieder vieles zu lernen, was wir vielleicht vergessen haben. Trotz aller Faszination moderner und zeitgenössischer Moralphilosophie, die wiederum nur Reflex der Faszination der Moderne insgesamt ist, und trotz aller Vielfalt neuer Probleme und Fragestellungen, wurde dieses Buch aus der Überzeugung heraus geschrieben, dass eine Ethik klassischen Typs, die insbesondere der Tradition eines durch Thomas weiterentwickelten Aristotelismus verpflichtet ist, auf fundamentalethischer Ebene neuzeitlichen Ansätzen in entscheidender Hinsicht überlegen bleibt. Der Leser soll sich hier freilich sein eigenes Urteil bilden. Ob es mir auf diesen Seiten gelingen wird, eine dieser Charakterisierung angemessene Behandlung des Stoffes vorzulegen, ist eine andere Frage. Auch dies muss dem Urteil des Lesers überlassen bleiben. Sofern wir mit „aristotelischer Ethik" nicht einfach eine bestimmte historische Gestalt von Ethik meinen, sondern einen, zwar historisch verorteten, durch ihren Wahrheitsgehalt jedoch die Grenzen bloßer Geschichtlichkeit übersteigenden Typus von Ethik, so kann m. E. die Position des Thomas von Aquin als eine Art fortgeschrittene aristotelische Ethik bezeichnet werden 4 . Ihre Grundkategorien sind von unzweifelhafter Aktualität und Fruchtbarkeit. Dass die thomanische Moralphilosophie grundlegend aristotelisch und trotz anderer und weitreichender Einflüsse 5 nur von Aristoteles her adäquat zu verstehen ist, wurde in den letzten Jahren wieder vermehrt hervorgehoben 6 . Gerade dieser „thomanische Aristotelismus" ermöglicht, ja fordert gerade dazu auf, sich auch heute mit Thomas nicht nur aus historischem Interesse, sondern auch im Sinne einer produktiven und aktualisierenden Aneignung zu beschäftigen, ohne dass dabei jedoch die Erfordernisse einer historisch genauen Hermeneutik und Textinterpretation vernachlässigt werden müssten. Dabei erweist sich der von Thomas allem in: Natur als Grundlage der Moral. Die personale Struktur des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin, Innsbruck-Wien 1987 (engl. Übers.: Natural Law and Practical Reason: A Thomist View of Moral Autonomy, New York 2000); Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994. Kritisch gegenüber diesen und anderen Versuchen, bei Thomas eine philosophische Ethik zu finden, äußerte sich in letzter Zeit D. J. M. Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good. Reason and Happiness in Aquinas's Moral Science, Washington, D. C., 1997. 4 Zur Doppelbedeutung des Begriffs „aristotelische Ethik" s. meine Ausführungen in Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O., S. 6 ff. 5 Dazu das klassische Werk von M. Wittmann, Die Ethik des Hl. Thomas von Aquin, München 1933. 6 Etwa von Autoren wie R. Mclnemy, Aquinas on Human Action. A Theory of Practice, Washington D. C. 1992; C. Martin, The Philosophy of Thomas Aquinas, London 1988; A. J. Lisska, Aquinas on Natural Law. An Analytic Reconstruction, Oxford 1996. Wie Mclnemy habe auch ich mich in „Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis" ausführlich gegen den Vorwurf von R. A. Gauthier („Introduction" zu Aristoteles, L'Ethique ä Nicomaque, Traduction et Commentaire, zus. mit J. Y Jolif, Tome I, Paris 1970) gewandt, Thomas verfälsche Aristoteles aus theologischen Gründen.

PHILOSOPHISCHE ETHIK ALS TUGENDETHIK

13

weitergedachte und in einen neuen kulturellen Kontext transponierte moraltheoretische Aristotelismus als Ansatz, der in oft unerwarteter Weise auf heute diskutierte Fragen Antworten bereithält, vor allem aber im gegenwärtigen moraltheoretischen Problemkontext fruchtbar weiterentwickelt zu werden vermag. Oft finden sich bei Thomas Aspekte, die sich im Zusammenhang heutiger Problemstellungen als entscheidend erweisen, nur beiläufig erwähnt oder gar einfach vorausgesetzt. Gerade das verleiht der Beschäftigung mit Thomas jedoch ihren besonderen Reiz. In diesem Sinne ist auch manches, das der „Schulthomismus" des 20. Jahrhunderts oft eher verdeckt hatte, erst während der letzten Jahre wieder ans Licht gebracht worden. Allerdings soll nicht der Anspruch erhoben werden, hier nun den „authentischen" Thomas vorzulegen, es sei denn, wir verstehen unter der Authentizität einer Rezeption immer auch das Weiterdenken und Aktualisieren der rezipierten Philosophie. Nicht so sehr kann es darum gehen zu fragen, ob Aristoteles oder Thomas dies oder jenes wirklich gesagt habe, sondern ob sie es heute sagen würden bzw. ob wir es heute mit ihnen sagen können oder sogar sollten. Die vorliegende einführende Darstellung will sich entsprechend daran orientieren, nicht-explizite - vor allem handlungstheoretische - Voraussetzungen einer von Thomas weitergedachten und vor allem um eine Theorie der Prinzipien praktischer Vernunft erweiterten aristotelischen Tugendethik herauszuarbeiten, um damit einen Beitrag dafür zu leisten, eine klassische Tradition gleichsam auf das Reflexionsniveau der Zeit zu heben, - ein Anspruch, der freilich hoch gegriffen ist und im Rahmen einer bloßen Einführung und von einem einzelnen Autor ohnehin nur unvollkommen eingelöst zu werden vermag7. Das sogenannte „höhere Reflexionsniveau" der Moderne ist allerdings selbst wiederum teilweise ein Mythos. Der Zwang zur ständigen „Anhebung" des Reflexionsniveaus ist nicht unbedingt immer nur als Fortschritt zu werten. So war das Reflexionsniveau der ptolemäischen Astronomie höher als dasjenige der kopemikanischen; der Geozentrismus bedurfte zur „Wahrung der Phänomene" eines ausgeklügelten Instrumentariums, dessen Notwendigkeit durch die kopemikanische Wende zunehmend entfiel. Der Zwang zu ständiger Ausweitung des Reflexionsinstrumentariums in der Philosophie reflektiert zum großen Teil die Bewältigung der Folgeprobleme philosophischer Einseitigkeiten und Reduktionismen. Die Philosophie der Neuzeit beginnt ja mit den terribles simplificateurs wie Descartes, Locke, Hume, und damit - vereinfachend gesagt - mit der Antithese von Rationalismus und Empirismus. Die Kantische Philosophie, sowohl die theoretische wie auch die praktische, markiert den definitiven Beginn einer bislang nicht ans Ende gekommenen Anstrengung, die Folgeprobleme solcher Einseitigkeiten zu bewältigen. Gerade in der Ethik ist die Hochkonjunktur der sich von der „normativen Ethik" unterscheidenden „Metaethik" (z.B. der Frage, was mit dem Wort „gut" gemeint sei) nur mit Vorsicht als Zeichen eines höheren Reflexionsniveaus oder eines gesteigerten Problembewusstseins zu werten; sie kann auch als Ausdruck eines moralphilosophischen Krisenmanagements interpretiert werden, das Folge eines Verlustes von Reflexionsgehalten ist, der nun „reflexionstechnisch" kompensiert werden muss. Metaethische Probleme scheinen zumeist gar keine Probleme der 7 Eine solche Konzeption unterscheidet sich deshalb von der eher restaurativen „neoaristotelischen" Tendenz von A. Maclntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, 2. Aufl. Notre Dame Indiana 1984; dt. Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M. 1987, denn im Unterschied zu Maclntyre erblickt sie in der modernen Moralphilosophie nicht einfach ein Verfallsprodukt und Traditionsvergessenheit, sondern auch die spezifisch moderne Antwort auf ungelöste Probleme und auf Unvollständigkeiten vormoderner Ethik.

14

EINLEITUNG

Ethik zu sein, sondern Probleme, die Philosophen mit der Ethik haben. Damit ist nun nicht gemeint, Fragen wie diejenige nach der Bedeutung des Wortes „gut" seien sinnlose Fragen; gemeint ist nur, dass sie nicht Fragen über die Ethik sind, sondern innerhalb des Ganges der ethischen Reflexion selbst beantwortet werden müssen, womit allerdings das Reflexionsniveau unvermeidlicherweise „sinken" wird8. Kennt man ein wenig gegenwärtige Ansätze der Ethik und entsprechende Diskussionen sei dies nun bezüglich der Frage der „Letztbegründung" oder auch Fragen konkreter ethischer Normierung - , so darf man ohne Zweifel in der thomanischen und generell in der klassischen Position eine Möglichkeit erblicken, nicht nur entscheidende Ergänzungen zu finden, sondern oft auch die ausschlaggebende Perspektive - die „Perspektive der Moral"-, die es Uberhaupt ermöglicht, das Phänomen der Moral und des sittlichen Handelns adäquat zu erfassen. Dabei findet heute ein Vertreter klassischer Ethik neben der Diskursethik vor allem zwei große Konkurrenten: die Moralphilosophie Kants und diejenige des Utilitarismus oder Konsequentialismus. Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit Kant, dessen zwar in so manchen Vorurteilen des historischen Bewusstseins verfangener Genius dennoch eine denkerische Größe und Überlegenheit besitzt, der auch der Kritiker seine Bewunderung nicht zu versagen vermag, kann hier natürlich nicht geboten werden. Ob Kant bzw. seiner Moralphilosophie auf den folgenden Seiten Gerechtigkeit widerfährt, wird wiederum der Leser zu entscheiden haben, der vielleicht zum Schluss kommen wird, mehr als zum Verständnis Kants trage diese Auseinandersetzung zum Verständnis meiner eigenen Ansichten bei. Im Zentrum wird jedenfalls die Entwicklung meiner eigenen Position stehen, so dass ich mich auf gelegentliche Hinweise auf allerdings wesentliche und deshalb auch erhellende Differenzen zu Kant beschränken kann. Auch weniger häufige Anmerkungen zu der in kantischer Tradition stehenden Diskursethik werden hin und wieder zur Klärung von einigem Nutzen sein, bildet doch die Diskursethik in manchen Aspekten ein ausgesprochenes ethisches Kontrastprogramm zu einer aristotelischen Tugendethik, denn ihr Selbstverständnis erwächst gerade aus der Diagnose der unter modernen Bedingungen zu konstatierenden Undurchführbarkeit einer solchen klassischen Ethik des guten Lebens und gewinnt von daher einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Legitimation. Am meisten Raum wird jedoch die Auseinandersetzung mit dem konsequentialistischen Utilitarismus, der sogenannten „teleologischen Ethik", einnehmen, denn konsequentialistische moralische Rationalität ist der eigentliche Antipode dessen, was hier als „Perspektive der Moral" verstanden wird. Diese Auseinandersetzung wird sich wir ein roter Faden durch das ganze Buch hindurch ziehen und dann im vorletzten Abschnitt („Güterabwägungskalküle und Folgenbilanzen") ihren ausführlichen Abschluss finden.

8 Dass („metaethische") Fragen über die Grundlagen von Ethik überhaupt keine von der Ethik selbst zu unterscheidende Fragen, sondern selbst Teil der Ethik sind, ist Charakteristik der antik-klassischen Ethik-Tradition; vgl. J. Annas, The Morality of Happiness, a. a. O., 135. Dadurch werden „metaethische" Fragen also keineswegs für sinnlos erklärt, aber in ganz anderer Weise angegangen.

PHILOSOPHISCHE ETHIK ALS TUGENDETHIK

15

Die „Perspektive der Moral" Die „Perspektive der Moral", wie sie hier verstanden wird, ist nicht identisch mit dem, was im angelsächsischen Raum geläufigerweise the moral point ofview genannt wird9. Dieser „moralische Standpunkt" wäre derjenige, der, jeweils das Verfolgen des Eigeninteresses einschränkend, die Interessen der anderen bzw. der Allgemeinheit geltend macht. Gegenüber dem seine eigenen, nur persönlichen Interessen verfolgenden Subjekt verträte dann die Moral den Standpunkt des Allgemeinen, für alle Gültigen und die Interessen aller Betroffenen Berücksichtigenden sowie der Unparteilichkeit. Nun soll hier keineswegs behauptet werden die Perspektive der Moral sei nicht diejenige eines das pure Eigeninteresse korrigierenden „allgemeinen" oder „höheren" Standpunktes. Insofern ist der moral point ofview in der Tat der Standpunkt der Moral. Zu bestreiten ist lediglich der behauptete Gegensatz zwischen „persönlichem Interesse" und „Moral", bzw. ein Begriff des Moralischen als Einschränkung dessen, was in unserem persönlichen Interesse liegt10. Die „Perspektive der Moral", so wie sie hier verstanden werden soll, ist der Standpunkt des Menschen als leib-geistige Einheit und handelndes Subjekt, ausgestattet mit Trieben, Affekten und Emotionen, instinktschwach aber gleichzeitig befähigt, aus seiner eigenen Zentralität sich durch Intellekt und Wille auf andere hin zu transzendieren, frei, und zugleich stets der Verfehlung seiner Freiheit ausgesetzt, zwar Herr seines Tuns aber doch auch immer gefährdet, Sklave dieses Tuns und seiner oft ungeklärten Antriebe zu werden; und aus dieser Perspektive dann der Standpunkt des handelnden Subjekts, der in seinem Streben, Wollen und Tun das „für ihn Gute" sucht und dabei schließlich auf ein Letztes aus ist, das um seiner selbst willen gesucht wird und alles Streben zu erfüllen vermag, eine Erfüllung, die wir „Glück" nennen. Aus dieser Sicht macht die Dichotomie „Eigeninteresse - Moral" keinen Sinn. Denn hier steht Moral gerade im Dienst des eigenen Interesses am Guten, nämlich im Dienste der Wahrheit dieses Guten und damit im Dienst des Interesses am Gelingen der eigenen Existenz, am „guten Leben". Gleichzeitig aber kann das Interesse der jeweils anderen bzw. der Allgemeinheit an ihrem Wohl und dem für sie Guten jetzt auch als eigenes Interesse verstanden werden, da es - sofern der Handelnde auf Kohärenz bedacht ist - unmöglich erscheint, ein „Für-mich-in-Wahrheit-Gutes" anzuerkennen und praktisch zu verfolgen, wenn ich es nicht grundsätzlich auch als ein „Für-die-anderen-Gutes" anerkenne und insofern daran, dass sie dieses Guten teilhaftig werden, auch ein persönliches Interesse habe. Gerade die grundlegende Ausrichtung praktischer Vernunft nicht an einem bloße subjektive Neigung übersteigenden „Sollen", sondern am „Guten", wie es vernunftgeleitetem Streben gegenständlich ist, garantiert zwar nicht die Harmonie von Eigeninteresse und Interesse anderer, wohl aber, dass das Eigeninteresse auch das Interesse, das Wohl, des anderen einzuschließen vermag, - weil es eben Interesse am wahrhaft Guten ist. Die Relevanz von Moral 9 Vgl. K. Baier, The Moral Point of View. A Rational Basis of Ethics. Ithaca and London 1958 (dt.: Der Standpunkt der Moral. Eine rationale Grundlegung der Ethik, Düsseldorf 1974). 10 Genau in diesem Sinne kritisiert J. Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, S. 313 ff. den in der heutigen Ethik geläufigen Gegensatz zwischen der auf das Interesse der anderen gerichteten morality und der das eigene Interesse verfolgenden prudence. H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1992 hingegen bietet in seinem sich selbst als postmodern verstehenden Ansatz geradezu eine Apotheose dieses typisch neuzeitlich-modernen Gegensatzes.

16

EINLEITUNG

und ihren Wahrheitsansprüchen für die Verfolgung meines persönlichen Interesses garantiert dann gerade die Universalisierbarkeit solcher Ansprüche, die Gemeinsamkeit der Interessen und damit eine grundlegende - wenn auch nicht notwendigerweise bruchlose - Verschränkung von Eigeninteresse und Moral. Freilich heißt dies nicht, sittliche Forderungen bzw. praktische Urteile seien wesentlich universal oder universalisierbar. Sie sind im Gegenteil partikulär, situationsgebunden, konkret und, wie Aristoteles sagt, „immer wieder anders". Aber gerade insofern praktische Urteile partikulare Handlungsurteile sind, sind sie wiederum gar nicht Thema der Moralphilosophie oder Ethik, sondern eben Gegenstand der handlungsleitenden Klugheit. Moralphilosophie beschäftigt sich gerade mit dem diesen zugrundeliegenden Allgemeinen, wodurch konkretes Urteilen und Handeln eben „moralisch" wird. Gerade deshalb muss sie sich allerdings auch mit den Grenzen des „moralisch Möglichen" beschäftigen, denn nichts kann positiv bestimmt werden, wenn es nicht zugleich auch ein- und abgegrenzt wird. Insofern sich Ethik mit moralischen Grenzen beschäftigt, wird sie auch zu konkreten Aussagen über „dürfen" und „nicht-dürfen" kommen. Die wahre, der Perspektive der Moral eigene Dichotomie ist deshalb jene zwischen bloßem subjektiven Schein des Guten und der Wahrheit dieses „Scheinens des Guten" vor der praktischen Vernunft. „Moral" steht nicht im Dienste der Überwindung oder Unterdrückung von Subjektivität (auch nicht empirischer und sinnlicher Subjektivität), sondern im Dienste ihrer Wahrheit, gerade auch - und dies ist mit einem kritischen Seitenblick auf Kant gesagt - der Wahrheit der durch unsere empirischen und sinnlichen Antriebe geprägten Subjektivität. Die Perspektive einer Moral, der es um solche „Wahrheit der Subjektivität" zu tun ist, ist immer jene des handelnden Subjekts, der „ersten Person"' 1 . Was in den Blick kommen muss, ist gerade dieser Standpunkt des handelnden Menschen, - der immer und notwendigerweise auf ein Gutes und, da er doch in seinem Streben nach dem Guten kein Betrogener sein will, auf ein „in Wahrheit Gutes" aus ist - , sowie der diesen Standpunkt reflektierende ethische Diskurs. Die heutigen Bemühungen um „Ethik", vor allem wenn sie sich primär als Diskurs zur Begründung von „Normen" verstehen, leiden oft gerade darunter, dieser Perspektive nicht gerecht zu werden, trotz aller wertvollen Teileinsichten. Sie leiden unter dem Verlust der Frage nach dem Ethischen12. Dies ganz besonders, wenn Ethik nur noch beansprucht, formale Regeln zur Normenerzeugung begründen zu können, nicht aber materiale Inhalte und Werte, auf die sich solche Normen zu beziehen hätten und die imstande sind, auch praktische Orientierungsleistungen zu erbringen. Solche Orientierungsleistungen sind heute je länger je mehr gefragt und deshalb kann es auch nicht verwundern, dass sich philosophische Ethik heute wieder zunehmend dem Diskurs über Inhalte und Werte, die konkret-praktische Orientierungsleistungen zu erbringen vermögen, zuwendet. Ethik hingegen, die sich in Analogie zum politisch-ethischen und rechtspolitischen Diskurs auf die Begründung formaler Prozeduren der Rechtfertigung von moralischen Normen beschränkt, scheint immer mehr aus dem Blick zu verlieren, was denn nun das „Moralische" solcher moralischen Normen eigentlich ausmacht, auch wenn sie sich durchaus damit beschäftig, „moralische Probleme" zu lösen. Besteht die „Grundfrage der Moral" wirklich darin, „wie

11 Vgl. II, l , a . 12 Vgl. auch: F. Ricken, Kann die Moralphilosophie auf die Frage nach dem .Ethischen' verzichten? in: Theologie und Philosophie 59 (1984), S. 161-177.

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interpersonale Beziehungen legitim geregelt werden können" 1 3 ? Ist das nicht vielmehr die Grundfrage aller Politik und damit das Thema politischer Gerechtigkeit? Schließlich: Wo moralische Normen, kantianisch (aber hinter Kant zurückbleibend) als „praktische Regeln der Selbstbeschränkung von Freiheit um der Freiheit aller willen" verstanden werden, die im Wesentlichen den „wechselseitigen Anerkennungsprozess in einem Lebenskontext" reflektieren 14 , dann bedeutet das auch, dass Moral bzw. Ethik nichts anderes als das je wieder in solchen geschichtlicher Kontingenz unterworfenen Anerkennungsprozessen Erzeugte begriffen werden kann. Eine solche Ethik entspricht dem, was Charles Taylor „Ethics of Inarticulacy" 15 nannte, in der keine Werthierarchien begründet werden können, die Frage nach der Superiorität von Auffassungen über das Gute bezüglich anderer Auffassungen also ausgeklammert wird. Nun haben aber Autoren wie J. Raz und Ch. Taylor eindringlich darauf hingewiesen, dass es Autonomie nicht geben kann, wenn ihr Sinn nicht auf jenes Gute bezogen wird, für das Autonomie eben gut ist, was wiederum nach Kriterien für die Auszeichnung moralisch wertvoller Handlungsmöglichkeiten und Lebensformen verlangt 16 ; und dass die „Authentizität" des autonomen, nach Selbstverwirklichung strebenden Individuums nicht möglich ist, wenn nicht aller Autonomie vorgelagerte Bedeutsamkeits- und Sinnhorizonte anerkannt werden, die ermöglichen, unabhängig davon, was das autonome Subjekt jeweils für wertvoll erachtet und deshalb wählt, gewisse Dinge als wichtiger und bedeutsamer als andere zu bewerten 17 . Die oft einseitige Konzentrierung auf die Frage nach den bloß prozeduralen Bedingungen legitimer Begründung moralischer Normen hängt wohl auch wesentlich mit der zumindest für professionelle Philosophen kanonisch geltenden Meinung zusammen, in einer von Bewusstseinsphilosophie, kantischer und nach-kantischer Erkenntniskritik, nietzschescher Metaphysikkritik und schließlich dem linguistic turn gekennzeichneten nachmetaphysischen Epoche sei so etwas wie „Wahrheit" für die Ethik kein Thema. Aus ähnlichen Gründen tut sich die Moderne schwer, die klassische, für den common sense der Alltagsvernunft immer noch zentrale „Frage nach dem guten Leben" zu stellen 18 . Auch der von vormodernen Ressourcen zehrende, oft abschätzig so genannte „Neoaristotelismus" 19 weiß natürlich, dass gerade bei Aristoteles praktische Wahrheit sich von Wahrheit im epistemisch-theoretischen Sinne unterscheidet. Der ethische Diskurs der Moderne ersetzt deshalb, falls er nicht, eben in „neoaristotelischer" Weise, praktische Vernunft an Traditionen von Kommunitäten zurück13 J. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1999, S. 301. 14 A. Pieper Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Philosophie, München 1985. Pieper erklärt hier für „Moral" was bei Kant lediglich die „Rechtslehre" der Metaphysik der Sitten zum Gegenstand hat, die Kant immerhin noch um eine „Tugendlehre" ergänzt hat. 15 Ch. Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, Mass. 1989, S. 53 ff. 16 J. Raz, The Morality of Freedom, a. a. O., S. 400 ff. 17 Ch. Taylor, The Ethics of Authenticity, Cambridge Mass. /London 1991, S. 38 f. 18 Vgl. U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek b. Hamburg 1999; A. W. Müller, Was taugt die Tugend? Elemente einer Ethik des guten Lebens, Stuttgart 1998 (eine glänzende, eingängige Kurzfassung einer Tugendethik). 19 H. Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus?, in: W. Kuhlmann, Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 38-63.

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EINLEITUNG

bindet, Wahrheit durch Geltung, Richtigkeit (utilitaristischer oder pragmatischer Art), oder Zweckmäßigkeit. An die Stelle der Erkenntnis von Wahrheit treten Strategien der Rechtfertigung, obwohl man weiterhin weiß, dass die lebensweltliche Alltagsvernunft „realistisch" ist und sich an Gewissheiten und Wahrheitsansprüchen orientiert20. Es ist jedoch einleuchtend, dass in einer solchen Situation Ethik nur noch als das Geschäft der Begründung von Nonnen verstanden werden kann, da Programme der Normenbegründung am ehesten Wahrheitsfragen zugunsten von Strategien der bloßen Rechtfertigung auf sich beruhen lassen kön-

Normenethische Ansätze der Moralphilosophie und die „Perspektive der Moral" Pointiert normenethische Ansätze philosophischer Art finden sich gegenwärtig vor allem in der Gestalt des Utilitarismus und der Diskursethik. Die Kantische Ethik hingegen ist nicht so sehr eine Normenethik, sondern eher eine Maximenethik 22 . Allerdings teilt sie mit Utilitarismus und Diskursethik die zentrale Charakteristik jeglicher Normenethik, Handlungen aus der Beobachterperspektive zu beurteilen, von einem Standpunkt außerhalb des handelnden Subjekts also. Dies ist natürlich wiederum Ausdruck der typisch modernen Entgegensetzung von Moralität und Eigeninteresse, die dazu führt, Moral dort beginnen zu lassen, wo das eigene Interesse durch die Interessen der anderen eingeschränkt wird. Tugendethiken in klassischer Tradition hingegen sind eudämonistisch und damit Ethiken der „Ersten Person", d.h. für sie lautet die grundlegende ethische Frage, worin das für den Handelnden Gute besteht, und zwar aus der Perspektive des Handelnden (was, wie bereits gesagt, nichts mit Egoismus zu tun hat, da in einem richtig, nicht hedonistisch fehl interpretierten Eudämonismus auch das Gut des anderen zum Gut des Handelnden gehört23). Dennoch bleiben bei Kant die subjektiven Handlungsmaximen zentral und sie drücken Wünsche und Interessen des Handelnden auf einer allerdings noch vor-moralischen Ebene aus. Dass es ein subjektives Interesse am Guten gibt, das nicht selbst wiederum „egoistisch" sondern bereits moralisch sein könnte, ist auch für Kant undenkbar. Utilitarismus und Diskursethik - auch Mischformen sind möglich: vertragsethische Theorien tragen z. B. utilitaristische und diskursethische Züge - verfehlen, in je verschiedener Weise, aber konsequenter als Kantische Ethik, was hier als die „Perspektive der Moral" verstanden wird. Wie zu zeigen ist, klammert der Utilitarismus (oder Konsequentialismus) mit seinem eventistischen Begriff von Praxis gerade den handelnden Menschen zugunsten der Optimierung der durch sein Handeln verursachten Folgen und Sachverhalte aus. Konse-

20 Vgl. J. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, a. a. O. 288 ff. 21 Eine Ausnahme bildet hier jedoch der im Raum des Konsequentialismus angesiedelte „Moralische Realismus", der wiederum, gleichsam im Sinne des Common sense, die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile behauptet, da sich dies aus der „Idee der richtigen moralischen Antwort" bzw. „richtiger Lösungen moralischer Probleme ergibt"; vgl. P. Schaber, Moralischer Realismus, Freiburg / München 1997. S. 34 f. und 41 ff. 22 Vgl. O. Höffe, Immanuel Kant, München 1983, S. 186 ff. 23 Dazu unten II, 1 a und III, 1 a. Vgl. auch Teil III („The Good Life and the Good of Others") von J. Annas, The Morality of Happiness, S. 223 ff., bes. 322 ff.

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quentialisten24 gehen davon aus, dass der Handelnde verpflichtet ist, jeweils jene Handlung auszuführen, durch die er voraussichtlich die Folgen für alle Betroffenen zu optimieren vermag. Konsequentialisten halten es nicht nur für evident, dass eine Handlung mit besseren Folgen einer solchen mit weniger guten Folgen vorzuziehen ist; ihnen gemäß ist dies auch der einzige Gesichtspunkt, unter denen die sittliche Richtigkeit von Handlungen sinnvollerweise beurteilt zu werden vermag. Mit tugendethischen Argumenten können sie deshalb wenig anfangen, denn für einen Konsequentialisten kann Tugend höchstes eine Name für die Disposition sein, jeweils die richtige, d.h. folgenoptimale Handlung auszuführen. Konsequentialisten kommen zu dieser Auffassung, weil sie gerade ausklammern, was für einen Tugendethiker zentral ist, dass nämlich das Handlungssubjekt selbst bzw. seine Handlungswahl gegenüber den von seinen Handlungen betroffenen Subjekten einen privilegierten Status besitzt, so dass Urteile der folgenden Art möglich sind: Eine Handlung x (z. B. das Töten eines Menschen in einem Erpressungsfall, um damit den Tod von vielen anderen zu verhindern) hätte zwar für alle Betroffenen bessere Folgen als die Unterlassung dieser Handlung; dennoch darf ich sie nicht ausführen, weil ich durch ihre Ausführung eine Ungerechtigkeit begehen und ein ungerechter Mensch würde. Aus konsequentialistischer Warte sind solche Urteile nicht möglich, da „gerecht" immer nur auf Grund der Handlungsfolgen für alle Betroffenen beurteit werden kann, wobei Handlungen und Unterlassungen gleicher Status zuerkannt wird. Kritiken tugendethischer Kritik am Konsequentialismus sind natürlich genau dann zirkulär, wenn sie bereits einen konsequentialistischen Begriff von „Tugend" voraussetzen25. In der Tradition des Utilitarismus besitzt also der Konsequentialismus die Eigenart, als „moralisch" nur gelten zu lassen, was die Interessen aller möglicherweise Betroffenen einschließt. Konsequentialistisch begründete moralische Normen reflektieren dann notwendigerweise diesen intersubjektiven Standpunkt. Diskursethische Ansätze auf der anderen Seite scheinen von Anfang an den moralischen Diskurs des Einzelsubjekts zugunsten des intersubjektiv erzielten Konsenses bezüglich der Etablierung von gesamtgesellschaftlich, für alle Betroffenen akzeptierbaren Normen zurückzustellen oder gar für unmöglich zu erachten. Die Diskursethik setzt damit zum einen als moralische Subjekte konstituierte Diskursteilnehmer bereits voraus (ohne dafür allerdings eine ethische Theorie anzubieten, es sei denn, wie bei Habermas, in der Form sozialpsychologischer Entwicklungstheorien, oder, im Falle Apels, in einer, von Habermas wiederum abgelehnten, transzendentalen Analyse des Apriori kommunikativer Praxis, das als ethische Letztbegründung verstanden wird26) und verlangt zum andern nach einem die diskursethische Etablierung von Normen ergänzenden Anwendungsdiskurs, welcher den Charakter eines Klugheitsdiskurses besitzt 27 , in dem dann durchaus z. B. auch konsequentialistische Ge24 Für eine präzisere Bestimmung verschiedener Formen von Konsequentialismus s. J. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, München 2 1995. 25 Das ist z. B. der Fall bei P. Schaber, Moralischer Realismus, a. a. O., S. 309314 und seiner Kritik an P. Foot, Utilitarianism and the Virtues, in: S. Scheffler, (Hrsg.), Consequentialism and its Critics, Oxford 1988, S. 224-242. Schabers Kritik ist eine Petitio principii. Vgl. auch V, 4 f. 26 K. O. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, in: Apel, Transformation der Philosophie, Band 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (1973), Frankfurt a. M„ 1976, S. 358435. 27 J. Habermas, Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: Habermas Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 114, sowie J. Habermas., Treffen

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EINLEITUNG

sichtspunkte zum Tragen kommen können und - aber gewissermaßen zu spät, als dass die Diskursethik dazu noch etwas zu sagen hätte - sämtliche moralischen Grundfragen auftauchen. Die Diskursethik manifestiert symptomatisch die Signatur moderner Moralphilosophie, insofern sie als kognitivistische Ethik davon ausgeht, dass unter neuzeitlichen Bedingungen einer „nachmetaphysischen" Epoche praktische Vernunft nicht mehr eine Antwort auf das „für mich Gute" zu finden vermag, sondern allein noch für das intersubjektiv und durch Konsens feststellbare „Was soll man tun?" zuständig sein kann28. Das führt folgerichtig zur Einsicht, dass ein Diskursethik eigentlich erst als Diskurstheorie des Rechts und der Politik durchführbar ist29, das Diskursprinzip selbst dann gar nicht mehr als Moralprinzip verstanden wird30, was wiederum zur Diagnose einer „definitiven Auflösung" der Diskursethik geführt hat31. Damit zeigt sich jedoch: Diskursethik ist keine Ergänzung zur praktischen Vernunft des Einzelnen, sondern höchstens eine Theorie darüber, wie gesellschaftliche Geltung von sittlichen Normen - letztlich als rechtliche Normen - erzeugt werden kann. Damit wird sie zur politischen Ethik - eine Tendenz, die ihr auf Grund ihres nur intersubjektive Vernunft und entsprechendes verständigungsorientiertes Handeln als Rationalitätskriterium geltend lassenden Charakters von Anfang an innewohnte32. Tugendethik braucht freilich mit der Diskursethik nicht prinzipiell in Konkurrenz zu treten. Sofern man die politisch-rechtsethische Logik der Diskursethik und damit ihre im Gegensatz zur Tugendethik intersubjektive Legitimationsbasis unterstreicht, handelt es sich nicht eigentlich um alternative Paradigmen. Aus der Sicht klassischer Tugendethik wird man jedoch feststellen müssen, dass die Diskursethik gerade den eigentlich fundamentalen Gegenstand der Ethik verfehlt: das handelnde Subjekt in seinem ursprünglichen Streben nach dem Guten und seinem Interesse an der Richtigkeit dieses Strebens und der entsprechenden praktischen Wahrheit seines konkreten Tuns. Diskursethische Gesichtspunkte sind für eine politische Ethik, die eher Institutionenethik und Rechtsethik als Tugendethik ist, durchaus einschlägig. Institutionelle politisch-ethische Diskurse sind wesentlich auf Konfliktlösung angelegt. Und genau das will die Diskursethik (während hingegen utilitaristische Rationalität Konflikte

28 29

30 31 32

Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, S. 24. Vgl. J. Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus, in: Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a. a. O., S. 77-99. J. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, a. a. O., 117. Das Programm wird durchgeführt in J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992. Ebd., S. 140. K.-O. Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, S. 733 ff. Und die bei Apel noch verschärft wird durch die Hinzufügung einer realistischen Verantwortungsethik, dem sog. „Ergänzungsprinzip" oder Teil B der Diskursethik, eine (durchaus pragmatisch-utilitaristische) Ethik, die darum besorgt ist, die den idealen Diskurs erst ermöglichenden gesellschaftlichen Zustände herzustellen. Vgl. K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1990 (z. B. S.453 ff.); sowie Apel, Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik, in: Apel und M. Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M., 1992, S. 29 ff.

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zugunsten rationaler Sozialtechnologie eigentlich weg-argumentiert). Diskursethik verlagert das klassische, noch bei Kant dominierende Thema des Konflikts zwischen falschen, egozentrischen, unvernünftigen und wahren Interessen - gleichsam Kant in Rousseau rückübersetzend - auf die Ebene des gesellschaftlichen Diskurses, in dem ein für alle zwanglos akzeptierbarer Konsens die Vernunft der Moral repräsentiert, die alle partikulare, dem bloßen (zumindest unaufgeklärten) selfinterest verhaftete Vernunft hinter sich lässt. Die diskursethischen Erfordernisse der zwanglosen und sich auf alle Betroffenen erstreckenden Akzeptabilität der voraussichtlichen Folgen einer allgemein geltenden Norm und der diskursiven und konsensgeprägten Einlösung von normativen Geltungsansprüchen in einer idealen Sprechsituation werden damit zu alles tragenden Moralprinzipien, welche allerdings durchaus die „Anwendung eines substantiell gehaltvollen moralischen Gesichtspunktes" 33 einschließen, eines Gesichtspunktes allerdings, so wäre zu ergänzen, der eher für die politischrechtliche Ebene relevant zu sein scheint. Denn er begründet nicht substantielle Auffassungen über das Gute, sondern ist eher ein Prinzip der politischen Gerechtigkeit, dem gemäß - etwa im Sinne von Rawls' „overlapping consensus" - nicht allgemein akzeptierte bzw. akzeptierbare Auffassungen über das Gute von der öffentlichen Geltung auszuschließen sind34. Als Tugendethik beschäftigt sich „Die Perspektive der Moral" gerade mit der aller Möglichkeit von intersubjektiven Diskursen und verständigungsorientiertem Handeln vorausliegenden Ebene. Diese Ebene umfasst ein Zweifaches: Die Bedingungen dafür, dass diskursives Verhalten, Verständigungspraxis, überhaupt möglich ist (denn sie ist, was die Diskursethik nicht leugnet, aber auch nicht thematisiert, nur unter Subjekten möglich, die bereits vorgängig als moralische Subjekte mit entsprechenden Überzeugungen und einem für alle verständlichen moralischen Sprache konstituiert sind35); und zweitens umfasst sie die grundlegenden möglichen Inhalte von solchen Diskursen. Diskurse ohne nicht-formale d.h. substantielle Rationalitätskriterien - vornehmlich, aber nicht ausschliesslich, Gerechtigkeitskriterien - sind nicht möglich, nicht einmal im politischen Kontext. Dazu kommt dann aber noch eine dritte Ebene, die jedem normbezogenen Diskurs nach- und gleichzeitig übergeordnet ist und auch noch die Ebene von sog. Anwendungskursen hinter sich lässt: jene des konkreten Handelns des einzelnen Subjekts. Dazu bedarf es wiederum einer Ethik des partikularen Handlungsurteils (Klugheit). Hier ist keine intersubjektive Verständigung mehr gefragt, sondern persönliche Verantwortung. Das Moralische ist ja nicht unbedingt das, worüber Konsens besteht, sondern, wie Robert Spaemann betont, unter Umständen gerade, was aus allem Konsens ausbricht, ja ihm widerspricht, und dabei mit dem Anspruch des Richtigen auftritt36. Eine Ethik, die wie die Diskursethik, nur eine intersubjektive Verständigung über das Gute zulässt, muss diese letztlich entscheidende Ebene verfehlen bzw. ausblenden. Sie wird deshalb praktische Wahrheit durch konsensuell erzeugte Richtigkeit ersetzen37. 33 J. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, a. a. O., S. 21. 34 J. Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 133ff; jetzt auch in Rawls, Collected Papers (hrsg. von S. Friedmann), Cambridge, Mass. 1999, S. 421 ff. („The Idea of an Overlapping Consensus"). 35 So wurde aus ganz anderer Perspektive auch von E. Tugendhat, Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik, in: Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 118 darauf hingewiesen, „dass die Konsenstheorie als eine allgemeine Begründungstheorie unannehmbar ist". 36 R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, S. 184. 37 Vgl. auch A. Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 69 ff., der ähnlich wie Tugendhat darauf hinweist, dass die Gründe, aus denen wir etwas für wahr oder richtig halten, jeder intersubjektiven Verständigungs-

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EINLEITUNG

Im Folgenden wird es darum gehen, eine Einführung in die philosophische Ethik vorzulegen, der es besonders daran gelegen ist, gegenüber den verschiedenen Formen von Normenethik die genannte „Perspektive der Moral" herauszuarbeiten. Das hat nun freilich nichts mit „Moralismus" zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass sich die Antwort auf die Frage nach der Begründung sittlicher Normen bereits dort entscheidet, wo sie noch gar nicht ausdrücklich gestellt werden kann, nämlich auf der Ebene der Einsicht darin, was denn überhaupt „menschliches Handeln", „praktische Vernunft", kurz: was überhaupt der handelnde Mensch ist. Auffassungen darüber werden von Ethikern oft stillschweigend vorausgesetzt oder erst im Nachhinein, wenn alles schon gelaufen ist, erörtert. Diese Auffassungen sind es jedoch, die letztlich alles bestimmen. Gerade dazu lassen sich in der von Aristoteles über Thomas von Aquin verlaufenden Tradition der Tugendethik entscheidende Grundlagen erarbeiten. Hier sind nun allerdings noch einige Abgrenzungen und Differenzierungen notwendig.

Philosophische Ethik als rationale Tugendethik Klassische Tugendethik, in deren Tradition die vorliegende Grundlegung zu stehen beansprucht, unterscheidet sich von manchen gegenwärtigen Formen der Virtue ethics, wie sie sich vor allem im angelsächsischen Raum in Opposition zur dominierenden Moral philosophy in den vergangenen Jahrzehnten ausgebreitet hat38. Sie geht auf einen berühmt gewordenen Aufsatz von G. E. M. Anscombe aus dem Jahre 1958 39 und der darin enthaltenen Kritik an den Kategorie des „moralischen Sollens" und der „moralischen Verpflichtung" zurück, eine Kategorie, die nach Anscombe durch Rückbesinnung auf das Paradigma der „sittlichen Tugend" zu überwinden wäre 40 . Ebenso erhielten tugendethische Ansätze durch A. Maclntyres epochales Buch After Virtue (1981) entscheidenden Auftrieb. In ihren extremeren handlung und einem daraus zu erzielenden Konsens vorausliegen: „Das Faktum des Konsenses, selbst wenn er unter idealen Bedingungen einträte, kann kein Grund für die Wahrheit des für wahr Gehaltenen sein" (S. 72). Darauf erwidert Habermas heute durch die Ersetzung von „Wahrheit" durch Richtigkeit: „Ein unter idealen Bedingungen diskursiv erzieltes Einverständnis über Normen oder Handlungen hat mehr als nur autorisierende Kraft, es verbürgt die Richtigkeit moralischer Urteile. Ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit ist das, was wir mit moralischer Geltung meinen ..." (J. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, a. a. O., S 297). 38 Einige wichtige klassische Beiträge pro und contra Tugendethik und weiterführende Bibliographie findet sich z. B. in: P. Rippe und P. Schaber, Tugendethik, Stuttgart 1998; R. Crisp und M. Slote, Virtue Ethics, Oxford 1997 (Oxford Readings in Philosophy). Vgl. auch ausführlicher: M. Slote, From Morality to Virtue, Oxford 1992. Wichtige Beiträge auch in P. A. French u. a. (Hrsg.): Ethical Theory: Character and Virtue (Midwest Studies in Philosophy Volume XIII), Notre Dame 1988. Vgl. weiter: Ph. Foot, Virtues and Vices, in: Foot, Virtues and Vices, Oxford 1978 (dt. auch im oben angegebenen, von Rippe und Schaber besorgten Band) und Foot, Die Wirklichkeit des Guten, Frankfurt a. M. 1997; A. W. Müller, Was taugt die Tugend? Elemente einer Ethik des guten Lebens, Stuttgart 1978. Einen kritischen Überblick über die moderne Tugendethik und eine Analyse bietet: J. Schuster, Moralisches Können. Studien zur Tugendethik, Würzburg 1997. 39 Modern Moral Philosophy (1958), in: The Collected Philosophical Papers of G. E. M. Anscombe, Vol. III, Oxford 1981, S. 26-42; dt.: Moderne Moralphilosophie, in: G. Grewendorf und G. Meggle, Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt/M. 1974, S. 217-243. 40 Vgl. auch die Kritik am Begriff der moral Obligation und seiner zentralen Stellung in der modernen Moralphilosophie bei B. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985, S. 174 ff.

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oder „radikalen" Formen41 hat diese Art der Tugendethik einen weitgehend nicht-kognitivistischen Charakter, d. h. sie behauptet, die Moralität einer Handlung und schließlich des handelnden Subjekts selbst entspringe nicht so sehr der erkennbaren - und im Nachhinein auch als Normen, Prinzipien oder Regeln formulierbaren - Richtigkeit von Handlungsweisen, sondern vielmehr der jeweiligen moralischen Verfasstheit des handelnden Subjekts. Nicht „Richtigkeit des Handelns" definiert hier, was die Tugend des Subjekts ist, sondern Tugend als richtige Verfasstheit des Subjekts definiert und generiert die „Richtigkeit des Handelns". Wichtig ist also zunächst nicht, das „Richtige" zu tun (schon gar nicht auf Grund von Normen, Prinzipien oder Regeln), sondern richtig zu fühlen, richtig zu denken, die richtigen Motive zu haben, - kurz, ein subjektiv richtig verfasster (z. B. altruistischer, mitfühlender, tapferer, gerechtigkeitsliebender) Akteur zu sein. Daraus entspringen dann entsprechend richtige, moralisch wertvolle Handlungen Dies sind entscheidende Charakteristika einer jeden, auch einer klassischen Tugendethik. Moderne Tugendethik tendiert jedoch dazu, diese motivationalen Aspekte gegenüber den rational kognitiven zu verselbständigen. Sie hält zwar m. E. richtigerweise dafür, dass die moralische Hauptfrage lautet „Was für ein Mensch will ich sein?" und nicht „wie soll ich handeln?", hat aber Schwierigkeiten, die erste Frage - die Frage nach dem guten Leben - zumindest auch von der Frage nach dem richtigen Handeln her zu stellen. „Tugenden" als subjektive Verfasstheit des Handlungssubjekts werden damit mehr oder weniger scharf der Erkenntnis und Befolgung von Prinzipien, sittlichen Normen und Regeln des richtigen Handelns entgegengesetzt42. Die richtige Motivation durch tugendhafte Verfasstheit des Subjekts steht nun gegen „Verpflichtung" durch Prinzipien, Normen und Regeln. Während der (moderne) Moralphilosoph die Erkenntnis der Richtigkeit von Handlungsweisen, entsprechende Prinzipien, Normen oder Regeln und die dadurch geschaffene sittliche Pflicht an den Anfang stellt, Tugenden hingegen dann als bloß abgeleitete Größe im Sinne einer subjektiven Verfasstheit gemäß den so erkannten Prinzipien, Normen und Regeln begreift, versteht der (moderne) Tugendethiker die sittlichen Tugenden als das Primäre, den Ursprung von Moralität, die Richtigkeit einer Handlungsweise hingegen als abgeleitete, aus der Tugend des Subjekts, der Richtigkeit seiner Verfasstheit entsprungene Größe. Damit tritt „Tugend" bzw. richtige Motivation an die Stelle von sittlicher Pflicht: man tut das moralisch Richtige und Gute, nicht weil man Pflichten, Regeln oder Normen erfüllt, sondern weil man ein richtig verfasster, ein guter Mensch ist. Die gegenwärtige, vor allem im angelsächsischen Raum vertretene Tugendethik kritisiert berechtigtweise einige Schwachpunkte neuzeitlicher „Moralphilosophie" und akzentuiert dabei wesentliche Anliegen klassischer Tugendethik. Die Unterschiede bleiben jedoch beträchtlich. Gegenwärtige Tugendethik ist oft einseitig und eine Extremposition und wird deshalb auch nicht selten kurzerhand als Schuss ins Leere kritisiert, da letztlich auch Tugenden nur aufgrund der Richtigkeit von Handlungen definiert werden können43. Freilich schließen das auch heutige Vertreter der Tugendethik nicht unbedingt aus. Einige anerkennen explizit, dass die Richtigkeit von Handlungen von tugendgemäßen Dispositionen unterscheidbar und 41 Vgl. K. Baier, Radical Virtue Ethics, in: P. A. French u. a. (Hrsg.), Ethical Theory: Character and Virtue, a. a. 0 . , S . 126-135. 42 Vgl. etwa N. J. H. Dent, The Moral Psychology of the Virtues, Cambridge 1984, S. 31 f. 43 F. Ricken, Aristoteles und die moderne Tugendethik, in: Theologie und Philosophie (1999), 391^04.

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EINLEITUNG

nicht ausschließlich von letzteren ableitbar ist44. Dennoch scheinen diese beiden Aspekte in der heutigen Tugendethik nicht immer in zufriedenstellender Weise integriert zu sein. Klassische Tugendethik ist jedenfalls weder nicht-kognitivistisch (sie behauptet also nicht, dass die Richtigkeit einer Handlungsweise einfach positiv zu bewertenden Motivationen entspringt und versteht „Tugend" als durchaus vernunftbezogenen Begriff 45 ), noch kennt sie einen Gegensatz von Tugend und Pflicht. Tugend im klassischen Sinn versucht auch nicht einfach unsere gegebenen moralischen Intuitionen zu rechtfertigen und ist auch nicht in „neoaristotelischer" Weise an das jeweilige vorherrschende Ethos zurückgebunden. Als rationale Kategorie will Tugend auch unsere gegebenen und durch Erziehung, Gewohnheit, Ethos mitgeformten moralischen Intuitionen und Motivationen aufklären und sie gegebenenfalls verbessern. Anderseits reduziert klassische Tugendethik jedoch die Tugenden auch nicht, wie dies die neuzeitliche Moralphilosophie tut, auf bloß habituelle Aneignung von Prinzipien, Normen und Regeln, sondern ist ausgesprochene Glückslehre: sie versteht das Gute, Richtige, Gesollte immer im Hinblick auf das dem Erreichen wahren - wenn auch u. U. durchaus unvollkommenen - Glücks Zuträgliche. Klassische Tugendethik in aristotelischer Tradition versteht Tugend als jene emotionale bzw. affektive Verfasstheit des Subjekts, die (1) auf rational erkennbaren Prinzipien gründet und durch die (2) das Richtige, die Pflicht, das Sollen dann im Einzelfall erst adäquat erkennbar wird, weil sittliche Tugend die Affektivität vernunftgemäß disponiert und damit Vernünftigkeit im partikularen Handeln ermöglicht und sichert. Gerade dieser zweite Punkt ist das entscheidende Charakteristikum einer jeden echten Tugendethik. Gemäß einem gängigen, den Begriff der Tugend zur Trivialität herab stufenden Missverständnis, sind Tugenden einfach positiv zu bewertende Charaktereigenschaften46 oder, wie bereits erwähnt, Dispositionen der Erfüllung moralischer Regeln oder Normen, wichtig vor allem für Kinder, die noch nicht über die rationale Kompetenz des Verstehens moralischer Regeln und des differenzierten Umgangs mit ihnen verfügen47. Der springende Punkt ist nun gerade, dass einem nicht-trivialen Begriff der sittlichen Tugend gemäß „Tugend" nicht in einer Disposition, affektiven Verfassung oder Neigung besteht, „das jeweils Richtige zu tun", s o n d e r n d a r i n , das Richtige aus affektiver Neigung zu tun, d. h. auf Grund der affektiven Verfassung oder Neigung jeweils das Richtige zu treffen. W ä r e T u g e n d nur i m trivialen Sinne

zu verstehen als Disposition, das jeweils Richtige zu tun, so bedeutete dies ja, dass Tugend selbst gar keine Grundlage für die Bestimmung dieses „Richtigen" sein kann, da das jeweils der Tugend Gemäße vom „Richtigen" her bestimmt würde. Gemeint ist aber gerade das Umgekehrte: die tugendhafte Disposition ermöglicht es überhaupt erst, das im Konkreten Richtige zu erkennen und auch effektiv zu tun, weil Tugend praktische Vernunft affektiv leitet und sichert. Sittliche Tugend ist nicht einfach nur die affektive Verfassung oder Neigung, das jeweils Richtige (die „Pflicht") zu tun, sondern eine Neigung oder affektive Verfassung, durch die das hier und jetzt Richtige überhaupt erst adäquat als „Gutes" erfasst und im konkreten Tun auch effektiv getroffen wird (davon gibt es dann natürlich keine Theorie bzw. universale normative Aussagen). Sittliche Tugend ist Potenzierung von Vernünftigkeit bezüglich des konkreten Handelns. 44 45 46 47

So etwa M. Slote, From Morality to Virtue, a. a. O., S. 89. Vgl. J. Annas, the Morality of Happiness, a. a. O., S. 450. So z. B. bei J.-C. Wolf / P. Schaber, Analytische Moralphilosophie Freiburg / München 1998, S. 63. B. Gert, Morality. Its Nature and Justification, New York / Oxford 1998, S. 277 ff. (= dritte Version von B. Gert, The Moral Rules: A New Rational Foundation for Morality, New York 1970).

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Wird Tugend in dieser Weise verstanden, dann scheint es fehl am Platz zu sein, von möglichen Konflikten zwischen einzelnen Tugenden als Kollisionen zwischen verschiedenen moralischen Verbindlichkeiten zu sprechen und, da solches in der Aristotelischen Tugendethik nicht angemessen berücksicht sei, eine „für Tugendkonflikte zuständige Urteilskraft" als „Metatugend" zu fordern 48 . Dies geht am klassisch-aristotelischen Verständnis sittlicher Tugend gerade vorbei, weil diese erstens dem Begriffe nach bereits die adäquate Erkenntnis des im Partikularen zu Tuenden einschließt und zweitens behauptet, „einzelne Tugenden", die möglicherweise miteinander in Konflikt geraten, könne es so gar nicht geben, da im eigentlich Tugendhaften alle Tugenden eine organische Einheit bilden, was dem Tugendhaften gerade ermöglicht, das im Konkreten Richtige zu erfassen. „Die wirkliche Tugend hat sozusagen den Konflikt bereits gelöst, bevor er die reale Entscheidung lähmen könnte."49 Nun bedeutet das keineswegs, was im Einzelnen das Richtige sei, könne nicht rational gerechtfertigt werden, hänge nicht auch von vernünftig einsehbaren normativen Voraussetzungen ab und könne vor dem Gewissen des Handelnden nicht als „Pflicht" auftreten. Auch das Handlungsurteil des Tugendhaften ist immer ein Urteil der Vernunft, näherhin der Klugheit. Die affektiv geleitete praktische Erkenntnis des Tugendhaften ist jedoch ein vorzüglicher Modus praktischer Erkenntnis, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er (1) das flexible Eingehen auf die konkrete Situation ermöglicht, und zwar gerade als ein Treffen des dem jeweiligen Tugendziel entsprechenden moralisch Richtige (2) nicht nur Erkenntnis verschafft, sondern (im Unterschied zu dem von Aristoteles ausführlich analysierten „akratos", dem Unenthaltsamen oder „Willensschwachen") auch zum effektiven Tun des erkannten Guten führt und (3) (diesmal im Unterschied zum bloß Enthaltsamen, der gegen seine Neigung das als Pflicht Erkannte erfüllt) Motivation und Handlungsgründe zur vollen, auch subjektiv befriedigenden Übereinstimmung bringt50. Auch das affektiv geleitete praktische Urteil des Tugendhaften bleibt jedoch ein Urteil der Vernunft, ja ist noch mehr ein solches, als das praktische Urteil des affektiv Fehlgeleiteten, da dieses letztere nicht einer durch wohlgeordnete Affekte potenzierten Vernunft entspringt, sondern einer solchen, die sich bloß im Schlepptau von ihrer eigenen Logik überlassenen Affekten oder Emotionen befindet und deshalb weniger „Vernunft" ist, als die Vernunft des Tugendhaften 51 . Sittliche Tugend definiert und sichert damit gerade auch die Bedingungen dafür, dass das Glücksstreben sich in den Bahnen von Vernünftigkeit vollzieht, dass wir als Letztes und um seiner selbst willen erstrebtes Gut darauf aus sind, was auch vernünftigerweise als ein solches Letztes und Höchstes gewollt werden kann. Klassische Tugendethik, wie sie hier verstanden wird, ist rationale Tugendethik. Da eine solche Tugendethik die Richtigkeit von Handlungen nicht einseitig als Derivat von positiv zu bewertenden emotionalen Einstellungen und Motiven versteht, letztere an Kriterien von Vernünftigkeit zurückbindet und einen Diskurs über moralische Regeln und Normen zulässt, also an einem der Teleologie der Wünsche, Neigungen und Strebungen des Subjekts 48 O. Höffe, Aristoteles' universalistische Tugendethik, in: Rippe/Schaber (Hrsg.) Tugendethik, a. a. O., S. 42-66; 61 49 A. W. Müller, Was taugt die Tugend?, a. a. O., S. 17. 50 Vgl. auch M. Stocker, The Schizophrenia of Modern Ethical Theories (orig. The Journal of Philosophy 73, 1976, 453-466) in: Crisp/Slote (Hrsg.), Virtue Ethics, a. a. O. S. 66 ff. (dt.: Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien, in: Rippe/Schaber (Hrsg.), Tugendethik, a.a.O. 19 ff.). 51 Die anthropologischen Implikationen und Voraussetzungen dieser Aussage sind hier noch nicht zu erörtern. S. dazu III, 4.

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vorgeordneten normativen Begriff des „Guten" festhält, wurde behauptet, „dass weder Aristoteles noch Thomas eine,reine Tugendethik' vertreten"52. Eine solche Behauptung ist nun aber ein Missverständnis und nur sinnvoll, wenn man von einem bereits „radikalen" Begriff von Tugendethik ausgeht. Auch eine rationale Tugendethik, wie die hier vertretene, ist durchaus eine „reine" Tugendethik, allerdings ohne die Einseitigkeiten jener radikalen Formen von Tugendethik, wie sie zuweilen anzutreffen sind. In einer rationalen Tugendethik klassischen Zuschnitts haben Prinzipien, Regeln und Normen jedoch einen anderen Status als in der modernen Moralphilosophie. Sie drücken letztlich Strebensziele aus, die, gleichsam anthropologisch rückgekoppelt, auf das für den Menschen Gute gerichtet sind und dieses auf der Ebene des grundlegend-Allgemeinen zum Ausdruck bringen. „Sittliche Tugend" meint hier nicht die Disposition, Gesetze, Normen oder Regeln zu erfüllen sondern vielmehr der vollkommene Modus des Erfüllens dessen, was in Gesetz, sittlicher Norm oder moralischer Regel zum Ausdruck kommt: nicht als Erfüllung einer Norm, sondern in zugleich affektiver wie auch kognitiver Ausrichtung auf das durch Prinzipien und entsprechende Normen ausgewiesene Gute. Gemäß einem tief sitzenden Vorurteil habe es auch der Aristotelismus eines Thomas von Aquin nicht weiter gebracht als zu einer Auffassung der Tugenden als „habits of obedience to laws" 53 . Eher müsste man jedoch sagen, für Thomas brächte gerade das (natürliche) Gesetz - die „Lex naturalis" - die Rationalität der Tugenden zum Ausdruck. Tugenden helfen nicht, ein uns gleichsam gegenüber stehendes oder auferlegtes moralisches Gesetz zu erfüllen; als „natürliches Gesetz" ist das Moralgesetz vielmehr das die Tugend überhaupt erst ermöglichende kognitive Grundprinzip. Tugenden sind nicht als „Mittel" oder Dispositionen zu verstehen, um das moralische Gesetz zu erfüllen, sondern umgekehrt ist das moralische Gesetz ein „Mittel" bzw. das Prinzip, mit dessen Hilfe wir die Tugenden erwerben können. Aber ein solches „Mittel" ist es nicht als ein uns Gegenüberstehendes oder uns Auferlegtes, sondern als Strukturprinzip praktischer Vernunft selbst. Das grundlegende Phänomen ist immer der Mensch als kognitivstrebendes Wesen, nicht aber Normen, Regeln oder Gesetze. Normen und Regeln sind normative Aussagen, abgeleitete sprachliche Universalien, mit denen wir uns über das praktisch Gute verständigen. Praktische Prinzipien hingegen, insofern wir sie, wie es im Folgenden der Fall sein wird, von Normen und Regeln unterscheiden, sind zugleich intelligible Bewegungsursachen von Praxis - also Prinzipien der Praxis selbst, und nicht einfach normative Aussagen über sie - und damit zugleich Grund aller Intelligibilität des jeweils konkret Guten, wie es das Handlungsurteil zum Gegenstand hat. Damit sind sie Handlungs- und Moralprinzip in einem. Tugendethik in diesem Sinne fragt nach den Bedingungen dafür, dass ein solches strebendes Wesen vernünftig ist bzw. erstrebt, was allein vernünftigerweise als Gutes erstrebt werden kann. Dazu rekurriert sie in der verschiedensten Weise auf das „von Natur aus Vernünftige". Allen Formen klassischer Tugendethik gemeinsam ist, das „Natürliche" nicht naturalistisch, sondern als das wirklich und prioritär für den Menschen Gute und ein Ideal gelungenen Menschsein zu verstehen 54 . Das „von Natur aus Vernünftige" wird bei Thomas von Aquin dann als - die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts und Praxis überhaupt begrün-

52 J. Schuster, Moralisches Können, a. a. O., S. 52. 53 J. B. Schneewind, The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998, S. 20. 54 Vgl. J. Annas, The Morality of Happiness, a. a. O., S. 135 ff.

PHILOSOPHISCHE E T H I K ALS T U G E N D E T H I K

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dende - originäre Erkenntnisleistung praktischer Vernunft, die sich zur sittlichen Tugend ausweitet, und als durch diese konstituiertes „natürliches Gesetz" interpretiert. Damit zielt eine so verstandene Tugendethik - wie alle Tugendethik - auf die Rehabilitierung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjekts ab, wird diese Kompetenz aber zugleich an bestimmte Bedingungen knüpfen. Nicht um eine Letztbegründung von Ethik geht es dabei, sondern um den Aufweis von nichthintergehbaren und letzten sittlichen „Gegebenheiten", die zwar diskursiv nicht ableitbar sind - sie sind vielmehr Ausgangspunkt und Voraussetzung jeglichen ethischen Diskurses jedoch, wie gesagt, jedem Handlungssubjekt als Einzelnem „natürlicherweise" offen stehen. Dies freilich nicht im Sinne eines besonderen „Wertfühlens" im Sinne Max Schelers oder Nicolai Hartmanns, das als ein von praktischer Vernunft unterschiedenes Organ der Werterkenntnis verstanden wird, sondern als Ausgangspunkt und damit Bestandteil praktischer Vernünftigkeit selbst. Der Auffassung, dass ethische Geltungsansprüche nur noch im Medium der Intersubjektivität einsichtig gemacht werden können, wird dabei mit der Behauptung eines unmittelbar möglichen und auch unausweichlichen Gegebenseins dessen, was alle Moral, ja die Sphäre des Moralischen überhaupt begründet, entgegengetreten 55 . Diese Gegebenheiten sind an sich keineswegs strittig: Dass es für uns gut ist, zu leben, uns zu erhalten, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben, vernünftig zu handeln, Wahrheit zu erkennen, die verdienten Früchte unserer Arbeit zu ernten, uns mit dem anderen Geschlecht zu verbinden, uns zu reproduzieren u. ä. ist gewöhnlicherweise auch heute nicht Gegenstand des Streites. Strittig ist aber nicht nur die Gewichtung, sondern vor allem die Interpretation dieser „Güter". Man kann sie nämlich als bloßen „ R o h s t o f f und materialen Ausgangspunkt einer erst noch zu leistenden, im geschichtlichen Prozess immer wieder neuen individuellen und gesellschaftlichen WertSchöpfung deuten, durch die sich humane Identität und entsprechende moralische Normen erst als geschichtlich und gesellschaftlich bedingte jeweils herausbilden, oder aber auch als eben nichthintergehbare „natürliche" Voraussetzungen praktischer Vernünftigkeit und von ihnen abhängiger Wert-Schöpfung und humaner Identität. Das muss nicht naturalistisch gemeint sein, und ist es hier ebensowenig, wie es in der dieselbe Haltung einnehmenden Tradition des Naturrechts gemeint war. Eine Tugendethik in klassischer Tradition repräsentiert jedenfalls eine gewissermassen „naive" Interpretation dieser Gegebenheiten als Prinzipien d. h. eben nichthintergehbare Ausgangspunkte aller praktischen Vernünftigkeit, verlangt aber auch - in diesem Sinne nicht „naiv" und vor allem nicht naturalistisch - eine ethische Klärung dieser Gegebenheiten im Horizont von Vernünftigkeit 56 . 55 Zur Kritik am diskursethischen Junktim von Letztbegründung und Intersubjektivität vgl. auch V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 31997, S. 179 ff. 56 U. Steinvorth, Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Moraltheorie, Reinbek b. Hamburg 1990, vertritt die Auffassung, „modern" sei eine Ethik, wenn sie moralische Verbindlichkeit auf der „Verbindlichkeit menschlicher Interessen, Bedürfnisse und Entscheidungen" gründet, „klassisch" hingegen, wenn sie zur Bestimmung moralischer Verbindlichkeiten von objektiven Verhältnissen ausgeht, „die unabhängig von menschlichen Interessen und Wünschen bestehen" (S. 56). Diese Aussage und ihre plane Gegenüberstellung von „subjektiven Interessen" und „objektiven Verhältnissen" ist allerdings zu relativieren, denn klassische Tugendethik geht gerade davon aus, dass unsere Vorstellungen vom Guten und seiner Verbindlichkeit auf unseren Interessen und Wünschen beruhen, allerdings auf unseren wahren Interessen und unseren vernünftigen Wünschen. Der Unterschied von „objektiv" und „bloß subjektiv" ist hier nicht ein solcher von „außen" und „innen", sondern eher von „vernünftig" und „vernunftwidrig". Deshalb gilt für klassi-

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Damit ist aber Tugendethik das Gegenteil von „Expertenmoral". Sie unterschiedet sich hier wesentlich von Auffassungen von Ethik, die, wie die Diskursethik, nur aus intersubjektiven Verständigungsprozessen hervorgehende, auf Konsens beruhende Geltungsansprüche akzeptiert, oder, wie der utilitaristische Konsequentialismus, eine Fülle von Folgen aller Art für einen möglichst großen Kreis von Betroffenen in ihr nutzenmaximierendes Kalkül einzubeziehen hat, und die deshalb eher die Vernunft von Ethikkommisionen als von moralisch kompetenten Alltags-Handlungssubjekten reflektieren (was nicht heißt, dass diese Subjekte von Ethikkommissionen nicht entscheidende Hilfen erfahren können bzw. dass solche Kommissionen für Entscheidungsprozesse innerhalb von Institutionen, z. B. Krankenhäusern, nicht von Bedeutung sein können).Tugendethik reproduziert nicht die Vernunft von philosophierenden oder wissenschaftlich aufgeklärten Subjekten - obwohl sie natürlich auch für diese einschlägig ist - , sondern die Vernunft der Person als moralische Subjekt tout court, so wie wir alle solche Subjekte sind, die ein Leben führen und dieses eben „gut" zu führen beabsichtigen. Was dieses „gut" bedeutet und beinhaltet, nennen wir „Moral", und Ethik ist davon die Philosophie. Die erwähnten, die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts begründenden sittlichen Gegebenheiten werden in der vorliegenden Version einer rationalen Tugendethik als „das von Natur aus Vernünftige" bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um Letztbegründung, denn diese ist nicht möglich, wohl aber um den Aufweis eines „Letzten" oder „Ersten" (je nach dem, von welcher Seite her man die Dinge betrachtet)57. Diese Gegebenheiten, das „von Natur aus Vernünftige" und entsprechende praktische Prinzipien werden nicht „begründet" oder „abgeleitet", sondern eher gefunden. Für die Rehabilitierung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjekts muss allerdings ein Preis bezahlt werden. Der Preis besteht erstens darin, dass man nicht mehr alle Interessen und Präferenzen solcher Subjekte gleich gewichten kann. „Nutzen" ist hier nie, utilitaristisch, Erfüllung der Präferenzen einer möglichst großen Zahl von Betroffenen, und normative Richtigkeit ist nie, wie in der Diskursethik, das zwanglose Zusammenstimmen sittlicher Normen mit den (subjektiven) Interessen aller Diskursteilnehmer. Zweitens behauptet Tugendethik in klassischer Tradition, dass moralische Kompetenz wiederum einen Zusammenhang besitzt mit der moralischen Verfasstheit des Subjekts. Sittliches Gutsein ist selbst, so wird behauptet, bis zu einem gewissen Grad Bedingung für die Erfassung des Guten. „Sittliche Tugend" ist gerade jene Verfasstheit von Handlungssubjekten, in denen diesen das in Wahrheit Gute auch wirklich als Gutes erscheint. Gegenwärtige Virtue ethics denkt hier in manchen Spielarten relativistisch 58 . Dadurch unterscheidet sie sich von der klassischen sehe Tugendethik zunächst einmal: „Gut" ist, was wir vernünftigerweise erstreben. Erst danach gilt dann auch: Moralisch verbindlich ist, was unabhängig von unseren faktischen Wünschen und Interessen „gut" ist (wobei „gut" eben das „vernünftigerweise Erstrebte" ist). 57 Mir scheint auch Apels transzendentalpragmatische „Letztbegründung" eigentlich gar keine Begründung zu sein, sondern eher den Charakter einer Entdeckung eines immer schon in allen Kommunikationsprozessen Vorausgesetzten zu sein. Was hier allerdings entdeckt wird (die allen Diskursen zugrundeliegende Struktur gegenseitiger Anerkennung) ist aus tugendethischer Perspektive viel zu „dünn", um als Grundlage einer Ethik dienen zu können. 58 Dagegen opponiert etwas M. C. Nussbaum, Non-Relative Virtues: An Aristotelian Approach, in: French, Uehling, Wettstein (Hrsg.), Ethical Theory: Character and Virtue, S. 3 2 - 5 3 bzw. leicht erweitert in: M. C. Nussbaum und A. Sen (Hrsg.), The Quality of Life, Oxford 1993; dt.: Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz, in: M. C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben

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Tradition, die zwar das der Tugend entsprechende Gute auch als ein Gutes „in Bezug auf uns" betrachtet, dennoch aber, zumindest in der Aristotelischen Form, am Begriff der praktischen Wahrheit dieses Guten festhielt. Diese Art von Wahrheit besteht jedoch nicht in der Übereinstimmung von Urteilen mit irgendwelchen außerhalb des Subjekts liegenden Sachverhalten, sondern in der Übereinstimmung des jeweils konkreten Urteils über das praktisch Gute (und dem entsprechenden Wollen) mit dem richtigen Streben. Natürlich ist „richtiges Streben" selbst ein Sachverhalt und die Richtigkeit dieses Strebens impliziert einen Bezug zur „objektiven Welt", aber es handelt sich um jene „objektive Welt", die das Handlungssubjekt gerade selber ist.59. Aber auch intersubjektiv erzeugte Richtigkeit im Sinne von Habermas kommt nicht ohne einen „Bezug zur objektiven Welt" aus, ist doch der jeweils andere, dem als Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft und als Diskursteilnehmer jeweils Anerkennung als Gleicher entgegenzubringen ist, gerade „objektive Welt", auf die ich mich als Subjekt beziehe. Die Behauptung der grundlegenden moralischen Richtigkeit solcher gegenseitiger Anerkennung - und diese Behauptung ist gleichsam die Seele aller Diskursethik - besitzt dann also durchaus den Charakter einer Wahrheitsbehauptung. Die Richtigkeit des Strebens entstammt grundlegend den genannten, nicht vom Subjekt selbst gewählten, wohl aber diskursiv aufweisbaren letzten moralischen Gegebenheiten - den Prinzipien ist damit Grundlage der „Richtigkeit" oder praktischen Wahrheit aller Handlungsurteile, bleibt aber selbst hinter dem konkret zu Tuenden zurück: Letzteres kann nicht zwingend aus den Prinzipien abgeleitet werden, denn Prinzipien sind bezüglich konkreter praktischer Handlungsleitung gleichsam unterbestimmt. Wohl aber kann das konkret Gewollte und Getane als dem Prinzip widersprechend erkannt werden. Praktische Prinzipien sind damit Grundlage und Grenze von Richtigkeit und als solche Grund aller praktischen Wahrheit. In einer Aristotelische Tugendethik ergänzenden praktischen Prinzipienlehre liegt einer der entscheidenden Beiträge des Thomas von Aquin für die philosophische Ethik60.

(hrsg. von H. Pauer-Studer), Frankfurt a. M. 1999; Vorabdruck in: Rippe/Schaber, Tugendethik, S. 114-165 59 Die Aussage von J. Habermas (Richtigkeit versus Wahrheit, a. a. O., S. 296): „Moralische Geltungsansprüchen fehlt der für Wahrheitsansprüche charakteristische Bezug zur objektiven Welt. Damit sind sie eines rechtfertigungstranszendenten Bezugspunktes beraubt" und können nur durch „diskursiv erzieltes Einverständnis" erzeugt werden, verfehlt also die eigentliche Pointe praktischer Wahrheit. Die Ersetzung von praktischer Wahrheit durch konsensuell erzielte Richtigkeit beruht auf einer anfänglichen Verkürzung dessen, was „Wahrheit" in der praktischen Philosophie meinen könnte. 60 Dieser hermeneutischen Perspektive einer die Struktur Aristotelischer Tugendethik intakt lassenden Ergänzung dieser Ethik durch die thomanische Prinzipienlehre, wie ich sie in meiner Untersuchung „Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis" vorgelegt habe, ist von D. J. M. Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good, a. a. O., S. 250 ff. widersprochen worden. Bradley meint erstens, die thomanische Prinzipienlehre sei mit der Aristotelischen Konzeption des Phronimos und der von Aristoteles behaupteten Vielfalt des menschlich Guten unvereinbar; dazu, warum in meiner Sicht eine solche Unvereinbarkeit nicht besteht, vgl. vor allem II, 3 b und V, 1 f. Zweitens vertritt Bradley die Ansicht, Thomas fülle hier nicht eine tatsächliche Lücke bei Aristoteles und löse damit auch kein Aristotelisches Problem, sondern vielmehr ein solches, das sich aus der christlich-theologischen Gesetzesperspektive, vor allem den Moralgeboten des Dekalogs, ergibt. Dem ist zu entgegnen, dass mit der These, Thomas fülle eine Lücke bei Aristoteles, nicht gemeint war, Thomas löse ein Problem des historischen Aristoteles, sondern dass die Erweiterung aristotelischer Tugendethik durch eine Prinzipienlehre der praktischen Vernunft einer inneren Notwendigkeit aristotelischer Tu-

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Damit erst erhält allerdings Ethik jenes Profil, das sie, mit Ausnahme des Hedonismus der Kyrenaiker, typischerweise bereits in ihrer antiken Form besaß: Sie ist eine Lehre vom „guten Leben" in dem Sinne, dass sie uns dazu zwingt, unsere Prioritäten und Maßstäbe zu überdenken und unter Umständen unser Leben zu revidieren. In jedem Fall aber kann sie dieser Auffassung gemäß nur von Subjekten betrieben werden, die nach einer Verbesserung ihrer Lebenspraxis streben. Gerade der eudämonistische Charakter klassischer Tugendethik verlangt nach der vernunftorientierten Revision spontaner, unreflektierter Glücksvorstellungen. Das Motiv der Verbesserung der Lebenspraxis ist in der Kantischen Ethik noch gegenwärtig, allerdings in einer bereits rudimentären, weil anti-eudämonistischen Form. Kants Ethik ist nicht ein Programm der Reform des „inneren Menschen", sondern eher ein Programm der Unterwerfung der Amoralität, der Bosheit und des Eigennutzes des inneren Menschen unter die Ansprüche der Moralität. Im Utilitarismus und in der Diskursethik finden sich solche Motive freilich kaum mehr. Vielmehr zielen sie in eher klassischer Manier auf die Verbesserung der Praxis und auf „Reform" im weitesten Sinne - sonst wären sie keine Ethik allerdings auf die Verbesserung einer das Subjekt transzendierenden gesellschaftlichen Praxis. Utilitaristische Ethik funktionalisiert dabei das Handlungssubjekt zum Zwecke der Optimierung von Weltzuständen. Die Diskursethik hingegen möchte Einzelinteressen gesamtgesellschaftlich in zwangloser Harmonie zum Besten aller koordinieren. Damit transponiert sie das wesentliche Motiv Kantischer Rechtsphilosophie in die Ethik.

Philosophische Ethik und religiöser Glaube Wenn gesagt wurde, dass sich die folgende Darstellung einer Tugendethik vor allem an Thomas von Aquin inspiriert, so muss noch ein zweites hinzugefügt werden: Jeder Ethiker befindet sich in „seiner" Situation. Das heißt: Bevor er beginnt, als Ethiker zu reflektieren und sich zum Thema zu äußern, hat er bereits eine gute Zeitspanne gelebt. Er besitzt seine eigenen Lebenserfahrungen, und schreibt auch aus einem Lebenskontext heraus. Das wird nirgends deutlicher, als gerade bei den klassischen Schöpfern dieser philosophischen Disziplin: Sokrates, Piaton, Aristoteles. Nicht minder gilt dies für die Vertreter der griechischen und der römischen Stoa oder für die Epikureer. Sie alle waren keine Philosophen im luftleeren Raum. Und auch Thomas von Aquin war es selbstverständlich nicht, ebensowenig wie Kant, Hegel, Sartre, Rawls oder Habermas es sind. Die „Philosophie an sich", die gibt es nicht; es gibt immer nur Philosophen, philosophierende menschliche Subjekte, und man gesteht diesen Subjekten zu, Philosophen zu sein, wenn sie ihre Gedanken rational zu begründen suchen, sich also weder auf Mythen, noch auf Glaubenssätze, noch auf die Meinung der Mehrheit berufen. Auch werden wohl Aristoteles' Ausführungen über die Freundschaft davon mit bedingt sein, dass er wusste, was Freundschaft ist, weil er selbst Freunde hatte und es verstand, anderer Freund zu sein. Wer dazu nicht fähig ist, wird wohl auch kaum etwas Vernünftiges über die Freundschaft zu sagen imstande sein. Aber das heißt nun ja nicht, dass Aristoteles' Analyse der Freundschaft „unwissenschaftlich" ist. Vorwissenschaftliche Erfahrung - „Vorurteil" im besten Sinne - spielt immer mit, und wer behauptet, davon frei zu gendethik als Typus von Ethik entspricht und dass die Erweiterung genau an jener Stelle ansetzt, wo sie „aristotelisch" gesehen auch möglich und von der Sache her eben erfordert ist. Dazu, warum meiner Ansicht nach eine solche Erweiterung erforderlich ist, vgl. IV, 2 d und 3 c.

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sein, „die Philosophie selbst" zu repräsentieren und nicht einfach ein bestimmter philosophierender Mensch zu sein, der täuscht wohl nicht nur seine Leser, sondern auch sich selbst. Als Philosophierender ist man Heide, Muslim, Jude oder Christ, Glaubender oder NichtGlaubender, Mann oder Frau, verheiratet oder ledig, auf dem Land oder in der Stadt aufgewachsen; man hat eine bestimmte Erziehung genossen; man ist geprägt von mitmenschlichen Beziehungen, kulturspezifischen Vor-Urteilen, kognitiven Gewohnheiten, einem bestimmten Bildungshorizont. Nicht nur, was man weiß, sondern ebenso auch, was man nicht weiß, bestimmt das Denken. Man besitzt sein Temperament, Ideale, Ressentiments. Es gab Heiden, die hervorragende, und Christen, die miserable Philosophen waren. Aristoteles war ein guter Philosoph nicht weil er Grieche war, sondern weil er Wahrheit suchte und denken konnte. Und wenn man Christ ist, heißt das noch lange nicht, dass man die Mühe rationaler Wahrheitssuche auf sich nimmt und dass man denken kann; aber auch nicht das Gegenteil. Weshalb soll der Ungläubige ein besserer Denker sein? Wenn er es trotzdem ist, dann sicher nicht, weil er ungläubig ist. Wahre Philosophie lebt von der Überzeugung, dass jener rationale Diskurs, den wir Philosophie nennen, gleichsam immer trotzdem möglich ist, weil er dem Interesse an Wahrheit entspringt. Wozu diese Bemerkungen? Philosophische Ethik unter den Bedingungen der Gläubigkeit dessen, der sie betreibt - und das trifft für den Verfasser des vorliegenden Buches zu - und der Gläubigkeit desjenigen, an die sie sich zumindest auch wendet, ist nicht frei von Problemen: Gläubige Christen wissen für die Philosophie gleichsam bereits zu viel. Denn: Sind sie nicht schon im Besitz der wichtigsten Antworten? Ist Philosophie unter den Bedingungen des Glaubens nicht, wie Heidegger meinte, ein „hölzernes Eisen und ein Missverständnis" 6 '? Ist es für einen Christen sinnvoll, ja überhaupt möglich, philosophische Ethik zu betreiben? Kann es für einen Glaubenden überhaupt noch eine „nichtgläubige" Erkenntnis geben? Vermag hier Philosophie neben Theologie überhaupt noch zu bestehen? Die vorliegende Darstellung vertritt die Überzeugung, dass es zwar dem menschlichen Subjekt „Philosoph", der gläubig ist, nicht möglich ist, seinen Glauben einfach auszuschalten, auch nicht während er philosophiert, - so wenig wie man als Philosophierender einfach vergessen kann, was man durch Wohlwollen, Liebe und Zuneigung anderer Menschen an Horizonterweiterung erfahren hat. Es ist ihm aber möglich, und auch unverzichtbar, dass die Philosophie, die er betreibt nicht aufgrund irgendwelcher Glaubenswahrheiten argumentiert. Im Falle der Ethik muss zudem eine solche argumentative Ausklammerung mitreflektiert und das Thema philosophischer Ethik gegenüber Moraltheologie abgegrenzt werden. Wie weit eine solche Ausklammerung im Einzelfall gelingt, ist letztlich gar nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist allein, ob die Argumente, die man benutzt, philosophische und als solche vor dem Forum der bloßen Vernunft diskutierbar sind. Philosophisch sind Argumente, wenn sie sich weder auf Autorität, noch auf religiöse Offenbarung stützen, sondern allgemein zugänglicher Erfahrung und begründeter Einsicht entspringen. In dieser Situation befindet sich nicht nur der Glaubende, sondern jeder Mensch. Vorwissenschaftliche, bzw. nichtwissenschaftliche Erfahrung kann und braucht nun einmal nicht beiseite geschoben zu werden, und faktisch tut dies auch niemand. Wer noch nie die Anziehung einer Frau, bzw. eines Mannes verspürt hat, wird wohl nichts Vernünftiges zum Thema Liebe und Sexualität zu sagen wissen. Aber was er sagt, soll es nicht Dichtung, sondern Philosophie sein, das muss mit begründeten Argumenten vorgetragen werden. Wer einst 61 M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 3. Aufl. Tübingen 1966, S. 6.

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ethnologische Erkenntnisse über die Völker neuentdeckter Kontinente gewinnen wollte, der wird wohl zunächst einmal denen, die ihm von der Existenz dieser Kontinente berichteten, Glauben geschenkt haben. Aber um wissenschaftliche Einsichten zu gewinnen, musste er dann selbst hinfahren. So weit wäre es allerdings nie gekommen, hätte er bloße Reiseberichte als nichtwissenschaftlichen Einfluss auf die Ethnologie abgelehnt. So verhält sich der Glaube zur Philosophie etwa ähnlich, wie das Hören zum Sehen62. Durch das Hören des Glaubens vermag der Philosophierende manches zu vernehmen, was bislang außerhalb seines Gesichtsfeldes lag, und dadurch erst wird er sein Augenmerk in die entsprechende Richtung lenken. Aber was er dann mit seinen eigenen Augen nicht zu sehen vermag, weil es seine Sehkraft übersteigt - , das muss er dem Hören des Glaubens belassen. Und wer will behaupten, dass der Glaubende mit seinen eigenen Augen, seiner Vernunft, nicht auch ebenso viel zu sehen vermag, wie der Nichtglaubende, auch unabhängig vom Hören des Glaubens? Das einzige, was zu verlangen ist, besteht darin, dass er, was er zu sehen behauptet, auch für andere sichtbar macht, und das heißt, um nun die Metapher zu verlassen, dass er es vernünftig begründet. Aber, so ließe sich erneut fragen: Braucht der Glaubende überhaupt „Philosophie"? Diese Frage ist entschieden zu bejahen. Zunächst weil der Glaube nicht an die Stelle natürlicher Erkenntnisfähigkeit tritt, sondern diese eher ergänzt, sie auf ein höheres Niveau erhebt. „Ergänzung" und „Erhebung" sind nun aber nicht möglich, wenn da nicht etwas ist, was „ergänzt" und „erhoben" werden kann. Und daraus ergibt sich sogleich das Zweite: der Glaube sagt uns nicht alles. Er ist Licht im menschlichen Intellekt und Wirkkraft im menschlichen Willen. Und deshalb kann er menschliche, natürlich-vernünftige Einsicht nie ersetzen, ja er setzt sie in mancher Hinsicht sogar voraus. Es könnte nun der Verdacht aufkommen, dass hier für Philosophie als ancilla theologiae, als „Magd der Theologie" plädiert wird. Darunter kann man freilich vielerlei verstehen. Man könnte darunter etwa sinnvollerweise verstehen, dass Theologie auf Philosophie angewiesen ist und letztere deshalb der ersteren nicht dienstbar, sondern dienlich ist, auch wenn das nicht der historisch ursprüngliche Sinn dieser recht zweifelhaften Metapher ist63. Jedenfalls wäre dies keine Herabwürdigung der Philosophie. Denn auch die Mathematik „dient" ja der naturwissenschaftlichen Erkenntnis; und dadurch wird Mathematik nicht in ihrer Würde oder Selbständigkeit geschmälert. Im Gegenteil, wäre solcher Nutzen nicht vorhanden, so führte wohl die Mathematik heute eine ebensolche akademische und gesellschaftliche Randexistenz wie gegenwärtig die Philosophie. Diese besitzt ja nachweislich nicht nur akademisch, sondern auch sozial gerade dort höchste Wertschätzung, wo der Glaube blüht und Theologie bedeutsam ist. Das bezeugt nicht nur das christliche Mittelalter, sondern auch das gewissermaßen theologischste aller Zeitalter, das 17. Jahrhundert. Mag denn also Philosophie ruhig ancilla sein. Als brauchbare Dienerin wird sie sich jedoch nur erweisen können, wenn sie wirklich Philosophie ist, - und in diesem Sinne ist sie gerade wesentlich nicht ancilla, sondern jene dem Menschen eigene Öffnung auf die Wirklichkeit als ganze hin, die, um das Wort Kants zu gebrauchen, einer „Naturanlage" des Menschen entspringt. Sie ist Suche nach Erkenntnis des Ganzen als Ganzes, d. h. Suche nach Erfassung der 62 Diese geglückte Metapher stammt von J. Pieper, Verteidigungsrede für die Philosophie, München 1966, S. 134 f. 63 Zu ihrer Herkunft vgl. den Artikel „Ancilla theologiae" in J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (Basel 1971), Sp. 294 f.

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Wirklichkeit aufgrund deren letzter und tiefstliegender Gründe und Ursachen. Als menschliches Unternehmen ist ihr das Suchen wesentlich. Mehr als Besitz von Wahrheit ist sie Liebe zur Wahrheit, weil ihr Wissen als menschliches immer bruchstückhaft bleiben muss. Zudem ist dies Wissen immer auch an die Art der eigenen Lebensführung gebunden. Erkenntnis und Interesse sind hier nicht zu trennen. Philosophie wird gerade deshalb immer auch in sich kontrovers bleiben. Das ist kein Argument gegen sie, sondern nur ein Zeichen dafür, dass sie sich wirklich mit dem Ganzen beschäftigt. Damit wird sie aber auch als akademische Disziplin zur „institutionalisierten Grundlagenkrise" 64 . Die Krise betrifft nicht nur „Sachfragen", sondern unmittelbar den jeweils philosophierenden Menschen in seinem existentiellen Selbstverständnis. Man denke an das Wort, das Nikias im platonischen Dialog „Laches" an Lysimachos richtet: „Du scheinst nicht zu wissen, dass, wer mit Sokrates in Berührung kommt und sich in ein Gespräch mit ihm einlässt, dass der, mag auch wirklich vorher die Unterredung mit etwas ganz anderem begonnen haben, unbedingt von ihm in einem fort im Gespräche so lange herumgeführt wird, bis er sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, Rechenschaft von sich zu geben, wie er jetzt lebt, und wie er die verflossene Lebenszeit hingebracht hat" 65 . Auch der Gläubige besitzt sein Erkenntnisinteresse. Im Kontext einer gläubigen Existenz wird Philosophie gerade dann Philosophie sein, wenn sie in ihrem Gang sich ausschließlich ihrer eigenen Methode bedient, nicht auf die Theologie und deren Bedürfnisse schielt, und auch nicht dem Irrtum verfällt, sie müsse unbedingt am selben Orte ankommen, an dem sich der Philosophierende als Glaubender bereits befindet. Philosophie muss da oft „heroischen Verzicht" zugunsten der Wahrheit üben. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir alle im Kontext eines christlichen Ethos leben und philosophieren, in dem sittliche Werte Geltung besitzen, die schlechterdings christlich sind und rein philosophisch nicht wirklich gerechtfertigt werden können. Etwa das Gebot des Feindesliebe, das Ethos der Barmherzigkeit, die Seligpreisungen insgesamt, vor allem aber die „Weisheit des Kreuzes", die der bloßen philosophischen Vernunft letztlich als „Torheit" erscheinen muss. Alle Versuche, wie etwa der Kantische, das christliche Ethos rein philosophisch zu rechtfertigen, führen schließlich zu dessen Zerstörung. Gerade weil die Kantische Ethik in ihrer Grundintention als philosophische Ethik zu christlich ist, hört sie auf, christlich zu sein (Ähnliches lässt sich von der gesamten Philosophie des deutschen Idealismus, insbesondere von Hegel sagen). Philosophisch muss man sich beschränken, indem man dem Kaiser gibt, was dem Kaiser, Gott aber, was Gott gehört. Das heißt nun freilich nicht, dass Gott in der Philosophie keinen Platz hat. Aber er ist ein anderer, als in der Theologie. Dies sei noch kurz erläutert 66 .

64 R. Spaemann, Die kontroverse Natur der Philosophie, in: ders., Philosophische Essays, Stuttgart 1983, S. 104-129; hier S. 117. In ähnlicher Weise diagnostiziert Maclntyre die unüberwindlich kontroverse Natur verschiedener Versionen der Moralphilosophie; vgl. A. Maclntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopaedia, Genealogy, and Tradition, Notre Dame 1990. 65 Platon, Laches 187c-188a (Übersetzung von Otto Apelt). 66 Wir werden auf dieses Thema zurückkommen in 1,4 und V, 2, c.

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EINLEITUNG

Moralphilosophie und theologische Letztbegründung: Abgrenzungen und Eingrenzungen Für den Christen liegt die Versuchung nahe, auch in der Ethik davon auszugehen, dass ohne Gott nichts läuft. Er wird vielleicht glauben, nur eine „theologische Ethik" sei möglich. Mir scheint, das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Gewiss: Ohne Gott läuft überhaupt nichts. Und der Philosoph wird zu begründen wissen, weshalb das so ist, auch in der Moral. Von dem Irrtum jedoch, dass Ethik an Gott „aufgehängt" werden muss, sind auch viele gegenwärtige Moraltheologen weniger entfernt, als es zunächst scheinen mag. Wenn sie auch für Autonomie der Moral plädieren, so muss dann doch das Ganze noch in Gott letztbegründet werden, damit nicht alles im Nichts versinkt. In Wirklichkeit ist auch Moral nicht einfach „letztbegründet" an Gott „aufgehängt". Wie alles, was ist, Sterne, Planeten, Atome, Gräser, Mücken und Elefanten, so ist auch der Mensch und sein Handeln stets „in Gott" und „durch Gott". Gott tritt nicht erst am Ende in die Moral ein, sondern ist immer schon präsent. Die Frage ist nur, wie er präsent ist, und wie diese Präsenz wirksam wird. Wo Gott im sittlichen Handeln des Menschen gleichsam zum ersten Mal erscheint, ist nur schwer zu sagen. Es lässt sich höchstens rekonstruieren. Denn von Gott wissen wir zumeist schon bevor wir beginnen, sittliches Handeln zu analysieren und Ethik zu betreiben. Gotteserkenntnis ist nicht eine Leistung der praktischen Vernunft. Vielmehr haben wir in der Regel unsere ersten Gehversuche als moralische Subjekte bereits aufgrund von irgend einer Form von Einsicht in die Existenz Gottes gemacht und entsprechend deuten wir dann auch die Leistung praktischer Vernunft. Natürlich führen auch die Phänomene „praktische Vernunft" und „Moral" zur Gotteserkenntnis. Jedoch nicht als praktische Erkenntnis, sondern als eine Form von „Theoria", die im Phänomen der Moral die Spuren derjenigen Ursache entdeckt, „die alle Gott nennen"67. Das „Aufhängen" von Moral und menschlicher Autonomie an „Gott" als deren „Letztbegründung" erweist sich somit als Selbsttäuschung und oft nur zu billiger Ausweg, um das, was man zuvor nicht zu begründen vermochte, schließlich noch durch „Letztbegründung" nachzuholen68. Welcher ist nun aber der Ort der philosophischen Ethik im Kontext jenes Ganzen, auf das sich der Glaube bezieht und das Gegenstand der Moraltheologie ist? Man bot hier in der Vergangenheit oft Lösungen an, die äußerst unbefriedigend bleiben. Zumeist hieß es, philosophische Ethik beschränke sich auf das „natürliche Ziel" des Menschen und die Anforderungen, dieses zu erreichen. Die Theologie schließlich betrachte dann menschliches Handeln insofern es auf ein „übernatürliches Ziel" hingeordnet sei. Damit wurde philosophische Ethik zu einer Art Schmalspur-Moraltheologie, zu einer Moraltheologie mit Ausklammerungen, zur Ethik auf niedrigerem Niveau, oder gar zu einem rein hypothetischen Sprechen über eine natura pura, eine „bloße Natur", über einen Menschen also, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das hatte umgekehrt zur Folge, dass dann theologisch das Natürliche gleich auch als bloßer „Restbegriff' relativiert werden musste69. 67 Mit dieser oder einer ähnlichen Formel enden jeweils die Gottesbeweise in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin; vgl. I, q.2, a.3. 68 Das ist die Tendenz zahlreicher Beiträge im „Handbuch der christlichen Ethik" (hrsg. von A. Hertz, W. Korff, T. Rendtorff, H. Ringeling), Freiburg/Brsg. 1978; vgl. z. B. Bd. I, S. 75 und 146 69 So K. Rahner, Über das Verhältnis von Natur und Gnade, in: Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 1956, S. 323-345; 340.

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Es bedarf deshalb einer erneuten R e f l e x i o n über die Eingrenzung philosophischer Ethik. U n d auch dazu, so wird sich zeigen, gibt uns gerade T h o m a s von A q u i n die entscheidenden Anhaltspunkte. W i r werden allerdings sehen, dass diese Eingrenzung sich aus der handlungstheoretischen F u n d a m e n t a l a n a l y s e erst e r g e b e n muss. W i r b e g i n n e n also nicht mit der E i n g r e n z u n g selbst, sondern rechtfertigen sie erst, n a c h d e m w i r im G a n g der D a r s t e l l u n g bereits eine g e w i s s e W e g s t r e c k e z u r ü c k g e l e g t haben. D a s m a g zunächst überraschen, wird sich aber im Folgenden als fruchtbar erweisen. Philosophische Ethik, w i e sie hier in ihren Grundlagen als rationale Tugendethik dargestellt wird, versteht sich demnach als Ethik, die auch unter den Bedingungen des christlichen Glaubens als philosophische

zu bestehen vermag. Insofern ist sie also gerade keine

christliche

Ethik, o b w o h l sie die Existenz einer spezifisch christlichen Moral, die auf Offenbarung gründet und erst das G a n z e umfasst, v o l l anerkennt und unter einem entsprechenden V o r b e h a l t steht. Nur in diesem letzteren Sinne ist sie „christliche Philosophie". Nicht ist sie dies jedoch, w a s ihre Methode und ihre Inhalte anbelangt. A l s philosophische Ethik soll sie ausschließlich den Ansprüchen einer rein philosophischen Methode genügen, einer Methode, die als philosophische sowohl v o m Glaubenden w i e auch v o m Nichtglaubenden anerkannt werden kann. Sie versteht sich als eigenständige Disziplin, die in die M o r a l t h e o l o g i e integriert w e r d e n kann, aber auch unabhängig davon in dem ihr eigenen B e r e i c h Gültigkeit besitzt, eine Gültigkeit, die auch die M o r a l t h e o l o g i e anerkennen muss und die durch diese in keiner W e i s e e i n g e schränkt oder relativiert zu werden v e r m a g . D e n n w e n n auch die „Perspektive der M o r a l " , w i e sie in einer rein philosophischen Ethik a u f g e w i e s e n wird, nicht das G a n z e ausmacht, so ist sie - als u n v o l l k o m m e n e T e i l p e r s p e k t i v e - d o c h auch unverzichtbarer Bestandteil der Wahrheit des Ganzen. Ich gehe also von der Überzeugung aus, dass auch für einen gläubigen Christen philosophische Ethik e t w a s von theologischer Ethik oder M o r a l t h e o l o g i e g ä n z l i c h V e r s c h i e d e n e s ist. Verschieden sind - v o m Inhaltlichen einmal abgesehen - vor allem Ausgangspunkt, A u f b a u und Argumentationsstruktur. Hier glaube ich auch in mehrerer Hinsicht neue W e g e einzuschlagen. V o n entscheidender Wichtigkeit scheint mir deshalb gerade der A u f b a u des Buches und die A b f o l g e der einzelnen Argumentationsschritte zu sein.

Struktureigenschaften klassischer Tugendethik und Aufbau des vorliegenden Buches W i e Julia A n n a s verdienstlicherweise herausgearbeitet hat 70 , unterscheidet sich klassische T u g e n d e t h i k m e t h o d o l o g i s c h in m e h r f a c h e r Hinsicht v o n moderner M o r a l p h i l o s o p h i e . G e m ä ß weit verbreiteter heutiger Meinung, so Annas, muss eine ethische Theorie sich durch z w e i Eigenschaften auszeichnen: hierarchische Strukturierung und Vollständigkeit. Mit „hierarchisch" ist gemeint, dass in einer ethischen Theorie einige B e g r i f f e als grundlegend und alle anderen als von diesen abgleitet b z w . auf sie zurückführbar betrachtet werden. S o ist die für den Konsequentialismus grundlegende G r ö ß e j e n e der als voraussichtliche Folge des Handeln bewirkten Zustände und Sachverhalte, aus der dann wiederum abgeleitet wird, w o z u w i r im

70 The Morality of Happiness, a. a. O., S. 7 ff.

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EINLEITUNG

Handeln verpflichtet sind: eben die Herstellung möglichst optimaler Zustände und Sachverhalte. W e r ein guter, gerechter usw. Mensch ist oder was eine „Tugend" genannt werden kann, ist ebenfalls darauf zurückzuführen, in welchem M a ß e diese „ T u g e n d " geeignet ist, optimale Zustände und Sachverhalte herbeizuführen. „Tugend", „Gerechtigkeit" usw. wird also auf den Begriff der Disposition zum richtigen d. h. folgenoptimalen Handeln reduziert. Dass eine ethische Theorie „vollständig" sein solle meint hingegen, dass ihre Grundbegriffe und alle von diesen abgeleiteten B e g r i f f e imstande sind, sämtliche moralischen Phänomene zu erklären. So wird ein Konsequentialist keine moralischen Urteile zulassen, die nicht darauf beruhen, eine Handlung oder Disposition auf Grund der dadurch bewirkten Folgen zu beurteilen. Er wird deshalb behaupten, Feigheit sei deshalb zu verurteilen, weil sich daraus schlechte Folgen ergeben, was natürlich dazu führt, dass es aufs Gleiche herauskommt zu sagen, jemand habe eine Untat aus Feigheit oder aus Ungerechtigkeit vollbracht; beides ist j a dasselbe, da seine moralische Bewertung auf Grund der dadurch bewirkten Folgen vorgenommen wird. Tapferkeit ist dann die Disposition, immer das Richtige zu tun (d. h. das, was die besten Folgen bewirkt), genau wie dies auch Gerechtigkeit oder Mäßigkeit ist. Letztlich werden alle moralischen Größen, insbesondere Tugendbegriffe, zu bloßen Namen um immer wieder dasselbe zu bezeichnen: die konsequentialistische Rationalität der Folgenoptimierung. Solche ethischen Theorien sind reduktionistisch, weil sie alles auf ein einziges Moralprinzip zurückführen. Klassische Tugendethik ist weder auf hierarchische Strukturierung noch auf Vollständigkeit im genannten Sinn bedacht. Dasselbe läßt sich mit einer noch zu erörternden Einschränkung auch von einer in ihrer Tradition stehenden, an Thomas von Aquin orientierten rationalen Tugendethik sagen. Klassische Tugendethik beginnt nicht mit Grundbegriffen („basic notions"), aus denen alles Nachfolgende abzuleiten bzw. auf die alles zurückzuführen ist, sondern mit ersten B e g r i f f e n („primary notions") w i e dem letzen Ziel des Handelnden, dem Streben nach Glück (als des um seiner selbst willen erstrebten Letzten) und dem Begriff der Tugend selbst (als Vorzüglichkeit dessen, der in all seinem Wählen und Tun das in Wahrheit Gute trifft). Der B e g r i f f der „richtigen" oder „ g u t e n " Handlung ist aber von diesen ersten Begriffen nicht abgeleitet und nicht darauf zurückführbar. So verstehen z. B. alle klassischen Tugendethiken der Antike Tugend als eine Disposition, das sittlich Richtige zu tun; dennoch wird nun der Begriff des „sittlich Richtigen" nicht als das definiert, was dazu geeignet ist, eine tugendhafte Disposition oder Verfasstheit des Subjekts hervorzubringen oder zu fördern. Tugendgemäße Handlungen beziehen ihren moralischen Wert nicht daraus, dass sie dazu dienen, die Tugenden zu erwerben, sondern weil sie ermöglichen, das jeweils sittlich Richtige zu wählen; die Tugenden sind davon die habituelle Disposition. Z w e c k der Tugend ist nicht, ein tugendhaftes Subjekt mit guten Motivationen zu sein, sondern ein solches, das richtig handelt. Die Pointe davon, ein guter, gerechter, tapferer, maßvoller Mensch zu sein besteht darin, ein solcher zu sein, der das Gerechte, Tapfere und dem rechten M a ß entsprechende liebt und es auch tut. Gerade deshalb ist die Frage so wichtig, zu was für einem Menschen wir uns machen, wenn wir dieses oder jenes wählen und tun. Eine „gerechte Handlung" wird deshalb nicht definiert als eine Handlung, durch die man ein gerechter Mensch wird (obwohl natürlich gerade jede Tugendethik dafür hält, dass wir durch gerechte Handlungen gerechte Menschen werden). W a s sittlich richtig ist, muss jedoch unabhängig davon verstanden werden, denn gerechte Menschen werden wir durch das Wählen und Tun gerechter Handlungen d. h. des gemäß den Erfordernissen der Gerechtigkeit Richtigen. Erst so erkennen wir, was eine Handlungsdisposition oder affektive Verfassung des Subjekts überhaupt zu einer Tugend macht d. h. zu einer moralischen Disposition, einer Disposition zum sittlich Richtigen, und

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nicht nur zu irgend einer Disposition, die man zwar bewundernswert oder vorzüglich nennen könnte, die aber gar nicht unbedingt etwas mit Moralität zu tun haben muss 71 . Klassische Tugendethik kennt also durchaus Primärbegriffe wie Glück oder Tugend, da es ja auch in unserer sittlichen Erfahrung Primäres und Sekundäres gibt, aber es fehlt eine hierarchische Ableitungsbeziehung zwischen ihnen. Weder „Glück" noch „Tugend" sind Moralprinzipien. Deutlich wird dies gerade beim Verhältnis zwischen den Begriffen „Glück" und „richtige" bzw. „gute Handlung". Obwohl der Begriff des Glücks der Begriff des höchsten Gutes ist, kann das Richtige und Gute, durch das wir das Glück erreichen können, daraus nicht „abgeleitet" werden. Der Begriff des höchsten Gutes oder des Glücks ist auch kein Standard, auf Grund dessen Handlungen bezüglich ihres Gutseins evaluiert werden könnten (vgl. dazu unten III, 1). Damit ist eine „hierarchische" Strukturierung der Ethik (im Sinne Annas') unmöglich. Mangel an hierarchischer Strukturierung führt aber zum Mangel an entsprechender Vollständigkeit. Tugendethik kann nicht alles in Tugendbegriffen erklären. So bedarf eine Tugendethik z.B. der Ergänzung durch eine Institutionenethik, die nicht auf tugendethische Begriffe zurückführbar ist (Konsequentialisten begründen institutionenethische Aussagen hingegen zwangsläufig konsequentialistisch). Eine Tugendethik kennt durchaus auch folgenorientierte Argumente und sie wird auch für das diskursethische Konsensprinzip limitierte Anwendungen finden, dies vor allem, wenn sie sich zur politischen Ethik ausweitet. Überhaupt öffnet sich Tugendethik in pluralistischer Manier einer Vielzahl rationaler Argumentationsweisen. Auch dies ist ein durchaus aristotelisches und natürlich völlig unkartesianisches Prinzip: Die Methode hat sich nach dem Gegenstand und nicht der Gegenstand nach der Methode zu richten. Eine Tugendethik behauptet auch nicht, für alle Fälle eine Lösung bieten zu können. Grenzfälle, „boderline cases", knifflige „moralische Probleme", „quandaries" und „Dilemmata" finden aus tugendethischer Sicht nicht unbedingt eine klare „Lösung" (während es für einen Konsequentialisten immer eine präzise Lösung gibt, nämlich jene, welche voraussichtlich die besten Folgen bewirkt). Allerdings ist aus tugendethischer Sicht dennoch begründbar, warum solche moralischen Probleme aus theoretischer Sicht nicht unbedingt abschließend beurteilt zu werden vermögen. Wer der Idee einer Tugendethik skeptisch gegenüber steht, kommt zu seinem Urteil oft dadurch, dass er Tugendethiken aus der Sicht der für moderne Moralphilosophie typischen Erfordernisse von hierarchischer Strukturierung und Vollständigkeit bewertet. Auch Tugendethik, so ein Kritiker, „geht von dem Kernbegriff eines moralisch guten Menschen aus und führt dann eine bestimmte Menge anderer, abgeleiteter Begriffe ein, die mit Bezug auf ihr Verhältnis zum ursprünglichen Element definiert werden" 7 2 . Damit wäre Tugendethik nur eine andere Strategie einer hierarchisch strukturierten und auf Vollständigkeit zielenden Ethik. Dieses Missverständnis führt dann direkt zu einer Abwertung der Leistungsfähigkeit des Tugendbegriffs, denn es ist offensichtlich, dass der „Kernbegriff des moralisch guten

71 J. Annas, a. a. O., S. 9. Gerade in dieser Hinsicht sind moderne Tugendethiken oft problematisch. So behauptet M. Slote, From Morality to Virtue, a. a. O., S. 90 ff. die für Tugenden charakteristischen „aretaischen" Eigenschaften seien nicht als moralische Qualitäten zu verstehen, sondern einfach als „bewundernswerte", „vorzügliche", „lobenswerte" Eigenschaften. „Tugend" ist in Slotes Tugendethik keine moralische Disposition. 72 R.B.Louden, Einige Laster der Tugendethik, in: Rippe/Schaber, Tugendethik, a.a.O., S. 185-212; 189; orig.: On Some Vices of Virtue Ethics, in: American Philosophical Quarterly 21 (1984), S. 227-236; Reprint in Crisp/Slote, Virtue Ethics, a. a. O., S. 201-216.

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EINLEITUNG

Menschen" als „ursprüngliches Element" in Bezug auf das alles andere definiert werden muss, nicht viel hergeben kann und letztlich zurückverweist auf einen normativen Diskurs, der allein zu begründen vermag, was hier unter „gut" zu verstehen ist. Tugendethiken, so heißt es dann entsprechend weiter, seien chaotisch, unklar, und unfähig, konkrete moralische Probleme zu lösen bzw. auf kasuistische Fragen eine Antwort zu geben. Solcher Kritik ist zwar nicht generell eine gewisse Berechtigung abzusprechen. Dennoch geht sie an den entscheidenden Punkten vorbei. Berechtigt ist die Kritik dann, wenn Tugendethiker selbst aus dem Begriff der Tugend einen Grundbegriff machen, aus dem sie alles andere abzuleiten bzw., auf den sie alle zurückzuführen versuchen. Sie betreiben dann allerdings, weil „Tugend" zu einem alles bestimmenden Grundbegriff wird, Tugendethik im Geiste moderner Moralphilosophie. Eine solche „moderne" Tugendethik, welche die Richtigkeit von Handlungen durch die Motivationen zu verstehen sucht, aus denen sie hervorgehen, vergisst natürlich die alte Weisheit, dass man ja auch das Richtige aus schlechten Motiven tun kann und man zuweilen auch mit guten Motiven das Falsche tut. Wir beurteilen Handlungen also nicht einfach auf Gund der Motive, aus denen sie vollzogen werden. Dass Tugendethik auch bei Thomas von Aquin die genannten Eigenschaften klassischer Tugendethik bewahrt hat, würde man nun eigentlich nicht erwarten. Die Verbindung der klassischen, vor allem aristotelischen Ethik-Tradition mit einer christlichen Gesetzesethik scheint eher dazu geeignet, Tugendbegriffe zu bloß abgeleiteten Begriffen werden zu lassen, im Sinne einer Disposition, moralischen Gesetzen zu gehorchen. Hätte G. E. M. Anscombe mit ihrer 1958 geäußerten Meinung Recht, so wären ja „Tugend" und „moralisches Gesetz" sich gegenseitig ausschließende ethische Kategorien Das braucht aber nicht so zu sein und Thomas von Aquin ist der Beweis dafür. Seine Interpretation des „natürlichen moralischen Gesetzes" als einer klassische Tugendlehre ergänzende Prinzipienlehre zeigt das, bringt aber die klassische Tradition aristotelischer Tugendethik gleichzeitig auf eine Eben, die zwar keineswegs unaristotelisch ist, aber, wie bereits gesagt, als „erweiterte aristotelische Position" bezeichnet werden kann73. Eine Prinzipienlehre praktischer Vernunft ist nun in der Tat ein hierarchisches Element, weil sie einen eigentlichen normativen Begründungsdiskurs erlaubt. Dennoch verbleibt sie der nicht-hierarchischen Logik antik-klassischer Tugendethik treu. Denn auch aus den Prinzipien kann nichts für die Praxis Konkretes abgeleitet werden. Vor allem aber sind praktische Prinzipien nur insofern hierarchisch strukturiert, als es unter ihnen jeweils höhere und wichtigere gibt, nicht aber in dem Sinne, dass sie auseinander ableitbar wären (sonst wären sie keine eigentlichen Prinzipien); und da sie vielfältig sind, sperren sie sich auch gegen Ansprüche von Vollständigkeit im oben genannten Sinn. Das bedeutet aber auch, dass es einen eigentlichen tugendethischen Begründungsdiskurs als Aufweisung der Prinzipien praktischer Vernunft sehr wohl geben kann. In diesem Buch wird er sich vor allem in Kapitel V finden und es ist eben bezeichnend, dass er am Ende und nicht am Anfang situiert ist. Die Fundierung der Ethik, wie sie im Folgenden vorgenommen 73 Dies versuchte ich in „Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis" auch gegen die gegenteilige These aufzuzeigen, Thomas habe eine theologisch-christliche Umdeutung und Verfälschung des wesentlich heidnisch-philosophischen Aristoteles vorgenommen. Diese These war nicht nur von R. A. Gauthier (s. oben), sondern vor allem von H. Jaffa, Thomism and Aristotelianism. A Study of the Commentary by Thomas Aquinas on the Nicomachean Ethics, Chicago 1952 vertreten worden. Jaffas Thomas-Interpretation kann zwar heute wohl definitiv als überholt bezeichnet werden, besitzt in weiten Kreisen jedoch immer noch fast kanonische Geltung.

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wird, ist genau deswegen nicht im oben genannten Sinne hierarchisch. „Hierarchisch" ist hingegen die Fundierung von Moral selbst, denn die Prinzipien sind, in einem noch zu erörterndem Sinne, das alle Moralität Gründende und den Menschen als moralisches Subjekt konstituierende Erste. Dieses Erste ist aber nicht das Erste der Ethik oder Moralphilosophie. Wie alle Philosophie und Wissenschaft geht auch die Ethik nicht von den Prinzipien oder Ursachen aus, sondern ist gerade ein Weg, um diese aufzufinden. Der ethische Diskurs über praktische Prinzipien steht also am Schluss und ist gleichsam sein Ergebnis und nur in diesem Sinne auch eine Begründung oder Fundierung. Die folgende systematische Darstellung und „Grundlegung" darf also nicht als Ableitungsdiskurs missverstanden werden74. Das bedeutet nicht, dass die einzelnen Kapitel und Abschnitte nicht einer argumentativen Logik entsprechen. Im Gegenteil. Der Leser wird jedoch selber bemerken, dass jedes Kapitel gleichsam wieder zu einem frischen Start ansetzt. Dabei muss auf solches verwiesen werden, was schon gesagt wurde, aber auch auf anderes, das erst gesagt werden wird, dennoch aber grundlegend ist. Die Argumentation ist demnach als ein Kreisen um immer denselben Gegenstand zu verstehen: um den Menschen als handelndes, nach Erfüllung strebendes Vernunftwesen. Dieses Kreisen jedoch vollzieht sich gemäß einer argumentativen Logik die nachfolgend noch kurz zu skizzieren ist. In Kapitel I („Ethik im Kontext der philosophischen Disziplinen") werden sachliche, methodologische und terminologische Vorabklärungen geleistet. Kapitel II („Menschliches Handeln und die Frage nach dem Glück") klärt zunächst - handlungstheoretisch - den Ursprung der ethischen Grundfrage, der Frage nach dem Glück, nach dem Gelingen des Lebens, um zwei klassische Antworten darauf nachzuzeichnen und zu verdeutlichen. Diese Antworten sind, sowohl in ihrer Aristotelischen wie auch in ihrer thomanischen Version, vielschichtig und teilweise aporetisch, verhelfen jedoch bereits zu einer Fülle grundlegender handlungstheoretischer Einsichten. Sie führen schließlich auch zur genaueren Eingrenzung der Thematik einer rein philosophischen Ethik. Kapitel III („Sittliche Handlungen und praktische Vernunft") erarbeitet die handlungstheoretischen und anthropologischen Grundlagen einer philosophischen Ethik als rationale Tugendethik, wobei vor allem der Begriff der intentionalen Handlung vertieft wird. Im Mittelpunkt steht das Verständnis von praktischer Vernunft in ihren verschiedenen, auch anthropologischen Dimensionen, ohne die der intentionale Charakter menschlichen Handelns unverständlich bliebe. Kapitel IV („Die sittlichen Tugenden") erschließt systematisch, auf den vorherigen handlungstheoretischen Grundlagen, den Begriff sittlicher Tugend. Obwohl „Tugend" ein Primärbegriff ist, muss er nun im Anschluss an die handlungstheoretischen und anthropologischen Analysen präziser gefasst werden. Dabei wird die thomanische Rezeption der Aristotelischen Tugenddefinition im Mittelpunkt stehen sowie die damit zusammenhängende Analyse der anthropologischen und affektiv-kognitiven Doppelfunktion von sittlichen Tugenden und die 74 Und damit verfällt sie auch keinem der drei Alternativen von Alberts „Münchhausen-Trilemma", das ja nur für deduktive Argumentationsstrukturen gelten kann; vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. verbesserte und erweiterte Auflage, Tübingen 1991, S. 13 ff. In diesem Sinne wusste aber bereits Aristoteles, dass es keine Letztbegründung geben kann, da das Letzte, das zugleich Prinzip ist, gerade weil es Prinzip ist, nicht begründet, sondern nur aufgewiesen werden kann. Dennoch gibt es einen Weg zu den Prinzipien, und dabei kommt dann den Prinzipien die Funktion einer Letztbegründung des Vorhergehenden zu.

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EINLEITUNG

Wichtigkeit der wechselseitigen Verknüpfung der einzelnen Tugenden zu einem „Organismus" der Tugenden. Kapitel V („Strukturen der Vernünftigkeit") enthält, was Ethiker zumeist als das Wichtigste erachten, nämlich den im eigentlichen Sinne normativen Teil der Ethik. Die Frage nach der sittlichen Norm bzw. der Begründung sittlicher Normen, dem moralischen Gesetz, den praktischen Prinzipien, dem Gewissen etc. wird hier, wie erwähnt, nicht zufällig am Ende geboten. Er versteht sich hier ja als abschließender Begründungsdiskurs einer eudämonistischen Tugendethik. Auf diesem Hintergrund auch schließt dieses letzte Kapitel mit einer Kritik der sogenannten „teleologischen Ethik" („Konsequentialismus", „Proportionalismus"). Es mag für den Leser hilfreich sein, die Lektüre von Abschnitt 4. a) dieses fünften Kapitels („Die Einheit der praktischen Vernunft und die Perspektive der Moral") vorzuziehen: er besitzt zusammenfassenden Charakter und orientiert über den Gesamtduktus der Argumentation und die daraus resultierende Position. Der Epilog schließlich („Von der philosophischen zur christlichen Perspektive der Moral") will zeigen, wie gerade die innere Unfertigkeit der rein philosophischen Perspektive jene christliche Moral rechtfertigt, die sich schließlich selbst wiederum als „Rettung" und Rechtfertigung philosophischer Vernunft erweist dabei aber durchaus der Logik einer eudämonistischen Tugendethik treu bleibt. Vieles, was auf den folgenden Seiten oft nur umrissartig zur Darstellung gelangen wird, wurde vom Verfasser an anderen Orten ausführlicher behandelt. Entsprechende Hinweise finden sich in den Fußnoten und im abschließenden Literaturverzeichnis. Im übrigen wurden die Literaturverweise auf das Notwendigste beschränkt. Wichtig erschien mir jedoch, die eigene Gedankenarbeit durch historische Genauigkeit und ausreichende Hinweise auf Quellentexte auszuweisen. Insofern vermag das Buch vielleicht auch, gleichsam als Nebenwirkung, manche Anregung zum philosophiegeschichtlichen Verständnis zu bieten. Vieles glaube ich aus der Auseinandersetzung mit Vertretern der analytischen Handlungstheorie gewonnen zu haben; dies betrifft vor allem den grundlegenden Begriff der intentionalen Handlung. Dadurch erklären sich entsprechende Verweise aber auch kritische Distanzierungen von gewissen Aussagen analytischer Philosophen. Der Charakter einer einführenden Darstellung, die dieses Buch ja auch sein will, macht es - aus Gründen der Vollständigkeit - unvermeidlich, manchmal auch ein wenig lehrbuchartig vorzugehen. Manches muss, um der Vollständigkeit willen, ohne weitere Vertiefung und Differenzierung angeführt werden. Ansonsten jedoch ist dieses Buch argumentativ abgefasst. Es ist nicht einfach Darstellung eines Stoffes, sondern Analyse, Reflexion und schrittweise argumentative Entfaltung einer einheitlichen Konzeption. Dabei bemühte ich mich um flüssige Lesbarkeit und Anschaulichkeit; der philosophische Gedanke muss sich immer auch am konkreten Beispiel einlösen lassen. Die eingeschobenen Textblöcke im Kleindruck enthalten Ergänzungen und Präzisierungen des Haupttextes, manchmal auch Beispiele oder kleine Exkurse. Sie sind Bestandteil des Gesamtduktus' der Argumentation, können aber, ohne den Zusammenhang zu verlieren, vorerst auch übersprungen werden. Ich erhoffe mir, dass dieses Buch nicht nur als ein für sich stehender Beitrag zur Philosophie, sondern zugleich auch als philosophische Propädeutik für die Moraltheologie nützlich werden kann. Letzteres erklärt gewisse Akzentsetzungen, die auf das Anliegen zurückzuführen sind, gegenüber theologisch motivierten Problemstellungen die eigenständige Methode, Gedankenführung und spezifische Argumentationsweise philosophischer Ethik herauszuarbeiten.

I. Ethik im Kontext der philosophischen Disziplinen

1. Das Sollen und das Gute Ethik ist praktische Philosophie. Das heißt, Ethik reflektiert über Praxis und zielt auf Praxis. Wer Ethik betreibt, ist ein handelndes Subjekt. Und gerade insofern dieses sich selbst als handelnd weiß, entspringen jene Fragen, die wir ethische Fragen nennen. Diese Fragen zielen nicht darauf, einfach etwas zu erkennen. Sie zielen auf die Praxis selbst: Auf das „gute", „richtige" Tun. Es gibt auch andere Erkenntnisweisen, die darauf abzielen, etwas „gut" oder „richtig" zu tun. Zum Beispiel die Harmonielehre oder die Architektur. Die Griechen nannten solches Tun techne, wir nennen es Technik und Kunst. Gewiss haben auch Technik und Kunst etwas mit Ethik zu tun. Aber als solche fragen sie nur danach, wie man „etwas Bestimmtes" gut tut, etwa wie man Musikstücke komponiert oder Häuser baut. Die eigentlich praktische Fragestellung zielt darauf, wie man als guter Mensch lebt. Sie zielt auf das Ganze des menschlichen Lebens und des Menschseins. Kant und im wesentlichen die gesamte Moralphilosophie der letzten zwei Jahrhunderte behaupteten, die der Ethik eigene Fragestellung laute: „Was soll ich tun?"'. Diese Frage jedoch greift zu kurz; sie ist nicht die erste Frage. Vor der Frage nach dem Sollen steht die Frage nach dem Guten. Man „soll" ja tun, was „gut" ist und weil es gut ist. Das Gute ist nicht gut, weil man es „soll", sondern gerade umgekehrt verhält es sich, ja muss es sich verhalten: Denn das Sollen bedarf ja eines Grundes. Er ist das, was vernünftigerweise zu erstreben ist. Deshalb beginnt die Nikomachische Ethik des Aristoteles mit dem Satz: „Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt" 2 . Und das erste Prinzip der praktischen Vernunft wird - darauf gründend - demnach lauten: „Das Gute soll man tun, das Üble soll man meiden" 3 . Am Beginn der Ethik steht somit die Frage nach dem Guten, das wir tun sollen.

1 Immanuel Kant, Logik, hrsg. v. G. B. Jäsche, A 25 (W. Weischedel: Kant-Studienausgabe Band III, S. 448). Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft (= KrV) B 833 (II, S .677). 2 Aristoteles, Nikomachische Ethik (= EN) 1,1 1094a 1-3. (Es handelt sich um den Eröffnungssatz dieses Aristotelischen Werkes). 3 I—II. q. 94, a. 2.

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I. E T H I K IM K O N T E X T DER PHILOSOPHISCHEN DISZIPLINEN

2. Das Gute und das Richtige Ist die Frage nach dem (sittlich) Guten nicht zu unterscheiden von der Frage nach dem (sittlich) Richtigen? Und zwar deshalb, weil wir doch oft mit guter Absicht tun, was unrichtig ist; und manchmal auch das an sich Richtige mit schlechter Absicht oder Einstellung. Und entscheidend ist doch, gut und nicht bloß richtig zu handeln? Hier stehen wir allerdings vor einem Scheinproblem. Freilich, letztlich kommt es auf den guten Willen an. In der Ethik als praktischer Philosophie wollen wir aber keine Antwort auf die Frage, ob es nun wichtiger sei, gute Absichten zu haben oder aber richtig zu handeln. Wir wollen vielmehr wissen, welche Art von Handlungen Gegenstand guter Absichten sind. Das heißt: Wir wollen gerade eine Antwort auf die Frage, wie wir handeln, was wir tun sollen. Es geht um die Frage nach jenem Guten, das sich in unserem absichtlichen, vorsätzlichen, aus freier Willensentscheidung vollzogenen Tun und Lassen realisiert. Und dabei fallen das Richtige und das Gute in eins. Da es natürlich vorkommt, dass wir mit bester Absicht auch manchmal Unrichtiges tun, so bedeutet dies nur, dass wir mit guter Absicht eben auch zuweilen Schlechtes tun, und zwar weil wir fälschlicherweise meinen, was wir tun, sei gut. Nur im Bereich des technischen oder Kunsthandelns hat die Unterscheidung von „richtig" und „gut" einen Sinn. Da kann manches technisch richtig getan werden, was dennoch im sittlichen Sinne schlecht ist. So sagen wir beispielsweise: „Es war nicht gut, dass er diese Operation ohne ihre Einwilligung vornahm", obwohl er die Operation natürlich im technischen Sinne richtig ausführte. Die ethische Frage jedoch will uns über jenes Gute aufklären, dass unser Handeln in Bezug auf das Ganze des Lebens richtig macht. Und dieses „Richtige" nennen wir, sofern wir uns in der Perspektive der Moral bewegen, eben gerade das (sittlich) Gute. Und so können wir dann, in der Perspektive der Moral, ebenso sagen: „Es war nicht richtig, dass er diese Operation ohne ihre Einwilligung durchführte", wohlverstanden auch wenn er es mit guter Absicht tat. In der Perspektive der Moral ist das Richtige immer auch das Gute. Denn in moralischer Perspektive betrachten wir Handlungen, insofern wir sie als Handlungen eines Menschen und nicht nur als die eines Arztes, Unternehmers, Architekten usw. betrachten 4 .

3. Ethik ist reflektierte Praxis Ethik reflektiert über Praxis und zielt auf Praxis. Es lässt sich jetzt noch genauer sagen: Ethik reflektiert über das Gute, das wir tun sollen, und zielt darauf, dass wir das Gute tun. Ausgangspunkt der Ethik ist demnach, das Gute, das wir - unserer Auffassung nach - bereits getan haben oder zu tun pflegen. Das heißt: Das Tun dessen, was uns als das Gute erscheint, was wir dafür halten. Wir wollen dieses Tun reflektieren, prüfen, hinterfragen, begründen, verbessern. Wir wollen uns durch Reflexion auf unser Tun gleichsam auch unserer selbst und der Richtigkeit unserer Orientierung vergewissern, im Sinne der Frage: „Stimmt" unser 4 Vgl. unten III., 3 c. sowie meine ausführlicheren Darlegungen in M. Rhonheimer, Gut und Böse oder richtig und falsch - was unterscheidet das Sittliche? In: H. Thomas (Hrsg.), Ethik der Leistung, Herford 1988, 47-75; leicht erweiterte Fassung: Ethik - Handeln - Sittlichkeit. Zur sittlichen Dimension menschlichen Tuns, in: J. Bonelli (Hrsg.), Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Wien-New York 1992, S. 137-174.

3 . ETHIK ALS REFLEKTIERTE PRAXIS

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Leben? Schließlich wollen wir uns darüber mit anderen Menschen verständigen. Gerade die klassisch-antiken Tugendethiken zielten auf die „Revision unserer Prioritäten" ab: Als Lehren vom guten, glücklichen Leben und weil sie voraussetzten, dass alle Menschen ohnehin in all ihrem Tun nach dem Glück streben, ging es diesen Ethiken immer auch darum, Aufklärung über falsche und nur scheinbare Glückserwartungen zu erzielen 5 . Solche Fragen sind nicht der von Philosophen professionell betriebenen Ethik allein eigen. Jeder Mensch, auch wenn er nicht Ethik betreibt, stellt sie. Reflexion auf Praxis begleitet Praxis immerfort. Es handelt sich hier um eine besondere Form von Bewusstsein, das wir moralisches Bewusstsein nennen können, oder auch Gewissen. Die Ethik jedoch verfolgt dieses reflexive Wissen in systematischer, methodischer Weise. Ethik ist demnach eine Art Analyse des moralischen Bewusstseins. Gemeint ist damit nicht, dass es Ethik um die Analyse des formalen A priori sittlichen Handelns geht. Es gibt solche Ethik, z.B. die Kantische und in ihrem Gefolge in einem gewissen Sinne auch die Diskursethik. Ebenfalls geht es nicht um die Analyse unserer moralischen Gefühle. Gemeint ist hier zunächst lediglich, dass sich Ethik in der Form der Reflexion bewegt und ihren Gegenstand durch Reflexion gewinnt. Sie entspringt dem gelebten Ethos, je eigener praktischer Erfahrung, die Handlungserfahrung ist, und versucht diese zu erhellen. Ethik ist also nicht einfach ein Ableitungsprodukt aus anderen philosophischen Disziplinen, etwa der Metaphysik oder Anthropologie, oder der Soziologie. Ethik besitzt als philosophische Disziplin einen ihr spezifisch eigenen Ausgangspunkt, genau denselben, den das moralische Bewusstsein überhaupt besitzt: Die Selbsterfahrung „meiner selbst" als handelndes, (auch leidenschaftlich) strebendes und durch Leidenschaften affiziertes, wollendes, vernünftig urteilendes und wählendes Subjekt. Genau aufgrund dieses unableitbaren Ausgangspunktes in gegebener Selbsterfahrung als Handlungssubjekt und in diesem methodologischen Sinne ist Ethik auch autonom. Freilich besitzt das moralische Bewusstsein auch noch andere Quellen. Als gleichsam „freischwebendes" und „solipsistisches" kommt es natürlich nicht vor (wäre aber vielleicht als solches durchaus denkbar). In der Tat ist auch moralisches Bewusstsein faktisch immer in ein Ethos, in das Gesamt des kulturell, sozial und rechtlich vorgegebenen und durch Sozialisationsprozesse eingeübten Normenbestandes eingebunden 6 , aber doch nicht derart, dass es sich nicht auch jeweils von solchem Ethos distanzieren bzw. geltenden Normen gegenüber kritisch und revisionistisch verhalten könnte und dies eben gerade aus moralischen Gründen. Umgekehrt kann auch gesagt werden, dass die Stabilität eine Ethos nicht erklärbar wäre, ruhte es nicht auf Gegebenheiten auf, die dem moralischen Bewusstsein gerade unabhängig von gesellschaftlich-kultureller Geltung eben als moralisch relevante Gegebenheiten präsent sind und damit solche Geltung überhaupt erst zu erklären vermögen.

Nun sind aber Subjekte, die Ethik betreiben, Subjekte, die abgesehen von ihrer eigenen praktischen Erfahrung noch manche andere Art von Erfahrung und Wissen besitzen oder besitzen können. Und wenn wir Ethik als Analyse des moralischen Bewusstseins in praktischer Absicht definieren, so meinen wir damit, dass Ethik eine besondere Form von Erkenntnis des Menschen ist. Sie ist Erkenntnis des Menschen, insofern sich dieser gerade im sittlichen 5 J. Annas, The Morality of Happiness, a. a. O., S. 329 ff. (Teil IV „Revising Your Priorities"). 6 Vgl. dazu W. Kluxen, Ethik und Ethos, bzw., Das Allgemeine und das Gemeinsame. Moralische Normen im konkreten Ethos, in W. Kluxen, Moral-Vernunft-Natur. Beiträge zur Ethik, hrsg. von W. Korff und P. Mikat, Paderborn 1997, S. 3 - 1 6 bzw. 4 2 - 4 9 sowie Kluxen, Ethik des Ethos, Freiburg/München 1974

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Bewusstsein zeigt. Die Inhalte dieses Bewusstseins müssen nun aber interpretiert werden. Und wie soll man sie interpretieren? Brauchen wir uns dazu auf die Phänomene, die sich in diesem Bewusstsein zeigen, zu beschränken? Wir wissen doch auch noch anderes über die Wirklichkeit, zu deren Bestand auch der Mensch gehört. Wir besitzen Einsichten über die Struktur von Handeln überhaupt, die nicht eigentlich praktische Einsichten sind. Es sind dies Einsichten, die aus handlungstheoretischen und -metaphysischen Analysen gewonnen werden können. Es gibt auch Einsichten anthropologischer Natur, die nicht ursprünglich dem sittlichen Bewusstsein entspringen, sondern diesem zugrunde liegen. Wir können auch durchaus bereits wissen (und gemeint ist hier ein rationales Wissen), dass jenes Erste existiert, „das alle Gott nennen". Ethik selbst besitzt jedoch auch umgekehrt wiederum die Funktion, die Anthropologie zu vervollständigen. Letztlich hängt ja alles zusammen: Die Realität setzt sich nicht aus philosophischen Disziplinen zusammen; sie ist nicht in Fächer eingeteilt. Die Aufteilung in Disziplinen entspringt der Eigenart unserer Erkenntnis von Wirklichkeit und der Beschränktheit unserer Erkenntnis. Der Zusammenhang muss immer wieder gesucht und reflektiert werden. Deshalb ist zu sagen: Wenn auch Ethik einen eigenen, ihr spezifischen Ausgangspunkt besitzt, in diesem methodologischen Sinne also „autonom" ist, so kann solche Autonomie nicht bedeuten, dass sie sich abschließt gegenüber anderen Erkenntnisweisen, die uns ebenfalls etwas über den Menschen, ja über „Wirklichkeit", „Sein" überhaupt, sagen und es uns ermöglichen, sittlich-praktisches Bewusstsein als menschliches so vollständig und adäquat als möglich zu interpretieren. Humanwissenschaftliche Erkenntnisse (Psychologie, Humanbiologie, Verhaltensforschung, Soziologie u. a.) gehören dabei weniger zum Instrumentarium der philosophischen Interpretation des Menschen, sondern eher auf die Seite jener Erfahrungsbestände, die selbst einer philosophischen (anthropologischen und ethischen) Deutung und Einordnung bedürfen (ganz abgesehen davon, dass empirisch-humanwissenschaftliche Erkenntnisse selbst nie ganz theorie- bzw. philosophiefrei sind, und damit ihrerseits der Möglichkeit philosophischer Kritik und Relativierung unterworfen bleiben). Eine humanwissenschaftliche Vermittlung von Ethik gleitet leicht in Expertenmoral ab, welche schließlich die praktische Vernunft und damit die sittliche Autonomie des einzelnen entwertet. Hier interessiert uns hingegen Ethik als Reflexion auf das einem jeden menschlichen Subjekt zugängliche moralische Bewusstsein. Trotz der Bedeutsamkeit empirisch-humanwissenschaftlicher Erkenntnis verbleibt als Pointe des Ethischen gerade, solch Empirisches jeweils wiederum normativ einzuordnen, zu bewerten und seine faktischen Zwänge gerade im Horizont des sittlich Gesollten zu überwinden. Denn sittliches Sollen wird eben grundlegend nicht durch das empirisch Gegebene - nicht einmal das pur Naturale - eingeschränkt, sondern von ihm immer auch auf das in Wahrheit für den Menschen Gute hin überstiegen. In diesem Sinne ist ethische Vernunft auf anderes, bloß empirisch Gegebenes schlicht nicht zurückzuführen. Damit allerdings dieser Überstieg auch in realistisch-praktikablen Bahnen zu verbleiben vermag, dafür wiederum bieten Erkenntnisse der Humanwissenschaften unverzichtbare Orientierung.

In der Ethik findet sich demnach vernünftigerweise ein Zusammenspiel von praktischer Erfahrung, Handlungstheorie, Handlungsmetaphysik, philosophischer Anthropologie. Und wenn wir auch das Wissen um die Existenz desjenigen Seins, „das alle Gott nennen", nicht ausschließen, weil wir z.B. die Kantische Widerlegung der Gottesbeweise nicht akzeptieren (dies schon deshalb, weil wir die Gottesbeweise, die Kant kritisiert, selbst ablehnen und dafür halten können, dass es andere rationale Erkenntnisweisen der Existenz Gottes gibt, die von

4 . PHILOSOPHISCHE ETHIK U N D G O T T

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dieser Kritik überhaupt nicht betroffen sind; und/oder überdies, weil wir nicht gezwungen sind, die Kantische Theorie der Konstituierung von Erfahrung zu akzeptieren, es vielmehr gute Gründe gibt, sie als unrichtig und letztlich unbegründet zu erachten 7 ), wenn wir also ein solches vernünftiges Wissen um Gott nicht ausschließen, obwohl seine Begründung nicht zum Gegenstand der Ethik gehört, dann darf und muss sogar auch dasjenige Sein, „das alle Gott nennen" für die Ethik eine Rolle spielen. Das ist zumindest ebenso gerechtfertigt, wie etwa die Lösung Sartres, der von der - innerhalb der Ethik ebensowenig gerechtfertigten Nicht-Existenz Gottes ausgeht 8 . Ein solches Vorgehen ist im übrigen rational gar nicht begründbar, da man ja die Nicht-Existenz Gottes gar nicht beweisen kann; man kann, wie Kant, höchstens versuchen, die Unmöglichkeit eines Beweises der Existenz Gottes zu beweisen. Dazu muss man aber die Unmöglichkeit aller existierenden bzw. aller möglichen Beweise seiner Existenz beweisen. Und das ist auch Kant nicht gelungen. Und so lange dies nicht gelingt, wird es immer vernünftiger sein, einen Gott anzunehmen, als keinen. Kant selbst wäre übrigens der letzte, der dies leugnen würde 9 . Deshalb ist eine Ethik, die von vornherein die Möglichkeit eines Wissens um Gottes Existenz nicht ausklammert, nicht eine „unphilosophische" Ethik, sondern einfach eine andere Ethik, als jene, die es tut. Dass die vorliegende Darstellung der Ethik eine andere als die Kantische oder die Sartresche ist, das allein wird nun allerdings kaum ein zwingendes Argument gegen sie sein können!

4. Philosophische Ethik und Gott Nun soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, in der vorliegende Konzeption von Ethik müsse ständig von Gott die Rede sein. Im Gegenteil. Wir brauchen Gott weniger, als dies etwa die Kantische Ethik tut. Diese ist nämlich dermaßen auf die „Idee Gottes" angewiesen, dass Kant geradezu von einem in ihrem Herzen liegenden „moralischen Beweis des Daseins Gottes" sprechen kann. Bei Kant steht und fällt praktische Vernunft mit dem Postulat (nicht 7 Da sie letztlich auf einer unbewiesenen Behauptung beruht, die gleichzeitig die Funktion eines immer wiederkehrenden Arguments einnimmt (was Kants „Kritik der reinen Vernunft" zu einer zum System gewordenen Petitio principii macht), die Behauptung nämlich, dass notwendige und allgemeine Begriffe in keiner Weise aus der Erfahrung stammen können und deshalb als ein A priori der Erkenntnisstruktur des Subjekts zu verstehen sind (vgl. KrV Einleitung). Demgegenüber möchte neuerdings John McDowell Kant „aristotelisch" ergänzen, indem er für die Wiederentdeckung des begrifflichen Gehalts der Erfahrung plädiert, womit freilich, was McDowell nicht ausspricht, die Grundvoraussetzung Kantischer Transzendentalphilosophie hinfällig würde; vgl. J. McDowell, Mind and World, Cambridge Mass. - London 1994. Vgl. auch die Kant aus den Angeln hebende „aristotelisierende" Bemerkung von S. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, a.a.O. S. 180: „In einem gewissen Sinn ist natürlich alles empirisch und irgendwann entstanden, auch die sogenannten a priori gegebenen Begriffe." 8 J.-P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? In: J.-P. Sartre: Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiele, Frankfurt/M.-Berlin 1986, S.16. 9 Vgl. dazu auch die neuere Auseinandersetzung zwischen Richard Swinburne („The Coherence of Theism", 1977; „The Existence of God", 1979, „Faith and Reason", 1981) und J. L. Mackie („The Miracle of Theism", 1982); cfr.: F. Ricken, Die Rationalität der Religion in der analytischen Philosophie: Swinburne, Mackie, Wittgenstein, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), S. 287-306.

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I . E T H I K IM K O N T E X T DER PHILOSOPHISCHEN D I S Z I P L I N E N

der Erkenntnis) des Daseins Gottes. Kant vertritt eine „Ethikotheologie", der gemäß ohne die Idee Gottes moralisches Handeln gar nicht möglich ist (und umgekehrt). Es handelt sich hier zwar um einen unerkannten, weil nur postulierbaren Gott, aber einen solchen, von dem nun schlicht alles abhängt 10 . Wenn in der vorliegenden Konzeption - genau gleich wie dies Aristoteles in seiner Ethik tut - von einem erkannten Gott ausgegangen wird, so hat dies eigenartigerweise gerade das Gegenteil zur Folge: Wir werden imstande sein, die innere Verfasstheit sittlichen Handelns ohne Rückbindung an die „Idee Gottes" zu rechtfertigen. „Gott" wird in diese Ethik eintreten als derjenige Ursprung, ohne den der Mensch, praktische Vernunft und sittliches Handeln letztlich nicht erklärt werden können; nicht aber, wie bei Kant, als Postulat, dessen Setzung die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass praktische Vernunft überhaupt praktisch sein, also zum Handeln führen kann. So schreibt Kant: „Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung ..."". Wenn auch die „Vernunftgesetze" autonom erkannt werden, so bedarf es der Annahme eines „weisen Weltregierers ..., um jenen Gesetzen Effekt zu geben"12.

Der innere Motor der Kantischen praktischen Vernunft besteht ja im Bestreben, sich durch Unterwerfung unter das reine Sollen (Vernunftimperative) der Glückseligkeit würdig zu machen („Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein" l3 ), ohne je das Erstreben von Glückseligkeit auf die praktische Vernunft Einfluss haben zu lassen. Ein heroischer Verzicht, dessen Möglichkeit steht und fällt mit der Postulierung eines Gottes, der im „anderen Leben" dem solchermaßen Würdigen die Glückseligkeit als Lohn zuerteilt. Ohne solchen Glauben wäre praktische Vernunft also nicht nur nicht praktisch, sondern nicht einmal vernünftig. Die Kantische praktische Vernunft ist in jedem ihrer Schritte an Gottes Dasein interessiert, muss daran glauben und darauf hoffen (bzw. sich davor fürchten), weil sie sonst als „Vernünftigkeit" ins Nichts versänke. Hier wirkt Gott geradezu despotisch: Denn man darf ihn weder erkennen noch aus Liebe zu ihm handeln, weil sonst Moral unmöglich wäre. Aber man muss mit allen Kräften an ihn glauben (d.h. ihn postulieren), weil es sonst unvernünftig wäre, moralisch zu sein. Das Problem der „Triebfeder" besitzt allerdings zwei Aspekte, die auch von Kant nicht immer genau auseinander gehalten werden: (1) die Frage, wodurch praktische Vernunft überhaupt praktisch wird, d.h. weshalb das Sittliche überhaupt zur „Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung" werden kann; sowie (2) die Frage nach dem Moralprinzip selbst, d.h. dem „Formalgrund" unserer Handlungen: Wann handle ich moralisch? Nur dann, wenn ich nicht auf den Lohn der Glückseligkeit achte, d.h. 10 Das wird besonders deutlich in der „Transzendentalen Methodenlehre" KrV B 858 f. (II, S. 694), wo Kant davon spricht, dass „der Glaube an einen Gott und eine andere Welt" mit der „moralischen Gesinnung so verwebt" ist, dass das eine ohne das andere nicht bestehen könne. Und wer keine „moralische Gesinnung" hat? Kant antwortet, dass „auch in diesem Falle genug übrig" bleibt, „um zu machen, das er ein göttliches Dasein und eine Zukunft fürchte." Damit muss Kant eingestehen, dass es, gemäß seiner Theorie, nicht möglich wäre, moralische Gesinnung zu erwerben, ohne sich vor einem als existierend postulierten Gott zu fürchten. 11 KrV B 841 (II, S. 682). 12 Ebd., B 846 (II, S. 686). 13 Ebd., B 836 f. (II, S. 679).

4 . PHILOSOPHISCHE ETHIK UND GOTT

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wenn ich ausschließlich aus Achtung für das moralische Gesetz (= Imperative der reinen Vernunft) und Ehrfurcht vor der Pflicht handle (vgl. KpV A 147, IV S.204). Damit ist aber nur die Frage beantwortet, welche Art von Triebfeder eine moralische Triebfeder ist, nicht aber die erste Frage: Wieso überhaupt kommen wir dazu, dann auch tatsächlich zu tun, was die Pflicht gebietet? Wie kann die erkannte Pflicht „Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung" werden? Entgegen der in KrV geäußerten Ansicht, spricht nun Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (= GMS) von der „Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne" (BA 121/22, IV S.97) und: „wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren" (ebd. 125, S.99). Diese Frage ist nun allerdings in der Tat auch in KpV und ihrer Lehre von der „Achtung fürs Gesetz" keineswegs gelöst. Deshalb kann es nicht erstaunen, dass Kant später in der „Metaphysik der Sitten" (= MS) von einer „Pflicht des Menschen gegen sich selbst" spricht, „Religion zu haben"; und das heißt: einen Gott anzunehmen, der „von uns selbst gemacht wird" (d.h. postuliert wird), „ um zur Triebfeder in unserem Verhalten zu dienen" (MS A 109, IV, S. 579f). Aber dies wird von Kant nochmals in der „Kritik der Urteilskraft" (KdU) problematisiert: die moralischen Gesetze würden auch von demjenigen als verbindlich eingesehen, der behauptet „es sei kein Gott" (KdU B 426, V, S. 578). Dennoch präzisiert dann Kant: Da aber für den Atheisten am Ende alle Menschen in den „Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück" geworfen werden und sie „ein weites Grab insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt", so kann die Friedfertigkeit und das Wohlwollen des sittlich Handelnden als Endzweck des Tuns gar nicht sinnvoll motivieren. „So muss er, welches er auch gar wohl tun kann, indem es an sich wenigstens nicht widersprechend ist, in praktischer Absicht, d.i. um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen, das Dasein eines moralischen Welturhebers, d.i. Gottes annehmen." Und das heißt: Selbst der Atheist muss, um effektiv auch moralisch zu handeln (und das moralische Gesetz nicht nur zu erkennen), Gott postulieren, als „subjektiv-praktische Realität" (ebd. B 428f., IV S.579f.). Damit, so scheint es, hat Kant das grundlegende Problem seiner praktischen Philosophie, wodurch denn Vernunft überhaupt praktisch sein könne, eher verschleiert als gelöst. 14 Im Unterschied z u m postulierten Gott tritt j e d o c h der „erkannte Gott" ganz anders in der Moral auf. N ä m l i c h als das tragende Telos einer Vernunft, die zwar ohne ihn e b e n f a l l s ins Nichts versinken würde, gleichwohl aber in sich und aus sich nicht nur moralische Vernunft sondern als eine s o l c h e auch tatsächlich praktische Vernunft ist ( w a s allerdings zur V o r a u s s e t z u n g hat, die Kantische D i c h o t o m i e v o n Freiheit b z w . W i l l e n s a u t o n o m i e und „empirischer" Geneigtheit aufzugeben, d.h. zu einer Strebensethik zurückzukehren). A l s praktische ist Vernunft weder gläubig noch h o f f e n d i m Kantischen S i i f t e , sondern einfach vernünftig, Wirklichkeit erschließend, und erst als s o l c h e vermag sie sich dann auch j e n e m Glauben und jener H o f f n u n g zu ö f f n e n , „die alle Vernunft übersteigt" 1 5 . W e n n also Kants Gott auch ein Gott „in den Grenzen der bloßen Vernunft" ist, so ist diese Vernunft als praktische eine solche, die ohne Gott nicht einmal als vernünftig gedacht werden kann und als reine Vernunft zudem gar nicht praktisch zu werden vermag, weil kein subjektives Interesse angegeben werden kann, durch das Pflichtbewusstsein und Achtung fürs Gesetz auch tatsächlich zur Tat führen könnten. Kant wollte die A u t o n o m i e des W i l l e n s begründen, aber der Preis, den er dafür bezahlen musste, war enorm hoch. Der zu entrichtende Preis war nämlich der Zwang, eine andere, nun 14 Vgl. die das Problem deutlich aufzeigende Analyse von N. Rotenstreich, Practice and Realization. Studies in Kant's Moral Philosophy. The Hague/Boston/London 1979. 15 Vgl. Philipperbrief 4, 7.

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wirklich problematische „Heteronomie" anerkennen zu müssen: Die totale Abhängigkeit praktischer Vernunft von „Glaube und Hoffnung". Und das bedeutet strukturell Zerstörung von Vernunft überhaupt. Denn eine Vernunft, die in ihrem Grunde von „Glauben" abhängt auch wenn sich dieser, wie bei Kant, „Vernunftglaube" nennt - , ist erstens gar nicht mehr Vernunft und vermag sich zweitens dann auch keinem anderen Glauben mehr zu öffnen, als demjenigen, der ihren eigenen Postulaten entspringt. Und das heißt: Sie kann auch nicht mehr vernünftig glauben, schon gar nicht an das, „was alle Vernunft übersteigt".

II. Menschliches Handeln und die Frage nach dem Glück

1. Handlungstheorie: Intentionalität und Freiheit menschlichen Handelns a) Die Perspektive des Handlungssubjekts W i e bereits angeführt, beginnt die N i k o m a c h i s c h e Ethik des Aristoteles mit der simplen Feststellung eines Faktums der Erfahrung: „Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen j e d e Handlung und jeder Entschluss scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt." „Gut" ist also, wonach man „strebt". Der Begriff des Guten ist gegeben durch die Erfahrung, dass wir in allem, was wir tun - Kunst, Lehre, Handlung, Entschluss - auf etwas aus sind. Dieses „worauf wir aus sind" nennen wir ein Gut. U n d der Begriff des Guten ist demnach identisch mit dem Begriff „Ziel eines Strebens". Güter, und gemeint sind hier praktische Güter, sind Strebeziele. Und was auch immer wir tun, wir erstreben ein Gut, wir zielen auf etwas ab 1 . Zum Begriff „praktisches Gut": Ein Auto oder ein Computer als solche sind „Dinge". Und als Dinge sind sie in mancher Hinsicht „gut". Jedoch nur insofern sich das Streben in praktischer Weise auf diese Gegenstände erstreckt (Erwerben-wollen, Stehlen-wollen), werden Auto und Computer zum praktischen Gut. Diese Art von Gutsein gründet nicht im Ding-sein dieser Gegenstände, sondern in ihrer Relation mit einem Wollen. Das praktische Gut ist hier nicht mehr das Auto oder der Computer als solche, sondern vielmehr deren Besitzen. Nicht ein „Auto" ist also ein praktisches Gut, sondern das „Besitzen eines Autos". Und die entsprechenden Handlungen, die sich in der Perspektive solcher praktischer Güter formieren können, sind etwa „ein Auto kaufen" oder „ein Auto stehlen". Analoges gilt für Personen: auch sie sind praktische Güter insofern sie Gegenstände von Strebeakten und Handlungen sind (wie z.B. Gegenstände von Wohlwollen, Liebe, Achtung, von Vertragsschließungen oder, aber auch von Handlungen wie „jemanden um eine Auskunft bitten", „jemanden bestechen", „jemanden für seine Zwecke benutzen", usw.). Im Unterschied zu Dingen haben jedoch Personen, wie Kant es ausgedrückt hat, „Würde", was bedeutet, dass der Bezug auf sie als ein praktisches Gut nie auf Kosten der Tatsache gehen darf, dass sie auch unabhängig von diesem Bezug ein „Gut" sind, was nichts anderes heißt, als dass sie im Kontext des Handelns nie bloßes Mittel sein dürfen.

1 S. auch O. Höffe, Kategorie Streben, in: O. Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 1979, S. 311-333.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

Damit finden wir uns mitten in der Perspektive des Handelns. Es ist egal, dass hier auch von Kunst die Rede ist. Denn Kunst ist hier als Praxis beschrieben. Auch mit Kunsthandeln (Technik: Herstellungshandeln im weitesten Sinne) ist man „auf etwas aus". Und dieses „auf etwas aus sein" nennen wir Intentionalität (von „intendere" = „hinneigen a u f , „hinzielen auf). Bereits der erste Satz der Aristotelischen Ethik stellt uns also in eine ganz spezifische Perspektive. Wir können sie die Perspektive der Praxis nennen. Im Folgenden werden wir diese Perspektive nicht mehr verlassen. Es ist die Perspektive der „Ersten Person", des Handlungssubjekts. Es ist notwendig, eindringlich daraufhinzuweisen, denn die gesamte Tradition der neuzeitlichen Ethik, vor allem ihre Hauptgestalten der Kantischen Pflichtethik und des Utilitarismus, sind Ethiken der „Dritten Person" 2 . So eigenartig dies zunächst klingen mag: sie sind Ethiken der absoluten Objektivität. So schreibt Kant: „Praktisch gut ist, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d.i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen bestimmt" 3 . Der Ausgangspunkt der Kantischen Ethik ist gerade, die Perspektive des „interessierten" Handlungssubjekts zugunsten von „uninteressierten" Vernunftimperativen auszuklammern. Nur was universal gilt, gilt überhaupt in moralischer Hinsicht. Nur eine Handlungsmaxime, die auch als allgemeines Gesetz gewollt werden kann, ist moralisch, nicht jedoch, was den Neigungen oder Strebungen des Subjekts entspricht. Die Pflicht ist der Imperativ der Vernunft, der sich gegen das neigungsbedingte Gute durchsetzt. Die Kantisch inspirierte Diskursethik, die wiederum nur intersubjektives, auf Konsens abzielendes kommunikatives Handeln als moralerzeugende Instanz anerkennt, konzediert normative Geltung nur solchen Geltungsansprüchen, die zwanglos von allen Betroffenen akzeptiert werden können, will also das bloß subjektive Interesse der Objektivität des argumentativ erzielten Konsenses unterordnen (was zwar als politische Ethik verstanden mit gewissen Einschränkungen durchaus Sinn macht). Auch der Utilitarismus, in all seinen Spielarten, ist eine Ethik der Objektivität, in diesem Fall der Objektivität von Nutzen-, Folge- oder Güterkalkülen (Güterabwägung). Diese Ethik betrachtet den handelnden Menschen gleichsam von außen, als uninteressierten Produzenten möglichst optimaler Welt-Zustände; sie betrachtet ihn gemäß dem Ausdruck des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel - aus einer „Sicht von Nirgendwo" 4 . Auch wenn es mir - etwa aufgrund „anerzogener" moralischer Grundsätze und entsprechender Überzeugungen und Gefühle - noch so sehr widerstrebt, einen Menschen zu töten, so wäre ich nach utilitaristischen Maßstäben verpflichtet, es dennoch zu tun, wenn ich

2 Zur Unterscheidung einer Ethik der „Ersten Person" von einer solchen der „Dritten Person" vgl. G. Abbà, Felicità, vita buona e virtù. Saggio di filosofia morale, Rom 1989, S.97ff. und J. Finnis, Fundamentals of Ethics, Oxford 1983. In diesem Sinne auch A. Rodriguez Luno, Etica, Florenz 1992. Dieser Unterscheidung entspricht weitgehend jene zwischen der Perspektive des (neutralen) Beobachters und der Perspektive des Handelnden; vgl. z.B. M. Riedel, Handlungstheorie als ethische Grunddisziplin, in: H. Lenk (Hrsg.), Handlungstheorien interdisziplinär, Bd. 2,1, München 1978, S.142 f. Neuerlich erinnert auch H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt/M. 1992, S. 84 daran, dass klassische Strebensethik eine Ethik der ersten Person ist. 3 I. Kant, GMS A 38 (IV, S. 42). 4 Vgl. das gleichnamige Buch von T. Nagel, The View from Nowhere, Oxford 1986 und seine Kritik der „Overobjectification" (S. 162 f.).

1. INTENTIONALITÄT UND F R E I H E I T MENSCHLICHEN H A N D E L N S

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dadurch zehn anderen das L e b e n retten kann, sofern dadurch meiner Voraussicht nach die Folgebilanz, der Zustand der Welt optimiert würde 5 . Ethik entspringt j e d o c h , w i e gesagt, einer R e f l e x i o n auf praktische Erfahrung, die Erfahrung von Handlungssubjekten ist. Sie darf diese Perspektive des Handelns nicht verlassen, will sie das Phänomen „menschliche (sittliche) Handlung" nicht verfälschen. W e n n wir in dieser Perspektive der Praxis von „Gütern" und „Zielen" sprechen, s o meinen wir immer Korrelate eines Strebens, und wir betrachten menschliches Tun als „Erstreben eines Gutes". D a s ist, was immer der Fall ist, wenn wir etwas tun. D a s Gute ist demnach, w i e wir ebenfalls von Aristoteles lernen, immer etwas einem handelnden Subjekt „gut Scheinendes". Mit „Schein des Guten" ist hier nicht Täuschung gemeint, sondern das Gute, insofern es sich in der Beurteilung durch das handelnde Subjekt als ein solches zeigt. Gut - in der Perspektive der Praxis - ist ja gerade, was wir als gut beurteilen und uns entsprechend auch als gut erscheint. Dass hier das „Urteil über das Gute" zu einem „Scheinen des Guten" führt liegt darin, dass Handlungsurteile Urteile über Strebungen sind. Es handelt sich um affektiv bedingte Urteile und Urteile über Affekte und Strebungen. Deshalb ist es auch, wie Aristoteles bemerkt, „für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust und Unlust empfindet" 6 . Nicht weil wir immer aus „Lust" handeln, sondern weil sie jenen Affekt bezeichnet, der die Vernunft am allermeisten zu desorientieren vermag, sie aber auch gleichzeitig, verläuft sie „in der rechten Weise", die mächtigste Unterstützung der Vernunft ist7. D i e entscheidende Frage der Praxis besteht nun darin zu klären, w e l c h e s die B e d i n g u n g e n dafür sind, dass dieser „Schein", b z w . d i e s e s Urteil auch die Wahrheit trifft, dass das „gut S c h e i n e n d e " auch das „in Wahrheit Gute" ist. D a s ist nur dann der Fall, w e n n das Streben

5 Gemäß H. Krämer, Integrative Ethik, a. a. O. S. 119 ff. lässt sich die klassische, strebensethische Perspektive des guten Lebens (Glücksethik) mit der modernen Perspektive der Moralphilosophie (Sollensethik) nicht in eine „Einheitsethik" verschmelzen; vielmehr handle es sich um zwei komplementäre Perspektiven. In der ersten geht es um das Gelingen „je meines Lebens" (hier gibt es kein „Sollen" sondern nur ein mehr oder weniger kohärentes „Wollen"); in der zweiten um das, was wir anderen schuldig sind (hier erleben wir - eigenes Wollen einschränkendes - „Sollen", Normen, Pflichten usw.). Der letzte Grund der Unmöglichkeit einer Glücks- und Sollensperspektive, Strebensethik und Moralphilosophie zusammendenkenden „Einheitsethik" (auch „thomistischer" Art) scheint für Krämer darin zu liegen, dass eine solche Einheit von Glücksstreben und moralischem Sollen, - die ja letztlich die Einführung eines Begriffs vom „richtigen" als dem „in Wahrheit guten" Strebens notwendig werden lässt radikal der „Selbstbestimmung und Präferenzsouveränität des Menschen in der postteleologischen Moderne" widerspricht. Diese historistische Verortung des moralischen Subjekts der Moderne und seines, wie es scheint, unausweichlichen Selbstverständnisses, das alle einheitsethischen Entwürfe kategorisch ins „utopische Nirgendwo" verweist, wird bei Krämer zu einer nicht weiter hinterfragbaren, aber damit nicht weniger anzweifelbaren Prämisse. Eine gewichtige Infragestellung von Krämers Grundperspektive ist allerdings das Buch von J. Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986 S. 313 ff., bes. S. 315; Raz bezeichnet das Nebeneinander von Eigeninteresse („strebensethischer" Aspekt) und Sittlichkeit, moralische Richtigkeit („moralphilosophischer" Aspekt) als „populär and philosophically fashionable picture of human beings", das äußerst irreführend und deshalb zu überwinden sei. 6 EN II, 2, 1105a 6-7. 7 Vgl. F. Ricken, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

selbst (Affekte und Wollen) das in Wahrheit Gute trifft. Genau so verhält es sich beim tugendhaften Menschen. „Der Tugendhafte nämlich urteilt über alles und jedes richtig und findet in allem und jedem das wahrhaft Gute heraus"8. Ethik ist also Lehre von der Tugend. Damit haben wir weit vorgegriffen. So viel soll festgehalten werden: Wir suchen nicht eine „Objektivität" der „universalen Vernunftimperative" oder einer „menschlichen Natur" oder eines „besten Weltzustandes" oder eines zwanglosen Konsenses aller Teilnehmer an einem idealen Diskurs. Gesucht sind vielmehr die Bestimmungskriterien für eine Art von Objektivität, die wir die Wahrheit der Subjektivität nennen können: Die Wahrheit praktischer Urteile von Handlungssubjekten über das ihrem Streben gegenständliche Gute. Das heißt nicht, Praxis und Ethik hätten nichts mit „universalen Imperativen der Vernunft", mit „menschlicher Natur" oder mit dem „besten Zustand der Welt" zu tun. Gemeint ist vielmehr, dass wir darin für die ethische Reflexion keinen Ausgangspunkt finden können. Damit soll gleich zu Beginn hervorgehoben werden, dass der Gegensatz „subjektiv"-„objektiv" in der Ethik die Perspektive verfälscht. Das „sittlich Gute" (oder „Richtige") ist weder eine von bloßer Subjektivität abgehobene Objektivität, noch auch etwas „Subjektives" im Sinne eines „subjektivistischen" Relativismus. „Objektivität" - wie später noch eingehend gezeigt werden soll - ist in der Perspektive der Moral kein Gegenbegriff zu „Subjektivität", sondern vielmehr eine bestimmte „Verfasstheit" von Subjektivität, nämlich deren Wahrheit. Die grundlegende Perspektive der Moral ist jedoch wesentlich immer die Perspektive der Subjektivität, d.h. des strebenden und aufgrund seines Strebens handelnden Subjekts.

Um die Frage nach den Bedingungen der Wahrheit der Subjektivität zu klären, werden mehrere Schritte nötig sein. Ja die ganze Ethik ist nichts anderes als die Klärung dieser Frage. Sie hat es demnach auch - wie jedes Wissen - mit Wahrheit zu tun9. Ethik beginnt demnach mit einer handlungstheoretischen Fundamentalanalyse, die selbst wiederum nichts anderes ist, als eine Theorie des moralischen Subjekts. Und die Entfaltung der Ethik ist die Entfaltung dieser Analyse und Theorie des handelnden Menschen. Das ist es, was uns interessiert: Uns selbst als handelnde Wesen zu verstehen. Es ist deshalb durchaus einleuchtend, dass Thomas von Aquin den moraltheoretischen Teil seines systematischen Hauptwerkes mit der Frage eröffnet, ob es dem Menschen eigen sei, um eines Zieles willen zu handeln10. Die Zielgerichtetheit menschlichen Handelns und die Grundkategorien, die aus deren Analyse gewonnen werden können, sollen hier als Ausgangspunkt für das Weitere dienen.

8 Aristoteles, EN III, 6,1113a 30-31. 9 H. Krämer, Integrative Ethik, a. a. O. S. 52 f. bestreitet generell, dass „Wahrheit" eine für den praktischen Bereich geeignete Kategorie ist; nur „Gültigkeit" und „Richtigkeit" seien hier angemessen. Zudem behauptet Krämer, auch in der klassischen Strebensethik sei das „Gute als Handlungsziel" wesentlich „synonym mit dem Gewollten und Erstrebten" (a. a. O. 79). Richtig ist, dass der Perspektive der klassischen Ethik in der Tat eigen ist, das Gute wesentlich als ein Erstrebtes und Gewolltes zu betrachten; das ist aber bloß der Ausgangspunkt. Das Geschäft der Ethik besteht dann nämlich gerade in der Beantwortung der Frage, worin denn nun das in Wahrheit Gute bestehe - bzw. wie man es vom nur scheinbar Guten unterscheiden könne - , was man also erstreben solle und was nicht. 10 Vgl. I—II, q. 1, a. 1.

1. INTENTIONALITÄT UND FREIHEIT MENSCHLICHEN HANDELNS

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b) Zielgerichtetheit und Begriff der „menschlichen Handlung" Der intentionale Charakter des menschlichen Handelns, wie er bereits kurz skizziert wurde, meint, dass Handeln jeweils auf etwas „abzielt". Und für jenes, worauf wir jeweils abzielen, brauchen wir das Wort „gut" ". Das schließt bereits ein (und wurde ebenfalls bereits angedeutet), dass das „Gute", worauf wir im Handeln jeweils aus sind, jenes „Gut-scheinende" ist, wie es einem Urteil des Subjekts entspricht. Würden wir über „Gutes", bzw. „Ziele" nicht urteilen und nicht stets aufgrund solcher Urteile jeweils handeln oder vom Handeln ablassen (was auch eine Form von Handeln ist, nämlich willentliche Unterlassung), so würde uns ein entsprechendes Streben oder Tun nicht weiterhin interessieren. Es handelte sich dann ja einfach um ein irgendwie rein „spontanes" oder „naturgemäßes" Geschehen, dessen Analyse eher zur Naturwissenschaft (bzw. einer naturwissenschaftlichen Psychologie) gehören könnte, nicht aber zur Ethik. Es ist Bestandteil praktischer Erfahrung, dass unser Handeln frei ist, und das heißt: dass es sich aufgrund von vernünftigen Urteilen vollzieht und dass wir das Streben, das solchen Urteilen folgt, selbst immer in irgend einer Form in der Hand haben. Freiheit des Handelns muss nicht im Laufe der Ethik erst begründet werden. Sie ist Primärerfahrung, und ohne sie gäbe es so etwas wie Ethik oder praktische Philosophie gar nicht. Praktische Philosophie ist also immer auch Reflexion über die Erfahrung der Freiheit unseres Handelns. Wir brauchen diese Freiheit nicht zu postulieren. Sie ist nicht Postulat oder „Bedingung der Möglichkeit" von Praxis; sondern sie ist gerade Anlass und Gegenstand jener Reflexion, die wir praktische Philosophie nennen. Eine Ethik, die Freiheit postulieren muss oder ihre Existenz zu begründen sucht, hat in irgend einer Weise einen falschen Ausgangspunkt gewählt und damit ihren Gegenstand bereits verfehlt. Jene Freiheit, die hier Primärerfahrung genannt wurde, nennt Thomas dominium, Herrschaft über das eigene Streben und Tun. Diese Herrschaft ist einer bestimmten Art von Streben eigen: Jener, die auf Vernunft beruht; diese Art von Streben heißt Wollen12. Die Freiheit hat also gleichsam eine doppelte Wurzel: sie hat ihren Sitz im Willen: in jenem Streben, das aufgrund von Vernunfturteilen erfolgt. Der Wille ist Wurzel der Freiheit insofern er Subjekt (Träger, Sitz) der Freiheit ist. Die Vernunft selbst nennt Thomas Wurzel der Freiheit weil sie Ursache von Freiheit ist. „Denn deshalb vermag der Wille frei sich auf Verschiedenes auszurichten, weil die Vernunft darüber, was gut ist, verschiedene Auffassungen zu haben vermag" 13 . Das Streben des sinnlichen Begehrens beispielsweise beruht auf Perzeptionen der Sinnesorgane. Diese Perzeption hängt ab von organischen Bedingungen (Subjekt) und bestimmten Eigenschaften des erstrebten Gegenstandes. Die Relation zwischen perzipieren-

11 Die von G. E. Moore (Principia Ethica, Cambridge 1903) behandelte Problematik der nicht-naturalistischen Bedeutung des Wortes „gut" löst sich in dieser Perspektive von selbst auf. Selbstverständlich kann man „gut", wie auch „gelb", nicht auf irgend eine andere natürliche Eigenschaft zurückführen. „Gut", im Sinne von „praktisch gut" ist überhaupt keine „natürliche Eigenschaft" von irgendetwas, sondern dieses „Irgendetwas" selbst, insofern es Korrelat eines Strebens ist. Vgl. auch, aus der Sicht der analytischen Philosophie, B. Williams, Der Begriff der Moral, Stuttgart 1978, S. 47ff. 12 Siehe dazu vor allem Thomas von Aquin, De Veritate, q. 22, a. 4. 13 I—II, q. 17, a.l ad 2.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

dem Subjekt und erstrebtem Gegenstand ist hier naturhaft determiniert. Das entsprechende Streben folgt dieser perzeptiven Determiniertheit. Das Sinnesurteil verläuft eindimensional und naturhaft-spontan. Von Lebewesen, die nur aufgrund sinnlicher Strebung tätig sind, kann man nicht im eigentlichen Sinne sagen, dass sie „handeln", „non agunt, sed magis aguntur" („sie handeln nicht, sondern werden angetrieben") sagt Thomas in einem unübersetzbaren Wortspiel 14 . Vernunft hingegen vermag das Gute, auch jenes der Sinnesstrebungen, unter verschiedensten Gesichtpunkten zu beurteilen, Aspekte, Für und Wider usw. abzuwägen. Vernunft wird durch kein partikulares Gut determiniert. Für die Sinnesstrebung ist das ihr gegenständliche Gute immer in jeder Hinsicht gut, und zwar gerade deshalb, weil Sinnesstreben überhaupt nur jeweils eine Hinsicht besitzt. Die Vernunft erfasst, dass das dem Sinnesbegehren „in jeder Hinsicht Gute" eben nicht in jeder Hinsicht gut ist, weil sie bezüglich einer Vielfalt von Hinsichten zu urteilen vermag. Der Mensch nun handelt erst aufgrund eines Strebens, das dem Urteil der Vernunft folgt. Auch das ist Primärerfahrung. Und dieses Streben nennen wir „Wollen". Es besitzt die Offenheit und Vielfalt der Vernunft. Und das heißt auch: Es vermag sich selbst zum Gegenstand zu machen. Urteile der Vernunft können, aufgrund anderer Gesichtspunkte, wiederum von derselben Vernunft beurteilt werden. Und was aufgrund eines Vernunfturteiles erstrebt (gewollt) wird, kann selbst wiederum Gegenstand eines Wollens zweiter Ordnung, von „second order desires" sein15. Vernunft und Wollen sind reflexiv. Das „Sehen" kann sich selbst nicht sehen, das „Hören" sich nicht hören, das „Tasten" sich nicht tasten: sinnliches Bewusstsein ist nie Selbstbewusstsein. Vernunft jedoch kann sich selbst wiederum vernünftig zu sich selbst verhalten bzw. sich beurteilen, und willentliches Streben kann selbst immer wieder gewollt oder nicht gewollt werden. Aufgrund von Vernunft und Wille ist unser Handeln ein Tun, das wir in der Hand haben. Wollen-können heißt Herrschaft über eigenes Streben besitzen. Das heißt nicht, dass es in Vernunft und Wille nicht auch solches gibt, das wir nicht in der Hand haben: Es gibt Urteile der praktischen Vernunft, die wir naturhaft-spontan vollziehen. Etwa „Das Gute ist zu tun, das Üble zu meiden." Es gibt auch Strebungen des Willens, über die wir in gewisser Weise nicht Herr sind: Z.B. das Streben nach Selbsterhaltung und vor allem das Glücksverlangen. Doch davon später (KapitelV). Eine Handlung, über die wir Herrschaft besitzen und die wir aufgrund solcher Herrschaft vollziehen, nannten die Philosophen und Theologen der Scholastik eine menschliche Handlung („actus humanus"). Solche Handlungen sind zu unterscheiden von Tätigkeiten menschlicher Subjekte, die nicht Vernunft und Willen entspringen und deshalb zwar „Handlungen" oder besser: Akte des Menschen sind („actus hominis"), nicht aber menschli-

14 De Veritate, a. a. O. 15 Diese für die klassische philosophische Psychologie (Seelenlehre) bekannte und eigentlich selbstverständliche Tatsache, dass der Wille sich zu sich selbst verhalten, so zu sich selbst Stellung nehmen und deshalb sein eigenes Wollen, auf einer anderen Ebene, wiederum zum Gegenstand des Wollens oder Nichtwollens machen kann, ist wieder akzentuiert worden z.B. durch H. Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 67 (1971), S. 5-20, und mit Bezugnahme auf Frankfurt Ch. Taylor, What is Human Agency? in: Taylor, Human Agency and Language (Philosophical Papers I), Cambridge 1985, S. 15-44 und: What's Wrong With Negative Liberty, in Taylor, Philosophy and the Human Sciences (Philosophical Papers 2), S. 211-229.

1. INTENTIONAHTÄT UND FREIHEIT MENSCHLICHEN HANDELNS

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che Handlungen, also Handlungen, die der spezifischen Eigenart menschlichen Tuns entspringen. Denn sie besitzen zwar das äußere Gewand von menschlichen Handlungen, nicht aber deren „Seele". Anders gesagt: sie entspringen nicht dem freien Willen, - wobei „freier Wille" nichts anderes meint als „Streben aufgrund von Urteilen der Vernunft". „Freier Wille" ist nicht ein undeterminierter oder nichtdeterminierbarer Wille, sondern ein solcher, der durch nichts anderes determiniert zu werden vermag, als durch Vernunft-Urteile über das Gute. Analytische Philosophen unterscheiden in der Regel nicht zwischen actus humanus und actus hominis, da diese Unterscheidung natürlich bereits einen „starken", die Willentlichkeit einschließenden Begriff von Handlung voraussetzt. Diese Nichtunterscheidung führt dann oft zu unnötig erscheinenden Komplikationen und Unklarheiten und resultiert schließlich - wie etwas bei Donald Davidson in der Reduzierung von Handlungen auf Körperbewegungen. Handlungen werden als auf bestimmte Weise verursachte Ereignisse interpretiert: „Wir tun nie mehr, als unseren Körper zu bewegen; der Rest ist der Natur anheimgestellt" l6 . Charakteristisch ist dann z.B. folgendes von Davidson angeführtes Beispiel: „Über einen Teppich zu stolpern, ist normalerweise keine Handlung, doch wenn man es absichtlich tut, ist es eine" 17 Auf Grund der Unterscheidung von actus hominis („Akt des Menschen") und actus humanus („menschliche Handlung") wird sogleich deutlich, dass „stolpern" keine „menschliche Handlung" ist, obwohl es natürlich etwas ist, was man irgendwie „tut". Falls man es hingegen absichtlich tut, so ist das allerdings nun kein „absichtliches Stolpern" (das widerspricht dem Begriff des „Stolperns"), sondern ein bloßes „so tun als ob man stolperte", also ein (nun natürlich absichtliches) Vortäuschen einer unabsichtlichen Körperbewegung bzw. eines Geschehens oder Ereignisses (eben des Stolperns).

Im Schlaf vollzogene Handlungen sind keine „menschlichen Handlungen". Ebenfalls nicht gewisse Spontan- oder Reflexhandlungen. Kleinkinder, die noch nicht Vernunftgebrauch besitzen, vollziehen keine „menschlichen Handlungen". Ebenfalls nicht geistig Behinderte (insofern solche Handlungen eben eine pathologische Ursache haben). Wenn jemand, aufgrund eines plötzlichen Schreckens, reflexartig jemand anderen zu Boden stößt, so war dies keine „menschliche Handlung". In all diesen Fällen können wir zwar von „Handlungen eines Menschen" sprechen, denn sowohl Schlafende, wie auch Kleinkinder, geistig Behinderte oder Subjekte, die Reflexhandlungen vollziehen sind ja Menschen. Aber die entsprechenden Handlungen werden nicht vollzogen aufgrund von Eigenschaften, die diesen Subjekten als Menschen spezifisch eigentümlich sind. Als menschlich zeichnet sich unser Handeln aus, weil es willentlich ist, das heißt vernunftgeleitetem Streben entspringt und wir darüber entsprechend Herrschaft besitzen: Wir wissen, was wir tun, welches die Folgen unseres Tuns auch für andere sind und aufgrund der Wahrnehmung von Verantwortlichkeit für diese Folgen können wir das eine tun und das andere lassen 18 . Handlungen von Kleinkindern, geistig Behinderten usw. sind eigentlich gar keine Handlungsvollzüge; sie gleichen eher „Naturereignissen". In einer bestimmten Hinsicht haben sie mit einem Erdbeben mehr gemeinsam, als mit einer menschlichen Handlung. So wie wir einem Erdbeben höchstens im metaphorischen Sinne „Verantwortung" oder „Schuld" für die Hervorbringung von Übeln zusprechen, so fallen auch die genannten „Geschehnisse" nicht unter die Kategorien von „Verantwortung", „Schuld und Verdienst", „Lob oder Tadel". Dies ist ein Zeichen dafür, dass sie Handlungen

16 D. Davidson, Handeln, in: Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt a. M. 1985, 96. 17 Ebd., S. 75. 18 Vgl. auch R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, S. 186ff.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

sind, die für die Ethik belanglos bleiben. Und damit haben wir auch bereits gesagt: „Menschliche Handlungen" sind extensional (umfangmäßig) identisch mit „sittlichen Handlungen". „Sittlich" hier nicht im Gegensatz zu „unsittlich", sondern im Gegensatz zu „sittlich nicht bewertbar" oder „sittich belanglos". Denn eine sittliche Handlung ist eine Handlung, die man loben oder tadeln kann19. Die Ethik beschäftigt sich also mit der menschlichen Handlung. Oder anders gesagt: Sittliches Handeln ist der Bereich jenes Tuns menschlicher Subjekte, das vernunftgeleitetem Streben entspringt (= „menschliche Handlung"). Deshalb beschäftigt sich Ethik mit jenem Tun des Menschen, das wir frei nennen, oder auch „willentlich", „verantwortlich", und wo wir loben und tadeln können. Der Bereich des Moralischen deckt sich mit jenem, wo auch Lob und Tadel ihren Ort haben. c) Zielgerichtetheit und Vernünftigkeit Der Zusammenhang zwischen Zielgerichtetheit des Handelns und Vernünftigkeit muss nun noch näher ausgeleuchtet werden. Stellen wir uns einen Menschen vor, der auf ein Bankkonto Geld einzahlt. Wir können ihn fragen, „was" er denn tue. Und die Antwort auf die Frage erhalten wir, wenn wir Aufschluss erhalten über das „Warum?" oder „Wozu?" dieses Tuns: „Ich lege mein Geld an", „ich spare", „ich bin dabei, unsauberes Geld zu waschen"; „ich bezahle eine Rechnung" usw. Hier gibt es Intentionalität: Eine Beziehung zwischen einem „Tun" und einem „Wozu?" dieses Tuns, wobei das „Wozu?" gerade spezifiziert, was man eigentlich tut. Dass hier das „Wozu man etwas tut" gerade das „Was man tut" ausmacht, vermag auch folgendes Beispiel zu erhellen: Wenn wir jemandem mitten am Tag auf seinem Bett liegen sehen und ihn fragen: „Was tust du?" und er uns antwortet: „Ich liege auf meinem Bett", so werden wir diese Rede eher als Verweigerung einer Antwort betrachten. Denn was wir meinten, als wir die Frage stellten, war: „Wozu liegst du auf deinem Bett?" Die Antwort müsste also beispielsweise lauten: „Ich ruhe mich gerade aus" oder „Ich betreibe Yoga". Damit ist gemeint: „ Was ich tue ist folgendes: Ich liege auf meinem Bett, um mich auszuruhen" oder „um mich zu konzentrieren." Diese Antwort ist eine intentionale Erklärung, d.h. Ausdruck einer Intention. Und genau das ist es, was der Fragende mit seiner Frage erfahren wollte20. Es geht hier nicht um Intentionen im Sinne von Absichten wie „ein Auto stehlen um einen Verunfallten ins Spital zu bringen" oder „Geld anlegen (sparen), um seinen Kindern die Ausbildung zu finanzieren". Sondern vielmehr um jene Intention, die ein bestimmtes Tun

19 Damit hängt auch das „Sich-Entschuldigen" zusammen, sei es als Eingeständnis eigener Schuld mit Bitte um Verzeihung, sei es als Ausrede und Selbstrechtfertigung. In beiden Fällen ist dit Möglichkeit, für eigenes oder anderer Tun eine Entschuldigung vorbringen zu können, Zeichen von Freiheit und Verantwortlichkeit dieses Tuns. Diesen Zusammenhang hat aus sprachanalytischer Sicht John L. Austin in die Diskussion eingebracht: A Plea for Excuses, in: Proceedings of the Aristotelian Society 57 (1956-57), S. 1-30; dt.: Ein Plädoyer für Entschuldigungen, in: G. Meggle (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1985, S. 8 ^ 2 . 20 Das letzte Beispiel stammt von G. E. M. Anscombe, Intention. 2. Aufl. Oxford 1963, § 22, S. 35. (Übers.: Absicht. Freiburg/München 1986, S. 56.). Im Originaltext steht das englische Wort „Why?", das in der deutschen Übersetzung korrekt mit „Warum?" wiedergegeben ist. Die „Warum?"-Frage ist umfassender. Sofern wir jedoch damit die Intentionalität ansprechen, ist „Wozu?" die treffende Vokabel.

1. INTENTIONALITÄT UND FREIHEIT MENSCHLICHEN HANDELNS

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überhaupt erst einmal in der fundamentalsten Weise als sinnvolle „menschliche Handlung" und damit auch als sittlich qualifizierbare Handlung konstituiert. Jene Intention also, die gleichsam die „unterste Schwelle" dafür bildet, damit wir überhaupt von einer menschlichen Handlung sprechen können. „Ein Auto stehlen" ist bereits eine solcherart definierbare Handlung. Nicht aber „mit einem Draht das Türschloss eines Autos öffnen". Was man hier tut, ist gar nicht klar (es könnte mein Auto sein, und ich habe versehentlich den Schlüssel stecken lassen; es könnte sich aber auch um einen Diebstahl handeln, wozu auch immer). Um was für eine Handlung es hier geht, das wird also erst klar durch Angabe eines „Wozu": „Er ist dabei, ein Auto zu stehlen". Diese Art von Intentionalität ist hier also gemeint. Wenn hier von einer „untersten Schwelle" die Rede war, so ist dies folgendermaßen zu verstehen: „Menschliche Handlungen" sind immer gewählte, gewollte Handlungen. Damit eine Handlung überhaupt gewählt, gewollt wird, bedarf sie einer primären oder fundamentalen intentionalen Strukturierung. „Auf dem Bett liegen" kann in dieser rudimentären (nicht-intentionalen) Form gar nicht „gewollt" und vollzogen werden. Wen jemand wählt, sich aufs Bett zu legen, so wählt er das „unter einer Beschreibung", die eben die Beschreibung einer Basis-Intention ist; z.B. „sich Ausruhen". Es geht hier also um „intentionale Basis-Handlungen", deren intentionaler Inhalt dasselbe ist, was man auch das „Objekt" einer Handlung nennt 2 '.

Intentionalität impliziert praktische Vernunft. Vögel beispielsweise haben keine Vernunft, und deshalb wissen sie nicht, was sie tun, wenn sie Zweiglein, Moos und dergleichen zusammentragen, d.h. dass sie ein Nest bauen. Intentionalität kennzeichnet jene Art von Streben, das eine doppelte Leistung der Vernunft einschließt: Erkenntnis eines Zieles; und Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen „dem, was man tut" (im rein physischen Sinne, z.B. „Aufbrechen eines Türschlosses", „Zweiglein zusammentragen") und diesem Ziel, dem „Wozu" („Entwendung des Autos", „ein Nest bauen"). Erst beides zusammen bildet, was man eine „menschliche Handlung" nennt und gibt uns die Möglichkeit, ihren eigentlichen Inhalt, ihren Gegenstand (Objekt), also ihr praktisch relevantes „Was" zu identifizieren. Ein solches Handeln nennt man willentliches Handeln. Menschliches Handeln ist also von seinem Begriffe her (1) willentliches Handeln, (2) intentionales Handeln und (3) Handeln aufgrund von praktischer Vernunft. All dies fällt dem Umfange nach zusammen. Aus der Perspektive des Beobachters besteht freilich zwischen dem Tun eines nestbauenden Vogels und einer intentionalen menschlichen Handlung kein angebbarer Unterschied. Man müsste hier „Handeln" einfach als kausale Verknüpfung von beobachtbaren Körperbewegungen (und anderen „Ereignissen") und dadurch hervorgerufenen Wirkungen beschreiben. Intentionalität ist nicht „beobachtbar", im Unterschied zur bloßen Zielgerichtetheit (Teleologie) eines Tuns. „Intentionalität" ist gleichsam die Innenperspektive von Teleologie: Nicht nur zielgerichtet etwas tun, sondern es in dieser Weise tun, weil das Ziel der Grund ist, um dessentwillen man es tut. Genau dies ist eine Intention. In diesem Zusammenhang steht der in der analytischen Philosophie ausgeprägte Gegensatz zwischen sogenannten „Intentionalisten" und „Kausalisten". Erstere verstehen Gründe (Intentionen) als Faktoren, die erklären, was man eigentlich tut und damit als Bestandteil der Handlung, nicht jedoch als (mentale) Ursachen einer Handlung. Letztere behaupten, „Gründe" seien mentale Ereignisse, die das Tun (= bestimmte Körperbewegungen) in einem strikt kausalen Sinn verursachen; damit wird

21 Vgl. G. E. M. Anscombe, Intention, a. a. O. § 35, S.66 (Absicht, S. 104). Mehr zum Begriff der intentionalen Basis-Handlung unten, III. 2. a.

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I I . M E N S C H L I C H E S H A N D E L N UND DIE F R A G E NACH DEM G L Ü C K

nun Handlung auf „Körperbewegung" reduziert. Inwiefern diese Diskussion einem Scheinproblem und vor allem einem reduktionistischen Begriff von Kausalität entspringt, kann hier nicht ausführlich besprochen werden. Es scheint allerdings, dass analytische Philosophen keine Theorie der Willensakte besitzen, durch die entsprechende Dichotomien aufgelöst werden könnten. Dabei hat auch die Kritik von Gilbert Ryle 22 am Dualismus Wille-Körperbewegung (Geist-Leib) entscheidend gewirkt. Im folgenden werde ich eine Position entwickeln, in der Intentionen sowohl als Bestandteile wie auch als Ursachen von Handlungen verstanden werden können. 23 Deshalb erklärt Thomas von Aquin - i m Anschluss an Aristoteles' Lehre über das hekousion dass für die W i l l e n t l i c h k e i t einer Handlung z w e i e r l e i n o t w e n d i g ist: Erstens, dass die Handlung eigener Strebung, und nicht v o n außen k o m m e n d e r G e w a l t entspringt (das trifft allerdings auch auf den nestbauenden V o g e l zu). Z w e i t e n s , dass der Handelnde Kenntnis, W i s s e n bezüglich des Zieles besitzt 24 Aber das genügt noch nicht, denn die Kenntnis des Zieles kann zweierlei Art sein: A u c h Tiere brauchen Perzeptionen, sinnliche Erkenntnisse, um e t w a s zu tun. D e r Instinktmechanismus wird perzeptiv ausgelöst, also durch eine Form von Wissen. Aber diese Form von Zielkenntnis ist unvollkommen, w e i l sie sich am Ziel nur die „Sachhaitigkeit" (res) erfasst, nicht aber, was Thomas die „ratio finis" nennt, d.h. gerade die „Zielhaftigkeit" dieser Sache. Nur w e n n auch u m d i e s e letztere g e w u s s t wird, gibt es e i g e n t l i c h e ( v o l l k o m m e n e ) W i l lentlichkeit; denn nur dann ist es möglich, auch die Beziehung mitzuerfassen, die z w i s c h e n d e m Ziel und der Handlung besteht, die auf das Ziel gerichtet ist. Erst dann wird es möglich, das eigene Handeln intentional zu strukturieren, es gleichsam in eigener R e g i e zu vollziehen (bzw. auch nicht zu vollziehen), d.h. aufgrund von Zielen zu überlegen, w a s nun zu tun sei, und das zu Tuende im Hinblick auf das verfolgte Ziel zu wählen, b z w . das, w a s man immer schon tut, auf diesem Tun angemessene Ziele auszurichten25. Genau das ist die Leistung praktischer Vernunft. Ein triviales Beispiel: Der Mensch besitzt nicht nur einen Ernährungstrieb, der ihn zu Akten der Nahrungsaufnahme antreibt, sondern er vermag „Ernährung" auch als Ziel von Akten der Ernährung zu erfassen. Die Erfassung der „Zielhaftigkeit" von „Ernährung" (Selbsterhaltung, Gesundheit, Wohl-

22 The Concept of Mind, London 1949. 23 Texte zur erwähnten Diskussion finden sich in A. Beckermann (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie Bd. 2, Frankfurt/M. 1985 (vor allem die Beiträge von A. I. Melden, A. Maclntyre, W. D. Gean). Eine differenzierte Position vertritt hier G. H. von Wright, Das menschliche Handeln im Lichte seiner Ursachen und Gründe, in: H. Lenk, Handlungstheorien interdisziplinär, Bd. 2,11, a. a. O. S. 417-430. Zur Vermittlung s. auch W. Vossenkuhl, Freiheit zu handeln, in: H.-M. Baumgartner (Hrsg.), Prinzip Freiheit, Freiburg/München 1979, S. 97-137. 24 I—II, q. 6, a. 1. Vgl. EN III, 1 25 I—II, q. 6, a. 2. Vgl. auch A. Kenny, Thomas von Aquin über den Willen, in: W. Kluxen (Hrsg.), Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, Freiburg/München 1975, S. 10—131, bes. 119 ff. A Maclntyre betont gegenüber Kenny, gemäß Thomas von Aquin hätten auch Tiere „reasons for action" (A. Maclntyre, Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues, Chicago and La Sallel999, S. 53 ff.). Das steht allerdings dem hier Gesagten nicht entgegen. Denn animalische „reasons" sind eben Inhalte von animalischen (sinnlichen) Perzeptionen. Nur in der Beobachterperspektive (die Maclntyre nicht verlässt) besteht kein ersichtlicher Unterschied zu menschlicher Intentionalität und Willentlichkeit (Maclntyre verweist auf J. A. Barad, Aquinas on the Nature and Treatment of Animals, San Francisco 1995).

1. INTENTIONALITÄT UND FREIHEIT MENSCHLICHEN HANDELNS

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befinden) bezüglich konkreter Akte der Nahrungsaufnahme eröffnet die Möglichkeit, solche Akte zu wählen, zu strukturieren, zu modifizieren, sich ihrer (gerade um der Gesundheit oder Selbsterhaltung willen, aber auch wegen anderer Ziele) zu enthalten; usw.

Wir wollen nun vorläufig diese Analyse von Intentionalität und praktischer Vernunft auf sich beruhen lassen; es wird darauf zurückzukommen sein (s. 111,3). Die Fragestellung zielt vorläufig in eine andere Richtung, die soeben angedeutet wurde: Worauf können wir sinnvollerweise unser Tun, unsere Handlungen als Menschen überhaupt ausrichten? Braucht es eine solche Ausrichtung? Besteht das Leben eines Menschen aus einer ungeordneten Vielfalt von Zielen, oder gibt es hier ein schlechthin Letztes? Wenn ja: Ist dieses Letzte selbst eine geordnete Vielfalt von Zielen, oder aber ein einziges Ziel? Bevor wir die Frage richtig stellen, ist noch einiges zum Begriff der sittlichen Handlung anzumerken.

d) Sittliche Handlungen als „immanente Tätigkeiten" Wenn wir bisher von Praxis sprachen, so haben wir auch das Kunsthandeln (Kunst und Technik) darin eingeschlossen. Denn auch Häuser bauen oder Schuhe fertigen ist j a eine Art von Praxis. Ebenso sind es die Tätigkeiten des Arztes oder des Künstlers. Um den Begriff „sittliche Handlung" als „menschliche Handlung" noch genauer zu bestimmen, müssen wir nun eine Unterscheidung zwischen Praxis im eigentlichen Sinne und Kunsthandeln einführen. Es ist die Unterscheidung zwischen „Praxis" und „Poiesis", zwischen „Handeln" und „Herstellen" (Fertigen, Produzieren, usw.). Die Unterscheidung meint nicht, dass alles, was ein Mensch tut, entweder Handeln oder Herstellen ist. Jedes Herstellen ist immer auch ein Handeln, eine Praxis. Aber gerade dieses „immer auch" rechtfertigt die Unterscheidung. Ein Arzt stellt die Gesundheit seiner Patienten her; ein Architekt konstruiert Häuser; ein Schuster fertigt Schuhe. Stirbt der Arzt, der Architekt oder der Schuster, so ist das Produkt seines Herstellens - die Gesundheit der Patienten, die Häuser oder Schuhe - davon nicht betroffen. Das Herstellen nennt man deshalb eine „ transeunte " Tätigkeit (operatio transiens26). Transeunte Tätigkeiten sind solche, deren Ergebnis „außerhalb" des Tätigen verbleiben und deshalb auch ohne ihn weiterbestehen. Bleiben wir nun beim Schuster, nicht aber bei seinen Leisten: Was „tut" denn nun der Schuster eigentlich, wenn er Schuhe herstellt? Und gemeint ist: Was tut er abgesehen von den rein technischen Aspekten seines Tuns? Mögliche Antworten sind: Er verdient sich den Lebensunterhalt; er dient seinen Kunden; er erfüllt seinen Schaffensdrang; usw. Ein „guter" Schuster ist ein solcher, der „gute" Schuhe herstellt. Aber wir können auch sagen: Ein guter Schuster ist ein solcher, der mit seinem Handwerk sich sein Leben verdient, für seine Familie sorgt, seinen Kunden dient. Wir haben hier aber zwei Mal in verschiedenem Sinne vom „guten Schuster" gesprochen. Im zweiten Fall meinte „gut" nicht die Fertigkeit, ein Produkt herzustellen, sondern das Ergebnis der Praxis, zu der dieses Herstellen gehört. Dieses Ergebnis der Praxis nun ist nicht eine Eigenschaft der hergestellten Schuhe, sondern des Schusters. Es ist jenes Ergebnis, das im Handelnden selbst verbleibt, weil es Teil des Lebensvollzugs des Handelnden ist. Praxis nennt man deshalb „immanente" Tätigkeit (operatio immanens), - analog zum Erkennen, dessen Ergebnis ja auch im Erkennenden verbleibt. Auch das „Sehen" verbleibt im Sehsinn; das „Fühlen" in demjenigen der fühlt; usw.

26 In I Ethic. lect. 1

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

Beim „Schuhe Herstellen" als Praxis betrachtet geht es nicht um das Gutsein der hergestellten Schuhe, sondern um den guten Vollzug der Handlung „Schuhe-Herstellen". Dieser besitzt nun nicht nur einen auf das Produkt hinzielenden technischen Sinn (den zu erreichen allerdings für die Praxis keineswegs nebensächlich ist), sondern auch einen dem Handelnden immanent bleibenden Sinn: Lebensvollzug. Wenn wir also in dieser Bedeutung vom „guten Schuster" sprechen, so meinen wir, der gute Schuster sei in irgend einer Weise als Mensch gut. Wir sprechen nicht über die von ihm hergestellten Schuhe, sondern über einen Aspekt des Gelingens seines Lebens. Das heißt, wir befinden uns wiederum in dem Bereich, wo wir loben und tadeln können. Gewiss: Wir können einen Schuster auch dafür loben, dass er es versteht, ausgezeichnete Schuhe herzustellen. Wir tun dies jedoch strenggenommen nicht, insofern er ausgezeichnete Schuhe herstellt (sonst müssten wir auch Roboter, die dasselbe tun, loben), sondern insofern er für die Arbeit, die er leistet selbst verantwortlich ist und wir das „Ausgezeichnet-Schuhe-herstellen" als eine selbstverantwortete Erfüllung menschlicher Fähigkeiten betrachten. Wir betrachten dann also das „Ausgezeichnet-Schuhe-herstellen" gerade als „menschliche Handlung", als Praxis, und die Leistung des Schusters nicht als Leistung eines „Schuhe-Herstellenden", sondern als diejenige eines Menschen. Hätte ein Mensch die angeborene Fähigkeit, ausgezeichnet Schuhe herzustellen, so würden wir ihn nicht loben, sondern höchstens beglückwünschen oder beneiden. Und wenn wir einen Roboter loben, dann loben wir eigentlich seinen Hersteller. Daraus wird ersichtlich: etwas technisch gut tun besitzt auch eine sittliche Komponente, die jedoch nicht auf die technische Komponente reduzierbar ist, sondern davon unterscheidbar bleibt27

In jedem Tun, sei es nun ein Herstellen oder auch ein Tun wie Erkennen, wissenschaftlich Forschen, Politik betreiben, Kinder aufziehen, Unterrichten, Essen, Tennis spielen usw. verfolgen wir etwas, was nicht einfach dieses Tun ist, sondern diesem Tun erst seinen praktischen Sinn verleiht. Solche Ziele können beschrieben werden als „menschliche Fähigkeiten zu Erfüllung bringen", „Wahrheit erfassen", „sich den Lebensunterhalt verdienen", „sich erholen", „sich bereichern", „Macht ausüben", „der Gerechtigkeit dienen", usw. Solche Ziele, die wir im eigentlichen Sinne praktische Ziele und praktische Güter nennen können, haben die Eigenschaft, dass das Ergebnis ihres Erreichens im Handelnden selbst verbleibt, dass sie nicht ein Produkt oder einen Zustand außerhalb des Tätigen, sondern den Handelnden selbst vervollkommnen oder verschlechtern. Ja, schon das bloße Erstreben solcher Tätigkeit verändert den Strebenden. Genau dies ist die Perspektive der Praxis, und damit auch die Perspektive der Moral: „Sittliches Handeln" ist nicht „sich verhalten zu Gegenständen", „bewirken von etwas außer uns", „herstellen", sondern Verwirklichen dessen, was wir sein können, Verwirklichen des eigenen Menschseins. Gutes Handeln macht den Handelnden zu einem guten Menschen; durch gerechte Handlungen werden wir gerechte Menschen. Mit sittlichem Handeln verändern wir zunächst und vor allem jenes Stück Welt, das wir selbst sind. Auch für Kant ist die Perspektive der Moral die Perspektive des „guten Willens". Nicht, was wir letztlich erreichen, zählt, sondern die Qualität unseres Willens, der - selbst wenn er ohne Schuld nichts auszurichten vermöchte - „wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen" würde, „als etwas, das 27 Vgl. dazu A.W. Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, Freiburg/München 1982, S. 209-230; sowie Müller, Praktische und technische Teleologie. Ein aristotelischer Beitrag zur Handlungstheorie, in: H. Poser (Hrsg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg/München 1982, S. 37-70.

1. INTENTIONALITÄT U N D FREIHEIT MENSCHLICHEN H A N D E L N S

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seinen vollen Wert in sich selbst hat"28. Nichts ist richtiger als dies. Die Lehre Kants über den guten Willen bleibt jedoch zweideutig: Er ist nämlich der Meinung, dass der Wille als ursprüngliche Triebfeder notwendigerweise unmoralisch ist und bleibt; „gut" ist er nur in seiner Ausrichtung am Vernunftgesetz. Deshalb ist Kant der Meinung, die „Verkehrtheit des Herzens", das „böse Herz", könne „mit einem im allgemeinen guten Willen zusammen bestehen"29. Ein „guter Wille" ist ein solcher, der nach richtigen Vemunftimperativen handelt; nicht aber ein Wille, der als Streben gut ist. W e n n hier von „Verwirklichung des eigenen M e n s c h s e i n s " die R e d e war, so ist freilich nicht eine platte Selbstverwirklichung gemeint. G e m e i n t ist etwas wesentlich Tieferes, und zugleich auch Trivialeres. G e m e i n t ist, dass wir in allem und durch alles, was wir in irgend einer W e i s e tun - sofern dies eben eine menschliche H a n d l u n g ist, ein T u n aus vernunftgeleitetem Willen, aus Freiheit - , dass wir also in allem solchem T u n eigentlich etwas mit uns selbst tun. Handeln, Praxis, heißt i m m e r auch j e m a n d w e r d e n und, als Ergebnis, j e m a n d sein. E s heißt nicht, den Z u s t a n d der W e l t oder den Weltlauf zu optimieren. O f t tragen wir natürlich f ü r den Z u s t a n d d e r W e l t u n d ihren L a u f ein g u t e s S t ü c k V e r a n t w o r t u n g . A b e r w i e w e i t ü b e r h a u p t u n s e r e V e r a n t w o r t u n g reicht, das k ö n n e n wir erst a u s m a c h e n , w e n n wir verstanden haben, welches die B e d i n g u n g e n d a f ü r sind, dass wir durch die O p t i m i e r u n g von Weltzuständen nicht selbst schlechte M e n s c h e n werden. Hier sollte vorerst hervorgehoben werden, dass die Perspektive der Praxis j e n e ist, in der es u m Verwirklichung des Guten im handelnden Subjekt geht. E s geht d a r u m , was die Griechen das „gute L e b e n " nannten. D a s gute L e b e n ist nicht das b e f r i e d i g e n d e L e b e n u n d auch nicht ein Z u s t a n d der G e s e l l s c h a f t , sondern j e n e r L e b e n s v o l l z u g h a n d e l n d e r S u b j e k t e , d u r c h den d i e s e - w i e es A r i s t o t e l e s in A n l e h n u n g an d a s in P i a t o n s D i a l o g „ P r o t a g o r a s " diskutierte Gedicht des Dichters Simonides ausdrückt - „in Wahrheit gut sind" 3 0 , sogar, wenn man dabei das Leben lassen muss. Es geht, platonisch gesprochen, u m das „Gut der Seele". D i e Griechen kannten f ü r diese spezifische F o r m des G u t e n (agathon), das als „in W a h r h e i t " sittliches, praktisches G u t i m H a n d e l n d e n verbleibt u n d ihn zu e i n e m guten M e n s c h e n macht, den eigenen A u s d r u c k „to k a l o n " : D a s (sittlich) „ S c h ö n e " . E s ist j e n e s Z u t r ä g l i c h e o d e r N ü t z l i c h e , das sich nicht selbst n o c h e i n m a l d u r c h s e i n e Z u t r ä g l i c h k e i t o d e r N ü t z l i c h k e i t f ü r a n d e r e s zu r e c h t f e r t i g e n b r a u c h t . Sein N u t z e n b e s t e h t darin, d a s s es d e m M e n s c h e n als M e n s c h e n schlechthin zuträglich ist, wie z.B. „Gerecht-sein". S o m i t zeigt sich E t h i k als e i n e L e h r e v o m „ g u t e n L e b e n " . W e n n m a n g e n a u zusieht, so wird deutlich, dass es eigentlich u m gar nichts anderes gehen kann. Selbst w e n n m a n j e m a n d e n d a f ü r tadelt, dass er sich nicht u m seine M i t m e n s c h e n k ü m m e r t , dass er u n s o z i a l o d e r ungerecht ist, so tadelt m a n ihn j a gerade, weil man der M e i n u n g ist, dass er aus diesem G r u n d e e b e n kein g u t e r M e n s c h sei. W e n n j e m a n d an m e i n e r Seite v e r h u n g e r t u n d ich konnte i h m nicht helfen, so wird m a n das h ö c h s t e n s bedauern, m i c h aber nicht d a f ü r tadeln. Es ist nicht der H u n g e r t o d des anderen, was hier das Ü b l e im sittlichen Sinne ist; sondern es wäre, hätte ich h e l f e n k ö n n e n , m e i n e U n t e r l a s s u n g d e r H i l f e l e i s t u n g , die ein sittliches Ü b e l w ä r e u n d Tadel verdiente. E b e n deshalb tadelt m a n j a auch nicht die Natur, w e n n ein Erdbeben Häuser z u m Einstürzen bringt und dabei M e n s c h e n sterben. M a n tadelt höchstens diejenigen, die aus tadelnswerten Gründen keine einsturzsicheren Häuser bauten oder mit m e h r Voraussicht eine

28 I. Kant,GMS, A 3 (IV, S. 19). 29 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 36 (IV, S. 686). 30 ENI, 11, 1100b22.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

rechtzeitige Evakuierung hätten anordnen können. Man betrachtet sie als verantwortungslose Menschen und entdeckt vielleicht, dass sie aus Gewinnsucht, Schlamperei oder schuldhafter Inkompetenz das Nötige versäumt haben. Immer geht es um den handelnden Menschen, darum, zu was er sich selbst als Handelnder macht, und im gleichen Maße darum, wofür er Verantwortung trägt. Hier findet sich Schuld und Verdienst. Und Schuld und Verdienst sind Eigenschaften des handelnden Subjekts, und nicht von Ereignissen. Demnach taucht nun die Frage auf, welches denn nun ein gutes Leben sei. Wenn wir nämlich alles, was wir tun, um eines Zieles willen tun - und das ist es ja gerade, was- uns zum Begriff des guten Lebens geführt hat - dann stellt sich die Frage, ob denn nicht auch das Leben als Gesamtes ein Ziel habe. Die Frage stellt sich aus zwei Gründen. Erstens, weil wir fragen müssen, ob die Vielfalt der Handlungen und Tätigkeiten, die nun einmal ein menschliches Leben ausmachen, nicht zu einer Einheit zusammengefasst werden müssen, damit das Leben als Gesamtes überhaupt Sinn hat. Und zweitens, weil uns die Frage beschäftigt, ob wir denn alles, was wir erstreben und tun, immer wiederum um eines anderen willen erstreben und tun, oder ob es da vernünftigerweise nicht vielmehr ein Letztes geben muss, das wir um keines anderen willen mehr erstreben, sondern nur um seiner selbst willen. Dies ist eine Frage, die sich aus der Analyse menschlichen Handelns und der Natur der praktischen Vernunft mit Notwendigkeit ergibt.

e) Das letzte Ziel und das Glück Zur ersten Frage: Es ist wohl möglich, ein Leben ohne einheitsstiftendes Ziel zu führen. Es wäre jedoch ein orientierungsloses Leben. Wir müssen diese Antwort aber noch etwas präzisieren: Wenn es auch möglich ist, ein solches orientierungsloses Leben zu führen, ein Leben also, das nicht in Permanenz von einem einzigen Ziel dominiert wird, so ist es doch nicht möglich in einer bestimmten Tätigkeit nicht jeweils ein Letztes zu verfolgen. Auch wenn dieses Letzte je nach Tätigkeit variiert, so ist ein Letztes doch immer da, denn sonst würde man sich zu gar keinem Tun entschließen können; bzw. es handelte sich nicht um eine echte menschliche Handlung, sondern um außengeleitetes Tun, das im Extremfalle ein pathologisches Phänomen wäre. Wir müssen also nicht behaupten - und Aristoteles beispielsweise behauptet es ebenfalls nicht - , dass die Vielfalt aller Strebungen und Handlungen notwendigerweise in einem Ziel enden müssen. Das einzige was bisher gesagt sein muss, ist, dass jede einzelne Folgereihe von Strebungen notwendigerweise in einem Letzten endet 31 . Wer jeden Morgen ins Büro geht, tut dies mit Sicherheit aus irgend einem Letzten, das er damit erstrebt; aber dieses Letzte braucht nicht dasselbe zu sein, wie jenes, das er im täglichen Fitnesstraining erstrebt. Somit hat jede Praxis das ihr eigene letzte Ziel: Hier z.B. „Arbeiten" und „die Gesundheit erhalten". Die Frage ist nur, ob „Arbeiten" und „Gesundheit erhalten" wirklich als ein Letztes schlechthin erstrebt werden. Und damit ist nun etwas anderes gemeint: Nämlich ob wir solches um seiner selbst willen erstreben, oder doch nicht wiederum um eines anderen willen. Auf dieser Ebene ist es nun gar nicht möglich, zugleich um seiner selbst willen sowohl „Arbeiten" als auch „Gesundheit erhalten" zu erstreben. Das ergäbe innere Konflikte und zuweilen wohl auch solche im äußeren Verhalten. Hier geht es nicht mehr um die Ausrichtung 31 Vgl. dazu J. M. Finnis, Practical Reasoning, Human Goods and the End of Man, in: New Blackfriars 66 (1985), S. 4 3 8 ^ 5 1 ; bes. 439 f.

1. INTENTIONALITÄT UND FREIHEIT MENSCHLICHEN H A N D E L N S

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einzelner Tätigkeiten auf ein Letztes, sondern das Sich-Ausrichten des Handelnden selbst als praktisches Subjekt überhaupt auf ein Letztes; also die Ausrichtung des ganzen Lebens auf ein Letztes. Wer dieses Letzte in der Erhaltung der Gesundheit sieht, der würde wohl auch zuweilen nicht zur Arbeit gehen, selbst wenn er dabei riskierte, seine Stelle zu verlieren und arbeitslos zu bleiben. Würde er zugleich auch das Letzte seines Lebens im Arbeiten erblicken, so müsste er zuweilen wohl auch an der Erhaltung seiner Gesundheit Abstriche machen. Die Position wäre also selbstwidersprüchlich und unmöglich. Würde der Betreffende jedoch je nach Situation sein letztes Ziel modifizieren, so würden wir ihn eher als eine charakterlosen Menschen einstufen. Wollen wir denn nun aber überhaupt etwas um seiner selbst willen? Zunächst wäre zu klären, was denn mit „etwas um seiner selbst willen erstreben" gemeint ist. Etwas um seiner selbst willen erstreben heißt, etwas zu wollen, das man in jeder erdenklichen Hinsicht und ohne Abstriche für gut zu halten fähig ist, so dass gar keine Möglichkeit mehr besteht, es nochmals auf ein anderes hinzuordnen. Es handelte sich um ein Gut, in dessen Erlangung jegliches Streben gesättigt ist, seine Erfüllung findet und zum Stillstand kommt. Und da wir uns im Bereiche von Praxis bewegen, müsste es ein praktisches Gut sein, das heißt ein Gut, das in irgendeiner Form Gegenstand oder Inhalt einer Tätigkeit sein kann. Es handelte sich dabei folglich um eine Tätigkeit, die um keiner anderen willen vollzogen wird, sondern die in sich selbst ihr Ziel besitzt; die also gut ist, obgleich sie zu nichts weiterem gut ist. Aristoteles nun sagt uns: Wenn es uns in unserem Handeln letztlich nicht um ein solches Gut zu tun wäre, dann „ginge die Sache ins Unendliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel" 32 . Was ist hier gemeint? Genau das, was Thomas mit dem Satz „omnes appetunt suam perfectionem adimpleri"33 ausdrückt, was wir sinngemäß übersetzen können mit „alle streben nach der Vollendung ihrer selbst". Doch damit scheinen wir bei einer perfekten Tautologie folgender Art angelangt zu sein: Ein Streben, das ins Unendliche fortgeht, wäre leer und vergeblich, weil ein Streben, das jedes Gut immer nun um eines anderen willen zu erlangen suchte, eben ins Unendliche fortginge, d.h. nie zum Letzten: zur Vollendung gelangte. In Wirklichkeit ist dies aber keine Tautologie, sondern die Beschreibung eines anthropologischen (oder handlungspsychologischen) Grundsachverhaltes. Er meint nichts anderes als, dass wir eben immer ein Letztes überhaupt erstreben. Es handelt sich hier um ein handlungspsychologisches Faktum. Nun gibt es solche, deren dominierendes Lebensziel in der Gesundheit besteht, andere, bei denen dies das materielle Wohlergehen, die Anerkennung durch andere, der Sinnengenuss oder das Erleben von Abenteuern ist. Was uns aber interessiert ist im Augenblick nicht, weshalb einer z.B. das materielle Wohlergehen als Lebensziel verfolgt. Sondern, was er eigentlich im Erstreben von Besitz als Lebensziel erstrebt. Wir würden sagen: Er glaubt darin sein Glück zu finden. Und was wir damit meinen ist: Er glaubt darin jenes zu finden, was man um keines anderen willen erstrebt, sondern um seiner selbst willen. Da wir also tatsächlich alle ein Letztes wollen, weil sonst alles Wollen leer und vergeblich wäre (das ist das Faktum) so wollen wir das, was wir jeweils als ein Letztes wollen (z.B. Besitzen materieller Güter) unter dem Gesichtspunkt, unser Streben zu erfüllen. Und erfülltes Streben, gesättigtes Wollen ist nun genau das, was alle Glück nennen. Es handelt sich dabei um einen

32 EN, I, 1094a 22. 33 I—II, q. 1, a. 7.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

„schwachen" Begriff von Glück, weil er noch in keiner Weise entscheidet, worin denn nun genauer „Glück" besteht. Es geht hier um das, wie Aristoteles sagt, „sich selbst genügende Gut". „Als sich selbst genügend gilt uns demnach das, was für sich allein das Leben begehrenswert macht, so dass es keines Weiteren bedarf. Für etwas derartiges aber halten wir die Glückseligkeit" 34 . Jeden Menschen, so dürfen wir hinzufügen, verlangt es mit Naturnotwendigkeit, nach etwas, was für sich allein das Leben begehrenswert macht. Er will, dass sein Leben als Ganzes gelingt. Und genau das ist es, was wir Glück nennen 35 . Was haben wir damit gewonnen? Viel und zugleich wenig. Es hängt zunächst davon ab, was wir eigentlich unter Glück verstehen. Wenn wir darunter verstehen, was Kant meinte, wenn er von der „Absicht auf Glückseligkeit" als von einer „Naturnotwendigkeit" spricht 36, dann haben wir nicht viel gewonnen. Auch Kant hält zwar dafür: „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens" 3 7 . Er versteht jedoch unter Glückseligkeit so viel wie Wohlbefinden, ein Zustand, der „nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht" 38 . Dieser Naturtrieb auf die Erreichung eines Zustandes des Befriedigtseins verstellt, gemäß Kant, gerade den Blick für das, was man nach Gesetzen der Vernunft tun soll. Zu sagen, ein jeder Mensch erstrebe letztlich glücklich zu sein, würde uns also überhaupt nichts sagen. Es ist eine Leerformel, und eine gefährliche dazu, weil sie den Blick auf das Gesollte trübt und irreleitet. So hätte auch Ernst Tugendhat recht, wenn er an der klassischen Glückslehre kritisiert, dass es ja „keine objektiven, allgemeingültigen Verhaltensregeln für das Erreichen von Glück" gebe, denn „über das wahre Glück kann nur das Glück selbst entscheiden" und „ein bestimmter inhaltlicher Begriff von Glück lässt sich nicht begründen" 39 . Solche Kritik beruht auf einer Auffassung von „Glücklichsein", die nicht die klassische ist 40 . Sie, nicht die klassische, begreift Glück als eine Art psychologischen Zustand von Erlebnissen des Befriedigtseins. Bei Kant ist es zudem explizit: Glückseligkeit ist nicht ein „Ideal der Vernunft", sondern das Ideal eines Zustandes des Wohlbefindens, bzw. des Vermeidens von Unlust, eine Art vergnügungsorientierte Selbstliebe 41 , die sich im hedonistisch interpretierten Horizont von „Wohl und Übel" bewegt: „Das Wohl oder Übel bedeutet immer nur eine Beziehung auf unseren Zustand der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, des Vergnügens und Schmerzens, und, wenn wir darum ein Objekt begehren, oder verabscheuen, so geschieht es nur so fern es auf unsere Sinnlichkeit und das Gefühl der Lust und Unlust, das es bewirkt, bezogen wird" 4 2 . „Gut oder Böse" jedoch werde durch das Ver-

34 EN 1,5 1097b 14-16. 35 Der Ausdruck „Gelingen des Lebens" für „Glück" wurde von R. Spaemann eingeführt; vgl. Glück und Wohlwollen, a.a.O. Kap. 1. 36 I. Kant, GMS, A 42 (IV S. 44 f.) 37 I. Kant, KpV, A 45 (IV, S. 133). 38 Ebd., A 47 (IV S. 48). 39 E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, in: E. Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 46. 40 Zur klassischen Auffassung s. J. Annas, The Morality of Happiness. Oxford 1993. 41 Vgl. KpV, A 46f (IV, S. 133f.). 42 Ebd., A 106 (IV S. 177).

2 . BESTIMMUNG DES MENSCHLICHEN GLÜCKS

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nunftgesetz bestimmt, gerade gegen die Neigung glücklich zu sein (oder zumindest unabhängig von ihr). Für Aristoteles und, außer den Kyrenaikern, generell für die antike Ethik ist ein solcher Begriff von Glück als Zustand von Erlebnissen des Befriedigtseins undenkbar43. Wie J. Annas44 wieder deutlich gemacht hat, ist der antike Begriff des Glücks an denjenigen der Tugend zurückgebunden und ihm untergeordnet. Nicht wird behauptet, der Tugendhafte sei schließlich der Glückliche, sondern wahres Glück, erfülltes, gelungenes, „gutes" Leben bestehe in der Tugend. Gerade deshalb besitzen antike Ethiken oft auch ausgesprochen kontraintuitive Züge, auf jeden Fall aber zwingen sie dazu, anfängliche Intuitionen darüber, was Glück, sei im Gefolge der ethischen Untersuchung zu revidieren: Nicht im Zustand des Befriedigtseins kann Glück bestehen, sondern in jener Erfüllung, in jenem Gelingen des Lebens, die allein durch das Gutsein dieses Lebens gekennzeichnet werden kann, und das wiederum ist das Leben gemäß der Tugend. Gleichwohl, und hier scheint sich ein nichtaufhebbarer Widerspruch zu zeigen, ist Glück eine bestimmte Art von „Befriedigtsein", von „Erfülltsein". Wir definierten ja Glück als „erfülltes Streben". Und Thomas sagt an andere Stelle, „das Glück erstreben" bestehe in nichts anderem als darin, „zu erstreben, dass der Wille gesättigt sei" 45 . Nun ist aber der Wille eben ein vernünftiges Streben. Und genau deshalb ist die Glücksformel weder eine Leerformel noch verstellt sie uns den Blick auf das „Sollen". Im Gegenteil: Sie zeigt uns erst, was „Sollen" überhaupt meint. Die aristotelische Formel, dass wir als letztes Ziel alle nach dem Glück streben, schließt nämlich ein - und auch hier wiederum besteht in der antik-klassischen Ethik Konsens - , dass das Glück nur darin zu finden sein kann, was wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen wollen können. Anders formuliert: Was wir letztlich erstreben sollen, ist gerade, was allein wir vernünftigerweise um seiner selbst willen wollen können (wir können natürlich vieles um seiner selbst willen erstreben; aber nicht alles nach Maßstäben der Vernünftigkeit). Deshalb treibt uns die aristotelische Glücksformel zu einer Analyse dessen, was denn allein vernünftigerweise um seiner selbst willen gewollt werden kann; worin denn allein vernünftigerweise Erfüllung des Strebens, Sättigung des Willens gesucht werden kann. Da eben „Glücksstreben" nicht eine psychologische Leerformel für die Beschreibung eines subjektiven Zustandes von Befriedigungs-Erlebnissen ist, sondern die Formel für das Letzte eines vernunftgeleiteten Strebens - d.h. für ein vernunftgemäßes Letztes - , so ist die inhaltliche Bestimmung von Glück prinzipiell auch einer Begründung durch Vernunft zugänglich.

2. Handlungsmetaphysik und Anthropologie: Bestimmung des menschlichen Glücks a) Zwei Aspekte von „Ziel": „Ziel von etwas" und „Ziel für etwas" Es wurde gesagt, das Glück bestehe in dem, was allein wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Die Frage nach dem Glücklichsein ist demnach eine Frage, die von Anfang an unter dem Anspruch von Kriterien der Vernünftigkeit steht. Wodurch wir glück43 S. auch U. Wolf, Die Philosophic und die Frage nach dem guten Leben, a. a. O., S. 48 ff. 44 The Morality of Happiness, a. a. O., S. 329 ff. 45 I-II, q. 5, a. 8.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

lieh werden können, welches jenes Gut ist, dessen Erlangen „für sich allein das Leben begehrenswert macht, so dass es keines Weiteren bedarf', ist nicht eine Frage der Empirie oder von subjektiven Glückserlebnissen, sondern findet sich durch vernünftige Überlegung, die sich in der Ethik als Analyse handlungsmetaphysischer und anthropologischer Art vollzieht46. Die Behandlung der Frage bei Thomas v. Aquin ist mehrschichtig47. Erstens, weil die philosophische Perspektive in eine theologische Synthese eingebettet ist. Zweitens weil Thomas die Frage unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten angeht, wobei die Behandlung des Themas bei Aristoteles fast ausschließlich einen der beiden Gesichtspunkte berücksichtigt. Zunächst könnte man meinen, in einer Ethik, die vom erkannten Gott ausgeht, sei doch bereits alles entschieden: Das letzte Ziel des Menschen ist eben Gott. Wie denn könnte das auch anders sein? In der Tat ist dies ein häufig anzutreffender Kurzschluss. In Wirklichkeit ist die Sache nicht so einfach. Aus der Existenz Gottes, ja sogar aus der Existenz eines Schöpfergottes, ergibt sich keineswegs unmittelbar, dass Gott das letzte Ziel menschlichen Handelns ist. Thomas unterscheidet nämlich gemäß einer Einteilung, die er von Aristoteles übernimmt, zwischen zwei Aspekten, unter denen wir von „Ziel" sprechen können: Als „finis cuius" und als „finis quo"48. Wir können das übersetzen als „Ziel von etwas" und „Ziel für etwas". So ist das „Ziel von" (finis cuius) einem Geizhals das Geld; das „Ziel/wr" einen Geizhals (der „finis quo") hingegen ist das Besitzen von Geld. Ersteres ist die „Sache", die Ziel ist; das Zweite ist der Akt oder die Tätigkeit, die sich auf die „Sache" erstreckt: das heißt das Streben danach und das Erlangen. Es sind zwei Aspekte eines einzigen Sachverhaltes. Nun ist es für Thomas (und auch für Aristoteles, wenn auch in etwas anderer Weise) klar, dass überhaupt alles Seiende auf Gott als Letztes ausgerichtet ist. Das ist in der Metaphysik bei Aristoteles bereits in der Physik - entschieden. Insofern gibt es gar nichts mehr zu beantworten. Aber die Perspektive des „finis cuius" ist gar nicht die Perspektive der praktischen Philosophie. Wenn wir auch wissen, dass alle Geschöpfe aufgrund ihres Geschaffenseins, auf Gott als letztes Gut des ganzen Universums bezogen sind („Gott verherrlichen") - und Aristoteles sagt, dass Tiere und Pflanzen von Natur aus danach streben, „am Ewigen und gött-

46 Neben ihr kennt Aristoteles auch noch die dialektische Behandlung der Frage, „auf Grund der darüber herrschenden Ansichten", und zwar der Ansichten der „Besten" (die nach herrschender Ansicht die Besten sind). Dass die dialektische Methode bezüglich der systematisch-„begrifflichen" Analyse nur eine Ergänzung ist, sagt Aristoteles selbst; vgl. EN I, 8 1098b 9-12. 47 Vgl. dazu W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, a. a. O. S. 108-165. Dieser Arbeit verdankt das Folgende Entscheidendes. Für Einzelheiten sei direkt auf sie verwiesen. Vgl. weiter: W. Kluxen, Glück und Glücksteilhabe. Zur Rezeption der aristotelischen Glückslehre bei Thomas von Aquin, in: G. Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Canstatt 1978, 77-91; E. Schockenhoff: Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987, S.85-128; H. Kleber, Glück als Lebensziel. Untersuchungen zur Philosophie des Glücks bei Thomas von Aquin (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Neue Folge, Band 13), Münster 1988; G. Abbà, Felicità, vita buona e virtù, a.a.O., S. 32-75. Nicht nur für Thomas v. Aquin s. auch M. Forschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993. 48 Vgl. z.B. I—II, q. 1, a. 8. Eigentlich müsste das Zweite nicht „finis quo", sondern „finis cui" heißen, von den griechischen Termini „hou heneka hou" und „hou heneka hö": Aristoteles, De Anima 1,4 415b 3 und 21.

2 . BESTIMMUNG DES MENSCHLICHEN GLÜCKS

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liehen Anteil zu haben" 49 - , so wissen wir noch lange nicht, welches nun das letzte Gut für den Menschen als praktisches Subjekt ist; d.h. welches Gut er allein vernünftigerweise in seinem Handeln als um seiner selbst willen erstreben und erlangen kann, - und demnach eben: worin denn sein Glück liege; denn das ist ja die Frage, um die es hier geht. „Es geht also nicht um die metaphysische (vorgegebene) Zielbestimmtheit des Menschen als Schöpfungswesen, sondern um die von ihm selbst vollzogene Zielsetzung, die in seinem praktischen Verhalten maßgeblich ist.. ," 50 . Was uns interessiert, ist nicht das letzte Ziel und Gut auf das der Mensch aufgrund seines kreatürlichen oder endlichen Seins - wie auch Tiere, Pflanzen und unbelebte Körper - als auf das „bonum commune" des geschaffenen Universums verwiesen ist, sondern das letzte Ziel seines Handelns. Metaphysisch wissen wir, dass der Mensch genau in dem Maße Gott verherrlicht, d.h. sich auf ihn als Bonum commune der Schöpfung ausrichtet, in dem er das dem Menschen eigentümliche Letzte (das wir Glück nennen) erreicht. Die Frage bleibt also offen, worin denn eben dieses letzte Ziel bestehe, durch dessen Erreichung der Mensch Gott „verherrlicht". Es ist ja zumindest denkbar, dass sich das seinsmäßige (metaphysische) Auf-GottAusgerichtetsein des Menschen nicht darin äußert, dass Gott in irgend einer Weise Gegenstand einer menschlichen Tätigkeit ist (z.B. Erkennen oder Lieben), sondern dass es eine andere Tätigkeit ist, durch die der Mensch Gott verherrlicht. Die Tiere verherrlichen Gott, indem sie sich nach den Regeln der Natur fortpflanzen und die ihrer Natur eigentümlichen Akte vollziehen; aber all dies hat mit Gott nichts zu „tun". Sollte Gott auch „finis quo" des Menschen, also Ziel für den Menschen, sein, dann müsste gerade das Spezifische des Menschen darin bestehen, dass Gott Gegenstand seiner Tätigkeit werden kann. Es muss dann eine menschliche Tätigkeit geben, die sich auf Gott bezieht. Und sie selbst müsste als Jenes zu erweisen sein, was allein man vernünftigerwiese um seiner selbst willen erstreben kann. Dies müsste aber zunächst aufgezeigt werden, und auch die Tätigkeit, um die es sich dabei handelt, bedarf des Nachweises. Thomas leistet nun tatsächlich einen solchen Aufweis, wobei er in zwei Schritten vorgeht: Zunächst wird die Frage gestellt, im Bereich welcher Güter überhaupt das letzte Ziel des Menschen - sein Glück - zu finden sei. Erst im zweiten Schritt wird dann ausgemacht, dass Glück eine Tätigkeit ist, und in welcher Tätigkeit dieses besteht. Aristoteles kennt den ersten Schritt in der Analyse der „Lebensformen". Da nennt er folgende: Das Genussleben, das politische Leben, das vor allem auf die Ehre zielt, und das Leben der philosophischen Betrachtung. Daneben auch das auf Gelderwerb gerichtete Leben. Der Hauptakzent liegt jedoch auf dem zweiten Aspekt. Es ist deshalb nicht einfach, den Ansatz von Thomas und den von Aristoteles zusammenzubringen, auch aus Gründen, die später noch zur Sprache kommen werden. In beiden Fällen geht es jedoch um die Analyse dessen, was man allein vernünftigerweise als ein Letztes, als um seiner selbst willen erstreben kann. Oder anders gesagt: Es geht nicht um „die Frage nach dem, was wir sollen, sondern nach dem, was wir eigentlich und im Grunde wollen" 51 . Diese Formulierung erscheint nur dann eigenartig, wenn übersehen wird, dass 49 Aristoteles, De Anima, 11,4 415b 1. 50 W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, a.a.O. S. 116. 51 R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 1982, S. 25. S. auch E. Tugendhat, a. a. O., S. 44: „Die Fragestellung der antiken Ethik war: was ist es, was ich für mich wahrhaft will." Dieser Wahrheitsaspekt wird bei H. Krämer, Integrative Ethik, a. a. O. S. 79, aus der Strebensethik ausge-

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

„Wollen" ein durch Vernunft geleitetes Streben ist. Was wir eigentlich und im Grunde wollen ist eben präzis jenes, was wir allein vernünftigerweise erstreben können, denn „Wollen" heißt ja so viel wie „unter der Leitung der Vernunft erstreben". Deshalb gilt: Wer das Glück nicht dort sucht, wo es nach Maßstäben der Vernunft zu finden ist, ist nicht einer, der einfach einen anderen Lebensstil, andere Auffassungen oder einen anderen Geschmack hat; vielmehr irrt er sich einfach und ist unvernünftig. Und er wird dann auch überhaupt für sein Leben, sein Handeln keine angemessene Richtschnur besitzen. Dies nicht, weil das Wissen darum, worin das Glück des Menschen besteht, uns schon sagen würde, was wir nun im einzelnen zu tun haben. Sondern weil dieses Wissen uns darüber Aufschluss gibt, nach welchem Kriterium wir bestimmen können, was auch im einzelnen zu tun gut ist. b) Das zweifache Glück dieses Lebens und die Anthropologie der Lust (Aristoteles) Nach der formalen Bestimmung von Glück als vollendetes und sich selbst genügendes Gut, dessen Erlangung allein das Leben begehrenswert macht, und das - weil es ja ein Gut sein muss, das auch tatsächlich erlangt werden kann - ein menschliches Gut zu sein hat (ein Gut des Menschen und im Menschen), wird nun der Inhalt des Glücks ausgemacht als „der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele" und, sofern es mehrere Tugenden gibt, „der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit". Aristoteles fügt hinzu: „Dazu muss aber noch kommen, dass dies ein volles Leben hindurch dauert" 52 . Der Mensch zeichnet sich ja durch Vernunft aus. Sie ist ihm eigentümlich und durch sie unterscheidet er sich von anderen Lebewesen. Und demgemäß muss Glück in einer Tätigkeit der Seele bestehen, und zwar jenes Teils der Seele, die Vernunft besitzt, bzw. in den Tätigkeiten anderer Teile der Seele, aber unter der Herrschaft der Vernunft. Der Gedankengang erscheint zunächst nicht sehr befriedigend, weil nicht deutlich wird, weshalb denn nun solche Tätigkeit jenes ist, das wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Dies wird erst im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik deutlicher. Dort heißt es: „An sich begehrenswert aber sind die Tätigkeiten, bei denen man nichts weiter sucht als die Tätigkeit selbst" 53 . Die Tugenden des „politischen Lebens" - der Existenz in der menschlichen Gemeinschaft - formulieren keine Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen erstrebt werden. Sie alle zielen auf etwas, das von diesem Leben selbst wiederum verschieden ist. Was man um seiner selbst willen sucht, ist eine Tätigkeit, die frei von Sorge, von Ermüdung, die voller Freiheit und Muße ist. Eine Tätigkeit die sättigt, ohne satt zu machen. Eine solche Tätigkeit ist allein die Betrachtung der Wahrheit, die Kontemplation (theoria). Sie ist eine Tätigkeit, die selbst nichts bringt, und doch alles bringt, weil allein sie um ihrer selbst willen vollzogen werden kann. Das Schauen birgt seine Erfüllung in sich. In der

blendet, das „Gute als Handlungsziel" wird für den Akteur als schlechthin „synonym mit dem Gewollten oder Erstrebten" behauptet. Ein Zusammen-Denken von Sittlichkeit und Glück (well being), wahrheitsfähiger Moral und Interesse des Subjekts, welches die unbedingte Synonymie von „Gewolltem" und „für mich in Wahrheit Gutem" nicht anerkennt, findet sich z.B. wieder bei J. Raz, The Morality of Freedom, a. a. O. S. 315 ff. 52 EN 1,6. 53 EN X, 6 1176b 7.

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Eudemischen Ethik spricht Aristoteles sogar noch deutlicher von der „Betrachtung Gottes" als jenes Letzten, in dem allein menschliches Streben und Tun zur Ruhe gelangen 54 . Dieses Glück und ein solches Leben der Theoria - fügt Aristoteles hinzu - scheint jedoch eher göttlich, als menschlich zu sein. Gott ist ja, gemäß dem zwölften Buch der Metaphysik, reine Intellektualität, die sich selbst schaut. Dennoch solle man nach diesem Göttlichen streben, denn der Verstand (nous) ist eben das Göttlichste und Beste in uns, und nach dem Besten sollen wir streben 55 Aber auch die übrigen Tugenden, die sittlichen, die wir im Bereiche des menschlichen Zusammenlebens (der Polis) verwirklichen, sind Tätigkeiten gemäß der Vernunft. Aristoteles folgert daraus, was den Aristoteles-Interpreten viel Kopfzerbrechen bereitet: n zweiter Stelle ist dasjenige Leben glückselig, das der sonstigen Tugend gemäß ist" 56 . Es handelt sich hier um ein Glück menschlicher Art, das sich nun gerade nicht durch eine einzige Tätigkeit, sondern durch eine geordnete Vielfalt von Tätigkeiten gemäß der Vernunft auszeichnet: Ein Leben gemäß allen sittlichen Tugenden, das eben auch ein Tätigsein gemäß der Vernunft ist, dem Göttlichsten und Besten in uns. Das letzte Wort zum Thema bleibt damit: Glückselig ist ein Mensch, insofern und nur insofern er irgendwie an Theoria teilhat, insofern sein Leben durch Tätigkeit von Intellekt und Vernunft geprägt ist. Alles, was glücklich macht, kann dies nur, insofern es irgendwie mit Vernünftigkeit zu tun hat. In erster Linie das Schauen, das Betrachten dessen, was Gott selbst schaut (und das ist Gott selbst: denn Gott ist für Aristoteles noésis noeseös, reine Erkenntnistätigkeit, die sich im Akt des Erkennens ihrer selbst befindet); in zweiter Linie das Ausrichten von Affekten und Tun gemäß der Vernunft im menschlichen Leben der Polis. Was verwundert, ist, dass es überhaupt so etwas wie ein zweitrangiges Glück geben kann. Das scheint dem Begriff von Glück als etwas Vollendetem gerade zu widersprechen. Die Aristotelische Lehre über die - wie sie später genannt wurde - duplex felicitas (das „zweifache Glück"), kann nur anthropologisch sinnvoll gedeutet werden. Und Aristoteles selbst gibt uns den Schlüssel zum Verständnis. Bis anhin blieb nämlich unerwähnt, dass die Lehre von der Glückseligkeit von EN X sich im Anschluss an den Traktat über die Lust befindet. Mehr noch, sie gehört eigentlich zu diesem Traktat und bildet dessen Höhepunkt. Aristoteles meint, die Glückseligkeit müsse zugleich das Lustvollste und Genussreichste sein. Lustvollkommenheit ist ein Indikator für Glücksvollkommenheit. Demnach sind Abstufungen möglich: „Mag es nun der Tätigkeiten des vollkommenen und glückseligen Mannes nur eine oder mehrere geben, so wird die sie vollendende Lust es sein, die man als die eigentlich und vorzügliche menschliche Lust zu erklären hat. Die übrigen Arten von Lust können dafür erst an zweiter und weiterer Stelle gelten, entsprechend den Tätigkeiten" 57 . Mit Lust und Genuss ist etwas angesprochen, was durchaus zur Eigenart des Letzten gehört: Die „Vollendung der Tätigkeit" 58 , das zum Ende Kommen und Ruhen des Strebens. 54 Vgl. Aristoteles, Eudemische Ethik VIII, 3. Die in 1249 b 21 verwendete Formel „ton theon therapeuein kai therein" ist allerdings seit ihrer überzogenen Interpretation durch W. Jaeger kontrovers. 55 EN X,7,1177b 33-34. 56 Ebd., X,8. Verschiedene Lösungsvorschläge neuerer Interpreten diskutiert J. L. Ackrill, Aristotle on Eudaimonia, in: A. O. Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle's Ethics, Berkeley-Los Angeles-London 1980, S. 15-34. 57 EN X, 5, 1176a 26-29. 58 EN X, 4, 1174b 23.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

Die Lust ist „ein Ganzes", sie ist ohne Dauer, weil zeitlos, unteilbar, ohne Werden. Aristoteles vergleicht die Lust mit dem Sehen: „Der Akt des Sehens scheint in jedem Zeitmoment vollendet zu sein" 59 . Jeder Sinn hat seine Lust; aber auch das Betrachten, die Theoria besitzt die ihr eigene Lust; wir nennen sie Freude: Sie ist eine besondere, geistige Art von Lust oder Genuss im Besitz des Geliebten. Aber gerade, weil es überall, wo es Tätigkeit gibt, auch Lust gibt, und alle Lust den Charakter des Letzten besitzt, vermag das Luststreben zu desorientieren. Wohlverstanden, es gibt auch geistige Genüsse und Freuden, die zu desorientieren vermögen. „Lust" ist hier ein Obergriff, der jegliches Genießen und Sich-freuen einschließt. Ist denn nun also Glücklichsein doch ein Zustand von Genusserlebnissen? Nicht ganz. Sicher ist, dass Glück ein genussreicher Zustand, oder besser: eine genussreiche, lustvolle Tätigkeit ist. Wenn aber Glück selbst wesentlich in der Lust bestehen würde, dann wäre es ja einerlei, wie wir Lust erhalten. Und zudem würde Glücklichsein-Wollen heißen, nach Lust oder Befriedigung zu streben. Falls wir beispielsweise der Meinung wären, im Anhören von Musik von Mozart sei der höchste musikalische Genuss zu finden, so werden wir, wenn wir eine CD von Mozart auflegen, dies dennoch nicht deshalb tun, weil wir nach einer bestimmten Art von Lusterlebnis streben. Könnten wir durch eine Apparatur erreichen, dass uns das entsprechende Lusterlebnis auch ohne das Anhören von Mozarts Musik vermittelt werden könnte, so würden wir das dennoch nicht wollen. Denn was wir wollen, ist Mozarts Musik hören, nicht das Befriedigungserlebnis, das damit verbunden ist. Was wir wollen ist ein bestimmtes Tun (hier: das Hören von Mozarts Musik). Dass uns diese Musik den höchsten Genuss verspricht sagt uns, dass sie (für uns) einfach die beste, oder in diesem Fall: die schönste Musik ist; bzw. dass Diese-Musik-hören die beste Art von Musik-hören ist. Wir wollen uns nicht mit dem „Vergnügen" zufrieden geben und dabei auf die Tätigkeit verzichten, der Schönheit dieser Musik zu lauschen (das Erfassen dieser Schönheit ist hier ja gerade das durch die Tätigkeit erlangte Gut). Wir möchten uns nicht mit dem Befriedigungserlebnis begnügen und gleichzeitig auf das Gut verzichten, wovon diese Befriedigung ja die Folge ist.

Darin liegt nun gerade die Pointe: Was wir immer erstreben oder wollen, ist ein praktisches Gut, eine Tätigkeit (z.B. Musik-Hören), und nicht die Befriedigung, die aus diesem Gut oder aus dieser Tätigkeit folgt. Das Glück erstreben heißt, jene Tätigkeit zu erstreben, die unser Streben sättigt, befriedigt und die deshalb im höchsten Maße lustvoll ist. Denn unser Streben ist nicht gesättigt, weil wir genießen, sondern wir genießen, weil das Streben gesättigt ist. Deshalb heißt „glücklich sein wollen" nicht „Lusterlebnisse erstreben", und dann zu fragen, durch welche Art von Tätigkeit wir sie am besten erlangen können. Die Frage nach dem Glück ist vielmehr die Frage nach jener Tätigkeit die wir allein vernünftigerweise um ihrer selbst willen erstreben können, weil wir wissen, dass nur jenes, was wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben auch das im höchsten Sinne oder eben vollkommen Lustvolle ist. Und dies eben deshalb, weil nur, was wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben, unser Streben zum Ende bringen, sättigen kann, weil ja unser Streben „Wille", d.h. vernünftiges Streben ist. Gerade weil wir auf Tätigkeit, und nicht auf Genuss aus sind, scheint es uns auch einleuchtend, wenn Aristoteles sagt, „niemand möchte leben, wenn er immer nur den Verstand eines Kindes haben und alles, was den Kindern Freude macht, im höchsten Maße genießen sollte;

59 EN X, 3, 1174a 15.

2 . BESTIMMUNG DES MENSCHLICHEN GLÜCKS

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und niemand möchte eine Freude haben um den Preis einer sehr schimpflichen Handlung, auch wenn ihm aus derselben niemals eine Unlust erwachsen sollte"60. Die Lust entgleitet uns immer gerade dann, wenn wir sie direkt intendieren. Das Ergebnis ist Frustration und Unfähigkeit zur Freude61. Auf der Ebene des sinnlichen Strebens ist das ja schon völlig eindeutig: Der Appetit wird angeregt nicht durch das Vorstellen von Lusterlebnissen, sondern durch die Vorstellung dessen, was solche Erlebnisse hervorrufen kann. Kein sinnliches Streben richtet sich auf das Erleben von Lust. Der Sehsinn wird nicht durch die Vorstellung des Genießens von Farbharmonien in aktualisiert, sondern durch Farben oder farbige, gestaltete Gegenstände. Lust als Gegenstand einer Intention ist bereits eine intentio obliqua. Deshalb können nur Menschen, nicht aber Tiere, sich hedonistisch verhalten. Nun nennen wir „Wille" jenes Streben, das der Vernunft folgt. Die Vernunft hat jedoch nicht Freuden zum Gegenstand, sondern Güter, und zwar praktische Güter, also Tätigkeiten bzw. Handlungsinhalte, über die man sich freuen kann. Wir können zwar unsere Intentionen direkt auf Lusterlebnisse richten. Aber dann werden wir sicher nicht finden, was wir intendieren. Es ist der beste Weg, um das wahrhafte Genießen zu verpassen. Wahre Freude erreicht man ja oft nur auf Umwegen, d.h. gerade nur insofern man eben das tut, was gut ist, ohne dabei an die Befriedigung zu denken. Wenn auch die beste Tätigkeit die Lustvollste ist, so ist sie unter den konkreten Bedingungen, unter denen wir sie vollziehen oder erstreben, oft nicht die Lustvollste. Das liegt daran, dass eine sinnliche Unlust (z.B. Schmerz, Mühe) im Augenblick überwiegen kann und die Freude sich erst einstellt, wenn man trotz Unlust das Gute tut. So lesen wir bei Aristoteles: „Auch liegt uns manches sehr am Herzen, das für uns keine Lust im Gefolge hat, wie Sehen, Gedenken, Wissen, Besitz der Tugenden. Führen diese Dinge notwendig einen Genuss und eine Befriedigung mit sich, so macht das nichts aus. Denn wir würden sie auch dann begehren, wenn keine Lust aus ihnen flösse" 62 . Auch der Hedonist J. S. Mill musste zugeben, dass es besser ist, ein unbefriedigter Mensch als ein befriedigtes Schwein, ein unbefriedigter Sokrates, als ein befriedigter Dummkopf zu sein 63 . Das Problem seiner Theorie ist, dass sie nicht zu erklären vermag, was hier eigentlich mit „besser" gemeint ist.

Um die Frage nach der besten Tätigkeit kommen wir also - gerade wenn wir eine richtige Anthropologie der Lust zugrunde legen - nicht herum. Die Frage nach der Lust ins Zentrum stellen, wie dies Aristoteles tut, bedeutet nicht, Hedonist zu sein, sondern einfach zu berücksichtigen, dass nun einmal die Vollendung jedes Strebens und Tuns das ihm eigentümliche Genießen ist. Daran ist ja nun gar nichts Kritikwürdiges, im Gegenteil. Es handelt sich hier um ein anthropologisches Faktum. Aristoteles zögert nicht, die Lust und das Genießen etwas Göttliches zu nennen, denn die Götter, so meint er, genießen ja am meisten. Und schöpfungsmetaphysisch dürfen wir sagen: Dass die Vollendung einer jeden Tätigkeit in einer Form von Lust oder, im Falle der geistigen Tätigkeiten, von Freude ist, das ist Teilhabe des Geschöpfes an göttlicher Vollkommenheit. Lust erleben ist Zeichen von Vollkommenheit. Der Mensch ist ein Wesen, das auf Freude hin angelegt ist. Und gerade deshalb ist die Theorie der Lust, wie

60 EN X,2,1174a Zu dieser Argumentation vgl. auch J. M. Finnis, Fundamentals of Ethics, Oxford/ Washington 1983, S. 17-19. 61 Das ist auch psychotherapeutisch erwiesen. Vgl. V. Frankl, Theorie und Therapie der Neurosen, 4. Aufl. München-Basel 1975. 62 EN X, 3 1174a 4-8. 63 J. S. Mill, Utilitarianism, II.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

Aristoteles erkannt hat, so ungemein wichtig für die Ethik. Aber die Vollkommenheit von Lust, und damit ihr Gut- oder Schlechtsein hängt ab von der Vollkommenheit der Handlung, aus der sie folgt; und von ihrer Angemessenheit für den, dem sie zuteil wird. Um zu wissen, welche Lust gut ist, müssen wir also wissen, welche Tätigkeiten gut sind. Und um zu wissen, welches die beste Lust ist, müssen wir wissen welche die beste Tätigkeit ist. Dann wissen wir auch, worin das Glück zu finden ist. Denn Glück, beste Tätigkeit und höchste Lust fallen in eins. Und gerade deshalb auch vermag uns das Streben nach Lust, das Aus-sein auf Lusterlebnisse, gerade nicht glücklich zu machen, sondern nur zu desorientieren. Befriedigung als Handlungsziel anstreben ist die beste Weise, um das Glück zu verpassen. Was wir wissen müssen ist, welches die für den Menschen beste Tätigkeit ist. „Lust und Unlust", sagt Aristoteles, „sind darum notwendig die Angelpunkte unserer ganzen Theorie. Denn es ist für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust oder Unlust empfindet" 64 . Die beste Tätigkeit ist diejenige, an welcher der Tugendhafte Freude hat. Um sie zu bestimmen, dafür gibt uns Aristoteles' Argumentation den anthropologischen Schlüssel in die Hand, der nun eigentlich einleuchtend ist: „Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist im Unterschied von anderen, ist auch für dasselbe das Beste und Genussreichste. Also ist dies für den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn anders die Vernunft am meisten der Mensch ist. Mithin ist dieses Leben auch das glückseligste"65, - in erster Linie das Leben der Theoria, der Kontemplation; in zweiter Linie das Leben gemäß den sittlichen Tugenden, das in der Ordnung unseres menschlichen Tuns und unserer Affekte als leib-geistige Wesen ein Leben gemäß der Vernunft ist. Doch irgendwie bleibt diese Antwort unbefriedigend und „durch eine tiefe Doppeldeutigkeit gekennzeichnet" 66 . Aristoteles ist der Letzte, der dies zu verschleiern sucht. Das Glück, von dem uns Aristoteles spricht, ist eine höchst prekäre Angelegenheit. Das „erstrangige" Glück wäre das Leben des Philosophen; wenigen ist es vergönnt, eine theoretisches Leben zu führen; und auch diese Wenigen müssen sich ja noch um manches kümmern, was auch sonst noch zum Leben gehört. Und das zweitrangige Glück scheint nicht minder unvollkommen als das erstrangige zu sein. Dazu kommt, dass es in hohem Masse vom Besitz äußerer Güter und vom „Glück", der tyche, abhängt. In der Tat ist die Aristotelische Position „unstabil"67, was jedoch m. E. gerade Teil ihrer Wahrheit ist (darauf wird zurückzukommen sein, wenn wir vom fragmentarischen Charakter aller philosophischen Ethik sprechen werden, sowie im Epilog.). Keineswegs bedeutet die Instabilität der Aristotelischen Position, dass sie eigentlich den „Kollaps der eudämonistischen Ethik" bedeutet und an die Stelle des Prinzips Glücks ein anderes Prinzip gesetzt werden sollte68. Denn die Wahrheit der Aristotelischen Auskunft über das Glück bleibt trotz ihres problematischen Charakters unangetastet. „Wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein, und alles zu dem Zwecke zu tun, dem Besten, was in uns ist, nachzuleben. Denn wenn es auch klein ist an Umfang, so ist es

64 65 66 67 68

EN II, 2 1105a 5-7. EN X, 7,1178a 5-8. R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, a. a. O. S. 76. So J. Annas, The Morality of Happiness, a. a. O. S. 364 ff. So O. Höffe, Aristoteles' universalistische Tugendethik, in: K. P. Rippe und P. Schaber (Hrsg.) Tugendethik, Stuttgart 1998, (S. 42-66) S. 65 f.

2 . BESTIMMUNG DES MENSCHLICHEN GLÜCKS

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doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende" 69 . Und das Beste, das ist der „Gott in uns": Der Intellekt - bzw. die Vernunft der uns die „Dimension der Wahrheit, des Guten, des Heiligen, des Unbedingten" eröffnet, eine „Dimension, die verschwinden würde, wenn man sie als lebenspraktische Funktion im Dienste der Arterhaltung verstünde"70 c) Vollkommenes und unvollkommenes Glück (Thomas v. Aquin) Thomas v. Aquin behandelt die Frage nach der Bestimmung des Glücks als Metaphysik des Handelns. Sie führt zu einer vollen Integration der Aristotelischen Lehre, und zugleich zu ihrer theologischen Relativierung und philosophischen Ausgrenzung. Die Fragestellung zielt von Anfang an auf das, was Thomas die „beatitudo perfecta" nennt, das „äußerste Seinkönnen des Menschen" 71 . Die Analyse wird vorangetrieben bis zur Bestimmung dessen, woraufhin menschliches Tätigsein und Seinkönnen als Äußerstes angelegt sind. Besitz von Reichtum, Ehre, guter Ruf, Macht können nicht dieses Äußerste sein. Vier Hauptgründe werden genannt72: All dies kann sowohl guten wie auch schlechten Menschen zukommen. Das Glück jedoch kennt keinen Mangel. „Ein schlechter Mensch sein" ist nun aber ein Mangel. Zweitens sind alle diese Güter vereinbar mit der Möglichkeit, dass einem andere Dinge wie Weisheit oder Gesundheit fehlen. Drittens können aus all diesen Gütern Übel entspringen; viertens schließlich hängen diese Güter eher von äußeren Umständen, Glück, Fügung und Zufall aber, nicht aber von Ursachen, die im Inneren des Menschen liegen; das Glücksverlangen entspringt jedoch dem Inneren des Menschen und kann demnach nur von innen her gesättigt werden. Besteht das Glück in einem Gut des Leibes?73 In der Selbsterhaltung, in der Gesundheit? Das ist nicht möglich. Auch einem Schiffskapitän geht es ja letztlich nicht darum, sein Schiff zu erhalten, sondern etwas damit zu erreichen. Nur wer selbst das höchste Gut ist, und demnach gar kein Ziel mehr zu verfolgen braucht - oder wer schon beim Letzten angelangt ist - , für den ist auch Selbsterhaltung ein Letztes74. Zweitens sind die Güter des Leibes auf jene der Seele hingeordnet. Also ist es nicht möglich, dass jenes, was vernünftigerweise als Letztes erstrebt werden kann, ein leibliches Gut ist. Das Glück kann auch nicht in der Lust gefunden werden75, weil Lust, auch geistige, aus dem Besitz des Guten erst folgt', und nach diesem Gut zielt ja die Frage. In der Lust der Sinne kann das Glück schon deshalb nicht bestehen, weil diese immer endlich ist und nicht jene Sättigung zu erwirken vermag, nach der uns verlangt. Das Glücksverlangen ist ja ein Verlangen des Willens; es ist ein intellektives Verlangen. Das Glück im Sinnesgenuss suchen führt zur Frustration, zu immer mehr Genussstreben mit zunehmend weniger Befriedigung. 69 70 71 72 73 74

EN X, 7 1177b 34-1178a 2. R. Spaemann, a. a. O. Gemäß dem Ausdruck von W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, a. a. O. I-II, q. 2, a. 4. Ebd., a. 5. Selbsterhaltung kann auch dann zum praktisch Wichtigsten werden, wenn die Lehre vom summum bonum ersetzt wird durch eine solche vom summum malum, vom größten zu fürchtenden Übel. So bei Thomas Hobbes, der nur das höchste Übel eines gewaltsamen Todes als grundlegend normativ anerkennt. Vgl. auch M. Rhonheimer, La filosofia politica di Thomas Hobbes. Coerenza e contraddizioni di un paradigma, Rom 1996. 75 Ebd., a. 6.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

Besteht das Glück in einem Gut der Seele?76 Wenn wir das Gut, das wir suchen, als „finis cuius" betrachten, d.h. als die „Sache", durch deren Erlangen unser Verlangen gesättigt wird, so kann dieses nicht ein Gut der Seele sein. „Denn das menschliche Streben, der Wille, richtet sich auf ein universales Gut", - d.h. ein solches, das unter allen möglichen Gesichtspunkten, unter unendlichen oder indefiniten Gesichtspunkten gut ist. Jedes Gut der menschlichen Seele ist jedoch partikular und endlich. Betrachten wir jedoch das letzte Ziel des Menschen als „finis quo", als „Ziel für den Menschen" (praktisches Gut), so muss gesagt sein, dass es in einem Gut der Seele besteht: Es ist ein Gut, das im Besitz der Seelenkräfte ist, das also der Mensch durch und in Tätigkeiten seiner Seele erlangt. Und ein solches suchen wir ja, wenn wir in der Perspektive der Praxis von Glück sprechen. Nun bleibt aber noch zu fragen, welches denn die außerhalb der Seele liegende Ursache des Glücks ist: ist diese Ursache ein geschaffenes oder ein ungeschaffenes Gut?77 Thomas wiederholt: „Gegenstand des Willens, der das (spezifisch) menschliche Streben ist, ist das universale Gut; wie der Gegenstand des Intellektes das universale Wahre ist. Daraus folgt, dass nichts den menschlichen Willen zu sättigen vermag, außer ein universales Gut." Ein solches ist aber nur Gott: „Deshalb vermag nur Gott den menschlichen Willen zu füllen": „ Unde solus Deus voluntatem hominis implere potest." Man hat diese Antwort natürlich erwartet. Sie ist nun jedoch handlungsmetaphysisch abgesichert und gerechtfertigt und bleibt eine überwältigende Antwort. Die Begründung beruht auf der Einsicht in das Wesen von Intellektualität. Der menschliche Intellekt ist ErkenntnisPotenz, die zwar nicht alles zugleich vermag (und darin liegt ihre Endlichkeit), aber eben dennoch fähig ist, alle Realität in sich aufzunehmen und ins Unendliche und nach unendlich vielen Hinsichten sich dem, was ist, zu öffnen. Die intellektive Seele ist „gewissermaßen die Gesamtheit der Dinge"78, sie ist quodammodo omnia. Und ein Streben, das wie der Wille, sich nach dem Intellekt richtet, ist ein Streben, das gar nie gesättigt werden kann, es sei denn, es werde eines Gutes teilhaft, das in solch unendlicher Hinsicht gut ist. Genau das meint auch der Satz des Augustinus: „...fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te": „Geschaffen hast Du uns auf Dich hin, und ruhelos ist unser Herz, bis dass es ruht in Dir"79. Die Pointe der Argumentation ist: Nicht weil Gott Schöpfer oder „höchstes Wesen" ist, kann nur er letztes Zielgut des Menschen sein - dann müssten ja auch auf Tiere ihre Erfüllung in Gott finden - , sondern weil nur er jenes Gute ist, das den Willen des Menschen zu sättigen vermag. Da menschliches Glücksverlangen durch Intellektualität geprägt ist, kann es überhaupt nur durch das Erlangen des Unendlichen gesättigt werden. Allerdings ist nun anzugeben, worin denn dieses Erlangen besteht. Deshalb nun, nach der Frage „Welches ist das Gut, das unser Streben sättigen kann?", die Frage: Was ist das Glück? Worin besteht diese Sättigung?80 Das Glück ist zunächst einmal, als „finis quo" betrachtet, was uns hier interessiert, ein geschaffenes Gut81. Wenn es so etwas wie Glück für den Menschen gibt, dann ist dieses, auch 76 77 78 79 80 81

Ebd., a. 7. Ebd., a. 8. Aristoteles, De Anima III, 8 4 3 l b 21. Augustinus, Confessiones (Bekenntnisse), 1,1. Ebd. I-II, q. 3. Ebd., a. 1.

2 . BESTIMMUNG DES MENSCHLICHEN GLÜCKS

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wenn dessen Ursache ungeschaffen ist, „etwas Geschaffenes, das im Menschen selbst vorhanden ist". Es ist „eine ganz und gar .geschöpfliche', eine von innen her menschliche Realität und nicht eine von außen her auf uns eindringende Überwältigung. Es ist nicht nur etwas, das uns widerfährt; wir selber sind, als Wirkende, aufs intensivste beteiligt" 82 . Gerade deshalb schon muss nun „Glück" in einem Tun bestehen 83 . Das Tun, die Tätigkeit, In-Akt-sein, ist die letzte Vollendung eines jeden Seienden. Und Glück, das ist Vollendung, und zwar immanente Vollendung; nicht nur höchste Form des „etwas tun Könnens" (im Sinne des transeunten Herstellens), sondern höchste Form von Praxis und Lebensvollzug. Und weil das Ergebnis von Praxis im Handelnden verbleibt, heißt dies: höchste Form von ^¿«-können. Um nicht in einzelne „Aktivitäten" zu zerfallen sondern den Charakter eines Lebensvollzuges zu besitzen, muss dieser Tätigkeit „Kontinuität und Einheit" eigen sein84. Diese Tätigkeit kann nicht ein Akt der Sinne sein; aufgrund der Sinne ist es nicht möglich, mit dem ungeschaffenen, unendlichen Gut in Verbindung zu treten 85 . Und im intellektiven Teil der Seele? Ist das Glück ein Tätigsein des Willens? 86 Auch das ist nicht möglich. Und zwar aus den Gründen, die wir aus Aristoteles' Behandlung der Lust kennen: Das Ruhen des Wollens ist delectatio, geistiges Genießen, Freude, eine Form von Lust. „Wollen" ist Begehren des Guten, sich Hinneigen zu ihm, sich auf das Ziel hin Bewegen. Darin kann ja nun das Glück gerade nicht liegen. Kommt das Wollen jedoch zur Ruhe, so ist das deshalb, weil das Ziel gegenwärtig und das Wollen erfüllt ist. „Delectatio", Genießen und Freude sind Folge der Gegenwart, des Besitzens des Gutes. Dafür kann der Wille nicht verantwortlich sein, denn da gibt es ja gar nichts mehr zu wollen. Wollen bzw. sich freuen ist immer „Wollen von etwas" und „sich freuen über etwas". Es bedarf der Gegenwart des Gewollten, damit das Wollen ruht. Jedes Wollen ist entweder antizipierte Gegenwart des Erstrebten oder aber Ruhen im Besitz des Erstrebten; nicht aber ist es, was diese Gegenwart oder den Besitz erwirkt9,1. Dieses Erwirken ist Leistung des Erkennens, das ein Gut für den Willen erst sichtbar, erstrebbar und im Genießen erlebbar macht. Deshalb kann das Glück nur in einem Akt des Intellektes bestehen 88 . Und das heißt: Glück ist Erkennen von Wahrheit, Erfassen von Wirklichkeit, Schauen dessen, was ist. Da sind wir nun wieder bei Aristoteles angelangt, - und auch bei Augustinus, der das Glück gaudium de veritate, „Freude über die Wahrheit" 8 9 nennt: Glück ist Freude durch die Sättigung des Willens im Erkennen der Wahrheit. Da sich jedoch der Intellekt in verschiedener Weise zu Wahrheit verhält, ist die Untersuchung noch nicht abgeschlossen, obgleich nun sämtliche noch verbleibenden Möglichkeiten bereits nur noch Aspekte dessen sein werden, was in Tat und Wahrheit Glück genannt zu werden verdient. Wenn auch Glück wesentlich in einem Akt des Intellektes besteht, so ist dieser doch mehr ein Akt des spekulativen (theoretischen), als des praktischen Intellektes; es besteht mehr im Erfassen von Wahrheit, als im vernünftigen Ordnen der Handlungen und Affekte 90 . Es handelt 82 83 84 85 86 87 88 89 90

J. Pieper, Glück und Kontemplation, 3. Aufl. München 1962, S. 52. I-II, a. a. O., a. 2. Ebd. Ebd., a. 3. Ebd., a. 4. Vgl. dazu E. Schockenhoff, Bonum hominis, a. a. O. S. 104 f. Ebd. Confessiones X, 23. I - I I , a. a. O., a. 5.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

sich hier nur um ein „mehr als": Die Aristotelische duplex felicitias eines erstrangigen und eines zweitrangigen Glücks ist also nicht ausgeschlossen. Liegt demnach das Glück in der Spekulation gemäß den theoretischen Wissenschaften?91 Das ist unmöglich: Denn alle spekulative Wissenschaft des Menschen geht von den Sinnen aus. So können wir höchstens zur Erkenntnis der Existenz Gottes gelangen (des ,4ass er ist"), nicht aber zur Erkenntnis dessen, „was er ist". Die spekulativen Wissenschaften sind also nur ein Teilhaben, eine Partizipation an der vollkommenen Beatitudo. Erst danach wird nun der Gedanke präzisiert und zu Ende geführt92: Der Mensch kann nicht glücklich sein, solange seinem Streben noch etwas übrig bleibt. Da wir nun wissen, dass das Glück Akt des schauenden Intellektes ist, so kann es nur in jenem Vollzug bestehen, in dem dieser Akt des Intellektes seine Vollkommenheit findet. Das Wesen des Intellektes besteht aber darin, zur Erkenntnis dessen fortzuschreiten, was die Dinge sind. Er begnügt sich nicht mit Erkenntnissen, des „dass etwas ist". Solange also der Mensch nur weiß, dass Gott existiert, ist sein Wissen-wollen nicht gesättigt: Er bleibt beim Staunen stehen. Das Staunen treibt jedoch weiter zum Wissen-Wollen. Erst wenn man weiß, was Gott ist, wenn also sein Wesen erfasst ist, kann der Intellekt zum Letzten gelangt sein, wohin es ihn seiner Natur nach drängt. Solange das nicht der Fall ist, kann der Mensch nicht vollkommen glücklich sein. Thomas nennt dieses Weitergetrieben werden des Intellektes bis hin zur Erkenntnis des „ Was" ein „natürliches Verlangen (naturale desiderium) das ,Was' der Ursachen zu erfassen". Ein Naturverlangen, das durch Staunen vor dem, „was ist" ausgelöst wird, und zum Nachforschen antreibt. Und dieses Naturverlangen ruht nicht, bis der Intellekt nicht das Wesen der Ursache erfasst hat. „Deshalb gehört es zum vollkommenen Glück, dass der Intellekt das Wesen der ersten Ursache erfasst. Und so erreicht er seine Vollendung, in dem er sich mit Gott als Gegenstand seines Intellektes vereinigt", denn intellektives Erfassen heißt ja im Erkenntnisafci sich mit dem Gegenstand der Erkenntnis zu vereinen: Im Akt sind Erkennendes und Erkanntes dasselbe93. Darin also, in der Schau des Wesens Gottes (visio divinae essentiae) besteht das letzte Ziel des Menschen als sein äußerstes Seinkönnen. Dieses Schauen ist „visio beatifica", „Schauen, das in vollkommener Weise glücklich macht". Man ist vielleicht geneigt zu meinen, dies könne wohl nur das Ideal eines Philosophen (oder Theologen) sein. „Erkennen des Wesens Gottes", das klingt nun allerdings eher trocken. Wir können uns ja nichts darunter vorstellen, als was wir sonst als „Erkennen von etwas" erfahren haben. „Schau Gottes" ist aber etwas wesentlich anderes, so wesentlich anderes, wie eben das wesenhaft Unendliche sich vom Endlichen unterscheidet. Aber Erkennen oder Schauen, deren höchste und umfassendste Form die intellektive Schau ist, heißt so viel wie im Besitz dessen sein, wonach es menschlichem Streben seinem tiefsten Wesen gemäß verlangt. Schau Gottes, das kann nur bedeuten, das Leben Gottes mitzuleben, alle Vollkommenheit, alle Wahrheit, alle Schönheit, Harmonie und Pracht in sich aufzunehmen, daraus zu leben und sie zu genießen; es heißt, in einem „Augenblick, der verbleibt" und zugleich intensivstes Tätigsein ist, alle nur auch irgend erdenklichen authentisch menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse gesättigt und erfüllt zu haben94. „Erkennen Gottes", das ist mehr als nur das uns 91 Ebd., a. 6. 92 Ebd., a. 8. Artikel 7 können wir übergehen; er fragt danach, ob das Glück in der Erkenntnis der „abgetrennten Substanzen" (der Engel) bestehe. 93 Vgl. Aristoteles, De Anima III, 5,430a 5. 94 Gemäß Summa contra Gentiles, III, cap. 63. impliziert „Gott schauen" die Sättigung folgender

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bekannte „Wissen um etwas". Was es genau ist, das wissen wir nicht. Selbst ein Paulus kann hier nur sagen er verkünde, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben" (1 Kor. 2,9). Thomas zitiert die klassische Formel des Boethius „beatitudo est status omnium bonorum congregatione perfectus ", „ein Zustand der durch die Vereinigung aller Güter vollkommen ist" 95 . Was ist damit aber zunächst einmal über den Menschen gesagt? Gesagt ist, dass der Mensch aufgrund der ihm zustehenden Natur (des Intellektes) fähig ist, Gott zu schauen. Damit ist gemeint: Die Natur des menschlichen Intellektes, und damit der Mensch überhaupt, ist capax Dei, „gottfähig" 96 , ist fähig Gott erkennend in sich aufzunehmen. „Fähig" heißt hier: Das ist möglich, ohne dass die Natur des Intellektes, und die des Menschen überhaupt, dabei in irgend einer Weise vergewaltigt oder gar verändert würde. Obwohl Gott als Erkenntnisgegenstand sich zum Menschen wie das Unendliche zum Endlichen verhält, so bleibt der Gott-schauende Mensch dennoch Mensch. Der Mensch ist als Mensch fähig trotz seiner Endlichkeit das Unendliche in seinem Besitz zu haben, in ihm zu ruhen (Sättigung des Willens) und sich seiner zu erfreuen, und zwar nicht als passives Überwältigtwerden durch ein schlechthin Höheres, sondern indem dieses Höhere, das Leben Gottes selbst, zu seinem eigenen Leben wird. Es handelt sich also gerade auch um eine letzte und intensivste Steigerung menschlicher Subjektivität. Diese Aussage nun ist, wenn man sie recht bedenkt, geradezu überwältigend. Der Ausspruch des Aristoteles, dass der Intellekt etwas Göttliches in uns ist, erhält hier eine ganz neue Färbung und Aktualität in der Dimension dessen, was die christliche Tradition die Gottebenbildlichkeit des Menschen nannte. Aber diese Fähigkeit Gott zu schauen heißt nun, wie Thomas sagt, etwas genau Bestimmtes, nämlich „dass es unserer Seele möglich ist, das Wesen Gottes intellektiv zu schauen" 97 . Diese „Möglichkeit" meint: Wird die menschliche Seele der Schau Gottes teilhaft, so geschieht dies als Aktualisierung einer bereits in der Natur der menschlichen Seele angelegten Potenz oder Disposition der Intellektualität, die dadurch als Intellektualität zu jenem Letzten gelangt, auf das hin ihre Natur angelegt ist; diese Naturanlage ist mit der Rede vom naturale desiderium (Naturverlangen) gemeint. Nun kommt jedoch sogleich ein Zweites hinzu, und erst damit gelangt der thomanische Traktat über das Glück dann auch zu seinem Abschluss: „Gott seinem Wesen nach zu schauen übersteigt die Kraft nicht nur der menschlichen Natur, sondern derjenigen eines jeden Geschöpfes" 98 . Auch wenn der Mensch „capax Dei" ist, also in sich die Fähigkeit besitzt, Gott intellektiv zu schauen, so vermag er das doch nicht aus natürlichen Kräften zu erreichen. Erstens beginnt jede menschlich-intellektive Erkenntnis bei den Sinnen; das Wesen Gottes kann aber nicht aus sinnlichen Gegenständen abstrahiert werden99. Zweitens ist nun eben Gott unendlich, die Fassungskraft des menschlichen Intellektes jedoch endlich. Denn Gott schauen, das hieße ja Unendliches zugleich schauen. Und schon das ist dem menschlichen Intellekt

95 96 97 98 99

menschlicher Strebungen: der Strebung nach Erkenntnis von Wahrheit, nach einem tugendhaften Leben, nach Ehre, Ruhm, Reichtum, Genuss (auch sinnlichem) und nach Selbsterhaltung. Boethius, Consolatio Philosophiae, III, prosa II. Vgl. z.B. I—II, q. 5, a. 1. Die Formel ist patristischer Herkunft. Summa contra Gentiles, III, cap. 51. I-II, q. 5, a. 5. Vgl. I, q. 12, aa. 4;11;12.

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nicht möglich. Aus eigenen Kräften kann der Mensch deshalb die letzte und vollkommene Beatitudo, gar nicht erreichen; er bedarf dazu der Hilfe und Initiative Gottes: der erhebenden Gnade. Die Fähigkeit Gott zu schauen ist - wie die Theologen später sagten - nur eine „potentia oboedientialis": Ein Vermögen, sich dem Emporgehoben-Werden auf das Niveau Gottes zu fügen. Diese „elevatio" ermöglicht Konnaturalität von Mensch und Gott, und zwar dadurch, dass „Gott sich durch seine Gnade mit dem geschaffenen Intellekt, als sein Erkenntnisgegenstand, vereint" 10°. Dennoch liegt diesem „Sich-fügen" ein menschliches Vermögen zugrunde, und das heißt wiederum: Ein solches Emporgehoben-Werden entspricht der Natur des menschlichen Intellektes. Die „elevatio" durch Gnade setzt die Natur voraus und vervollkommnet sie, bringt sie zur Erfüllung der letzten in ihr selbst bereits angelegten Möglichkeit, zu ihrem äußersten Seinkönnen, ohne sie zu verändern oder als menschliche aufzuheben. Im Begriff eines äußersten menschlichen Seinkönnens ist ja nicht notwendigerweise ein Äußerstes mitgedacht, das der Mensch aus eigener Kraft zu erreichen vermag. Der Begriff ist gewahrt in der Möglichkeit eines Seinkönnens, welches das im Menschen von Natur aus Angelegte zur letzten Vollendung bringt, auch wenn zum Erwirken der Vollendung die Kraft des zur Vollendung Gebrachten nicht ausreicht. Auch dann bleibt dieses Äußerste immer noch das Äußerste des Menschen. Solange der Mensch Gott nicht schaut, bliebe das „naturale desiderium" des Intellektes, und damit etwas, was im Menschen naturhaft angelegt ist, unausgefüllt101. Der Mensch ist also - so lautet das paradox scheinende Ergebnis - von Natur aus auf ein Glück angelegt, das er mit den Kräften dieser ihm eigenen Natur gar nicht zu erreichen vermag. Das vollkommene Glück kann demnach auch nicht ein praktisches Gut sein, bevor Gott nicht mit seiner Gnade interveniert und es dadurch zu einem solchen macht. Die Analyse, die zu diesem Ergebnis führt, war jedoch, das ist zu betonen, rein philosophischer Natur. Alles weitere ist nun Sache des Theologen. Denn die vollkommene Beatitudo, so wissen wir als Gläubige aufgrund der Offenbarung, ist uns von Gott tatsächlich versprochen 102 . Thomas zitiert Aristoteles und seine etwas resignierte Formel, dass wir eben „nur als Menschen", auf eine unvollkommene Weise glücklich werden können103. Allein durch Offenbarung, so sagt uns Thomas, wissen wir also, dass die vollkommene Beatitudo tatsächlich erreichbar und damit auch das höchste praktische Zielgut ist, das wir jedoch allein durch die Hilfe der Gnade, erreichen können. Sie ist praktisches Zielgut durch Verheißung und im Horizont von Glaube, Liebe und Hoffnung. Damit ist schon klar, dass es eine philosophische Ethik im Kontext der christlichen Offenbarung gar nicht mit dem vollkommenen Glück und dem „letzten Ziel" zu tun haben kann. Es wird jetzt möglich, den Gegenstand einer solchen philosophischen Ethik genauer einzugrenzen. Wir werden sehen, dass sie sich substantiell von dem durch Aristoteles bestimmten Gegenstand gar nicht unterscheidet. Was sie unterscheidet ist dennoch etwas ganz Wesentliches: Sie weiß, dass philosophische Ethik nicht das letzte Wort ist, sondern eine Theorie der Praxis, die uns nur ein Fragment, einen Ausschnitt aus dem Ganzen, zu liefern vermag. Auch die Aristotelische Ethik ist freilich fragmentarisch. Dies jedoch, weil in jeder „nicht-gläubigen" Ethik und Anthropologie der Mensch eben überhaupt ein Fragment bleibt. Eine philosophische Ethik unter dem Vorbehalt des Glaubens jedoch ist fragmentarisch, weil 100 101 102 103

Ebd., a. 4. Ebd., a. 1. I—II, q. 3, a. 2, ad 4. ENI, 11.

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sie weiß, dass diese fragmentarische Sicht des Menschen nicht das letzte Wort über die Wahrheit des Menschen ist. Sie weiß, dass das Fragmentarische nur Ausschnitt und nicht das Ganze ist. Aus diesem Grund ist auch eine systematische, gleichsam eigenständige und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und Geschlossenheit auftretende „philosophische Ethik" unter christlichen Bedingungen nicht denkbar104, ja sie müsste gerade vom Glauben her als unwahr bezeichnet werden. Das bedeutet nun aber eben nicht, dass deshalb unter solchen Bedingungen überhaupt keine philosophische Ethik möglich ist. Sie ist sehr wohl möglich und auch nötig, schließt aber als eine ihrer Grundaussagen ihren eigenen Fragmentcharakter mit ein. Das ist, philosophisch gesehen, gegenüber „nichtgläubiger" philosophischer Ethik wiederum kein Nachteil, sondern eher ein Vorteil, da auch nichtgläubige Ethik notwendigerweise fragmentarisch bleiben muss, will sie nicht die Möglichkeiten des menschlichen Verstandes überspannen. Das Aushalten dieses fragmentarischen Charakter aller praktischen Orientierung ist allerdings für nichtgläubige Vernunft eine kaum zu ertragende Belastung und Gefährdung. d) Die Zweistufigkeit des Glücks dieses Lebens Was bleibt nun übrig, wenn wir wissen, das der Mensch aus den Kräften seiner Natur nicht zu erlangen vermag, wozu er von Natur aus angelegt ist? Ist da eine nichttheologische Ethik überhaupt noch möglich? Und wenn ja: Kann sie für den Glaubenden überhaupt noch von Interesse sein? Zunächst: Was geschieht nun bei Thomas mit der Aristotelischen Lehre von der „duplex felicitas", der Lehre vom „zweistufigen" Glück? Thomas gibt darüber genau Rechenschaft: „Somit besteht die letzte und vollkommene Glückseligkeit, die wir im zukünftigen Leben erwarten, ganz und gar in der Kontemplation. Die unvollkommene, die man in diesem Leben erreichen kann, besteht vor allem und vorrangig in der Kontemplation; in zweiter Linie jedoch in der Tätigkeit des praktischen Intellektes, der die menschlichen Handlungen und Affekte ordnet, wie Aristoteles im Zehnten Buch der Nikomachischen Ethik sagt"105. Somit ergibt sich also Folgendes: (1) Vollkommenes Glück („beatitudo ultima et perfecta"): Schau Gottes im kommenden Leben (2) Unvollkommenes Glück („duplex felicitas"): Das Glück des diesseitigen Lebens (a) in erster Linie: Kontemplation (b) in zweiter Linie: praktisches Leben gemäß der Vernunft Wieso ist es möglich, das „unvollkommene Glück" wirklich Glück zu nennen? Aus der theologischen Gesamtsicht des Thomas ist das natürlich kein Problem. Es ist eben eine Stufe, die als diesseitiges Glück, noch unvollkommen, auf das vollkommene Glück des zukünftigen Lebens hinzielt; letzteres ist in der Hoffnung bereits gegenwärtig. Das unvollkommene Glück alleine gibt es dann ja gar nicht. Aber wenn es eine solche Perspektive des Vollkommenen, 104 In diesem Sinne ist auch Denis Bradley Recht zu geben, der die Möglichkeit einer an Thomas von Aquin orientierten philosophischen Ethik zurückweist: D. J. M. Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good. Reason and Human Happiness in Aquinas's Moral Science, Washington D. C. 1997. 105 I-II, q. 3, a. 5.

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wie bei Aristoteles, nicht gibt? Dann, so ist zu sagen, gibt es immer noch Grund, dieses Unvollkommene Glück zu nennen. Und zwar deshalb, weil mit Glück eben das bezeichnet ist, was wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Die Notwendigkeit einer Einschränkung auf das Bestmögliche, wie sie Aristoteles festhält, ist nun gerade vernünftig. Es ist vernünftig, sich auf ein Ethos der conditio humana als Antwort auf das Glücksverlangen des Menschen zu beschränken. Wir stellten ja die Frage nach dem Glück nicht, um herauszufinden, wie man am genussreichsten lebt. Hätten wir die Frage so gestellt, so müssten wir nun feststellen: Es ist dem Menschen nun einmal nicht möglich in diesem Leben glücklich zu sein. Denn ein zweitrangiges Glück ist gar kein echtes Glück, da es ja nicht alles Verlangen zu stillen vermag. Die Frage, die uns leitete, war jedoch, Orientierung für unser Handeln zu gewinnen: Was allein können wir eigentlich vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben? Worauf allein können wir eigentlich vernünftigerweise unser Leben als ein Letztes ausrichten? Auch wenn wir zur Antwort bekommen, dass das äußerste menschliche Seinkönnen letztlich gar nicht erreichbar ist, so haben wir doch eine sehr wesentliche Antwort erhalten: Wir wissen dann, welches falsche Hoffnungen sind. Ebenfalls wissen wir dann aber, dass es auch für das „Unvollkommene" klare Orientierung und Maßstäbe gibt: Das Leben gemäß dem „Besten in uns": das Leben gemäß der Vernunft. Diese Aristotelische Perspektive wird nun in der Konzeption von Thomas gerade nicht überspielt, vielmehr wird sie gerechtfertigt und gestützt. Denn dieser Konzeption gemäß wissen wir ja, dass das vollkommene Glück möglich ist und erreicht werden kann. „Gemäß dem Besten in uns" zu leben, das wird hier gleichsam geradezu zur Vorbereitung und Bedingung für jenes, das einmal kommen wird. Das Interesse daran, jenes unvollkommene Glück dieses Lebens zu verstehen und seine Bedingungen zu klären, wird somit gerade aus theologischen Motiven gesteigert. e) Der Gegenstand philosophischer Ethik Aus der Lehre über die Zweistufigkeit des Glücks ergibt sich nun keineswegs, dass eine theologische Ethik oder Moraltheologie sich mit der „beatitudo perfecta", dem vollkommenen Glück des jenseitigen Lebens, die philosophische Ethik jedoch mit der „duplex felicitas" des diesseitigen Lebens zu beschäftigen hätte. Eine solche Arbeitsteilung wäre undenkbar. Die theologische Betrachtungsweise beinhaltet vielmehr das Ganze, aber aus einem ihr spezifischen Blickwinkel: auf Grund der Offenbarung, gewissermaßen aus der Perspektive Gottes, welche die Perspektive des zum Leben der Gnade berufenen Menschen ist. Dieses Leben beginnt ja hier auf Erden und es bleibt eben auch unter den Bedingungen der Gnade immer ein irdisches und unvollkommen glückliches Leben. Über das jenseitige Leben, da wissen auch die Theologen nur sehr Weniges zu sagen und eine praktische Wissenschaft, die es mit dem Zustand der vollkommenen Glückseligkeit zu tun hat, kann es gar nicht geben. Was darüber theologisch zu sagen ist, das ist wiederum nur für das diesseitige Leben von Belang: damit wir wissen, was wir zu hoffen haben. Die philosophische Ethik hingegen betrachtet nur ein Bruchstück oder einen Ausschnitt des Ganzen. Nochmals: Vom Gegenstande her ist sie nichts anderes als eine philosophische Ethik des Nichtgläubigen. Aber der Nichtgläubige wird das Bruchstück für das Ganze halten. Und das wird ihn leicht dazu verleiten, entweder den Menschen selbst als Fragment und Bruchstück zu sehen, oder aber dieses Fragment zu einem Ganzen umzudeuten und entsprechend

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ergänzen zu wollen: Reduktionismus auf der einen und Verheißungsideologie oder innerweltliche Heilslehre auf der anderen Seite sind hier die Möglichkeiten. Hier wird eine unter dem Vorbehalt des Glaubens stehende philosophische Ethik stets als kritische Instanz gegenüber nichtgläubigen Philosophien auftreten können, die in der Perspektive der bloßen Philosophie „letzte Antworten" zu geben versuchen, - auch wenn diese letzte Antwort nur in der Feststellung bestünde, so etwas wie Glück sei in der Natur gar nicht vorgesehen 106 . Zwei Präzisierungen: (1) Nichtgläubige Ethik meint nicht atheistische Ethik. Die Aristotelische Ethik ist ja eine nichtgläubige, aber keine atheistische Ethik. (2) Auch eine nichtgläubige Ethik kann von einem Leben nach dem Tod sprechen, und demnach von einem vollkommenen Glück in einem zukünftigen Leben. Beispiel: Piaton. Unter der Bedingung des Glaubens aber ist ein solches Sprechen nur noch als Theologie von praktischer Relevanz.

Gegenstandsbereich der philosophischen Ethik ist also der Bereich des Glücks des diesseitigen Lebens, und zwar so weit seine Bedingungen mit den Mitteln der bloßen Vernunft ausgemacht werden können. Nicht aber beschäftigt sich philosophische Ethik mit einem sogenannten „natürlichen Ziel" des Menschen, im Unterschied zu einem „übernatürlichen Ziel", wofür dann die Theologie zuständig wäre. Gerade eine solche „Zweistufentheorie" wird durch die thomanische Anthropologie und Handlungsmetaphysik des äußersten Seinkönnens des Menschen verunmöglicht. Dies sei kurz erläutert. Die Rede von der Koexistenz eines „natürlichen" mit einem „übernatürlichen" Ziel des Menschen würde nämlich entweder die Behauptung implizieren, der Mensch besitze zwei verschiedene Naturen, oder aber sie führte zur Konsequenz, die philosophisch erkennbare menschliche Natur sei gar nicht die wirkliche Natur des Menschen. Denn „Natur eines Seienden" und „Ziel eines Seienden" stehen ja in Korrelation und bedingen sich gegenseitig. Eine Natur kann auch nur ein Telos haben und ein Telos ist immer das Telos einer bestimmten Natur. Bedeutete „Erhebung zur Gnade", dass überhaupt erst durch diese Erhebung die Gottesschau zum äußersten Seinkönnen des Menschen gemacht würde, so hieße dies, dass die Natur des Menschen durch die Erhebung eben zu einer anderen Natur würde (diese notwendige Konsequenz pflegte die traditionelle Zweistufentheorie zu übersehen). Es wäre dann gar nicht mehr möglich, eine „Ordnung der Natur" von einer „Ordnung der Gnade" zu unterscheiden; letztere wäre dann einfach die wirkliche Natur des Menschen, die erstere als sogenannte „natura pura" - ein unwirkliches Konstrukt von Philosophen. Der Begriff „übernatürlich" würde in Wahrheit obsolet bzw. alles, auch die Natur, würde „übernatürlich", - eine Konsequenz, die dann auch von einigen Theologen tatsächlich gezogen wurde. Was Thomas nun aber sagt, ist ja gerade, dass die Natur des Menschen auf die Möglichkeit einer solchen Erhebung schon angelegt ist und dass sie in der Erhebung als jene Natur, die sie immer schon war, erhoben ist. Der Mensch bleibt auch durch die Erhebung jener Mensch, der er auch ohne Erhebung wäre. Diese ist nicht eine äußere, auf den Menschen gleichsam aufgestockte neue Bestimmung, sondern jene, die bereits in der Natur, genauer: in der Natur des Intellektes angelegt ist. Der Mensch wird durch die Erhebung nicht nur der göttlichen Natur teilhaftig, sondern er gelangt durch sie auch zum Äußersten seines menschlichen Seinkönnens; nur kann er dieses Äußerste allein aufgrund der Kräfte seiner Natur nicht erreichen. 106

Vgl. den Brief Sigmund Freuds an Richard Dyer-Bennet, 1928, in: S. Freud, Briefe 1873-1939 (hrsg. von E. und L. Freud), Frankfurt/M. 2. Aufl. 1960, S. 398. Zu Freuds Theorie des Menschen als „verhinderten Hedonisten" siehe auch R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, a. a. O. S. 29 ff.

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Wenn wir den Menschen betrachten, wie wir das in der Philosophie tun, so abstrahieren wir vom Faktum der Erhebung. Was zurückbleibt ist jedoch ein Mensch, der anthropologisch gesehen genau dasselbe Ziel, dasselbe in seiner Natur angelegte äußerste Seinkönnen besitzt, wie der zum Leben der Gnade erhobene. Mit „Ziel" ist hier eben gerade auf die innere - teleologische - Seinsstruktur der Natur verwiesen: Das natürliche Bestreben des Intellektes, im Erkenntnisfortschritt nicht zu ruhen, bis er das „Was es ist" von all dem erfasst hat, dessen bloßes ,J)ass es ist" ihm gegenständlich zu sein vermag. Was die Theologen richtigerweise meinen, wenn sie „natürliches" von „übernatürlichem Ziel" unterscheiden, ist etwas ganz anderes: Sie betrachten die Dinge aus der Perspektive der biblischen Offenbarung und beziehen sich dann auf das „Ziel", das dem Menschen von Gott her gesetzt wurde, also auf die von Gott her an den Menschen ergangene Berufung. Hier nun hat die Unterscheidung einen Sinn. Es wäre dann möglich zu sagen, der Philosoph betrachte den Menschen, als ob Gott ihm nur ein natürliches Ziel gesetzt hätte, das heißt: jenes Ziel, das er mit den Kräften seiner Natur allein erreichen kann; der Theologe jedoch gehe aufgrund der Offenbarung davon aus, dass Gott den Menschen von Anfang an zu einem übernatürlichen Leben bestimmt und berufen hat, d.h. zu jenem Ziel, das er nur mit Hilfe der Gnade zu erreichen vermag - deshalb aber um nichts weniger Jenes ist, worauf menschliche Natur als auf ihr äußerstes Seinkönnen schon immer hinzielt. Wenn also die Theologen ein „natürliches" von einem „übernatürlichen" Ziel unterscheiden, so tun sie das zu Recht, meinen aber damit etwas spezifisch Theologisches: Die Unterscheidung dessen, was man mit den Kräften der Natur erreichen kann, von jenem, wozu es der Gnade bedarf. Eine solche Unterscheidung setzt aber bereits die theologische Perspektive und Methode voraus. Diese Unterscheidung ist demnach für die philosophische Perspektive, auch die des Glaubenden, irrelevant. Denn die Philosophie spricht ja überhaupt nicht von dem, was der Mensch nur mit Hilfe der Gnade zu erreichen vermag. Sie spricht ganz einfach über den Menschen, so wie er der Vernunft erkennbar ist. Und dieser Mensch nun - dies ergibt sich aus aus der handlungsmetaphysischen Analyse - besitzt nur ein Ziel, nämlich jenes, das ihn über seine Natur hinausweist und das er mit den bloßen Kräften seiner Natur nicht zu erreichen vermag. Die Perspektive der philosophischen Ethik ist demnach von Anfang an die Perspektive des unvollkommenen Glücks eines Wesens, das aufgrund seiner Natur die Vollkommenheit, das Letzte und Äußerste dessen, was in ihm angelegt ist, gar nicht erreichen kann. Das ist wiederum die Aristotelische Perspektive. Eine philosophische Ethik des Glaubenden braucht nicht die Unsterblichkeit (die zum Gegenstand philosophischer Anthropologie gehört) und ein Leben nach dem Tode auszuklammern. Es wäre falsch zu meinen: theologische Ethik beschäftigt sich mit dem Jenseits; philosophische Ethik mit dem Diesseits. Die theologische Ethik beschäftigt sich, insofern sie praktische Wissenschaft ist, gerade mit dem diesseitigen Leben des durch Gnade zur Vollkommenheit der Gottesschau berufenen Menschen. Die philosophische Ethik des Glaubenden jedoch kann sich nicht mit einem „natürlichen Glück des jenseitigen Lebens" beschäftigen, ganz einfach weil der Glaubende, auch als Philosophierender, weiß, dass es so etwas gar nicht gibt. Sein Hinblick auf das, was nach dem Tode folgt, muss sich auf die philosophisch aufweisbaren anthropologischen Bestände beschränken, die ein solches Leben nach dem Tode ermöglichen. Alles andere bliebe Spekulation ohne Wirklichkeitsbezug.

Die philosophische Perspektive des unvollkommenen Glücks ist jedoch, wie bereits gesagt, äußerst gefährdet, und nur unter dem Vorbehalt des Glaubens ist sie eigentlich letztlich ertragbar. Der Glaube stützt hier geradezu die philosophische Vernunft und bewahrt sie vor

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Resignation oder überschwänglicher irdischer Verheißungsideologie. Er fügt den möglichen menschlichen Glückstheorien nicht eine weitere hinzu, sondern bewirkt eine „kopernikanische Wende des Eudämonismus" 10?, die letztlich darin besteht, dass das „Inbild vollkommenen Glücks", das wir in uns tragen unter den empirischen Bedingungen menschlicher Endlichkeit aber nicht adäquat zu realisieren vermögen, weder dazu führt, Glücksverheißung als Chimäre abzutun, noch dazu verleitet, unter den Bedingungen unserer Endlichkeit ihre Verwirklichung herbeizwingen zu wollen (vgl. dazu den „Epilog") 108 . Doch stellt sich nun noch eine ganz andere Frage: Ergibt sich aus der Lehre vom „desiderium naturale" - der Lehre von der inneren, naturhaften Hinordnung des Menschen auf die Schau Gottes als seinem äußersten Seinkönnen - die Notwendigkeit einer Erhebung zum Leben der Gnade? Muss man nicht sogar diese Erhebung geradezu aus dieser Tatsache ableiten können, so dass die Anthropologie der „beatitudo perfecta" und des äußersten menschlichen Seinkönnens geradezu notwendigerweise zur Theologie werden muss? Ist umgekehrt ein rein „natürlicher" Mensch überhaupt als sinnvolle und zumutbare Existenz denkbar, oder wäre ein solcher nicht vielmehr zur Frustration verurteilt? f) Desiderium naturale und die Denkmöglichkeit eines natürlichen Menschen Die eben gestellte Frage ist natürlich wiederum eine theologische, und als solche braucht sie hier auch gar nicht erörtert zu werden. Nur ein Aspekt der Frage sei hier erwähnt: Wäre es theoretisch möglich, einen Menschen zu denken, der nicht zum Leben der Gnade erhoben wurde? Diese an sich ebenfalls theologische Frage ist insofern philosophisch von Belang, als ihre Beantwortung uns darüber Aufschluss geben kann, ob denn trotz der Existenz eines desiderium naturale, das über das durch die Kräfte der Natur Erreichbare hinausweist, überhaupt noch von einer rein philosophisch relevanten „menschlichen Natur" gesprochen werden kann, oder ob diese nicht vielmehr zu einem rein hypothetischen Restbegriff herabsinkt 109 . Die Frage

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R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, a. a. O., S. 85. (Vgl. das ganze Kapitel „Antinomien des Glücks"). 108 Denis Bradley hat gegen meinen Versuch einer Eingrenzung philosophischer Ethik des Gläubigen und ihrer Konfrontation mit einer Ethik des Nichtgläubigen eingewandt, eine solche Ethik könne gar nicht mehr eine philosophische genannt werden; die Eingrenzung und die genannte Konfrontation könnten nur Teil einer moraltheologischen Position sein: vgl. D. J. Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good, a. a. O., S. 523 (die Auseinandersetzung Bradleys bezieht sich auf die erste, in italienischer Sprache erschienene Ausgabe des vorliegenden Buches). Das erscheint jedoch nicht zwingend, da die Tatsache, dass die Notwendigkeit einer solchen Eingrenzung nur für den Gläubigen eine Notwendigkeit und insofern eine theologische ist, nicht impliziert, dass das Produkt dieser Eingrenzung, auch wenn sie theologisch bzw. vom Glauben her gedacht wird, dann ebenfalls Theologie sein muss. Im Gegenteil, es kann sich dabei sogar gerade um eine Art theologisch begründeter „Freisetzung" philosophischer Vernunft handeln (dem Philosophen wird dabei lediglich zugemutet, gleichzeitig theologisch und philosophisch zu denken, ohne beides miteinander zu vermischen). Allerdings ist zuzugeben, dass eine dermaßen begründete Freisetzung philosophischer Vernunft wiederum theologisch nicht indifferent ist (vgl. Bradley, ebd.). Sie ist, wie bereits in der Einleitung erwähnt, genau in diesem Sinne „christliche Philosophie", aber eben doch Philosophie. 109

So bei K. Rahner, Über das Verhältnis von Natur und Gnade, in: Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 1956, S. 340.

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ist also erneut: Ist unter den Bedingungen des Glaubens philosophische Ethik überhaupt noch zu rechtfertigen? Um die Frage zu beantworten müssen wir uns - für den Theologen ist das hypothetisch einen Menschen denken, dessen faktisches (nicht in der Natur angelegtes) äußerstes Seinkönnen nicht in der Schau Gottes liegen würde. Dessen desiderium naturale, Gottes Wesen zu erfassen, also für immer ungesättigt bliebe. Ist das eine mögliche, zumutbare Perpektive? Die Frage ist insofern theologisch unlösbar und wohl auch letztlich nicht bedeutsam, weil theologisch nun einmal vom Faktum auszugehen ist, dass der tatsächlich existierende, aus Gottes Schöpfungshandeln hervorgegangene Mensch eben zur Ebene der Gnade erhoben worden ist, und zwar im Augenblick der Schöpfung selbst. Das heißt die theologische Antwort wäre: Gott zielte nun einmal mit der Erschaffung des Menschen von Anfang an auf dessen Erhebung zur Gottesschau. Und die Natur, die er ihm gab, ist darauf innerlich bereits angelegt und erfährt in dieser Erhebung ihre letzte, in Bezug auf das den Kräften dieser Natur Zustehende allerdings aus Gnade geschenkte, Vollendung. Eine solche Antwort würde nun jedoch das Problem für den Philosophen nur verschärfen. Die theologische Antwort, so richtig sie sein mag, löst unser Problem nicht. Wir brauchen wiederum eine rein philosophische Antwort, die überhaupt nicht berücksichtigt, dass der Mensch tatsächlich durch Gnade erhoben wurde, sondern einfach feststellt: der Mensch besitzt eine Natur, deren innere Zielfhaftigkeit über das, was durch die Kräfte dieser Natur erreichbar ist, hinausweist. Das ist, es sei nochmals betont, rein philosophisch aufweisbar. Und auf dieser Grundlage wäre nun die Frage zu beantworten. Die Antwort hat uns nun tatsächlich Aristoteles, zumindest in gewisser Hinsicht, bereits gegeben. Der Intellekt, so lesen wir, ist etwas Göttliches das Beste in uns; ein Leben der reinen Kontemplation wäre daher eher ein göttliches als ein menschliches Leben. Wir müssen uns mit dem Menschlichen begnügen. Es wäre vermessen, wie die Götter glücklich sein zu wollen. Mit ihnen haben wir zwar etwas gemeinsam, und deshalb sollten wir uns bemühen so weit wie möglich diesem „Besten in uns" nachzuleben" 0 „Das Leben der Götter ist seiner Totalität nach glückselig, das der Menschen insofern, als ihnen eine Ähnlichkeit mit dieser Tätigkeit zukommt" 1 ". Es kommt Aristoteles freilich nicht im Geringsten in den Sinn, von einer Demut zu sprechen, die darin bestünde, sich von den Göttern durch Erhebung auf ihr Niveau beschenken zu lassen, weil er von einer solchen Erhebung nichts wissen kann. „Demut", das kann in der Aristotelischen Perspektive nur heißen: Die eigene Endlichkeit und das Göttliche als „das ganz Andere über uns" anzuerkennen, und so weit wie möglich danach zu streben, sich die Gunst der Götter zu erwerben. So sagt Aristoteles: „Wer aber in der Kontemplation tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, mag sie sich nicht nur an der allerbesten Verfassung erfreuen, sondern auch von der Gottheit am meisten geliebt werden. Denn wenn die Götter, wie man doch allgemein glaubt, um unsere menschlichen Dinge irgendwelche Sorge haben, muss man ja vernünftiger Weise annehmen, dass sie an dem Besten und ihnen Verwandtesten Freude haben - und das ist unsere Vernunft - und dass sie denjenigen, die dasselbe am meisten lieben und hochachten, mit Gutem vergelten, weil sie für das, was ihnen lieb ist, Sorge tragen und recht und löblich handeln. Es ist aber unverkennbar, dass dies alles vorzüglich bei

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EN X,7 1177b 35-1178a 1. EN X, 8 1178b 25-27.

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dem Weisen zu finden ist. Mithin wird er von der Gottheit am meisten geliebt; wenn aber das so ist, so muss er auch der Glückseligste sein. Somit wäre der Weise auch aus diesem Grunde der Glücklichste"" 2 .

Das ist eine heidnische Perspektive, die nun aber keineswegs areligiös ist. Sie ist eine mögliche Perspektive des „natürlichen Menschen". Sie bezeugt das Naturverlangen und lebt mit ihm. Aber ist dann der Mensch nicht zum Unglücklichsein verurteilt, weil er, so gedacht, ein Naturverlangen nach etwas hätte, um dessen Unstillbarkeit er weiß? Das ist keineswegs zwingend. Dieses Naturverlangen ist eben ein Verlangen der „Natur", aber nicht ein praktisches Streben. Zum Unglücklichsein verurteilt wäre in diesem Zustand nur der Mensch, der trotz seines Wissens um seine Endlichkeit dennoch das Unmögliche und ihm nicht Zustehende als praktisches Gut, als Ziel seines Handelns erstreben würde. Der Gegenstand des Naturverlangens kann ja nur aufgrund von Offenbarung, einer Verheißung Gottes selbst, vernünftigerweise zum praktischen Zielgut werden, und damit auch zum Gegenstand praktisch relevanten Strebens und Handelns" 3 . Ohne die Offenbarung solcher Verheißung ist es dem Menschen unmöglich, vernünftigerweise sein freies Handeln darauf auszurichten, von Gott eine „übernatürliche" Glückseligkeit geschenkt zu erhalten; dies wäre geradezu Frevel. Frustriert wäre nur derjenige, dem es an Demut und damit an Vernunft mangelte; derjenige also, der sich mit der conditio humana nicht abfinden würde. „Demut" heißt ja nichts anderes, als die Wahrheit über die eigene Stellung anzuerkennen und dieser Wahrheit gemäß zu leben 114 . Wieso aber schließt dann Thomas von der Existenz des Naturverlangens auf die Erhebung? Und zwar mit dem Argument, ein solches Naturverlangen könne ja nicht „eitel und nichtig" sein? Die Schwierigkeit kann folgendermaßen gelöst werden 115 : Thomas sagt, dass dieses Naturverlangen eitel und nichtig wäre, wenn nicht die Möglichkeit der Erhebung bestünde. Da sie nun aber tatsächlich gegeben ist - wir wissen es aufgrund von Offenbarung so ist gerade dieses Naturverlangen das stärkste rationale Argument, um die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens nachzuweisen. Thomas spricht hier also als Theologe, und zudem als Apologet: Das Naturverlangen nach Gottesschau wäre nur dann „eitel und nichtig", wenn es dem Menschen nicht möglich wäre, zur Gottesschau erhoben zu werden, bzw. wenn es Gott nicht möglich wäre, den Menschen dazu zu erheben, ohne damit auch die menschliche Natur zu verändern. Nicht aber ist es eitel und nichtig, auch wenn es besteht, wenn er faktisch nicht dazu erhoben wird. Dann hätte dieses Verlangen ganz einfach eine andere Funktion im menschlichen Leben. Es würde auf seine Weise den Menschen auf seinen Platz als endliches Wesen verweisen. Vergeblich wäre es auch dann nicht. Denn ohne den Intellekt, zu dessen Natur nun dieses Verlangen einmal gehört, wäre der Mensch ja gar nicht Mensch. Es hätte also zumindest den Sinn, dass der Mensch überhaupt das zu sein vermag, was er nun einmal 112 113 114

115

EN X,9 1179a 23-29. So auch die Argumentation bei W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, a. a. O. S. 140. Deshalb scheint D. Bradley zu weit zu gehen mit der Behauptung, gemäß Thomas seien menschliche Wesen ohne die Möglichkeit, das Naturverlangen zu sättigen, „vain creatures whose natures promise only a restless pursuit of happiness" (D. J. M. Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good, a. a. 0 . , S. 525). Vgl. wiederum W. Kluxen, ebd., S. 141.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

ist: ein Mensch. Je nach dem begründet also das Naturverlangen zwei verschiedene Weisen des Menschen, sich zum Göttlichen zu verhalten. Im Falle von Offenbarung und Verheißung der Erhebung führt es zur Demut dessen, der in praktisch relevanter Weise sein freies Wollen darauf ausrichtet, sich von Gott ohne jegliches Verdienst beschenken zu lassen, im Wissen darum, dass er seine Erfüllung letztlich nur durch Gnade, nicht durch eigene Leistung erlangen kann. Das ist die christliche Perspektive der Demut. Im anderen Falle - jene des Ausbleibens einer solchen Verheißung - führt das Naturverlangen zur Demut und Selbstbescheidung essen, der in praktisch relevanter Weise sein freies Wollen darauf beschränkt, nur jenes Glück zu suchen, das ihm „als Menschen", als endliches Wesen eben zustehen kann. Und dies ist genau die „Aristotelische Demut", so dass Aristoteles uns jene Wahrheit über den Menschen zu sagen vermochte, die der nichtglaubenden Vernunft offen steht. Diese Wahrheit ist nun jene, die Gegenstand der philosophischen Ethik ist.

3. Philosophische Ethik als Lehre von der menschlichen Tugend a) Die Nichtrelativierbarkeit des Menschlichen Die Wahrheit der philosophischen Vernunft ist, wie gesagt, für den Glaubenden ein Ausschnitt aus dem Ganzen. Sie ist aber deshalb nicht weniger gültig. Und auch der Theologe bleibt auf sie als unverzichtbare philosophische Wahrheit angewiesen. Wenn auch der Theologe aus der Sicht der Offenbarung über alles reflektiert, so darf er die Eigengesetzlichkeit, dessen, was ist, nicht einfach überspringen. Die „natürliche Moral", als die Moral des diesseitigen Lebens soweit es der bloßen Vernunft gegenständlich ist, ist „nicht als ein hypothetisches Normenganzes" zu verstehen, das selbst ohne theologische Ergänzung gar keine praktische Orientierung zu geben vermöchten; „sie ist vielmehr die wirkliche Moral des wirklichen Lebens - jenes Lebens, in dem schließlich jeder Mensch, auch der begnadete sich befindet" 116 , aber eben dennoch nur ein Ausschnitt aus dem Ganzen. Dieser Ausschnitt jedoch ist nur einer genuin philosophischen Erkenntnisweise zugänglich, und die Theologie kann diese Stufe nicht gleichsam überspringen oder relativieren, will sie nicht selbst den Menschen überhaupt relativieren und damit die „Perspektive der Moral" verlieren. Denn diese Perspektive ist es, die philosophisch zunächst einmal aufgewiesen werden muss, damit man überhaupt auch zu verstehen fähig ist, was ein begnadetes menschliches Leben, das die Kräfte der Natur übersteigt, bedeuten kann. Man wird sich vielleicht fragen, ob diese Konzeption einer „natürlichen Moral" theologisch nicht wieder durch die Erbsündenlehre in Frage gestellt wird. Doch die theologische Lehre von der Erbsünde ändert genau besehen nichts an der philosophischen Perspektive, auch nicht an derjenigen eines Glaubenden. Denn „Erbsünde" benennt ja jenen Zustand der Natur, in der sich diese durch die Privation der Gnade der Erhebung befindet, als natura sibi relicta, als „sich selbst überlassene Natur". Für die bloße Vernunft ist der durch die Ursünde gefallene Mensch eben kein anderer als der wirklich existierende, „natürliche" Mensch" 7 116

117

W. Kluxen, a. a. O. S. 149. Kluxen wendet sich hier zurecht gegen J. Maritains Konzeption einer nur hypothetischen natürlichen Moral, die ohne Integration in die Theologie nicht schon Praxis zu orientieren vermöchte. Vgl. dazu ausführlicher M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O., S. 259-263.

3 . ETHIK ALS LEHRE VON DER MENSCHLICHEN TUGEND

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Philosophische Ethik ist demnach Lehre von der menschlichen Tugend, gemäß der Aristotelischen Konzeption des zweifachen Glücks. Alle Tugend ist ein Leben gemäß der Vernunft, dem Göttlichsten und Besten in uns. Vorrangig ist auch hier die Kontemplation; in zweiter Linie ist es das Leben gemäß der sittlichen Tugenden, das das Glück dieses Lebens ausmacht. Das Leben ist um seiner selbst willen begehrenswert genau insofern, als es sich nach der Vernunft ausrichtet. b) Die menschliche Vernunft: Telos und Maßstab Die Vernunft ist das dem Menschen spezifische Gestaltungsprinzip von Praxis, in dem menschliche Natur erst als menschliche zu sich kommt. Das ist der Sinn des vieldiskutierten Aristotelischen ergon-Argumentes: Die dem Menschen als Menschen und im Unterschied zu anderen Lebewesen eigentümliche „Verrichtung" (ergon) sei ein „nach dem vernunftbegabten Seelenteile tätiges Leben". Deshalb bestehe das gute Leben für den Menschen in einem Leben gemäß der Vernunft" 8 . Gemeint ist damit keineswegs, nur Tätigkeit der Vernunft sei Ziel menschlichen Lebens, nicht aber Tätigkeit gemäß anderer Strebungen und Neigungen. Es ist nicht nötig, dem Aristotelischen ergon-Argument entgegenzuhalten, es gehe doch um „ integrale menschliche Erfüllung" " 9 . Darum geht es in der Tat. Wenn aber Aristoteles sagt, das „Eigentümliche" des Menschen bestehe in seiner Vernünftigkeit, so hat dieses Argument nicht die Funktion, aus der Vielfalt von Gütern das für den Menschen Gute auszugrenzen, sondern das Ordnungsprinzip zu identifizieren, demgemäß die gesamte Vielfalt auch ursprünglich und in sich nicht-vernünftiger Strebungen und Akte zu Bestandteilen menschlicher Vortrefflichkeit, menschlicher Tugend werden120. Die Vernunft ist demnach Telos (Ziel) und Maßstab in einem. Man hat unterschieden zwischen dem Begriff eines inklusiven und eines dominanten Zieles121. Das inklusive Ziel besteht aus einer Vielzahl von Gutem, dessen Einheit auf der Einheit des gemeinsamen Ordnungsprinzips gründet. So ist ein menschliches Leben gemäß der Vernunft ein durch Vernunft geordnetes Ganzes in der Vielfalt von Strebungen, Neigungen, Aktvollzügen, Gütern. Dominantes Ziel hingegen ist das Letzte in der Dimension der höchstwertigen Tätigkeit überhaupt, ein Letztes, das uns Aufschluss darüber gibt, worin allein das Ordnungsprinzip menschlicher Praxis bestehen kann und worauf diese als ihre höchste Möglichkeit hinzielt. Dieses dominante Ziele ist die Kontemplation der Wahrheit. Die teleologische Dominanz der Kontemplation begründet demnach gerade den Begriff dessen, was wir „integrale menschliche Erfüllung" nennen können. Sie führt nicht vom 118 119 120

121

Vgl. EN 1,6. Vgl. J. Finnis, Fundamentals of Ethics, a. a. O. S. 122 ff. Zur Auseinandersetzung mit Finnis vgl. ausführlicher M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O. S. 53 ff. S. auch die Bemerkungen bei U. Steinvorth, Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Moraltheorie, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 123 ff.; sowie B. M. Ashley, What is the End of the Human Person? The Vision of God and Integral Human Fulfilment, in: L. Gormally (Hrsg.), Moral Truth and Moral Tradition. Essays in Honour of Peter and Elizabeth Geach, Dublin 1994, S. 68-96 („Elizabeth Geach" ist identisch mit G. E. M. Anscombe, Gattin des Logikers Peter Geach). Vgl. A. Kenny, „Happiness", in: Proceedings of the Aristotelian Society 66 (1965 / 66), S. 93-102; kritisch dazu J.L. Ackrill, Aristotle on Eudaimonia, a. a. O. Sehr fruchtbar wurde die Unterscheidung zuletzt verwendet bei G. Abbà, Felicità, vita buona e virtù, a. a. O., S. 61 f.

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II. MENSCHLICHES HANDELN UND DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

Praktischen weg, lässt die Vielfalt des zum Menschen - auch als Sinnenwesen - Gehörenden nicht in die Unerheblichkeit absinken, sondern verleiht ihm erst jene spezifisch menschliche Dimension, die darin besteht, dass in jedem einzelnen Element dieser Vielfalt des menschlich Guten immer auch das Ganze auf dem Spiel steht: Die Hinwendung des Menschen auf Wirklichkeit überhaupt, auf die Wahrheit des Guten. Alles „Gelingen" menschlichen Lebens, alles Gute und Werthafte, das in einem menschlichen Leben zur Verwirklichung gelangen kann, das Gut-sein des Menschen, worum es ja im Handeln geht, hat etwas zu tun mit Wahrheit, wie sie nur der Vernunft, oder allgemeiner: intellektiver Erkenntnis gegenständlich sein kann. Es ist dies „praktische Wahrheit", Wahrheit der Praxis, eine Wahrheit, die im Handeln erst zu erstellen ist. Aber es ist eine Wahrheit, die mit der innersten Wahrheit des Menschen zu tun hat. In allen Bereichen menschlichen Handelns geht es irgendwie um den Bezug zu einer Wirklichkeit, wie sie nur der Vernunft gegenständlich sein kann. Der Mensch ist das einzige Lebewesen der Sinnenwelt, das sich in Bezug auf das für ihn Gute unter dem formalen Aspekt der Wahrheit dieses Guten verhalten kann und muss. Tiere brauchen dergleichen nicht. Sie handeln instinktgesteuert. Der Mensch handelt willentlich, d.h. aufgrund von Vernunft, und deshalb kann ihm gut erscheinen, was in Wahrheit gar nicht gut ist. Die teleologische Dominanz der Wahrheitsschau als höchste menschliche Möglichkeit ist deshalb zugleich Begründung der Vernunft als Wahrheits-Maßstab für das menschlich Gute und damit für das Glück des Lebens in der inklusiven Vielfalt menschlicher Möglichkeiten. Genau insofern menschliches Leben und Handeln von Vernunft geleitet ist, ist es dann auch eine Form der Teilhabe an jener beatitudo perfecta, die zuvor als äußerstes Seinkönnen menschlicher Natur aufgewiesen wurde. Und genau insofern bleibt auch die Perspektive des Vollkommensten und Letzten immer gegenwärtig, selbst wenn dieses Letzte nie eingelöst werden könnte und obgleich es in der Philosophie außerhalb des Gesichtskreises bleibt. Wie Thomas betont, ist auch das unvollkommene Glück dieses Lebens tatsächliche Teilhabe an jener vollkommenen Glückseligkeit und Ähnlichkeit mit ihr, eine Teilhabe, auf die sich dasselbe naturale desiderium eben als auf eine gewisse „Ähnlichkeit und Teilhabe" erstreckt 122 . Diese Unvollkommenheit des Glücks dieses Lebens beruht, wie Thomas betont, wesentlich auch darauf, dass im diesseitigen Leben das Tätigsein im Bereich des menschlichen Tuns (das „aktive Leben") und die Kontemplation ebenfalls nur unvollkommen vereint werden können123. Die Vollkommenheit der „Kontinuität und Dauer" des Kontemplativen ist in diesem Leben nicht gegeben. Thomas behauptet damit nicht einen Gegensatz zwischen aktivem und kontemplativem Leben, sondern lediglich die Unvollkommenheit ihrer Vermittlung im diesseitigen Leben. Gerade deshalb vermag das Glück dieses Lebens auch als Teilhabe an der vollkommenen Glückseligkeit verstanden werden124.

Gemäß thomanischer Lehre bleibt damit die vollkommene Glückseligkeit, auch wenn das in ihr angesprochene äußerste Seinkönnen des Menschen in der philosophischen Perspektive nie als praktisches Gut aufzutreten vermag, immer als Telos erhalten und gegenwärtig. Sie beinhaltet anthropologisch - und damit philosophisch - das Entscheidende, das nämlich, was die christliche Tradition als die Gottebenbildlichkeit des Menschen bezeichnete. Diese ist eben-

122 123 124

Vgl. I-II, q. 3, a. 6 ad 2. Ebd., q. 3, a. 2. Vgl. W. Kluxen, Glück und Glücksteilhabe, a. a. O. 83 f.

3 . ETHIK ALS LEHRE VON DER MENSCHLICHEN TUGEND

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falls ein philosophisches Thema, und nicht erst Aristoteles, sondern bereits sein Lehrer Piaton haben ansatzweise um sie gewusst. Das unvollkommene Glück dieses Lebens besitzt nicht die Einheit der beatitudo perfecta. Ihr Gestaltungsprinzip ist ja nicht Gott selbst, und auch nicht ein menschlicher Akt, der Gott zum Gegenstand hätte, sondern die Vielheit der Tugenden in ihrem Geeintsein durch die Vernunft. Gott ist hier nicht finis quo, kein Zielgut, das irgendwie Gegenstand menschlichen Handelns wäre. Dies kann er - wie Thomas betont - nur aufgrund der zur Ordnung der Erhebung gehörenden Tugend der Caritas sein; die menschliche Tugend hat nicht Gott, sondern das bonum humanum, das menschlich Gute zum Gegenstand. Sie bezieht sich nicht auf das letzte Ziel schlechthin, sondern nur auf die Ordnung der menschlichen Dinge gemäß der rechten Vernunft 125 . „Glück" ist hier für einen jeden wiederum ein anderes, gemäß der Vielfalt von Lebenssituationen und Lebensvollzügen. Geeint jedoch ist diese Pluralität von Glücks-Möglichkeiten durch das, was den Menschen als Menschen auszeichnet: seine Vernünftigkeit. Jede Glücksform steht immer unter dem Anspruch dessen, was allein vernünftigerweise das Leben um seiner selbst willen begehrenswert machen kann. Gerade dies wiederum hält die Perspektive der Tugendethik offen, denn Tugend verheißt nur jenes Glück, das dem Menschen als endliches Vernunftwesen unter konkreten empirischen Bedingungen zusteht. Also nicht Gott, sondern Vernunft ist hier oberstes Gestaltungsprinzip, eine Vernunft allerdings, die auf Gott verweist, ihn aber nicht in der Weise der theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe zum Gegenstand hat. Der Gottesbezug des „natürlichen Menschen" steht in der Dimension der Gerechtigkeit, zu der die Tugend der Religion gehört: Die Anerkennung Gottes als Schöpfer und Herr, und die Unterwerfung unter ihn in der Anerkennung der eigenen Endlichkeit. Diese Perspektive erreicht bei weitem nicht die christliche der Gotteskindschaft und Freundschaft mit Gott, wenn sie auch innerhalb ihrer - wie alles menschlichNatürliche - erhalten bleibt. Aristoteles sagt ganz richtig, der Abstand zwischen Mensch und Gott sei zu groß, als dass es hier so etwas wie Freundschaft geben könnte 126 . Gerade weil das stimmt, wird das völlig Neue und Andersartige der Erhebung aus Gnade einsichtig: Denn sie begründet ja eine Freundschaftsbeziehung zwischen Gott und Mensch 127 . Beide Perspektiven, die „natürliche" und die christliche und damit auch die philosophische und die theologische auseinanderzuhalten, dürfte ein nicht unwesentlicher Beitrag der vorangehenden Überlegungen gewesen sein.

125 Vgl. De virtutibus cardinalibus, q. un., a. 2 126 EN VIII, 9 1159a 5. 127 Cfr. II-II, q. 23, a. 1: „Caritas amicitia quaedam est hominis ad Deum"; „die [eingegossene, gnadenhaft geschenkte, übernatürliche] Liebe ist eine Art Freundschaft des Menschen mit Gott".

III. Sittliche Handlungen und praktische Vernunft

1. Glücksstreben und Moral a) Glücksstreben und Handlungsmotive Die Perspektive der Moral, wie sie bis anhin aufgezeigt wurde, ist diejenige einer eudämonistischen Ethik. Eudämonistisch ist eine Ethik, wenn sie das Glücksstreben als konstitutiv für die Bestimmung des für den Menschen Guten und Richtigen betrachtet. Eine eudämonistische Ethik sieht im richtig interpretierten Glücksstreben den Schlüssel für die Antwort auf die Frage nach dem guten, gelingenden Leben, ohne dass sie diese Antwort einfach aus der empirischen Faktizität dieses Strebens ableiten würde. Näherhin wird eine eudämonistische Ethik immer in der einen oder anderen Form behaupten, dass gutes Handeln und Tugend mit Glück zusammenfalle, das Glück des Lebens also im gut Handeln, in der eupraxia liege. Gemäß einer klassischen, wohl am nachhaltigsten von Kant und Max Scheler verbreiteten Kritik, gefährdet, ja zerstört Glücksstreben geradezu jegliche Moralität. „Moralität" meint hier die Lauterkeit jener Motive, die dafür ausschlaggebend sind, was wir jeweils tun. Heißt nun aber Eudämonismus, jegliches Tun deshalb zu wählen, weil man glaubt, dadurch glücklich zu werden? Falls es sich so verhielte, dann wäre Eudämonismus eine Form von Egoismus, der uns den Blick auf das Gesollte notwendigerweise verstellt. In der Tat entspricht die eben gewählte Formulierung eher jener Position, die wir „Hedonismus" nennen. Hedonismus ist ja eine Form von Eudämonismus, aber eine verfälschte. Die Verfälschung, die der Hedonismus vornimmt, besteht allerdings nicht darin, Glück auf Sinneslust zu reduzieren. Die hedone des Hedonisten kann auch geistiger Genuss sein. Die hedonistische Fehldeutung liegt anderswo, nämlich in der Interpretation von Glück als Zustand des Befriedigtseins und der Meinung, was unser Handeln motiviere, sei jeweils die Aussicht, einen solchen Zustand zu erreichen. Das Glücksstreben wird so als das grundlegende Handlungsmotiv interpretiert. Die hedonistische Auffassung von Lust widerlegten wir bereits im Zusammenhang der Aristotelischen Lehre über das Glück (s. oben II,2,b). Nun verstand auch Kant unter Eudämonismus so viel wie Hedonismus; die Kantische Ethik geht davon aus, dass alle Menschen von Natur aus nach Glück streben und Hedonisten sind. Dem fügte er jedoch hinzu: Diese hedonistische, dem Menschen natürliche Motivation ist unmoralisch. Kant lehnte deshalb ein hedonistisch verstandenes Glücksstreben als sittlichen Verhaltensmaßstab ab und entwickelte einen Begriff von Moralität, demgemäß wir unsere egoistische Natur in die Schranken der Vernunft zu weisen vermögen.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Was ist ein Handlungsmotiv? Es ist das „worum-willen" wir etwas wählen und tun. Also jenes, was wir oben als „Intention" im allgemeinsten Sinne bezeichneten. Greifen wir ein früheres Beispiel auf: Wir treffen X an, der auf seinem Bett liegt und fragen ihn: „Was tust du hier?". Die Antwort von X, die wir bereits kennen, heißt z.B.: „Ich ruhe mich aus". Es ist also eigentlich eine Antwort auf die Frage: „Wozu liegst du auf dem Bett?" oder „Wozu hast du dich aufs Bett gelegt?". Als X die Handlung „sich aufs Bett legen" wählte, tat er dies mit der Intention, sich auszuruhen. „Sich ausruhen" war also das Handlungsmotiv von X. Ich verzichte darauf, generell zwischen „Motiv" und „Intention" zu unterscheiden, da mir die Unterscheidung in der Regel nicht zweckmäßig und eine unnötige Komplikation erscheint1. Es gibt zwar Motive, die keine Intentionen sind, wohl aber sind alle Intentionen Handlungsmotive (was noch deutlicher wird, wenn wir unten den Begriff der „Intention" näher klären werden). Zu den Motiven, die keine eigentlichen Intentionen sind: Auf die Frage nach dem Handlungsmotiv sind auch Antworten der Art „er tat es aus Rache", „aus Sympathie", „aus Neid" usw. denkbar. Damit - man nennt dies gemeinhin eine „Motivation" - ist nicht das „Worum willen" oder das „Wozu?" der Handlung genannt, sondern ein Beweggrund, der erklärt, weshalb überhaupt etwas getan wurde („Warum hat er das nur getan?"). Das eigentliche Handlungsmotiv jedoch, aufgrund dessen z.B. jemand einen anderen aus Rache tötet kann dann immer noch etwa „Vergeltung" sein. Und wenn jemand einem anderen „aus reiner Sympathie" ein Darlehen gibt, so geschieht dies immer noch hinsichtlich eines „Wozu?" der Handlung selbst (z.B. um ihm zu helfen, seine Ausbildung zu finanzieren). Was hier interessiert sind diese eigentlichen Handlungsmotive, aufgrund deren diese und nicht eine andere Handlung gewählt wird. Denn auch aus Sympathie tut man ja noch nichts Konkretes, solange man nicht einen Grund hat, dies und nicht jenes zu tun.

Um nun zu unserem Beispiel zurückzukehren: „Sich ausruhen" bringt ganz sicher bestimmte Befriedigung und Genuss mit sich. Und wir wissen, dass dies ein Bestandteil von Glück ist. Der Hedonist müsste nun sagen: Das Motiv, das X dazu bewegte, sich aufs Bett zu legen, war z.B. „sich wohlfühlen" (als ein Aspekt von Glücklichsein). Ein solches Handlungsmotiv ist zwar denkbar und auch möglich. Aber damit ist noch nicht bewiesen, dass, wer etwas tut, um sich wohl zu fühlen, dies tut, um glücklich zu sein. Aber es gibt auch die Möglichkeit, dass X sich ausruhen wollte, um seine Arbeit danach wieder aufnehmen zu können. Er intendierte also eigentlich „danach wieder arbeiten können". Folglich kann das letzte Handlungsmotiv gar nicht „sich wohlfühlen wollen" sein, sondern es ist eher „imstande sein, eine Arbeit zu Ende zu führen". Der Hedonist könnte einwenden: Auch „das zu Ende Führen einer Arbeit" ist sehr wohl mit Befriedigung und Lust verbunden. X legte sich eben aufs Bett, um der „Befriedigung über vollendete Arbeit" willen. Das ist nun aber noch unwahrscheinlicher. Womöglich wollte er die Arbeit zu Ende führen, weil er eine Verpflichtung eingegangen war, weil er damit etwas anderes erreichen, zu einem bestimmten Ergebnis kommen wollte (etwas erfinden, etwas erkennen, Geld verdienen, usw.). Wir können nun weiterfahren, bis zum Letzten, das motivierend das Handeln auslöste, bzw. worauf das Tun von X gerichtet ist. Kann dieses Letzte im Glücklichsein bestehen? Wenn es sich so verhielte, so lautet das paradox scheinende Ergebnis, dann hätte X gar nie etwas getan: Weder gearbeitet, noch sich ausgeruht; bzw. sein Handeln verliefe ohne praktische Orientierung. Denn man beachte: zwischen „sich aufs Bett legen" und „sich erholen"

1 Vgl. hingegen M. Konrad, Werte versus Normen als Handlungsgründe, Bern-Berlin usw. 2000, S. 98 ff.

1. GLÜCKSSTREBEN UND M O R A L

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gibt es für die Vernunft einen erkennbaren Zusammenhang im Sinne einer Mittel-ZielRelation. Ebenfalls existiert ein solcher Zusammenhang zwischen „sich erholen" und „eine Arbeit zu Ende führen"; und wiederum zwischen „eine Arbeit zu Ende führen" und „Geld verdienen". Diese Zusammenhänge intentionaler Art vermögen Handlungen zu strukturieren und sie durch einen Wahlakt auszulösen. Aufgrund solcher Mittel-Ziel-Relationen wählt und tut man etwas. Sie sind einsichtige intentionale Zusammenhänge, die Praxis als einen intelligiblen und deshalb sinnvollen Zusammenhang konstituieren. Worin sollte denn nun aber, wäre „Glücklichsein-wollen" das letzte Motiv und „Geldverdienen-wollen" das zweitletzte, die intelligible Mittel-Ziel-Relation zwischen „Glücklichsein-wollen" und, z.B. „Geldverdienen" bestehen? In der Tat, es gibt hier gar keinen durch die Vernunft erkennbaren Zusammenhang der praktisch konstitutiv sein könnte. Aus dem „Glücklichsein-Wollen" kann man überhaupt nichts für das Tun ableiten. Es ist unmöglich aufgrund von „Glücklichsein-wollen" auch nur das Geringste darüber auszumachen, was man denn nun vernünftigerweise erstreben und tun sollte, um glücklich zu sein. Das Glücksstreben kann gar kein für den intentionalen Aufbau von Praxis konstitutives Handlungsmotiv sein. Aufgrund des im letzten Abschnitt Gesagten können wir präzisieren: Wer Geldverdienen um des Glücklichseins willen erstrebte, der würde nicht Geldverdienen als Mittel zum Ziel „Glücklichsein" wählen, sondern vielmehr das Geldverdienen als jene Tätigkeit intendieren, die allein vernünftigerweise um ihrer selbst willen erstrebt werden kann. D.h. er würde meinen, „Glücklichsein" werde im Geldverdienen erreicht. Das praktisch Letzte wäre dann gerade nicht das Glücklichsein, sondern das Geldverdienen. „Glücklichsein-Wollen" ist also nie das Letzte, worum willen man etwas wählt, sondern vielmehr eine Eigenschaft dessen, was man, wie z.B. Geldverdienen, als Letztes intendiert: Die Eigenschaft nämlich, es als Letztes zu intendieren.

Nur wenn wir das Handlungssubjekt hedonistisch fehlinterpretieren, kann uns Glücklichseinwollen als Handlungsmotiv erscheinen. Diese Fehldeutung wurde jedoch bereits zur Genüge zurückgewiesen. In Wirklichkeit kann Glücksstreben kein praktisch konstitutives Handlungsmotiv sein 2 . Was uns fundamental zum Handeln motiviert, ist die Einsicht in die Sinnhaftigkeit von Tätigkeiten im Kontext eines Mittel-Ziel-Zusammenhanges. Das Letzte, wie bereits früher gesagt, ist dabei nicht das Glück, sondern jeweils ein Letztes in einem bestimmten Handlungszusammenhang: „sich den Lebensunterhalt verdienen", „Wahrheit erkennen", „soziale Gerechtigkeit fördern" usw. Es handelt sich um das, was man klassischerweise Ziele der einzelnen Tugenden nannte. Jede einzelne Tugend hat ihr eigentümliches Letztes. Worin das Glück bestehe, ist nur die Frage, was allein wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können, also die Frage nach einer formalen Eigenschaft des Worumwillens, insofern es eben ein Letztes ist, d.h. das, was alles Streben sättigt und deshalb der formale Motivationsgrund dafür ist, dass wir überhaupt etwas wählen und tun. Deshalb ist „Glück" auch kein materiales Handlungsmotiv, d.h. kein Motiv dafür, dass wir dies und nicht jenes wählen und tun3. Das Glücklichsein-wollen selbst motiviert demnach menschliches Handelns nicht als das Motiv „dies" oder „jenes" zu tun, sondern als Motiv überhaupt etwas zu tun; denn wenn wir aufgrund des naturhaften Glücksverlangens - nicht immer schon ein Letztes intendierten, 2 Vgl. auch R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, a. a. O., S. 37 ff. 3 In bezug auf Aristoteles zeigt dies T. Engberg-Pedersen, Aristotle's Theory of Moral Insight, Oxford 1983; vor allem Kap.l „Eudaimonia and Praxis", S. 3 - 3 6 .

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

würden wir überhaupt nicht handeln und auch nichts suchen, was vernünftigerweise als Letztes, d.h. um seiner selbst willen erstrebt werden könnte. b) Handlungsmotive als Handlungsgegenstände Handlungsmotive im eigentlich praktischen Sinn sind demnach Handlungsgegenstände, und zwar in der noch zu analysierenden Komplexität von „Mitteln" und „Zielen". Ein Handlungsgegenstand ist das dem wählenden und intendierenden Willen - und deshalb zuvor immer auch praktischer Vernunft - gegenständliche Gute. Es ist ein jeweils in einem bestimmten Kontext als „gut" Erkanntes und als solches Erstrebtes und im Handeln Verwirklichtes. Als solches ist der Gegenstand einer Handlung gerade ihr Inhalt, ein Aspekt der Handlung selbst; so wie der Gegenstand des Aktes des Sehens das Sehen selbst ist, auch wenn er immer ein „Sehen von etwas" ist. Glücksstreben hingegen ist nicht Handlungsstreben, weil „Glücklichsein" kein Typ von Handlung ist. Jemand kann durchaus glücklich sein wollen, dennoch aber nichts tun, bzw. nichts praktisch erstreben, weil er ganz einfach nichts auszumachen vermag, was gut ist, was sinnvollerweise getan werden könnte. Dieser Zustand heißt Verzweiflung: Verzweifelt sein kann man nur, weil man glücklich sein will. Und Menschen, deren Leben ohne Orientierung auf ein Letztes hin verläuft, sind verzweifelt, insofern sie ihr Leben als sinnlos erfahren, - eine Erfahrung, die sich allerdings unter bestimmten Bedingungen und für eine gewisse Zeitspanne auch verdrängen lässt. Das kann auch nur in Teilbereichen so sein, und dann kann man dennoch noch einen Sinn im Leben finden: Wer gesund sein will, aber keine Möglichkeit sieht, etwas zu tun, um es zu werden, von dem heißt es, dass er an seiner Gesundheit verzweifle. Aber nur dann wird einer auch an seinem Glück, d.h. an jeglichem Lebenssinn verzweifeln, wenn er in der Gesundheit auch das Letzte sieht, was man allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben kann. Das Glücksstreben, und worin wir das Glück suchen, entscheidet also höchstens darüber, wann wir noch hoffen und wann wir verzweifeln. Das zeigt wiederum: Glücksstreben tritt nicht als Handlungsmotiv auf, sondern nur als jene innere Dynamik unseres Strebens, die uns dazu führt, überhaupt etwas tun zu wollen. Was wir jedoch vernünftigerweise tun wollen können (= was wir tun sollen), darüber kann nie das Glücksstreben entscheiden, sondern nur praktische Vernunft, die sich auf das praktisch Gute, auf durch Handeln Erreichbares richtet. Was uns also dazu führt, dies oder jenes zu tun bzw. tun zu wollen, das ist, als Handlungsmotiv, nicht das Streben nach Glück, sondern Urteile der Vernunft darüber, was zu tun gut ist. „Glücksstreben" hingegen heißt - um noch einmal Thomas zu zitieren - nichts anderes, als „erstreben, dass der Wille gesättigt sei" 4 . Glücksstreben ist somit eine Art Hunger oder Durst des Wollens; was wir wollen, das nennen wir das Gute. Und dieses erst motiviert das Handeln. Nur nebenbei oder in zweiter Linie vermag das Glücksstreben selbst zu motivieren, - als ausschlaggebender Beweggrund („Motivation"), etwas zu tun, so wie man etwas „nur aus Neid" oder „aus reiner Sympathie" tut (s. oben). Dann nämlich, wenn wir beispielsweise bereits wissen, was gut ist, es zu tun uns aber aus anderen Gründen schwer fällt oder wir davor zurückschrecken. Aber dieser Zusammenhang von Tugend und Glück hilft uns nie weiter, um zu bestimmen, was zu tun gut ist. Wäre „glücklichsein Wollen" unser Handlungsmotiv, so 4 I—II, q.5, a.8.

1. GLÜCKSSTREBEN UND M O R A L

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w ü r d e wir nie glücklich sein können, weil wir j a nie wüssten, worin denn das Gute liegt, durch das wir glücklich werden können.

c) Glücklichsein und Gutsein H a n d l u n g s m o t i v e richten sich also als eigentlich praktische und damit auch sittliche Motive, auf ein Gutes, das im H a n d e l n erreichbar ist. Das gilt auch f ü r eine Ethik, in der nun, wie in der theologischen, Gott selbst als letztes praktisches W o r u m - w i l l e n gegenständlich wird (das gilt f ü r die sogenannten theologischen Tugenden: Glaube, H o f f n u n g u n d Liebe). Hier ist Gott selbst H a n d l u n g s g e g e n s t a n d u n d H a n d l u n g s m o t i v . N i c h t a b e r k a n n G o t t d a s M o t i v sein, „insofern E r mich glücklich macht". D a s w ä r e wieder hedonistisch gedacht. M a n kann christliche Moral allerdings auch hedonistisch fehlinterpretieren! Gegen solche Interpreten polemisiert Fichte mit seinem Verdikt: „Ihr Gott ist der G e b e r alles G e n u s s e s " 5 . Fichte lehnt j e d o c h diese A u f f a s s u n g nicht als FeWinterpretation ab; vielmehr missbilligt er, - u m w i e Kant die M o r a l zu r e t t e n , a b e r d e u t l i c h ü b e r ihn h i n a u s g e h e n d , - ü b e r h a u p t die I d e e e i n e r G l ü c k seligkeitserwartung und eines Gottes, der es damit zu tun hat. „ W e r Glückseligkeit erwartet ist ein mit sich selbst u n d seiner g a n z e n A n l a g e u n b e k a n n t e r T h o r ; es giebt k e i n e G l ü c k seligkeit, es ist keine Glückseligkeit möglich; die Erwartung derselben, und ein Gott, den man ihr zufolge a n n i m m t , sind Hirngespinste. Ein Gott, der der Begier dienen soll, ist ein verächtliches W e s e n ; er leistet einen Dienst, der selbst j e d e m erträglichen M e n s c h e n ekelt. Ein solcher Gott ist ein böses W e s e n ; denn er unterstützt und verewigt das m e n s c h l i c h e Verderben, und die H e r a b w ü r d i g u n g der V e r n u n f t " 6 . N i c h t h e d o n i s t i s c h g e d a c h t ist das M o t i v „ G o t t " , i n s o f e r n er als d a s i m h ö c h s t e n M a ß e Gute e r k a n n t u n d geliebt wird, i m S i n n e d e s A u g u s t i n i s c h e n W o r t e s „ L i e b e G o t t nicht u m L o h n , er selbst sei dein L o h n " 7 . A b e r das gehört j a nun gar nicht zur philosophischen Ethik, s o n d e r n zur P e r s p e k t i v e d e s v o l l k o m m e n e n G l ü c k s , die d i e j e n i g e der T h e o l o g i e ist. D i e Perspektive philosophischer Ethik verbleibt auf der E b e n e des durch die V e r n u n f t geordneten guten Lebens in seiner U n v o l l k o m m e n h e i t . Die vorherige Überlegung zeigt wiederum, dass Kant letztlich ein Hedonist blieb: Denn sein postulierter Gott muss postuliert werden als jener, „der mich glücklich macht", nicht aber als ein „Gut". Das „höchste Gut" ist eben bei Kant, durchaus hedonistisch, das eigene Glücklichsein, nicht aber jene Tätigkeit, die allein vernünftigerweise um ihrer selbst willen erstrebt werden kann. Deshalb, weil Kant letztlich hedonistisch dachte und Glücksstreben hedonistisch interpretierte, müsste er, um Moral zu retten, alles Glücksstreben aus der Moral des diesseitigen Lebens entfernen und sie auf die Perspektive der Pflicht reduzieren. H a n d l u n g s m o t i v a t i o n e n , die sich auf d a s e i g e n e G l ü c k l i c h s e i n e r s t r e c k e n , sind also V e r f ä l s c h u n g der praktischen Vernunft. Sie sind strukturell unvernünftig, j a sogar im eigentlic h e n S i n n e u n p r a k t i s c h , weil sie u n s f ü r P r a x i s gar k e i n e v e r n ü n f t i g e O r i e n t i e r u n g l i e f e r n

5 J. G. Fichte, Appellation an das Publikum gegen die Anklage des Atheismus (1799), Werke hrsg. v. I. H. Fichte, Nachdruck Berlin 1971, Bd. V, S. 218. 6 Ebd., S. 219. 7 Augustinus, Vorträge über das Johannesevangelium, 3, 20 (übers, von T. Specht), Aurelius Augustinus: Ausgewählte Schriften IV, München 1913, S. 50.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

können. Wer handelt, d.h. diese anstatt jene Handlung wählt, aus dem Motiv, glücklich zu sein, der handelt ohne Orientierung. Seine Praxis und damit sein Leben besitzt keinen vernünftigen Zusammenhang und er ist letztlich ein Spielball von Augenblicksstrebungen und Umständen. Er verliert das, was Handeln als menschliches auszeichnet: das dominium, die vernunftbedingte Herrschaft über das eigene Tun. Das Wissen um den Zusammenhang „Glück"-„gutes Handeln" kommt freilich gleichsam beiläufig und oft auch unmittelbar stimulierend dazu. Dies deshalb, weil uns das Glücksverlangen eben bereits naturhaft darauf angelegt sein lässt, überhaupt zu streben und zu handeln. Aber vernünftigerweise kann man Glück, Befriedigung, Lust nur erstreben, insofern man erstrebt, was gut ist. Gutes tun und Glücklichsein koinzidieren zwar (wenn auch nicht immer unmittelbar); aber nur „das Gute tun Wollen" verleiht praktische Orientierung. Demnach führt das richtig verstandene Glücksstreben zur Frage: Worin besteht das Gutsein von Handlungen? Genau das ist die Strategie des Sokrates gegen Polos im Dialog „Gorgias". Denn bei der strittigen Frage, ob es schlimmer sei Unrecht zu tun oder Unrecht zu leiden, handle es sich, so Sokrates, letztlich darum, „zu erkennen oder nicht, wer glücklich ist und wer nicht" 8 . Um dies aber auszumachen, ist die Frage zu beantworten, wer gerecht ist. „Nach meiner Meinung dagegen, mein Polos, ist der Übeltäter und Ungerechte in jedem Fall unglücklich." Denn dass „ein Mensch, der frevelt und ungerecht ist, doch glückselig sei... das erkläre ich für unmöglich" 9 .

2. Zur Struktur intentionaler Handlungen a) Intentionen und Gegenstände von Handlungen. Der Begriff der intentionalen Basis-Handlung Die Frage nach dem Gutsein von Handlungen tritt unter verschiedenen Aspekten auf 10 . Sie meint hier zunächst: Was ist überhaupt eine gute Handlung bzw. eine schlechte Handlung? Bzw. was meinen wir überhaupt mit „Handlung", wenn wir sie in einem sittlich relevanten Sinne „gut" oder „schlecht", „richtig" oder „falsch" nennen? Diese Frage ist nun die Frage nach dem Handlungsgegenstand. D.h. die Frage danach, was überhaupt an einem Tun jener Gehalt ist, den wir, wenn wir eine sittliche Beurteilung vornehmen, sittlich beurteilen. Wir nennen diesen gegenständlichen Gehalt von Handlungen auch das Handlungsobjekt, und die Identität, die eine Handlung aufgrund dieses Gehaltes besitzt den objektiven Sinn von Handlungen, - wobei wir dabei immer von „menschlichen Handlungen" bzw. „sittlichen Handlungen" sprechen. Die Frage nach dem Handlungsgegenstand zielt immer darauf, eine Antwort darüber zu erhalten, was wir tun. Früher schon (II,l,c) wurde gezeigt, dass auch die Frage danach, „was man tut" immer auch die Frage nach einem „Wozu?" ist. „Was tust du hier" meinte so viel wie

8 Piaton, Gorgias 472c. 9 Ebd. 10 Vgl. auch W. Kluxen, Thomas von Aquin: Zum Gutsein des Handelns, in: Philosophisches Jahrbuch 87 (1980), S. 327-339.

2 . Z U R STRUKTUR INTENTIONALER HANDLUNGEN

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„Wozu liegst du auf dem Bett?"" Diese intentionale Struktur der menschlichen Handlung sei nun erneut aufgegriffen und ihre Analyse vertieft. Es gibt, so sahen wir, eine erste, fundamentale Intentionalität, ein erstes fundamentales „Wozu?", welches nötig ist, damit wir ein konkretes Tun überhaupt als actus humanus (menschliche Handlung) d.h. als willentliche, vernunftgeleitete, wählbare Handlung betrachten können, und nicht nur als ein in physischen Kategorien beschreibbares Ereignis oder Geschehen. Mit „den Arm heben" beispielsweise haben wir noch keine Handlung, sondern lediglich eine Körperbewegung beschrieben. Bevor wir jedoch versuchen, das „Anheben eines Armes" als Handlung zu beschreiben, wird es nützlich sein, zunächst mit Wittgenstein die Frage zu stellen: „... was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass mein Arm sich hebt?" 12 . Wir müssten sagen: Was übrigbleibt ist zumindest mein „den Arm heben Wollen". Damit ist nun allerdings gerade nicht gemeint, dass eine Handlung eine bloße „Körperbewegung" ist, die durch ein (vorhergehendes) „Wollen" ursächlich bewirkt wird (so wie eine Billardkugel eine andere anstößt und in Bewegung versetzt). Das Wollen, das hier „übrigbleibt" ist vielmehr ein Bestandteil der Handlung „den Arm heben". Diese Handlung selbst ist als Körperbewegung auch ein Akt des Willens (im Stadium der Ausführung dessen, was gewollt wird), so dass, wenn wir die bloße Tatsache, dass der Arm sich hebt, abziehen, begrifflich das Wollen des Armhebens übrigbleibt. Dieses Wollen war bereits vorhanden, bevor die Tatsache eintraf, „dass mein Arm sich hebt" (wie es auch sein kann, dass jemand nur versucht den Arm zu heben; er will es, ohne dass die Tatsache, „dass sein Arm sich hebt" eintrifft). Jedenfalls ist auch ein solches Wollen immer „Wollen des Armhebens". Das Wollen selbst, als dieses und nicht ein anderes Wollen, kann nicht ohne den Bezug zum Heben des Armes beschrieben werden. Folglich sind beides, das „Wollen" und das „Heben des Armes", in einem gewissen Sinne identisch. Im Streit zwischen den sog. „Kausalisten" und „Intentionalisten" dürften deshalb wohl beide Positionen ein Stück weit recht haben: „Intentionalisten" sagen, das „Wollen", das eine Absicht impliziert, sei tatsächlich nicht von der Handlung selbst unterscheidbar; „Wollen" und „Körperbewegung" seien nicht zwei voneinander abtrennbare Ereignisse; vielmehr sei eine Handlung erst verstehbar, wenn man sie als Einheit von Absicht (Wollen) und Körperbewegung versteht: Die Handlung ist die Körperbewegung „unter einer Beschreibung" (d.h. eine mit einer bestimmten Absicht vollzogene Körperbewegung). Daraus kann man aber kaum schließen, wie dies Intentionalisten tun, dass der

11 Das ist das grundlegende Anliegen der sog. „Intentionalisten", wie G. E. M. Anscombe. Vgl. auch A. I. Melden, Free Action, London 1961. Auszugsweise in deutscher Übersetzung: Freie Handlungen, in: A. Beckermann (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie, Bd. 2, a. a. O., S. 120-167. 12 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 621, Frankfurt/M. 1967, S. 196. Im vorhergehenden Satz heißt es: „Aber vergessen wir eines nicht: wenn ,ich meinen Arm hebe', hebt sich mein Arm." Dieser Satz enthält eine eigenartige Vermischung von Handlungs- und Beobachterperspektive. Die Tatsache, dass „mein Arm sich hebt", ist eine Beobachtung von außen; „ich hebe meinen Arm" hingegen ist der Vollzug einer Handlung. Dass „ich meinen Arm hebe" (= Handlung) kann man nicht beobachten; beobachten lässt sich nur, dass „mein Arm sich hebt" (= Tatsache). Deshalb ist die Formulierung Wittgensteins „die Tatsache, dass ich meinen Arm hebe" unrichtig; „ich hebe meinen Arm" ist nämlich gar keine Tatsache, bzw. es ist als Tatsache immer auch mehr als eine solche.

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I I I . SITTLICHE H A N D L U N G E N UND PRAKTISCHE V E R N U N F T

Wille (die Absicht oder Intention) die Handlung nicht verursache; dass also zwischen Wille und Handlung kein Kausalnexus bestehe. Dennoch ist es nicht nötig, nun (dualistisch) einen „Geist in der Maschine" (G. Ryle) anzunehmen, d.h. einen „Willen", der eine bestimmte Körperbewegung „in Gang bringt". Es genügt zu verstehen, dass Handlungen ein bestimmtes Stadium des Aktes des Willens selbst sind. Im Armheben bringt sich der Wille selbst zur Ausführung einer bestimmten Körperbewegung, die aber, damit sie zur Ausführung gelangt, eben zunächst gewollt sein muss, dann aber im Stadium der Ausführung selbst wiederum diesen selben Willen impliziert, sich ohne ihn also gar nicht ereignen würde. Wir haben damit zwei Akte des Willens: (1) Der Wille als mit einer Absicht wählender Wille (die aristotelische prohairesis: ein Entschluss, etwas zu tun); und (2), in diesem Fall, die Körperbewegung des Armhebens, die eben selbst wiederum ein Vollzug des Willens ist: Das Armheben selbst ist j a wiederum ein „Wollen", nun aber im Stadium der Ausführung dessen, was gewollt wird. Ein solcher Akt des Willens ist, was man in der Scholastik einen actus imperatus des Willens nannte (vgl. unten III, 5,d). Deshalb auch ist das Armheben tatsächlich mit dem Wollen des Annhebens identisch, zugleich aber auch mehr, als die bloße „Tatsache, dass der Arm sich hebt" , 3 . Ein solches W o l l e n bezieht sich nun aber auf den V o l l z u g des Armhebens in der D i m e n s i o n eines „Wozu?", - sofern eben „den A r m heben" eine menschliche Handlung ist. Und damit ist die Handlung des Armhebens intentional gesehen immer schon mehr als das bloße Geschehen, dass ein A r m sich hebt; z.B. „ein Startzeichen geben" oder „jemanden grüßen". S o ist auch das fundamentale intentionale „Was man tut", w e n n man auf dem Bett liegt, z.B. „sich ausruhen". Wir wollen das eine intentionale Basis-Handlung nennen. Solche Handlungen befinden sich, w i e früher (II, 1, c) bereits erwähnt wurde, gleichsam auf der „untersten Schwelle" intentionaler Strukturierung' 4 . Damit ist, um es zu wiederholen, gemeint, dass es eben gar nicht möglich ist, das Tun „auf dem Bett liegen" in dieser Weise zu wählen, d.h. zum Gegenstand einer Handlung zu machen. Wenn wir „auf dem Bett liegen" wählen, so wählen wir immer „uns erholen", oder „faulenzen", oder „eine YogaÜbung-Machen"; usw. Die Beschreibung, in bezug auf die wir das physische Tun wählen, ist der intentionale Gehalt, das „Wozu?" der Handlung. Entscheidend ist hier also, dass der Begriff der Handlung einen handlungsbestimmenden Akt des wählenden Willens mit einschließt. Handlungen können nur als gewählte Akte beschrieben werden und das heißt: sie b e s i t z e n immer schon eine intentionale Basisstruktur. „Sich ausruhen" kann man ja wiederum tun um eines anderen „Wozu?" willen", zum Beispiel: „sich

13 Vgl. dazu die differenzierten und, wie mir scheint, vermittelnden Ausführungen von A. Maclntyre, Was dem Handeln vorhergeht, in: A. Beckermann (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie Bd. 2, a. a. O. 168-194. Zu Wittgensteins Beispiel des Armhebens vgl. aus thomistischer Sicht S. L. Brock, Action and Conduct. Thomas Aquinas on the Theory of Action, Edinburgh 1998, S. 174 ff. 14 Eine „intentionale Basis-Handlung" ist deshalb davon zu unterscheiden, was Arthur C. Danto „Basis-Handlung" nennt: Die letzten, aus keinen weiteren Handlungselementen mehr zusammengesetzten physischen Elemente von Handlungen; z.B. „einen Arm bewegen". Diese Elemente sind selbst keine Handlungen mehr. Falls das stimmt - Handlungen also ohne intentionalen Gehalt gar nicht beschrieben werden können - , dann ist Dantos Begriff der Basis-Handlung falsch. Vgl. A. C. Danto, Basis-Handlungen, in: G. Meggle (Hrsg.) Analytische Handlungstheorie, Band 1, Frankfurt/M. 1985, S. 89-101. Eine Kritik, der m. E. weitgehend zuzustimmen ist, bietet: R. Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft. Grundbegriffe praktischer Philosophie. Neuausgabe mit einem Anhang, Frankfurt/M. 1982, S.91-100.

2 . Z U R STRUKTUR INTENTIONALER H A N D L U N G E N

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ausruhen, um eine Arbeit zu beenden". Insofern wäre es auch möglich, auf die Frage „Was tust du?", gerichtet an jenen, der auf dem Bett liegt, zu antworten mit „Störe mich nicht, ich bin dabei meine Doktorarbeit zu beenden". Die Antwort wäre für den Fragenden vielleicht nicht unmittelbar verständlich; aber sie ist richtig. Denn sie gibt den Grund, das „Wozu?" des „Auf dem Bett-Liegens" an. Während also „sich ausruhen" bereits das „Was" einer in sich sinnvollen menschlichen Handlung definiert, so wird der Gehalt dieses „Was" durch die Angabe „um die Doktorarbeit zu beenden" gleichsam noch zusätzlich bereichert. Wir finden demnach das „Wozu?", das ein „Was" definiert auf mindestens zwei Ebenen vor: Die erste ist die Ebene, auf der sich eine konkrete Handlung überhaupt als menschliche Handlung und damit als „zu tun" wählbare Handlung, d.h. als intentionale Basis-Handlung definiert: Wir nennen dies - d.h. den intentionalen Basis-Gehalt einer solchen Handlung - das Handlungsobjekt im eigentlichen und engeren Sinn. Die zweite ist jene Ebene, auf der sich die überdies hinzukommende Absicht befindet, um derentwillen diese konkrete Handlung gewählt wird. Diese „Absicht" nennen wir die Intention im eigentlichen und engeren Sinne15. Es geht hier um eine terminologische Klärung, die viele Missverständnisse vermeiden hilft. Handlungstheoretisch gesprochen sind alle Gegenstände von Handlungen immer auch Intentionen, das heißt es liegt ihnen ein willentliches „Wozu?" zugrunde. „Auf dem Bett liegen" ist noch kein Handlungsgegenstand. Wohl aber „Sich ausruhen". Denn darin ist das „Wozu?" von „auf dem Bett liegen" enthalten. Und „auf dem Bett liegen" kann überhaupt nur „unter der Beschreibung des Wozu", in dieser Logik eines „Wozu?" gewählt werden. In einer anderen Hinsicht müssen wir aber sagen: Es ist von Wichtigkeit, intentionale BasisHandlungen zu unterscheiden von weiteren, hinzukommenden Intentionalitäten. So gelangen wir zur Unterscheidung von Handlungsgegenständen und dem, was oben Intention im engeren Sinn genannt wurde: jenes Weitere, auf das wir eine konkrete, gewählte Handlung überdies noch hin ordnen, das heißt: nicht das „Wozu wir wählen, was wir tun" (so wählen wir „auf dem Bett liegen, um uns auszuruhen") - das „Wozu?" gibt hier an, „was" wir überhaupt sinnvoll tun, und konstituiert demnach die intentionale Basis-Handlung - , sondern „Wozu (oder: Worum willen) wir dieses ,was wir tun' eigentlich tun", wozu wir es also überdies noch wählen (so wählen wir „uns ausruhen" um der „Beendigung der Arbeit" willen; bzw. wir wählen „auf dem Bett liegen, um uns auszuruhen", und das wiederum „um die Arbeit zu beenden"). Dieses Weitere, um dessentwillen wir konkrete menschliche Handlungen wählen, nennen wir ja auch im allgemeinen die Intention mit der man eine (in sich bereits intentional beschreibbare) Handlung vollzieht. Nun ist aber dennoch zu sagen, dass auch diese Intention selbst wiederum den Charakter eines Ü&ndhmgs-Gegenstandes besitzt, und insofern entscheidet eben auch sie in einer weiteren Hinsicht über das „was" wir eigentlich tun. Einen, den wir am helllichten Tag auf dem Bett liegend antreffen, den würden wir vielleicht zunächst einmal als einen Faulenzer betrachten, weil wir (falls wir ihn nicht weiter kennen) vermuten, er tue das aus Faulheit oder um sich von einer durchzechten Nacht zu erholen. Sobald wir aber wissen, dass er das tut, um eine 15 Konsequentialistische Ethiker neigen dazu, diesen Unterschied einzuebnen; s. dazu M. Rhonheimer, „Intrinsically Evil Acts" and the Moral Viewpoint: Clarifying a Central Teaching of Veritatis splendor, in: The Thomist, 58,1 (1994), S. 1-39; und: Intentional Actions and the Meaning of Object: A Reply to Richard McCormick, in: The Thomist 59,2 (1995), S. 279-311; wiederabgedruckt in: J. A. Di Noia und R. Cessario, (Hrsg.), Veritatis splendor and the Renewal of Moral Theology, Princeton-Huntington-Chicago 1999, S. 241-268.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

anstrengende Arbeit besser zu Ende zu bringen, so werden wir gerade die gegenteilige Meinung von ihm bekommen. So lesen wir bei Aristoteles: „Wenn der eine dem Gewinn zuliebe Ehebruch begeht und noch Geld dazu bekommt, der andere dieselbe Untat aus Wollust verübt, so dass er Geld dafür ausgibt und Einbuße erleidet, so scheint der letztere eher zuchtlos als habsüchtig zu sein, der erstere dagegen ungerecht, nicht zuchtlos, und zwar des erstrebten Gewinnes wegen" ,6 . „Ehebruch" definiert hier ein Handlungsobjekt, das in beiden Fällen identisch ist und in sich eine menschliche, wählbare Handlung definiert mit intentionaler Binnenstrukturierung. Dazu kommt nun noch ein weiteres „Wozu?", die Intention im engeren Sinne.

Das „Was" man eigentlich tut, und damit auch das Gute, das man im Handeln verfolgt, ist demnach komplex strukturiert. Es besteht aus dem, was man „Mittel" und „Ziel" nennt17. b) Mittel und Ziele Wenn wir von „Mitteln" sprechen, so denken wir freilich zunächst an Werkzeuge wie Hämmer und Feilen, oder an Geldmittel, Arzneimittel und ähnliches. Bei Aristoteles finden wir aber überhaupt kein entsprechendes Wort für „Mittel". Das Griechische kennt nur den von Aristoteles immer wieder gebrauchten Ausdruck ta pros to telosn. Gleich verhält es sich bei Thomas: Der griechische Ausdruck findet sich bei ihm übersetzt als ea quae sunt adfinem, „jenes, was zum Ziel hin ist", oder ein wenig schöner: „Was auf ein Ziel hin geordnet ist", „was auf ein Ziel ausgerichtet ist". Dieses „was auf ein Ziel ausgerichtet ist" ist nun nichts anderes, als eine konkrete, wählbare oder gewählte menschliche Handlung. „Mittel", und so wollen wir den Ausdruck verwenden, sind konkrete Handlungen, die gewählt und vollzogen werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Ein Mittel ist also zumindest eine intentionale Basis-Handlung, nicht aber sind Mittel die ontischen - physischen - Elemente von intentionalen Basis-Handlungen (wie Körperbewegungen, Werkzeuge, dingliche Gegenstände, physische Ereignisse). So ist „sich ausruhen" ein Mittel, und zwar hinsichtlich des Zieles „eine Arbeit beenden". Auch der von Aristoteles genannte Ehebruch ist ein Mittel, sei es um des Zieles eines sexuellen Erlebnisses oder des Gelderwerbes willen. „Auf dem Bett liegen" hingegen ist kein Mittel in diesem Sinne, um das Ziel „sich ausruhen" zu erreichen. Das heißt: Es ist nicht ein Mittel im hier interessierenden Sinn, denn es definiert keine menschliche Handlung (keine intentionale Basis-Handlung), bzw. kein praktisches Gut, sondern es ist Mittel nur in einem physischen Sinn, genau so, wie eine bestimmte Art Tablette ein „Mittel" gegen Kopfschmerzen ist. Aber gerade dies ist hier mit „Mittel" nicht gemeint. 16 EN V, 2 1130a 24— 27. 17 Vgl. dazu auch die bereits angeführten Arbeiten von A.W. Müller, Praktische und technische Teleologie, a. a. O. S. 43 ff.; Praktisches Folgern und Selbstgestaltung ..., a. a. O. S. 224. 18 Vgl. die ausführliche Untersuchung von M. Ganter, Mittel und Ziel in der praktischen Philosophie des Aristoteles, Freiburg/München 1974 (Alber Symposion 45). M. C. Nussbaum, The Fragility of Goodness, Cambridge 1986, S. 297, weist darauf hin, dass in einem gewissen Sinn die „pros to telos" nicht nur „what is towards the end", sondern auch „what pertains to the end", also nicht nur Wege zum Ziel, sondern auch Bestandteile des Ziels sind. Das stimmt gerade insofern, als das „Mittel" das Ziel antizipiert und verwirklicht, es also nicht bloß als „Instrument" verstanden wird (das ja nach Erreichung des Ziels seine Bedeutung verlöre).

2 . Z U R STRUKTUR INTENTIONALER H A N D L U N G E N

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Bezeichnen wir mit „X" eine Tablette, die gegen Kopfschmerzen wirkt, so ist „X schlucken" ebensowenig wie „den Arm heben" eine intentionale Beschreibung einer Handlung, sondern lediglich eine Beschreibung dessen, was geschieht; aber sie gibt keinen Aufschluss darüber, was hier getan wird, d.h. was gewählt wurde, weil die Beschreibung eines jeglichen „Wozu?" fehlt. „Was tut" eigentlich jemand, der Morphium einnimmt? Wir können das doch gar nicht sagen, wenn wir nicht wissen wozu er das tut. Wir können nur angeben, worin der physische oder ontische Handlungsverlauf besteht, der bei einem dreijährigen Kind, das gar nicht weiß, was es tut, derselbe ist, wie bei einem Erwachsenen, der „Morphium einnehmen" in einer intentional beschreibbaren Weise, d.h. im Horizont eines „Wozu?" wählt. Die Handlung „X schlucken" ist als solche betrachtet kein praktisches Gut, keine sinnvoll wählbare und vollziehbare Handlung. Als etwas im praktischen Sinne Gutes wird diese Handlung erst im Horizont eines „Wozu?", das „X schlucken" als intentionale Handlung definiert, gewählt und vollzogen. So erst wird die Handlung „X schlucken" zur Handlung „Einnehmen einer Arznei gegen Kopfschmerzen". Diese intentionale Handlung können wir nun als Mittel bezeichnen, das um des Zieles „Kurieren von Kopfschmerzen" willen gewählt wird (ein Ziel, das man ja auch durch andere Mittel als das Einnehmen einer Tablette gegen Kopfschmerzen zu erreichen suchen könnte). Das „Wozu?", das im Schlucken von X selbst liegt, definiert die Handlung als menschliche - als intentionale Basis-Handlung - , und als solche allein kann sie auch sinnvollerweise gewählt werden. Und so sprechen wir von „Mitteln" im hier interessierenden Sinn. Aus diesem Grund wäre es falsch zu sagen, man wähle „X schlucken" als Mittel, um „eine Arznei gegen Kopfschmerzen einzunehmen". Das „um zu" ist hier gerade das „Wozu?", das die Handlung als intentionale Handlung konstituiert. So vollzieht ein naschendes Kind, das X schluckt, eben nicht die Handlung „eine Arznei gegen Kopfschmerzen einnehmen", obwohl auch hier X ein „Mittel" gegen Kopfschmerzen ist. Und man kann auch auf dem Bett liegen, ohne die Handlung „sich ausruhen" zu vollziehen, obwohl es so aussieht, als ob man sich ausruhe. Deshalb ist auch „den Arm heben" nicht ein Mittel hinsichtlich des Zieles „jemanden grüßen". Vielmehr ist „den Arm heben" die intentionale Handlung .jemanden grüßen" selbst. „Jemanden grüßen" kann jedoch wiederum ein Mittel sein z.B. um dem betreffenden die eigene Wertschätzung auszudrücken oder um seine Zuneigung zu erwerben. Ebenso wäre es auch - im Beispiel „Ehebruch" - , unsinnig zu sagen, jemand suche Sexualverkehr mit X als „Mittel", um mit X ein sexuelles Erlebnis zu haben. Man sucht vielmehr das sexuelle Erlebnis mit X im Sexualverkehr mit X. Mehr als die physische Handlung „Sexualverkehr" wählt man also das „Wozu" derselben d.h. das sexuelle Erlebnis mit X. Ebenfalls ist in dem hier interessierenden Sinne „Geld auf das Bankkonto einzahlen" kein „Mittel" um zu sparen. Das „Sparen" selbst ist hier vielmehr das „Wozu", welches das materielle Tun „Geld einzahlen" erst als menschliche (intentionale) Basis-Handlung konstituiert. „Mittel" sind demnach immer intentional definierte menschliche Handlungen; Handlungen also die gewählt sind, und insofern sie Gegenstände von Wahlakten sind, d.h. vernunftgeleitetem Willen entspringen (Handeln aus sogenannter Willensschwäche sei hier zunächst ausgeklammert). Insofern eine konkrete intentionale Handlung überdies auf weitere Ziele gerichtet und um dieser willen gewählt wird, besitzt sie auch den Charakter eines Mittels (wobei ein Ziel wiederum Mittel zu einem übergeordneten Ziel sein kann). Wir können dasselbe aber auch umgekehrt, gleichsam von oben nach unten betrachten: Wer sich ein Ziel setzt, sucht nach Mitteln, um es zu erreichen. Wer gesund werden will, sucht

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

nach Mitteln, um gesund zu werden. Er wählt z.B. eine Badekur. Das Beispiel der Gesundheit, von Aristoteles immer wieder als anschauliche Analogie herangezogen, ist allerdings verfänglich, weil es in vielen Fällen eher die Struktur von Kunsthandeln, also technische ZweckMittel-Relationen trifft (wie „Morphium einnehmen, um Schmerzen zu lindern"). Oft sind jedoch „Mittel" um gesund zu werden, wirklich als menschliche Handlungen beschreibbar (so die Badekur, oder irgend eine Form von sportlicher Betätigung: Wenn man einen Jogger sieht, weiß man „was" er im Sinne einer intentionalen Handlung tut, auch wenn man ein weiteres „Wozu?" im Sinne der Intention nicht kennt: gesund bleiben, länger leben, effizienter arbeiten, die Natur genießen usw.); in anderen Fällen aber weiß man es nicht (z.B. bei „Morphium einnehmen"; oder wer nicht weiß, was ein Spiel ist, der wird sich wohl beim Ansehen eines Fußballspiels vergeblich fragen, warum denn zweiundzwanzig Leute hinter einem Ball herlaufen; d.h. er weiß nicht, was sie überhaupt tun). Unverfänglicher ist hier das andere Beispiel: Wer seine Arbeit zu Ende bringen will und erschöpft ist, sucht nach Mitteln, um die Arbeit zu Ende zu bringen: Er wählt das Mittel „sich ausruhen" (und nicht „auf dem Bett liegen"). Wer seinem Sohn eine besonders gute Ausbildung garantieren will, wählt „sparen" und nicht „Geld auf ein Konto einzahlen"; ob er nun Geld auf ein Konto einbezahlt oder es zu Hause im Safe aufbewahrt, das sind nur zwei verschiedene Arten der Ausführung der intentionalen Handlung „sparen". So betrachtet sind also Mittel, d.h. die konkreten Handlungen, die um eines bestimmten Zieles willen gewählt werden, eine Art Konkretisierung der Zielintention im Handeln, bzw. eine Antizipation des Zielgutes durch Handeln. Wer sich ausruht, um die Arbeit zu beenden, der ist eigentlich schon dabei, seine Arbeit zu beenden. Wer spart, um seinem Sohn eine besondere Ausbildung zu ermöglichen, der ist ja, im Akt des Sparens, bereits daran, dem Sohn die Ausbildung zu ermöglichen. Das „sich Ausruhen" ist hier Teil des Handlungsgefüges „eine bestimmte Arbeit verrichten"; das Sparen ist ebenso Teil des Handlungsgefüges „Ausbildung des Sohnes". So organisiert sich menschliche Praxis zu einem sinnvollen Ganzen, zu einer intentional organisierten Struktur, zu einem Lebensvollzug. c) Wählen und Intendieren als Willensakte und ihre intentionale Einheit Menschliche Handlungen werden um eines bestimmten Zieles willen gewählt. Wer eine Handlung wählt und sie vollzieht, der intendiert im Akt des Wählens und im Akt des Vollzugs ein Ziel. Sowohl das Wählen, wie auch das Intendieren eines Zieles, um dessentwillen gewählt wird, sind Akte des Willens, d.h. vernunftgeleitete Strebeakte. In jedem Wollen, so komplex es auch sein mag, ist immer praktische Vernunft die leitende Erkenntnisquelle. Praktische Vernunft besitzt potentiell unendliche Möglichkeiten, Praxis intentional zu organisieren und zu strukturieren. Wir nennen den Willensakt, der sich auf den Vollzug einer konkreten Handlung (Mittel) richtet, Handlungswahl oder einfach „Wahl" (Aristoteles: prohairesis\ Thomas: electio) oder aber „Wahlakt des Willens", bzw. „wählenden Willen" (voluntas eligens). Der Willensakt, der im Wählen und Handeln ein weiteres Ziel intendiert, nennen wir die Zielintention oder einfach „Intention" (Thomas: intentio), bzw. „intendierenden Akt des Willens" oder „intendierenden Willen" (voluntas intendens)19.

19 Bei Aristoteles fehlt ein eigenes Wort für den Begriff der Intention. Das ist wohl eines der Haupt-

2 . Z U R STRUKTUR INTENTIONALER HANDLUNGEN

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Die Handlungswahl, wie aus dem bisher Dargelegten klar geworden sein sollte, richtet sich immer auf ein praktisches Gut, das in einer konkreten Handlung erreicht werden kann. Sie bezieht sich auf das, was von uns getan werden kann, und was Mittel zum Zweck ist 20 . Die Handlungswahl ist „ein überlegtes Begehren von etwas, was in unserer Macht steht" 21 und das grundsätzlich auch immer so oder anders sein kann. Zielintentionen (Absichten) hingegen beziehen sich auf praktische Güter, die nicht im Bereich des unmittelbaren Handelns liegen, und deshalb eben durch Handlungswahl konkretisiert, dem Handeln gewissermaßen zugänglich gemacht werden müssen. Wenn es Eltern unmöglich ist, ihren Kindern die Ausbildung zu finanzieren, sie aber dennoch diese Absicht verfolgen, so suchen sie nach Mitteln, damit „Finanzierung der Ausbildung der Kinder" für sie ein vollziehbarer Handlungsgegenstand wird. Das Mittel heißt z.B.: Konsumverzicht und Sparen. Eine Handlungswahl (= Mittelwahl) bringt also das Ziel auf eine Ebene herunter, auf der es praktisch, d.h. durch Handeln verfügbar und somit erreichbar wird. Deshalb bezeichnet Aristoteles (intentional) das Ziel als den „Anfang der Handlung" (denn mit einer Zielintention beginnt Streben und praktische Überlegung); praktische Vernunft erbringt die Leistung, diesen Anfang der Handlung auf den Handelnden selbst zurückzuführen 22 . „Etwas intendieren" ist also bereits eine potentiell praktische Art, etwas zu wollen: Intentionen führen zum Überlegen, zum Wählen und zum Handeln. Deshalb ist „Intendieren" zu unterscheiden vom „bloßen Wollen" oder „Wünschen" 23 . Ein Wunsch ist keine Intention. Denn was man bloß wünscht, führt nicht zum Handeln, wie etwa: „Wenn er doch nur noch lebte ...", „ich wünschte, ich wäre so reich wie er ...". Jemand, der überzeugt ist, dass er unheilbar krank ist, wünscht wahrscheinlich dennoch gesund zu sein. Sofern er aber sicher ist, dass kein Mittel das ermöglichen kann und er deshalb auch keine sucht, so intendiert er auch nicht, gesund zu werden und es bleibt beim bloßen Wollen oder Wünschen. Etwas Intendieren heißt zugleich immer auch, Mittel - Handlungen - zu suchen, durch die es möglich wird, das Intendierte zu erreichen. Dies zeigt, dass, was man eigentlich oder in erster Linie will, wenn man etwas wählt und tut, gar nicht das ist, was man wählt oder tut, sondern jenes, das man mit diesem Wählen oder Tun (besser: in ihm) intendiert. Was der Politiker, der im Wahlkampf wohltätig ist, um in der öffentlichen Meinung gut dazustehen, eigentlich will, ist ja gar nicht „Wohltätigkeit", „soziale Gerechtigkeit" oder dergleichen; sondern er will eher bewundert werden und Wählerstimmen sammeln. Letztlich entscheiden also die Intentionen über den Gehalt (und damit auch den Wert) unserer Handlungen, weil sie es letztlich sind, die darüber entscheiden, was wir eigentlich wollen und was wir eigentlich tun.

20 21 22 23

defizite seiner Handlungstheorie. Vgl. G.E.M. Anscombe, Thought and Action in Aristotle, in: J. Barnes / M. Schofield / R. Sorabji (Hrsg.), Articles on Aristotle, Bd. 2, New York 1977, S. 61-71; und A. Kenny, Will Freedom and Power, Oxford 1975 (vgl. auch den oben, II,c zitierten Artikel von Kenny). Freilich kennt auch Aristoteles eine vom Akt der Prohairesis zu unterscheidende „Zielsetzung". Aber es fehlt ihm dafür ein eigener handlungstheoretischer Begriff. Ausführlich M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O., S. 229 ff. Vgl. EN III, 3 1112b 32-33. Zur Thematik der electio siehe I—II, q. 13 und: De Veritate, q.22 a. 15. EN, a.a.O. 1113a 11. EN, ebd. 1113a 6. Vgl. zum Thema „Intention": I—II, q.12; und: De Veritate, q. 22, a.13 und 14.

104

III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

So schreibt Piaton in seinem Dialog „Gorgias": „ - Wollen also nach deiner Meinung die Menschen jedesmal das, was sie gerade tun, oder das, um deswillen sie die Tätigkeit üben? Zum Beispiel, wollen diejenigen, die Arzneien einnehmen nach dem Gebote des Arztes, wollen sie das, das sie tun, nämlich Arznei einnehmen und Schmerzen haben, oder das, um deswillen sie einnehmen, die Gesundheit? - Offenbar die Gesundheit, um deswillen sie einnehmen. - So ist auch bei den Seefahrern und denen, die sonst einem Erwerbe nachgehen, nicht das der Gegenstand des Wollens, was sie gerade tun, - denn wer will auf der See fahren, Gefahren ausstehen und in Not sich befinden? - sondern das, denke ich, wollen sie, um deswillen sie die See befahren: reich werden. Denn um des Reichtums willen machen sie Seereisen - Jawohl. - Nicht wahr, so ist's auch in allen Stücken? Wenn jemand etwas um eines Zweckes willen tut, so will er nicht die Tätigkeit, sondern den Zweck, um deswillen er tätig ist?"24.

Intentionen sind wie die Seele von Wahlakten. So wie die konkrete Handlung vom wählenden Willen „beseelt" ist, so ist die Seele dieses Ganzen wiederum der Wille, der ein Ziel intendiert. Wenn auch „sich ausruhen", „sparen" oder „eine Bank ausrauben" sinnvoll wählbare intentionale menschliche Handlungen sind, so darf man sich fragen: Was soll denn eine solche Handlung, wenn man sich nicht um eines weiteren Zieles willen ausruht, spart, eine Bank ausraubt? Und deshalb sagt uns Thomas, dass der Gegenstand der Handlungswahl und der Gegenstand der Intention eigentlich einen einzigen Handlungsgegenstand (oder ein einziges Willensobjekt) bilden. Das Ziel verhält sich dabei zum Mittel, wie das Licht zur Farbe: Was den Sehsinn zum Sehen bewegt ist Licht und Farbe; aber das Licht bewirkt, dass Farbe überhaupt sichtbar ist. So ist auch unserem Streben sowohl das Mittel wie auch das Ziel gegenständlich; aber das Ziel bewirkt, dass das Mittel überhaupt ein Erstrebtes ist. Das Ziel ist der Grund des Wollens des Mittels. Wie in demselben und einen Akt des Sehens Farbe und Licht gesehen werden, so werden auch in einem einzigen Willensakt Mittel und Ziel gewollt25. Die oben angeführte Ansicht Piatons au dem „Gorgias", dass, wenn jemand etwas um eines Zweckes willen tue, er gar nicht die Tätigkeit will, sondern den Zweck, um deswillen er tätig ist, dass wir also, wenn wir etwas wählen und tun, eigentlich wollen, was wir damit intendieren, bedarf allerdings in zweierlei Hinsicht der Klärung. Erstens bedeutet dies nicht, dass die Intention immer aktuell bewusst ist. Eltern, die sich Tag für Tag um ihre Kinder kümmern und für sie viele Opfer bringen, wählen nicht eine jede konkrete Handlung mit der bewussten Intention „ich beabsichtige jetzt für meine Kinder zu sorgen". Solche Intentionalitäten sind habituell im Willen vorhanden; sie beruhen auf konkret vollzogenen Willensakten, die aber auf Dauer eine Praxis zu „beherrschen" und zu leiten vermögen und auf diese Weise einen Lebensvollzug konstituieren. Zweitens kann dieser Primat des jeweils letzten „Worum-willens" nicht meinen, dass nun die „Moralität der Mittel" ohne Belang wäre. Gegenüber Piaton hat nun gerade Aristoteles diese Perspektive der Moralität der Mittel in den Mittelpunkt gerückt: entscheidend ist nicht nur, dass das letztlich gewollte Ziel richtig ist, sondern auch die Handlungen, die zu diesem Ziel führen. „Letztlich" gute Absichten genügen nicht, damit unsere Praxis gut ist26. 24 Piaton, Gorgias, 467 d. 25 I—II, q.12, a.4; De Veritate, q. 22, a.14. 26 Vgl. zu dieser Perspektivenverschiebung gegenüber Platon P. Aubenque, La prudence chez Aristote,

2 . Z U R STRUKTUR INTENTIONALER HANDLUNGEN

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d) Gute Intention und guter Wille Würden wir nämlich die angeführte platonische Auffassung aus dem Gorgias unkorrigiert stehen lassen, so müssten wir fragen: Ist, wer eine Bank ausraubt, um Bedürftige zu unterstützen, aufgrund dieser Intention eigentlich ein Wohltäter, weil j a das, was er eigentlich will, die Hilfeleistung an Bedürftige ist? Das wäre in der Tat so, wenn menschliches Wollen eine Art Zusammensetzspiel wäre, in dem man Gegenstände der konkreten Handlungswahlakte mit Gegenständen von Intentionen aufrechnen könnte: gleich einer Bilanzierung, in der aufgrund einer guten Intention, mit der eine Untat verübt wird, am Ende doch noch ein Überschuss an intendiertem Gutem bleibt, so dass die Bilanz schließlich positiv ist. Zunächst eine terminologische Klärung: Wenn wir von „Intention" oder „Absicht" sprechen, so können wir das in zweifachem Sinne verstehen: (1) Als Gegenstand (Objekt bzw. Inhalt) eines Willensaktes (das intendierte, beabsichtigte Ziel) und (2) als den Willensakt selbst, der sich auf den betreffenden Gegenstand richtet (den Akt des Intendierens eines Zieles, den Akt des Beabsichtigens)21. Gegenstände von Intentionen, also „Intention" im Sinne von (1), können wir unterscheiden von Gegenständen von Wahlakten. Sobald wir jedoch von „Intention" im Sinne von (2) sprechen, so sprechen wir über einen Akt des menschlichen Willens. Es ist aber unmöglich, den intendierenden und den wählenden Akt des Willens als jeweils zwei verschiedene Akte des Willens zu unterscheiden. Vielmehr handelt es sich um einen einzigen Willensakt in dem ein Mittel um eines Zieles willen gewollt wird; und dieser Akt des Willens konstituiert demnach auch eine einzige intentionale Handlung. Und damit zurück zu unserem Beispiel: Falls der Bankraub gelingt, so wird der Täter das Ziel erreichen, Bedürftigen zu helfen. Die zu lösende Frage ist jedoch nicht, ob er dieses Ziel erreicht, sondern ob sein Wille trotz der Tatsache, dass er eine an sich ungerechte Tat vollzieht, ein guter, d.h. hier: ein gerechter Wille sein kann. Das hängt nicht davon ab, ob er das Ziel, den Bedürftigen zu helfen, erreicht. Denn das faktische Erreichen dieses Zieles kann ja nicht dafür entscheidend sein, ob nun sein Wille gut ist. Würden wir uns mit einer solchen Antwort begnügen, dann hieße das, die Mittel-Ziel Relation rein instrumenteil aufzufassen und damit die Perspektive der Moral zu verpassen. Denn - in einer ethisch relevanten handlungstheoretischen Perspektive - wird ja das Ziel nicht einfach „durch" das Mittel, sondern eher „im" Mittel erreicht. Eine Handlung, die um der Gerechtigkeit willen vollzogen wird, muss bereits als Handlung (d.h. als Mittel) „gerecht" sein. Denn für das Gutsein der Intention „Bedürftige unterstützen" selbst ist j a allein entscheidend, ob diese Intention Gerechtigkeit und wirklichem Wohlwollen entspricht. Folglich ist das gewählte Mittel eine Handlung, durch die man das Ziel „Gerechtigkeit" oder „Wohlwollen" intendiert. Nur deshalb ist j a das Ziel und die Intention „Bedürftigen helfen" überhaupt gut und kann auch das Mittel - insofern es eben ein Mittel ist - gut sein. Da nun „ein

Paris 1963. Dazu auch ausführlich M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a.a.O., S. 231 ff. (für wesentliche Vorbehalte an Aubenques Interpretation vgl. ebd., S. 344 f.). 27 So bezeichnen wir analog etwa mit dem Wort „Glauben" sowohl den Akt des Glaubens als auch seinen Gegenstand oder Inhalt. Im ersten Sinn heisst es dann z.B: „Er hat einen starken Glauben" oder „mit ihrem Glauben vermag sie Berge zu versetzen"; im zweiten Sinne spricht man vom christlichen, jüdischen, islamischen usw. Glauben oder etwa vom Glauben an Engel, vom Glauben an ein Leben nach dem Tod usw.

106

III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Mittel um eines Zieles willen wählen" ein einziger Willensakt ist, der eine einzige intentionale Handlung konstituiert, kann die Antwort nur lauten: Auch wenn durch die in sich ungerechte Handlung „Bankraub" das Ziel, den Bedürftigen zu helfen, tatsächlich erreicht wird, so kann durch sie dennoch nicht das Ziel „Gerechtigkeit" erreicht werden, d.h. jener Aspekt des Zieles, aufgrund dessen „Bedürftigen helfen" überhaupt gut ist. Denn es ist selbstwidersprüchlich, durch einen Akt der Ungerechtigkeit das Ziel „Gerechtigkeit" erreichen zu wollen. (Das einzige, was man erreichen kann, ist eine Hilfeleistung für Bedürftige, die zwar als solche sehr wohl einer Forderung der Gerechtigkeit entsprechen kann, als Handlung aber nicht unter die Beschreibung einer gerechten Handlung fallen kann.) Die Handlung „Bankraub" könnte man hier nur unter der Voraussetzung rechtfertigen, dass das intendierte Ziel gar nicht aufgrund seiner Entsprechung mit „Gerechtigkeit" oder „Wohlwollen" gut ist. Dann aber wäre es nicht mehr einsichtig, weshalb man denn Bedürftigen überhaupt helfen soll, bzw. weshalb überhaupt die Intention „Bedürftigen helfen" gut ist. Dieser Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn wir uns daran erinnern, dass sittliche Handlungen immanente Tätigkeiten sind. Durch Handeln, und das heißt nun eben: durch Wählen von Handlungen und Intendieren von Handlungszielen verändern wir uns selbst, werden wir bessere oder schlechtere Menschen. Der Mensch ist nicht, was er produziert und in seiner Umwelt bewirkt. Er ist, was er will. Durch sein Wollen macht sich das handelnde Subjekt zu einem solchen oder anderen Menschen. Und zum Wollen gehört nicht nur das Intendieren, sondern auch das Wählen. Dadurch dass der Mensch handelt, also sich praktisch-strebend zu solchen Gütern verhält, die im Handeln verfügbar sind, dadurch also, dass der Mensch wählt und intendiert, bewegt er sich gleichsam in die Richtung dessen, was er erstrebt. Wer Gerechtigkeit erstrebt und gerechte Handlungen wählt, der bewegt sich auf Gerechtigkeit hin, wird also ein gerechter Mensch. Dieses Sich-auf-etwas-hin-bewegen ist freilich als Metapher zu verstehen. Es bringt jedoch zum Ausdruck, dass der handelnde Mensch vor allem sich selbst verändert. Es ist nicht nur wichtig, welchen Zustand der Welt Menschen durch ihr Handeln hervorbringen, sondern auch, was für eine Art von Menschen diejenigen sind, die solche Zustände hervorgebracht haben. Denn ob sie gute oder schlechte Menschen sind, das gehört ja ebenfalls zum Zustand der Welt. Dass wir in allem, was wir als Mittel wählen und tun, letztlich das Ziel wollen, um dessentwillen wir ein konkretes Tun gewählt haben, heißt demnach: Nachdem wir ein ursprüngliches zielintendierendes Wollen durch Überlegung auf die Ebene der Praxis heruntergebracht haben, so dass wir nun eine konkrete Handlung als „Mittel zum Ziel" wählen, so wollen wir nun eben gleichermaßen in diesem Mittel eigentlich das Ziel: d.h. das Wollen des Zieles läuft gleichsam durch das Wollen des Mittels hindurch. Was wir eigentlich wollen, ist das Ziel; aber dieses wollen wir gerade dadurch, dass wir ein Mittel wollen. Wer demnach eine Bank ausraubt, um Bedürftigen zu helfen, der ist einer, der eine Bank ausrauben will, - und darin Wohltätigkeit oder Gerechtigkeit intendiert. Nur die Intention im Sinne von (1), also der Gegenstand des intendierenden Willens, ist hier gut; nicht aber der zielintendierende Akt des Willens; denn dieser ist ja derselbe, wie der Akt des Willens, der den Bankraub wählt. Wenn die Intention im Sinne von (1) gut ist, so ist dieser Wille vielleicht „sympathischer" und weniger schlecht, als der Wille desjenigen, der eine Bank ausraubt, um Terroristen Waffen zu beschaffen. Aber er bleibt ein ungerechter Wille und der Handelnde ein ungerechter Mensch. Der Wille des Handelnden ist demnach entweder ein guter oder ein schlechter Wille;

2 . Z U R STRUKTUR INTENTIONALER HANDLUNGEN

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er kann nicht teilweise gut und teilweise schlecht sein, nur mehr oder weniger gut, oder aber mehr oder weniger schlecht. Das ist mit dem klassischen Grundsatz gemeint, dass das Gute jeweils einer Ursache ohne jeglichen Mangel bedürfe für die Entstehung des Üblen jedoch schon irgend ein Mangel genüge: bonum ex integra causa, malum ex quocumque defectu28. So existiert ein Wirkzusammenhang zwischen dem, was man zu tun wählt und dem was man mit diesem Tun intendiert. Es gibt so etwas wie „moralische Kompetenz". Und man ist moralisch inkompetent, wenn man Gerechtigkeit mit Mitteln zu erreichen sucht, die selbst ungerecht sind. Schon deshalb kann ein guter Zweck ein schlechtes Mittel nicht heiligen. Die konsequentialistisch-utilitaristische Interpretation des Satzes „Ein guter Zweck heiligt jedes Mittel" ist gegen diese Argumentation allerdings immun und hier deshalb auch noch nicht widerlegt. Ein konsequentialistischer Ethiker wird das hier Gesagte für schlicht gegenstandslos halten, dies aus Gründen, die später darzulegen und zu diskutieren sein werden (vgl. dazu V,4,c und f). Das eben angeführte Argument, der handelnde Mensch verändere vor allem sich selbst, klingt nun sehr egoistisch. Da geht es offenbar, so könnte es scheinen, nur um die eigene Vollkommenheit, also darum, selbst möglichst saubere Hände zu behalten. Auf diesen möglichen Einwand sei hier noch nichts Weiteres gesagt als das Folgende: Wenn das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" tatsächlich ein Grundprinzip zwischenmenschlichen Verhaltens und der Moral ist (was wir aufgrund seiner Evidenz annehmen dürfen), dann müssen wir zunächst einmal wissen, was „sich selbst lieben" heißt. Denn das „sich selbst lieben" wird hier ja als Maßstab der Nächstenliebe aufgestellt. Das „sich selbst lieben", das hier angesprochen ist, ist nun aber gerade nicht Egoismus. Denn eine egoistische Selbstliebe könnte ja gar nicht Maßstab für Nächstenliebe, d.h. für Wohlwollen gegenüber dem Mitmenschen •

29

sein . Gemeint ist hier vielmehr: Jeder ist sich zunächst sein eigener Freund. Ein Freund ist jemand, der für denjenigen, dem er Freund ist, das Gute will. „Sich selbst lieben" oder „sich selbst Freund sein" bedeutet also: Sich selbst dem zu öffnen, was in Wahrheit für den Menschen gut ist. Und das kann man eben nur, wenn man immer nur das Gute will, und das heißt immer auch: Gutes zu tun wählt. Wenn wir nicht imstande sind, für uns selbst das Gute zu wollen und demnach gut zu sein, so können wir das Gute auch nicht für unsere Mitmenschen wollen. Denn wir wüssten dann gar nicht, worin es besteht. Aristoteles bemerkt deshalb richtig, „dass aus dem Verhalten gegen sich selbst jede anderweitige Freundschaftsbetätigung erst abgeleitet wird" 30 . Wahre und wahrhaft „nützliche" Freundschaft (Nächstenliebe) gibt es nur, wo es Tugend gibt: Wahre Selbstliebe ist Liebe zur Tugend, dem in Wahrheit Guten, zum „sitttlich Schönen" 31 .

28 Der Grundsatz geht auf Pseudo-Dionysius Areopagita zurück, De Divinis Nominibus, IV, 30; vgl. den Kommentar von Thomas: In IV De Div. Norn., lectio 22. Der pseudo-dionysische Originaltext lautet in der dem thomanischen Kommentar zugrunde liegenden lateinischen Version: „Bonum ex una et tota est causa; malum autem ex multis et particularibus defectibus". 29 Zu Thomas vgl. D. M. Gallagher, Thomas Aquinas on Self-Love as the Basis for Love of Others, in: Acta Philosophica 8 (1999), 23-44. 30 EN, ebd. 1168b 5-6. 31 Ebd., 25-30.

108

III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

„Würden aber alle um die Wette nach Sittlichkeit streben und bemüht sein, das Beste zu tun, so hätte nicht nur die Gesamtheit alles, was ihr not tut, sondern es wäre auch jeder einzelne für sich im Besitz der größten Güter, wenn anders die Tugend ein solches hervorragendes Gut ist. Daher soll der Gute die Selbstliebe besitzen, da es ihm selbst und anderen nützen wird, wenn er, von dieser Liebe getrieben, das sittlich Schöne vollbringt"32.

In einer Gesellschaft, in der ein jeder nur Gerechtigkeit für die anderen intendieren würde, ohne selbst darauf zu achten, auch gerecht zu handeln (zu wählen), würde jeder Begriff dessen, was denn Gerechtigkeit ist, verloren gehen, so dass auch niemand mehr überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit intendieren könnte. Gute Intentionen können unmöglich aus einem schlechten Willen (einem „bösen Herzen") entspringen. Und, wie gezeigt wurde, ist der Wille „gut" oder „schlecht" nicht nur aufgrund dessen, was man intendiert, sondern auch aufgrund dessen, was man konkret zu tun wählt. Wer gewohnheitsmäßig Ungerechtes wählt und tut, wird unfähig, Gerechtigkeit zu intendieren, auf Gerechtigkeit gerichtete Absichten zu haben. Wer heute, um Bedürftigen zu helfen, Banken ausraubt, der wird morgen auch fähig sein zu wählen, dieselben, denen er heute geholfen hat, auszurauben, und zwar um irgend eine andere Wohltat zu vollbringen. Und diejenigen, denen er geholfen hat, werden vielleicht durch sein Beispiel zur Überzeugung gelangen, dass man es durch Ungerechtigkeit am weitesten bringt.

3. Praktische Vernunft und die Konstituierung von Gut und Übel a) Das Praktische der praktischen Vernunft Das praktisch Gute, so wurde gesagt, ist Korrelat eines Strebens (s. II, 1 a). Menschliches Handeln ist ein Strebephänomen; und, da wir vom Menschen sprechen: Handeln ist willentliche Tätigkeit, bzw. Tätigkeit insofern sie willentlich ist. „Wollen" heißt aufgrund von Vernunft streben, aus Gründen also, die Urteilen der Vernunft entspringen. In der Analyse des intentionalen Charakters menschlichen Handelns und menschlicher Willentlichkeit, sind wir deshalb bereits der praktischen Vernunft, die dieses Streben kognitiv leitet, gleichsam beiläufig begegnet. „Intentionales Handeln" und „praktische Vernunft" bilden eigentlich nur zwei Aspekte eines einzigen Themas: Praktische Vernunft ist jene Vernunft, die intentionale Handlungen kognitiv leitet. Wenn hier von Vernunft gesprochen wird, so ist mit diesem einen Wort wiederum ein komplexes Phänomen gemeint: Vernunft (griech. logos/dianoia, lat. ratio/ratiocinatio) ist streng genommen nur Teil eines Ganzen: des Intellektes oder Verstandes (nous, bzw. intellectus). Der menschliche Intellekt ist eine geistige Erkenntnispotenz, deren Akt beim Erfassen von unmittelbar ersten Evidenzen oder Prinzipien anhebt, diese durch Vernunftschlüsse gleichsam weiterverarbeitet, und das so Erkannte wiederum auf die ersten Prinzipien zurückführt, deren Gehalt nun aber, durch die Bewegung der Vernunft, expliziter erfasst wird. Es genügt in diesem Zusammenhang, darauf hinzuweisen, dass, wenn hier von Vernunft die Rede ist, immer das Ganze gemeint ist: Der menschliche Intellekt, dem es eigen ist, nicht einfach intellektiv zu erfassen, sondern auch diskursiv (vernünftig) zu überlegen. Intellektive Erkenntnis des Menschen ist immer vernunftvermittelter Intellekt. Er ist ein unvollkom-

32 EN, ebd. 1169a 8-14.

3 . D I E KONSTITUIERUNG VON G U T UND Ü B E L

109

mener Intellekt. Und dieser Art Intellekt sei hier der Name „Vernunft" gegeben 33 . Zudem ist in jeder Phase intellektiver Akte auch sinnliche Perzeption gegenwärtig. Ohne Sinneserkenntnis ist auch keine intellektive Erkenntnis und keine Vernünftigkeit möglich.

Es wurde gesagt, der Intellekt sei ein Erkenntnisvermögen. Gibt es demnach einen theoretischen und einen praktischen Intellekt im Sinne zweier verschiedener Vermögen? Dies anzunehmen ist jedoch keineswegs nötig, um den Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Urteilen der Vernunft begründen zu können. Der Intellekt, der seiner Natur nach, darauf gerichtet ist, Seiendes zu erfassen, und der deshalb auch „spekulativ" heißt, wird durch eine Art Ausweitung seines Aktes (extensio) praktisch34. Es handelt sich dabei um eine Ausweitung auf das Tun, aber um eine Ausweitung des Erkenntnis vermöge/w. Nicht ist damit gesagt, dass auch praktische Urteile Ausweitungen oder Anwendungen von theoretischen Urteilen seien. Die numerische Einheit des Erkenntnisvermögens und die Tatsache, dass praktische Vernunft durch dessen Ausweitung auf den Bereich des Handelns praktisch wird, impliziert nicht, dass auch praktische Urteile lediglich Ausweitungen von / bzw. Ableitung aus theoretischen Urteilen sind. Plausibler ist, dass praktische Urteile des Intellekts einen eigenen Ausgangspunkt besitzen. Denn aus theoretischen Urteilen folgen immer nur theoretische Schlüsse. Praktische Urteile sind jedoch solche, deren letzte Konklusion praktisch ist, und das bedeutet: sie sind Urteile, die eine „Bewegung" verursachen, denn Handeln ist eine Form von Bewegung35. Die letzte Konklusion praktischer Urteile ist die Wahl einer Handlung, bzw. die Handlung selbst. Das „Praktische" muss, damit eine solche Bewegung erklärbar wird, bereits am Ursprung praktischer Urteile vorhanden sein. Aufgrund des rein theoretischen Aktes des Intellekts wäre es nicht erklärbar. Aus zwei theoretischen Urteilen jedoch folgt immer nur ein theoretischer Schluss (eine „Aussage über etwas") und keine Handlung, auch nichts, was durch Erweiterung zu einer Handlung führt. Aus dem theoretischen Urteil (1)

Für alle A gilt p

(wobei p eine Handlungsweise meint)

und dem partikularen Faktum (2)

X ist A

(X ist ein konkretes Individuum)

kann nicht abgeleitet werden X tut p sondern nur (3)

Für X gilt p.

(d.h. die Handlung p wird gewählt und vollzogen) (d.h. eine Aussage über X)

33 Nähere Ausführungen zur „Binnenstruktur" Intellekt-Vernunft finden sich in M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 216-224. 34 Vgl. I, q.79, a.l 1; s. zum ganzen Thema die Ausführungen in M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 44 ff. 35 EE II, 3, 1220b 27 und 6, 1222b 30; vgl. auch EN VI, 1139 a 32.

110

I I I . SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Nehmen wir an A stehe für „Lebewesen"; p für „sich durch Ernährung erhalten"; und X bin „Ich", so ergibt das: (1) (2) (3)

Für alle Lebewesen gilt: Sie erhalten sich durch Ernährung. Ich bin ein Lebewesen Ich erhalte mich durch Ernährung (-Ich bin ein Wesen, für das gilt: Es erhält durch Ernährung.)

sich

Aber d e s w e g e n tue ich nichts, was mit Ernährung zusammenhängt. D e n n (3) ist keine Handlung des Typs „sich Ernähren", sondern eine (theoretische) Aussage über mich. Damit aufgrund des Schlusses eine Handlung folgen könnte, fehlt eine praktische Prämisse, nämlich z.B.: (la)

Ich will mich am Leben erhalten (ich strebe danach, bin darauf

aus).

Diese Prämisse ist nun aber kein theoretisches Urteil, sondern ein Akt des Strebens. Genauer: Ein beurteilter Akt des Strebens, den wir auch folgendermaßen formulieren können: (la)

Es ist gut (für mich), mich am Leben zu

erhalten.

Eine zweite Prämisse könnte lauten: (2a)

Nahrungsmittel

sind (für mich)

lebenserhaltend

Die Konklusion wäre: (3a)

Ich will mich

ernähren

oder (3a)

Es ist gut (für mich), mich zu

ernähren

D i e zweite Prämisse (2a) ist ein Erfahrungssatz und als solcher kein praktisches Urteil, sondern Aussage über einen praktisch relevanten Sachverhalt; er vermittelt zwischen der praktischen Prämisse ( l a ) und der Konklusion, die ebenfalls praktisch ist. Gegenüber einem weit verbreiteten Missverständnis ist also mit der Aussage, die praktische Vernunft besitze einen eigenen Ausgangspunkt und praktische Urteile ließen sich nicht als Ableitungen aus theoretischen verstehen, keineswegs gemeint, praktische Vernunft konstruiere gleichsam das für den Menschen Gute und löse sich so vollständig von aller der theoretischen Vernunft gegenständlichen Wirklichkeit bzw. von der Erkenntnis von „reinen Tatsachen" und von Sachverhalten 36 . Praktische

36 Solche Einwände, von thomistischer Seite erhoben, stammen vor allem von Ralph Mclnerny; vgl. seine Kritik an John Finnis in R. Mclnerny, Aquinas on Human Action. A Theory of Practice, Washington D. C. 1992, S. 184 ff., wo er Finnis' m. E. in ihrer Grundintention richtige Behauptung der ursprünglichen Unableitbarkeit praktischer aus theoretischer Vernunft zur Behauptung umdeutet, praktische Vernunft sei völlig unabhängig von der Erkenntnis von „brüte facts", von Tatsachen, wie etwa, dass nur Menschen sprechen können usw. (S. 188) und praktische Erkenntnis sei unabhängig von „Natur". Nichts davon, so scheint mir, ließe sich bei Finnis finden, zeigt er doch gerade, dass die ursprünglichen Akte praktischer Vernunft uns den Weg zur Erfassung menschlicher Natur eröffnen (s. J. Finnis, Fundamentals of Ethics, S. 10 ff.) Einig gehe ich allerdings mit Mclnerny's Kritik an Finnis' Demontage des Aristotelischen ergon-Argumentes

3 . D I E KONSTITUIERUNG VON G U T UND Ü B E L

111

Vernunft ist nicht, wie Kant es sieht, wesentlich eine Vernunft, „die Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat" 37 , die ihren Gegenstand also hervorbringt; sie ist vielmehr, aristotelisch gesprochen, wesentlich bewegende Vernunft (insofern bringt sie freilich auch etwas hervor). Praktische Vernunft muss also fundamental nicht als konstruktive Vernunft verstanden werden, und mindestens aus zwei Gründen kann sie das auch nicht: Erstens, weil zu praktischen Urteilen führende Vernunftakte immer der Vermittlung durch Sachverhaltsurteile bedürfen (wie z.B. „Nahrungsmittel sind lebenserhaltend"), die einen durchaus „theoretischen" Charakter besitzen, und zweitens (und dies ist der Hauptgrund), weil Vernunft überhaupt erst praktisch wird durch ihre Einbettung in natürliche Neigungen der menschlichen Person, die in ihrer Faktizität selbst wiederum die Eigenschaft einer unhintergehbaren Voraussetzung für die Erkenntnis von Objekten bzw. des „Guten" besitzen (dazu Genaueres in Kapitel V).

Die eben schematisch analysierte Struktur entspricht dem, was bei Aristoteles praktischer Syllogismus heißt 38 . Gemeint ist damit nicht, dass wir so „denken", bevor wir etwas tun. Vielmehr ist der praktische Syllogismus das im Tun involvierte Denken. Der praktische Syllogismus ist nicht ein gewöhnliches Schlussverfahren, kein Denkvorgang, in dem aus Wahrheiten andere Wahrheiten erschlossen werden. Der praktische Syllogismus ist vielmehr selbst ein Bestandteil von Praxis, er gehört zu den Phänomenen „Streben" und „Handeln". Er bringt einen Vorgang in der Seele zum Ausdruck, und zwar hinsichtlich seiner kognitiven Struktur. Und so wie für Aristoteles Praxis generell eine Art Bewegung ist, so führt der praktische Syllogismus zu einer Bewegung: „Es ist klar, dass die Konklusion eine Handlung ist" 39 , und zwar nicht nur eine Aussage über eine Handlung, sondern etwas, „was man sofort tut" 40 . Was Aristoteles als praktischen Syllogismus beschreibt, ist demnach der adäquate Ausdruck praktischer Vernunft als einer Art von Vernunft, die Streben zum Ausgangspunkt hat, in dieses eingebettet ist und es kognitiv leitet, und deren letzte Urteile (Konklusionen) nicht Sätze theoretischer Art sind, sondern Wahlakte von Handlungen bzw. Handlungen. Deutlich erkennen wir in diesem Syllogismus die intentionale Struktur des Handelns wieder, die Relation zwischen Zielen und Mitteln, Zielintention und Handlungswahl. Der obige praktische Syllogismus ist selbstverständlich noch nicht vollständig formuliert. Denn „sich ernähren" ist noch keine vollziehbare Handlung. Der Prozess der praktischen Vernunft wird weiterlaufen, und zwar dergestalt, dass die Konklusion (3a) nun zur ersten Prämisse eines neuen „Syllogismus" wird, etwa in der folgenden Weise: (1b) Ich will mich ernähren oder:

37 38

39 40

(vgl. ebd., 15 ff.; auf Finnis' Missverständnis dieses Argumentes bin ich selbst eingegangen in: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O., S. 53 ff.). I. Kant, GMS BA 101 (IV, S. 83). Vgl. vor allem Aristoteles, De Motu Animalium, 7. In EN erscheint der praktische Syllogismus in verschiedenen Zusammenhängen, vor allem in Buch VI und VII. Der Terminus „praktischer Syllogismus" („syllogismoi tön praktön") in EN VI, 13 1144a a 32 ist allerdings umstritten. Dieses Aristotelische Lehrstück wurde vor allem durch G.E.M. Anscombe wieder für die Handlungstheorie fruchtbar gemacht. Vgl. Intention, a. a. O. § 33 ff., S. 57 ff. (dt.: Absicht, a. a. O. S. 91 ff.) Aristoteles, De Motu Animalium, 7, 701a 24. Vgl. ebd. 22.

112

III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Clb) Es ist gut (für mich), mich zu ernähren (2b) Dieses Stück Brot ist ein angemessenes (3b) Ich will dieses Stück Brot essen

Nahrungsmittel

oder (3b) Es ist gut für mich, dieses Stück Brot zu essen Die Konklusion (3b) ist nun tatsächlich die Wahl einer Handlung, bzw. deren Vollzug. Was aus dem Syllogismus resultiert, ist eine konkrete Handlung: Das Essen dieses Stückes Brot, oder genauer: Ein unmittelbar handlungsauslösendes letztes praktisches Urteil, das wir auch so formulieren können (3b)

Was ich jetzt zu tun habe, ist dieses Stück Brot essen.

Das alles sind selbstverständlich nur Versuche, auf der Ebene der Reflexion den Vorgang sprachlich zu formulieren; der Vorgang selbst braucht aber gar nicht in sprachlicher Form abzulaufen. Und in Wirklichkeit sind Prozesse praktischer Vernunft oft viel komplexer (z.B. wird sich der Untersatz 2b erst aufgrund einer Überlegung bezüglich möglicher Alternativen und der Auswahl der besten bilden). Aber das spielt hier keine Rolle. Die Aristotelische Lehre vom praktischen Syllogismus ist ja nur ein Mittel, um überhaupt zu veranschaulichen, wie praktische Vernunftprozesse strukturiert sind. Sie liefert eine „formale Darstellung des praktischen Schließens", in der das entscheidende Moment des Strebens oder Wollens gar nicht mitformuliert werden kann 41 . Wichtig scheint zu betonen, dass in diesem eben dargestellten Prozess kein einziger theoretischer Obersatz zu finden ist, im Sinne etwa von metaphysischen oder anthropologischen Aussagen über die Natur des Menschen oder von Aussagen über sittliche Pflichten. Viel wahrscheinlicher ist, dass solche Aussagen durch die Reflexion auf den Prozess der praktischen Vernunft und dessen Interpretation überhaupt erst Zustandekommen. Weil wir wissen, dass wir nach Selbsterhaltung streben und uns deshalb auch ernähren wollen - weil uns also aus eigener Erfahrung das praktische Urteil bekannt ist, dass es „für uns gut ist", uns selbst zu erhalten usw., und weil wir wissen, was wir normalerweise tun, um uns zu ernähren - , deshalb verstehen wir auch etwas mehr über die Natur des Menschen und unsere Pflichten und können theoretische Aussagen formulieren wie: „Der Mensch ist ein Lebewesen, das nach Selbsterhaltung strebt" oder „Selbsterhaltung ist ein fundamentales menschliches Gut".

41 G. E. M. Anscombe, a.a.O. § 35, S. 65 (S. 103). Eine andere, wie mir scheint unzureichende, Darstellung gibt A. Maclntyre, Whose Justice? Which Rationality? Notre Dame, Indiana 1988, wo es auf S. 130 heißt: „But the premise itself says nothing about desire." Maclntyre reduziert das Phänomen „praktischer Syllogismus" auf eine bloße Struktur des Urteilens und Überlegens ohne zu berücksichtigen, dass ein praktischer Syllogismus gar nicht nur ein Syllogismus ist, sondern das im Prozess des Strebens involvierte Urteilen und Überlegen. Damit können wir uns auch der Meinung von M. C. Nussbaum, (Practical Syllogisms and Practical Science, in: M. C. Nussbaum, Aristotle's De Motu Animalium. Text with Translation, Commentary, and Interpretive Essays, Princeton 1978, Essay 4, S. 165-220) anschließen, der praktische Syllogismus sei ein „model for explanation". Allerdings sieht Nussbaum dabei einen Gegensatz der Aristotelischen Handlungstheorie mit dem, was sie unter deduktivistischer Prinzipienethik versteht, einer Ethik also, in der es feststehende sittliche Regeln gibt, unter die konkretes Handeln „syllogistisch" subsumierbar wäre. Dazu, dass dieser Gegensatz kein notwendiger ist, s. unten, V,l,f.

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Praktische Vernunft besitzt also ursprünglich ihren eigenen Ausgangspunkt. Auch theoretisches Wissen um die Natur des Menschen kann wiederum praktisch relevant werden; aber als solches ist dieses Wissen nicht praktisch; um praktisch zu werden, muss es Bestandteil eines praktischen Syllogismus sein. Und dazu braucht es immer eine erste praktische Prämisse: Ein Streben, bzw. ein in Streben eingebettetes Urteil der praktischen Vernunft von der Art: „Ich will p", d.h.: „p ist gut für mich", was wiederum heißt „p ist zu tun" (wobei „p" eine Handlung bezeichnet). Ausgangspunkt eines praktischen Syllogismus, das heißt eines durch praktische Vernunft geleiteten Strebeprozesses, ist ein Erstrebtes, etwas Gewolltes 42 . Und in dieser Logik des Wollens vollzieht sich der gesamte nachfolgende Prozess praktischer Vernunft, obwohl - wie gesagt - diese Logik des Wollens im praktischen Syllogismus als einer formalen Darstellung dieses Prozesses gerade nicht mitformuliert ist. Praktische Vernunft besitzt aber ihren Ausgangspunkt immer in einem Streben und deshalb bewegt sie zum Handeln: „Das Letzte (im Prozess der praktischen Vernunft) ist Ursache des Handelns" 43 . Praktische Vernunft ist gleichsam das intellektive Auge des Strebens, das sich als Intendieren und Wählen bis zum konkreten Handeln hin determiniert und dieses auslöst. Deshalb, so Aristoteles, unterscheidet sich der praktische Intellekt vom theoretischen „durch sein Ziel" 44 , das eben „etwas Erstrebtes", „etwas Gewolltes" oder „Intendiertes" und damit selbst bereits Praktisches ist. Dieses Gewollte, das Ausgangspunkt und erster Gegenstand praktischer Vernunft ist, ist nicht bloßes Gefühl oder Affekt, also kein irrationales, sondern ein vernunftgeleitetes Streben. Ihm zugrunde liegen allerdings Phänomene wie Trieb, Begierde, Neigung. Gewiss, „am Anfang" des Prozesses der praktischen Vernunft stehen notwendigerweise kognitive Akte, die selbst nicht praktischer Art sind, sondern einfach Wirklichkeit, Seiendes erfassen. Damit sich Trieb und Neigung auf „etwas" richten und der Wille „etwas" wollen kann, muss ja „etwas" gesehen, gefühlt, erkannt werden. Erst dadurch, dass sich Trieb, Neigung, Streben auf „etwas" richtet, beginnt Praxis. Dazu müssen wir uns allerdings nicht erst entschließen. Trieb und Neigung sind ja immer schon da. Und darin, genauer: im Beurteilen dieser Neigungen, besitzt praktische Vernunft ihren Ausgangspunkt (für Näheres sei erneut auf V,1 verwiesen).

G.E.M. Anscombe hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass ein praktischer Syllogismus, und das heißt: praktische Vernunft als solche noch gar nichts mit „Moral" zu tun habe. Tatsächlich behandelt Aristoteles den praktischen Syllogismus u.a. in einem Werk, das den Titel „Über die Bewegung der Lebewesen" trägt. Auch Tiere sind in einem eingeschränkten (analogen) Sinne praktische Wesen: Sie vollziehen aufgrund von phantasia, sinnlicher Vorstellung, (sinnliche) Urteile über Erstrebtes im Sinne von „p ist gut für mich". Und auf Grund von Perzeption (2. Prämisse) gelangen sie zur Tätigkeit (Konklusion), gleich wie automata45. Beim Menschen jedoch wird dieser Prozess durch Vernunft geleitet; er ist ein willentlicher, vernunftgeleiteter und deshalb auch auf Vieles hin offener Strebeprozess. Und je nachdem, ob das Gute, das hier erstrebt wird, auch moralisch relevant ist - d.h. den Menschen als Menschen betrifft - , 42 Vgl. Aristoteles, De Anima, III, 10 und den präzis paraphrasierenden Kommentar von Thomas v. Aquin: In III De Anima, lect. 15.: das Erstrebbare ist Prinzip des praktischen Intellektes, das primum consideratum ab intellectu practico. 43 De Anima, a.a.O., 433a 17. 44 Ebd. 433a 15. 45 De Motu Animalium, a.a.O. 701b 1.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

handelt es sich beim praktischen Syllogismus auch um einen Prozess der moralischen Vernunft. Moralisch ist sie jedoch nicht, weil hier Ausdrücke wie „p ist zu tun" vorkommen, was auch folgendermaßen formuliert werden kann: „Ich soll p tun" oder „Ich muss p tun" (im Sinne von „es ist nötig, erforderlich, p zu tun"). Wenn Aristoteles hie und da die erste Prämisse und die Konklusion mit „man soll", „ es ist erforderlich" oder „ich soll", „ich muss" bezeichnet („dei" oder einfach die Gerundivform) 46 , so hat das nichts mit dem Hinweise auf eine „sittliche Norm" zu tun. Das Wort „Sollen" bezeichnet zunächst ganz einfach die Tatsache, dass praktische Urteile Strebekorrelate sind und zum Handeln führen. „Sollen" ist eine Art, über praktische Urteile zu sprechen bzw. das Praktische solcher Urteile über das Gute - den Imperativ der praktischen Vernunft - sprachlich auszudrücken. „Ich soll p tun", „es ist erforderlich, p zu tun", ist die sprachliche Formalisierung der spezifisch praktischen, imperativen Komponente des Urteils „p ist gut", das j a in dieser Form mit einer bloßen Aussage über p verwechselt werden könnte. Was wir z.B. mit naturhafter Spontaneität an uns selbst erfahren, wenn wir uns am Leben erhalten wollen (was das Urteil impliziert, dass es für uns gut ist, uns am Leben zu erhalten), das drücken wir sprachlich aus mit dem kategorischen Imperativ „ich soll mich am Leben erhalten". Und was wir, als praktische Konklusionen, aus einem solchen Streben eben erschließen, wie etwa „ich will jetzt dieses Stück Brot essen" (weil dies das hier und jetzt als „für mich Gute" erkannt ist), drücken wir aus mit dem hypothetischen Imperativ „ich soll dieses Stück Brot essen" (um mich zu ernähren; um mich am Leben zu erhalten). Das hat als solches mit Moral nichts zu tun. „Sollen" ist hier einfach der Imperativ der praktischen Vernunft „das ist gut für mich", oder „das ist jetzt zu verfolgen" oder „hier und jetzt zu tun". Das „Sollen" kategorischer und hypothetischer Imperative wird also nicht aus einem „Sein" abgeleitet, sondern es tritt ursprünglicherweise im Prozess praktischer Vernunft auf und konstituiert praktische Erfahrung, aufgrund derer dann „Sein" erst interpretiert wird (vgl. dazu Näheres unten III,6,e und V, 1 u. 2). Aus dem obigen Satz (3) „Ich bin ein Wesen, für das gilt: Es erhält sich durch Ernährung" lässt sich nicht ableiten „ich soll mich durch Ernährung erhalten". Wieso denn „soll" ich überhaupt? Doch nur, weil ich mich „erhalten soll". Aber wie kommt man zu diesem Sollen? Letztlich nur aufgrund der Tatsache, dass allen praktischen Imperativen ein fundamentales „sich Erhalten- Wollen" vorausliegt, - wobei dieses „Wollen" ein vernunftgeleitetes Streben ist und somit das praktische Urteil impliziert: „Es ist gut für mich, mich zu erhalten". Kritiker der hier vertretenen Konzeption einer aus theoretischer Vernunft unableitbaren, einen eigenständigen Ursprung besitzenden praktischen Vernunft mögen hier einwenden, die (theoretische) Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Ernährung und Lebenserhaltung genüge doch, um zu entsprechenden praktischen Urteilen und Handlungen zu gelangen; dies zeige, dass praktische Vernunft nur Anwendung von „Wissen über die Wirklichkeit" ist. Dieser Einwand verfehlt jedoch den springenden Punkt. Selbstverständlich ist die Einsicht in

46 Vgl. z. B. De Motu Animalium, 7, 701a 13-14: Hier wird die erste Prämisse folgendermaßen beschrieben: „Jemand denkt, jeder Mensch sollte einen Spaziergang machen" (badisteon). 2. Prämisse: „und (er denkt) er ist ein Mensch"; Konklusion: „sofort macht er einen Spaziergang". Das ist eine Beschreibung „von außen", eine Rekonstruktion. Vgl. EN VII, 5, 1147a 32-33: „Wenn man alles Süße kosten soll („dei") und dieses bestimmte einzelne Ding süß ist, so wird der Mensch, wenn er es kann und nicht gehindert oder abgehalten wird, dies sogleich auch tun."

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den Sachverhalt des genannten Zusammenhangs für den Inhalt praktischer Urteile konstitutiv, aber er allein vermag noch nicht das Praktische eines solchen Urteils zu erzeugen. Auch wer aus Verzweiflung beschließt seinem Leben durch Verhungern ein Ende zu setzen, weiß ja um diesen Zusammenhang, und doch nimmt er keine Nahrung zu sich, weil eben das entsprechende vernunftgeleitete Streben fehlt (obwohl natürlich auch das absichtliche Verhungern auf einem praktischen Urteil beruht). Das klassische, zuerst von D. Hume formulierte Verdikt über den „naturalistischen Fehlschluss", das Verbot, aus einem „Is" ein „Ought" (einem „Sein" ein „Sollen") abzuleiten 47 beruht hingegen auf der Annahme, dass Vernunft überhaupt nur Aussagen über Tatsachen machen kann (auch über unsere Gefühle), selbst aber nicht zum Handeln zu bewegen vermag. Hier gibt es also gar keine praktische Vernunft mehr. Hume sagt, die Vernunft sei „vollkommen träge" („perfectly inert") und „unaktiv" („wholly inactive"); sie habe nur „wahr" und „falsch" zum Gegenstand, niemals (sittlich) „gut" und „schlecht". Handlungen könnten nur „lobenswert" oder „tadelnswert" sein, niemals jedoch „vernünftig" oder „unvernünftig" 4 8 . Was jemand tue, hänge allein von seinen Gefühlen oder Leidenschaften ab, und die Aufgabe der Vernunft beschränke sich darauf, Gefühlen ihren Gegenstand zu zeigen und - aufgrund der Erfassung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen - den Leidenschaften die Mittel zu ihrer Befriedigung aufzuzeigen 4 9 . Es ist klar, dass Hume sich dann darüber wundern muss, wie man zu einem Wort wie „Sollen" gelangen kann. Die Humesche Position besitzt noch heute unter vielen Philosophen im angelsächischen Raum geradezu kanonische Geltung 50 .

Wenn auch „Sollen" in sich noch nichts mit Moral zu tun hat, so gibt es dennoch ein spezifisch moralisches Sollen. Wir bekommen es in den Blick, sobald wir gewahr werden, dass beispielsweise das „Sich-am-Leben-erhalten-wollen" gerade zu jenen Grundstrebungen gehört, die konstituieren, was wir „Moral" nennen. Denn hier handelt es sich ja um eine praktisches Gut des Menschen als Menschen. Hier geht es bereits in einer fundamentalsten Weise um das menschliche Leben im Ganzen. Und wenn es um solches geht, dann ist eben ein praktischer Syllogismus auch Ausdruck für den Prozess sittlicher Urteile. Und „sich am Leben erhalten" oder „Selbsterhaltung" wird erkennbar als sittliches Gut.

b) Gut und Übel in der Perspektive der Moral Die Perspektive der Moral ist immer die Perspektive praktischer Vernunft, und das heißt: Die Perspektive eines Verhaltens des Subjekts zur Wirklichkeit, das durch Streben (Wollen), durch Intendieren und Wählen gekennzeichnet ist51.

47 Vgl. D. Hume, A Treatise on Human Nature III, I, Sect. I, hrsg. von D. F. Norton und M. J. Norton, Oxford 2000, S. 302. 48 Ebd., S. 294 f. 49 Ebd., S. 295. 50 Vgl. dazu J. Finnis, Fundamentals of Ethics, a. a. O., S. 26 ff. 51 Vgl. zum Folgenden auch: M. R h o n h e i m e r , Gut und böse oder richtig und falsch - was unterscheidet das Sittliche? In: H. Thomas (Hrsg.), Ethik der Leistung, Herford 1988, S. 47-75; bzw., leicht verändert und erweitert: Ethik - Handeln - Sittlichkeit. Zur sittlichen Dimension menschlichen Tuns, in: J. Bonelli (Hrsg.), Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Wien-New York 1992, S. 137-174.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Ein „Stück Brot", wie es im obigen Beispiel vorkommt, würde niemand als ein „sittliches Gut" bezeichnen. Weder Brot, noch ein Hammer, ein Stück Holz, ein Auto, aber nicht einmal das Leben eines Menschen sind sittliche Güter. Sie sind alle „gut", insofern sie „sind" und insofern sie ein bestimmtes Etwas sind. Aber das ist nicht, was wir unter „sittlich gut" verstehen. Denn dieses ist Folge der Tätigkeit, eine Vollkommenheit, die zum bloßen Sein und „etwas Sein" hinzukommt 52 . Nun ist aber das Wählen eines Stückes Brot als Mittel zur Ernährung, bzw, zu Selbsterhaltung etwas ganz anderes, als einfach „ein Stück Brot": nämlich eine Handlung der Selbsterhaltung. Die entsprechende Handlung heißt „ein Stück Brot essen". Und diese Handlung nun, als Gegenstand eines Willensaktes, ist, was man ein praktisches und - je nach dem - auch sittliches Gut nennt. Praktische Güter sind als solche nicht immer schon sittliche Güter. Sie sind sittliche Güter, insofern sie auf das Handeln des Menschen als Menschen bezogen sind. Wenn ein Arzt, während einer Herzoperation, das Urteil fällt: „Ich brauche jetzt das Instrument X", so ist X, bzw. der Gebrauch von X (im Kontext der Rationalität einer Herzoperation) ein praktisches Gut; aber wir würden wohl die Handlung „X-gebrauchen" als solche kaum als sittlich Handlung bezeichnen. Nun kann aber der „Gebrauch von X" (im Kontext ärztlichen Handelns als lebenserhaltende Tätigkeit) auch als lebensrettende Maßnahme begriffen werden. Und als solche betrachtet ist das Urteil „Ich brauche jetzt X" auch mehr als eine bloße herzchirurgische Maßnahme: Würde der Arzt nämlich, z.B. aufgrund von selbstverschuldeter Inkompetenz, Fahrlässigkeit oder Faulheit X nicht gebrauchen, und der Patient würde sterben, so würden wir sagen: Der Arzt hat nicht nur als Vollbringer einer Herzoperation „schlecht" oder „falsch" gehandelt, sondern auch als Mensch: Er ist zu tadeln, und zwar in einem moralischen Sinne, aufgrund seiner Fahrlässigkeit oder seiner Inkompetenz. Denn für einen Herzchirurgen gehört ja kompetentes ärztliches Handeln nicht nur zu seinem „ein guter Herzchirurg-Sein", sondern auch zum „ein guter Mensch-Sein". So würden wir beispielsweise eine Urteil der folgenden Art sinnvoll finden: „Doktor X ist zwar nicht sehr intelligent, aber er ist ein guter Mensch" (vielleicht ist er ein durchaus gewissenhafter, wenn auch nicht brillanter Arzt, und für seinen Mangel an Intelligenz kann er ja nichts). Nicht als sinnvoll würden wir aber folgende Aussage betrachten: „Doktor Y ist ein miserabler Arzt; er ist inkompetent, nachlässig und seine Methoden sind veraltet; aber er ist ein guter Mensch". Wir würden das eher als die Aussage eines solchen betrachten, der sich über sogenannte „gute Menschen" lustig machen will: Doktor Y ist natürlich, gerade weil man von ihm sagt, er sei ein „guter Mensch", eine lächerliche Figur. Sicher ist jedenfalls, dass wir Doktor Y, wäre er kompetent, gewissenhaft und in seinen Methoden auf der Höhe der Zeit, auch einen besseren Menschen nennen würden.

Der Begriff „sittlich gut" bezieht sich also auf menschliches Handeln, und deshalb stets auf Handlungsweisen, insofern sie Gegenstände von Strebeakten sind, d.h. von Akten des Intendierens oder Wählens, und insofern wir solche Handlungsweisen nicht nur als Handeln eines Chirurgen, Kochs oder Unternehmers insofern sie Chirurg, Koch oder Unternehmer sind betrachten, sondern als Handlungen dieser Personen, insofern sie Menschen sind. „Sittlich gut" ist also eine Eigenschaft von intentionalen Handlungen, aber nicht nur im sektoriellen Horizont ihrer fachspezifischen Effizienz und funktionellen Richtigkeit, sondern in jener Perspektive, in der eine solche Handlung darüber entscheidet, ob einer auch ein guter 52 Vgl. De Veritate, q.21, a.5.

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Mensch ist. Denn wir können ja einem Bankräuber attestieren, dass er seine Sache wirklich „gut" gemacht habe, auch wenn wir damit seine Handlung nicht im sittlichen Sinne als „gut" bezeichnen wollen. „Menschliches Leben" ist an sich also nicht in höherem Grade sittlich gut, als ein Stück Brot. Beide sind, was wir ein physisches Gut nennen können: Sie sind gut aufgrund ihrer „Physis", ihrer Natur, aufgrund dessen also, was sie jeweils sind. Insofern ist natürlich ein menschliches Leben auch mehr als ein Stück Brot: Es besitzt ein viel höheres Maß an Seinsvollkommenheit. Aber das macht es nicht zu dem, was wir ein sittliches Gut nennen. Wenn ein Erdbeben zehn Menschenleben vernichtet, dann ist dies nicht die Zerstörung von sittlichen Gütern, also auch kein sittliche Übel, sondern ein Naturgeschehen: Ein physisches (nichtsittliches) Ereignis bewirkt ein anderes physisches Ereignis. Die Kausalität, die hier herrscht, ist Naturkausalität. Dasselbe gilt z.B. von natürlichen Spontanaborten. Hier geschieht nichts, was Lob oder Tadel verdiente. Wenn wir sagen, das Erdbeben sei daran „schuld", dass zehn Menschen getötet wurden, so meinen wir das eben nur metaphorisch, indem wir vom Erdbeben, wie von einem menschlichen Handlungssubjekt sprechen; d.h. indem wir Naturkausalität anthropomorph wie moralische Kausalität betrachten. „Gut" und Übel" im sittlichen Sinne erscheinen ausschließlich als Gegenstände des Willens von Handlungssubjekten. „Gut" und „Übel" im sittlichen Sinn sind Korrelate von Intentionen und Wahlakten; und Korrelate von Intentionen und Wahlakten wiederum sind Handlungen: Nicht der „Tod von X" ist ein sittliches Übel, sondern den „Tod von X" intendieren oder wählen-, also nicht der „Tod von X", sondern „X-töten". Denn dies heißt soviel wie: „Den Tod von X wollen". Die Behauptung, der Gegenstand auch von Intentionen seien Handlungen, könnte zunächst befremden. Sind Gegenstände von Intentionen nicht vielmehr „Werte" wie Gerechtigkeit, Wohlwollen, Wahrhaftigkeit usw., und Handlungen ausschließlich Gegenstände von Wahlakten, die eben darin bestünden, Handlungen zu wählen, die diese „Werte" verwirklichen? Wenn wir jedoch - in der Perspektive der Praxis - sagen, „Gerechtigkeit" sei Gegenstand einer Intention, so kann dies nur meinen, dass mit „Gerechtigkeit" hier so viel gemeint ist wie: „Gerechtes tun", „gerecht handeln" (z.B. zu intendieren, immer jedem das ihm Zustehende zu geben; oder keinem anderen zu tun, wovon wir selbst nicht wollen, dass es uns andere tun; usw.). Man kann freilich das Wort „Gerechtigkeit" auch anders verwenden; z.B. im Sinne von „die Gerechtigkeit der Steuergesetzgebung ist Bedingung für den sozialen Frieden". Aber hier bezeichnet „Gerechtigkeit" nichts Praktisches, keinen Gegenstand einer Intention irgend eines Handlungssubjekts. Ein solcher wäre z.B.: „Eine gerechte Steuergesetzgebung schaffen", also eine Handlung, die allerdings, da dies ja eine Intention ist, noch nicht unmittelbar vollzogen werden kann, sondern durch praktische Vernunft auf die Ebene konkret wählbarer und vollziehbarer Handlungen heruntergeholt werden muss. Das kann dann z.B. heißen: „Bei den Parlamentswahlen kandidieren, um sich für eine gerechte Steuergesetzgebung einzusetzen", und dies wiederum, „um den sozialen Frieden zu sichern". In der praktischen Perspektive kann deshalb auch im Falle „ein Stück Brot essen wollen" eben „ein Stück Brot essen" ein sittliches Gut sein, nämlich insofern es sich hier um einen Akt der Selbsterhaltung handelt. Es kann dies aber auch ein Akt der Unmäßigkeit sein, oder ich kann das tun wollen, um jemanden zu ärgern. Sittliche Güter und Übel werden als solche erst erkennbar, wenn wir „etwas" als Inhalt eines Handelns betrachten, und damit auch als Gegenstand des Willens: von Intention oder Wahl.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

„Sittlich gut" ist deshalb letztlich ein Prädikat, das wir einem auf „Handeln" bezogenen bzw. sich darin „inkarnierenden" Willen und insofern auch Handlungen selbst zusprechen. Im Unterschied dazu kann ein Kunsthandeln, als solches, durchaus „gut" oder sogar „vollkommen" genannt werden, ohne dass der Wille des dieses Handeln Vollziehenden gut ist. Entscheidend ist das Gutsein der jeweiligen intentionalen Handlung, als die sich ein Herstellungsprozess ja überdies immer auch beschreiben lässt. Und hier geht es nun um den Willen und deshalb auch um die Verwirklichung und Vollkommenheit des Mensch-Seins. „Sofern jemand Wissenschaft erwirbt, wird er ein guter Wissenschaftler. Wer ein Werk erstellt, wird die,Kunst' besitzen und dadurch ausgezeichnet sein. Ist der Wille aber gut, so ist der Mensch im Ganzen gut; denn der Wille ist ja das universale Zielvermögen, der insofern ,alles', was im Menschen ist, zuwege bringt, und unter allen Strebungen ist er der ,erste Beweger' eben wegen seiner Universalität, auf den insofern alles - nicht zwar der Artbestimmtheit nach, wohl aber als menschliche Verwirklichung - zurückzuführen ist, was im Menschen verwirklicht wird. Die Handlung als menschliche - also als Handlung - betrachten heißt deshalb, sie letztlich unter dem Gesichtspunkt des zu leistenden Gutseins zu betrachten" 53 . c) Die Unterscheidungen sittliche/nichtsittliche Güter und richtige/gute Handlungen Im Rahmen der sogenannten „teleologischen Ethik" bzw. des konsequentialistischen Utilitarismus wird darauf hingewiesen, dass es in einer ethischen Theorie wesentlich sei, „sittliche" von „nichtsittlichen" Gütern zu unterscheiden und hinsichtlich der Bewertung von Handlungen (sittlich) „richtig" und „gut", bzw. (sittlich) „falsch" und „schlecht" auseinanderzuhalten. Was hat es mit diesen Unterscheidungen auf sich? (1) Zur Unterscheidung zwischen „sittlichen" und „nichtsittlichen" (physischen, ontischen, nichtmoralischen oder vor-moralischen) Gütern und Übeln. Die Unterscheidung beruht auf folgender Überlegung: Menschliches Handeln bezieht sich auf Güter, wie Leben, Gesundheit, physische Integrität, Fortpflanzung, Eigentum oder auf Übel wie Verletzung leiblicher Integrität, Schmerz, Krankheit, Tod, Verlust von Eigentum, Falschaussage: All dies könne nicht sittliches Gut oder sittliches Übel genannt werden. Ein sittliches Gut könne nur der „Mensch als Person oder Subjekt, insofern und insoweit er sich in freier Selbstbestimmung gänzlich überantwortet ist" 54 sein, und damit Eigenschaften von Personen wie Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit, Gewissenstreue usw. Sittliche Übel wären entsprechende Unwerte von Personen als freie Subjekte (z.B. Ungerechtigkeit, Bosheit, Verantwortungslosigkeit), bzw. Handlungen, die Personen in ihrer Eigenschaft als freie Subjekte missachten; z.B. Verletzung der Freiheit des Gewissens. Diese Unterscheidung leuchtet natürlich sofort ein. Sie differenziert einen Bereich von physischen, ontischen Sachverhalten von jenem Bereich, in dem allein das Sittliche auftreten kann: Dem freien Willen des Menschen. So unterschied man auch traditionell das malum physicum vom malum morale: „Sacherverhaltsmängel" (Blindheit, Tod, Leiden) von einem Mangel im freien Willen des Menschen, der Schuld. 53 Vgl. W. Kluxen, Thomas von Aquin: Zum Gutsein des Handelns, a. a. O. S. 333. 54 Diese Formulierung stammt von B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 2. Aufl. Düsseldorf 1980.

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Die genannte Unterscheidung zwischen sittlichen und nichtsittlichen Gütern/Übeln ist also durchaus sinnvoll und notwendig. Sie reflektiert die Differenz zwischen Seinssphäre und Handlungssphäre, zwischen der Perspektive dessen, was einfach ist, was bloß geschieht, was der Fall ist, was sich ereignet auf der einen und der Perspektive der Moral: des freien, vernunftgeleiteten, willentlichen Handelns auf der anderen Seite. Als Unterscheidung zwischen Ereignis- und Handlungssphäre geht die Unterscheidung zwischen sittlichen und nichtsittlichen Gütern auf die Stoa zurück: „Leben, Gesundheit, Lust, Schönheit, Kraft, Reichtum, Ruhm, hohe Geburt und so auch das diesem Entgegengesetzte: Tod, Krankheit, Schmerz, Hässlichkeit, Schwäche, Armut, Ruhmlosigkeit, niedere Geburt" 55 : das alles sind adiaphora (Seneca: indifferentia): „gleichgültige Dinge", - gleichgültig in bezug auf das, worauf es eigentlich ankommt: die Tugend. Nur Tugend ist wirklich gut und schön, nur Laster ist wirklich ein Übel. Tugend ist für die Stoa die richtige Einstellung zu den adiaphora und diese Einstellung heißt Apathie, Affektlosigkeit. Die wirklichen, die sittlichen Güter - Tugenden und tugendhafte Handlungen - sind Güter der Seele 56 . Kant beschreibt das Selbstverständnis des Stoikers treffend auf folgende Weise: „Man mochte also immer den Stoiker auslachen, der in den heftigesten Gichtschmerzen ausrief: Schmerz, du magst mich noch so foltern, ich werde doch nie gestehen, dass du etwas Böses (kakon, malum) seist! er hatte doch recht. Ein Übel war es, das fühlte er, und das verriet sein Geschrei; aber dass ihm dadurch etwas Böses anhinge, hatte er gar nicht Ursache einzuräumen; denn der Schmerz verringert den Wert seiner Person nicht im mindesten, sondern nur den Wert seines Zustandes. Eine einzige Lüge, deren er sich bewusst gewesen wäre, hätte seinen Mut niederschlagen müssen; aber der Schmerz diente nur zu Veranlassung, ihn zu erheben, wenn er sich bewusst war, dass er sie durch keine unrechte Handlung verschuldet und sich dadurch strafwürdig gemacht habe"57.

Die Stoa zog daraus den Schluss, eine Handlung sei sittlich richtig (ein katorthma) allein schon aufgrund der Einsicht in die Gleichgültigkeit jener Dinge, „die weder zur Glückseligkeit noch zur Unglückseligkeit entscheidend mitwirken" 5 8 und der darauf gründenden Affektlosigkeit, nicht aber aufgrund dieser oder jener Art der Durchführung einer Handlung. Den Stoikern war ja der Zustand der Welt ebenso ein adiaphoron und Moral hatte es ihrer Ansicht nach auch nicht damit zu tun, den Lauf der Welt zu verändern. Der zustimmungsfähige Gehalt der stoischen Lehre über die adiaphora bleibt aber zweifellos, dass Zustände und Ereignisse wie Tod oder Leben, Gesundheit oder Krankheit, Reichtum oder Armut, Ruhm oder Schande nicht darüber entscheiden, ob wir auch im sittlichen Sinne als freie Subjekte gut sind59. Die stoische adiaphora-Lehre unterscheidet also eine sittliche Sphäre des Handelns von einer nichtsittlichen Sphäre der Zustände, in denen sich der Handelnde befindet. Jene Auffassung jedoch, die hier zu prüfen ist, behauptet ganz anders eine Differenz zwischen „sittlich gut" und „nichtsittlich gut" innerhalb der Sphäre des Handelns selbst. Sie tritt nicht wie die Stoa - dafür ein, den Bereich des Nichtsittlichen für die Praxis zu vergleichgültigen,

55 Diese Aufzählung berichtet Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, VII, 102; gemäß der Übersetzung von O. Apelt, 2. Aufl. Hamburg 1967, Bd. 2, S. 55. 56 Ebd. 95, S. 52. 57 I. Kant, KpV, A 106 (IV, S. 177 f.). 58 Diogenes Laertius, a. a. O. 104, S. 55. 59 Vgl. auch M. Forschner, Die stoische Ethik, Stuttgart 1981.

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sondern sie teilt die Sphäre der Praxis selbst wiederum auf in einen nichtsittlichen, für das Gutsein der handelnden Person noch nicht entscheidenden, und einen sittlichen Bereich. Die Vertreter dieser Auffassung sind also keineswegs der Meinung, es gehe um Affektlosigkeit bezüglich der Zustände, in denen sich der Handelnde befindet, und die Art dieser Zustände sei deshalb bedeutungslos. Vielmehr halten sie dafür, sittliches Handeln habe es gerade damit zu tun, die Verantwortung für diese Zustände und für den Lauf der Welt wahrzunehmen und diese zu optimieren. Da nun aber z.B. „Leben" oder „Tod" nur ein nichtsittliches Gut oder Übel sind, so wäre in sich betrachtet die Verursachung des Todes eines Menschen nur als Zerstörung eines nichtsittlichen Gutes bzw. als Verursachung eines nichtsittlichen Übels zu kennzeichnen. Ob dadurch auch im Willen dessen, der dieses adiaphoron verursacht ein sittliches Gut oder Übel - also Verdienst oder Schuld - entsteht, wäre damit noch nicht gesagt. Allerdings hängt alles davon ab, was genau damit gemeint ist. Wäre beispielsweise gemeint, nur die intentionale Basis-Handlung „X-töten", bzw. die entsprechende BasisIntentionalität dieser Handlung, könne als sittliches Übel bezeichnet werden, nicht aber der Zustand, dass X tot ist, so könnte man dem zustimmen. Gemeint ist jedoch etwas anderes, nämlich: das Wählen von „X-töten" könne als solches überhaupt noch nicht sittlich bewertet werden und entscheide demnach auch noch nicht über die Sittlichkeit des Willens des Handelnden. Den „X-töten" heisse nur, ein nichtsittliches Übel zu verursachen. Wenn man dies aus ungerechtfertigten Gründen tue, so könne ein solches Tun höchstens falsch sein (s. unten). Von einem sittlichen Übel könne man jedoch nur dann sprechen, wenn derjenige, der den Tod von X verursacht, dies aus Verantwortungslosigkeit, zur eigenen Befriedigung u.a., also aus übler Gesinnung tue. Dagegen nun erhebt sich aber ein gewichtiger Einwand: Denn dies bedeutet, Handlungsweisen wie „einen Menschen töten" nicht als menschliche Handlungen, sondern gleichsam als Naturereignisse zu betrachten, nicht als willentliches X-Töten, sondern als bloßes physische „Verursachung des Todes von X". Man wird einwenden: Ob X lebt oder tot ist, das ist ja ein adiaphoron, ein nichtsittlicher Wert, freilich ein für jede Abwägung hochbedeutsamer. Dem ist zu entgegnen: Damit wird aber die Frage, ob es unter diesen oder jenen Umständen richtig sei, X zu töten, identisch mit der Frage, ob es unter diesen oder jenen Umständen gut sei, dass der Tod von X durch ein Erdbeben verursacht würde! „Gut" ist das ja, sofern wir der Meinung sind, dadurch werde der Zustand der Welt besser. Es ist ja denkbar, dass man gute Gründe dafür hat, wegen des Todes eines Menschen aufzuatmen. Zwischen einer menschlichen Handlung und einem Erdbeben besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied. So kann es unter Umständen auch durchaus gerechtfertigt sein, dass wir Wünsche haben wie: „Hoffen wir, dass X bald stirbt", z.B. weil X unheilbar krank und kaum ansprechbar ist und weil er sehr leidet und es für ihn und für alle wirklich eine Erlösung wäre, er würde sterben. Wir können dies wünschen, weil wir sehen, dass tatsächlich der Zustand „X-tot" besser wäre. Worin aber, so können wir fragen, liegt der Unterschied zwischen „Wünschen, dass X stirbt" und „etwas tun wollen, damit X stirbt", also einer Handlung, die den wünschenswerten Zustand hervorbringt? Ein Wunsch, jemand möge bald sterben, ist keine Intention: Denn eine Intention bezieht sich darauf, etwas zu tun, um den Zustand „X-tot" herbeizuführen. Der Bezug des Willens zum Leben von X ist deshalb ein anderer. Und dieser Bezug des Willens konstituiert ein praktisches und damit ein sittliches Gut oder Übel 60 .

60 Jean-Claude Wolf ist hingegen der Meinung, die Tötungsabsicht sei unerheblich, denn Absichten

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Daraus wird ersichtlich: Die Kategorie „sittlich gut" wird gerade erst in der Perspektive des Handelns begründet. Handlungsweisen und konkrete Handlungen sind ja immer ein intendiertes bzw. gewähltes, also gewolltes Tun. Das hat auch Kant richtig erkannt: „Was wir gut nennen sollen, muss in jedes vernünftigen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein"61. „Zustände", auch wenn sie an sich adiaphora - im stoischen Sinne - sind, werden ja als Wirkungen von menschlichen Handlungen nicht „physisch" sondern moralisch verursacht: aufgrund des Willens von Subjekten, von inneren Einstellungen, Intentionen, aus Freiheit und „freier Selbstbestimmung". Losgelöst von Handlungsweisen gibt es gar keine Intentionen, Einstellungen usw.: Wer etwas intendiert, etwas will oder eine Einstellung zu etwas hat, der intendiert, der will bzw. der hat eine Einstellung immer bezüglich eines Tuns. Wird nun die Unterscheidung von „sittlich" und „nichtsittlich" gut in die Sphäre der Praxis hineingenommen, dann heißt das implizit, „etwas tun" sei gar kein intentionaler Vollzug, sondern nicht anders zu werten als irgend ein Ereignis. Die Beurteilung von Handlungen wie auch ihrer sittlichen Richtigkeit lässt sich damit auf die Beurteilung der durch die Handlung verursachten Sachverhalte reduzieren. Die Ablösung von sittlich guten Intentionen oder Einstellungen von nichtsittlichen Gütern, auf die man sich konkrete Handlungsweisen bezogen denkt, unterstellt einen Menschen, dessen sittliche Intentionen und Einstellungen sich gleichsam im luftleeren Raum formieren. In Wirklichkeit lebt der Mensch als Handelnder in einer Welt von Menschen, Dingen, Umweltbezügen usw., in bezug auf die sich Einstellungen, Intentionen, Wahlakte und Handlungen usw. ausbilden. Die Stoa wollte davon ja gerade absehen, und deshalb bleibt hier die Sache harmlos. Nicht so, wenn man nicht davon absieht: Dann ergeben sich aus der adiaphora-Lehre buchstäblich mörderische Konsequenzen. Man ist ja dann der Meinung, grundsätzlich könne und müsse zwischen dem Leben von Menschen abgewogen und das eine dem anderen vorgezogen werden, je nach den Folgen, die sich aus dem Tod des einen oder des anderen voraussichtlich ergeben. Jemanden töten heißt dann nur, ein nichtsittliches Übel verursachen. Was man, in einem sittlich relevanten Sinne, dann täte, wäre allein, das Eintreten einer optimalen Folgenbilanz, eines optimalen Weltzustandes zu veranlassen. Eine Einstellung, die sich durch das Abzielen gerade darauf kennzeichnete, wäre dann „sittlich gut" zu nennen62.

bildeten keine „unabhängigen normativen Faktoren". Einzig entscheidend sei die „Bewertung des Zieles", d.h. die Bewertung der durch das Tun bewirkten Sachverhalte und Zustände. Allein danach sei auch die Bewertung von Absichten zu richten. Wolfs konsequent konsequentialistische Position betrachtet damit „Handeln" als ein Verursachen von Ereignissen, Sachverhalten, Weltzuständen und lehnt entsprechend konkurrierende Positionen als fehlerhaft, irrational und borniert ab. Vgl. J.-C. Wolf, Der intendierte Tod, in: A. Holderegger (Hrsg.), Das medizinisch assistierte Sterben. Zur Sterbehilfe aus medizinischer, ethischer, juristischer und theologischer Sicht, Freiburg/Schweiz, Freiburg und Wien 1999, S. 76-97. 61 I. Kant, KpV, A 106-107 (IV S. 178). 62 Zur Auseinandersetzung mit dieser konsequentialistischen Position s. unten, V, 4, f, sowie M. Rhonheimer, Intentional Actions and the Meaning of Object: A Reply to Richard McCormick, a. a. O. (darin geht es u. a. um einen Artikel von J. Fuchs, Der Absolutheitscharakter sittlicher Handlungsnormen, in: H. Wolter [Hrsg.]: Testimonium Veritati, Frankfurt/M. 1971, S. 211-240, bes. S. 230-233, der die hier kritisierte Auffassung exemplarisch vertritt).

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Die hier kritisierte Unterscheidung scheint grundlegend das Thema der Ethik bzw. die Perspektive der Moral zu verfehlen: Willentliches Handeln und darauf bezogene und dadurch formierte Einstellungen, Gesinnungen usw., bzw.: Das Gutsein des Menschen als freies Subjekt durch Handeln. Der Bereich sittlicher Intentionen, Absichten, Einstellungen deckt sich genau mit jenem Bereich, der umfasst, was zu tun sittlich gut oder schlecht ist63. Es wird damit klar, dass innerhalb der Perspektive der Praxis die Termini „sittlich gut" und „sittlich schlecht" eigentlich redundante Termini sind: Denn hier sprechen wir vom Gut- bzw. Schlechtsein von Handlungen, und diese können niemals nur „nichtsittlich" gut oder schlecht sein. (2) Die Unterscheidung von „richtig" und „gut", bzw. „falsch" und „schlecht" (in bezug auf Handlungen bzw. Personen). Diese Unterscheidung hängt eng mit der vorherigen zusammen 64 . Ihr gemäß ist eine Handlung „richtig" oder „falsch", je nachdem ob sich daraus voraussichtlich die bestmöglichen Folgen ergeben, wobei diese Folgen einen Zustand meinen, der durch die Existenz oder Nichtexistenz von nichtsittlichen Gütern/Übeln gekennzeichnet ist (so könnte es z.B. richtig sein, einen Menschen zu töten, wenn dadurch, und nur dadurch, zehn anderen das Leben gerettet wird. „Leben" ist dabei ein nichtsittliches Gut). Ob eine Handlung und damit die handelnde Person auch sittlich gut sei, das hängt, gemäß dieser Ansicht, wiederum von der Einstellung, der guten Absicht oder auch davon ab, ob man z.B. im Handeln das Gewissen anderer respektiert. Für viele Autoren gilt deshalb generell: Handlungen sind richtig oder falsch; Handlungssubjekte, Personen sind gut oder schlecht (böse). So lesen wir z.B. bei W. K. Frankena: „Mit einigen unserer moralischen Urteile sagen wir, dass eine bestimmte Handlung oder Klasse von Handlungen moralisch richtig, falsch, geboten oder pflichtgemäß ist, dass man sie ausführen sollte oder nicht. In anderen sprechen wir nicht von Handlungen oder Klassen von Handlungen, sondern über Personen, Beweggründe, Absichten, Charakterzüge und dergleichen und sagen von ihnen, dass sie moralisch gut, schlecht, tugendhaft, lasterhaft, verantwortlich, tadelnswert, verachtenswert usw. sind" 65 .

Gemeint ist also letztlich: „Richtigkeit" oder „Falschheit" sind Prädikate zur Beurteilung der „sachlichen" moralischen Angemessenheit von Handlungs- oder Verhaltensweisen. Als „gut" oder „schlecht" hingegen bewerten wir Personen bzw. Handlungen, insofern wir sie gleichsam als Inkarnationen von inneren Einstellungen betrachten, welche die Güte von Personen zum Ausdruck bringen. Zur Veranschaulichung der für konsequentialistische bzw. teleologische Ethik charakteristischen Aufsplitterung menschlichen Handelns und seiner sittlichen Beurteilung in eine intentionale Ebene und eine Verhaltens-Ebene mag das folgende Schema dienen:

63 Zu diesem Ergebnis gelangt auch richtig A. Donagan, The Theory of Morality, Chicago & London 1977, S. 127. 64 Sie wurde eingeführt von W.D. Ross, The Right and the Good, Oxford 1930, und hat seither bei angelsächsischen Philosophen beinahe kanonische Geltung erlangt. 65 W. K. Frankena, Analytische Ethik, München 1972, S. 27. (Orig.: Ethics. Englewood Cliffs, N. J. 1963).

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3 . D I E KONSTITUIERUNG VON G U T UND Ü B E L

Ebene der Intentionen (Absichten, Gesinnung):

Ebene des konkreten Verhaltens oder Tuns:

Die Handlung / die handelnde Person ist:

Durch:

Ergebnis:

sittlich gut / schlecht

Intendieren sittlicher Werte*

guter/böser Wille

Die Handlung ist /die Person handelt:

Durch:

Ergebnis:

sittlich richtig / falsch

Optimierung nichtsittllicher Werte (Güterabwägung)

Zustände der Welt Sachverhalte

*) Ein solcher sittlicher Wert, durch dessen Intendierung die Person gut wird, ist hier gerade auch das Bemühen um die Richtigkeit des konkreten Handelns bzw. Verhaltens (untere Ebene), unabhängig jedoch davon, ob das Richtige dann auch tatsächlich getroffen wird. Nicht ob wir richtig handeln entscheidet über die Güte unseres Willens, sondern ob wir jeweils die Richtigkeit unseres Handelns anstreben. Selbstverständlich ist auch diese Unterscheidung zunächst derselben Kritik ausgesetzt, wie die zuvor diskutierte: Sie löst „Handlung" aus dem Kontext der Praxis heraus, betrachtet sie also gar nicht als Gegenstand eines Willens, sondern vielmehr als ein Ereignis, das bestimmte andere Ereignisse bewirkt (Folgen, Zustände der Welt, der Gesellschaft, der von der Handlung betroffenen Personen), oder als ein Geschehen, das bezüglich „Geboten" oder „Pflichten" als diesen entsprechend oder nichtentsprechend beurteilt werden kann 66 . Für diese Unterscheidung scheint allerdings der allgemein anerkannte Zusammenhang zu sprechen, dass es tatsächlich möglich ist, dass eine „falsche" Handlung eine „sittlich gute" Handlung und eine „richtige Handlung" dennoch eine „sittlich schlechte H a n d l u n g " sein kann; dass es möglich ist, falsch zu handeln und doch ein guter Mensch zu sein. Falls mit dieser Unterscheidung gemeint ist, eine technisch, funktional richtig, d.h. effizient ausgeführte Handlung könne dennoch sittlich schlecht sein, so bleibt die Unterscheidung ohne weitere Bedeutung. Denn ebenso könnten wir dann j a sagen, das technisch Richtige sei u.U. sittlich unrichtig, so wie eine richtig durchgeführte Operation immer noch ein Mord sein kann oder ein verwerfliches Verbrechen technisch perfekt ausgeführt zu werden vermag. Anstelle des Wortes „richtig" könnten wir dann freilich auch das Wort „gut" - und zwar in seiner sektoriellen Bedeutung - gebrauchen, die sich von der spezifisch moralischen unterscheidet (vgl. oben 4,b): In der moralischen Bedeutung von „gut" bewerten wir nicht die Kochkunst des Kochs, sondern sein Handeln insofern er Mensch ist. Sprechen wir aber von dieser moralischen Dimension einer Handlung, dann ist es wiederum ganz einerlei, ob wir sie (sittlich) gut oder (sittlich) richtig nennen. Vorausgesetzt wir wissen, dass wir über eine Handlung in ihrer moralischen Dimension sprechen, so ist dann sogar das Prädikat „sittlich" überflüssig.

66 Auf diese der sogenannten „teleologischen Ethik" oder Konsequentialismus zugrunde liegende Auffassung von Handeln wird später einzugehen sein; s. unten V, 3,c und 4,f.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

In der Perspektive sittlichen Handelns ist das „Richtige" eine Konkretisierung sittlicher Werte in Handlungen. Und deshalb ist das Richtige auch jeweils das konkret sittlich Gute, und ebenso ist deshalb für das sittliche Gutsein einer Handlung deren funktionale, technische Richtigkeit - und mithin die Kompetenz des Handelnden - gerade konstitutiv. Denn anders könnte man ja höchstens Gutes „intendieren", aber niemals Gutes tun. Das praktisch Gute schwebt nicht im Wertehimmel, sondern liegt in konkreten menschlichen Handlungen. Nicht die Idee der Solidarität beispielsweise oder eine grundsätzlich „solidarische Einstellung" ist das praktisch Gute, sondern einzig und allein die konkrete solidarische Handlung, der Akt der Solidarität. Er entspringt solidarischer Gesinnung und erzeugt sie gleichzeitig als feste innere Haltung oder Tugend. Solche Akte der Solidarität und die ihr entsprechende Gesinnung werden in der Idee der Solidarität begrifflich erfasst. Der wahre Kern der Unterscheidung zwischen „richtig" und „gut" lässt sich viel besser rechtfertigen mit der früher verwendeten handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen Intentionen und auf konkrete Handlungsweisen (die „Mittel") bezogenen Wahlakten: Schlechte Handlungen können mit guten Intentionen, gute Handlungen mit schlechten Intentionen gewählt und ausgeführt werden. Was in sich betrachtet eine gute Handlung ist, kann - aufgrund der Absicht - eben eine schlechte Handlung sein, obwohl sie, von der Absicht abgesehen, richtig d.h. an sich gut wäre67. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Jemand tut mit guter Absicht das Falsche. Hier gibt es wiederum zwei Möglichkeiten: Erstens, der Betreffende handelt (mit guter Absicht und Gesinnung) in einer Weise falsch, die wir ohne weiteres auch als „schlecht" bezeichnen würden. Dies trifft dann zu, wenn er für die Unrichtigkeit seines Tuns selbst verantwortlich ist, d.h. wenn sein unrichtiges Tun einem Mangel an sittlicher Vollkommenheit entspringt. Dies ist z.B. der Fall, wenn jemand aufgrund des Einflusses von Affekten, Emotionen, Leidenschaften überstürzt (kopflos), ängstlich oder mit mangelnder Standhaftigkeit handelt. Die Unrichtigkeit seines Tuns entspringt letztlich einem Mangel an Klugheit. Wer aber aufgrund von Unklugheit das Falsche tut, der handelt gerade (sittlich) schlecht (über „Klugheit" vgl. unten, IV,3,c). Nur in einem zweiten Fall der Kombination „gute Absicht + falsche Tat" kann man wirklich sagen: „Er hat zwar falsch, aber (sittlich) gut gehandelt". Nämlich dann, wenn die Falschheit des Tuns einem Irrtum entspringt, für den man nicht verantwortlich ist. Ein Beispiel: A möchte etwas Wohltätiges tun und macht B eine Schenkung, ohne zu wissen dass B ein Drogenhändler ist. Das ist natürlich eine „unrichtige" Handlungsweise, vorausgesetzt wir sind der Meinung, dass es falsch ist, den Drogenhandel zu unterstützen. Aber da A meinte, er unterstütze ein Sozialwerk, war seine Handlung sicher eine sittlich gute Handlung: Sie war gerecht, wohlwollend und großzügig und entsprechend können wir A aufgrund seins Tuns als gerechte, wohlwollende und großzügige Person bewerten. Hätte A jedoch gewusst, dass B ein Drogenhändler ist, dann wäre „B eine Schenkung machen" nicht nur falsch, sondern eben auch sittlich schlecht. Denn mit der Meinung, es sei falsch, das Drogengeschäft zu fördern meinen wir ja, es sei auch sittlich schlecht, dies durch die Unterstützung von Drogenhändlern zu tun.

67 Genau so argumentiert gegen W.D. Ross auch P. Geach, Good and Evil, in: Analysis 17 (1956), S. 33^-2. Wiederabgedruckt in: Ph. Foot (Hrsg.), Theories of Ethics. Oxford 1967, S. 64-73; bes. S. 72.

3 . D I E KONSTITUIERUNG VON G U T UND Ü B E L

125

Der Unterschied zwischen „richtig" und „gut" beruht hier also einfach darauf, dass A gar nicht wusste, was er tat, und es auch nicht wissen konnte, d.h. dass er für seine Unwissenheit keine Verantwortung trägt 68 . Hätte er aus guter Absicht, aber leichtfertig gehandelt, so wäre „B eine Schenkung machen" nicht nur unrichtig, sondern auch schlecht d.h. unklug (wenn auch aus einem anderen Grund, nämlich wegen Leichtsinn oder Fahrlässigkeit). Die Richtigkeit einer Handlungsweise von ihrer Gutheit zu unterscheiden kann also nur in jenen Fällen sinnvoll sein, in denen ein Grund vorliegt, eine Handlung unabhängig von den intentionalen Bedingungen zu beurteilen, unter denen Handlungen normalerweise gewählt werden. Und das hat ja nur einen Sinn, wenn der Handelnde in Wirklichkeit gar nicht tat (wählte), was er zu tun (zu wählen) meinte. Wenn wir deshalb sagen, eine konkrete Handlung sei zwar gut, aber unrichtig gewesen, so meinen wir: Eigentlich war sie eine „schlechte" Handlung, aber sie wurde nicht unter jenen Bedingungen vollzogen, unter denen menschliche Handlungen überhaupt als (sittlich) gut oder (sittlich) schlecht bewertet werden können, also unter der Bedingung, dass der Handelnde auch genau das wollte, was er in Wirklichkeit tat, bzw. genau das wählte, was er zu wählen meinte. Da dies aber gerade nicht der Fall war, so war die Handlung nicht schlecht, dennoch aber unrichtig. Und das heißt im obigen Beispiel: Moralisch (d.h. intentional) gesehen hat A tatsächlich einen Akt der Gerechtigkeit und der Großzügigkeit vollzogen, obwohl er faktisch einen Ring von Drogenhändlern unterstützte; aber das lag ja außerhalb seiner Intentionen, und das hat er auch nicht gewählt, folglich hat er es (in einem intentionalen, moralisch relevanten Sinn) auch gar nicht getan. Deshalb, und das ist wie immer der Indikator, würden wir ihn auch nicht tadeln, sondern entschuldigen. Es bleibt aber zu beachten: Die eben aufgewiesene Unterscheidung zwischen „gut" und „richtig" tritt allein in der Perspektive dessen auf, der die Handlung eines anderen bzw. eine eigene, bereits vollzogene Handlung beurteilt; d.h. aus der Perspektive der „dritten Person". Niemals aber kann sie den Standpunkt des praktischen, im Wahlakt implizierten Urteils reflektieren, das zum Handeln führt. In dieser Perspektive der „ersten Person" wird ja notwendigerweise immer das „hier und jetzt gut Scheinende" in der Meinung gewählt, es sei das hier und jetzt Richtige, und nur deshalb ist ja auch der Irrtum möglich, der zum Auseinandertreten von „richtig" und „gut" im Handeln führt. Diese Unterscheidung entspricht der traditionellen Differenzierung von „formeller" und „materieller" Sünde. Eine materielle Sünde ist eine an sich unrichtige (schlechte) Handlungsweise, die aber ohne subjektive Möglichkeit der Einsicht in diese Unrichtigkeit gewählt wurde. Der Handelnde han-

68 Man nennt diese Art der Unwissenheit traditionellerweise ignorantia facti, Unwissenheit hinsichtlich eines reinen (handlungsrelevanten) Faktums; dies im Unterschied zur sog. ignorantia iuris, die Unwissenheit hinsichtlich der sittlichen Berechtigung, eine Handlung ausführen zu dürfen (Unkenntnis der sittlichen Norm). Die Frage, ob es möglich ist, aufgrund dieser zweiten Art von Unwissenheit - sofern man seinem Gewissen folgt - zwar sittlich falsch, aber dennoch „sittlich gut" zu handeln und zu sein, wird später, im Zusammenhang mit dem Gewissen, kurz behandelt werden (V, 2). Dabei geht es also z.B. um die Frage, ob jemand, der aus der Überzeugung, dies sei richtig, rassistisch handelt, sexuelle Promiskuität praktiziert, aus politischen Gründen terroristische Aktivitäten entwickelt oder, gemäß unserem Beispiel, den Drogenhandel unterstützt, zwar falsch (aus Irrtum hinsichtlich der sittlichen Norm) handelt, aber insofern er mit Überzeugung seinem Gewissen folgt, eben dennoch „sittlich gute" Handlungen vollzieht und deshalb auch ein guter Mensch ist.

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I I I . SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

delt demnach falsch (materiell schlecht), aber (sittlich) gut. „Formell" ist eine Sünde, wenn das Unrichtige mit Einsicht in dessen Unrichtigkeit bzw. aus selbstverschuldeter Unwissenheit getan wird. Nur die „formelle Sünde" ist eine (sittlich) schlechte und damit eine schuldhafte Handlung, d.h. für den Handelnden ein sittliches Übel.

Diese Überlegungen zeigen, dass eine Ethik, für welche die Unterscheidung zwischen „richtig" und „gut" konstitutiv, d.h. am falschen Ort bedeutsam ist, eine Ethik ist, welche Handlungen nicht unter den normalen Bedingungen betrachtet, unter denen sie sich als menschliche d.h. intentionale Handlungen konstituieren. Sie ist eine Ethik der „dritten Person", die den Standpunkt des handelnden Subjekts und damit die Perspektive der Moral von Anfang an verfehlt. Damit klammert eine solche Ethik die Tatsache aus, dass Handlungen Inkarnationen von Willensakten und nicht bloße Ereignisse sind, dass sie gewollt, gewählt werden, dass also in jedem menschlichen Handlungs vollzug ein intentionales „Wozu?" impliziert ist, durch das der Wille des Handelnden geprägt wird. Sie klammert deshalb auch aus, dass der Mensch gerade dadurch, dass er handelt, bzw. konkrete Handlungen und Verhaltensweisen wählt, sich zu einem guten oder schlechten Menschen hin verändert: Das Gutsein der Person - ihre Eigenschaft als wohlwollende, gerechte, großzügige Person - entscheidet sich eben gerade dadurch, auf welche Art von konkretem Tun sich der wählende Wille als sein Gut ausrichtet. Näherhin wird deshalb in der Scheidung von (sittlich) „richtig" und „gut" übersehen, dass auch Intentionen, Absichten, Einstellungen sich immer auf Handlungsweisen beziehen, und dass eben Dummheit, selbstverschuldete Inkompetenz und Unwissenheit mit sittlicher Tugend - dem Gutsein der Person - nicht vereinbar sind. Nur dann kann „das Falsche tun" auch eine gute Handlung sein, wenn man schlicht nichts dafür kann, dass man das Falsche für das Richtige hält: und dann ist Unwissenheit eben auch keine Dummheit, sondern ein bloßes Ereignis, zu dessen Folgen man sich ähnlich verhalten wird, wie man sich zu den Folgen eines Erdbebens verhält: Nicht mit Tadel, sondern mit Bedauern und Mitleid69. Freilich ist es auch denkbar, dass jemand gut handelt, jedoch nicht mit Freude am Guten, sondern aus reinem Pflichtbewusstsein, aus Überwindung oder um einen Nachteil zu vermeiden. Er besitzt zwar keine schlechte Absicht, aber seine Gesinnung ist mangelhaft. Eine solche Handlung ist zwar gut zu nennen, aber sie besitzt nicht jene Eigenschaft, die wir meinen, wenn wir sagen, eine Handlung sei tugendhaft. Sie entspricht dem, was die Tugend verlangt - und in diesem Sinne ist sie auch richtig - , nicht aber entspricht sie dem Modus, demgemäß der Tugendhafte das Richtige tut: Aus affektiver Neigung zum Guten (s. unten IV). Dennoch ist auch dieses Richtige gerade das (sittlich) Gute, wenn auch nicht im Modus seiner höchsten Vollkommenheit. 69 Die Widersprüche, die sich aus der prinzipiellen moraltheoretischen Scheidung von „gut" und „richtig" ergeben, haben dann Moraltheologen wie J. F. Keenan - nicht ohne Konsequenz - zur Behauptung geführt, dass auch die Richtigkeit des Strebens auf der Ebene der sittlichen Tugend überhaupt noch nichts über das Gutsein der Person aussage. Damit wird der gesamte Bereich der menschlichen Ethik nur noch durch die Kategorien von „richtig" und „falsch" erfassbar. Der Theologe Keenan schließt daraus, nur durch die gnadenhaft eingegossene Caritas werde der Mensch „sittlich gut" (unabhängig davon also, ob er auf der menschlichen Ebene „richtig" ist). Vgl. J. F. Keenan, Die erworbenen Tugenden als richtige (nicht gute) Lebensführung: Ein genauerer Ausdruck ethischer Beschreibung, in: F. Furger (Hrsg.), Ethische Theorie praktisch, Münster 1991, S. 19-35; sowie Keenan, Goodness and Rightness in Thomas Aquinas's Summa Theologiae, Washington D. C. 1992.

3 . D I E KONSTITUIERUNG VON G U T UND ÜBEL

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Fazit: Das Richtige einer Handlung ist ein aus dem ursprünglichen Phänomen „gute Handlung" herausgelöstes Element. Der Begriff der Richtigkeit einer Handlung im Unterschied zu ihrem Gutsein beruht auf einer von der intentionalen Struktur menschlicher Handlungen absehenden Abstraktion. Die Unterscheidung zwischen „richtig" und „gut" ist somit gar keine relevante Unterscheidung. Wichtig ist vielmehr die Unterscheidung der Perspektiven, innerhalb derer wir jeweils von Handlungen sprechen: Man kann Handlungen „von außen" als Ereignisse und Ursachen von Zuständen ansehen; oder aber als intentionale Vollzüge, und dies wiederum sektoriell eingeschränkt oder aber als „menschliche Handlungen", d.h. als intentionale Handlungen eines Subjekts insofern er Mensch ist. Innerhalb jeder dieser Perspektiven können wir jedoch „gut" und „richtig" jeweils als Synonyme gebrauchen: Wenn wir meinen, es sei gut, dass ein bestimmter Mensch endlich gestorben ist, so können wir auch sagen: Es war genau das Richtige für ihn. Eine technisch richtig ausgeführte Herzoperation ist ebenso eine technisch gut ausgeführte. Und eine sittlich gute Handlung ist ebenso eine richtige Handlung (abgesehen vom Ausnahmefall des unverschuldeten Irrtums), bzw. das im sittlichen Sinne Richtige tun bedeutet, weil es das Richtige ist, auch ein Zuwachs an sittlichem Gutsein der Person (vorausgesetzt, es wurde nicht mit übler Absicht getan). Die Bedeutungsverschiedenheit der Synonyme gut/richtig ergibt sich jeweils ausschließlich aus der (ereignishaften, technisch-sektoriellen oder moralischen) Perspektive, aufgrund der man von „Handlung" spricht. Das Prädikat „gut" besitzt allerdings in der Umgangssprache eher einen weiteren Bedeutungsspielraum, als das Prädikat „richtig" oder „recht". So schreibt Manfred Riedel korrekt: „Wenn wir uns hier wiederum an der Umgangssprache und am hermeneutischen ,Vorverständnis' von Handlungsbegriffen orientieren, so dürfen wir festhalten, dass Handlungen ,gelobt' und ,getadelt' werden, Wirkungen oder Ereignisse nicht. Für Misserfolge und Versagen z.B. werden wir bedauert oder getröstet, wie uns andererseits Erfolge entweder gewünscht oder geneidet werden. Entsprechend unterschiedlich sind die Verwendungsregeln für Wertungsprädikate. Während wir sowohl von Ereignissen als auch von Handlungen sagen können, sie seien ,gut' oder .schlecht', sind .Ereignisse' nicht als ,recht' oder .unrecht' anzusprechen. Nur von Handlungen können wir mit Sinn sagen, sie seien entweder,recht' (.richtig') oder .unrecht' (.verkehrt')" 70 . Freilich bleibt es auch hier dabei: Ob „gut" und „schlecht" eine sittliche Konnotation besitzen, hängt von der Perspektive ab, in der man diese Prädikate verwendet. „Gut" und „schlecht" als Prädikate von Handlungen fallen in eins mit den Prädikaten „richtig" und „falsch".

Ethiken, die innerhalb der moralischen Perspektive selbst eine Unterscheidung zwischen „richtig" und „gut" für relevant halten, beruhen darauf, dass sie konkrete Handlungen letztlich nicht als intentionale Vollzüge, sondern analog zu zustandsverändernden Ereignissen verstehen (darauf wird in V,3 und 4 zurückzukommen sein)71. Sie müssen deshalb den intentionalen 70 M. Riedel, Handlungstheorie als ethische Grunddisziplin, a. a. O. S. 146. 71 Freilich handelt es sich hier um eine implizite, nicht gewollte Verfehlung des intentionalen Charakters von Handlungen. Auch j e n e Autoren, die in meinem oben erwähnten Artikel „Intentional actions and the meaning of object: A Reply to Richard McCormick" kritisiert werden versuchen selbstverständlich Handlungen intentional zu beschreiben. Aber sie reduzieren das intentionale Element von Handlungen auf die Ebene der Einstellungen, mit denen Handlungen vollzogen werden; sie beschreiben also nicht den konkreten Handlungsvollzug selbst als intentionalen Akt. In Wirklichkeit gelangen sie deshalb nicht zum Begriff der „intentionalen Handlung", sondern zu einer bloßen Zusammenfügung von physischen Elementen (konkrete Akte) und Intentionen (Absichten, mit denen man diese Akte „ausführt").

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Aspekt des Handelns auf der Ebene der Einstellungen, Gesinnungen, Fundamentaloptionen nachholen und ihn darauf beschränken. „Handeln" wird dadurch zu einem hybriden G e m i s c h v o n (guten) „Intentionen" und (richtigen) „Eingriffen in den B e r e i c h der nichtsittlichen Güter". D a s Paradigma dieses Handlungsbegriffs ist eher ein technologisches. Vor allem aber scheint hier ein grundlegender methodologischer Fehler vorzuliegen: A u f der E b e n e konkreter H a n d l u n g s v o l l z ü g e wird n ä m l i c h über „Handeln" aus der B e o b a c h terperspektive gesprochen; Handlungen erscheinen somit in Analogie zu Ereignissen. Nur auf der Ebene der „Gesamtperson", d.h. jener der Intentionen, Einstellungen, Gesinnungen usw. werden Handlungen in der eigentlichen Handlungsperspektive als (personale) V o l l z ü g e freier und willentlich zu Gut und Übel Stellung nehmender Subjekte anerkannt. D i e s e Aufspaltung in eine, w i e es oft heißt, „kategoriale" und eine „transzendentale" Ebene scheint aber ebenso unbegründet w i e die gleichzeitige Verwendung und damit die Vermischung beider Perspektiven unstatthaft ist. Die Unterscheidung von „richtig" und „gut" wird immer für solche Ethiker ihre Plausibilität behalten, die in der Ethik vom Phänomen „sittliche Norm" oder „sittliche Pflicht" ausgehen. Man splittert dann Ethik auf in eine sogenannte „normative Ethik", die uns darüber Auskunft gibt, wie man Urteile darüber fällt, was „getan werden soll", bzw. wozu man verpflichtet ist (das „richtige" Handeln"), um dann hinzuzufügen, dass eben eine richtige Handlung nur dann auch sittlich gut ist (Ausdruck des Handelns eines „guten Menschen"), wenn auch die Absicht, die Einstellung usw. gut ist: Wenn man also z.B. „aus reiner Pflicht", „aus wohlwollender Gesinnung" oder aus „Verantwortungsbewusstsein" handelt. Es scheint, hier werde die Ethik von der falschen Seite her entwickelt (und die Disziplin „Metaethik" muss dann dazu dienen, die daraus entstehenden Probleme zu lösen: Fragen wie, was denn überhaupt eine sittliche Norm sei, was Pflicht, was eine Tugend, was mit dem Wort „gut" gemeint sei usw.). Wir sind umgekehrt vorgegangen (und „metaethische" Fragen lösen sich dabei im Gang der Erörterung, d.h. sie sind gar keine meta-ethischen Fragen mehr): Beginnend von der Analyse menschlichen Handelns und seines Gutseins, werden wir erst abschließend zur Bestimmung dessen gelangen, was überhaupt eine sittliche Norm und was eine sittliche Pflicht ist. Die eben kritisierte Auffassung jedoch, die typisch ist für das, was man Utilitarismus, Konsequentialismus, Proportionalismus oder „teleologische Ethik" nennt, beginnt mit einer Fraktionierung des Phänomens Moral in sittliche Normen einerseits und Tugenden, sittliche Einstellungen, d.h. innere Haltungen, mit denen man Normen befolgt andererseits, um dann im nachhinein zu versuchen, eine Einheit zwischen beiden Elementen wieder herzustellen. Das scheint jedoch nicht möglich zu sein, weil, was eine sittliche Norm und eine sittliche Pflicht ist, gar nicht begründet werden kann, wenn wir nicht vorher wissen, was eine gute menschliche Handlung eigentlich zu einer solchen macht, d.h. wenn wir nich wissen, was sittliche Tugend ist. Versäumt man dies, so wird das sittlich Normative letztlich zu einem sozialpsychologischen Phänomen, bzw. zu dem, was politisch, sozial, ökonomisch, technologisch, biologisch zweckmäßig bzw. praktikabel und zumutbar ist. Das allein hat aber nichts mehr mit Ethik oder Moral zu tun, sondern ist eher Ersatz für Ethik und Moral (es sei denn, es handele sich um politische Ethik und Moral; die Diskursethik zielt zwar in diese Richtung, scheint aber nur eine Diskursethik von Politik und Recht als ethischen Diskurs zuzulassen). D i e vorherigen kritischen Ü b e r l e g u n g e n v e r w e i s e n uns nun d e m n a c h auf e i n e vertiefte Analyse dessen, was mit „sittlich gut", d.h. mit „gut" in der Perspektive der Moral gemeint ist. „Sittlich gut", so können wir bisher sagen, ist ein Attribut von menschlichen Handlungen und dadurch natürlich auch von handelnden Personen. Als „sittlich gut" bezeichnen wir also, w a s wir praktische Gegenstände, d.h. Gegenstände eines vernunftgeleiteten Strebens (Wille) und damit praktischer Vernunft nannten.

3 . D I E KONSTITUIERUNG VON G U T UND Ü B E L

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d) Die moralische Differenz Menschliche Praxis hat es zu tun mit anderen Menschen und Dingen, aber auch mit naturalen Strebungen, Neigungen, Trieben im menschlichen Handlungssubjekt selbst (darüber wurde bisher noch wenig gesprochen). Insofern all dies in den Bereich menschlicher Praxis fällt, d.h. insofern es in den Bereich des Strebens, Wollens, Intendierens, Wählens (des willentlichen „Sich-verhaltens-zu") eingeht und darauf bezogen sich Handlungen formieren können, erscheint es dem handelnden Subjekt als ein Gutes, weshalb, um noch einmal Aristoteles zu zitieren, „man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt" 72 . Ein praktisches Urteil der Art „p ist gut" ist, wie wir sahen, kein Aussage-Urteil über x,y,... z (Menschen, Dinge, Triebe usw.), sondern ein Urteil über die Beziehung zwischen je meinem Willen und x, y,... z (eigentlich ist es das in diesem Willen implizierte bzw. das diesen Willen formende Urteil). Im praktischen Urteil „p ist gut" meint also „p" nicht x oder y (z.B. „Peter" oder „Auto"), sondern „etwas in bezug auf x, y,... z wollen", denn etwas wollen heißt ja, es als gut beurteilt zu haben. „P ist gut" meint demnach z.B. „x kaufen wollen", „y essen wollen", „z töten wollen". Sich also zu x,y,... z praktisch verhalten, heißt so viel wie „p in bezug auf x" oder „q in bezug auf y" intendieren oder wählen. Das Urteil „p ist gut" meint also z.B. „ich will x kaufen" oder „nehmen" usw. Inhalt und Wirkung eines solchen Urteils ist eine Handlung. Handlungen sind also realisierte Intentionen und Wahlakte in bezug auf x,y,... z. Solche Urteile können formuliert werden als „es ist gut, x zu kaufen" (= „p ist gut"); „es ist gut, y zu entwenden" (= „q ist gut"). Insofern wir etwas als „zu tun" beurteilen, so beurteilen wir es immer als gut. Wir tun nichts aufgrund des Urteils „es ist schlecht, x zu kaufen" (= „p ist schlecht"); denn dieses letztere Urteil heißt nichts anderes als „p ist nicht zu tun". Praktische Urteile, die zum Handeln führen - es ist dies in letzter Instanz das Wahlurteil (iudicium electionis) - sind also stets Urteile der Art „p ist gut". Klassisch wurde dies mit dem Satz ausgedrückt: „quidquid appetitur, appetitur sub ratione boni", „alles, was erstrebt wird, wird erstrebt, insofern es ein Gutes ist", es wird unter dem Gesichtspunkt „gut" erstrebt, - und nur deshalb kann ein solches Streben dann auch zum Handeln führen (denn das praktische Prädikat „schlecht" ist gerade Korrelat des Meidens, Fliehens, Ablassens von einem Tun) 73 . Man kann freilich auch durch das willentliche Unterlassen einer Handlung etwas tun, und insofern ist das auch eine Handlung. Nicht immer jedoch tut man etwas (handelt man), wenn man etwas unterlässt. Wenn A einen Ertrinkenden B, den er retten könnte, absichtlich nicht rettet, begeht A mit seiner

72 EN 1,1 1094a 2. 73 Vgl. Kants Kritik an diesem Prinzip in KpV A 103 f. (IV, S. 176 f.). Er versteht es allerdings auf seine Weise, nämlich einerseits hedonistisch als die von ihm zurückgewiesene Behauptung, wir erstrebten in allem, worauf wir aus sind, unser „Wohl und Wehe", unsere Annehmlichkeit bzw das Meiden von Unannehmlichkeit; anderseits in einer für ihn zustimmungsfähigen Weise, insofern es bedeute, dass wir in allem das gemäß „der Anweisung Vernunft" für uns für gut Gehaltene suchen bzw. entsprechend Böses meiden. Beides geht jedoch am Sinn des klassischen Diktums vorbei. Kant verpasst hier nicht zufällig die Pointe. Das Prinzip ist formaler Natur und wird gerade durch beide von Kant angeführten Möglichkeiten bestätigt. Das Prinzip sagt uns nämlich noch gar nichts über die Natur des „Guten", sondern nur über die Natur des Strebens bzw. Wollens. Das Prinzip ist konstitutiv für eine eudämonistische Ethik, die auf die Analyse von Strebeakten zentriert ist.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Unterlassung eine Tötungshandlung. Das Urteil, das zur Unterlassung führt, lautet: „p ist gut", wobei „p" eben meint: „B ertrinken lassen". Hier wird also das Ertrinken-lassen von B als „gut" gewählt (unter der Beschreibung „damit B stirbt"). Wenn es A jedoch unmöglich ist, B zu retten (weil er z.B. nicht schwimmen und keine Hilfe holen kann), obwohl er es wollte, so erfolgt die Unterlassung nicht infolge eines Wählens in bezug auf „das Ertrinken-Lassen von B", sondern infolge eines Wählens in bezug auf das „Retten von B". Dieses wird nun hier nicht gewählt, und zwar aufgrund eines Urteils der Art: „p ist nicht gut", wobei hier „p" meint: „B retten" (bzw. „ins Wasser springen, um B zu retten"). Mit dieser Art von Unterlassung wird also nicht etwas getan, sondern einfach etwas nicht getan; das heißt, es wird keine Handlung vollzogen.

Dennoch aber sagen wir nicht nur „p ist gut" sondern auch „q ist schlecht", und wir betrachten beide Urteile als praktisch relevante Urteile. Aufgrund dieser Art von Urteilen tun wir aber nicht bereits unmittelbar etwas, sondern beurteilen wir überhaupt erst einmal ein (mögliches oder bereits vollzogenes) Tun als „zu tun" oder „nicht zu tun". Während im ersten Sinne „gut" hieß, „p ist zu tun" (und entsprechend „schlecht": „q ist nicht zu tun" oder „zu meiden"), und dies bereits meint, dass ich jetzt unmittelbar p tun will, es also wähle (bzw. q meide, oder wähle, q nicht zu tun), so heißt nun „gut" und „schlecht" im zweiten Sinne soviel wie „p-tun ist gut, q-tun hingegen ist schlecht" (möglich ist auch: „p-nicht-Um ist gut" oder „p-nicht-tm ist schlecht"). Diese zweite Art von Urteilen kann dann zu einem Urteil der ersten Art, zu einem Wahlurteil führen: Aus „p-tun ist gut" wird (nach Ausschluss möglicher Alternativen): „weil p-tun gut ist, ist jetzt p zu tun", d.h. „p ist gut" im ersten Sinne eines Wahlurteils, das effektiv die Handlung p auslöst (denn „p ist gut" heißt ja soviel wie: „Ich will jetzt p tun"). Aufgrund des Urteils „p-tun ist schlecht" wird hingegen u.U. p nicht getan. Die zweite Art von Urteilen muss aber nicht zu einer Handlung führen: Aus „p-tun ist gut" kann auch folgen: „trotzdem will ich p nicht tun", d.h. ich finde (aus anderen Gründen) „p-tun ist schlecht". Und aus „q-tun ist schlecht" kann folgen: „Trotzdem will ich jetzt q tun", - nämlich aus einem anderen Grund, der zu dem Wahlurteil führt „q ist gut". Was soll nun damit gesagt sein? Gemeint ist: Bevor wir zu einem konkreten, eine Handlung wählenden und damit auslösenden Urteil („p ist gut", „p ist zu tun") kommen, beurteilen wir erst einmal, ob es überhaupt „gut" oder „schlecht" ist, p zu tun. In dem früher dargestellten Prozess des praktischen Syllogismus muss sich also vor der Konklusion („p ist gut", „p ist zu tun", „ich will jetzt p tun") ein Urteilsakt darüber finden, ob nun „p-tun" bzw. „p nicht-tun" gut oder schlecht ist. Diese Formulierung ist freilich eine starke Vereinfachung. Das dem eigentlichen Wahlurteil vorgelagerte Handlungsurteil entspringt dem praktischen Überlegen bezüglich des zu wählenden Mittels. In ihm findet sich eine Vielzahl von Gesichtspunkten wie funktionale (oder technische) Richtigkeit, Angemessenheit, Berücksichtigung der Folgen bzw. der unbeabsichtigten Nebenfolgen (alles Aspekte des Gutseins einer Handlung), aber auch die Frage, ob eine in Erwägung gezogene Handlungsweise überhaupt „erlaubt", d.h. ob sie nicht vielleicht unter allen Umständen schlecht ist; bzw. die Frage nach der objektiven Identität der Handlung (die selbst wiederum von Umständen und Folgen mitbestimmt sein kann). Hier hinein spielt auch der Akt des Gewissens. Wir können hier die Vielzahl dieser Elemente noch nicht gewichten bzw. rechtfertigen (z.B. ob es Handlungsweisen gibt, die unter allen Umständen schlecht sind). Dies wird vor allem Aufgabe von Kapitel V sein.

Auch diese zweite Art Handlungsurteil ist nicht ein Urteil darüber, ob z.B. Peter ein guter Arzt oder ob ein Mercedes ein gutes Auto ist, und auch nicht darüber, ob und in welcher Hinsicht Menschen und Ärzte im allgemeinen und Peter im besonderen oder aber Autos „gut" sind.

3 . D I E KONSTITUIERUNG VON G U T UND Ü B E L

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Sondern z.B. darüber, ob es gut ist, Peter ein Darlehen zu geben, oder ob es gut ist, diesen Mercedes zu kaufen oder zu stehlen. Dass der Mercedes ein gutes Auto ist, sagt noch nichts Entscheidendes darüber aus, ob es gut ist, ihn zu kaufen. Dass Peter ein guter Arzt ist, bewegt noch nicht hinreichend zu dem praktischen Urteil, dass es gut ist (und ich also wähle), ihm ein Darlehen zu geben (vielleicht braucht er gar keines oder es wäre hochstaplerisch von mir oder unangemessen). Die Differenz „gut" und „schlecht", die wir in Handlungsweisen (bzw. in Urteilen über sie) finden, gründet also als solche nicht im Gutsein des Mercedes oder in Peters „ein guter Arzt Sein". Auf jenes, was in diesem Sinne „gut" ist, können wir uns praktisch immer noch gut oder schlecht (richtig oder falsch) verhalten. Es kann u.U. auch (praktisch) gut sein, ein schlechtes (oder nicht besonders gutes) Auto zu kaufen, oder Peter ein Darlehen zu geben, obwohl er kein besonders guter Arzt ist. Und obwohl der Selbsterhaltungstrieb oder der Sexualtrieb gut ist, kann man sich immer noch gut oder schlecht zu ihm verhalten. Jene Differenz zwischen „gut" und „schlecht", wie sie in praktischen Urteilen (ein Urteil über Handlungen p,... q) anzutreffen ist und die nicht mit der ontischen oder physischen Differenz zwischen „ein guter x", „ein schlechter x" zusammenfällt, können wir die moralische Differenz nennen74 Die moralische Differenz bezeichnet einen „Gegensatz von absoluter, irreduzibler und unbedingter Bedeutung" 75 , der überhaupt erst in der Perspektive der Praxis erscheint. Sobald wir uns im Felde menschlicher Praxis bewegen, bewegen wir uns auch im Felde der moralischen Unterscheidung von „gut" und „schlecht", bzw. „guten" und „schlechten" Handlungen76. „In dieser bloß formalen und inhaltlich leeren Bedeutung ist die moralische Differenz ein Datum, das in allem menschlichen Handeln als menschlichem angetroffen wird. Sie ist daher von der Ethik nicht zu begründen, denn sie ist die Voraussetzung der ethischen Reflexion. Wohl aber wird die Ethik die einzelnen Handlungen den Seiten dieser Differenz zuzuordnen haben" 77 . Nicht zu begründen ist wohlverstanden die Differenz als solche in ihrer formalen Disjunktionskraft. Wohl zu begründen ist jedoch, wie diese Differenz in menschlichen Handlungen zustande kommt. Begründbar und begründungsbedürftig ist also die Zuordnung von Handlungen auf die eine oder andere Seite dieser Differenz, bzw. das Kriterium dieser Zuordnung. Worin liegt das Kriterium, um eine (sittlich) gute von einer (sittlich) schlechten Handlung zu unterscheiden? Aufgrund der bisherigen Analyse und der obigen Kritik an der Unterscheidung „sittliche" und „nichtsittliche" Güter, bzw. „sittlich gute" und „sittlich richtige" Handlung, kann dieser Grund nicht die Absicht, die innere Einstellung, die Gesinnung usw. sein, sondern etwas an oder in der Handlungsweise selbst, wodurch sich Intentionen, Einstellungen, Gesinnungen erst formieren. Das Gute und Schlechte einer Handlungsweise 74 Ich übernehme den Terminus von W. Kluxen, Ethik des Ethos, Freiburg/München 1974, S. 17 f. 75 W. Kluxen, a. a. 0., S. 17. 76 Kluxen, a. a. O. benennt die „moralische Differenz mit „gut" und „böse". Das Wort „böse" hat den Vorteil, dass es vielleicht deutlicher die moralische Bedeutung von „schlecht" konnotiert. Im eigentlichen Sinne ist aber eine „böse" Handlung eine „schlechte Handlung", die mit schlechter Absicht vollzogen wurde. „Böse" handeln ist also eine Intensivierung von „schlecht" handeln. Man kann auch sittlich schlecht handeln, ohne böse zu handeln. Aber letztlich ist dies ein Streit um Worte. 77 Ebd., S. 18.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

hängt also ab von ihrem Inhalt, u n d das heißt w i e d e r u m : von ihrem G e g e n s t a n d o d e r O b j e k t (das wir allerdings, wie bereits gesagt, nicht u n a b h ä n g i g von einer Basis-Intentionalität denken und beschreiben können). Wenn die Handlung „p-tun" z.B. meint „x töten", so ist mit dem „Inhalt" oder „Objekt" von „p-tun" nicht „x" gemeint, sondern „x-töten". „P-tun" wäre also ,,[x-töten]-tun". Wenn ich eine Handlung der Art p wähle, so wähle ich ja nicht x (z.B. Peter), sondern eben „x-töten". Und wenn ich p unterlasse, dann unterlasse ich nicht x, sondern „x-töten", bzw. ich wähle ,,[x-töten]-unterlassen". Das Objekt einer Handlung ist also, so paradox dies klingen mag, diese Handlung selbst. Handlungsobjekte sind Handlungsinhalte, so wie der Inhalt der Handlung „Beethovens Mondscheinsonate spielen" nicht die Mondscheinsonate ist, sondern eben das Spielen der Mondscheinsonate (oder „Klavierspielen", „Musizieren"). Wäre die Mondscheinsonate selbst der Inhalt oder das Objekt, dann wäre ja Inhalt und Objekt von „die Mondscheinsonate spielen" und „die Mondscheinsonate komponieren" dasselbe, und beides, Musizieren und Komponieren, wären objektiv identische Handlungen, d.h. derselbe Typ von intentionaler Handlung. W i r wissen zwar, dass auch die Intention Objekt einer H a n d l u n g ist. A b e r die Intention, „mit der m a n e t w a s tut", sagt n i c h t alles ü b e r den o b j e k t i v e n S i n n u n d d a m i t ü b e r G u t - o d e r S c h l e c h t s e i n e i n e r H a n d l u n g aus. W e n n j e m a n d an der B ö r s e s p e k u l i e r t , u m sich d e n Lebensunterhalt zu verdienen, und „sich den Lebensunterhalt v e r d i e n e n " ist e t w a s Gutes, so ist damit noch nicht ausgemacht, o b Börsenspekulationen gut oder schlecht sind. E s gilt d e s h a l b z u n ä c h s t , vertieft zu klären, w a s ein H a n d l u n g s o b j e k t ist u n d w i e es sich konstituiert. D a menschliches Handeln willentliches Handeln ist, ist es auch ein Handeln, das durch Urteile der Vernunft geleitet ist. Denn, so die b e k a n n t e A u s s a g e von T h o m a s v. Aquin, „durch die V e r n u n f t gelangt das G u t e als O b j e k t in den Bereich des Willens; u n d insofern es der O r d n u n g der V e r n u n f t untersteht, gehört es z u m Bereich der Moral und verursacht es das sittliche Gutsein des Willens. D e n n die V e r n u n f t ist das Prinzip der m e n s c h l i c h e n u n d sittlichen H a n d l u n g e n " 7 8 . G u t h a n d e l n h i e ß e d e m n a c h so viel w i e v e r n ü n f t i g o d e r der V e r n u n f t g e m ä ß handeln, - aber was heißt „ v e r n ü n f t i g " u n d „der V e r n u n f t g e m ä ß " handeln?

4. Der objektive Sinn menschlicher Handlungen und seine Bestimmung durch die Vernunft a) Intentionale H a n d l u n g e n und Handlungsobjekte. D e r Begriff der Handlungsspezies Unter d e m f r ü h e r (III,2,a) eingeführten Begriff „intentionale B a s i s - H a n d l u n g " verstanden wir eine H a n d l u n g unterster O r d n u n g , d.h. eine H a n d l u n g , deren „ W a s m a n t u t " ü b e r h a u p t erst d u r c h die A n g a b e e i n e s „ W o z u m a n es t u t " v e r s t ä n d l i c h w i r d . D a s heißt: S o l a n g e u n s die Antwort auf die Frage „ W o z u ? " unbekannt bleibt, k ö n n e n wir eine solche H a n d l u n g gar nicht als m e n s c h l i c h e , sinnvolle, w ä h l b a r e H a n d l u n g v e r s t e h e n . „Auf d e m Bett l i e g e n " ist noch keine intentionale B a s i s - H a n d l u n g , da wir durch die A n g a b e dieses Z u s t a n d e s j a noch nicht wissen, w a s der B e t r e f f e n d e eigentlich tut (auch w e n n dieser Zustand gar nicht notwendigerweise Bestandteil eines Handlungskontextes sein muss; es ist hier unterstellt, dass er das ist).

78 I—II, q.19, a.l ad 3.

4 . D E R OBJEKTIVE SINN MENSCHLICHER HANDLUNGEN

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Wohl aber sind „auf dem Bett liegen, um sich auszuruhen", bzw. „sich ausruhen", oder „eine Yoga-Übung machen", „faulenzen" intentionale Basis-Handlungen. „Sich ausruhen, um eine Arbeit beenden zu können" ist bereits mehr als eine intentionale Basis-Handlung; denn wenn wir wissen, dass jemand sich auf dem Bett liegend ausruht, so wissen wir bereits, was er tut. Gleichwohl können wir auch dann immer noch weiterfragen, wozu er tut, was er tut. Intentionale Basis-Handlungen besitzen demnach in sich bereits eine intentionale Identität, die Gegenstand oder Inhalt von Wahlakten ist. Handlungen mit einer solchen Identität sind in sich sinnvolle, intelligible Handlungsvollzüge. Diesen „ersten" weil fundamentalen intelligiblen Basis-Sinngehalt nennen wir das Objekt einer Handlung (z.B. „sich ausruhen"), das praktischer Vernunft entweder als zu verfolgendes Gut oder als zu vermeidendes Übel gegenständlich ist und dem eine (intentionale) Handlungsbeschreibung entspricht, unter der die Handlung gewählt wird. Die objektiv-intentionale Strukturierung von Handlungen ist das Werk der Vernunft. Durch sie werden bestimmte Handlungstypen konstituiert, wie „sich ausruhen", „arbeiten", „stehlen", „einen Ehebruch vollziehen", „jemanden ermorden", „sich ernähren", usw. All diese Akte sind weder Naturereignisse noch physische Zustände oder Körperbewegungen, sondern Handlungen. Die genannten Beispiele bilden jeweils einen Handlungstyp oder eine Handlungs-S/?ez/ei (Handlungs-Art). Genauer noch: (1) Sie gehören (in sich betrachtet) entweder auf die Seite von guten oder auf die Seite von schlechten Handlungen oder aber sie sind als indifferent zu betrachten. (2) Als gute oder schlechte Handlungen gehören sie ebenfalls alle zu einer Handlungsspezies wie Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit; Mäßigkeit/Unmäßigkeit. Als ihrer Spezies gemäß „indifferente" Handlungen werden intentionale Handlungen bezeichnet, deren Identität oder Objekt für die Vernunft nicht schon als Gut oder Übel gegenständlich sein kann. Thomas v. Aquin nennt als Beispiele „ein Holzscheit vom Boden aufnehmen" und „aufs Feld gehen"79. „Sich ausruhen" könnte ebenfalls als indifferente Handlung bezeichnet werden. Solche Handlungen besitzen zwar durchaus einen praktischen Sinngehalt - es sind intentionale Handlungen - , von dem allein man aber noch nicht sagen kann, dass er etwas Gutes oder etwas Schlechtes sei. Die Qualifikation „indifferent" bezieht sich jedoch ausschließlich auf den intentionalen Basis-Gehalt dieser Handlungen (das die Spezies konstituierende Objekt). Als vollzogene, konkrete menschliche Handlungen fallen sie dann durch hinzukommende intentionale Gehalte jeweils auf die eine oder die andere Seite der moralischen Differenz. Man kann also keine indifferente Handlungen vollziehen80.

Deshalb ist „jemanden ermorden" entweder zugleich schlecht und ungerecht oder aber zugleich gut und gerecht. Die moralische Gattung der guten Handlungen teilt sich also gleichsam auf in gerechte, maßvolle usw. Handlungen; die Gattung der schlechten Handlungen in ungerechte, unmäßige usw. Handlungen. Ungerechte Handlungen können sich wiederum spezifisch differenzieren in „stehlen", „rauben", „die Ehe brechen", „betrügen", „lügen", .jemanden um seinen Lohn prellen", usw. Gerechte Handlungen können sein „eheliche Treue wahren", „die Wahrheit sprechen", „den angemessenen Preis zahlen", „Ausgeliehenes zurückerstatten", „ein Versprechen einlösen", usw. Wir gelangen so zu eigentlichen

79 I—II, q. 18, a.8. 80 Ebd., a.9. Das gilt allerdings nicht für Akte, die gar nicht dem freien Willen entspringen (z.B. Reflexhandlungen); sie sind gar keine menschlichen Handlungen und man nennt sie indifferent, weil sie aus der Gattung der sittlichen Handlungen überhaupt herausfallen (ebd.).

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Handlungstypen, die bezüglich der moralischen Differenz gut/schlecht jeweils der einen oder anderen Seite zuzuordnen sind. Es ist freilich rein analytisch wahr, d.h. tautologisch, dass eine ungerechte Handlung auch eine schlechte Handlung ist. Ebenfalls gilt analytisch „Diebstahl ist schlecht, weil Diebstahl ungerecht ist". Das ist hier jedoch nicht von Bedeutung. Hier geht es vorerst nur um die Tatsache, dass sich die moralische Differenz gut/schlecht auf beiden Seiten je wieder auffächert bis hin zu untersten Handlungstypen (Spezies), die wir wiederum als intentionale Basis-Handlungen zu identifizieren vermögen. Das praktisch Gute und Schlechte gibt es nicht „an sich", sondern es liegt in verschiedenen Handlungsweisen. Dies ist bereits die Pointe von Aristoteles' Polemik gegen den Platonischen Begriff des Guten81.

Wenn wir einmal bei eigentlichen Handlungstypen angelangt sind, so können wir nicht mehr weiter „hinunter": Denn diese sind nun eben intentionale Basis-Handlungen. „Stehlen" lässt sich handlungstypisch nicht weiter spezifizieren in „ein Auto stehlen" und „ein Pferd stehlen", denn dies sind nicht zwei verschiedene Handlungstypen, sondern zwei verschiedene Fälle desselben Handlungstyps: Beides sind Diebstähle („Entwendung dessen, was ein anderer rechtmäßig besitzt"). Wenn es deshalb schlecht ist, jemandem das Auto zu stehlen, dann ist es auch schlecht, ihm sein Pferd zu stehlen, vorausgesetzt, sowohl Auto wie Pferd sind rechtmäßiger Besitz des Betreffenden (ansonsten es u.U. gar kein Diebstahl wäre). Es hat auch keinen Sinn, die Handlung „ein Pferd stehlen" aufzufächern in die zwei Handlungstypen „mit einem Pferd wegreiten" und „ein Pferd mit einem Wagen wegtransportieren". Das sind wiederum nicht zwei Typen intentionaler Handlungen (es fehlt ja hier eine Differenz des „Wozu?)", und auch nicht zwei Fälle desselben Handlungstyps, sondern zwei verschiedene Weisen, einen der beiden Fälle des Handlungstyps „stehlen", nämlich einen Pferdediebstahl, auszuführen. Beide Ausführungsarten sind die Handlung „Pferdediebstahl": diesen durch „mit dem Pferd wegreiten" oder durch „das Pferd auf einem Wagen wegtransportieren" bewerkstelligen fügt an intentionaler Spezifizierung nichts hinzu, als was bereits in der Handlung „Pferdediebstahl" enthalten ist (vorausgesetzt, man stiehlt nicht auch noch den Wagen, mit dem man das Pferd abtransportiert: aber auch dann ändert sich die intentionale Spezies nicht, sie intensiviert sich; es wäre ein Doppeldiebstahl). Andererseits ist aber gar nicht gesagt, dass „mit einem Pferd wegreiten" oder „ein Pferd mit einem Wagen abtransportieren" überhaupt Diebstähle sind. So ist es auch gleichgültig, ob ich mich ausruhe, indem ich mich aufs Bett lege, oder indem ich im Lehnstuhl sitze. „Auf dem Bett liegen" und „im Lehnstuhl sitzen" gehören beide zum gleichen Handlungstyp: Sie sind derselbe Typ einer intentionalen Basis-Handlung und haben deshalb auch dasselbe Handlungsobjekt (es sei denn z.B., man hätte aus irgend einem Grund kein Recht auf dem Lehnstuhl zu sitzen: Dies wäre ein Umstand, der für die Modifizierung der Objektstruktur der Handlung relevant ist. Vgl. dazu unten, V,4,d). Wir finden also auch hier eine unterste Schwelle. Diese Schwelle ist es nun, in deren Bereich sich die moralische Differenz zum ersten Mal konstituiert. Falls „ein Auto entwenden" eine ungerechte Handlung ist, dann nicht weil es ungerecht ist, ein Auto (im Unterschied zu einem Pferd) zu stehlen, sondern weil es überhaupt ungerecht ist, fremden (rechtmäßigen) Besitz zu entwenden ( = „stehlen"). Aber was heißt denn nun „stehlen" im Unterschied zu

81 Vgl. EN 1,4.

4 . D E R OBJEKTIVE SINN MENSCHLICHER HANDLUNGEN

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„ein Auto (und nicht ein Pferd) stehlen? Falls es angebracht ist, sich auf dem Bett liegend auszuruhen, so nicht, weil „auf dem Bett liegend" (im Unterschied zu „im Lehnstuhl sitzend") Sich-ausruhen angebracht ist, sondern weil „sich ausruhen" angebracht ist. Was aber heißt „sich ausruhen" im Unterschied zu „auf dem Bett liegen" oder „im Lehnstuhl sitzen"? Wenn es ungerecht oder unmäßig ist, dass A (der verheiratet ist) mit B (die nicht seine Frau ist) Sexualverkehr hat, dies aber nicht, weil A dies ausgerechnet mit B (und nicht mit C, die ebenfalls nicht seine Frau ist) tut, sondern einfach weil er es mit jemandem tut, der nicht seine Frau ist, so kann man fragen: Worin liegt der Unterschied zwischen „mit einer Frau überhaupt" und „mit einer Frau, die nicht die eigene ist, sexuell verkehren"? Das Schlechte des Stehlens lag weder am Auto noch am Pferd; weder am „Wegreiten" noch am „mit dem Wagen wegtransportieren". Das Angebrachte des Sich-Ausruhens lag weder am „auf dem Bett liegen" noch am „im Lehnstuhl sitzen", und das Schlechte am „mit einer anderen als der eigenen Frau verkehren" lag weder an der anderen Frau noch am Akt „mit einer Frau sexuell verkehren". Wie konstituiert sich diese moralische Differenz und alle weitere sittlich relevante Spezifizierung von intentionalen Basis-Handlungen? b) Die Konstituierung der moralischen Differenz und der Handlungsspezies durch die Vernunft Die Antwort von Thomas v. Aquin ist ebenso kurz, wie kategorisch: Die Spezies menschlicher Handlungen und die Differenz zwischen gut und schlecht in ihnen konstituiert sich durch die Vernunft. Denn der Mensch ist seiner Wesensform nach - d.h. insofern er Mensch ist - ein vernünftiges Lebewesen. Und was für ein Seiendes gut oder schlecht ist, bestimmt sich gemäß dem, was seiner Wesensform entspricht 82 . Das ist - leicht erkennbar - eine Variante und Weiterführung des Aristotelischen ergon-Argumentes (s. oben II,3,b), für die sich Thomas allerdings in der Regel auf eine Stelle bei Pseudo-Dionysius Areopagita beruft83. Diese metaphysische Argumentation wirkt freilich im Kontext der praktischen Philosophie eher abstrakt und wenig überzeugend. Auf einige ihrer Implikationen ist noch zurückzukommen (III,5,e). Sie gewinnt jedoch ihre Einschlägigkeit aufgrund der ihr zugrunde liegenden praktischen Erfahrungsgehalte, die sie nun auf der Ebene der Reflexion in die Metaphysik der Handlung einordnet. Dieser Erfahrungsgehalt ist uns bereits bekannt: Insofern der Mensch handelt, tut er dies aufgrund eines vernunftgeleiteten Strebens. Das ist der Grund dafür, dass er über sein Tun Herrschaft und dafür Verantwortung besitzt. Die Vernunft ist die Wurzel der Freiheit, indem sie Ursache von Freiheit ist. Wenn der Mensch also etwas tut, insofern er Mensch ist, d.h. aufgrund von Vernunft und Wille, so kann es auch nur der Vernunft obliegen, zu formulieren, was gut ist. Die Vernunft ist Maßstab von gut und schlecht in den menschlichen Handlungen, und damit implizit auch Maßstab von gerecht und ungerecht, maßvoll und unmäßig; und damit wiederum ist sie auch Maßstab für die Differenz beispielsweise zwischen Diebstahl und rechtmäßiger Aneignung, zwischen Betrug und Vertragsgerechtigkeit, usw. Die Aussage, die Vernunft sei Maßstab (mensura, regula) von gut und schlecht in den menschlichen Handlungen, klingt allerdings entweder leerformelhaft oder übertrieben. Man versuchte deshalb auch immer wieder, sie als vermeintliche Leerformel irgendwie inhaltlich

82 Vgl. z.B. I—II. q.18, a.5 und q. 71, a.2. 83 De Divinis Nominibus IV, 32; vgl. In IV De Div. Nom, lect. 22, n. 592.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

aufzufüllen und abzusichern oder aber - im anderen Fall - sie als Übertreibung zu verharmlosen, zu relativieren oder zu einer formalen Strukturaussage ohne inhaltliche Bedeutung herabzumindern. Wenn Thomas sagt, so argumentierte mancher, die Vernunft „messe" oder „regle", so sei damit natürlich nur die „rechte Vernunft" gemeint. D.h. jene Vernunft, die in richtiger Weise regle, die sich am Guten ausrichte, und das heißt letztlich: Jene Vernunft sei Maßstab, die eben den richtigen Maßstab anlege, das heißt: jene Vernunft, die der sittlichen Norm gemäß urteile. Aber damit würde nun freilich die Frage nach dem Maßstab von gut und schlecht nur verschoben; der Vernunft selbst verbliebe dann die bloße Funktion einer Art Ausführungsorgan in der Anwendung von sittlichen Normen, der Ausrichtung auf das „moralische Gesetz", der Befolgung der „Natur" etc. Das ist aber nicht die Meinung von Thomas. Und es kann sie auch nicht sein, weil er, auf der Ebene des menschlichen Handelns und unabhängig von Offenbarung, gar nichts kennt, was im Unterschied zu „Vernunft" eine „sittliche Norm" oder „moralisches Gesetz" heißen könnte84. Thomas will sagen, dass tatsächlich die Vernunft selbst Maßstab sei; dass sie in sich selbst also „Norm" ist bezüglich all dem, was nicht von sich aus bereits vernünftig ist. Für Thomas ist die Vernunft, insofern sie wirklich Vernunft ist, auch immer „rechte Vernunft". Sie wendet nicht nur irgendwelche sittlichen Maßstäbe von gut und schlecht auf Handlungen an, sondern sie konstituiert überhaupt erst die Differenz von gut und schlecht. Sie selbst ist der Maßstab. Anders kann sich dies gar nicht verhalten, weil ja die intentionale Strukturierung einer Handlung wesentlich und notwendigerweise Werk der Vernunft ist. Betrachten wir beispielsweise die Handlung „Pferdediebstahl": Dazu gehört ein Pferd, ein Besitzer des Pferdes und eine Rechtsbeziehung zwischen Besitzer und Pferd; dazu ein konkretes physisches Tun, wie z.B. „das Pferd auf einen Pferdetransporter aufladen und damit wegfahren". Dazu kommt noch ein „Wozu?" dieses Tuns. Dieses „Wozu?" können wir benennen mit „sich das Pferd aneignen" (denn das Ganze könnte ja auch nur darin bestehen, einem Freund einen Streich zu spielen oder das Pferd, vielleicht gegen den Willen eines nachlässigen Besitzers, in eine Tierklinik zu bringen). In der Handlung „Pferdediebstahl" findet sich also eine Vielzahl von Elementen: Dinge, Akte, Relationen zwischen Dingen, Umstände und ein „Wozu?". Nur die Vernunft kann diesen ganzen Komplex, der ja eine Handlung ist, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenbringen. Nur die Vernunft kann hier auch die Leistung vollbringen, diesen Komplex zu unterscheiden von der Handlung „ein gestohlenes Pferd beschlagnahmen und seinem Besitzer zurückerstatten" oder „einem Freund einen Streich spielen" - denn rein äußerlich könnten solche Handlungen identisch sein. Der Handlungsgegenstand kann deshalb keinesfalls reduziert werden, auf das, „was der Fall ist" oder „was geschieht", d.h. die bloße Materie der Handlung, die man die materia circa quam zu nennen pflegte: Die „Materie, in bezug auf die" gehandelt wird (im Unterschied zur materia ex qua: Die Materie „aus der" etwas besteht). Die Handlungsmaterie ist noch nicht das Objekt einer Handlung; zur ihr tritt die Form der Handlung85. 84 Auch das „Naturgesetz" („lex naturalis") kann hier nicht genannt werden, weil dieses gerade der Vernunft entspringt, ja wie Thomas sagt ein „Werk der Vernunft" ist; doch dies wird später zu behandeln sein. 85 Für einige interessante Ausführungen über die Differenzierung zwischen formellen und materiellen Aspekten von Handlungsobjekten aus sprachanalytischer Sicht vgl. A. Kenny, Action, Emotion and Will, London 1963, S. 187 ff.

4 . D E R OBJEKTIVE S I N N MENSCHLICHER H A N D L U N G E N

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Diese Terminologie stammt aus der Metaphysik. Mit „Materie" ist jeweils jener Bestandteil einer Handlung gemeint, der noch auf manches hin offen ist, weiter determiniert zu werden vermag, also eine Form (weitere Bestimmung) in sich aufnehmen kann, die zugleich durch die Materie limitiert wird. In der klassischen Metaphysik bezeichnet „Materie" das potentielle, noch unbestimmte Zugrundeliegende eines strukturierten Ganzen, „Form" die Aktualität der Materie, durch die diese strukturiert, informiert, d.h. zu einem strukturierten Ganzen dieser oder jener Art wird (analog zur Gestalt-Form „Venus", durch die der zunächst unbehauene Marmorblock zur Venusstatue wird). Der Zusammenhang Form-Materie ist strukturell oder funktional zu verstehen: Eine Materie kann selbst bereits strukturiert sein; und ein strukturiertes Ganzes kann selbst wiederum Materie für ein Strukturganzes höherer Ordnung sein (so verhält sich auch „Ziel" formell zu „Mittel" bzw. verhält sich der Gegenstand der Intention formell zum Gegenstand der Mittelwahl). „Materie" hat auch nicht notwendigerweise etwas mit „physisch-materiell" zu tun, sondern meint „noch weiter bestimmbar", „aktualisierbar", „informierbar" - also bezüglich einer weiteren Formierung in Potenz stehend. Das klassische Beispiel ist jenes der Seele als Form des Leibes.

Da eben das Handlungsobjekt nicht das „Pferd" ist, auch nicht „das Pferd eines anderen", sondern der Inhalt der intentionalen Handlung „Jemandem sein Pferd entwenden", kann ein solches Objekt auch nur Gegenstand von Vernunft sein, das heißt, es kann überhaupt nur von Vernunft geformt - formell bestimmt - werden. Es „gibt" zwar Pferde und solche, die Pferde besitzen; und auch die physische Handlung „wegreiten" oder „ein Pferd wegtransportieren" können wir auf die physischen Komponenten von Körperbewegungen reduzieren. Die Handlung „ein Pferd stehlen" jedoch kann auf nichts dergleichen zurückgeführt werden: Sie ist in der Komplexität ihrer verschiedenen Elemente ausschließlich Objekt eines Vermögens, das dermaßen Verschiedenes in eine Beziehung zu setzen, d.h. Ordnung in der Vielfalt von Elementen zu schaffen vermag. Ein solches Vermögen ist allein die Vernunft und durch ihren Akt erhält das Handlungsobjekt im Bereich einer bestimmten Materie seine Form. Deshalb sagt Thomas: „so wie die Spezies von Naturdingen durch natürliche Formen konstituiert wird, so wird die Spezies sittlicher Handlungen aus Formen konstituiert, wie sie von der Vernunft erfasst werden": species moralium actuum constituuntur exformis prout sunt a ratione conceptae*6. Und entsprechend, heißt es an anderer Stelle, konstituiert sich die „Güte" einer Handlung „aufgrund einer gewissen Abmessung (commensuratio) des Aktes bezüglich der Umstände und des Zieles, eine Abmessung, welche die Vernunft bewerkstelligt: quam ratio facitgl, - denn der Vernunft steht es zu, zu ordnen. „Akt", „Umstände", „Ziel" werden durch die Vernunft zu einem Handlungsobjekt geformt, das eine Handlungsspezies konstituiert. Damit ist freilich noch nicht erklärt, wie denn nun die Vernunft „Maßstab" oder „Regel" des Gut- oder Schlechtseins einer Handlung ist. Wir haben jedoch geklärt, was denn überhaupt hier zunächst einmal als „gut" oder „schlecht" beurteilt werden muss: Weder Pferde, noch deren Besitzer, noch Akte des Wegtransportierens oder das „sich Aneignen", sondern das Handlungsobjekt „rechtmäßigen Besitz eines anderen entwenden". Und gezeigt ist, dass Handlungsobjekte ein Werk der Vernunft sind, formae a ratione conceptae, „durch Vernunft erfasste Formen" bzw. durch die Vernunft geformte „Artbestimmtheiten".

86 I—II, q.18, a.10. 87 In II Sent., d.39, q.2, a.l.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

c) Naturale und moralisch-intentionale Identität von Handlungsobjekten Wenn wir als Objekt jenen Gegenstand einer Handlung bezeichnen, durch den die Handlung ihre intentionale Identität als menschliche Handlung erhält, so sollte deutlich geworden sein, dass „Dinge", auf die sich Handlungen beziehen, nicht „Objekte" von Handlungen genannt werden können. Denn durch ihre Objekte unterscheiden sich Handlungen in ihrer moralischintentionalen Identität. Pferde und Inhalte von Banktresors jedoch differenzieren nicht verschiedene Handlungstypen, sondern höchstens verschiedene „Fälle" desselben Handlungstyps, z.B. verschiedene Fälle von „Diebstahl". Und „Pferde" z.B. können als „Dinge" in ganz unterschiedlichen Typen von intentionalen Handlungen vorkommen, nicht nur in Diebstählen. Auch eine zusätzliche Bestimmung des „Dinges" genügt nicht, um intentionale Handlungen objektiv zu unterscheiden, wenn die Angabe des „Wozu?" fehlt. Würde man als Objekt eines Diebstahls z.B. „fremdes Eigentum" angeben (also die „Sache", die Eigentum eines anderen ist), so würden sich ein Diebstahl und polizeiliche Beschlagnahmung von Diebesgut (zwecks Zurückerstattung an den Eigentümer) dem Objekt nach nicht unterscheiden, wohl aber wären dann „Beschlagnahmung eines gestohlenen Pferdes" und „Beschlagnahmung eines gestohlenen Autos" zwei objektiv verschiedene intentionale Handlungstypen; was natürlich unsinnig ist.

Ebenfalls sind die Naturzwecke von Trieben oder nicht der Vernunft entspringenden Neigungen als solche nicht schon Objekte von menschlichen Handlungen. Jeder Trieb oder jede Neigung besitzt zwar ihren natürlichen Akt und ihr natürliches Objekt. Ein Beispiel ist der Sexualtrieb. Der diesem Trieb als naturale Neigung eigene Akt und dessen Objekt sind als solche kein Handlungsobjekt. Denn menschliche Handlungen sind ja willentliche, vernunftgeleitete Akte. Was ein Mensch ausschließlich aufgrund des Triebes tut, ist definitionsgemäß gar keine menschliche Handlung. Damit eine solche vorliegt, bedarf es zumindest eines Urteils der Vernunft, dass es „gut" ist, dem Trieb zu folgen und einen ihm entsprechenden Akt zu vollziehen („p ist gut"), und die durch dieses Urteil geformte Zustimmung des Willens. Dadurch nun besitzt die entsprechende Handlung ein Objekt, das aber durch die Vernunft geformt ist. Sobald jedoch der Akt des Sexualtriebes ein Objekt der Vernunft ist, ist dieser Akt bereits mehr als nur ein Akt des Sexualtriebes: nämlich ein von der Vernunft erfasstes praktisches Gut. In den Gegestandsbereich der Vernunft fällt jedoch nicht nur der naturale Akt des Triebes, bzw. z.B. der „Gegenstand", der die Triebdynamik auslöst (etwa der Körper einer anderen Person), sondern ein ganzer Komplex von Elementen, die sich bezüglich des naturalen Triebes wie Umstände verhalten. Das „Wozu?" der intentionalen menschlichen Handlung „Sexualakt" ist mehr als das bloße „Wozu?" des Triebes: Es ist ein „Wozu?" der Vernunft, auch wenn der ursprünglich die Handlung auslösende Antrieb auf sinnlicher Neigung beruht. Auf diese Weise - um beim Beispiel zu bleiben - formieren sich objektiv verschiedene Typen der menschlichen Handlung „Sexualverkehr": z.B. „Ehelicher Verkehr" und „Ehebruch". Thomas erläutert dies folgendermaßen: „Insofern man ehelichen Sexualverkehr und Ehebruch als Gegenstände der Vernunft betrachtet, unterscheiden sie sich in ihrer Art (Spezies) und besitzen sie auch Wirkungen, die der Art nach verschieden sind: denn der eine verdient Lob und ist verdienstlich, der andere verdient Tadel und bewirkt Schuld. Insofern man sie jedoch als Gegenstände der Zeugungspotenz betrachtet, unterscheiden sie sich nicht

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in der Art und haben sie auch der Art nach gleiche Wirkungen" 88 . Dies ist ein Beispiel für die Differenz zwischen dem sogenannten genus naturae eines Aktes (seiner „natürlichen Gattung" oder „naturalen Identität") und seinem genus moris (seiner „sittlichen Gattung" oder „moralischen Identität"). Wir können jeden von einem Menschen vollzogenen Akt-Vollzug entweder auf der Ebene seiner naturalen (ontischen, physischen, ereignishaften usw.) Strukturierung betrachten und beschreiben: Dann gibt es keinen Unterschied zwischen Akten sexueller Kopulation, wo, wann und von wem auch immer sie vollzogen werden, bzw. „ehelicher Verkehr" und „Ehebruch" sind - auf dieser Ebene der Handlungsmaterie betrachtet schlechterdings identische Akte. Auf dieser naturalen, ontischen Ebene gibt es auch keinen Unterschied zwischen intentional und damit der Form nach verschiedenen Akten des „Wegtransportierens eines Pferdes", oder des „auf dem Bett Liegens" (deshalb müssen wir ja jeweils noch die Frage stellen, was denn hier eigentlich geschehe oder getan werde). Sobald wir jedoch solche Akte als Gegenstände eines willentlich handelnden Subjekts d.h. formell betrachten, so erhalten sie jene „Abmessung", die nur der Vernunft zu entspringen vermag. Damit vergegenständlichen wir den betreffenden Akt auf der Ebene seines genus moris. So gehört er zu einer angebbaren Spezies sittlicher Handlungen und ist damit entweder gut oder schlecht (eventuell indifferent), gerecht oder ungerecht, „sich ausruhen" oder „eine Yoga Übung machen" oder „faulenzen"; „Diebstahl" oder „Beschlagnahmung von Diebesgut"; ein Akt ehelicher Liebe oder ein Akt ehelicher Untreue; usw. Und insofern ein Akt Gegenstand der Vernunft ist, wird er auch zum Gegenstand des Willens und damit als menschliche Handlung vollzogen. Auch die Akte des Willens besitzen ihr genus naturae, ihre naturale Identität. Diese ist nun aber gerade identisch mit dem genus moris. Denn da der Wille vernunftgeleitetes Streben und deshalb sein Objekt das der Vernunft gegenständliche Gute, das bonum rationis, ist, so gibt es in ihm keine Differenz zwischen naturaler und moralischer Identität seines Aktes. Was der Wille von Natur aus erstrebt ist immer schon das Gute in der Dimension des Sittlichen. Die Differenz zwischen naturaler und moralischer Identität ergibt sich gerade daraus, einen Akt nicht als Gegenstand eines (wählenden oder intendierenden) Willens zu vergegenständlichen.

Da menschliche Handlungen willentliche (gewählte) Handlungen sind; und da zweitens der Wille immer nur auf Grund von Urteilen der Vernunft etwas als „gut" erstrebt, so können wir sagen: Ein Akt wird - als menschliche Handlung - nie auf der Ebene seines genus naturae gewollt oder gewählt. Das wäre nämlich gar nicht möglich: Entweder wählen wir ihn aufgrund eines Vernunfturteils oder aber er ist gar keine menschliche Handlung und kann somit sittlich überhaupt nicht bewertet werden. Das Objekt einer menschlichen Handlung untersteht notwendigerweise immer schon der moralischen Differenz, weil es Objekt eines vernunftgeleiteten Strebens des Willens ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es, wie bereits angemerkt, auch objektiv indifferente Handlungen geben kann. Denn die objektive Indifferenz einer intentionalen BasisHandlung ist nicht dasselbe, wie jene Indifferenz, die die naturale Identität eines Aktes kennzeichnet. Letztere ist ja die Indifferenz dessen, was noch gar nicht in die Sphäre der Beurteilung durch Vernunft eingetreten ist d.h. losgelöst vom Gesamtkontext „menschliche Handlung" und damit Form-los betrachtet wird. Die objektive Indifferenz einer intentionalen

88 I—II, q.18, a.5 ad 3.

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Basis-Handlung ist jedoch gerade eine Indifferenz für die Vernunft und in der Beurteilung der Vernunft: Sie ist eine Bestimmung der Form. Eine Handlung als objektiv indifferent zu bezeichnen heißt also ebenfalls, eine moralische Bewertung vorzunehmen. Es ist sehr wichtig, diese beide Arten von „Indifferenz" auseinanderzuhalten89. Offensichtlich entspringt gerade die oben (III,3,c) kritisierte Auffassung, unser Handeln richte sich immer nur auf „nichtsittliche" Güter oder Übel und nur die Einstellung, mit der wir dann etwas tun, könne sittlich bewertet werden, dieser handlungstheoretischen Verwechslung zweier Arten von Indifferenz. Der Fehler rührt, wie gesehen, daher, Handlungsvollzüge zunächst gar nicht als „menschliche Handlungen" zu betrachten, sondern so, als ob sie naturale Ereignisse oder Abläufe wären, die wünschenswerte Zustände hervorbringen, wobei nur diese Zustände als Gegenstand des wählenden Willens angesehen werden, Handlungen selbst aber bloß als vom Handelnden irgendwie „ausgelöste" Ursachen dieser Zustände. In Wirklichkeit sind jedoch Handlungen als Aktvollzüge Objekte praktischer Vernunft und eines wählenden Willens (sonst würden wir nicht „handeln"). Diese früher (III,3,c) kritiserte Auffassung ist also ein radikaler „Physizismus", der gerade am kritischen Punkt die Perspektive der Moral ausklammert. Sie betrachtet alle Handlungen in ihrem objektiven Basis-Gehalt als indifferent, wobei sie „Indifferenz" gleichsetzt mit „naturaler Identität" eines Aktes. Der erste, der diesen Fehler beging und darauf eine systematische Moraltheorie aufbaute, war bekanntlich der mittelalterliche Philosoph Peter Abaelard (1079-1142).

Eine andere Exemplifizierung des Unterschiedes zwischen naturaler Identität (genus naturae) und moralischer Identität (genus moris) eines Aktes findet sich bei Thomas durch die Handlung „einen Menschen töten". Auf der ontischen Ebene betrachtet ist diese Handlung gleich einem jeglichen Geschehen, das den Tod eines Menschen bewirkt (für eine genauere Handlungsbeschreibung s. unten, V,3,d). Thomas sagt nun dazu folgendes: „Es ist möglich, dass Akte, die gemäß ihrem naturalen Genus identisch sind, dennoch auf zwei verschiedene Ziele des Willens hingeordnet werden: wie etwa der Akt,einen Menschen töten' gemäß seinem naturalen Genus immer gleich ist, aber auf das Ziel,Wahrung der Gerechtigkeit', oder Befriedigung des Zornes' hingeordnet werden kann. Und aufgrund dieser Hinordnung wird es sich, hinsichtlich der moralischen Spezies, um zwei verschiedene Akte handeln: der eine wird ein Akt der Tugend sein, der andere ein zu einem Laster gehörender Akt." Und es folgt eine Präzisierung: „Die moralischen Ziele sind bezüglich Naturwirklichkeiten ein Hinzukommendes (fines morales accidunt rei naturali)\ und umgekehrt ist der Aspekt der natürlichen Finalität (eines Aktes) bezüglich des moralischen Zieles ein Hinzukommendes (et e converso ratio naturalis finis accidit morali). Deshalb spricht nichts dagegen, dass zwei Akte, die gemäß ihrer Natur-Spezies identisch sind, sich hinsichtlich ihrer moralischen Spezies unterscheiden" 90 . Thomas unterscheidet hier also „Todesstrafe" von „Mord" als zwei „objektiv" und damit moralisch verschiedene Handlungsweisen. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Unterscheidung unabhängig ist von der Beantwortung der Frage, ob die Todesstrafe nun tatsächlich gerechtfertigt werden kann. Wenn wir auch nicht dieser Meinung sein sollten (was hier dahingestellt sei), so blieben die beiden Akte dennoch objektiv verschieden; dies ist für die Formulierung entsprechender sittlicher Normen von großer Bedeutung (vgl. unten V,3,d).

89 Vgl. dazu auch M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 91 ff. 90 I—II, q.l, a.3 ad 3.

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Wenn Thomas hier von „verschiedenen Zielen des Willens" spricht, so zeigt dies, dass er der Meinung ist, die moralische Spezies menschlicher Handlungen komme dadurch zustande, dass konkrete Akte Gegenstände des Willens und damit der praktischen Vernunft sind. Dadurch findet sich in einer solchen Handlung ein die intentionale Basis-Handlung in ihrem objektiven Sinngehalt konstituierendes formelles „Wozu?" der Vernunft. Der Vernunft allein ist gegenständlich, was wir den ethischen Kontext einer Handlung nennen können. Ähnlich verhält es sich mit der Handlung „lügen". Sie ist eine Verletzung der menschlichen Kommunikationsgemeinschaft. Der Akt der „Falschaussage" (eine Aussage, in der das sprachliche Zeichen nicht mit dem Gedanken des Sprechenden übereinstimmt) kann nur dann eine Lüge, d.h. eine Unwahrhaftigkeit, sein, sofern ein Kontext vorliegt, in dem Sprache als Medium der Kommunikation verstanden wird und ihr in einem bestimmten zwischenmenschlichen Zusammenhang auch faktisch diese Funktion zukommt (vgl. auch dazu unten V,3,d). Ein weiteres Beispiel ist die Handlung „Empfängnisverhütung". In seiner naturalen Identität ist dieser Akt z.B. „Einnehmen eines ovulationshemmenden Präparates" oder allgemeiner „Unfruchtbarmachung der Zeugungspotenz". Das allein charakterisiert jedoch noch nicht die menschliche Handlung „Empfängnisverhütung". Es fehlt hier vor allem die Angabe des „Wozu?". Die intentionale Handlung „Empfängnisverhütung" können wir in ihrer objektiven Identität beschreiben als „Verhinderung der Zeugungsfolgen des eigenen Sexualverhaltens". Das heißt Empfängnisverhütung ist eine Handlung, die darauf abzielt, die Zeugungsfolgen eigener sexueller Akte zu verhindern (das ist das „Wozu?"). Man sieht sofort, dass etwa das Einnehmen eines ovulationshemmenden Präparates durch eine Sportlerin zum Zwecke der Verhütung der Regelblutung während einer Olympiade zwar im genus naturae ein identischer Akt ist; die moralische Identität und damit das Objekt der Handlung ist jedoch völlig verschieden (es gibt keinen Bezug zum Sexualverhalten, zu dessen Zeugungsfolgen und auch das „Wozu?" ist entsprechend verschieden; aber auf der Ebene des genus naturae wird genau dasselbe getan). Ebenso würden wir dasselbe physische Tun, um sich vor den Zeugungsfolgen einer voraussichtlichen Vergewaltigung zu schützen, eher als einen Akt der Selbstverteidigung bezeichnen und nicht als die menschliche Handlung „Empfängnisverhütung". Letztere ist eine bestimmte Form des sich Verhaltens zu den Zeugungsfolgen des eigenen, frei gewählten Sexualverhaltens: Verhütung dieser Folgen anstelle deren Vermeidung aufgrund der Modifizierung dieses Verhaltens durch Akte der Enthaltung. Ein moralisches Urteil kann sich also nur auf diese intentionale Handlung beziehen, nicht aber auf den physischen Akt „die Ovulation hemmen" oder „Eingriff in den Ablauf von Naturprozessen". Um solche Fragen normativ lösen zu können, müssen wir allerdings zunächst von sittlicher Tugend und praktischen Prinzipien sprechen. Hier geht es ja allein um die Bestimmung der Objektstruktur des menschlichen Handelns. Man wird sich jetzt fragen, worin denn der Unterschied zwischen dieser Auffassung und jener besteht, der gemäß Objekte von Handlungen immer nur nichtsittliche Güter und Übel bzw. Akte in ihrer naturalen Identität sind. Der Unterschied ist der folgende: Die hier vertretene Auffassung behauptet, dass konkrete Akte bzw. Verhaltensweisen immer nur als sittlich bewertbare Handlungen, also innerhalb der moralischen Differenz gewählt werden können, und dass die Objekte solcher Handlungen bezüglich der naturalen Identität solcher Handlungen ein Mehr besitzen: einen ethischen Kontext, eine Kommensurierung von Umständen und ein „Wozu?", was alles einer Leistung der Vernunft entspringt. Akte werden also immer zumindest als intentionale Basis-Handlungen gewählt und vollzogen. Wenn wir gesagt haben, dass Akte immer nur innerhalb der moralischen Differenz, und damit entweder als gute oder als schlechte (eventuell indifferente) Handlungen gewählt werden können, so

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

haben wir nicht behauptet, die moralische Identität dieser Handlungen, bzw. die Zuordnung auf die eine oder die andere Seite der Differenz werde durch das Gesamt der Absichten des Handelnden oder die Bilanz der voraussichtlichen Folgen einer Handlung entschieden. Die grundlegende moralische Identität der konkret vollzogenen Handlung ist vielmehr ein der Vernunft gegenständliches Datum, eine allen weiteren Absichten zugrunde liegende Gegebenheit. Wenn jemand seinem Nachbarn ein Pferd entwendet, das er rechtmäßig besitzt, so ist diese Handlung objektiv - d.h. unabhängig von weiteren Folgen oder Absichten - entweder ein Diebstahl oder sie ist kein Diebstahl; man kann nicht sagen, die Entwendung fremden Besitzes sei nur ein nichtsittliches Übel, das erst noch gegen dadurch voraussichtlich bewirkte nichtsittliche Güter abgewogen werden muss, woraus sich dann ergeben würde, ob nun diese Handlung gerecht oder ungerecht sei. Die verschiedenen Elemente der Handlungsmaterie sind - allerdings kontingente - Gegebenheiten, die von der Vernunft erfasst werden. Die Kommensurierung durch die Vernunft ist demnach durchaus ein Erkenntnisakt und insofern durchaus eine Leistung des Subjekts. Die Aneignung rechtmäßigen Besitzes eines anderen ist zwar eine nur der Vernunft gegenständliche Rechtsverletzung. Dass bzw. ob es jedoch eine solche ist, kann der Handelnde nur erkennen, nicht aber entscheiden bzw. auf Grund weiterer Absichten oder vorausgesehener Folgen jeweils neu definieren. Ein „Pferdiebstahl" heißt: A entwendet B ein Pferd, das B rechtmäßig besitzt, um es sich anzueignen. Selbst wenn A beabsichtigen würde, nicht einen Diebstahl, sondern einen Akt des Wohlwollens gegenüber C zu vollziehen, sich also das Pferd aneignete, nicht um es zu behalten, sondern um es C zu schenken, und selbst wenn B nicht einmal merken würde, das ihm ein Pferd gestohlen wurde, weil er sehr viele besitzt, und C damit aus einer Notlage geholfen würde, so bliebe dennoch die Handlung von A objektiv die eingangs beschriebene intentionale Handlung, d.h. ein Diebstahl, und damit, vorausgesetzt „Diebstahl" ist objektiv ungerecht, eine ungerechte Handlung. Thomas v. Aquin würde hier sagen: Die Handlungsmaterie des gewählten Mittels ist bezüglich des Ziels „Wohlwollen gegenüber C" eine materia indebita, eine unangemessene Materie.

Wenn eine Privatperson einem anderen Menschen das Leben nimmt, so ist das objektiv entweder ein Mord (ungerecht) oder es ist keiner; wenn ein Schuldiger nach Rechtsgrundsätzen hingerichtet wird, so ist das objektiv entweder ein Akt der Wiederherstellung der Gerechtigkeit oder es ist eine unangemessene und deshalb ungerechte Strafe (aber kein Mord). Wenn jemand gegenüber einem Menschen, mit dem er in Kommunikationsgemeinschaft steht, eine Falschaussage macht, so ist das objektiv entweder eine Ungerechtigkeit oder es ist keine, usw., - und zwar immer unabhängig von weiteren Folgen oder Absichten. Unsere Analyse ist freilich noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem wir nun sagen können, ob und weshalb die genannten Akte der einen oder der anderen Seite der moralischen Differenz zuzuordnen sind. Wir brauchen dazu einen Begriff von sittlicher Tugend und praktischen Prinzipien. Hier ging es ausschließlich um die Analyse der Struktur und Konstituierung von Handlungsobjekten und ihrer moralischen Spezies. Wenn man allerdings von der Theorie der nichtsittlichen Güter ausgeht, so wird die Rede von einer objektiven Identität konkreter Handlungen und ihrer Zuordnung zur einen oder anderen Seite der moralischen Differenz unmöglich und unerheblich, weil sich ja dann diese Identität und die Zuordnung erst im Kontext der Gesamtheit von bewirkten Folgen und Absichten bestimmen lässt91. 91 Die Unterscheidung zwischen eigentlichem Objekt der Handlung und weiteren Intentionen, um derentwillen die Handlung gewollt wird, wird dann eingeebnet. Die Identität der Handlung be-

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d) Die Vernunft als Maßstab der sittlichen Bewertung von Handlungsobjekten Wenn wir einmal verstanden haben, was ein Handlungsobjekt ist und wie es zustandekommt (aufgrund einer commensuratio der Vernunft), dann lässt sich nun auch die Frage lösen, weshalb denn die Vernunft „Maßstab" von gut und schlecht in den menschlichen Handlungen ist. Wir erkennen jetzt nämlich, dass die Frage in dieser Weise gar nicht richtig gestellt ist. Denn wir müssen ja nicht begründen, dass oder weshalb die Vernunft (und nicht etwas anderes) Maßstab ist. Die Begründung verläuft genau in der umgekehrten Richtung. Denn wir sind davon ausgegangen, dass der Mensch ein Wesen ist, das aufgrund von Herrschaft über sein eigenes Streben handelt, und das heißt: dass er ein Wesen ist, das frei handelt. Und wir sahen, dass er dazu nur deshalb imstande ist, weil und insofern er Urteile über gut und schlecht, darüber was zu tun und was zu lassen ist, fällen kann. Deshalb stellt sich eigentlich nur die Frage, aufgrund welcher Auffassung von „gut" und „schlecht" der Mensch handelt. Diese Frage allerdings haben wir bereits beantwortet, denn die Antwort ist schon mit dem Begriff der menschlichen Handlung gegeben: Der Mensch handelt aufgrund von Urteilen der Vernunft, d.h. aufgrund dessen, was die Vernunft als gut formuliert. Aber ist jenes Gute, wie es von der Vernunft gemessen oder beurteilt wird, auch schon das, was wir das „sittlich Gute" nennen? Auch diese Frage ist zu bejahen, und die entsprechende Begründung ist bereits ausreichend geleistet: Denn das sittlich Gute ist ja nicht ein Gutes, auf das sich Einstellungen, Gesinnungen oder Intentionen im Unterschied zu Handlungsweisen richten, denn Einstellungen, Gesinnungen und Intentionen sind ja selbst von der Vernunft formulierte Mandlungs^xojekte", so dass die genannte Unterscheidung in einem Zirkel enden würden. Was wir „sittlich gut" oder „schlecht" nennen, ist ja nun gerade das Gute oder Üble, das in den Handlungen als intentionale Handlungen liegt. Ein gerechter Mensch ist ein solcher, der nicht nur Gerechtes will oder beabsichtigt, sondern der gerecht handeln will und auch, so weit es in einer Hand liegt, gerecht handelt. „Gerechtigkeit" als Absicht und Gesinnung zu verfolgen heißt, Gerechtes tun wollen, bzw. das, was man konkret zu tun wählt und auch tut, als „gerechtes Tun" zu verstehen, - und nicht einfach, die Existenz bestimmter Zustände zu intendieren, die (als Zustände) den Maßstäben von Gerechtigkeit entsprechen unter Absehung der Handlungsweisen, durch die diese Zustände hervorgebracht werden (vgl. V,4,f). Dieses (sittlich) Gute (z.B. das Gerechte) wird eben, weil der Mensch aufgrund von Vernunft handelt, durch die Vernunft formuliert, und es kann überhaupt nur durch die Vernunft formuliert werden. Gut und schlecht in den menschlichen Handlungen bemisst sich nach jenem Guten, wie es allein Gegenstand der praktischen Vernunft sein kann.

stimmt sich in der Folge nur noch aufgrund dessen, was R. A. McCormick expanded notion of object („ausgeweiteter Begriff des Objektes") nennt, demgemäß sämtliche relevanten vorsittlichen Elemente zum Objekt gezählt werden müssen. Dies bedeutet letztlich, dass auch sämtliche Absichten mit zur Definition der konkreten Handlung gehören. Um z.B. bei einer konkreten Tötungshandlung in einer bestimmten Situation zu definieren, was für eine Handlung hier eigentlich vollzogen wird, müssten auch die Absichten berücksichtigt werden, um derentwillen der (physische) Tötungsakt vollzogen wird (so könnte dann etwa die Tötung von X zum Zwecke der Rettung des Lebens mehrerer anderer Menschen als „Lebensrettungshandlung" beschrieben werden). Zur Kritik des Begriffs des expanded object vgl. erneut M. Rhonheimer, Intentional actions and the meaning of object: A Reply to Richard McCormick, a. a. O.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Wir müssen also gar nicht fragen, ob das „sittlich Gute" durch die Vernunft formuliert werde und ob sie „Maßstab" dieses Guten sei. Es verhält sich umgekehrt: Was wir zunächst wissen, ist, dass der Mensch aufgrund von Vernunfturteilen handelt (insofern er „menschliche Handlungen" vollzieht). Das Gute, das von solchen Urteilen formuliert wird, ist gerade jenes Gute, dem wir den Namen „das sittlich Gute" geben. Das Wort „sittlich" ist hier eigentlich überflüssig: Es genügte zu sagen, es ist das Gute, das der Mensch verfolgt, wenn er als Mensch handelt, d.h. willentlich und damit: aufgrund von vernunftgeleitetem Streben. Wir nennen dieses Gute sittlich Gutes ganz einfach deshalb, weil wir überhaupt für das ganze Phänomen „menschliches Handeln" eben den Ausdruck „sittliches Handeln" verwenden. „Sittlich" (nicht im Gegensatz zu „unsittlich", sondern zu „nicht-sittlich") nennen wir ja jene Art von Tun, das vernunftgeleitetem Streben entspringt - das heißt willentlich ist - , für das man Verantwortung trägt, das demnach Verdienst oder Schuld mit sich führt und deshalb Lob oder Tadel verdient. Das Moment des Sittlichen oder der Moralität ist nichts anderes als ein Name für diese eben genannten Charakteristika menschlichen Handelns. Alle diese Charakteristika sind Phänomene, die nicht begründet zu werden brauchen sondern vielmehr Ausgangspunkt jenes Begründungsdiskurses sind, den wir Ethik nennen. Mit anderen Worten: Unter Voraussetzung unseres Begriffs von „menschlicher (sittlicher) Handlung" ist es schlechterdings evident, dass die Vernunft Maßstab des Sittlichen ist. Es handelt sich um nichts weiteres als um eine unmittelbare Implikation des Begriffs „menschliche Handlung". Damit ist erneut gerechtfertigt, was in III, 3,c gesagt wurde: Wir brauchen den Ausdruck „sittlich gut" nicht, um das sittlich Gute von nichtsittlichen Aspekten in menschlichen Handlungen zu unterscheiden, sondern um überhaupt die Sphäre menschlichen Handelns von der Sphäre bloßer Naturereignisse oder nichtwillentlichem Geschehen abzuheben. Innerhalb dieser durch die praktische oder moralische Perspektive konstituierten Sphäre der Ethik ist der Ausdruck „sittlich gut" redundant und pleonastisch92.

Ohne bereits geklärt zu haben, wie die Vernunft nun das „Sittliche" vom „Unsittlichen", das „Gute" vom „Schlechten" oder das „wahrhaft Gute" vom „nur scheinbar Guten" zu unterscheiden vermag, ergibt sich vorerst folgender handlungstheoretische Zusammenhang: Weil der Mensch, sofern er menschlich handelt, aufgrund von Vernunft und Wille handelt, bestimmt sich auch das Gute seines Handelns gemäß der Vernunft. Würde sich die moralische Differenz nicht aufgrund der Vernunft konstituieren und diese nicht ihr Maßstab sein, so könnten wir gar nicht sagen, der Mensch handle aufgrund von Vernunft. D.h. wir könnten nicht sagen, er handle aufgrund von Urteilen der Vernunft der Art: „p ist gut"; wir müssten dann vielmehr sagen, er handle aufgrund von Urteilen wie „p ist vorgeschrieben"; „p ist eine sittliche Norm"; „p muss ich tun"; „man verlangt von mir, dass ich p tue"; usw. Man kann freilich auch vernünftig handeln aufgrund von „p ist vorgeschrieben". Aber das praktische Urteil, das zum Handeln führt kann nicht lauten „p ist vorgeschrieben"; das Handlungsurteil formiert sich vielmehr folgendermaßen: (1) „es ist vorgeschrieben, p zu tun"; (2) „diese Vorschrift ist gut" oder „es ist gut, diese Vorschrift zu befolgen"; (3) „es ist gut, p zu tun". Das Urteil (2) „es ist gut, diese Vorschrift zu befolgen" muss nicht einmal notwendigerweise aufgrund der Einsicht in das Gutsein des Inhalts der Vorschrift erfolgen; es genügt z.B. das Vertrauen in denjenigen oder die Anerkennung

92 Darauf hat provokativ G. E. M. Anscombe in ihrem in der Einleitung erwähnten, 1958 erschienenen Essay „Modern Moral Philosophy" hingewiesen.

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der Autorität desjenigen, der sie erlassen hat. Wenn also auch in diesem Fall kein Urteil des Handelnden über das Gutsein von p erfolgt, so handelt der Betreffende dennoch aufgrund eines Urteils „p-tun ist gut". Und dieses Urteil ist Maßstab des Gutseins der von ihm vollzogenen Handlung p, die dann objektiv überdies eine Handlung des Vertrauens, oder des Gehorsams ist. Das letzte Urteil über das Gutsein der Handlung kann nie eine Vorschrift, ein Gebot oder eine sittliche Norm sein, sondern immer nur die Vernunft des Handelnden, - sonst wäre es einfach keine menschliche Handlung. Auch Gehorsam, sofern er denn nicht Unterwerfung unter bloßen Zwang und damit eigentlich gar nicht „Gehorsam" ist, ist immer ein Akt der Freiheit und der Vernunft. Nur die Vernunft kann also überhaupt Maßstab von gut und schlecht in den menschlichen Handlungen sein. Diese im eigentlichen Sinne normative Funktion der Vernunft fällt zusammen mit der Bestimmung menschlichen Handelns als freies und in d i e s e m präzisen Sinne autonomes Handeln 9 3 . „Freiheit" heißt ja soviel w i e „Herrschaft über das eigene Streben" besitzen, d.h. die Fähigkeit, sich aus eigenem Antrieb handelnd auf das Gute hin auszurichten. Und dieses Gute ist nun eben immer ein bonum rationis ein „Gut der Vernunft", das heißt ein Gutes, wie es von der Vernunft ausgemacht wird. Die Vernunft, so sahen wir früher, ist Wurzel der Freiheit, weil sie deren Ursache ist 94 . Sie kann das sein, weil sie „verschiedene A u f f a s s u n g e n des Guten" zu haben vermag 9 5 ; sie ist nicht auf Eines hin determiniert. W i e Kant richtig g e s e h e n hat, lässt sich allein aus dem Begriff der A u t o n o m i e der Begriff der „Würde des Menschen" ableiten 9 6 . Wir sprachen hier allerdings von einer A u t o n o m i e des Handelns, die in der Abhängigkeit des Willens von Vernunft, also in kognitiver Autonomie gründet. Kant spricht von der A u t o n o m i e des Willens als Selbstgesetzgebung und seiner Freiheit als Unabhängigkeit von aller material-objektiven Bestimmtheit. D i e tiefgreifende Differenz beider Positionen kann hier nicht diskutiert werden (vgl. einige H i n w e i s e unten III,5,c und V , l , a und 2). Deshalb sagt Thomas von Aquin: „Frei ist, wer über sich selbst verfügt (qui est causa sui); der Sklave untersteht der Verfügungsgewalt seines Herrn: Wer immer also aus sich selbst heraus handelt, der handelt frei; wer hingegen durch einen anderen bewegt handelt, der handelt nicht frei. Derjenige also, der das Schlechte nicht deshalb meidet, weil es schlecht ist, sondern weil Gott es so gebietet, der ist nicht frei; aber derjenige, der das Schlechte meidet, weil es schlecht ist, der ist frei" 97 . Dasselbe gilt natürlich für das Gute. Nur die Einsicht in das Gute und ein aus dieser Einsicht entspringendes Handeln ist wirklich freies Handeln. Aber natürlich ist auch ein Handeln aufgrund der vernünftigen Einsicht, dass es gut ist, die Weisung eines anderen zu befolgen, ein freies Handeln; auch das ist eine Form der Einsicht in das Gutsein der Handlung, auch wenn man nicht weiß, warum die betreffende Handlungsweise selbst als solche gut ist. Nicht frei wäre das Handeln, wenn es vollzogen würde, nur weil dieser Andere es gebietet (aus reiner Unterwerfung). Heißt das nun: Was eines jeden Menschen Vernunft als „gut" erachtet, das ist auch (für diesen) j e w e i l s das Gute? Wenn damit gesagt sein soll, dass, was eines jeden Vernunft als gut beurteilt, der Maßstab dafür ist, was er effektiv tun wird, so stimmt das. Denn wir handeln ja 93 Zum Begriff der Autonomie vgl. meine eingehenden Ausführungen in: Natur als Grundlage der Moral, a. a. 0 . , S. 149 ff. 94 I—II, q. 17, a. I , a d 2 . 95 Ebd. 96 I. Kant, GMS, B 79 (IV, S. 69). 97 Super secundam Epistolam ad Corinthios Lecturam cap. III, lect. 3.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

immer aufgrund von Urteilen der Art „p ist gut". Wenn aber damit gesagt sein sollte, dass es auch der Maßstab dafür sei, was in Wahrheit gut ist, was also (sittlich) gut im Unterschied zu (sittlich) schlecht ist, so stimmt das nicht. Aber um diese zweite Unterscheidung ging es bislang noch gar nicht. Wir haben ihr uns jedoch bereits genähert. Denn wenn es überhaupt einen Unterschied zwischen „in Wahrheit gut" und „nur dem Scheine nach gut" gibt, bzw. zwischen „objektiv sittlich gut" und „objektiv sittlich schlecht", dann muss dieser Unterschied in irgend einer Weise gleichbedeutend sein mit dem Unterschied zwischen „vernünftig" und „unvernünftig"; im Sinne von: „dem was der Vernunft gemäß ist" und dem „was der Vernunft nicht gemäß ist". In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser Formulierung eine anthropologische Aussage, bzw. eine Anthropologie der sittlichen Handlung, die erst erhellt, was es denn heißt, dass die Vernunft Maßstab von gut und schlecht in den menschlichen Handlungen sei. Diese Anthropologie der menschlichen Handlung liegt dem Phänomen „sittliche Tugend" zugrunde.

5. Anthropologie der sittlichen Handlung a) Der anthropologische Primat der Vernunft Für die Ansicht, die Vernunft sei Maßstab von gut und schlecht in den Handlungen, führt Thomas - wie wir sahen - folgende, geradezu lapidare Begründung an: Für ein jedes Seiende ist gut, was seiner Wesensform und damit der Spezifität seines Seins entspricht. Der Mensch, als durch eine geistige Seele formierter Leib, zeichnet sich nun aber gerade durch Vernünftigkeit aus. Es ist deshalb für den Menschen das Natürliche, das für ihn Gute in Bezug auf die Vernunft und durch die Vernunft zu bestimmen. Folglich muss „gut" bzw. „schlecht" hinsichtlich der Handlungsobjekte jeweils jenes sein, was der Vernunft entspricht, bzw. was ihr widerspricht 98 . Das hatte im wesentlichen bereits Aristoteles mit seinem ergon-Argument gesagt: Die Tugend ist ein Handeln, das sich an jenem „Teil der Seele" ausrichtet, der vernünftig ist. Bedingung für gutes Handeln ist, dass die Vernunft im Menschen herrsche, gleichsam die Führung übernehme, und dass die in sich nicht-vernünftigen Strebungen des Menschen der Vernunft gemäß geordnet werden". Zur Erklärung sei erneut daran erinnert, dass Handeln eine Strebephänomen ist. Wir handeln, weil und insofern wir etwas erstreben. Und was wir erstreben - das Korrelat oder das Objekt des Strebens - nennen wir „gut". Es gibt ein Gutes für das sinnliche Begehren, bzw. die verschiedenen Triebe, die wir unter dem Oberbegriff „sinnliches Begehren" zusammenfassen. Jedes Begehren formuliert ein Gutes auf der ihm spezifischen Ebene. So gibt es auch auf dieser naturalen Ebene der Sinnlichkeit Dinge, die das Begehren flieht, die ihm also als Übel gegenständlich sind bzw. Unlust erregen. Da der Mensch jedoch Mensch ist aufgrund seiner Intellektualität bzw. Vernünftigkeit, und da er aufgrund von Vernunft handelt, d.h. die Urteile „p ist gut", aufgrund deren er handelt, Urteile der Vernunft und nicht Urteile der Sinne sind (die ja als solche nur das sinnliche Be-

98

q. 18, a. 5 und q. 71, a. 2; In II Ethic., lect. 2. Zu möglichen Fehlinterpretationen dieser Stellen vgl. M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 60 ff. 99 Vgl. z.B. EN I, 13. I—II,

5 . ANTHROPOLOGIE DER SITTLICHEN HANDLUNG

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gehren zu leiten vermögen), so kann eben das Gute, das für ihn als Menschen gut ist, nur ein von der Vernunft formuliertes Gutes sein, ein bonum rationis: ein „Gutes der Vernunft", d.h. ein Gutes, wie es in der Beurteilung der Vernunft als Gutes erscheint. „Das Gute der Vernunft ist aber das, was gemäß der Vernunft moderiert bzw. geordnet ist" l0°. Die Vernunft erscheint hier nicht mehr nur als eine Urteilsinstanz, sondern, gemäß der Aristotelischen Terminologie, als maßgebender „Teil der Seele". Es gibt, so meint es Aristoteles, eine Hierarchie der Seelenteile, und die Vernunft ist der oberste Teil, der zum Herrschen bestimmt ist. Tatsächlich liegt ja unser freies, verantwortliches Handeln in der Vernunft begründet. Die anderen Seelenteile, die in sich nicht schon Vernunft tragen, müssen sich der Vernunft unterordnen. Das sinnliche Streben ist in sich nicht vernünftig und strebt auch nicht vernünftig; aber es kann dazu gebracht werden, vernünftig zu streben, indem das Subjekt sein Streben auf jenes Gute ausrichtet, wie es allein der Vernunft gegenständlich ist. Wenn auch das Pferd oder die Frau meines Nachbarn für die entsprechenden Sinne als Gut (erstrebenswert) erscheinen, so vermag die Vernunft zu urteilen: „Es ist nicht gut, dies zu erstreben"; und sie vermag entsprechend das sinnliche Streben zu moderieren, zu ordnen. Ein Handlungsurteil „p ist gut" wäre dann ein Urteil bezüglich dieses sinnlichen Begehrens: ein Urteil ihm zu folgen oder nicht zu folgen, dies aber eben in der „Ordnung der Vernunft". Wie also der Mensch dadurch Mensch ist, dass sein Leib eine intellektive oder vernünftige Wesensform besitzt, so sind Handlungen des Menschen „menschliche Handlungen", insofern sie aufgrund von Vernunft und vernünftigem Streben (Willen) vollzogen werden. Und demzufolge sind menschliche Handlungen „gut" und „schlecht" aufgrund ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Vernunft. Wie oben (II,3,b) gezeigt, steckt die Vernunft nicht den Bereich des für den Menschen Guten ab, sondern ist sie das Ordnungsprinzip, gemäß dem die Vielfalt des zum Menschen Gehörenden zu verfolgen ist. Nicht nur die spezifisch der Vernunft eigentümlichen Akte und Tätigkeiten sind demnach für den Menschen gut, sondern auch die Korrelate nichtvernünftiger (sinnlicher) Strebungen, diese aber gemäß der Vernunft d.h. durch Vernunft geordnet, als bonum rationis.

Nun scheint es aber, dass wir damit nicht weiterkommen und so nur ein rein formales Kriterium für das Gute erhalten: Vernünftigkeit. Die von Thomas übernommene Aristotelische Lehre bringt uns jedoch weiter, sobald wir die Natur der Vernunft genauer bedenken: Sofern nämlich die Vernunft nicht durch irgend einen „äußeren" Einfluss an dem ihr eigenen Urteilsvollzug und damit eben der ihrer Natur entsprechenden Vernünftigkeit gehindert wird, trifft sie unfehlbar das Gute. Das Vernünftige ist auch immer das wahrhaft für den Menschen Gute. Und wenn die Vernunft dieses verfehlt, so liegt es nicht an ihr, sondern an einem durch andere Einflüsse hervorgerufenen Mangel an Vernunft. „Falsche Vernunft" oder „Unvernünftigkeit" heißt so viel wie: Zu wenig Vernunft. Das Unvernünftige ist das Nichtvernünftige101. Diese These mag zunächst erstaunen. Aber sie wird bei näherem Zusehen verständlicher. Auch das sinnliche Begehren trifft ja auf seine Weise unfehlbar das sinnlich Gute, d.h. das 100 101

I-II, q. 59, a. 4. Es sei daran erinnert, dass hier mit dem Terminus „Vernunft" immer das menschliche intellektive Vermögen als Ganzes gemeint ist; vgl. die Bemerkung im Kleindruck oben III,3,a. - Ausführlicheres zu dem nachfolgend Dargelegten findet sich bei M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O. S. 117-172.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

dem betreffenden Sinn adäquate Objekt, - es sei denn, sein Organ - und jede Sinneserkenntnis besitzt eine physiologisch-organische Bedingtheit - sei in irgend einer Weise in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. So gibt es Farbenblindheit oder frigide Menschen. Aber das sind zumindest teilweise pathologische Störungen der physiologisch-organischen Voraussetzungen von Sinnesbegehren bzw. Affektivität. Das adäquate Objekt der Vernunft ist das Intelligible. Pathologische Störungen der Vernunft als Vernunft sind nicht möglich, da der Akt der Vernunft als Akt der Vernunft nicht von Körperorganen abhängig ist. Der Beweis dieses Satzes gehört nicht in die Ethik. Sein Fundament sei dennoch genannt: Vernunft und auch Wille sind reflexionsfähige Vermögen. Dass ein Vermögen über sich selbst reflektieren kann, heißt, dass es fähig ist, sich seine eigenen Akte wiederum gegenständlich zu machen. Das Auge kann sich nicht sehen (außer in nicht-reflexiver Weise, d.h. in einem Spiegel); ein sinnliches Begehren kann sich nicht begehrend zu sich selbst verhalten oder seinen Akt selbst wiederum nicht-begehren (auch deshalb besitzen Tiere keine Freiheit). Der Intellekt bzw. die Vernunft kann seine Akte selbst erkennen und Urteile über seine Urteile fällen, der Wille kann ein Wollen wiederum zum Gegenstand des Wollens machen und es nicht wollen. Reflexivität indiziert Unabhängigkeit von Körperorganen, und das heißt: Geistigkeit 102 . Die Vernunft kann nicht „krank" sein oder fehlgehen, wie die Sinne; sie kann nur „gehindert", „gestört" usw. werden, und dies, weil menschliche Vernunft die Vernunft eines Sinnenwesens ist; weil strenggenommen nicht die Vernunft erkennt, sondern der Mensch als leib-geistige Einheit. Das heißt nun: Die Vernunft (oder der Intellekt) ist - wie jedes Vermögen - naturhaft darauf hingeordnet, das ihr adäquate Objekt zu erkennen. „Der Intellekt" - erklärt Aristoteles „ist immer richtig, nur das Streben und die (sinnliche) Vorstellung können auch nicht richtig sein" 103 - nicht „richtig" bezüglich der Anforderungen der Vernunft, und deshalb müssen sie gemäß dem von der Vernunft erkannten Richtigen geordnet werden. Was wir das „wahrhaft Gute" nennen ist nun eben nichts anderes als gerade das, was natürliches Objekt der Vernunft ist. Das heißt: Wahre Erkenntnis, auch im Bereich des Praktischen, nennen wir jene Erkenntnis, die von der Vernunft geleistet wird. Wir brauchen nicht noch darüber hinaus zu fragen: wie können wir garantieren, dass die Erkenntnis der Vernunft als Vernunft „wahr" ist? Die Frage ist deshalb überflüssig, weil gilt: Sofern die Vernunft wirklich den ihr eigenen Akt ungehindert vollziehen kann, so ist dieser unter den Bedingungen ihrer eigenen Natur nach vollzogene Akt „Erkenntnis des Erkennbaren" (Intelligiblen), - so wie der entsprechende Akt des Sehsinnes „Sehen des Sichtbaren" und der des Tastsinnes „Fühlen des Tastbaren" ist. Und das Treffen des für den Intellekt Erkennbaren nennen wir ein wahre Erkenntnis. Anders könnten wir ja gar nicht sinnvoll von einem Unterschied zwischen wahrer und falscher Erkenntnis sprechen. Nun ist jedoch entscheidend: Wenn wir sagen: Die Vernunft trifft unfehlbar das Wahre, bzw. wahrhaft gut ist, was die Vernunft als gut beurteilt, so ist zu berücksichtigen, dass dies eine Aussage über die Vernunft des Menschen ist (d.h. über das Vermögen als solches), nicht aber eine Aussage über den Menschen, insofern er Vernunft-Urteile vollzieht. Der Mensch ist ja nicht nur Vernunft. Und Akte werden nicht von einzelnen Vermögen vollzogen, sondern immer vom ganzen Menschen in seiner leib-seelischen Komplexität vermittels seiner Ver-

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Vgl. dazu erneut: De Ventate, q. 22, a. 4. Aristoteles, De Anima III, 10, 433a 27-28.

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mögen 1 0 4 . Vernunfturteile eines Menschen koexistieren in Interaktion und auch in einem Bedingungeverhältnis mit Akten sinnlicher Perzeption und sinnlichen Strebungen. W e n n ein M e n s c h vermittels seiner Vernunft urteilt „p ist gut", so ist das noch keine Garantie dafür, dass dieses Urteil vernünftig und eben „wahr" ist. Es ist vernünftig, d.h. es trifft das wahrhaft Gute, sofern in d i e s e m Urteil auch wirklich die Ansprüche der Vernunft, und nicht andere, damit konkurrierende Ansprüche zur Geltung kommen. D a s könnte nun „rationalistisch" oder „stoisch" klingen, braucht aber nicht so verstanden zu werden. Es ist j e d o c h unumgänglich schrittweise vorzugehen. Erst nach und nach werden sich die D i n g e klären. Die eben angesprochene „Unfehlbarkeit" der Vernunft bzw. des Intellektes bedeutet demnach nicht, dass der Mensch nicht irren kann. Gesagt ist nur: Der Irrtum erfolgt nicht auf Grund eines Defektes des intellektiven Vermögens, sondern aufgrund anderer Einflüsse. Der Intellekt abstrahiert intelligible Inhalte aus der Sinnesperzeption 105 . Hier spielt Veranlagung, physiologische Disposition, Übung u.a.m. eine große Rolle. Zudem, und das gilt besonders für den praktischen Intellekt, beeinflussen die affektiven Dispositionen das Urteil der Vernunft. Darüber wird noch zu sprechen sein. Angemerkt werden soll hier nur, dass aus diesen Gründen auch der Intellekt einer habituellen Ausrichtung auf den ihm eigenen Akt bedarf. Das geschieht durch die sogenannten „dianoetischen" oder „intellektuellen" Tugenden (Verstandestugenden), von denen noch die Rede sein wird. Wir können festhalten: D i e Vernunft besitzt im „Wahren" oder „Intelligiblen" das ihr adäquate Objekt, auf das sie naturhaft hingeordnet ist, von dem sie aber auch abgelenkt werden kann. D i e Vernunft als Vernunft trifft das ihr eigene Gute, und dieses Gute ist das Kriterium für das Gut-sein menschlicher Handlungen. Deshalb ist es geradezu selbstverständlich, dass die Vernunft Maßstab für gut und schlecht in den menschlichen Handlungen ist. Ein anderer Maßstab ist, aus anthropologischen Gründen, gar nicht denkbar. Z w e i t e n s k ö n n e n wir sagen: D i e

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„Actus sunt suppositorum" lautet dafür das klassische Prinzip: Akte werden nicht von einzelnen Potenzen, sondern vom konkret existierenden Individuum, dem „suppositum" bzw, der Person, in seiner Gesamtheit vollzogen: Nicht meine Hand gibt jemandem eine Ohrfeige, sondern ich gebe sie mit meiner Hand. 105 Dem liegt eine Auffassung von Erkenntnis zugrunde - man kann sie mit E. Gilson als „methodischen Realismus" bezeichnen - , die von der Kantischen und der postkantischen Erkenntnistheorie wie auch vom späteren „linguistic turn" unbeeindruckt bleibt. Dass aus der Sinneserfahrung keine intelligiblen Inhalte stammen können, ist eine unbewiesene, von Hume übernommene Voraussetzung Kantischer Erkenntnistheorie, die, wie bereits früher gesagt, bei Kant zugleich die Rolle eines Arguments spielt, was seinen erkenntniskritischen Diskurs zirkulär werden lässt. Kant übernahm die Voraussetzungen seiner Argumentation aus dem Rationalismus der Cartesianer (für die alles Intelligible aus dem Verstand kommt bzw. angeboren ist) und dem Empirismus (für den „Intelligibilität" nur als Kombination von Sinnesdaten verstehbar ist und eigentlich nie darüber hinausgeht) und konstruierte daraus seine Auffassung von Erfahrung als Kombination von Sinnesdaten und A priori des Verstandes. Die Alternative dazu wäre die auf Aristoteles zurückgehende, zu Kants Zeiten praktisch vergessene und dem Common sense entsprechende Lehre von der Fähigkeit des Intellektes, intelligible Strukturen aus den Sinnesdaten zu abstrahieren. Die Abstraktionslehre war im 18. Jahrhundert eigentlich nur noch Thomas Reid bekannt. Vgl. T. Reid, Essays on the Intellectual Powers (Essay Five: Of Abstraction), in: Reid, Inquiry and Essays (hrsg. von R. E. Beanblossom and K. Lehrer), Indianapolis 1983, S. 234 ff.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Vernunft beurteilt alles andere, d.h. was nicht ursprünglich der Vernunft entspringt, in bezug auf sich selbst, gleichsam „in ihrem eigenen Interesse", ordnet es der ihr eigenen Erkenntnisweise ein und unter. Dies Interesse der Vernunft ist ein doppeltes: sich selbst als Vernunft zu bewahren, und alles andere gemäß dem der Vernunft gegenständlichen Guten zu ordnen. Deshalb sei - meint Thomas - für die nichtvernünftigen Strebungen gerade jene Verfassung „natürlicherweise richtig", durch die „der Akt der Vernunft und das Gut der Vernunft in keiner Weise gestört, sondern vielmehr unterstützt" wird. Im gegenteiligen Fall liegt vor, was „von Natur aus eine Verfehlung ist": So z.B. Beispiel Akte der Unmäßigkeit, „wodurch die Vernunft in ihrem Akt gehindert wird" und allgemein „sich den Leidenschaften unterwerfen, die das Urteil der Vernunft nicht in seiner Freiheit belassen: all dies ist ist natürlicherweise schlecht" 106 . Diese Forderung nach „Freiheit der Vernunft" beruht auf dem Prinzip: Die Vernunft ist der Garant dafür, das für den Menschen als Menschen Gute zu treffen. Eine „verdorbene" Vernunft ist nicht eine „falsch gebrauchte" Vernunft. Die Vernunft selbst kann nicht im eigentlichen Sinne missbraucht werden, aber sie kann ins Schlepptau nicht-vernünftiger Strebungen geraten, - zu denen, wie wir sehen werden, auch der Wille gehören kann. „Falsche" oder „verdorbene" Vernunft ist gar keine Vernunft: „Ratio corrupta non est ratio'"01. Mehr als ein „Organ", das zu diesem oder zu jenem gebraucht werden kann, ist der Akt der Vernunft und des Intellektes insgesamt mit der Metapher des Lichtes beschreibbar. Das Licht kann nicht zum Verdunkeln gebraucht werden. Sofern es Licht ist, leuchtet es, erhellt es, macht es sichtbar, lässt es das Verborgene zum Vorschein kommen. Das Licht kann schwächer oder intensiver sein, seine Strahlen können auf Hindernisse stoßen, verdunkelt, gefiltert oder abgelenkt werden. Das intellektive Vermögen ist mit der Lichtquelle vergleichbar, sein Akt mit dem Lichtstrahl. Alles, was ihren Akt verfälscht, ist nicht aus ihr, sondern Hindernis für den ihr eigenen Akt. Intellektivität ist die dem Menschen eigene und spezifische Öffnung auf Wirklichkeit hin, auf das was ist in seiner ganzen für ihn relevanten Sinnfülle. Ein „Leben gemäß der Vernunft" oder „vernunftgemäßes Leben" heißt: In der Wahrheit leben, in dem und gemäß dem, was für den Menschen im eigentlichsten und tiefsten Sinne - eben vernünftigerweise - gilt und ihm entspricht. Und wiederum: Es gilt nicht zu fragen, wie wir wissen können, was denn nun vernünftig ist. Zuerst müssen wir festhalten: „Gut" für den Menschen ist, was der Vernunft als „gut" gegenständlich und in diesem Sinn „vernünftig" ist. Erst dann können wir fragen: Unter welchen Bedingungen sind wir denn vernünftig und leben auch tatsächlich gemäß der Vernunft? Unter welchen Bedingungen streben wir vernünftig nach dem Guten und erstreben als Letztes, was allein vernünftigerweise als Letztes erstrebt werden kann? Das ist das Thema jener Tradition von Ethik, wie sie durch Sokrates, Piaton und Aristoteles, aber auch durch die epikureische und stoische Schule inauguriert wurde und wie sie spätestens bei Kant eine tiefgreifende Umgestaltung erfährt und in gewissem Sinne auch an ihr Ende gekommen ist, weil dort nicht mehr die Frage nach den Bedingungen von Vernünftigkeit, sondern - subjektivitätsphilosophisch - jene nach den Bedingungen von Freiheit als Autonomie des Willens ins Zentrum der Moral gerückt wird. Allerdings verbindet

106 107

C.G. cap. 129. In II Sent., d. 24, q. 3, a. 3 ad 3.

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beide Traditionen, dass sie Freiheit nur unter der Bedingung von Vernünftigkeit zu denken vermögen . Die Frage nach den Bedingungen von Vernünftigkeit ist, mindestens zum Teil, identisch mit der folgenden: Was vermag die Vernunft zu „stören", sie von dem ihr in eigentümlicher Weise gegenständlichen Guten abzulenken und damit „Unvernünftigkeit" zu provozieren? Zweierlei ist hier zu nennen: Die Leidenschaften und der Wille. Und in einem anderen Sinne auch Mängel der Vorstellungskraft (Phantasie) und anderer für die Organisation der sinnlichen Perzeption verantwortlicher innerer Sinne, und schließlich falsche Meinungen (irrige Vorurteile) bzw. Unwissenheit. Zugleich muss jedoch betont werden: Leidenschaften und Wille sind nicht nur jene menschlichen Gegebenheiten, die Vernunft „behindern" können. Sie sind auch jene Strebungen, durch die allein Vernunft praktisch und menschliches Handeln auch wirklich gutes Handeln zu werden vermag. Es geht hier, und dies sei bereits betont, nicht um eine Vernunftmoral im Sinne einer Moral der Leidenschaftslosigkeit. Viel eher besteht das sittliche Ideal einer Tugendethik darin, das Gute, d.h. das Vernunftgemäße leidenschaftlich zu tun, oder: mit Leidenschaft vernünftig zu handeln, bzw. mit Vernunft den sinnlichen Strebungen und der Dynamik des Willens zu folgen. Was aber sind „Leidenschaften" und wie ist das Verhältnis zwischen Vernunft und Wille zu verstehen? b) Leidenschaften (Affekte, Emotionen, sinnliche Antriebe) und ihr Einfluss Menschliches Handeln ist ein Strebephänomen. Handeln entspringt praktischer Vernunft, die selbst wiederum eine in Streben eingebettete und dieses Streben kognitiv leitende Vernunft ist. Das vernunftabhängige Streben, den Willen, haben wir bereits in verschiedenen Bezügen analysiert, auch in seiner Doppeldimension als Intention und Handlungswahl. Nun heißt menschliches Streben nicht nur „Wollen". Im Menschen finden sich auch sinnliche Antriebe bzw. Strebepotenzen, die unmittelbar mit der Leiblichkeit des Menschen zusammenhängen, ihr entspringen und auf ihre Weise auf Vernunft und Wille Einfluss ausüben. Das Phänomen des Affiziertwerdens von Vernunft und Wille durch Akte dieser sinnlichen Strebevermögen nennt man Leidenschaft. Leidenschaften sind, in sich betrachtet, sinnliche Triebkräfte, also Akte, die jedoch auf Vernunft und Wille einwirken; letztere erfahren also diese als eine passio, ein „Erleiden", woher sich auch der Name „Leidenschaft" erklären lässt. Genauer noch können wir sagen: Leidenschaften sind Akte oder Bewegungen unserer sinnlichen Neigungen, die sich auf durch Sinnesperzeption erfasste Gegenstände richten. Diese Sinnesgegenstände sind als eigentümliche Strebekorrelate das jeweilige Gut (oder Übel) dieser Neigungen oder Gefühle. Es handelt sich dabei um Gefühle der Anziehung und der Abstoßung. Wir brauchen auch die Namen „Emotionen" oder „Affekte". Alle haben sie einen sinnlichen Inhalt und sind sie irgendwie mit Körperorganen und körperlichen Zuständen verbunden, und sie zeigen sich zumeist auch unmittelbar in physiologischen Auswirkungen. Solche Leidenschaften sind etwa Zorn, Trauer, Furcht, Freude usw. Entsprechend zweier verschiedener Grundtypen sinnlicher Antriebe unterscheidet die klassische Anthropologie zwei verschiedene Vermögen, die für das sinnliche Streben oder solche 108

Jedenfalls ist klassische Tugendethik nicht einfach eine Lehre über richtige affektive Dispositionen, Motivationen, Haltungen oder Charaktereigenschaften, sondern immer eine Ethik der „rechten Vernunft" (orthos logos).

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Neigungen, die Leidenschaften, Affekte, Emotionen, Gefühle hervorrufen, verantwortlich sind: Das Begehren („konkupiszibles" Strebevermögen) und den Mut („iraszibles" Strebevermögen), „Mut" nicht als Tugend oder Charaktereigenschaft verstanden, sondern als appetitive sinnliche Potenz oder „Anlage" (auch „Gemüt" genannt)109. Wie der Wille jenes Streben ist, das von der Vernunft abhängt - also ein von der Vernunft ausgemachtes und beurteiltes Gut erstrebt - so hängen sinnliches Begehren und Mut von einer Sinnesperzeption ab. Vor sinnlich perzipierten Gegenständen reagiert das Begehren mit Liebe (hier als Affekt), d.h. „sich Hin-Neigen zu", Begehren eines noch nicht im Besitz befindlichen Gutes; oder mit Freude, d.h. „Genießen" des im Besitz befindlichen Gutes. Ein perzipiertes Übel provoziert Abstossung oder Flucht, und der entsprechende Affekt ist der Hass: Fliehen des noch nicht gegenwärtigen Übels und die Traurigkeit vor dem gegenwärtigen Übel. Bezüglich der Gesamtseele, bzw. Vernunft und Wille sind dies ebensoviele Leidenschaften. Ähnlich verhält es sich beim Vermögen des Mutes, dem irasziblen Streben oder Gemüt: Dieses bezieht sich nicht auf Gutes oder Übles schlechthin, sondern auf Gutes und Übles, insofern es nur mühsam und mit Anstrengung zu erlangen oder zu meiden ist, bzw. auf die Mühen des Erlangens und Meidens selbst. Seine Akte und entsprechenden Affekte gegenüber dem bonum arduum, dem nur mühsam erlangbaren Guten, nennt man Hoffnung und Kühnheit-, und bezüglich des nur mit Mühe zu vermeidenden Übels Entmutigung, Furcht und Zorn. Wir gebrauchen z.T. dieselben Namen für analoge Akte des Willens, die jedoch von denen der Sinnesstrebungen und Leidenschaften verschieden sind, was sich auch darin zeigt, dass konträre Akte dieser Art sich simultan einstellen können. So ist es möglich (z.B. beim Zahnarzt) einen Schmerz, vor dem wir auf der sinnlichen Ebene ein Gefühl der Abstoßung oder Flucht empfinden, mit Freude oder Hoffnung auf der Ebene des Willens zu bejahen, weil wir wissen, dass wir durch sein Ertragen ein Gut erlangen werden, dessen Erfassung allerdings allein der Vernunft möglich ist.

Wie sind die Leidenschaften im Kontext menschlichen Handelns, und das heißt in der Perspektive der Moral einzustufen und zu werten? Sind sie Einflüsse, die so weit wie möglich zu neutralisieren sind? Ist der Mensch erst dann wirklich zu menschlichem Handeln fähig, wenn die Leidenschaften keine bestimmende Rolle mehr spielen? Eine „stoische" Ethik der Affektlosigkeit würde diese Fragen mehr oder weniger bejahen. Diese Antwort wäre jedoch verfehlt: denn Leidenschaften sind ja menschliche Phänomene. Jene Schicht des menschlichen Seins, der sie entstammen, gehört zur Realität der menschlichen Person und ihres „Ich" (vgl. unten 5,e). Die Leidenschaften spielen eine positive Rolle im menschlichen Handeln und sind in dieses als Handlungsprinzipien zu integrieren. Menschliches Handeln, das ist wahr, muss vernünftig sein: durch die Vernunft bestimmt und geordnet. Aber der Mensch ist nicht so etwas wie „Vernunft in Natur", nicht nur deshalb, weil - wie wir später sehen werden auch Vernunft in gewisser Hinsicht „Natur" ist. Praktische Vernunft ist das Ordnungsprinzip menschlicher Strebungen. Vor aller Vernünftigkeit ist der Mensch ein begehrendes, strebendes Wesen. Ohne diese appetitive Dynamik des Menschen, dessen endliches Sein sich gerade dadurch kennzeichnet, „auf etwas aus zu sein", etwas erlangen zu wollen, gäbe es gar keine praktische Vernunft, würde man also auch gar nichts vernünftigerweise erstreben. Das sinnliche Streben (Begehren und Mut) gehört zum Phänomen Mensch. Es sind sinnliche Antriebe, die den Menschen auf eine spezifische Weise auf menschlich Gutes hinordnen, auch wenn dies Gute erst durch seine Integrierung in die Ordnung der Vernunft praktische 109

Vgl. zur gesamten Thematik A. Malo, Antropologia dell'affettività, Rom 1999.

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Orientierung zu vermitteln und Antrieb zu menschlichen Handlungen zu sein vermag. „Leidenschaft erschließt Wertqualitäten, aber nicht deren Rangordnung... Dazu kommt ein Weiteres: Leidenschaft kommt und geht; aber Wertqualitäten, die durch das oft leidenschaftliche Wertgefühl erschlossen werden, dauern. Wer nur aus Leidenschaft handeln kann, wird deshalb der Wirklichkeit nicht gerecht. Der Zorn verraucht, aber vielleicht ist es notwendig, jahrelang gegen ein bestimmtes Unrecht zu kämpfen, also auch dann noch, wenn die Leidenschaft des Zorns, die mich aufmerksam machte, sich längst verwandelt hat, in eine tiefe, ruhige Gesinnung. Und wessen Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen, gebunden ist an das aktuelle Gefühl des Mitleids, der wird bald damit aufhören ...."' l 0 . Umgekehrt ist es auch möglich, Gutes und Richtiges zu tun, ohne Leidenschaft und Mitgefühl, j a geradezu trotz ihres Fehlens, einfach aufgrund von vernünftiger Einsicht, von „Pflichtbewusstsein" usw. In diesem Falle jedoch fehlt gerade ein wesentlicher Zug der Vollkommenheit sittlichen Handelns: Die affektive Konnaturalität mit dem Guten, die darin besteht, das Gute nicht nur aufgrund von Pflichtgefühl und reiner Vernunft zu tun, sondern mit dem ganzen Menschsein dieses zu erstreben. Wer „leidenschaftslos" handelt, läuft Gefahr, ohne Herz zu handeln, und gerade deshalb im Konkreten oft das Gute zu verfehlen: Und zwar aus einem Mangel an mitfühlender Geschmeidigkeit und weil es ihm manchmal einfach zu viel kosten oder er nicht durchhalten wird. Die Leidenschaften einfach auszuschalten, führte zu einem verkümmerten Menschsein. Leidenschaft ist demnach Bestandteil sittlicher Vollkommenheit. Zu dieser Vollkommenheit, meint Thomas v. Aquin, „gehört es, dass der Mensch nicht nur aufgrund des Willens, sondern auch dem sinnlichen Begehren nach zum Guten bewegt wird; gemäß dem Wort des Psalmes 83 ,Mein Herz und mein Fleisch erfreuen sich am lebendigen Gott', wobei ,Herz' als das intellektive Streben,,Fleisch' hingegen als das sinnliche Streben zu verstehen ist" 1 ". Die Leidenschaften jedoch müssen in ihrer Strebedynamik von der Vernunft geordnet sein. Erst dann ist der ganze Mensch vernünftig. Dies auch aus einem zweiten Grund: Durch ihre Integration in die Ordnung der Vernunft wird das sinnliche Streben zu einer Quelle praktischer Erkenntnis und Orientierung; sie erhält dadurch als Affektivität eine kognitive Funktion und wird zum Handlungsprinzip. Die in die Ordnung der Vernunft integrierte Leidenschaft selbst zeigt das Gute, und zwar das bonum rationis, das der Vernunft gemäße Gute. Der Mensch als ganzer besitzt dann jene affektive Konnaturalität mit dem sittlich Guten, das es ihm ermöglicht mit Leichtigkeit und Spontaneität, j a mit schlagartiger Sicherheit, aus Leidenschaft das hier und jetzt Vernünftige zu erfassen und zu tun. Das ist bereits sittliche Tugend und wahre menschliche Vollkommenheit. Leidenschaften besitzen also einen durchaus positiven Einfluss auf sittliches Handeln, mehr noch: Für tugendhaftes Handeln sind sie unentbehrlich. Es kommt ihnen, sofern sie in die Ordnung der Vernunft integriert werden, eine zugleich kognitive und antriebshafte Funktion zu. Aber das heißt auch: Als solche, losgelöst von Vernunft, gleichsam verselbständigt und in ihrer eigenen Ordnung interferieren sie mit Vernünftigkeit und können auf den Willen - dieser ist ja vernunftgeleitetes Streben, dessen naturale Akt-Identität gerade in der Neigung auf das für den Menschen Gute besteht - einen störenden Einfluss ausüben. Dies ist j a jedermann aus eigener Erfahrung bekannt.

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R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, a. a. O., S. 44 f. I-II, q. 24, a. 3.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Worin bestehen näherhin diese interferierenden Einflüsse der Leidenschaften auf Vernunft und Wille? Der Einfluss auf den Willen ist indirekter Art: Er verläuft über die Einflussnahme auf das Urteil der Vernunft. Wie die geordnete Leidenschaft das Vernunfturteil unterstützt, j a ihm geradezu den Weg weist, so kann die ungeordnete Leidenschaft die Wertung der Vernunft beeinflussen, umstoßen, auf ihre Seite ziehen. Dies führt zum sogenannten error electionis oder der ignorantia electionis, zum „Irrtum in der Handlungswahl" („Wahlirrtum") bzw. zur „Wahlunwissenheit". Dies ist, was man in der Regel - nicht ganz korrekt - „Willensschwäche" nennt. Denn was hier vorliegt, ist nicht so sehr eine Schwäche des Willens, als vielmehr eine Unterliegen des Vernunfturteils bezüglich des „hier und jetzt Guten" unter die Wertung des sinnlichen Antriebs. Die Folge ist natürlich, dass der Willensakt, wie er der Vernunft gemäß angebracht wäre, nicht zum Vollzug gelangt, bzw. dass der Wille einem durch Leidenschaft umgewerteten Vernunfturteil folgt. Die Leidenschaft wirkt deshalb nur indirekt auf den Willen, indem sie diesem durch Indienstnahme des Vernunfturteils das Objekt modifiziert. Diesen Einfluss der Leidenschaften auf den Willen nennt man deshalb einen Einfluss ex parte obiecti („vom Objekt her"): Er ist eigentlich Einfluss auf das Urteil der Vernunft. Direkt und unmittelbar kann der Wille - als geistiges Vermögen - durch keine Leidenschaft beeinflusst werden. Die ignorantia electionis (Wahlunwissenheit) ist eine der großen Entdeckungen der Aristotelischen Ethik. Sokrates und mit ihm Piaton meinten ja, dass Tugend im Wissen bestehe" 2 : Wer um das Gute weiß, so ungefähr sagten sie, der tut es auch. Wenn einer Schlechtes tut, so ist dies einfach auf Unwissenheit zurückzuführen. Aristoteles kritisiert diese Ansicht verschiedentlich, und zwar indem er zwischen zwei Arten von Wissen unterscheidet: Das Wissen um die richtigen sittlichen Prinzipien (ein Wissen universaler Art); und jenes Wissen, das im konkreten Handlungsurteil „p ist gut", „p ist zu tun" besteht. So kann jemand wissen, dass Stehlen schlecht ist; dennoch ist es möglich, dass durch den Einfluss des Begehrens dieses allgemeine Wissen in einem bestimmten Moment ausgeschaltet wird, und das Wahlurteil einen konkreten Diebstahl als „hier und jetzt gut" beurteilt, so dass die Tat zur Ausführung gelangt. Das ist ein klassischer Fall von Unenthaltsamkeit („akrasia") 113 und Aristoteles vergleicht den Unenthaltsamen mit einem Schlafenden: Er besitzt zwar das richtige Wissen als Habitus, kann es aber nicht anwenden. Thomas v. Aquin sagt deshalb, der praktische Syllogismus des Unenthaltsamen bestehe nicht wie gewöhnlich aus drei, sondern aus vier Bestandteilen. Der dreiteilige (normale) Ablauf des Prozesses der praktischen Vernunft würde, in einem von Aristoteles erfundenen Beispiel, lauten: (1) „Es ist nicht gut, zur Unzeit Süßes zu essen (und jetzt ist „Unzeit")"; (2) „Dies ist etwas Süßes"; (3) „Dies ist nicht zu essen" (Handlungswahl), bzw. die Unterlassung der Handlung „Essen" selbst. Die Sinnesperzeption und das ihr zugehörige Begehren ordnet sich hier dem Vernunfturteil (1) unter, und letzteres bestimmt letztlich die Handlungswahl

112 Selbstverständlich ist diese Ansicht viel komplexer, und Piatons Lehre entwickelte sich in dieser Hinsicht recht differenziert. Die Aristotelische Lösung ist eigentlich das letzte Stadium dieser Entwicklung. Vgl. dazu J.J. Walsh, Aristotle's Conception of Moral Weakness, New YorkLondon 1963. 113 Aristoteles widmet der Analyse der Akrasia praktisch das ganze siebte Buch von EN. Ausführlich dazu M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O. S. 441 ff. S. auch T. Spitzley, Handeln wider besseres Wissen. Eine Diskussion klassischer Positionen, Berlin-New York 1992.

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(3). Im Falle der Unenthaltsamkeit tritt an die Seite von Prämisse (1) eine Prämisse (lb), die ein Beurteilungsakt des sinnlichen Begehrens ist, das „sagt", „alles Süße ist köstlich und zu essen", ( l b ) vermag (1) „auszuschalten", unwirksam zu machen, und die Konklusion oder Handlungswahl (3), bzw. das ihr zugrundeliegende praktische Vernunfturteil wird von Prämisse (lb) bestimmt sein, was zum Verzehren der Süßigkeit führt" 4 . Wer Schlechtes tut, ist also tatsächlich ein Unwissender. Diese Art von Unwissenheit jedoch ist nicht eine solche bezüglich der Prinzipien und das Geschehene ist auch nicht auf einen Mangel an Wissen auf dieser Ebene zurückzuführen. Diese Unwissenheit kann also auch nicht durch Beseitigung eines mangelnden Wissens durch Belehrung verhindert werden, sondern nur durch die Ordnung der Strebungen, bzw. der Leidenschaften, so dass auch im Partikularen das „Wachbleiben" gesichert ist. Diese Ordnung der Leidenschaften besteht jedoch nicht darin, Leidenschaft auszuschalten, sondern diese selbst dergestalt zu moderieren, dass nicht nur die Vernunft (1) („Es ist nicht gut zur Unzeit Süßes zu essen") „sagt", sondern auch das sinnliche Begehren selbst. Darin besteht die sittliche Tugend des Maßes (temperantia). Die Leidenschaften wirken demnach nicht direkt auf den Akt des Willens. Hingegen vermag der Wille auf die Leidenschaften unmittelbar seinen Einfluss auszuüben: Er kann sie zurückdrängen, und so in dem zur Unenthaltsamkeit Neigenden das Urteil der Vernunft, also Prämisse (1), zur Geltung verhelfen (wobei das noch nicht Tugend, sondern reine Enthaltsamkeit ist). Der Wille kann aber auch davon absehen und dem verfälschten Handlungsurteil (3) zustimmen (Einwilligung). Deshalb ist auch ein Handeln aus Unenthaltsamkeit durch Wahlunwissenheit eine willentliche Unwissenheit, für die man mehr oder minder verantwortlich ist. Es ist aber auch möglich, dass eine Leidenschaft durch ihre Intensität so viel psychische Energie und affektive Aufmerksamkeit beansprucht, dass der Wille als vernunftbestimmter Antrieb gar nicht mehr zum Zuge kommt. In diesem Fall fragt sich nur, ob die entsprechende leidenschaftliche Erregung selbst wiederum gewollt war, ob man also für sie verantwortlich ist oder nicht. Wäre das nicht der Fall, so handelte es sich gar nicht mehr um eine „menschliche Handlung". Tatsächlich kann die Verantwortlichkeit für ein Tun durch eine dem Urteil der Vernunft vorausgehende Leidenschaft, sofern diese eben selbst wiederum nicht gewollt ist, völlig entfallen; z.B. durch plötzlich eintretende panische Angst. Nun ist aber damit nicht gemeint, dass eine Handlung „aus Leidenschaft", in der nicht ein Vernunfturteil bezüglich des konkreten Tuns sondern eine Leidenschaft selbst auslösend wirkt, eine unmoralische oder nichtmoralische Handlung sein müsse. Das Kriterium für die Sittlichkeit einer Leidenschaft ist ihre Vernunftgemäßheit und nicht der Grad ihrer Intensität oder das Maß ihres Einflusses auf die Bestimmung, ob nun dies oder jenes getan wird. Eheleute werden ja zumeist gerade aufgrund sinnlichen Antrieben den Akt leiblicher Vereinigung vollziehen (und das heißt keineswegs, dass sie es ohne Vernunft tun); nicht aber aufgrund eines Urteils der Vernunft „es ist jetzt gut" oder „unsere Pflicht... usw." Die Frage ist, ob Leidenschaft, die ja auch bezüglich der Ehefrau des Nachbarn aufkommen kann, der Vernunft gemäß ist. Wenn sie das ist, so ist Leidenschaft schlicht und einfach gut, und gerade ein sehr menschlicher Weg, um das Gute und Vernunftgemäße zu tun. Im Zusammenhang mit ehelicher Liebe spricht deshalb Thomas v. Aquin von einer „Unenthaltsamkeit nur dem Anschein nach", aufgrund d e r , jemand vollständig durch eine der Ordnung der Vernunft ent114

Vgl. In VII Ethic., lect. 3.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

sprechende und damit gute Begierlichkeit (Konkupiszenz) geleitet wird"115. Und im Akt der ehelichen Vereinigung beispielsweise, so Thomas, werde „wegen der überaus intensiven Lustempfindung" die Vernunft sogar gänzlich ausgeschaltet. Entscheidend sei nicht, dass man immer aufgrund eines Urteils der Vernunft, sondern dass man gemäß der Ordnung der Vernunft handelt" 6 . Dennoch ist Thomas der Meinung, dass diese Ausschaltung der Vernunft ein Mangel ist. Zur Vollkommenheit gehörte es, trotz intensivster Sinnenlust auch das Urteil der Vernunft zu wahren, wodurch allerdings das Lusterlebnis noch vollkommener, nämlich zugleich auch geistig durchformt wäre. Deshalb ist Thomas auch der Meinung, dass im Zustand der ursprünglichen Vollkommenheit die delectatio (die Lust oder das Genießen) im sexuellen Akt intensiver und reicher gewesen sein müsse, und zwar nicht aufgrund eines Minus an Sinneslust, sondern wegen eines Plus an geistiger Durchdringung des sinnlichen Aktes und einer entsprechend höheren Intensität des affektiven Erlebnisses"7.

Aus dem Gesagten ergibt sich nun das Kriterium für die moralische Bewertung der Leidenschaft: Leidenschaften sind sittlich bewertbar (1) nur insofern sie willentlich also in irgend einer Form gewollt sind. Das wiederum sind sie, insofern sie direkt gewählt und vom Willen hervorgerufen werden; oder indem der Wille in eine spontane Regung der Leidenschaft einwilligt (nachträglicher Konsens). Leidenschaften bewerten sich (2) gemäß dem Handlungsobjekt, d.h. gemäß ihrem Gegenstand, wie er durch die Vernunft beurteilt wird. Anders gesagt: Eine Leidenschaft (und die daraus resultierende Lust) ist genau so gut oder so schlecht, wie die Handlung, aus der sie folgt. (3) Schließlich ist Leidenschaft auch ihrem Modus gemäß zu beurteilen: Auch wenn die Leidenschaft dem „Objekt" nach gut ist, kann eine zu intensive, oder ungehemmt verfolgte Leidenschaft schließlich aus der Ordnung der Vernunft herausfallen. Der Mensch besitzt in sich ein labiles Gleichgewicht. Deshalb kann es gut und nötig sein, sich z.B. beim Essen oder in der Sexualität zeitweise in Enthaltung zu üben, - obwohl Enthaltung in sich weder eine Tugend noch bereits etwas Vernunftgemäßes ist. Nur wenn das Gleichgewicht stabil wäre, wäre dies nicht nötig. Deshalb vertritt Thomas die kühne und anthropologisch tiefgreifende Ansicht, dass im Zustand der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen sexuelle Enthaltsamkeit kein lobenswerter Akt gewesen sei, er jedoch jetzt nur insofern zu loben sei, als dadurch ungeordnete Libido überwunden werde" 8 . Ähnlich verhält es sich etwa beim Zorn: Er kann „heilig" sein. Wer aber immer Gefühlen des Zorns, so berechtigt er sein mag, nachgibt und ihn nicht hie und da zurückdrängt, wartet und etwa die Sache überschläft, um sie nochmals in Ruhe zu überlegen, der wird bald auch Ungerechtes tun oder zumindest andere Menschen respektlos behandeln und verletzen. Das ist jedoch nur deshalb nötig, weil der Mensch nie ganz vollkommen ist, das Gleichgewicht

115

II-II, q. 156, a. 2. Sie entspräche beispielweise nicht der Ordnung der Vernunft, wenn die Eheleute wüssten, dass sie einen schwerwiegenden Grund zur Vermeidung einer Empfängnis hätten. Wüsste die Frau im gegebenen Zeitpunkt um ihre Fruchtbarkeit, so wäre demnach das Vernunftgemäße ein Akt der Enthaltung. 116 Vgl. In IV Sent., d. 26, q. 1, a. 3 (= Supplementum q. 41, a. 3, ad 2); und ebd., ad 6. Siehe auch In IV Sent. d. 31, q. 2, a. 1 ad 3 (= Supplementum q. 49, a. 4 ad 3). 117 Vgl. I, q. 98, a. 2 ad 3. 118 I, q. 98, a. 2, ad 3.

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zwischen Leidenschaft und Vernunft also immer labil bleibt. Bestünde diese Labilität nicht, so wäre es gut, immer zu tun, wozu der Zorn und andere Leidenschaften uns antreiben. c) Der Wille und seine Freiheit Der Wille ist appetitus in ratione, „Streben in der Vernunft". Der Wille ist nicht ein Strebevermögen, das aus sich heraus schon vernünftig ist (kein Streben ist das). Er ist jenes Strebevermögen, das verfolgt, was das Urteil der Vernunft ihm als „gut" vorlegt. Dass es auch im vernünftigen „Teil der Seele" ein Strebevermögen gibt, wissen wir nur aus der eigenen Innenerfahrung: Wir sind uns bewusst, Strebeakte zu vollziehen, die nicht „auf Eines hin determiniert", sondern auf Vieles hin offen sind. Damit ist nicht gemeint, der Wille befinde sich in ursprünglicher Indifferenz und bewege sich aus eigener Spontaneität auf einen Gegenstand hin. Der Wille ist nicht reine Spontaneität. „Wille" und „Freiheit" als reine Spontaneität im Gegensatz zu „Natur" als reine Determiniertheit zu denken ist kennzeichnend für die Kantische Philosophie. Dagegen ist festzuhalten: Der Wille wird von der Vernunft und ihren Urteilen über das Gute durchaus determiniert; aber Vernunft selbst besitzt eine Offenheit auf Vieles hin: Sie vermag verschiedene Auffassungen vom Guten zu haben. Und da der Wille ein vernunftgeleitetes Strebevermögen ist, besitzt auch er genau jene Offenheit, die der Vernunft eigen ist' 19 . Aber ein Rest von Spontaneität oder Indétermination im Akt des Willens bleibt. Der Wille kann sich nämlich, wie bereits erwähnt, zu seinem Akt selbst wiederum willentlich verhalten. Wir wollen alle mit Notwendigkeit glücklich sein; denn das Glück ist jenes Gut, das die Vernunft als das in jeder Hinsicht Gute dem Willen vorlegt. Wir können nicht anstelle dessen, was die Vernunft als gut beurteilt, vernünftigerweise etwas anderes wollen. Aber wir können das, was die Vernunft als gut beurteilt, aus anderen Gründen wiederum nicht wollen. Das heißt: Der Wille vermag, was allein er vernünftigerweise erstreben kann, aus anderen Gründen jeweils wiederum nicht zu wollen. So kann ich etwa erkennen, dass ich mich, um gesund zu werden (was ich will), einer bestimmten Operation unterziehen muss. Und nun „will" ich diese Operation. Plötzlich erfahre ich jedoch, dass dies mit Nebenfolgen verbunden ist, vor denen ich zurückschrecke. Dies führt mich dazu, auch die Operation nicht mehr zu wollen, obwohl ich vernünftigerweise nichts anderes anstelle der Operation erstreben kann. Obwohl ich also weiter gesund werden will, will ich jetzt - auf der Ebene der Mittel - auch nicht mehr gesund werden (denn einen anderen Weg außer dieser Operation gibt es nicht). Und das heißt, dass ich gleichzeitig sowohl gesund werden als auch nicht gesund werden will. Unter den gegebenen Umständen will ich also das „Gesundwerdenwollen" nicht. Wäre der Wille durch Urteile vollständig determiniert, so führte dies zu einem dauernden Hin- und Hergerissenwerden zwischen zwei konkurrierenden Willensakten. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Das Wollen der Gesundheit (das der Vernunft folgt) wird durch den Willensakt „die Nebenfolge einer Operation nicht wollen" (der ebenfalls der Vernunft folgen kann) beherrscht und für das Tun unwirksam. Der Wille kann also selbst seinen eigenen Akt, mit dem er sich gemäß dem Urteil der Vernunft auf ein Gutes richtet, wiederum (auf der Ebene der Mittel) nicht wollen, er hat sich also gleichsam 119

Vgl. erneut den bereits öfters angeführten Text I—II, q. 17, a. 1 ad 2, wonach die Vernunft „Ursache der Freiheit" ist: „Deshalb nämlich kann der Wille frei sich auf Verschiedenes ausrichten, weil die Vernunft verschiedene Auffassungen des Guten haben kann."

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

selbst in der Hand. Der Wille besitzt auch Herrschaft über sich selbst, oder genauer: Der Mensch besitzt in seinem Willen Herrschaft über sein eigenes Wollen' 20 . Letztlich gründet diese Freiheit wiederum in der Tatsache, dass der Wille allein durch Vernunft determiniert zu werden vermag, die Vernunft aber über ihre Urteile reflektieren, sie also selbst wieder zum Gegenstand von Urteilsakten machen kann. Deshalb „besteht die Wurzel aller Freiheit in der Vernunft" - totius libertatis radix est in ratione constituta 121 . Dennoch ist das obige Beispiel, wie man gemerkt haben wird, immer noch ein Beispiel dafür, dass letztlich der Wille von Vernunft determiniert ist. Denn, dem Beispiel gemäß, wird ja das Gesund-werden-wollen genau deshalb nicht mehr gewollt, weil „Vermeiden der Nebenfolgen der Operation" vorgezogen wird. Diese Vorzugswahl gründet wiederum auf einem Vernunfturteil, das allerdings, was hier jedoch belanglos ist, aufgrund einer Leidenschaft (z.B. Furcht) zustandegekommen sein mag. Wo bleibt denn nun der Rest der genannten reinen Spontaneität des Willens? Nehmen wir an, ich will gesund werden, und ich erkenne die betreffende Operation als gut, d.h. als das einzige Mittel und den einzigen Weg, um dieses Ziel zu erreichen, und es gibt nichts anderes, was mich davon abhält, so werde ich, sofern ich mich vernünftig verhalte, mich der Operation unterziehen. Wie gesagt, es gibt nichts, was ich vernünftigerweise anstelle der Operation wollen könnte. Dennoch kann ich, auch ohne weitere „Gründe", das einfach nicht wollen. Das wäre zwar unvernünftig. Aber es ist möglich. Wie ist das zu erklären? Das Handeln gemäß dem auszurichten, was vernünftigerwiese als „gut" erkannt ist, heißt, sich nach erkannter Wahrheit ausrichten (auch das erkannte Gute, auch wenn es nur das unter bestimmten Umständen Zuträgliche ist, ist j a eine Form von Wahrheit). Tun, was man als gut erkannt hat und weil man es als gut erkannt hat - also der erkannten Wahrheit gemäß handeln - ist das eigentliche Wesen jener Haltung, die wir Demut nennen. Demut ist eine Art Unterordnung unter die erkannte Wahrheit. Der Wille, dessen Akt ja nichts anderes als „Lieben" ist (denn jedes Wollen ist ja eine Form von Lieben), kann nun die „bloße Freiheit seines Aktes" der Unterordnung unter das als gut Erkannte vorziehen allerdings nicht auf Grund eine Vernunfturteils, sondern aufgrund seiner Spontaneität. Dieses Vorziehen wäre ein Akt des Stolzes oder Hochmutes, die augustinische curvatio in seipsum (ein „Sich-auf-sich-selbst-zurück-krümmen", eine Art verbogene Selbstzentrierung). „Ich will nicht" heißt es hier, und dieses nicht-wollen ist absolut vernunftlos. Wenn ich also auch anstelle des durch Vernunft erkannten Guten nichts anderes wollen kann, so kann ich immer dieses erkannte Gute einfach nicht-wollen. Um das Wollen des vernünftigerweise als gut Erkannten auch zu einem effektiven Handeln zu bringen, muss der Wille „aus reiner Freiheit" in dieses Wollen nochmals einwilligen. Dieser Akt der Einwilligung ist, sofern wir uns vernünftig verhalten, zumeist gar nicht explizit vollzogen. Das Nicht-Einwilligen jedoch ist explizit und bewusst. Es gibt bestimmte Fälle, wo das bloße „ich will einfach nicht" offensichtlich ist: Z.B. bei kleinen Kindern oder wenn uns eine andere Person darauf hinweist, was zu tun gut wäre, und wir ganz genau erkennen, dass sie recht hat, dennoch einfach nicht wollen, nur weil es ein anderer war, der uns darauf gebracht hat (und wir uns deshalb nicht mehr „frei" fühlen). Es kann auch sein, dass der Wille habituell die reine Spontaneität seines Aktes mehr liebt, als das, was die Vernunft ihm als Gutes vorlegt. Der Wille würde dann das Gute nur unter der 120 121

Vgl. dazu De Malo, q. 6, a. unicus. De Veritate, q. 24, a. 2.

5 . ANTHROPOLOGIE DER SITTLICHEN HANDLUNG

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Voraussetzung verfolgen, dass es nicht gleichsam von außen, d.h. durch Vernunft an ihn herangetragen würde. Er würde das Gute tun, unter der Voraussetzung es würde gelten „p ist gut, weil ich es will"-, er ist aber nicht dazu bereit, solange gilt „ich will p, weil es gut ist". Das ist Hochmut oder Stolz. Eine Ethik, in der Freiheit mit Stolz geradezu identifiziert wird, ist in reinster Form Sartres „humanistischer Existenzialismus", dem gemäß „Freiheit durch jeden konkreten Umstand hindurch kein anderes Ziel haben kann, als sich selber zu wollen" m . Die Kantische „Autonomie des Willens" ist davon weniger weit entfernt, als es zunächst scheinen mag. Der Wille besitzt somit eine doppelte Freiheit: Erstens die „Freiheit der Spezifizierung"; sie ist identisch mit der Offenheit der Vernunft selbst. In diesem Sinn ist der Wille genauso frei, wie die Vernunft „auf vieles hin offen" ist. Mit dieser Art von Freiheit wollen wir deshalb nicht, was die Vernunft mit Notwendigkeit als gut erfasst, wie z.B. das Glück, aber auch nicht Dinge wie „Selbsterhaltung" oder „Zusammenleben". Denn vernünftigerweise kann der Wille nichts anderes anstelle solcher Güter erstreben. Zweitens besitzt jedoch der Wille die „Freiheit der Ausführung", insofern er eben sein eigenes Wollen in der Hand hat. Und deshalb können wir sagen, der Wille erstrebe das, was er, von der Spezifizierung des „Was" durch die Vernunft her gesehen, mit Notwendigkeit erstrebt, zugleich mit Freiheit. Denn nichts kann ihn dazu zwingen, das als gut Erkannte nun auch tatsächlich zu wollen und zu verfolgen. Zudem kann er jenes, was er auf der Ebene der Zielintention will, auf der Ebene der Mittel immer noch nicht-wollen123. Die Spontaneität der „Freiheit der Ausführung" zeigt ein Dreifaches: (1) Hier liegt die eigentliche Freiheitsursache eines jeden Wahlaktes begründet. (2) Es existiert ein gewisser Primat des Willens: um das zu tun, was die Vernunft als „gut" beurteilt, muss man es letztlich tun wollen. Die Vernunft allein, d.h. Vernunftgründe, vermögen kein Handeln effektiv auszulösen. (3) Der Wille kann grundsätzlich mehr erstreben, als nur das, was die Vernunft als „gut" aufzuzeigen vermag. Mit dem letzteren ist gemeint: Die Strebedynamik des Willens vermag disponiert zu werden durch Dinge wie Sympathie (Konnaturalität mit dem Streben, Gefühlen, Leiden, Freuden usw. anderer Menschen); oder durch Liebe, d.h. Zuwendung zum anderen als „Gutes". Hier liegt gewiss auch jene Öffnungsmöglichkeit des Willens, durch jene Liebe informiert und dynamisiert zu werden, die die christliche Tradition Caritas nennt, die zur über die Natur des Willens hinausgreifenden „Weisheit des Herzens" befähigt. Dabei wird freilich die Vernunft keineswegs „ausgeschaltet". Sie wird vielmehr gleichsam aufgrund der Initiative des Willens auf ein anderes Niveau gehoben bzw. affektiv geleitet. Die einseitige Beschränkung der platonischen und aristotelischen Tradition auf die Rolle der Leidenschaften überwunden zu haben, ist zweifellos das Verdienst von Augustinus124.

Da das bloße „ich will nicht" immer gegen die Vernunft gerichtet, der Wille jedoch seiner Natur gemäß „Streben in der Vernunft" ist, so erweist sich jener Akt der „reinen Freiheit", der im bloßen Wollen der Unabhängigkeit des eigenen Wollens besteht - Kants „transzendentale

122 123 124

J.-P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? a. a. O. S. 31. Vgl. auch De Malo, a. a. O. Darauf verweist völlig richtig A. Maclntyre, Whose Justice? Which Rationality?, a. a. O. Kap. IX, S. 146-163. - Der Ansicht Höffes, eine Rehabilitierung aristotelischer Ethik sei nur um den Preis der Aufgabe des Willensbegriffes möglich (vgl. Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt/M. 1990, S.120) ist entgegenzuhalten, dass der kantische Willensbegriff nicht der einzig mögliche ist.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Freiheit" - , als Verfehlen von Freiheit als vernünftige. Er ist zwar ein Akt des freien Willens, aber nicht eine Verwirklichung von Freiheit; denn „Freiheit verwirklichen" heißt ja, das als gut Erkannte zu wollen und zu tun. Der Wille verwirklicht also Freiheit, wenn er einwilligt in jenes Streben, das durch das von der Vernunft als „gut" Erfasste determiniert ist, d.h. wenn er demütig ist. Das Wort „Die Wahrheit wird euch frei machen" findet hier seine anthropologische und ethische Verankerung. Das Wollen des als gut Erkannten entspricht der Natur des Willens. So dass Thomas sagen kann, dass der Wille das, was er mit Notwendigkeit erstrebt, weil es die Vernunft mit Notwendigkeit als gut beurteilt, zugleich mit Freiheit erstrebt 125 . Sogar das reine „ich will nicht" aufgrund des bloßen Wollens der Unabhängigkeit und Spontaneität des eigenen Willensaktes ist mit Notwendigkeit abhängig von jenem Streben, das uns allen notwendigerweise eigen ist: Dem Glücksstreben als Streben nach Sättigung des Wollens durch das Gute. Der Akt des Stolzes setzt die Notwendigkeit des Glücksstrebens voraus, und ist zugleich jener Akt, der sich von der Erfüllung dieses Strebens am weitesten entfernt. Denn alles, was wir aufgrund von Vernunft irgendwie als gut erachten, mag das Vernunfturteil auch noch so verkehrt und verblendet sein, besitzt zumindest einen Abglanz des wahren Glücks. Nur der Akt des Stolzes, das Wollen der reinen Spontaneität und Unabhängigkeit des Wollens, besitzt nichts vom Licht der Vernunft: Er ist das absolut und schlechthin Unvernünftige, die „Finsternis" der bloßen Eigenliebe, zugleich „Übel" und „Schuld" schlechthin: Denn Übel ist der Mangel an Gutem, und Schuld der Mangel an Hinordnung des Willens auf das Gute, das ja wiederum das durch die Vernunft erkannte Gute ist. Im Akt des Stolzes jedoch wird wahre Freiheit als Selbstbestimmung auf das als gut Erkannte hin ersetzt durch eine Freiheit, die letztlich nur noch die Selbstbestimmung als Gutes anerkennt. Es ist dies jene Art von Autonomie, die sich schließlich gegen die Vernunft kehren muss.

d) Wille, Vernunft und Leidenschaft Der Wille besitzt nicht nur Herrschaft über sich selbst, sondern auch über alle anderen Vermögen der Seele. Zunächst über den Akt des Intellektes. Intelligo enim quia volo: „Ich erkenne, weil ich will" - dieser Satz stammt nicht von Descartes, sondern von Thomas v. Aquin 126 . Und hier finden wir wiederum eine weitere Möglichkeit des Willens: Aufgrund des bloßen „Nicht-Wollens" des als gut Erkannten, den Akt der Vernunft selbst zu „steuern": sei es durch bloßes Ablassen („was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß"), sich also selbst in die Unwissenheit zu führen; oder durch eine Art Instrumentalisierung der Vernunft: Ein Urteil der Art „p ist gut, weil ich es will" kommt zustande, indem die Vernunft, unter Einfluss des Willens Gründe sucht, um das bloße Wollen der eigenen Spontaneität zu rechtfertigen. Die Vernunft gerät hier ins Schlepptau des Stolzes, der sich hierbei als eine Strategie der willentlichen Selbsttäuschung erweist. Der Wille besitzt jedoch auch Herrschaft über die Leidenschaften. Er kann Akte der sinnlichen Strebungen „wollen". Das ist wiederum ein komplexer Vorgang: Denn die Akte des sinnlichen Begehrens als solche sind kein Gegenstand des Willens. Der Wille kann aber auf das Urteil der Vernunft Einfluss ausüben, und zwar so, dass dieses Urteil sich der Wertung der 125 126

Vgl. De Potentia q. 10, a.2: „unde voluntas libere appétit felicitatem, licet necessario appétit illam". De Malo, q. 6, a. unicus.

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Sinnlichkeit „unterwirft". Der Wille beherrscht also die Leidenschaften, indem er den Urteilsakt der Vernunft über sie beeinflusst. Deshalb ist der Akt der Unenthaltsamkeit und der damit verbundenen ignorantia electionis (Wahlunwissenheit), wie er oben analysiert wurde, ein willentlicher Akt. Er handelt sich also nicht um eine Unwissenheit, die entschuldigt, sondern um eine Art von Unwissenheit, die gerade selbst Verfehlung ist und damit Schuld begründet (vgl. unten V,2,b). Der Wille kann somit eine Leidenschaft direkt wählen. Er kann sie auch auslösen, und zwar über die Hinwendung zur sinnlichen Vorstellungskraft (Phantasie). A l l dies sind Dinge, die uns allen aus eigener Erfahrung bekannt sind. Und wie gesagt: Die moralische Wertung hängt von den früher genannten Kriterien ab. Es kann durchaus gut sein, eine Leidenschaft zu wählen oder sie durch Phantasie zu provozieren: Die Hinwendung zur Vorstellung konkreter Leiden eines Mitmenschen kann Mitleid hervorrufen und damit auch den Mut beeinflussen und die notwendige Kühnheit verleihen, um das Richtige und Angemessene zu tun. Die Vernunft kann dadurch auf das wirklich Gute hingewendet und der Wille wiederum entsprechend geleitet werden. Aber letztlich ist das Urteil der Vernunft ausschlaggebend; wo es fehlt, können auch Mitleid und Kühnheit zur Ungerechtigkeit führen. Durch den Willen also besitzt der strebende Mensch Herrschaft über alle seine Strebungen und sein Tun. Seiner „Natur" nach jedoch ist der Wille ein der Vernunft folgendes Strebevermögen. Und wenn der Wille tatsächlich der Vernunft folgt, dann ordnet er auch alles Streben und Tun dem von der Vernunft ausgemachten Guten, d.h. dem in Wahrheit Guten gemäß. Der Wille ist also gewissermaßen die Seele des menschlichen Handelns; wenn der Wille gut ist, so ist auch das Handeln gut. Der Wille beherrscht das Handeln, leitet es, befiehlt es (ein Grenzfall ist die bloße Einwilligung). Der Wille übt über das Handeln jenen Einfluss aus, den Thomas ein Imperium (wörtlich: „Befehl") nennt. Aber wann und warum ist der Wille gut? Hier nun hängt alles von der Vernunft ab. In dieser Hinsicht tritt die Vernunft als „Befehlsgeber" und damit als formelles Element auf: A l s diejenige Instanz, die das Handeln ordnet, indem sie den Willen auf das Gute ausrichtet. Dieses „Ordnen" des Aktes des Willens und, durch ihn, auch der Akte aller anderer Vermögen bis hin zu den Körperorganen (sofern sie dem Imperium des Willens zugänglich sind), ist ebenfalls ein „Imperium": Gleichsam eine (vernünftige) Anordnung auf das Gute hin. Das Imperium der (praktischen) Vernunft ist ein A k t der Vernunft insofern jedoch diese wiederum vom Willen bewegt wird 127 . Er entspricht dem oben bereits analysierten Begriff der in Streben „eingebetteten" praktischen, eben bewegenden und das weitere Streben ordnenden Vernunft. Das durch die Vernunft geordnete Imperium des Willens eröffnet die eigentliche Perspektive der Praxis. Der Wille bewegt dazu, etwas zu intendieren, Mittel zu suchen, sie zu beurteilen, das Gute auszumachen und schließlich dieses zu wählen und zu tun. Der Wille vermag alle diese Elemente zu einer Einheit zusammenzuschmelzen. Er ist die Seele der Handlung und durch ihn vermögen die verschiedensten Handlungen eines Menschen in die Einheit eines Lebensvollzuges geführt zu werden. Man nennt traditionellerweise jenen Akt des Willens, den dieser selbst als Wille vollzieht, den der Wille also gleichsam aus sich selbst hervorbringt, einen actus elicitus des Willens: Wollen, lieben, intendieren, wählen, hassen, wünschen, usw. Akte anderer Vermögen oder 127

Vgl. I—II, q. 17, a. 1.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Organe jedoch, die durch ein Imperium des Willens vollzogen werden und insofern sie einem solchen Imperium unterliegen, nennt man einen actus imperatus des Willens 128 . Insofern ist eine Armbewegung im Kontext einer menschlichen Handlung also ebenfalls ein Willensakt. Auch ein Erkenntnisakt, sofern er einem Imperium des Willens unterliegt, ist ein actus imperatus des Willens und deshalb eine „menschliche Handlung" und moralisch bewertbar Auch auf das Zimmern eines Stuhles oder das Anlassen eines Automotors trifft dies zu; usw. Die meisten willentlichen Akte, die wir vollziehen, sind solche äußere Handlungen („äußerlich" bezüglich des Willens). Der Wille ist hier „Form", das vom Willen bewegte Vermögen oder Körperorgan „Materie". Die intentionale Identität des Aktes jedoch, und damit auch seine sittliche Identität, hängen von der Vernunft ab. Denn der Wille ist vernunftgeleitetes Streben 129 . Damit dürfte erneut der Gegensatz zwischen kausaler und intentionaler Handlungserklärung aufgehoben werden. Beide Erklärungen erklären je etwas anderes. Intentionale Erklärungen geben Aufschluss über den Gehalt (das „Was") einer Handlung, weil sie Handlungen vermittels der Gründe erklären, aufgrund derer sie vollzogen werden. „Gründe" jedoch verursachen noch keine Handlungen, so wenig wie die bloße Vernunft zum Handeln zu bewegen vermag. Kausale Erklärungen hingegen wollen gerade erklären, wie es dazu kommt, dass man etwas tut. „Kausalisten" bezeichnen als solche Ursachen dann eben jene „Gründe", denen Intentionalisten zu Recht keine Kausalität zuerkennen, weil sie doch Bestandteile der Handlung sind. Intentionalisten sind deshalb, in der Tradition Wittgensteins, gezwungen, „Tun" und „Wollen" zu identifizieren. Kausalisten hingegen tendieren, aufgrund ihres Verständnisses von Kausalität, zu mechanistischen oder materialistischen Positionen. Die klassische Lehre über die Interaktion und gegenseitige Dependenz von Vernunft (Formalgrund von Handlungen) und Wille (Bewegungsprinzip) erweist sich hier als wesentlich differenzierter und vermag auch, ohne den Aporien analytischer Handlungstheorie zu verfallen, den Phänomenen besser gerecht zu werden.

Das eben Gesagte gilt nicht nur für eigentliche „Handlungen" im engeren Sinn („äußere Handlungen"), sondern auch für Akte des Intellektes und des sinnlichen Begehrens, die Leidenschaften. Insofern eine Leidenschaft dem Imperium des Willens unterliegt (und der Grenzfall ist wiederum die bloße Einwilligung, die aber, in einer zweiten Phase, zu einem eigentlichen Imperium sich ausweiten kann), ist der Akt der Leidenschaft - das entsprechende sinnliche Streben selbst - ein actus imperatus des Willens. Menschliches Erkennen, Streben und Handeln erlangt so durch den Willen jene Einheit, die, spricht man von einzelnen Handlungselementen, immer mitbedacht werden muss. Die konkrete Ausformung dieser Einheit ist von der Natur nicht vorgegeben (auch wenn es naturbedingte Vorgaben gibt, wie wir sehen werden). Diese Ausformung ist ja wiederum von der Vernunft abhängig, die auf vieles hin offen ist und an sich unbegrenzte Möglichkeiten besitzt, eines auf anderes hinzuordnen: Regungen der Leidenschaften, Elemente der Handlungsmaterie, Akte von Körperorganen, Mittel auf Ziele hin; usw. Die Einführung des Begriffs des Imperiums des Willens ist nützlich, damit wir erkennen, dass wir immer einen „Organismus" von Tugenden meinen, wenn wir von einzelnen Tugenden sprechen. „Klugheit", „Gerechtigkeit", „Maß" und „Starkmut" bilden nicht eine zu-

128 129

Vgl. dazu auch S. Brock, Action and Conduct, a. a. O., S. 171 ff. Dieser Aspekt wird von S. Brock (ebd.) m.E. unzulässigerweise weitgehend unberücksichtigt gelassen.

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sammenhangslose Sammlung von Handlungsspielregeln, isolierten Grundhaltungen oder normativen Prinzipien, sondern sie sind Bestandteile eines Handlungs-Organismus und einer Lebensgeschichte oder Biographie, deren Seele der von Vernunft geleitete Wille ist, sowie bestimmter Weisen sozialer Praxis 130 . Die Formierung durch Vernunft entscheidet über das „Was" der Handlung, ihre objektive Spezifizierung. Die Formierung durch den Willen entscheidet darüber, ob und inwiefern überhaupt eine „menschliche Handlung" vollzogen wird. Damit aber der Wille ein „guter Wille", d.h. damit er wirklich vernünftig ist, bedarf das handelnde Subjekt seinerseits der Tugenden.

e) Menschliche Natur und Ethik. Der Begriff der Person Aus der vorhergehenden Anthropologie der sittlichen Handlung ergibt sich eine methodologische Konsequenz, die vorgreifend zu verdeutlichen nützlich ist; später wird das an dieser Stelle Gesagte noch zu vertiefen sein (V,l). Wir sahen: Philosophische Ethik entspringt der Frage nach dem für den Menschen Guten, und zwar nach jenem Guten, das Gegenstand seines Handelns ist; nach dem Guten also, das er durch Handeln verwirklicht. Nun ist für ein jedes Seiendes das Gute jenes, das seiner „Natur" entspricht. Mit „Natur" meint man das Wesen eines Seienden, insofern man dieses Wesen als Prinzip seiner Tätigkeiten betrachtet. Mit Natur als Prinzip ist hier jener Ausgangspunkt gemeint, welcher der Tätigkeit eines gemäß einer bestimmten Spezies konstituierten Seienden seine Eigentümlichkeit verleiht: Agere sequitur esse, „Das Tun folgt oder entspricht dem Sein" ist dafür die klassische Formel. Nun sagte uns Thomas, dass die Natur eines Seienden sich aufgrund seiner Wesensform bestimme, diese aber beim Menschen eine Vernunftform sei. Deshalb, so schließt er daraus, bestimme sich das Gute für den Menschen gemäß der Vernunft. Naturgemäß handeln bzw. das Tun dem Sein gemäß ausrichten heißt demnach beim Menschen nichts anderes als der Vernunft gemäß handeln. Und „gegen die Natur" handelt er, insofern er im Widerspruch zur Ordnung der Vernunft handelt 131 . Das Wesen der Dinge in sich ist uns jedoch unbekannt; wir erkennen es aufgrund der diesem Wesen entspringenden Vermögen und deren Akte, in denen sich erst die zugrundeliegende Natur als das Wesen offenbart 132 . Der Weg zur Erkenntnis der Natur führt demnach über die Analyse der eigentümlichen Akte des entsprechenden Seienden. Das heißt, in allen Fällen - außer demjenigen des Menschen - in Naturprozessen das „Normale", das zumeist und regelmäßig sich Ereignende zu identifizieren. Gerade was zumeist und in der Regel so oder anders geschieht, offenbart das Eigentümliche, das Natur- und Zweckmäßige 133 . Das ist möglich, weil Naturprozesse im allgemeinen auf das einem bestimmten Seienden eigentümliche Gute hin determiniert sind.

130 Gerade darauf hat A. Maclntyre in seinem Buch „After Virtue" hingewiesen. 131 I—II, q. 71, a. 2. 132 Vgl. De Veritate. Q. 10, a. 1. 133 Aristoteles, Physik, 11,8. Vgl. auch: R. Spaemann/R. Low, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 1981; sowie, ebenfalls von R. Spaemann, den Artikel „Teleologie" in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie (hrsg. v. H. Seiffert und G. Radnitzky), München 1989.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Nun handelt jedoch der Mensch aufgrund von Vernunft, und Vernunft ist „auf vieles hin offen", sie vermag „verschiedene Auffassungen über das Gute zu haben"134. Genau deshalb ist in diesem Falle der „Normalfall" oder das regelmäßig Auftretende kein zwingendes Kriterium für die Bestimmung des Eigentümlichen, des Guten und Natürlichen. Sondern umgekehrt: Erst die Erkenntnis des Guten selbst vermag uns zu erschließen, was dem Menschen eigentümlich, für ihn normal und somit auch natürlich ist; worin also die der menschlichen Natur gemäße Vollkommenheit besteht. Gerade deshalb überhaupt gibt es ja so etwas wie Ethik. Ethik ist keine Naturphilosophie und keine Naturwissenschaft, auch wenn man sie naturalistisch betreiben kann135. Um durch die Analyse des Tuns über das Normale auf das Eigentümliche, das für sie Gute (weil Zweckmäßige) und somit das ihnen Natürliche zurückzuschließen, genügen bei nichtvernünftigen Lebewesen Physik, Biologie, Chemie, Verhaltenspsychologie usw., also eine Historia animalium: Die Natur solcher Lebewesen können wir grundsätzlich aufgrund von Beobachtung und Beschreibung in den Griff bekommen. Ethik hingegen ist jene Wissenschaft, die sich gerade aus der Vernünftigkeit des Menschen d.h. seiner Freiheit ergibt: Wir können das für den Menschen Gute nicht aufgrund von „Naturprozessen" beschreiben oder beobachten, sondern es lediglich durch Reflexion auf unsere eigene praktische Vernunfttätigkeit rekonstruieren. Dadurch erst lässt sich begründen, was für den Menschen gut ist, und schließlich rückschließend auch bestimmen, was für ihn natürlich ist. Der Begriff der „menschlichen Natur" ist demnach nicht der Begriff einer bloßen Naturgegebenheit oder Naturteleologie, sondern sie schließt die normative Ordnungsfunktion von Vernunft ein. „Menschliche Natur" ist erst dort, wo die zu dieser Natur gehörende Vernunft das bloß Natürliche der Vernunft gemäß geordnet hat. Erst das Vernünftige ist hier das Natürliche; und das dem Menschen Natürliche ist hier gerade das Vernünftige. Es ist deshalb völlig unmöglich, das Gute oder Naturgemäße aus „Eigentümlichkeiten der Natur" abzuleiten, weil ja gerade das dem Menschen von Natur aus Eigentümliche und damit das menschlich Gute und Naturgemäße erst das durch die Vernunft Geordnete ist. Es ist erst die Tugend selbst oder zumindest das der Tugend gemäße Handeln. So paradox es also klingen mag: Wir müssen das „für den Menschen Gute" schon kennen, um überhaupt zu wissen, was „menschliche Natur" ist bzw. um menschliche Natur adäquat zu interpretieren. Die Erkenntnis der menschlichen Natur ist demnach für die Ethik kein Ausgangspunkt, sondern vielmehr eines ihrer Resultate. Im übrigen haben wir uns bereits im Gang der bisherigen Analysen mit nichts anderem, als mit „menschlicher Natur" beschäftigt. Gerade deshalb zeigt es sich nun, wie verfehlt jeder Versuch ist, „menschliche Natur" als „Norm" oder „Maßstab" des sittlich Guten anzuführen. Eine solcher Versuch, wie auch jener, das sittliche Übel als das „Naturwidrige" zu benennen, bliebe eine reine Leerformel, würde man nicht hinzufügen, dass „menschliche Natur" gerade jene Art von Natur ist, in der das der Natur gemäße Gute durch die ebenfalls zu dieser Natur gehörende Vernunft erst bestimmt und geregelt wird. Deshalb ist Ethik weder Natur134 135

I-II, q. 17, a. 1 ad 2. Vgl. z.B. die behavioristische Ethik von J. Dewey, Human Nature and Conduct, New York 1922, S. 296: „Moral science is not something with a separate province. It is physical, biological and historic knowledge placed in a human context where it will illuminate and guide the activities of men."

5 . ANTHROPOLOGIE DER SITTLICHEN HANDLUNG

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philosophie noch eine Metaphysik des Guten. Sie behandelt, wie Thomas sagt, nicht eine Ordnung, die ist, und die der Mensch erkennend feststellt, sondern eine Ordnung, welche die Vernunft in den Akten des Willens erst herstellt136. Diese Ordnung ist die Ordnung der sittlichen Tugend. Wenn Ethik eine Lehre über das der menschlichen Natur gemäße Gute sein will, so kann sie dies nur als Lehre von der sittlichen Tugend sein. D.h. sie kann nur praktische Philosophie sein, im Sinne einer Reflexion über menschliches Handeln und die dieses Handeln leitende praktische Vernunft, nicht aber eine Ableitung des Sollens aus dem Sein. Jene menschliche Natur und jenes menschliche Sein, auf die wir uns als moralbegründende Instanz berufen, ist immer schon eine nach moralischen Kriterien interpretierte Natur 137 . Dass die Berufung auf einen „ontologischen Begriff der Vollkommenheit... einen unvermeidlichen Hang hat, sich im Zirkel zu drehen, und die Sittlichkeit, die er erklären soll, insgeheim vorauszusetzen nicht vermeiden kann" hielt übrigens bereits Kant zu Recht der Schulphilosophie seiner Zeit entgegen 138 . Im Zusammenhang mit der Frage z.B., ob die Ehe für den Menschen natürlich sei, meint hingegen Thomas v. Aquin, man sage in zweierlei Sinn, etwas sei „natürlich": Erstens, was durch Naturprinzipien mit Notwendigkeit verursacht wird. So sei es für das Feuer natürlich, sich „nach oben" zu bewegen. Zweitens nenne man „natürlich", „worauf die Natur hinneigt, was aber erst durch den freien Willen vollendet wird; so nennt man die Akte der Tugenden natürlich. Und auf diese Weise ist auch die Ehe natürlich",39. Der freie Wille ist das vernunftgeleitete Streben; das der Vernunft gegenständliche Gute ist nun keinesfalls einfach aus der Neigung der Natur ableitbar. Um die „Natürlichkeit" der Ehe zu begründen, folgen deshalb bei Thomas Argumente, die den Erkenntnisprozess der ebenfalls zur menschlichen Natur gehörenden Vernunft (der „natürlichen Vernunft") rekonstruieren. Erst im Lichte dieser Strukturen der Vernünftigkeit kann die Neigung der „Natur" dann als das dem Menschen Naturgemäße als „menschliche Natur" interpretiert werden (vgl. V,l,e).

Der Rekurs auf die menschliche Natur kann also nie als Argument für die Begründung des „Naturgemäßen" im Sinne des für den Menschen Guten dienen. Dieser Rekurs besitzt eine andere Funktion: Er ist ein Argument gegen den ethischen Relativismus und Extrinsizismus 140 . Das heißt, er verweist darauf, dass das für den Menschen Gute damit zu tun hat, was der Mensch ist, mit der Wahrheit seines Seins - agere sequitur esse - , und dass es deshalb sittliche Maßstäbe gibt, die nicht einfach verfügbar sind und die zudem ganz unabhängig von menschlicher Satzung und auch von göttlicher Offenbarung gelten. Was nun jedoch dieser „Maßstab" beinhaltet, dafür kann man nicht mehr auf „menschliche Natur" rekurrieren, sondern es bedarf dazu einer Hermeneutik der Natur im Lichte der Strukturen der Vernünftigkeit. Das heißt allerdings nicht, es gebe in der menschlichen Natur als das durch Vernunft Geordnete nicht auch „Natürliches" im Sinne von naturhaften Vorgaben und Strukturen, die mit der Eigentümlichkeit von Naturprozessen auf ein ihnen eigentümliches „von Natur aus

136 137 138 139 140

Vgl. In I Ethic., lect. 1. Vgl. auch M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, S. 36 ff. I. Kant, GMS, B 92 (IV, S. 77f.). In IV Sent., dist. 26, q. 1, a. 1 (=Supplementum, q. 41, a. 1). An anderer Stelle nenne ich dies einen „externen Rekurs" auf die menschliche Natur, im Unterschied zu einem entsprechenden „internen Rekurs". Siehe dazu M. Rhonheimer, Zur Begründung sittlicher Normen aus der Natur, in: J. Bonelli (Hrsg.), Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Wien-New York 1992, S. 39-94.

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III. SITTLICHE HANDLUNGEN UND PRAKTISCHE VERNUNFT

Gutes" hingeordnet sind. Solches ist zwar - als natürlicher Trieb oder Neigung - Bestandteil des für den Menschen Guten, aber es ist noch nicht das für den Menschen Gute und in diesem Sinn Natürliche (vgl. unten V,l,d). Bestandteil ist es, weil der Mensch nicht einfach Geist in einem Leib ist. Er ist weder „Geist in Welt" (K. Rahner) noch „Vernunft in Natur" (W. Korff). Der Mensch hat nicht Leib, Trieb, Sinnlichkeit, sondern er ist all dies. Er gehört nicht zur Gattung der Geister, sondern zur Gattung der animalia. Er ist ein vernunftbegabtes Lebewesen (Säugetier), animal rationale und damit geistbeseelter Leib141. Das menschliche „Ich" kann deshalb weder mit der Seele noch mit dem Geist identifiziert werden: anima mea non est ego: „Meine Seele ist nicht mit meinem Ich identisch" 142 . Der Mensch ist eine substantielle Wesenseinheit von Leib und Geist. Wir nennen diese Wesenseinheit menschliche Person: In ihr erhält „Natur" eine spirituelle und „Geist" eine natürliche Dimension, ganz im Unterschied zur dualistischen Weise, in der die Moderne „Natur" und „Geist" immer als Antipoden zu begreifen pflegte143. Das spezifisch Personale ist zwar das Geistige. Philosophisch sind deshalb auch rein geistige Personen denkbar. Das menschliche Person-Sein hingegen ist nicht „Geist-Sein". Der Mensch ist zwar Person kraft seiner Geistigkeit, aber „menschliche Person" ist der ganze Mensch als leib-geistige Wesenseinheit. Deshalb kann man, sofern man über den Menschen spricht, auch das Naturhafte im Menschen nicht „unterpersonal" oder „unter dem Menschen stehend" nennen: „Unter"- oder „nichtpersonal" ist nur jene Natur, die wir selbst nicht sind, also unsere (nichtmenschliche) „Um-Welt". „Person" bezeichnet immer das konkrete Individuum; im Falle des Menschen also die subsistierende Einheit von geistiger Seele und Leib: Diese konstituieren gemeinsam das menschliche „Ich". Deshalb vertritt Thomas v. Aquin die Meinung, dass die anima separata, die nach dem Tod vom Leib getrennte menschliche Seele nicht eine Person genannt werden kann. Sie ist nur die Seele dessen, der einmal eine Person 144

war . Menschliche Vernunft als Maßstab ist demnach immer die Vernunft einer menschlichen Person: Eines leib-geistig konstituierten Wesens. Für den vernünftigen Menschen sind deshalb Leiblichkeit, Sinne, Affekte, Triebe nicht „Umwelt", „Fremdes", sondern konstituierende Elemente seines „Ich". Sie sind nicht Gegenstandsbereich seines Handelns, sondern Handlungspr/nz/pie«. Leibliche Akte eines Menschen sind demnach ihrer Struktur und teleologischen Verfasstheit nach immer personale Akte. Das heißt sie sind dazu angelegt, der leibgeistigen Wesenseinheit des Menschen gemäß vollzogen zu werden, als leibliche Akte zugleich auch geistige Akte zu sein. Gerade der Begriff der sittlichen Tugend reflektiert diesen anthropologischen Grundbestand: Sie ist letzte personale Vollkommenheit der Einheit 141

Vgl. D. Braine, The Human Person: Animal and Spirit, Notre Dame, Indiana, 1992; und A. Maclntyre, Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues, Chicago and La Salle 1999. 142 Thomas v. Aquin, Kommentar zum Ersten Korintherbrief, 15, lectio 2. 143 Dieser Gedanke ist formuliert bei R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, a. a. O. S. 209. Ein beachtlicher, ja faszinierender Versuch die klassische Einheit von menschlicher Animalität und Rationalität, von Vernunft und Natur wieder neu zu denken findet sich bei J. McDowell, Mind and World, a.a.O. (vor allem Lecture IV und VI). 144 Vgl. I. q. 29, a. 1 ad 5. S. dazu W. Kluxen, Anima separata und Personsein bei Thomas von Aquin, in: W. P. Eckert (Hrsg.), Thomas von Aquino. Interpretation und Rezeption, Mainz 1974, S. 96-116.

5 . ANTHROPOLOGIE DER SITTLICHEN HANDLUNG

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von Leib und Geist, in der auch Sinnlichkeit zum von Vernunft durchformten Handlungsprinzip wird. Die schließlich zu analysierenden Prinzipien der praktischen Vernunft reflektieren wiederum, dass jene „Natur", die der Mensch selbst ist, ebenfalls konstitutiver Bestandteil und Prinzip des für den Menschen Guten sein muss, wollen Vernunft und „Geist" nicht ins Leere greifen.

IV. Die sittlichen Tugenden

1. Der Begriff der sittlichen Tugend a) Vorbemerkungen zum Begriff „Tugend" Ethik ist gemäß klassisch-eudämonistischer Auffassung die Lehre von jenem Guten, in dem wir als freie, vernünftige Wesen unser Glück finden können. Wie wir sahen ist jedoch „Glück" nicht einfach subjektive Befriedigung, sondern Erfüllung des Strebens nach Maßstäben von Vernünftigkeit. In der Ethik geht es deshalb darum, die Bedingungen für die „Wahrheit der Subjektivität" zu analysieren. Eine Tugendethik nun behauptet, dass diese Bedingungen vor allem im Besitz der Tugenden bestehen. Gemäß klassischem Verständnis kennzeichnen sittliche Tugenden jene Verfasstheit menschlicher Personen, bei welcher diesen, was in Wahrheit und vernünftigerweise gut ist, auch (subjektiv) als gut erscheint: Sittliche Tugenden sind also affektive Bedingung für die Vernünftigkeit von Handlungssubjekten. Sie richten das handelnde Subjekt affektiv auf das Gute aus und potenzieren auf diese Weise praktische Vernunft, insbesondere die Fähigkeit, auch im Einzelnen und Konkreten das sittlich Richtige zu erkennen und es auch effektiv zu tun. Somit kommt ihnen eine anthropologische und kognitiv-praktische Doppelaufgabe zu, ohne dadurch, wie zu zeigen ist, den Begriff sittlicher Verpflichtung und den rationalen Diskurs über moralische Prinzipien, Regeln oder Normen überflüssig zu machen. Sittliche Tugenden sind in zweifachem Sinne Bedingung für die Vernünftigkeit des Handlungssubjekts: Sie bedeuten auf der Ebene der allgemeinen Prinzipien affektive Ausrichtung gemäß dem Vernünftigen, auf der Ebene der partikularen, konkreten Handlung hingegen kognitive Potenzierung durch die richtige motivationale, affektive Verfasstheit des Subjekts. Dadurch greifen Vernünftigkeit (kognitiver Aspekt) und habituelle affektive Disposition (motivationaler Aspekt) eng ineinander, im Sinne der klassischen aristotelischen Zirkularität. Beides ist demnach richtig: Sittliche Tugend ist sowohl habituelle Verfasstheit des Subjekts gemäß vernünftigen, rational einsehbaren und argumentativem Diskurs zugänglichen Prinzipien (die auch als Normen oder Regeln gefasst werden können, und in diesem Sinne eine abgeleitete Größe sind); gleichzeitig ist sittliche Tugend aber auch selbst affektives Prinzip der Erkenntnis des jeweils Richtigen im Bereich des konkreten, unmittelbaren Handelns. Dadurch ist das Tugendgemäße jeweils auch das „Gesollte" bzw. „Pflichtgemäße" - allerdings nicht im Gegensatz zum subjektiven Streben begriffen, sondern gerade, sofern das Subjekt eben

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I V . D I E SITTLICHEN T U G E N D E N

tugendhaft ist, als ein diesem Streben, Fühlen und Wollen adäquates „Gesolltes" und „Pflichtgemäßes" 1 . „Tugend" ist jedoch nicht ausschließlich „sittliche" Tugend. Im allgemeinsten Sinne wird mit dem Wort „Tugend" die Vollkommenheit eines operativen Vermögens bezeichnet. Solche Vermögen sind Intellekt (als theoretischer und praktischer), Wille, konkupiszibles Strebevermögen (sinnliches Begehren), und iraszibles Strebevermögen (Mut). Das deutsche Wort „Tugend" bringt in keiner Weise die ursprüngliche Bedeutung des griechischen arete und des lateinischen virtus zum Ausdruck. Arete meint so viel wie Trefflichkeit, Tüchtigkeit, Hochwertigkeit. Virtus kommt von vir (Mann) und meint ursprünglich etwa Mannhaftigkeit, dann aber auch einfach Trefflichkeit, Vorzüglichkeit, sittliche Vollkommenheit. Arete und virtus bezeichneten die Vortrefflichkeit des Menschen als Menschen schlechthin. Tugendhaft - in diesem klassischen Sinne - ist demnach nicht, wer ein „untadeliges Leben" führt, indem er sich nichts zuschulden kommen lässt, wer lieb und gut ist, auch wenn er sonst für das Leben nicht viel taugt, sondern wer seine menschlichen Vermögen immer zum Guten gebraucht, das Gute mit Souveränität, Beständigkeit und Freude tut, wer kompetent und gewitzt ist, sich auskennt und jede Lage schnell und richtig einzuschätzen vermag; kurz: wer realisiert, was Aristoteles das „gute Leben" und eupraxia nennt. Das gute Leben ist ein durch die Ansprüche der Vernunft geordnetes Leben, und eben deshalb ein glücklich zu preisendes Leben, - glücklich nicht, weil ein solches Leben unbedingt das erfolgreichste ist, sondern weil wir meinen, es sei eben gelungen. Deshalb, so erklärt Aristoteles scheinbar paradox, können wir einen Menschen eigentlich erst dann mit Sicherheit glücklich preisen, wenn sein Leben zu Ende ist. Das allerdings ist die Perspektive des Beobachters. Aus der Sicht der ersten Person muss hinzugefügt werden: Das Gelingen des jeweils eigenen Lebens kann durchaus schon während dieses Lebens bewusst sein. Es offenbart sich in der Erfahrung von Sinn2.

b) Unterscheidung zwischen intellektuellen („dianoetischen") und sittlichen („ethischen") Tugenden Tugenden sind Vollkommenheiten jener Vermögen, die auf Tätigkeit (operatio) ausgerichtet sind. Es gibt freilich operative Potenzen, die einer solchen Vervollkommnung nicht bedürfen, weil sie bereits naturhaft ihren Akt vollkommen vollziehen. Es gibt keine Tugend des Sehens oder Tastens. Zwar können die Akte dieser Sinne mehr oder weniger vollkommen sein; dies jedoch beruht auf der physiologischen Disposition des entsprechenden Körperorganes. Auch die sinnlichen Strebevermögen bedürfen in sich betrachtet keiner operativen Vervollkommnung; sie wirken mit naturaler Spontaneität, und auch hier ist das „besser" oder 1 In den meisten gegenwärtigen tugendethischen Ansätzen laufen diese beiden Aspekte eher nebeneinander; der verwendete Tugendbegriff macht es schwer, sie als Einheit zu verstehen. Vgl. z.B. die säuberliche Trennung des „aretaischen", auf Motive und Charakterzüge zentrierten Ansatzes, von einem „deontologischen", auf Handlungsregeln konzentrierten Ansatz bei N. J. H. Dent, The Moral Psychology of the Virtues, Cambridge 1984. Zur Kritik an Dent s. K. Baier, Radical Virtue Ethics, a. a. O. 132 ff. Die Problematik wird aus der Sicht gegenwärtiger virtue ethics ausführlich besprochen bei M. Slote, From Morality to Virtue, New York - Oxford 1991. 2 Dass die Frage nach dem Glück bzw. nach dem guten Leben unter den empirischen Bedingungen eines sich im Verlauf befindlichen Lebens im wesentlichen mit der Sinnfrage koinzidiert, ist m. E. richtig bemerkt worden von U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, a. a. O., S. 19 ff.

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„schlechter" abhängig von physiologischen Dispositionen (die aber auch durch Gewöhnung in etwa modifiziert werden können). Als Vermögen einer menschlichen Person erhalten jedoch die sinnlichen Strebevermögen ihre letzte Vollkommenheit erst durch Integration in die Ordnung der Vernunft: Durch Ausrichtung ihrer Strebedynamik auf das durch die Vernunft beurteilte Gute (das bonum rationis). Dazu bedürfen sie der Tugend als einer über die Natur des Vermögens hinausweisenden Vollkommenheit. Ähnliches gilt für den Willen: Dieser erstrebt zwar seiner Natur gemäß das Gute der Vernunft, aber mit der Beständigkeit einer naturgegebenen Disposition tut er dies nur, insoweit zwischen ihm als Streben eines Individuums und dem erstrebten Guten ein Verhältnis der Angemessenheit besteht. Von Natur aus existiert eine solche Proportionierung zwischen dem Akt des Willens und dem Guten nur bezüglich des Guten für den Strebenden selbst. Mit Beständigkeit erstrebt der Wille deshalb nur das eigene Gute wie Selbsterhaltung oder Anerkennung und Hilfe durch andere. Damit der Wille jedoch auch das Gute für den anderen mit derselben Beständigkeit - gleichsam eben auch naturhaft - erstrebt, bedarf er einer zusätzlichen Vervollkommnung: der Tugend der Gerechtigkeit (vgl. IV,3,d). Die Tugenden des Strebens (d.h. des sinnlichen Begehrens, des Mutes und des Willens) nennt man sittliche oder ethische Tugenden gemäß dem griechischen arete ethike, Vortrefflichkeit des ethos, d.h. des Charakters, der affektiven Disposition, der gewohnheitsmäßigen Neigung. So ist sittliche Tugend die Vortrefflichkeit dessen, was ein Mensch gewöhnlich tut und wozu er aufgrund seiner Dispositionen geneigt ist. Ähnliches drückt auch das lateinische virtus moralis aus (von mos, Sitte, Gewohnheit, Brauch, Charakter, Verhalten). Freilich ist die Etymologie hier nur von nebensächlicher Bedeutung. Davon zu unterscheiden sind sogenannte intellektuelle Tugenden (Verstandestugenden, Aristoteles nennt sie dianoetische): Sie sind entsprechende operative Vollkommenheit des Verstandes, und zwar sowohl des theoretischen, wie auch des praktischen. Der Intellekt besitzt eine naturhafte Hinordnung auf die Erkenntnis der ersten (spekulativen und praktischen) Prinzipien. Er erfasst diese gleichsam spontan und bedarf dazu keiner weiteren Ausformung. Nicht jedoch gilt dies für jene Erkenntnis, die aufgrund solcher Prinzipien und vermittels weiterer Sinneswahrnehmung erschlossen wird, d.h. für den eigentlichen inventiven Prozess der schlussfolgernden Vernunft (dianoia). Die Tugenden des theoretischen Intellektes heißen Weisheit (sophia/sapientia) und Wissenschaft (episteme/scientia). Diese Tugenden vervollkommnen den Intellekt in der Erfassung und Betrachtung von Wahrheit. Bezüglich der Erkenntnis der letzten und höchsten Ursachen sprechen wir von der Tugend der Weisheit; sie besitzt über alles andere Wissen eine architektonische, d.h. ordnende und beurteilende Funktion. Bezüglich der Erkenntnis von Wirklichkeit „nach unten" hin, vervollkommnet sich der Intellekt durch die verschiedenen Wissenschaften, deren es ebenso viele gibt, wie Gattungen des Wissbaren existieren. In diesem Sinne sind also beispielsweise Wissen und damit verbundene intellektuelle Fähigkeiten eines Historikers oder Physikers verschiedene Arten intellektueller Tugenden. Der praktische Intellekt vervollkommnet sich durch die Tugenden der Kunst (techne/ars) und der Klugheit (phronesis/prudentia), wobei man im Falle von Kunst besser vom „poietischen Intellekt" sprechen würde. Das moderne deutsche Wort „Tugend" ist natürlich auf Kunsthandeln (worunter auch Technik fällt) kaum mehr anwendbar; und ebensowenig scheint es für Weisheit und Wissenschaft angebracht zu sein. Aber es geht hier ja nicht um Worte, sondern um den Begriff und die Sache: Die Tugend des Kunsthandelns ist Trefflichkeit oder Vollkommenheit des Intellektes (genauer: der Vernunft) bezüglich des poiein/facere, des

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I V . D I E SITTLICHEN TUGENDEN

Machens und Herstellens (recta ratio factibilium), eine Mischung von Wissen und Fertigkeit. Die Klugheit hingegen - ebenfalls ein abgegriffenes und missbrauchtes Wort - ist die Trefflichkeit oder Vollkommenheit der Vernunft bezüglich des prattein/agere, des Handelns, bzw. der Wahl guter Handlungen (recta ratio agibilium). Mit Ausnahme des Intellekts der Prinzipien und der Klugheit können wir die intellektuellen Tugenden in diesem Zusammenhang einer philosophischen Ethik außer acht lassen. Die Klugheit nimmt unter den intellektuellen Tugenden eine Sonderstellung ein: Sie ist zwar Vervollkommnung der Vernunft, diese Vervollkommnung ist jedoch durch affektive Dispositionen mitbedingt (was auf die anderen intellektuellen Tugenden nicht zutrifft). Die Klugheit ist im eigentlichen Sinne die Tugend der praktischen Vernunft, die ja, wie wir früher sahen, in den Prozess des Strebens, in die affektive Dynamik eingebettet ist. Klugheit ist nicht nur abhängig von diesem Streben; als Tugend der praktischen Vernunft ist sie auch die Vollkommenheit jenes Vermögens, das dieses Streben kognitiv leitet. Deshalb rechnet man die Klugheit ebenfalls unter die sittlichen Tugenden. Ja, sie ist eigentlich die sittliche Tugend schlechthin, denn ein schlechter Mensch kann nicht wirklich klug sein. So ist sie die „rechte Vernunft dessen, was zu tun ist", die recta ratio agibilium. Tugend ist in allen Fällen Vollkommenheit eines operativen Vermögens, und zwar jene Vollkommenheit, die durch die Natur des Vermögens nicht schon gegeben ist und die bewirkt, dass dieses Vermögen die ihm gemäßen Akte in vollkommener Weise zur Ausführung bringen kann. Auch wer noch so intelligent ist: ohne Studium, Übung und Erfahrung kann er kein guter Mathematiker oder Architekt werden. Ohne Wissen, Übung und Erfahrung vermag auch niemand ein guter Mensch zu sein, und das heißt: in allem oder zumindest zumeist das Gute und Richtige bezüglich des konkreten Handelns zu beurteilen und auch zu tun. Denn ein guter Mensch ist nicht nur ein solcher, der weiß, was im allgemeinen zu tun gut ist, sondern der dies auch im Konkreten Hier und Jetzt weiß; und dies nicht nur weiß, sondern auch effektiv tut. Um was für eine Art von Vollkommenheit handelt es sich näherhin, wenn wir von Tugend sprechen? Es ist eine Vollkommenheit, die mehr ist, als das Vermögen selbst; jedoch auch weniger noch als der „gute Akt" des Vermögens. Die Vollkommenheit des Mathematikers ist mehr als bloße Intelligenz, und weniger als der Vollzug konkreter Akte mathematischer Erkenntnis oder Berechnung. Denn Mathematiker bleibt man ja auch, wenn man schläft oder Tennis spielt, also keine Akte vollzieht, die etwas mit Mathematik zu tun haben. Und dasselbe gilt von allen anderen Tugenden, wobei Akte der sittlichen Tugenden freilich in allen menschlichen Handlungen irgendwie mitspielen. Auch Tennisspielen ist abgesehen von Kunstfertigkeit auch menschliches Handeln: Man verfolgt j a ein Ziel, indem man sich z.B. damit den Lebensunterhalt verdient oder sich erholen oder Freundschaft pflegen will. Und auch Architekten beschränken sich nicht darauf, Häuser zu bauen, sondern damit erstreben sie immer auch etwas, was nicht einfach „Häuserbauen" ist; und dies Erstrebte kann z.B. gerecht oder ungerecht sein. Immer jedoch sind Tugenden Vollkommenheiten eines Vermögens, die es ermöglichen, die diesem Vermögen entsprechenden Akte gut zu vollziehen, die jedoch zugleich mit dem Vollzug der entsprechenden Akte nicht identisch sind. Man nennt eine solche Vollkommenheit einen Habitus, eine Art stabile Disposition oder erworbene Neigung auf eine bestimmte Art von Aktvollzügen hin, die es ermöglicht, solche Akte mit der dem Vermögen entsprechenden Vollkommenheit, mit Leichtigkeit, Spontaneität und Treffsicherheit zu vollziehen. Tugenden sind gleichsam eine zweite, erworbene Natur auf der Ebene des Vermögens, durch die der Akt dieses Vermögens (Wahres Erkennen, Schönes Hervorbringen, Schuhe Herstellen, Gerechtes tun usw.) so vollzogen werden kann, wie es die

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bloße Natur nur etwa beim Sehen, Hören usw. ermöglicht. Tugend ist also eine Art Konnaturalität mit den dem Vermögen entsprechenden Aktvollzügen, ähnlich einem erworbenen Instinkt3. Tugend ist Können, Virtuosität, Brillanz, Souveränität, Kompetenz, Treffsicherheit usw. in spezifischen Bereichen des Erkennens, Herstellens und Handelns. Sie ist die Vollkommenheit des Menschseins im Bereich seiner Tätigkeit und damit auch Vollkommenheit und Erfüllung von Freiheit. Zusammenfassend: Tugend jeder Art ist ein auf den guten Aktvollzug eines Vermögens gerichteter Habitus: ein habitas operativus bonus. Aber damit ist nur bezeichnet, was allen Tugenden (im Unterschied zum Laster) gemeinsam ist. Wir erkennen so auch gerade, worin ein Laster besteht: in der Abkehr davon, wozu das entsprechende Vermögen eigentlich ein Vermögen ist. Laster sind Depravationen des Menschseins und Verfehlen dessen, wodurch menschliche Freiheit ihre letzte Bedeutung und Würde erhält: der Ausrichtung auf das in Wahrheit Gute. Ein Laster ist nicht nur eine andere Möglichkeit, ein Vermögen zu nutzen. Falsches Erkennen ist ja auch nicht einfach eine andere Art von Erkennen; sondern eher ein Mangel an Erkennen und damit eine Abkehr des Erkenntnisvermögens von dem ihm eigenen, naturgemäßen Guten: der Wahrheit. Wählen des Schlechten und schlechtes Tun ist nicht eine andere Art von Verwirklichung des eigenen Menschseins, sondern eher ein Mangel an Verwirklichung von Menschsein, eine Abkehr von dem dem Menschen als Menschen eigenen, naturgemäßen Guten: der Tugend als Ordnung der Vernunft. Ein Mensch, der einen schlechten oder ungerechten Willen besitzt, ist nicht ein solcher, der eben die Dinge anders sieht, sondern einer, der zunehmend überhaupt nichts sieht, weil er sich von der Vernunft entfernt. Und die Vernunft ist es ja, die dem Menschen das für ihn als Menschen Gute aufzeigt. Dennoch ist das Laster ebenfalls Habitus. Im Willen ist er Stolz, Hochmut, im sinnlichen Begehren Unmäßigkeit oder Gefühllosigkeit, im Mut Feigheit oder Tollkühnheit. Wie gesagt: Die Kennzeichnung der Tugend als „Habitus guter Aktvollzüge" (habitus operativus bonus) gilt für alle Tugenden. Für die Bestimmung von „sittlicher Tugend" ist sie nicht ausreichend. Was ist denn nun genauer eine sittliche Tugend? c) Anthropologische und affektiv-kognitive Dimension der sittlichen Tugend Sittliche Tugend ist die Vollkommenheit des Strebens (sinnliche Begierde, Mut, Wille, vgl. oben III, 5 b) und durch Streben bestimmten Handelns gemäß der Ordnung der Vernunft. Sittliche Tugend ist einmal Integration des Sinnlich-Leiblichen in die Logik des Geistes, Ordnung innerhalb der Seele; und weiter: Beständigkeit in der Öffnung des Willens auf das Gut des anderen, wobei „der Andere" sowohl der Mitmensch als auch Gott ist. Wie Aristoteles sagte, führt die Vernunft über das Streben der Sinne nicht wie über den Leib ein despotisches, sondern ein „politisches und königliches Regiment" 4 . „Politische Herrschaft" ist Herrschaft über Freie. Diese sind nicht einfach unterworfen, sondern sie handeln aus eigenen Antrieben und können auch widersprechen. So vermag auch das sinnliche Begehren mit der Vernunft im Widerstreit zu liegen. Nicht „despotische" Herrschaft einer im sittlichen Wissen vollkommenen Vernunft über die sinnlichen Antriebe vermag die Voll3 Zum Begriff der Konnaturalität vgl. R. T. Caldera, Le jugement par inclination chez Saint Thomas d'Aquin, Paris 1980; M. D'Avenia, La conoscenza per connaturalità in S. Tommaso D'Aquino, Bologna 1992. 4 Aristoteles, Politik, I, 5 1254b 6.

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kommenheit des Handelns zu garantieren, sondern allein Teilhabe oder Partizipation der sinnlichen Antriebe an der Vernunft, so dass das Streben der Sinne selbst zum von Vernunft durchformten Prinzip menschlichen Handelns wird5. Damit ist die Beziehung zwischen Streben und Vernunft auf den Begriff gebracht: Jede sittliche Tugend ist Partizipation der jeweiligen Eigendynamik des Strebens an Vernünftigkeit, und deshalb: ein Habitus des vernunftgemäßen Strebens. Vernunftgemäß ist, dass die Sinne begehren, wie es gemäß dem Urteil der Vernunft gut ist; dass man sich vor dem fürchtet, was gemäß dem Urteil der Vernunft und nicht nur der bloßen Einschätzung der Sinne zu fürchten ist, und entsprechend handelt (hin und wieder ist es ja schlicht unvernünftig, das Handeln durch Furcht vor Schmerz oder Tod bestimmen zu lassen oder diese zu fliehen); ebenfalls ist es der Vernunft gemäß, das Gute, das man für sich selbst erstrebt, auch für den anderen zu wollen; usw. Deshalb sagt Thomas v. Aquin, die sittliche Tugend sei „eine gewisse Disposition, oder Form, die wie ein Siegel durch die Vernunft in das Strebe vermögen eingeprägt ist" 6 und: „Sittliche Tugend vervollkommnet den strebenden Teil der Seele, indem sie diesen auf das Gut der Vernunft hinordnet. Das Gut der Vernunft ist jenes, was durch die Vernunft moderiert oder geordnet ist" 7 . Die sittliche Tugend sitzt also nicht einfach im Willen. Dies trifft nur auf die Gerechtigkeit zu. Jedes Strebevermögen besitzt seine Tugend(en): Das sinnliche Begehren die Vollkommenheit des Maßes (temperantia) und der Mut die Vollkommenheit des Starkmutes oder der Tapferkeit (fortitudo). Tugend ist also nicht bloß eine innere Einstellung oder Grundhaltung. Sie ist nicht einfach Willensstärke oder Vernünftigkeit. Sie ist auch nicht Unterwerfung unter kategorische Imperative, Pflichtbewusstsein oder Entschlossenheit zum Guten 8 . Vielmehr ist sie innere Harmonie des Menschen und aller seiner Strebungen mit der Vernunft. Der maßvolle Mensch begehrt mit Leidenschaft nach dem Vernunftgemäßen; der starkmütige Mensch widersteht mit Leidenschaft allen Gefahren und Hindernissen, die sich dem Erreichen des Vernunftgemäßen entgegenstellen (er ist starkmütig, beharrlich, geduldig). Und der Gerechte tut gegenüber dem Mitmenschen nicht nur seine Pflicht, sondern er liebt seinen Mitmenschen wie sich selbst und das für den anderen Gute wie das für ihn selbst Gute. Wahre Gerechtigkeit ist letztlich die fundamentalste Art von Wohlwollen. Die Klugheit jedoch ist der Habitus der mitteloder handlungsbestimmenden praktischen Vernunft, der sich gerade durch Integration dieser Vernunft in die Gesamtheit der anderen sittlichen Tugenden ausbildet. Subjekt oder Träger der sittlichen Tugend ist demnach jeweils ein Strebe vermögen. Gerade die sinnlichen Strebungen (für den Willen ist dies ohnehin klar) werden dadurch zu Handlungsprinzipien, durch die gutes Handeln angetrieben, mitgeformt und, was gerade von Aristoteles herausgestellt wurde, lustvoll wird. „Das Tugendgemäße ist für den Freund der Tugend lustbringend". So „ist der nicht wahrhaft tugendhaft, der an sittlich guten Handlungen keine Freude hat, und niemand wird einen Mann gerecht nennen, wenn er an gerechten, oder freigebig, wenn er an freigebigen Handlungen keine Freude hat" 9 . Sittliche Tugend ist affektive 5 6 7 8

Vgl. I-II, q. 58, a. 2. De Virtutibus in communi, a. 9. I-II, q. 59, a. 4. Vgl. auch F. Ricken, Kann die Moralphilosophie auf die Frage nach dem ,Ethischen' verzichten?, a. a. O. 172 ff. 9 EN 1,9 1099a 10-11; 17-20.

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Konnaturalität mit dem Guten, und zwar eine Konnaturalität des ganzen Menschen und aller seiner Strebungen. Die Verbindung der Lehre von der Tugend mit der Lehre über die Lust fügt der anthropologischen Charakteristik der sittlichen Tugend eine zweite handlungstheoretische Bedeutung hinzu, auf die bereits verschiedentlich hingewiesen wurde. Es ist dies die kognitive Funktion der sittlichen Tugend. Denn das Gute, das wir im Handeln verfolgen, ist j a immer ein gut-Scheinendes. Wie bereits oben (II,l,a) bemerkt wurde, ist mit diesem „Scheinen" nicht eine Täuschung, sondern „Sichtbarkeit" gemeint; d.h. die Tatsache, dass das Gute immer nur der affektiv eingebundenen Wertung des strebenden Handlungssubjekts als Gutes gegenständlich und somit sichtbar ist. Dass tugendhaftes Handeln ein Handeln aufgrund affektiver Konnaturalität mit dem Guten ist, heißt: es ist ein Handeln, das auch im Konkreten mit Spontaneität und Sicherheit das in Wahrheit Gute trifft. Der Tugendhafte vermag in der Regel schlagartig Situationen richtig zu beurteilen und das Gute zu wählen. In einer solchen Art von Handeln ist die Affektivität ausschlaggebend; sie leitet geradezu das Urteil der Vernunft. Und wenn wir, obwohl wir im allgemeinen um das Gute wissen, im Konkreten dennoch Schlechtes wählen, so ist dies eben gerade, weil die Vernunft affektiv fehlgeleitet wird. Es ist die oben analysierte ignorantia electionis bzw. der error electionis, Wahlunwissenheit und Wahlirrtum. Der Tugendhafte jedoch wählt immer das Gute, weil das ihm gut Scheinende auch immer das wahrhaft Gute ist. ET wird dadurch selbst Regel und Maß für das wahrhaft Gute 10 . Denn seine Affekte, die ja für dieses Scheinen bestimmend sind, sind eben auf das der Vernunft gemäße Gute ausgerichtet. Auch der nicht oder nur unvollkommen Tugendhafte kann das Gute wählen; aber nicht aufgrund affektiver Konnaturalität, sondern aufgrund von Wissen, bloßem „Pflichtbewusstsein" und zumeist auch Zurückdrängung ungeordneter Affekte. Für Kant ist gerade dies unausweichliches Schicksal des Menschen und identisch mit „Tugend", die er deshalb „moralische Gesinnung im Kampfe" nennt". Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Kant sittliche Tugend eigentlich auf die Tugend der fortitudo, den Starkmut reduziert 12 . Aus Tugend handeln bedeutet deshalb in Überwindung und Zurückdrängung seiner Neigungen, aus Pflicht handeln, aus reiner Achtung vor dem moralischen Gesetz. Nicht das erkannte Gute, sondern die Pflicht als Achtung des im kategorischen Imperativ aufscheinenden moralischen Gesetzes muss Motiv des Handelns sein. Die Aristotelische Konzeption hingegen impliziert nun keineswegs umgekehrt, dass der Tugendhafte kein Pflichtbewusstsein oder kein Bewusstsein moralischer Verpflichtung besitzt. Im Gegenteil. Aber Pflicht ist für ihn identisch mit dem, was ihm gut scheint, worauf seine Affekte hinneigen und woran er Freude hat 13 (vgl. V,2,c). Der Tugendhafte besitzt auch ein subjektives Interesse am wahrhaft Guten. Das in Wahrheit

10 Vgl. EN III, 6, 1113a 24—b 1. 11 I. Kant, KpV, A 152 (IV, S. 207). 12 Vgl. z.B. MS A 29 (IV, S.525): „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. - Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind dies die Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können ..." Vgl. auch ebd. A 46 (S. 537),: „Tugend bedeutet eine moralische Stärke des Willens ( . . . ) Die Laster als die Brut gesetzwidriger Gesinnungen, sind die Ungeheuer, die er nun zu bekämpfen hat: weshalb diese sittliche Stärke auch als Tapferkeit (fortitudo moralis), die grösste und einzige wahre Kriegsehre des Menschen ausmacht." 13 EN IX, 8,1169a 16-18.

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Gute, das „Pflichtgemäße", ist für ihn nicht einfach „Pflicht" oder gar Last, sondern sein Interesse. So ist sittliche Tugend höchste Potenzierung von Freiheit und praktischer Vernunft, die gerade dadurch eben Klugheit wird 14 Genau diese, für klassische Ethik konstitutive Möglichkeit einer Einheit von „moralischem Sollen" und subjektivem Interesse wird neuerdings etwa von Hans Krämer grundsätzlich als illusorisch bezeichnet. Für Krämer gibt es deshalb zwei sich ergänzende, aber nicht in eine Einheit zu bringende Typen von Ethik: Die Strebensethik (sie handelt von dem Für-mich-Guten weil Gewollten) und die Moralphilosophie (sie handelt von dem Für-den-Anderen Guten und deshalb Gesollten)15. Auf unreflektierte Weise impliziert ist hier allerdings ein Menschenbild, demgemäß es im Bereich des Fürmich-Guten kein „Sollen" geben kann (und damit letztlich auch kein unrichtiges, nach moralischen Maßstäben korrigierbares Wollen); und im Bereich des Dem-andern-Geschuldeten kein wirkliches Wollen, sondern nur die Einschränkung meines jeweils auf das Für-mich-Gute gerichteten Wollens. Der Mensch erscheint hier als ein radikaler Egoist, und moralisches Sollen als die Einschränkung dieses Egoismus zum Wohle des anderen bzw. zur Ermöglichung menschlichen Zusammenlebens.

Genau deshalb ist sittliche Tugend für das im Vollsinne gute Handeln notwendig. Tugend ist nicht einfach eine Form von Wissen, sondern Ordnung der Strebungen gemäß der Vernunft. Wissen ist nur ein Teil der Tugend; wie wir noch sehen werden: Weg zur Tugend und gleichsam, als Gewissen, Kontrolle für die Tugend, die als unvollkommene noch auf dem Weg ist. Dass die Tugend ein Wissen um das Gute einschließt und deshalb in ihrem Bereich auch Wahrheitskriterien anerkannt werden müssen, das ist das ursprüngliche Anliegen des Sokrates im platonischen Dialog „Protagoras": Es geht hier um die Klärung der Voraussetzungen dafür, dass Tugend überhaupt durch Lehre vermittelt werden kann. Die unvermeidliche Einseitigkeit dieses in mannigfachen Aporien endenden Standpunktes, der vornehmlich als eine Gegenposition zur Sophistik entstanden ist, wurde erst von Aristoteles überwunden, jedoch ohne die entscheidende Erkenntnis preiszugeben: Sittliche Tugend impliziert Erkenntnis und ist eine Form von Wahrheit, die allerdings, so korrigiert Aristoteles, erst dadurch auch praktisch wird, dass die Affektivität dieser Wahrheit gemäß ausgerichtet ist. Das „Praktische" besteht dabei allerdings nicht nur darin, dass praktische Erkenntnis auch zu effektivem Handeln führt, sondern auch in jener spezifischen Art von Erkenntnis, die erst durch Integration der Affekte in die Sphäre der Vernunft möglich wird: Eine Erkenntis, die das Richtige und Gute im Konkreten bzw. Partikularen trifft. Denn in sich ist ja Vernunfterkenntnis universaler Natur. Handlungen jedoch (bzw. das praktisch Gute „hier und jetzt") sind immer partikulare Vollzüge in konkreten Situationen und im Zusammenhang mit bestimmten Personen, zu denen der Handelnde wiederum in dieser oder in jener Beziehung steht, Beziehungen, die selbst wiederum in eine kontingente Lebensgeschichte eingebettet sind. „Es ist also ein Wissen vom Jeweiligen, das erst das sittliche Wissen vollendet" l6 . Gerade die sinnlichen Affekte verstellen entweder den Blick auf das hier und jetzt zu tuende Gute, oder aber sie ermöglichen überhaupt erst, es zu sehen und auch zu tun. Dasselbe gilt aber auch für den Willen. „Der Aristotelische Tugendbegriff fordert nicht nur, dass die praktische

14 Vgl. G. Abbà, Felicità, vita buona e virtù, a. a. O., S. 251. Dadurch wird auch ein für gegenwärtige virtue ethics oft typisches Ausspielen der Affektivität gegen die Vernunft vermieden. 15 Vgl. H. Krämer, Integrative Ethik, a. a. O., S. 79 u. 132. 16 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. erw. Aufl. Tübingen 1972, S. 305.

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Vernunft den Bereich des Affektiven integriere; Aristoteles behauptet auch, dass sittliche Erkenntnis nur unter Voraussetzung dieser Integration möglich sei" 17 . Diese wechselsetige Beziehung zwischen Affektivität und praktischer Vernunft ist allerdings nicht nur eine der wichtigsten Einsichten der Aristotelischen Ethik; sie bildet auch eines ihrer zentralen Probleme. Darauf wird zurückzukommen sein.

2. Die sittliche Tugend als Habitus der guten Handlungswahl a) Die Aristotelische Definition der sittlichen Tugend Thomas v. Aquin legt seiner Tugendlehre - der Gepflogenheit seiner Zeit entgegen - nicht die Augustinische, sondern die Aristotelische Definition der sittlichen Tugend zugrunde18. Diese lautet: „ Die [sittliche ] Tugend ist ein Habitus des Wählens, der die in Bezug auf uns bemessene Mitte hält, gemäß der Bestimmung durch die Vernunft, und zwar so, wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt"19. Die Hauptelemente dieser Definition sind die folgenden: (1) Sittliche Tugend ist ein „Habitus des Wählens" (griech. hexis prohairetike; lat. habitus electivus). (2) Dieser Habitus, bzw. die Wahl bezieht sich auf eine „Mitte" (griech. mesotes; lat. medietas). (3) Diese Mitte, bzw. der Akt des Habitus (die Handlungswahl) wird durch die Vernunft bestimmt (griech. logos\ lat. ratio) (4) Die Vernunft ist diejenige eines „klugen Mannes" (griech. phronimos\ lat. eigentlich „prudens" oder sapiens, wobei damit Klugheit als „praktische Weisheit" bezeichnet wird)20. „Norm" ist also nicht irgendeine Vernunft, sondern die Klugheit: orthos logos oder recta ratio (agibilium). Eine sittliche Tugend vervollkommnet als Habitus die Handlungswahl, das heißt die „Wahl der Mittel" (die electio), und damit bewirkt sie im eigentlichen Sinne gutes Handeln. Die sitt17 F. Ricken, a. a. O., S. 174. 18 Die Augustinische Definition, die von Thomas ebenfalls erwähnt, aber dann des weiteren übergangen wird, lautet: „Virtus est bona qualitas mentis, qua recte vivitur et nullus male utitur, quam Deus in nobis sine nobis operatur" („Die Tugend ist eine gute Eigenschaft unseres inneren Wesens, durch die man richtig lebt und die niemand zum Schlechten gebraucht, und die Gott in uns und ohne unser Zutun bewirkt"). Tatsächlich fehlen in dieser Definition fast alle ethisch und handlungstheoretisch relevanten Elemente. Obwohl sie als solche korrekt ist, ist sie zu weit: Sie schließt auch die eingegossene Tugend ein und ist deshalb eine allein theologisch brauchbare Definition. Diese Abwendung von Augustinus scheint leider E. Schockenhoff in seiner sonst so gründlichen Untersuchung: Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik von Thomas von Aquin, a.a.O., S. 243 unverständlicherweise übersehen zu haben; er erwähnt die für Thomas entscheidende Definition aus EN II, 6 1106b 36 - 1107a 2 nicht einmal! Damit wurde eine Chance verpasst, eine lange Tradition des Vergessens dieser zentralen Definition zu überwinden. Näheres dazu (und zum ganzen nachfolgenden Abschnitt) findet sich in A. Rodrfguez Luno, La scelta etica. Il rapporto fra libertà e virtù, Milano 1988 und in M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. 0.,S. 62 ff. 19 EN II, 6 1106b 3 6 - 1107a 2. 20 Vgl. In II Ethic., lect. 7.

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liehe Tugend ist also in allen Fällen Vollkommenheit des wählenden und d.h. des handlungsauslösenden Aktes des Willens, dies auch dann, wenn sie eigentlich und unmittelbar die Vollkommenheit eines sinnlichen Strebens ausmacht. Wir verstehen das, wenn wir uns an die früheren Ausführungen über das Verhältnis zwischen Wille, Vernunft und Leidenschaft und die dort angesprochene Möglichkeit von Wahlirrtum und Wahlunwissenheit erinnern. Genau vor dieser Art Irrtum und Unwissenheit bewahrt sittliche Tugend. Und umgekehrt: Sittliche Tugend garantiert die Vernunftgemäßheit jenes Urteils, das in einem Wahlakt involviert ist und diesen bestimmt: Das affektiv geleitete konkrete, letzte, unmittelbar handlungsauslösende Urteil der praktischen Vernunft. Zweitens besteht, gemäß der genannten Definition, sittliche Tugend in einer „Mitte"; diese Mitte ist eine Mitte „in Bezug auf uns", und sie ist durch die Vernunft bestimmt, und zwar durch jene Vernunft, die Klugheit genannt wird. b) Die sittliche Tugend als Mitte Dass die sittliche Tugend in einer Mitte bestehe, ist wohl eine der am häufigsten missverstandenen Aussagen des Aristoteles. Das mögliche Missverständnis liegt darin, Tugend als Mittelmäßigkeit, bloße Ausgewogenheit, als die Haltung des nicht Übertreibens zu begreifen. Das Missverständnis besitzt eine lange Tradition, die mindestens bis auf das enorm einflussreiche Buch „De jure belli ac pacis" (1625) von Hugo Grotius zurückgeht 21 . Für Bernhard Williams ist die Lehre von der Tugend als Mitte das nutzloseste Element Aristotelischer Ethik und sollte besser vergessen werden, denn es oszilliere zwischen einem unbrauchbaren analytischen Modell und einer lähmenden Aufforderung zur Mäßigung 22 . Dass Tugend in bloßer Mäßigung und Ausgewogenheit bestehe ist und aber nicht die Meinung von Aristoteles: Für ihn ist jene Mitte, in der die sittliche Tugend besteht, letztlich nichts anderes, als das Vernunftgemäße, und damit das Richtige, das Angebrachte oder Zuträgliche und das Gute als das „Schöne". Als solches ist aber die Mitte jeweils das Beste (ariston) und ein Extrem (akrotes)23. „Mitte" bezieht sich zunächst, wie Aristoteles betont, auf die sinnlichen Affekte. Die Tugend liegt in einer Mitte zwischen einem „Zuviel" und einem „Zuwenig" des Affiziertwerdens durch eine Leidenschaft. Das ist jedoch eine reine Beschreibung, nicht die Angabe eines Kriteriums: Denn „zu viel" heißt nicht dasselbe wie „viel", und „zu wenig" heißt nicht dasselbe wie „wenig". „Sehr viel Zorn" kann durchaus „nicht zu viel" sein, sondern eben gerade die richtige Mitte - zwischen „zu viel" und „zu wenig". Die Frage ist, ob der Zorn, und diese oder jene Intensität von Zorn, angebracht oder erfordert ist; und das vermag letztlich nur die Vernunft zu bestimmen. „Zehn Pfund Fleisch verzehren", bemerkt Aristoteles, das ist wohl viel, und zwei Pfund wenig. Aber das heißt nun nicht, dass die Mitte der Tugend darin bestehe, sechs Pfund zu verzehren. Für einen Athleten wie Milo sei das zu wenig; für einen

21 Vom Recht des Krieges und des Friedens, hrsg. und übers, von W. Schätzel, Tübingen 1950, Vorrede, S. 40 f. Zur Bedeutung von Grotius' Aristoteles-Kritik für die Tugendethik vgl. J. B. Schneewind, The Misfortunes of Virtue, in: Crisp/Slote, Virtue Ethics, a. a. O., S. 178-200. 22 B. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, a. a. O., S. 36. 23 EN II, 6, 1107a 8. Vgl. auch O. Höffe, Aristoteles, München 1996, S. 223 f., der, auch gegen Kantische Missverständnisse dieser Lehre, den Aristotelischen Begriff der Mitte ins Recht setzt.

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Anfänger im Ring jedoch zu viel24. „Zw viel" und „zu wenig" ist ja schon dem Namen nach eine Abweichung vom Richtigen. Der Ausdruck impliziert eine Bewertung. Die Mitte steht definitionsgemäß zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Der Begriff der Mitte als solcher bringt uns demnach auch nicht weiter. Er besagt nur, dass es bei jenen Tugenden, die es mit den Affekten der Sinne zu tun haben, jeweils zwei entgegengesetzte Laster gibt, die sich durch ein Zuviel und Zuwenig dessen charakterisieren, wovon die Tugend eben die Mitte, und d.h. das der Vernunft Gemäße ist. Das ist mit dem Satz gemeint in medio virtus, die Tugend liegt in der Mitte. Dies Richtige, d.h. die Mitte der Tugend, bestimmt sich demnach nicht nach der simplen Quantität der Affekte, sondern nach deren Angemessenheit gemäß dem Urteil der Vernunft. Die Mitte ist das Vernunftgemäße. „Denn dass man nach der rechten Vernunft handeln muss, ist eine Regel, die wir hier zugrunde legen" 25 . Deshalb nennt Thomas die Mitte der Tugend ganz allgemein eine „Mitte der Vernunft" (medium rationis)26. Diese Vernunftmitte bestimmt sich, im Falle der sinnlichen Affekte, „in Bezug auf uns". „Beim Zagen z.B. und beim Trotzen, beim Begehren, Zürnen, Bemitleiden und überhaupt bei aller Empfindung von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und Zuwenig, und beides ist nicht gut; dagegen diese Affekte zu haben, wann man soll, und worüber und gegen wen und weswegen und wie man soll, das ist die Mitte und das Beste, und das ist die Leistung der Tugend" 27 . Die Tugend ist also, als Mitte, zugleich ein Bestes und ein Höchstmaß, gemäß dem, was man „soll". Dieses Sollen drückt das Gute aus, wie es von der Vernunft bestimmt ist. Bestimmt wird es „in Bezug auf uns". Es hängt davon ab, wer wir sind, auf wen sich der Affekt bezieht, von den Umständen. Deshalb lässt sich, wie Aristoteles immer wieder betont, nur „im Umriss" angeben, worin eine sittliche Tugend und vor allem: worin die ihr gemäßen Handlungen bestehen: Denn menschliche Handlungen, Affekte und Wahlakte, deren Habitus die sittliche Tugend ist, beziehen sich auf Konkretes, Kontingentes, Situationsgebundenes und durch mannigfache Umstände Bestimmtes. Das Richtige und Gute im Handeln ist „was sich je wieder auch anders verhalten kann". Dennoch betont Aristoteles, dass es auch unüberschreitbare Grenzen gibt. Auch sie gehören zu einer Ethik, die sich auf das Aufzeigen von Umrissen beschränken muss, weil sie eine Tugendethik, und nicht eine Normenethik ist28. Existierten solche Grenzen nicht, so gäbe es auch nichts, wovon die Tugend eine Vollkommenheit sein könnte. Um ein Bild zu gebrauchen: Die Tugenden sind wie breite Straßen, die zu einem Ziel führen. Die allgemeinen, umrisshaften Charakteristika der Tugenden sind die Wegweiser. Aber die Straße besitzt seitliche Grenzen und manchmal, für schläfrige Passanten, auch Leitplanken. Sonst gäbe es gar keine Straße und auch die Wegweiser würden nichts nützen. Wieviel darf einer seine eigene Frau „begehren"? Sicher nicht „zu viel" (aber das heißt ja nichts), aber er darf es, ja soll es, und er darf es in einem hohen Maße. „Viel" ist hier sicher 24 25 26 27 28

Vgl. EN II, 5 1106b 1-7. EN II, 2, 1103b 33. I—II, q. 64, a. 1 und a. 2. EN II, 5 1106b 18-24. Vgl. auch A. Maclntyre, Der Verlust der Tugend, a. a. O. S. 202 ff. (S. 202 der dt. Ausgabe wird das englische „not consequentialist" (Original S. 150) falsch und sinnentstellend übersetzt: Aristoteles' Sicht sei „nicht konsequent" (anstatt richtig: „nicht konsequentialistisch").

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noch lange kein Zuviel. Gegenüber der Frau eines anderen jedoch ist wohl dasselbe Maß, ja jedes Maß an Begehren bereits zu viel. Da gibt es überhaupt keine Mitte. Manchmal liegt die Angabe des Zuviel oder Zuwenig bereits im Namen, mit dem wir den Affekt bezeichnen. Aber, betont Aristoteles, es gibt auch konkrete, beschreibbare Handlungsweisen, die immer schlecht sind und somit von der Mitte der Tugend abrücken, ja gar keine Mitte kennen. Die einschlägige Stelle sei hier zitiert: „Doch kennt nicht jede Handlung oder jeder Affekt eine Mitte, da sowohl manche Affekte, wie Schadenfreude, Schamlosigkeit und Neid, als auch manche Handlungen, wie Ehebruch, Diebstahl und Mord, schon ihrem Namen nach die Schlechtigkeit in sich schließen. Denn all dieses und ähnliches wird darum getadelt, weil es selbst schlecht ist, nicht sein Zuviel und Zuwenig. Demnach gibt es hier nie ein richtiges Verhalten, sondern immer lediglich ein verkehrtes, und das Gute und Schlechte liegt bei solchen Dingen nicht in den Umständen, wie wenn es sich z.B. beim Ehebruch darum fragte, mit wem und wann und wie er erlaubt sei, sondern es ist überhaupt gefehlt, irgend etwas derartiges zu tun"29. Aristoteles meint hier offensichtlich nicht nur ungerechtes Töten (=Mord) sei immer schlecht; oder: ob eine Handlung „Ehebruch" sei, das hänge jeweils wieder von konkreten Umständen, der Zahl („einmal ist keinmal") oder der Absicht ab. Die Frage der „in sich" oder „immer und unter allen Umständen" schlechten Handlungen wollen wir hier vorerst auf sich beruhen lassen. Sinnvoll ist jedoch eine solche Rede allein im Rahmen einer Tugendethik, nicht jedoch in einer Ethik, der es im wesentlichen um die Begründung und Rechtfertigung von „Normen" im Sinne von Regeln geht. Solche Normen können ja nach Belieben umformuliert werden, so dass sie - je nach Formulierung ausnahmslos oder aber nur in wenigen, vielen oder den meisten Fällen gelten. Sogenannte „absolute Normen" kann es dann nur noch geben, wenn man die Formulierung dermaßen einschränkt, dass die Norm die Mehrzahl der möglichen Fälle gar nicht mehr trifft. So lässt sich dann etwa sagen, die Norm „es ist immer schlecht, einen Menschen zu töten" sei nur unvollständig und deshalb falsch formuliert. Ausnahmslos gelte (nach einem Beispiel von B. Schüller) nur: „Einen Menschen A bloß deswegen töten, weil man einem anderen dadurch eine kleine Unannehmlichkeit ersparen kann, ist nie sittlich gerechtfertigt" 30 . Eine Handlungsbeschreibung wie „einen Menschen töten" in Bezug auf die, wie Aristoteles sagt, „nie ein richtiges Verhalten, sondern immer lediglich ein verkehrtes" möglich ist, so dass man sagen kann, „es ist überhaupt gefehlt etwas derartiges zu tun", kann ausgehend vom Begriff der Norm als einer Formulierung von Handlungsregeln nicht gerechtfertigt werden (s. unten V,3). Die „Mitte in Bezug auf uns" ist also eine Vernunftmitte und ein Bestes. So findet sie sich in der Aristotelischen Tugenddefinition. Nicht jede Mitte ist jedoch eine Mitte „in Bezug auf uns". Im Falle der Tugend der Gerechtigkeit ist noch von einer anderen Art von Mitte zu sprechen: Der „Mitte der Sache nach". Man hat Aristoteles zuweilen vorgeworfen, seinen Begriff der Tugend hier auf inkonsequente Weise ausgeweitet zu haben, ein Vorwurf, der wohl damit zusammenhängt, die wesentliche Vernunftbestimmtheit der „Mitte in Bezug auf uns" übersehen zu haben. Entscheidendes Merkmal der Tugendmitte ist ja nicht die „Mitte" als solche, sondern die Vernunftbestimmtheit dessen, was hier jeweils als Mitte ausgemacht wird, die Mitte als orthos logos also. Gerade dies wird nun auf einen Bereich angewandt, wo es nicht so

29 EN II, 6 1107a 9-18. 30 B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, a. a. O., S. 298.

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sehr um die Ordnung der Affekte, sondern um die Gegenstände äußerer Handlungen geht. Wenn es um die gerechte Verteilung von Gütern oder den Abschluss eines Kaufvertrages geht, so müssen Sachen, Leistungen u.ä. im richtigen Verhältnis verteilt oder zugesprochen werden. Die Mitte ist hier nicht nur eine solche der Affekte, sondern auch eine solche gegenständlicher Dinge. Die Mitte wird hier als „Recht" bestimmbar und diese ist eine Form des „Gleichen" in der richtigen Proportion 31 . Somit wird „Ausübung der Gerechtigkeit" zur „Mitte zwischen Unrecht tun und Unrecht leiden" 32 . Aber auch diese Mitte bestimmt sich gemäß der Vernunft, und wiederum sind hier Umstände und konkrete Verhältnisse entscheidend, um die Mitte auszumachen. Gerade deshalb ist die Vernunft, die hier bestimmend ist, die durch die Tugend der Klugheit vervollkommnete Vernunft. Darauf wird zurückzukommen sein.

c) Die habituelle Vervollkommnung der Handlungswahl durch die sittliche Tugend Betrachten wir nun den eigentlichen Kern der Tugenddefinition: Sittliche Tugend ist ein „Habitus des Wählens" 3 3 . Die Wahl muss die Mitte, die Vernunftmitte, also das Richtige gemäß der Vernunft treffen. Die Handlungswahl bezieht sich auf die „Mittel zum Ziel", d.h. die konkreten Handlungen, die um eines Zieles willen gewählt werden. Früher (111,3) wurde ausführlich der Zusammenhang zwischen Mittel und Ziel, Handlungswahl und Zielintention analysiert. Die dort gewonnenen handlungstheoretischen Einsichten sind grundlegend für das Verständnis der sittlichen Tugend als Habitus der richtigen Handlungswahl. Denn das Wählen der Mittel ist ja ein Akt des Willens. Und dieser Akt des Willens ist gut nur dann, wenn sowohl die gewählte Handlung, wie auch das intendierte Ziel gut sind (das heißt, wenn beide der Ordnung der Vernunft entsprechen). Die sittliche Tugend als Habitus des richtigen oder sittlichen Wählens muss also beides, Mittelwahl und Zielintention, irgendwie einschließen. Anders wäre sittliche Tugend nichts als Raffinesse oder Geschicklichkeit, um für irgendwelche Ziele effiziente Wege ausfindig zu machen. Mehr noch: Was wir eigentlich weil letztlich wollen, wenn wir etwas wählen - so sahen wir - , ist nicht die konkrete Handlung, die wir wählen, sondern das Ziel um dessentwillen wir sie wählen. Damit eine Handlungswahl gut ist, genügt es nicht, dass das Mittel gut ist. Und ob eine konkrete Handlung (das Mittel) überhaupt gut ist, das hängt zunächst einmal vom intendierten Ziel ab. Im Wählen des Mittels wird immer auch das Ziel gewollt. Der Inhalt des Willens bestimmt sich durch Ziel und Mittel, die im Akt des Willens ein einziges Objekt des Willens bilden. Aber „gut" ist ein Mittel, wenn es tatsächlich geeignet ist, zum Ziel zu führen. Diese Eignung ist jedoch eine moralische Eignung: Um ein gerechtes Ziel und damit Gerechtigkeit zu erreichen, muss auch das Mittel in sich betrachtet der Gerechtigkeit entsprechen. Nur der sogenannte Konsequentialismus - darauf ist immer wieder hinzuweisen - würde hier sagen: die Eignung eines Mittels kann überhaupt erst dadurch bestimmt werden, ob es voraussichtlich die Hervorbringung eines als Ziel intendierten Zustandes tatsächlich zu bewirken vermag. Wir hingegen haben gesagt, die Eignung von Mitteln hinsichtlich bestimmter Ziele könne und müsse auch in Bezug

31 Vgl. EN V, 6 32 EN V, 9,1133b 31. 33 Eine ausführliche Analyse der sittlichen Tugend als Habitus der Handlungswahl findet sich bei A. Rodrfguez Luno, La scelta etica. Il rapporto fra libertà e virtù, Milano 1988.

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auf das Mittel in sich beurteilt werden. Der Streit um den Unterschied bleibt fruchtlos, solange man nicht berücksichtigt, dass der Konsequentialismus von einem nicht-intentionalen und deshalb fragwürdigen Begriff des Handelns ausgeht (vgl. unten V,f). Da das vernunftgemäße Verhalten zu Affekten und vernunftgemäßes Handeln in einer Mitte bestehen, so zeigt sich also gerade die Intention des Zieles als entscheidendes Element in diesem Bestimmen der Mitte. Ob es richtig ist, in bestimmten Akten des Sprechens dieses oder jenes zu sagen oder zu verschweigen, und die Art und Weise, wie man es sagt, das bestimmt sich ja auch durch das Ziel, das man intendiert. Je nach dem kann es sich um einen Akt der Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit, um Feigheit oder aber Klugheit, Rücksichtslosigkeit oder Nächstenliebe handeln. Ganz allgemein lässt sich bei keiner konkreten Handlungsweise sagen, ob sie nun gut oder schlecht ist - außer bei solchen, in denen die bereits erwähnten Grenzen überschritten werden. Doch darauf ist in diesem Zusammenhang noch nicht einzugehen. Der Terminus „sittliche Tugend" gewinnt so eine gewisse Ambivalenz. Das Gesamtphänomen umschließt nämlich folgende Elemente: (1) Die intentionale Ausrichtung

des Zielstrebens,

d.h. der A f f e k t e und des Willens auf das

der Vernunft Gemäße (Habitus des richtigen Zielstrebens) (2) Die Ausrichtung

der mittel- oder handlungsbestimmenden

Vernunft auf vernunftgemäße

Ziele (Habitus der richtigen Mittel- oder Handlungsbestimmung = Klugheit) (3) Der Akt der Handlungswahl

(prohairesis/electio)

(4) (Äußerer) Handlungsvollzug

(der unmittelbar aus (3) folgt)

A l l e diese Elemente sind nötig, damit wir von sittlicher Tugend sprechen können und jedes dieser Elemente ist in einem gewissen Sinn sittliche Tugend, jedoch nur als Element des Gesamten. Der Gesamtkomplex ist sittliche Tugend als „Habitus der richtigen Handlungswahl". W i r können aber auch die einzelnen Elemente jeweils analog „sittliche Tugend" nennen: In diesem Sinne heißt es etwa bei Aristoteles, die sittliche Tugend (1) mache das Ziel richtig, die Klugheit (2) die Mittel. Oder aber: „ D i e Tugenden sind eine bestimmte Art von Wahlakten oder wenigstens nicht ohne Wahl" 3 4 : Dies bezieht sich auf (3). Denn wenn auch sittliche Tugend ein Habitus der Vernunftgemäßheit der A f f e k t e ist, so ist sie eben ein Habitus, der effektiv zu einer Handlungswahl führt, ansonsten die Ordnung der Affekte gar keine praktische Bedeutung hätte. Der eigentliche und spezifische Akt der sittlichen Tugend ist also die vernunftgemäße Handlungswahl. Der Habitus der sittlichen Tugend ermöglicht es, diesen Akt in vollkommener Weise zu vollziehen. Und „Vollkommenheit" heißt hier: mit Leichtigkeit und Spontaneität, mit Beständigkeit und Lust oder Freude. Wenn hier jedoch von „Habitus" und von „Spontaneität" gesprochen wird, so ist damit nicht routinemäßige Gewohnheit oder ein instinktähnlicher „Automatismus" gemeint, sondern eher eine affektive Potenzierung praktischer

Vernunft, d.h. der vernünftigen Überlegung

über das „hier und jetzt Gute" 3 5 . Die genannte Spontaneität ist nicht eine solche der Gewohnheit oder des auch ohne Freiheit möglichen und diese sogar einschränkenden Instinktes; sie ist vielmehr „Befreiung der Vernunft" zum Durchblick auf das Gute, auf das ja j e d e Handlung hinzielt. „ W a s zu tun ist", das vermag nicht die Affektivität zu bestimmen; es ist Sache des Vernunfturteils. Aber dieses Urteil wird durch die Affektivität immer auch mitge-

34 EN II, 4 1106a 4. 35 Vgl. G. Abbà, Felicità, vita buona e virtù, a. a. O. S. 216 ff.

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leitet und deshalb tendenziell in einer Weise vollzogen, die mit dieser in Übereinstimmung steht. Dadurch beurteilt die Vernunft zunächst einmal jeweils spontan als „gut", was der Affektivität entspricht, auch wenn sie als Vernunft durchaus die Möglichkeit besitzt, gegen die Affektivität Stellung zu beziehen bzw. unabhängig von ihr zur urteilen. Auch Kant war dies klar, und deshalb ist für ihn, wie wir oben sahen, Tugend gleichbedeutend mit einer Art Askese der Ausschaltung der Affekte und eigentlich nichts anderes als die Tugend des Starkmutes. Aristotelische Tugend ist jedoch gerade nicht mehr „moralische Gesinnung im Kampfe", und doch ist sie „moralische Gesinnung"; denn falls wir die implizite Anthropologie Kantischer Ethik ablehnen, dann müssen wir eine Gesinnung „moralisch" nennen, nicht weil sie ohne Leitung der Affektivität zustandekommt, sondern insofern sie auf das in Wahrheit Gute zielt. Sollte es tatsächlich jemandem lustvoll erscheinen, dem Nächsten wohl zu wollen, so dass er dem Nächsten gegenüber auch tatsächlich wohlwollend handelt, gerade weil ihm dies Lust (Freude) bereitet, so ist das nicht als ein Mangel an „moralischer Gesinnung" zu bezeichnen, sondern als deren höchste Vollendung. Dies nicht in erster Linie deshalb, weil ein solcher es leichter hat, als derjenige, der seine moralische Gesinnung „im Kampfe" mit sich selbst durchhalten muss, sondern weil er ganz einfach fähig ist, im Konkreten auch richtiger zu urteilen, d.h. weil er es besser vermag, im Partikularen auch tatsächlich das „hier und jetzt Gute" zu treffen (vgl. dazu auch unten, V,2,c). Thomas v. Aquin kommentiert deshalb den Satz des Aristoteles „Die Tugenden sind eine Art von Wahlakten oder wenigstens nicht ohne Wahl" folgendermaßen: „Sittliche Tugend", das kann heißen ,/ikt der Tugend". Und der wichtigste Akt der Tugend ist ja die richtige Handlungswahl; diese ist also, vom Akt her gesehen, die eigentliche sittliche Tugend. Sittliche Tugend kann aber auch der äußere Vollzug der Handlung, also Element (4) heißen, aber nur insofern dieser äußere Vollzug einem inneren Wahlakt entspringt, also vorsätzlich, frei, willentlich ist. Und insofern kann man sagen: „Sittliche Tugend (als äußerer Handlungsvollzug) ist nicht ohne Handlungswahl". Drittens können wir sittliche Tugend als den Habitus der vernunftgemäßen Ordnung der Affekte betrachten, von der ja die Möglichkeit tugendgemäßer Handlungswahl abhängt, und auch in diesem Sinne ist sittliche Tugend nicht ohne Handlungswahl, weil ja zu jeder Ursache (dem Habitus) die ihm eigene Wirkung (Handlungswahl) gehört36.

In jeder Handlungswahl, die ja ein Akt des Willens ist, findet sich deshalb ein Doppeltes: die Zielintention (sie ist eben intentional präsent) und die Beurteilung darüber, was nun konkret zu tun sei, d.h. die Beurteilung der Mittel37. Dadurch, dass sittliche Tugend die sinnlichen Strebungen und den Willen ordnet, bewirkt sie vornehmlich, dass das Zielstreben der Ordnung der Vernunft gemäß verläuft. Genau dadurch wird der Urteilsakt der Vernunft, der sich auf die Mittel richtet, gemäß dem Ziel der Tugend ausgerichtet. Er wird zum Akt der Klugheit. Wessen Wille habituell auf das Gut des anderen gemäß den Anforderungen der Vernunft hingeordnet ist, der wird auch Mittel wählen, die gerecht sind - auch wenn er dazu noch manch anderer Kenntnis und Kompetenz bedarf und er auch überlegen muss und es zumeist wohl auch eine Pluralität von möglichen gerechten Handlungsweisen gibt. Er wird jedoch zumindest wissentlich niemanden übervorteilen oder zurücksetzen. „Gerechtigkeit intendieren" heißt aber nicht nur gute Absichten besitzen, sondern tatsächlich den Willen auf das Gute für

36 Vgl. In II Ethic., lect. 5. 37 Vgl. I—II, q. 56, a. 4 ad 4.

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den anderen gerichtet haben. Und „tatsächlich" heißt hier so viel wie: Gemäß der Ordnung der Vernunft. Es wird im Zusammenhang der Klugheit darauf zurückzukommen sein. Wir können jedoch zusammenfassen: Die sittliche Tugend macht das Zielstreben gut und bewirkt somit, dass die Handlungen, die wir wählen, gut sind. Das klingt zwar sehr vereinfacht: Der Formel liegt jedoch die Lehre von der inneren Unfehlbarkeit der Vernunft zugrunde. Anders kann man sie kaum verstehen. Sind die Affekte der Vernunft gemäß geordnet, so trifft die mittelbestimmende praktische Vernunft mit Unfehlbarkeit das Gute, - wobei, wie gesagt, dieses Gute gar nichts „Allgemeines", einer „Norm" Zugängliches zu sein braucht. Zu jeder Tugend gehört eine Mannigfaltigkeit von möglichen guten Handlungen. Man müsste alle Umstände einer Situation einbeziehen, um diese Mannigfaltigkeit auf die eine, nun hier und jetzt beste Handlungsweise einzuschränken. Und auch dann noch kann es Situationen geben, in denen „gut" nicht unbedingt das „an sich Beste" ist, und Verschiedenes immer noch im gleichen Maße gut zu sein vermag. „Soll ich es ihm sagen, oder nicht?" Beides kann nicht optimal, aber gut, und eines von beidem tun kann gefordert sein, sofern „etwas Falsches sagen" ausgeschlossen ist. Wer wirklich ein gerechter Mensch ist, der wird, zum Besten des anderen, dieses oder jenes tun, auf jeden Fall mit Feingefühl und Wohlwollen, weil der Gerechte das Wohl des anderen erstrebt. Und er wird sicherlich richtig handeln. Bestimmt wird er nicht etwas sagen, um einen anderen herabzusetzen, zu verletzen oder zu schädigen. Aber hier zu versuchen, eine „Norm" zu finden, oder eine Güterabwägung vorzunehmen (in die ja grundsätzlich auch die Möglichkeit einer Falschaussage einbezogen werden müsste), um eindeutig festzustellen, durch welche Handlungsweise die Folgen für alle Betroffenen sich optimal auswirken, oder aber einen „kategorischen Imperativ" zu formulieren, um so zu handeln, dass die Maxime der Handlung auch als allgemeines Gesetz gewollt oder gedacht werden kann, das scheint gerade das Wichtigste zu verfehlen: Das Wohlwollen gegenüber dem anderen als diesem konkreten Menschen. Hier findet sich in der Kantischen Ethik ein echtes Problem. Denn es scheint ja, dass für Kant derjenige einen größeren moralischen Wert besitzt, der seine Pflicht (das Richtige) nur aus Pflicht tut, nicht aber aus Neigung (wir werden weiter unten noch einmal darauf zurückkommen). Philippa Foot hat daraufhingewiesen, dass deshalb in der Kantischen Ethik etwas nicht stimmen kann. Wer z.B. Wohltätiges nur aus Pflicht tut, sollte zwar nicht unterbewertet werden, aber wer dasselbe aus wirklicher Neigung, mit Freude, aus Sympathie zu den anderen Menschen und aus Liebe zu ihnen tut, ist sicher ein besserer Mensch, als wer dasselbe nur aus Pflichtgefühl und in Überwindung seiner eigennützigen Triebe tut38. Kant hat nun allerdings in seiner (späten) „Metaphysik der Sitten" diese Lücke gesehen und in seiner „Tugendlehre" dieses Problem zur Sprache gebracht 39 . Er sagt hier, zunächst sei das Wohltun Pflicht; und das kann nicht Liebe sein, denn Liebe schließe die Pflicht (= Nötigung) aus. Man könne nicht aus Pflicht lieben und anderen wohl wollen. Zunächst werde deshalb die Tat, die das Wohlwollen (amor benevolentiae) verlangt, aus Pflicht getan. Dadurch gelange man dann dazu, dem anderen aus Menschenliebe wohl zu tun. Der entscheidende Passus lautet: „Wohltun ist Pflicht. Wer diese oft ausübt und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Absicht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben. Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben

38 Vgl. P. Foot, Tugenden und Laster, in: P. Rippe / P. Schaber, Tugendethik, a. a. O., S. 85. 39 MS A 39 ff. (IV, S. 532 f.): „Einleitung zur Tugendlehre": „Von der Menschenliebe".

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und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohltun, sondern: tue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt) in dir bewirken!" 40 Kant versucht also, das Handeln aus Neigung, den „amor benevolentiae", das Wohlwollen wieder zurückzubekommen. Er muss das Wohlwollen, die Neigung, aber fein säuberlich trennen von der Tat aus Wohlwollen. Die Tat ist allein Gegenstand der Pflicht. Diese Lösung kann deshalb nicht ganz bfriedigend erscheinen, weil nicht verständlich wird, wie aus „Handeln aus Pflicht", d.h. aus bloßer Achtung vor dem moralischen Gesetz, Wohlwollen gegenüber konkreten Menschen entstehen kann (die „Menschenliebe" von der Kant spricht, scheint ohnehin etwas abstrakt). Das wäre nur möglich, wenn „Handeln aus Pflicht" in uns die Neigung entstehen ließe, das Pflichtgemäße (hier: die Tat des Wohlwollens und das Wohl-Wollen gegenüber dem anderen selbst) zu tun. Genau in dem Masse handelten wir jedoch nicht mehr aus Pflicht und damit nicht mehr moralisch. Kants Lösung scheint also zu einem Widerspruch mit seinem eigenen Moralitäts-Kriterium zu führen. Es scheint aber auch gar nicht, dass Kant meint, das Wohltun werde dazu führen, Personen, die unseres Wohlwollens bedürfen, zu lieben. Es wird vielmehr die „Menschenliebe in uns" bewirken, also uns generell geneigter machen, aus Pflicht anderen Menschen wohl zu tun. Damit wird dann aber Menschenliebe wiederum auf Liebe zur Pflicht reduziert. Genau in diesen Zirkel fällt eine von Anfang an tugendethisch orientierte Ethik aristotelischer Art nicht.

Sittliche Tugend als Habitus des richtigen Wählens impliziert noch ein zweites: Die Handlungswahl ist, wie immerfort betont wurde, ein Akt des Willens. Sie ist jener Strebeakt, durch den das Handlungssubjekt sich selbst, aus der Mitte seiner Person heraus, auf ein Tun hinbewegt. Es genügt nicht, richtig zu handeln. Hier sei mit Absicht der Ausdruck „richtig" gebraucht. Denn gemeint ist: Es genügt nicht, das zu tun was „der Sache nach" gut ist. Man muss es auch tun, weil man das Gute will: Aus vernunftgeleitetem Streben. „Eine dem sittlichen Bereich angehörende Handlung aber ist nicht schon dann eine Handlung der Gerechtigkeit und Mäßigkeit, wenn sie selbst eine bestimmte Beschaffenheit hat, sondern erst dann, wenn auch der Handelnde bei der Handlung gewisse Bedingungen erfüllt, wenn er erstens wissentlich, wenn er zweitens mit Vorsatz, und zwar mit einem einzig auf die sittliche Handlung gerichteten Vorsatz, und wenn er drittens fest und ohne Schwanken handelt" 41 . Im menschlichen Handeln geht es ja nicht einfach darum, „gute Werke" zu verrichten, sondern selbst gut zu sein. Wir werden „gut" oder „schlecht" aufgrund unserer Willensakte, und das heißt letztlich: aufgrund dessen, was wir wählen und willentlich tun. Das ist der Unterschied zwischen sittlichem Handeln und Herstellen, zwischen sittlicher Tugend und Kunst: Beim Herstellen oder Kunsthandeln geht es - als solches betrachtet - allein darum, ein dem Handelnden äußeres Werk gut zu verrichten. Da werden Marmorblöcke und Holzscheite „vervollkommnet"; es werden Organismen wieder funktionstüchtig gemacht und Häuser gebaut; usw. Im Leben eines Menschen - damit dieses Leben als Vollzug gelinge - kommt es aber letztlich nicht auf solches an. Es geht darum, dass der Mensch selbst gut ist. Und gut ist der Mensch, wenn sein Wille gut ist. Denn dem Willen, und jedem mit Wille verbundenen Streben, ist es eigen, uns dem ähnlich zu machen, worauf er gerichtet ist, dem also, was wir intendieren und wählen. Das ist ja die Pointe dessen, was mit „Moralität" gemeint ist, die eben, wie Kant unüberholbar gesehen hat, deshalb auch zu nichts weiterem nützlich ist, als dazu, sich selbst als guten Willen hervorzubringen. Dennoch besitzt Moralität ein Telos als ihr inneres Strukturprinzip: Und das ist nicht - diesmal gegen Kant - Freiheit als

40 Ebd., A 40 f. (IV, S. 533). 41 EN II, 3 1105a 2 8 - b 1.

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Unabhängigkeit des Willens von empirischer Neigung, Spontaneität und Selbstgesetzgebung der Vernunft zur Sicherung dieser Freiheit, sondern Freiheit als Ausrichtung am Guten, das allein der Vernunft offen steht, denn durch Vernunft öffnen wir uns der Wahrheit, leben wir wirklichkeitsgemäß, finden wir uns selbst. Was man vernünftigerweise erstrebt, sättigt den Willen - auch wenn alles schiefgeht - , und diese Sättigung heißt Glück, auch wenn sie unvollkommen ist. Glücklichwerden ist, was wir alle eigentlich immer letztlich wollen. Glück aber ist das wahre Privileg des guten Willens. Deshalb ist nicht nur entscheidend, was wir tun, sondern auch wie wir es tun. Handeln aufgrund von kategorischen Imperativen und Güterabwägungskalkülen, das macht den Menschen weder gut, noch sättigt es seinen Willen, macht ihn also auch nicht glücklich. A u c h Lustbefriedigung als solche bewirkt nichts dergleichen. Freilich behauptet niemand, kategorische Imperative oder Güterabwägungskalküle hätten die A u f g a b e , den Menschen glücklich zu machen. Kategorische Imperative und das Handeln aufgrund ihrer soll ja, gemäß Kant, den Menschen der Glückseligkeit lediglich würdig werden lassen. Und Güterabwägungskalküle dienen, gemäß Meinung utilitaristischer Ethiker, lediglich dazu, das „Richtige" auszumachen, aber noch nicht, um „gut" (aus guter Gesinnung) zu handeln. Aber sowohl die Kantische wie auch die utilitaristische Ethik scheinen der Tatsache nicht gerecht werden zu können, dass der Mensch durch Handeln sich verändert und zum guten oder schlechten Menschen wird, und dies indem er Handlungen wählt. Und das heißt: Der Habitus des guten Zielstrebens, zum Beispiel von „Gerechtigkeit intendieren", entsteht gerade durch beständig wiederholtes Wählen gerechter Handlungen. Der sich kantisch verhaltende Mensch würde nie ein gerechter, sondern nur ein „pflichtbewusster" Mensch werden können (vgl. die obige Anmerkung), oder nur ein solcher, dem es um die eigene Glückswürdigkeit ginge, d.h. dann ein Pharisäer. Der Utilitarist hingegen - handelte er wirklich als konsequenter Utilitarist (was glücklicherweise nicht einmal Utilitaristen tun) und schaute er deshalb immer auf die Optimierung der Folgen für alle Betroffenen, auf das größte Glück der größten Zahl, oder auf den besten Zustand der W e l t - würde bestenfalls z u m Freund der Menschheit werden: Er würde das W o h l der Menschheit, der Welt, der Gesellschaft, der Gesamtheit von Betroffenen „lieben", aber keinen einzigen individuellen Menschen, - eigentlich nicht einmal sich selbst. Diese und er selbst wären vielmehr lediglich Einzelfaktoren in seinen A b w ä g u n g s k a l k ü l e n , die sich j a nur auf das W o h l der Gesamtheit, der Welt, der Menschheit, der Gesellschaft richtet. Der Utilitarismus hebt sich damit selbst auf, weil er die Grundlagen dafür zerstört, Kriterien für das menschlich Gute ausmachen zu können, gemäß denen das W o h l der Gesamtheit, der Welt, der Menschheit oder der Gesellschaft beurteilt werden könnte (s. V,4,f).

d) Die Ausformung der sittlichen Tugenden zum Habitus (I): Problematik der Aristotelischen Lösung und Ausweitung der Perspektive Der Begriff der sittlichen Tugend als Habitus des guten Wählens eröffnet auch den W e g zur Bestimmung, wie ein solcher Habitus überhaupt entstehen kann. Weiter zeigt sich, dass die Tugend als Habitus nicht einfach eine Art Gewohnheit oder Verhaltenskonditionierung ist, obgleich das „Erlernen" der Tugend doch eine, allerdings besondere, Art von „Gewöhnung" ist. Sittliche Tugenden erwirbt man durch Wiederholung der A k t e der entsprechenden Tugenden. Das heißt: Durch wiederholtes Wählen von gerechten, maßvollen, starkmütigen

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Handlungen mit dem Willen, durch diese Handlungen das jeweils in Wahrheit Gute zu erreichen. Das bedeutet auch, weil man eben Tugend noch nicht besitzt, zumindest nicht vollkommen, auch Anstrengung, innerlicher Kampf, sich überwinden können, sich enthalten, Selbstbeherrschung, usw., - und Verzeihen, wie auch Bereuen. So formt sich eine zunehmende Ausrichtung von Wille und sinnlichen Strebungen auf das Vernunftgemäße. Gleichwohl hat dies nichts mit bloßer Angewöhnung von Verhaltensweisen oder -mustern oder mit Internalisierung von Regeln und Normen zu tun. Das Entscheidende hier ist auch nicht die „Anstrengung", sondern die Beharrlichkeit in der affektiven Ausrichtung darauf, was die Vernunft gebietet. Dass sittliche Tugend nicht eine Art „Gewohnheit" ist, mag auch die Tatsache erhellen, dass sie gerade ein Habitus des Wählens ist. Sie befähigt in der Handlungswahl das Gute zu treffen. Dies Gute jedoch ist immer wieder anders; es ist kontingent und situationsbezogen. Hier gibt es Nuancen und Schattierungen, die unmöglich gewohnheitsmäßig getroffen werden können. Was aus bloßer Gewohnheit geschieht, besitzt vielmehr den Charakter des immer Gleichen, der Einförmigkeit und des Stereotypen. Das aber ist das genaue Gegenteil von sittlicher Tugend, der es ja nicht darum geht, das Konkrete unter das starre Muster eines Allgemeinen einfach zu subsumieren, sondern vielmehr die Allgemeinheit des sittlich Wahren und „Schönen" gerade in seiner Konkretion zu erfassen. Hier taugte eine Tugend, die bloße Gewohnheit wäre, gerade nicht. Auch hier wiederum kann Tugend nur als Potenzierung der Vernunft verstanden werden, die eben beim Tugendhaften richtig urteilt. Erwerb der Tugend heißt demnach immer auch Einübung in Überlegung und Urteil. Und ein zweites, gleichsam ästhetisches Element kommt hinzu: Das Gute, auch in seiner letzten Konkretion als „Mittel zum Ziel", besitzt für den Tugendhaften jene Qualität des „Schönen", die ihm die Evidenz des „Gefallens" verleiht. Beim Schönen fragt man ja nicht „wozu" es gefällt oder „wozu" es „schön" sei. Dem Tugendhaften nun „gefällt" das Gute, es entspricht seinem „Geschmack". In diesem Sinne ist, wie Gadamer zu recht sagt, nicht nur die Aristotelische Ethik, sondern diejenige der Griechen insgesamt, in der Tat eine „Ethik des guten Geschmacks" 42 . Das ist freilich eine Analogie. Aber sie bringt das hier Wesentliche zum Ausdruck: Wie der „gute Geschmack" im Ästhetischen keine bloße Gewohnheit, sondern vielmehr eben richtig gebildetes Urteil ist, welches das Allgemeine in seiner Konkretion zu fassen, an ihm Gefallen zu finden und ihm zuzustimmen vermag, so verhält es sich auch bei der sittlichen Tugend. Es wurde gesagt, Tugend werde erworben durch die Beharrlichkeit in der affektiven Ausrichtung darauf, was die Vernunft gebietet. Aber was gebietet die Vernunft? Wonach bestimmt sich denn nun dieses immer wieder genannte „Vernunftgemäße"? Diese Frage, die eigentlich normative Frage, drängt verständlicherweise nach einer Antwort. Sie steht aber hier noch nicht zur Diskussion. Die Aristotelische Lehre von der sittlichen Tugend wird uns erst ermöglichen, diese Frage richtig zu verorten und angemessen zu stellen. Was hier zunächst einmal ansteht, ist die Klärung des Modus der Vollkommenheit menschlichen Handelns, wie er sich aus der Anthropologie der menschlichen Handlung ergibt. Die Frage nach sittlichen Normen ist die nachgeordnete Frage nach den kognitiven Bedingungen dieser Vollkommenheit, eine Frage, auf die, dies sei bereits gesagt, die Aristotelische Ethik, ja klassische Tugendethik insgesamt, nur eine sehr ungenügende Antwort gibt. Die Aristotelische Ethik, und diese historische Anmerkung scheint hier zur Klärung der Sache angebracht, beschäftigt sich praktisch ausschließlich mit dem Modus des tugend42 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. 0 . , S. 37.

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gemäßen Handelns. Das ist ihr Thema43. Nun eröffnet sich jedoch hier der berüchtigte Zirkel der Aristotelischen Tugendlehre. Denn Aristotelische Ethik kennt zwei Grundprinzipien: (1) Es gibt keinen Habitus des richtigen Handlungsurteils (Klugheit) ohne sittliche Tugend. Und (2): Es gibt keine sittliche Tugend ohne Klugheit. Die Möglichkeit des Erwerbs sittlicher Tugend scheint diese bereits vorauszusetzen. Aristoteles akzeptiert diesen Zirkel als eine Tatsache, die sich einfach aus der Natur der sittlichen Tugend ergibt. Es handelt sich dabei nicht um einen Begründungszirkel, also einen Zirkel auf der Ebene der Argumentation. Vielmehr stehen wir vor einem Zirkel, der in der Struktur oder im „Organismus" tugendhaften Handelns selbst aufgewiesen wird. Dieser Aufweis treibt den Gang der moralphilosophischen Analyse weiter. Die Lösung ergibt sich für Aristoteles aus der Tatsache, dass seine Ethik das Leben des Bürgers der griechische Polis reflektiert. Die Lösung fächert sich näherhin in ein Vierfaches auf: Man muss sich nach den „Besten" im Staatswesen, d.h. denjenigen, die nach allgemeiner Meinung zu den Besten zählen, richten. An ihnen erkennt man, worin Tugend besteht, welches die wahren Ziele und Werte des menschlichen Lebens sind. Zweitens sollte man, sofern man wirklich entschlossen ist, ein Leben gemäß der Vernunft zu führen und darin schon ein wenig Erfahrung besitzt, sich selbst mit Ethik befassen, um so sich der Grundlagen eines vernunftgemäßen Lebens durch Reflexion zu vergewissern. Drittens jedoch geht es darum, die menschliche Gesellschaft der Polis nach guten Gesetzen zu ordnen, welche den Menschen zur Tugend hinführen. Und viertens ist, im Rahmen der Polis, entscheidend die Erziehung, sowohl innerhalb der Familie, als auch in ihren sozialen Institutionen. Die „Nikomachische Ethik" findet deshalb ihren Abschluss erst in den Büchern über die „Politik": Der Lehre über die „Polis", die Gesetzgebung und die Erziehung44. Die sittliche „Norm" ist demnach bei Aristoteles eine „Polis-Norm", die selbst wiederum Vernünftigkeit ist. Die „Besten" im Staat, etwa der immer wieder angeführte Perikles, erscheinen als Inkarnationen sittlicher Vernunft. Die Polis selbst ermöglicht, „dass man nach einer gewissen Vernunft und rechten Ordnung lebt, der zugleich nötigende Kraft beiwohnt"45. Das Gesetz wiederum besitzt „zwingende Kraft und ist zugleich ein Spruch, der von einer Einsicht und Vernunft ausgeht"46. Eine Analyse oder gar Theorie sittlich-normativer Prinzipien praktischer Vernunft, an denen das Handlungssubjekt auch unabhängig von der Einbindung in ein Polis-Ethos Orientierung fände, ist bei Aristoteles nicht entwickelt, obwohl eine solche Analyse in der Aristotelischen Ethik durchaus ihren Ort hat (s. unten V,l,f). Auch für Aristoteles ist tugendhaftes Handeln nie ein rein affektiver Vollzug oder reine Gewohnheit. Tugend besitzt eine rationale Struktur, und das betrifft auch die Zielstruktur der einzelnen Tugenden: Ihre Prinzipien besitzen notwendigerweise einen kognitiven Gehalt. Deshalb muss in Bezug auf sie grundsätzlich auch ein Begründungsdiskurs möglich sein, den nun allerdings Aristoteles ausschließlich dialektisch leistet: Als Aufweis derjenigen Meinungen über das Gute, die anerkanntermaßen als die Meinungen der besten Repräsentanten des Polis-Ethos gelten können. Die rein „hypoleptische" Interpretation der Aristotelischen Ethik als reine Polis-Hermeneutik jedoch entspringt wohl eher einer Uminterpretation im Geist des Neu43 Den ausführlichen Nachweis für diese These glaube ich in meiner bereits mehrfach zitierten Untersuchung „Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis" erbracht zu haben. 44 Die Überleitung wird in EN X, 10, dem letzten Kapitel von EN, explizit vollzogen. 45 E N X , 10 1180a 18. 46 Ebd. 22.

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hegelianismus (Philosophie als „ihre Zeit in Gedanken gefasst") und dem sogenannten „Neoaristotelismus" 47 . Genauer gesagt handelt es sich um eine Art Überinterpretation, weil die Aristotelische Ethik, wie gesagt, in Wirklichkeit thematisch eingeschränkt ist und damit solcher Interpretation gar nicht bedarf. Diese Einschränkung hat ihre Gründe. Aristoteles entwickelt nämlich seine Ethik in Polemik gegen und in bewusster Absetzung von der Tugendlehre der platonischen Akademie, der gemäß Tugend im allgemeinen Wisen um das Gute besteht. Aristoteles hält dem entgegen: Es kommt nicht auf das allgemeine Wissen um das Gute an, sondern darum, dass das Handlungsurteil, das zur Wahl führt und selbst affektiv eingebunden ist, das Richtige trifft. Und dazu bedarf es der Ordnung der Affekte. „Es kommt darauf an die Menschen dazu zu bringen, dass ihnen das schlechthin Gute zu einem für sie Guten wird, dass ihnen das an sich Gute auch als ein für sie Gutes erscheint"48. Genau dieses „Realisierungsproblem" ist Thema der Aristotelischen Ethik. Sittliche Tugend ist nicht einfach „Vernunft", sondern „Handeln und das heißt immer auch: Streben mit Vernunft" 49 . Im platonischen Phaidon wird nämlich die Meinung geäußert, dass die Affekte der Sinne schlechthin ein Hindernis für die Tugend seien. Die Sinne, überhaupt menschliche Leiblichkeit behindere die Erkenntnis der Wahrheit. Und in dieser Erkenntnis bestehe die wahre Tugend, die hier schlicht mit phronesis, dem für das Handeln relevanten Wissen identifiziert wird. Die Platonische „Phronesis" ist epistemisches Wissen, und dieses wiederum ist die ganze Tugend. Die Frage nach der Entstehung der Tugend ist hier die Frage nach der Erkenntnis von Wahrheit. Und das beste dafür wäre, so Piaton, wenn sich die Seele überhaupt vom Leibe trennen würde. Für den wahrhaft philosophisch Eingestellten ist das Erstrebenswerteste der Tod50. Die gesamte Aristotelische Ethik ist eigentlich Antwort auf diese These und deren Widerlegung. Tugend besteht, so Aristoteles, in der gemäß der Vernunft etablierten Ordnung in den Affekten, und der Habitus der richtigen Handlungswahl schließt deshalb einen Habitus der praktischen Vernunft ein, der selbst wiederum diese Ordnung der Affekte voraussetzt. Deshalb ist Phronesis untrügliches Wissen um das Gute; aber nicht aufgrund metaphysischer Aufgeklärtheit, sondern aufgrund affektiver Konnaturalität mit dem Guten, dank der das in Wahrheit Gute dem Handelnden auch als das Gute erscheint. Alles andere ist diesem Argumentationsziel untergeordnet. Der genannte Zirkel ist also nicht ein Argument gegen die Aristotelische Lösung, sondern geradezu ihre Pointe. Die Folge ist: Aristotelische Ethik führt notwendigerweise zu einer Theorie der richtigen Erziehung. Aristoteles hat eine solche auf seine Weise in seinen Büchern über die „Politik" geliefert. Die

47 Vgl. die verschiedenen, in ihrer Art eindrücklichen Beiträge zu Aristoteles in J. Ritter, Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1969, vor allem der aus dem Jahre 1967 stammende Aufsatz: „Politik" und „Ethik" in der praktischen Philosophie des Aristoteles (S. 106-132). Allerdings gehe ich mit Apels Kritik an der Ritter-Schule einig, dass Aristoteles eben deshalb kein „Neoaristoteliker" gewesen sei, weil für ihn nicht nur der Kontext der Polis zählte, sondern auch die diesen Kontext aufs Prinzipielle und Universale hin übersteigende metaphysisch-anthropologische Teleologie; vgl. K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, a. a. O., S. 412 ff. 48 G. Bien, Die menschlichen Meinungen und das Gute, in: M. Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, I, Freiburg/Br. 1972, S. 363. 49 EN VI, 13, 1144b 27-28. 50 Vgl. Piaton, Phaidon 63 E-69 E.

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Frage bleibt, ob diese Lösung nicht eine Ergänzung verlangt: Eine Ergänzung durch die Analyse der Möglichkeit einer praktischen Erkenntnis sittlicher Prinzipien, die die mittelbestimmende praktische Vernunft auch unabhängig vom Besitz der sittlichen Tugend zu leiten vermag, und die damit auch den Weg zu einer Theorie der kognitiven Bedingungen sittlicher Tugend und einem entsprechenden Begründungsdiskurs eröffnet. Darauf wird in KapitelV unter dem Stichwort „Strukturen der Vernünftigkeit" zurückzukommen sein.

e) Die Ausformung der sittlichen Tugenden zum Habitus (II): Erziehung zur Tugend. Autorität und Freiheit Der innere Zusammenhang zwischen Tugend und Politik, wie er bei Aristoteles noch eine Selbstverständlichkeit ist, ist uns heute nicht mehr geläufig und erscheint fragwürdig. Wohl auch deshalb, weil im Vergleich zur Antike die Moderne einen viel engeren Begriff des Politischen besitzt. A. Maclntyre hat wieder verdeutlicht, dass für Aristoteles praktische Vernünftigkeit der sittlichen Tugend bedarf und diese wiederum der Einbettung in die Polis 51 . Die Polis, das sind die Institutionen des Gemeinwesens, vornehmlich die Gesetze und die Rechtspflege; aber auch die Schule und allen voran die Hausgemeinschaft oder Familie. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind, wie Aristoteles betont, von Natur aus auf Freundschaft, auf gegenseitiges Wohlwollen ausgerichtet (vgl. dazu unten, IV,4). So gibt es „zwischen Mann und Frau von Natur aus eine Verhältnis der Freundschaft oder der Liebe"; denn der Mensch ist „von Natur noch mehr zur ehelichen als zur bürgerlichen Gemeinschaft bestimmt, da die Familie früher und notwendiger als der Staat ist" 52 . Auch zwischen Kindern und Eltern gibt es Freundschaft, die „auf Natur" beruht. „Das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern ist, wie das der Menschen zu den Göttern, eine Freundschaft mit dem Guten und Überlegenen. Denn die Eltern haben ihren Kindern die größten Wohltaten erwiesen: sie haben ihnen das Dasein geschenkt und sie ernährt und später für ihre Erziehung Sorge getragen" 53 . Dies dürfte den Schlüssel dafür bilden, wie Erziehung zur Tugend überhaupt möglich ist. Das zu lösende Problem ist: Wie können wir wissen, welche Handlungen wir vollziehen sollen und, vorausgesetzt, die Tugend ist noch nicht herangebildet, aufgrund welcher Motivation können dann Handlungen, die der Tugend entsprechen, vollzogen werden? 54 Die Antwort lautet: Aufgrund der Anerkennung der Autorität anderer. Aber damit solche Anerkennung tatsächlich zur Tugend führt, d.h. nicht einfach zur (äußeren) Befolgung von Geboten, sondern zur Liebe zur Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Tapferkeit, usw., darf solche Anerkennung von Autorität nicht bloße Unterwerfung unter das Gebot eines anderen sein; vielmehr muss sie die Eigenschaften jener Art von Anerkennung besitzen, die auf dem Bewusstsein des Wohlwollens jener Person beruht, deren Autorität anerkannt wird. Wenn nun Aristoteles in der Tat meint, dass sowohl Könige wie auch Eltern „von Natur aus" unsere Wohltäter sind 55 (wobei „von Natur aus" meint: sie sind dies ihrem eigentlichen Wesen gemäß, auch wenn sie sich nicht entsprechend verhalten), so ist auch klar, dass es „von Natur aus" eine Anerkennung von Autorität gibt, die so viel meint wie Anerkennung des Wohlwollens dessen, der diese 51 52 53 54 55

Vgl. A. Maclntyre, EN Vili, 12 1162a Ebd., 4-8. Vgl. A. Maclntyre, EN VIII, 13 1161a

Whose Justice? Which Rationality?, a. a. O. S. 103-145. 17-19. Whose Justice? Which Rationality?, a. a. O. S. 113. 10 ff.

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Autorität ausübt. Solche Anerkennung ist wiederum eine Form von Freundschaft, Liebe, oder was die Römer die Tugend der „pietas" nannten. Damit dürfte Maclntyre recht haben, wenn er meint, Erziehung zur Tugend geschehe dadurch, dass der erste Schritt zur Tugend darin besteht, das aufgrund von Autorität Gebotene und Vorgelebte zu tun, um der Person, die Autorität ausübt, zu gefallen, d.h. „ihr zuliebe" 56 . Vor der Liebe zur Gerechtigkeit steht also die Liebe zu Personen, die Gerechtigkeit ausüben und uns darüber aufklären, was das Gerechte ist. Die affektive Orientierung auf das Gute hin wird also ermöglicht durch die Anerkennung dessen, der Autorität ausübt, als „gut", und damit auch durch die Anerkennung seines Lebens als „gutes Leben". Wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch auf Erziehung angewiesen ist, so müssen wir jedoch hinzufügen: Man kann die Instinktschwäche eines freien Wesens, wie des Menschen, nicht durch Nötigung ersetzen. Freiheit verlangt Erziehung in Freiheit. Autorität, will sie zur Tugend führen, darf also Freiheit nicht aufheben, sondern muss vielmehr gerade deren Ausübung bilden. Nun sind aber Freundschaft, Wohlwollen, Liebe gerade jene Beziehungsarten, die allein Autorität mit Freiheit zu vermitteln vermögen. Liebe zur Person dessen, der Autorität ausübt, ist die einzige Form der Anerkennung dieser Autorität, die durchgängig mit Freiheit im Einklang steht. Denn Liebe ist ja ein Akt der Freiheit (Liebe selbst kann nicht geboten werden; geboten werden kann nur die Tat, die von der Liebe gefordert ist). Somit ist Erziehung auch nicht einfach gleichzusetzen mit „Sozialisation". Diese ist im besten Falle ein (soziologisch identifizierbares) Ergebnis von Erziehung; im schlechteren Fall jedoch ist sie ein Surrogat für Erziehung: ein bloßes „Anerziehen" von Verhaltensmustern57. Dennoch trifft das Gesagte nur eine Seite des Prozesses. Da ja Erziehung zur Tugend immer auch Erziehung zur vernünftigen Einsicht zu sein hat, so muss dieser Prozess des Erwerbs der Tugend auch eine intellektive Seite besitzen. Erwerb der Tugend bedeutet auch, zunehmende Einsicht in das Gute zu gewinnen. Somit ist der Erwerb der Tugend keineswegs ein vernunftloser Prozess.58 Anerkennung von Autorität aufgrund des Bewusstseins des Wohlwollens dessen, der sie ausübt, bewirkt gerade jene affektive Leitung, welche die Potenzierung der Vernunft ermöglicht und zu eigener praktischer Vernünftigkeit befreit. Was sich somit im Prozess einer jeden wahren Erziehung vollzieht, ist eine Art „Transfer" der Tugend vermittels der affektiven Beziehung zwischen Personen. Am Ende jedoch steht mehr als die Ordnung der Affekte; das Ende des Prozesses ist die Befähigung zum eigenen, tugendgemäßen praktischen Urteil59. Gerade deshalb darf anfängliche, zur Tugend hinführende affektive Bindung 56 A. Maclntyre, a. a. O., S. 114. Ausführlicher findet sich Maclntyres Entwicklungs- und Erziehungstheorie der Tugend jetzt in seinem Buch Dependent Rational Anmials. a. a. O., S. 99 ff. 57 Vgl. dazu meine Ausführungen in: Sozialphilosophie und Familie. Gedanken zur humanen Grundfunktion der Familie, in: B. Schnyder (Hrsg.), Familie - Herausforderung der Zukunft (Familiensymposium der Universität Freiburg/Schweiz, November 1981), Freiburg 1982, S. 113-140; sowie: Familie und Selbstverwirklichung. Alternativen zur Emanzipation, Köln 1979. 58 Darauf wurde hingewiesen durch R. Sorabji, Aristotle on the Röle of Intellect in Virtue, in: Proceedings of the Aristotelian Society. New Series Vol. LXXIV (1973/74), S. 107-129, bes. S. 124 ff. 59 Dabei ist zu bemerken, dass hier tatsächlich ein Prozess des „Lernens" impliziert ist, der eine „inventive" Struktur besitzt. Der „Lehrer" ist dabei nicht einer der dem „Lernenden" Überzeugungen „einpflanzt"; vielmehr aktualisiert er dessen eigene Erkenntnisfähigkeit, so dass „Lernen" immer heißt, unter der Leitung eines anderen selbst zu Erkenntnis und Wissen zu gelangen. Vgl. dazu Thomas v. Aquin, De Veritate, q.l 1, a.l bzw. die Ausgabe von G. Jüssen, G. Krieger und H.-J. Schneider,

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an die Vorbild-Person von dieser nicht missbraucht werden. Erziehung zur Freiheit, ohne die keine Tugend möglich ist, bedarf auch eines Prozesses der Ablösung und der Herausbildung von Eigenständigkeit und Autonomie. Menschen werden dabei zu independent practical reasoners, zu eigenständigen moralischen, praktisch kompetenten Persönlichkeiten 60 Auf dem Weg dahin sind Konflikte zumeist unvermeidlich. Sie können produktiv verarbeitet werden, wenn die vorhergehende Phase ein Klima des gegenseitigen Vertrauens zu schaffen imstande war. Tugenden gibt es viele, und auch viele Möglichkeiten, sie einzuteilen und über sie zu sprechen. Entscheidend ist, im Auge zu behalten, dass sie gleichsam einen zusammenhängenden, lebendigen und dynamischen Organismus bilden. Darauf wird später noch einzugehen sein. Zunächst wollen wir uns nun der Charakteristik der einzelnen Tugenden zuwenden.

3. Der Organismus der sittlichen Tugenden: Kardinaltugenden und Einzeltugenden a) Der Begriff der Kardinaltugend Das Wort „Kardinaltugend" stammt vom lateinischen cardo, Türangel, Hauptpunkt, Angelpunkt. Kardinaltugenden sind also jene Tugenden, die sich zu den einzelnen Tugenden wie die Türangel zur Türe verhalten: An ihnen sind die einzelnen Tugenden „aufgehängt"; sie ruhen und bewegen sich in ihnen. All das ist freilich nur ein Bild, um die vier klassischen Haupttugenden zu charakterisieren. Diese sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Maß und Starkmut (oder Tapferkeit). Diese Systematisierung findet sich bei Aristoteles nicht; sie geht in ihren Ansätzen auf Piaton zurück und gehört seit der Stoa61 zum festen Bestandteil auch der römischen (Cicero, Seneca) und seit dem Sakramententraktat und dem Lukaskommentar des Ambrosius von Mailand der christlichen Tradition. Im Folgenden orientieren wir uns im wesentlichen an der von von Thomas v. Aquin gebotenen Darstellung. Genauer betrachtet lässt sich eine Tugend in zweifacher Hinsicht „kardinal" nennen. Erstens indem wir sie als allgemeine Tugenden betrachten, bezüglich derer alle anderen Tugenden Unterarten sind. Insofern gibt es dann die Kardinaltugenden als solche gar nicht; es handelt sich um Gattungsbegriffe, die sich auf die jeweiligen Vollkommenheiten eines Vermögens beziehen: „So nennt man jede Tugend, die das Gut der Vernunfterkenntnis bewirkt, Klugheit; und jede Tugend, die das Gut des Angebrachten und Rechten in den Handlungen herstellt, Gerechtigkeit; und jede Tugend, welche die Leidenschaften mäßigt und zügelt, Mäßigkeit; und jede Tugend, welche das Gemüt gegenüber irgendwelchen Leidenschaften stärkt, Starkmut" 6 2 . Insofern gehört also jede sittliche Tugend zu einer der vier Kardinaltugenden; diese stecken das ganze Feld der sittlichen Tugend ab.

Thomas von Aquin. Über den Lehrer (De magistro), Hamburg 1988. Zum Begriff der „inventio" s. auch M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, S. 221 ff. 60 Vgl. A. Maclntyre, Dependent Rational Animals, a. a. O., S. 81 ff. 61 Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen VII (über Zenon), a. a. O. Bd. 2 S. 54. 62 I—II, q. 61, a. 3.

3 . KARDINALTUGENDEN UND EINZELTUGENDEN

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Zweitens können wir die Kardinaltugenden selbst wiederum als spezielle Tugenden, also als Tugend-Arten oder Einzeltugenden betrachten. Dann benennt man mit ihrem Namen jenen Habitus, der den Akt, der ihnen der Wichtigste und Hauptsächlichste ist, vervollkommnet. So ist die Klugheit die Tugend des imperativen, befehlenden Aktes der handlungsbestimmenden Vernunft, die Gerechtigkeit jene Tugend, die Handlungen in angebrachter Weise unter Gleichen regelt; die Mäßigkeit die Tugend, die das Lustbegehren des Tastsinnes, der Berührung usw. moderiert; der Starkmut die Stärke des Gemütes vor drohender Todesgefahr. Wenn wir von „Teilen" der Kardinaltugend d.h. von ihr zugehörigen Einzeltugenden sprechen, so beziehen wir uns also auf die erste Bedeutung von „Kardinaltugend" und fügen ihnen die Kardinaltugend im zweiten Sinne als die jeweils wichtigste und letztlich entscheidende Einzeltugend hinzu. „Teil" kann aber etwas in dreifacher Weise sein: (1) Als Teil-Bereich (pars subiectiva): Wie die Spezies „Mensch" (neben „Löwe", „Geier" usw.) ein Teil der Gattung „sinnenbegabtes Lebewesen" ist, so gibt es auch „Arten", „Spezies" der Gattungen „Gerechtigkeit", „Starkmut" usw. So gibt es eine Klugheit im Bereich des individuellen Handelns, im Bereich bestimmter sozialer Zusammenhänge (z.B. der Familie) oder im Bereich der Gesellschaft, des Staates, des Regierens (politische Klugheit). Die Gerechtigkeit bezieht sich auf den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen (sog. Tauschgerechtigkeit, z.B. Vertragsgerechtigkeit; sie heißt kommutative Gerechtigkeit); auf den Bereich der Beziehungen übergeordneter gesellschaftlicher Institutionen (Staat, Arbeitgeber) zum einzelnen bezüglich der Verteilung von Gütern: dies ist die Verteilungsgerechtigkeit oder distributive Gerechtigkeit. Drittens gibt es Gerechtigkeit auch umgekehrt in den Beziehungen des einzelnen zur Kompetenz, Gesetzgebung usw. der übergeordneten Instanz, vor allem dem Staat: Dies ist die Gesetzesgerechtigkeit oder legale Gerechtigkeit. Die Tugend des Maßes bezieht sich vornehmlich auf Essen, Trinken und den Geschlechtstrieb: Für die erste gibt es im Deutschen keinen eigenen Namen (das lateinische „abstinentia" ist missverständlich), die zweite mag man mit „Nüchternheit" („sobrietas") bezeichnen; die dritte ist die Keuschheit (die nicht mit „Enthaltsamkeit" gleichzusetzen ist). (2) Als Bestand-Teil (pars integralis). Wie sich ein Haus aus Backsteinen, Balken, Fensterrahmen, Glasscheiben, Türen, Dachziegeln usw. zusammensetzt, so gibt es auch Teiltugenden, deren Akte gleichsam die Bestandteile der entsprechenden Kardinaltugend ausmachen und alle in jedem Teilbereich notwendig sind, damit der Akt der betreffenden Tugend in vollkommener Weise vollzogen werden kann. So gehört zur Klugheit etwa die Umsicht und die Erfahrung; zum Starkmut die Großzügigkeit, die Geduld, die Beharrlichkeit, zum Maß die Bescheidenheit, die Schamhaftigkeit, der Anstand. (3) Möglichkeitsbedingungen oder „beigesellte" Tugenden (pars potentialis): Diese Einzeltugenden haben etwas mit der Kardinaltugend gemein, sind gleichsam Bedingungen dafür, dass sie möglich wird, ohne dass sie jedoch ganz die Charakteristik der entsprechenden Tugend erfüllen. Der Klugheit beigesellt sind die Tugend des guten Überlegens (Euboulia) und die Tugenden des guten Urteilens (Synesis und Gnome); der Gerechtigkeit z.B. Religion, Dankbarkeit, Wahrhaftigkeit, Gefälligkeit oder Freundlichkeit (affabilitas), Hochherzigkeit oder Freigebigkeit (liberalitas, der die Habsucht, avaritia, gegenübersteht), Billigkeit (Epikie); die Tugend des Maßes kennt z.B. die Enthaltsamkeit, den Sanftmut.

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So eindeutig ist die Unterteilung allerdings nicht. Und dem Namen nach Gleiches ist oft verschieden. So gibt es die Leidenschaft des Zornes, die zum Starkmut führen, diesem aber auch entgegengesetzt sein kann. „Zorn" kann aber auch ein Laster benennen, und zwar ein solches, das der Tugend des Maßes, und insbesondere: derjenigen der Sanftmut entgegengesetzt ist (Zornsucht, Jähzorn). Es geht hier aber nicht um Namen, und auch nicht darum, alles lückenlos und vollständig zu systematisieren 63 . Das zeigt sich auch in der Benennung der Laster. An sich ist jeder Tugend ein Laster entgegengesetzt, und man erkennt ein Laster gerade aufgrund der Erkenntnis der entsprechenden Tugend, der Vollkommenheit, der das entsprechende Laster entgegengesetzt ist. Die Tradition hat jedoch ein „System" der sogenannten Haupt-Laster (vitia capitalia) entwickelt, das mehr der Realität, wie sie sich phänomenologisch aufweisen lässt, entspricht, als dem Katalog der Tugenden („Haupt" ist nicht im Sinne von „hauptsächlich" zu verstehen, sondern von caput, „das Haupt": es sind jene Laster, denen andere entspringen und die gleichsam deren ausführende Organe sind). Die klassischen sieben Hauptlaster werden wiederum auf zwei „Häupter" zurückgeführt: Den Hochmut und die Habsucht. Der Hochmut ist die Abkehr des Willens von Gott, die Habsucht (coditia) das ungeordnete Begehren nach endlichen Gütern. So gibt es vier Hauptlaster, die dem Hochmut entspringen: Sie erstreben Aspekte des Glücks in ungeordneter Weise und sind wohl am ehesten der Tugend des Maßes entgegengesetzt. - Eitelkeit ist das ungeordnete Begehren nach Gütern der Seele, insbesondere nach der eigenen Vortrefflichkeit. - Völlerei ist das ungeordnete Begehren nach Gütern des Leibes, bzw. nach Lust im Bereiche des Ernährungstriebes. - Unzucht ist dasselbe im Bereiche des Sexualtriebes. - Geiz (oder Habsucht im engeren Sinn) ist das ungeordnete Begehren nach äußeren Gütern, eigentlich eine Art ungeordnete Selbstgenügsamkeit.

Drei andere Hauptlaster entspringen der Habsucht (im weiteren Sinne, coditia). Sie haben es mit Affekten des Mutes zu tun (sind also der Tugend des Starkmutes entgegengesetzt) und sie entsprechen Reaktionen, die dadurch hervorgerufen werden, dass etwas, das man als „gut" erkennt, subjektiv als Übel empfunden wird. - Trägheit des Geistes (acedia) ist die Traurigkeit bezüglich geistiger Güter wegen der Anstrengung, die erfordert ist, sie zu erreichen. - Neid ist Traurigkeit über die Güter (Erfolge, Talente usw.), die andere besitzen, eine Traurigkeit, die durch das Streben nach der Alleingeltung der eigenen Vorzüge hervorgerufen wird. - Zorn ist die Verbindung von Neid mit einem Rache- oder Vergeltungsaffekt (hier ist „Zorn" als Laster, nicht als Leidenschaft, die auch gut sein kann, begriffen).

63 Thomas systematisiert vor allem aus didaktischen Gründen, versteht sich doch seine „Summa Theologiae" gemäss dem Prooemium als „Lehrbuch für Anfänger". Es geht darum, in einen großen Stoff Ordnung zu bringen, was allerdings keineswegs bedeutet, dass diese Ordnung nicht auch systematische Zusammenhänge zum Ausdruck bringt. Aber es geht nicht um ein „System", etwa im Sinne des deutschen Idealismus.

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Dieser Katalog der Hauptlaster reflektiert eine differenzierte und auch realistische Anthropologie. Heilmittel gegenüber diesen hauptsächlichen Depravationen des Menschseins sind gerade die sittlichen Tugenden. Alle sittlichen Tugenden erweisen sich damit auch als für das zwischenmenschliche Verhalten äußerst bedeutsam. Wird doch Gerechtigkeit häufiger etwa durch Neid, Habsucht, Eitelkeit und alle Formen von Unmäßigkeit verletzt, als durch eigentliche Ungerechtigkeit. Dennoch wird der Wille ungerecht, sobald er beginnt, in diese Schwächen einzuwilligen, sie zu rechtfertigen, so dass sie zu eigentlichen Handlungsprinzipien werden, welche die praktische Vernunft zu leiten beginnen. Ungeordnetes Erstreben begrenzter Güter und der Hochmut als Abkehr des Willens von Gott (Irreligiosität, was nicht identisch ist mit Atheismus) sind aber die letzten Wurzeln aller Ungerechtigkeit. Dennoch ist diese Struktur der Ungerechtigkeit nicht identisch mit der moraltheologisehen Struktur der Sünde als „Abkehr von Gott" (aversio a Deo) und „ungeordnete Zuwendung zu den Geschöpfen" (conversio ad creaturas). Sie ist nur ein Ausschnitt aus dieser letzteren Struktur. Denn die theologisch reflektierte „Abkehr von Gott" ist eine Abkehr von Gott als letztem Zielgut, also Verlust der Tugend der Caritas, die hier gar nicht zur Rede steht. Auf der der philosophischen Reflexion zugänglichen Ebene ist „Abkehr von Gott" lediglich eine bestimmte Art der Ungerechtigkeit, ein Verstoß gegen die Tugend der religio, die noch zur Sprache kommen wird.

b) Die objektive Differenzierung (Spezifizierung) der Tugenden Einzelne Vermögen charakterisieren und differenzieren sich durch ihre Akte, und Akte wiederum durch ihre Objekte. Ein Habitus eines Vermögens ist Disposition zum vollkommenen Vollzug der entsprechenden Akte. Folglich differenzieren sich solche habituellen Dispositionen ebenfalls durch die Objekte jener Akte, deren Vollzug sie vervollkommnen. Die Frage nach der inhaltlichen Identität von Tugenden weist uns also zurück auf die Thematik der Identität von menschlichen Handlungen. Grundsätzlich müssen einzelnen Typen (Spezies, Arten) von Tugenden auch einzelne Typen intentionaler Basis-Handlungen zugeordnet werden können. Aber Tugenden beziehen sich nicht nur auf Handlungen im eigentlichen Sinn, sondern auch auf die Ordnung der Leidenschaften. Aber auch diese können ja zu Handlungen führen: Zu Sprach-Handlungen, Bewegungen der Köperorgane (z.B. ein Schlag), zu sexuellen Akten, usw. Generell dürfen wir sagen: So wie das intentionale „Wozu?" sich Handlungssinn-konstituierend zu einer bestimmten Handlungsmaterie verhält, so kann auch der objektive Gehalt einer jeden sittlichen Tugend formell nur auf der Ebene des intentionalen „Wozu?" bestimmt werden; nicht aber ist dies möglich bereits auf der Ebene der materialen Gehalte von Handlungen bzw. Affekten. So sagt Aristoteles, im Zusammenhang mit der Tugend des Starkmutes (Tapferkeit), dass das Aufsichnehmen von Leiden und das Gefahren Trotzen nicht schon für sich „Tapferkeit" sei; gewiss ist „leiden" und „Gefahren trotzen" Materie der Tapferkeit. Was jedoch tapfer im Sinne der Tugend ist, bestimmt sich nicht allein aufgrund der Materie, sondern noch mehr und entscheidend danach, wozu gelitten und Gefahren getrotzt wird. „Wer also erträgt und fürchtet, was man soll und weswegen man es soll und wie und wann, und wer in gleicher Weise Zuversicht hat, der ist mutig. Denn der mutige Mann leidet und handelt, wie es sich gebührt und die Vernunft vorschreibt. Das Ziel jedes Aktes aber ist ein dem Habitus Gemäßes. So ist es also der Mut, der dem mutigen Mann als das sittlich Gute vorschwebt und dieses Gute ist denn auch für ihn das Ziel, von dem ja jedes Ding seine Bestimmtheit erhält.

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Und so geschieht es des sittlich Guten wegen, dass der Mutige Leiden erträgt und tut, was dem Mut gemäß ist"64. Deshalb ist es möglich, „dass tapferes Verhalten in unterschiedlichen Situationen sehr Unterschiedliches bedeuten kann: einmal stehen bleiben, ein anderes Mal laufen; heute den Mund auftun, morgen schweigen; diesem etwas geben, jenem etwas verweigern; usw. Und nun sagt uns Aristoteles: Wenn ihr die gemeinsame Ausrichtung, die in diesen scheinbar disparaten Handlungen verwirklicht wird, benennen wollt, müßt ihr auf die Bezeichnung des Habitus (.Tapferkeit') zurückgreifen, dem alle diese Handlungen entspringen. Denn nicht nur findet ihr sonst keine Beschreibung, die auf dieses Stehenbleiben und jenes Laufen und die Verweigerung einer Unterschrift und... zutrifft. Darüber hinaus könnten diese verschiedenen Verhaltensweisen (in anderen Situationen) durchaus einem anderen Habitus (wie z.B. Feigheit; oder auch: Großzügigkeit usw.) entspringen" 65 . Dies zeigt: Mit dem Namen für einen jeden Habitus der sittlichen Tugend benennen wir bestimmte Spezies (Arten oder Typen) von Basis-Intentionalitäten. Wir können deshalb Tugenden in ihrem objektiven Gehalt - analog zu Handlungen überhaupt - nur intentional beschreiben und sie nicht an diesem oder jenem rein äußeren oder „physischen" Aktgeschehen festmachen. Das Reden über Tugenden wird deshalb, wie Aristoteles betont, immer ein Reden „in Umrissen" („typo") sein, also ein „typologisches" Beschreiben. Dennoch ist es freilich möglich, über eine bloße Phänomenologie der Tugend hinaus auch jeweils das entscheidende formelle Element zu bezeichnen, das den objektiv-intentionalen Gehalt verschiedener Tugenden spezifiziert. Während sich Aristoteles weitgehend auf eine Phänomenologie der Tugend beschränkt (und dabei, in sokratischer Tradition, auf historische Vorbilder und narrative Darstellungsweisen zurückgreift)66, bietet Thomas v. Aquin eine ausgearbeitete „Kriteriologie" der sittlichen Tugenden. D.h. er bestimmt die jeweilige Vernunftstruktur einer jeden Tugend: das für Tugend konstitutive intentionale „Wozu?" von Aktvollzügen und Affekten. Die objektive Differenzierung der Tugenden und ihre Kriterien braucht hier nicht im einzelnen dargestellt zu werden67. Es sollen jeweils einige Hinweise genügen, um die wesentliche Verbindung zwischen „sittlicher Tugend" und dem Begriff des Objektes intentionaler Handlungen einsichtig zu machen. Die äußeren Handlungen als solche - auch jene, in welchen noch irgendwelche Leidenschaften mit ihm Spiel sind - werden allesamt durch die Tugend der Gerechtigkeit geregelt. Handeln aufgrund von Leidenschaft ist nicht nur jeweils einer Tugend oder einem Laster des konkupisziblen oder irasziblen Strebevermögens zuzuordnen, sondern fällt zudem auch in den Bereich von „Gerechtigkeit" oder „Ungerechtigkeit". Handlungen besitzen immer einen Bezug „auf einen anderen", sei nun dieser ein MitMensch, oder Gott. Es findet sich in ihnen also das Erfordernis einer commensuratio ad alterum einer „Abmessung in Bezug auf den anderen", wo es jeweils ein „Geschuldetes" (debitum) und „Nichtgeschuldetes" oder Nichtangebrachtes (indebitum) gibt. Es handelt sich dabei um Rechtsbeziehungen. Das ist der Formalgrund von „Gerechtigkeit". Diese jedoch spezifiziert sich nun gemäß der Verschiedenheit der Handlungsmaterie, also verschieden konstituierten

64 65 66 67

EN III, 7,1115b 18-24. A.W. Müller, Praktische und technische Teleologie, a. a. O. S. 62. Vgl. z.B. EN III, 11. Vgl. dazu I—II, q. 60.

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Handlungsbereichen. Diese Bereiche bilden eine materia circa quam, d.h. eine „Materie" bezüglich derer („um die herum") die Handlung verläuft und deren Kommensurierung durch die Vernunft nun eben das Handlungsobjekt konstituiert (vgl. III,4,b). Aber das genannte „Debitum", das in Bezug auf den anderen Erforderte, ist wiederum verschieden je nach Handlungsmaterie. So konstituieren sich objektiv verschiedene Gerechtigkeitsbeziehungen zwischen Gleichen, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen; oder aufgrund von Verträgen, Versprechen oder Schenkungen. So gibt es auch objektiv verschiedene Tugenden, wie etwa die Religion, der gemäß Gott das ihm Geschuldete gegeben wird; die pietas, der gemäß man den Eltern und dem Vaterland das Zustehende erstattet; Dankbarkeit gegenüber dem Wohltäter. Es gibt Vertragsgerechtigkeit, Loyalität, Gerechtigkeit gegenüber dem Eigentum anderer; Gerechtigkeitsbeziehungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation (Wahrhaftigkeit); usw.68 Handlungen wie „Diebstahl", „Ehebruch", „Mord" oder „Lüge", von deren objektiver Identität wir früher sprachen, gehören also jeweils dem Bereich einer bestimmten Spezialtugend, bzw. eines entsprechenden Lasters an. Das betrifft ihren objektiven Gehalt, nicht unbedingt den Modus ihres Vollzugs. Damit ist gemeint: Es ist möglich, eine „objektive" Ungerechtigkeit zu begehen, aber nicht aus Ungerechtigkeit, sondern z.B. aus Zorn. Das Handeln ist dann nicht unbedingt ungerecht im Sinne des Lasters, des Habitus' also, sondern vielleicht nur ein solches aus bloßer Schwäche, obwohl freilich damit die Handlung dennoch eine ungerechte Handlung bleibt und damit objektiv dem Bereich eines Lasters angehört. Wer seinem Ehepartner untreu ist, der begeht zwar objektiv eine Ungerechtigkeit, die Handlung ist also objektiv schlecht, er handelt aber wohl nicht aus Ungerechtigkeit, sondern eher aus Leidenschaft. Die Umkehr oder Reue kann hier sogar bewirken, dass der Wille in der Treue zum Ehepartner gestärkt und der Betreffende gerade dadurch gerechter, treuer wird. Dies wird jedoch nicht der Fall sein, wenn er seinen Fehler nicht eingesteht und die Torheit begeht zu sagen, es sei nur ein kleiner Fehltritt gewesen und er habe dabei ja nichts Schlechtes gewollt oder beabsichtigt; so kann auch schließlich der Wille ein ungerechter Wille werden. Aber Schwäche verbunden mit Demut ist gerade ein Weg zum Erwerb der Tugend, wobei der andere hilft, indem er zu verzeihen weiß. Verzeihen ist einer der wichtigsten Akte des Wohlwollens gegenüber dem anderen.

Die sittlichen Tugenden, die es mit den Leidenschaften zu tun haben, differenzieren oder spezifizieren sich nicht aufgrund einer Abmessung „in Bezug auf den anderen", sondern in Bezug auf den Handelnden selbst, gemäß der Aristotelischen „Mitte in Bezug auf uns". Sie spezifizieren sich aber nicht aufgrund ihres Objektes als Leidenschaften (dieses formuliert lediglich die naturale Identität des Aktes), sondern hinsichtlich des Verhältnisses dieses Objektes zur Vernunft (welche erst die moralische Identität des Objektes konstituiert), denn „in der Moral kommt der Vernunft die Funktion des Befehlens und Bewegens zu" 69 . Sie konstituiert demnach auch das Objekt derjenigen Tugenden, die Vollkommenheiten der sinnlichen Strebepotenzen sind. So verhalten sich ja gewisse Leidenschaften als Leidenschaften geradezu konträr zueinander: Z.B. Trauer und Freude, Furcht und Kühnheit. Das heißt aber nicht, dass ihnen nun jeweils auch zwei verschiedene Tugenden entsprechen. In Bezug auf die Vernunft nämlich - das heißt als ihr Objekt oder bonum rationis - bilden sie eine objektive Einheit. Die sittliche Tugend 68 Vgl. ebd. a. 3. 69 Ebd., a. 1.

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wird in der vernunftgemäßen Mitte solcher Affekte bestehen: Nicht „zu viel" und nicht „zu wenig" Furcht und Kühnheit, Trauer und Freude, sondern so wie es angemessen ist. Welche jeweils die Mitte ist, ergibt sich nicht aus der Natur der betreffenden Leidenschaften, sondern aus der Beurteilung der Vernunft gemäß der Umstände, in denen sich das Handlungssubjekt befindet. Jemand, der sich immer nur und über alles freut, und unfähig zur Trauer ist, der besitzt nicht die Tugend der Freude. Denn man muss auch in mäßiger Weise über die Gegenwart wirklicher Übel zu trauern imstande sein, um solche Übel leichter fliehen 70 oder andere auch durch wahres „Mit-Leiden" und nicht nur durch schöne Worte trösten zu können. Bezüglich dessen jedoch, was gut ist, kann der Tugendhafte nicht trauern (das wäre das Laster der „acedia", oder Neid), denn das Gute ist das dem Tugendhaften „Konnaturale". Virtus delectat in propriis: „die Tugend ergötzt sich an dem, was ihr eigentümlich ist"71, und das ist ja das Gute.

Es ist auch möglich, dass bezüglich verschiedener Leidenschaften dieselbe Tugend besteht, und zwar aufgrund einer Abfolge-Ordnung unter ihnen, die sich wiederum aus der Beziehung zur Vernunft ergibt. So konstituiert die Ordnung der Vernunft bezüglich Liebe (als Leidenschaft des Befallenwerdens durch ein den Sinnen Begehrenswertes), nachfolgendem Begehren und sich daraus ergebender Sinnenfreude dieselbe Tugend, wie auch ihr Gegenteil: Hass, Flucht oder Abscheu und Trauer. Bei den verschiedenen Tugenden des Starkmutes jedoch ist es nicht so, weil hier keine Abfolge-Ordnung zwischen einzelnen Leidenschaften besteht. So konstituieren sich z.B. Starkmut (als Spezialtugend) bezüglich den Leidenschaften der Furcht und der Kühnheit; die Großherzigkeit bezüglich Hoffnung und Verzweiflung; die Sanftmut bezüglich des Zorns (wobei eben auch der Sanftmütigste aller Sanftmütigen in heiligem Zorn die Händler aus dem Tempel jagte, weil es in diesem konkreten Fall so angebracht war). Diese kurze Skizze sollte zeigen, wie alle Tugenden durch die ordnende, maß-gebende Funktion der Vernunft konstituiert werden. Die Analyse von menschlichen Handlungen und ihrer objektiven Identität fällt also zusammen mit der Analyse der objektiven Identität von sittlichen Tugenden. „Gut" und „schlecht" in den sittlichen Handlungen ist - gerade als Vernunftgemäßheit und deren Gegenteil - immer auch Tugend-Gemäßheit und deren Gegenteil. Und was der Tugend entspricht, das ist nicht nur das Gute, sondern immer auch das Richtige. Deshalb nennt Thomas im Prolog zu seiner speziellen Tugendlehre als Programm die Aufgabe, Verfehlung im Handeln aufgrund der jeweiligen Tugend zu erfassen, der diese Verfehlung entgegengesetzt ist, so dass der gesamte Inhalt der Morallehre auf die Analyse der Tugenden reduziert werden könne 72 . Sittliche Verfehlung ist ja immer ein willentliches Verfehlen des Guten, ein Mangel an erforderter Hinordnung des Willens auf das der Vernunft gemäße Gute, d.h. eine privatio boni: Das Übel „ist" gar nicht; es ist, als Mangel, eher ein Nicht-Sein. Nur im Lichte der Kenntnis des Guten können wir ein solches Nicht-sein als Mangel und damit als Übel erkennen; denn einen Mangel erkennt man nur, insofern man erkennt, wovon er ein Mangel ist.

70 Vgl. I-II, q. 59, a. 3. 71 Ebd. 72 Vgl. Prolog zu II-II.

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c) Klugheit Wie bereits angedeutet, ist die Klugheit eigentlich eine intellektuelle oder dianoetische Tugend eine Tugend des Verstandes also - die jedoch aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Streben und ihrer Funktion, die Handlungswahl kognitiv zu leiten, ebenfalls zu den sittlichen Tugenden gezählt wird. Die Tradition nannte sie die auriga virtutum, den Steuermann oder Wagenlenker der Tugenden. Sie wird auch als forma virtutum, Form oder „Seele" aller Tugenden bezeichnet; denn die den einzelnen Tugenden spezifische Affekt- oder Handlungsmaterie verhält sich eben zum Akt der Klugheit wie die Materie (circa quam) zur Form. Für die Beziehung zwischen Urteil der Klugheit und Materie der anderen Einzeltugenden gelten jene Strukturzusammenhänge, die in der Analyse des Handlungsobjektes aufgezeigt wurden 73 . Die Klugheit ist der Habitus des richtigen oder guten Handlungsurteils, jenes Urteils also, das die Handlungswahl (ein Willensakt) informiert. Alle besitzen wir von Natur aus eine gewisse Geschicklichkeit oder Gewandtheit der Vernunft, um Wege zu einem Ziel zu finden. Diese Gewandtheit - Aristoteles nennt sie deinotes - , eine „natürliche Tugend", oder Naturveranlagung, die einige mehr, andere weniger besitzen, ist jedoch noch nicht Klugheit (Kant allerdings identifizierte sie geradezu mit Klugheit). Sie kann auch Gerissenheit und Verschlagenheit (panourgia) sein. Es gibt eine nur scheinbare Klugheit, z.B. diejenige des raffinierten Steuerhinterziehers. Man kann auch sehr „klug" vorgehen, bei einem Bankraub oder sonst einer Schurkerei. Diese „Klugheit des Fleisches" ist jedoch keine Tugend, auch wenn sie mit manchem Können verbunden ist. Sie ist eben eigentlich gar keine Klugheit, denn sie verhilft j a nicht dazu, ein guter Mensch zu sein; sie ist nur ihr Schein, und trägt lediglich ihren Namen 74 . Wahre Klugheit ist jedoch die „Gewandtheit" der Vernunft für das Gute. Aber auch hier ist wieder zu unterscheiden: Auch ein Geschäftsmann oder ein Schiffskapitän kann j e n e Art von professioneller Klugheit besitzen, die ermöglicht, ein guter Geschäftsmann oder Schiffskapitän zu sein. Und beides, ein guter Geschäftsmann und ein guter Kapitän sein zu wollen, ist j a wiederum zumindest nicht schlecht und es könnte Bestandteil des Programms „Verwirklichung des Menschseins" sein. Vom guten Geschäftsmann als Geschäftsmann lässt sich etwa sagen: „Das war eine kluge Entscheidung. Dank ihr wurde das Unternehmen wieder saniert". Aber auch das ist nicht die Klugheit, die wir suchen. Die wahre Tugend der Klugheit intendiert jene Ziele, die für das Leben als Gesamtes, als menschliches Leben von Bedeutung sind. Sie ist die „Weisheit in den menschlichen Dingen" 7 5 , und mit diesen ist gemeint: Die das allgemeine Ziel des menschlichen Lebens betreffenden Dinge, ein Ziel, welches darin besteht, alle Strebungen gemäß der Vernunft auszurichten. Ein

73 Als höchst unglücklich muss die Formulierung Höffes bezeichnet werden, die aristotelische Phronesis oder Klugheit sei die „notwendige Ergänzung der Charaktertugenden"; vgl. O. Höffe, Aristoteles' universalistische Tugendethik, in: Rippe/Schaber, Tugendethik, a. a. O. S. 59. Die Klugheit ergänzt nicht die „Charaktertugenden" Gerechtigkeit, Starkmut und Maß sondern ermöglicht erst, dass diese überhaupt Tugenden sein können (und eben nicht nur bestimmte Charaktereigenschaften und Dispositionen, die auch zum Schlechten gebraucht werden könnten). Zweitens ist, wie wir sehen werden, die Klugheit selbst auch Charaktertugend, da sie untrennbar vom richtig disponierten Streben abhängt. 74 II-II, q. 47, a. 13. 75 Vgl. II-II, q. 47, a. 2, ad 1.

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„kluger" Geschäftsmann kann ja immer noch ein gerissener Schurke sein, auch wenn er sich als Geschäftsmann nichts zuschulden kommen lässt. Dennoch kann er als Mensch ungerecht sein; wenn er z.B. mit dem an sich ehrenwert erworbenen Gewinn unsaubere politische Geschäfte treibt. Und der „kluge" Schiffskapitän, der sich bezüglich Navigation und Mannschaftsbetreuung untadelig verhält und ein perfekter Kenner seines Faches ist, kann ja immer noch ein Pirat sein. Die Klugheit, der es zukommt, die „Mittel", also konkrete Handlungen auf ein Ziel hin zu bestimmen, ist also nicht einfach nur auf die Mittel und auf irgendeine Effizienz gerichtet. Oder anders gesagt: Damit eine Handlung auch moralisch effizient ist, muss auch ihr Ziel gut sein (vgl. 111,3). Im willentlichen Akt der Handlungswahl ist die Zielintention intentional präsent. Und ebenso muss im Akt der Klugheit die Ausrichtung auf gute Ziele intentional gegenwärtig sein. Sonst ist auch das konkrete Handeln schlicht und einfach nicht gut. Die Klugheit hat also, wie Handlungen überhaupt, irgendwie auch immer das Ziel zum Gegenstand; nicht aber, indem sie es bestimmt, sondern insofern sie davon gerade abhängig ist und eben immer auch „für ein Ziel", um eines Zieles willen urteilt. Beim Klugen stimmt also immer auch das „Wozu?". Die Klugheit konstituiert die praktische Wahrheit des Handelns. „Praktische Wahrheit" nennt Aristoteles jene Wahrheit, die sich durch Übereinstimmung mit dem richtigen Zielstreben konstituiert76. Diese Art von Wahrheit ist also ihrer Natur nach eine Mannigfaltige und, gemäß der Kontingenz der Handlungs- und Affektmaterie, auch „je wieder andere". Entscheidend dafür, dass eine Handlungswahl oder eine willentliche Handlung „praktisch wahr" ist, ist (1) die Richtigkeit oder das Gutsein des Zielstrebens; und (2) die Übereinstimmung der Handlung mit dieser Richtigkeit des Zielstrebens. Eine objektiv schlechte Handlung (Mittel) kann deshalb auch durch einen guten Zweck nicht „geheiligt" werden, weil es zwischen schlechtem Willen (Wahlakt) und gutem Willen (Intention) keine Möglichkeit von „Übereinstimmung" gibt.

Der Habitus der Klugheit bildet sich gerade dadurch aus, dass die natürliche „Gewandtheit" der Vernunft auf das Gute ausgerichtet wird. Darin sind nun wiederum drei verschiedene Akte impliziert. Der Prozess der Klugheit durchläuft gleichsam drei Phasen: Die Überlegung, das Urteil und den Befehl (zum Handeln). Die Überlegung bereitet den Akt des Beurteilens vor. Das Urteilen selbst jedoch führt noch nicht zum Handeln. Es mag mancher richtig urteilen, aber dennoch nicht handeln, - z.B. aus Furcht. Und das heißt: Er ist nicht eigentlich klug. Denn klug ist nur derjenige, der das Richtige und Angebrachte auch effektiv tut. Entscheidend ist also der letzte Akt: Der Handlungsbefehl, ein eigentliches imperium oder praeceptum der praktischen Vernunft 77 (Aristoteles nennt deshalb die Klugheit epitaktike: gebietend 78 ); dieser letzte gebietende Akt der praktischen Vernunft ist nichts anderes als der kognitive Aspekt des Wahlaktes des Willens. Die Klugheit ist vor allem imperium electionis, Befehl der praktischen Vernunft zum Handeln. Oder genauer: Die Klugheit ist die Tugend des imperativen Aktes der unmittelbar handlungsbestimmenden praktischen Vernunft19. Dieses Urteil der praktischen Vernunft ist ein solches der Art „p ist gut", „p ist hier und jetzt zu tun", das unmittelbar die Handlung auslöst. 76 77 78 79

Vgl. EN VI, 2 1139a 30. II-II, q. 47, a. 8. EN VI, 11, 1143a 8. Vgl. dazu A. Rodrfguez Luno, La scelta etica, a. a. O., S. 83 ff.

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Wieder ist hier daran zu erinnern, dass praktische Vernunft in den Prozess des Strebens eingebettete Vernunft ist (vgl. oben III,3,a). „Menschliches Handeln" ist ein Strebephänomen. Der Prozess der praktischen Vernunft ist nichts anderes als eine stetige Konkretisierung des Strebens, bis hin zur Wahl einer konkreten Handlung. Das letzte Urteil, das dieses Streben auf Handeln hin konkretisierend determiniert, ist das Urteil der Klugheit. In ihm sind alle vorherigen kognitiven und appetitiven Elemente intentional präsent. Der befehlende Akt der Klugheit kommt zustande, weil es ein in Streben eingebettetes Urteil ist. Und deshalb muss, damit dieser Akt gut ist, das Streben, in das er eingebettet ist, ebenfalls gut sein. Der Kluge ist der gute Mensch schlechthin, der Tugendhafte. Derjenige, der im Handeln, im Handlungsurteil bezüglich des Guten nicht irrt und die vernunftgemäße Mitte trifft. Deshalb sagt Aristoteles, dass Klugheit „ein untrüglicher Habitus vernünftigen Handelns ist in Dingen, die für den Menschen Güter und Übel sind." Zweck ist hier das „gute Handeln" selbst80. Das schließt nicht aus, dass gerade die Klugheit auch spezifische, den einzelnen Handlungsbereichen zugehörige Kompetenzen besitzen muss. Kluges Handeln eines Arztes z.B. bedarf auch der technischen Kompetenz des spezifisch ärztlichen Fachwissens. Und so in anderen Bereichen. Aber damit eine Handlung eines Arztes klug ist (im Sinne der Tugend), genügt es nicht, dass sie ärztlich geschickt oder kompetent ist. Man kann mit der ärztlich perfekten Durchführung einer Operation Unrecht tun (z.B. Abtreibung), und damit ist die Handlung unklug. Umgekehrt: Ohne zureichende Fachkenntnisse eine bestimmte Operation auszuführen, auch wenn ihre Durchführung an sich gefordert und gut wäre, ist nicht nur ärztlich falsch, sondern auch sittlich falsch, d.h. unklug. Wir würden dies „unverantwortlich" nennen; und dies ist eben ein Mangel an Klugheit. Im übrigen sei auf das früher über „richtig" und „gut" Gesagte zurückverwiesen (s. auch V,4,b).

Die Klugheit, sofern sie vollkommen ist, heißt nun eben Ausschaltung der Möglichkeit eines Wahlirrtums (error electionis). Das heißt nicht, dass es in jedem Fall nur eine gute konkrete Handlung gibt. Aber in jedem Fall wird die Handlung des Klugen gut sein - und wenn sie dennoch falsch ist, dann nur aus unverschuldeter Unwissenheit bezüglich eines Umstandes, dessen Unkenntnis nicht einem Mangel an Richtigkeit des Strebens entspringt. Die Klugheit ist damit im eigentlichen Sinne recta ratio, „rechte Vernunft", nicht weil hier die Vernunft die richtige Norm „anwendet", sondern weil „Klugheit" praktische Vernunft unter jenen Bedingungen meint, unter denen Vernunft selbst „Norm" zu sein vermag, weil sie hier wirklich Vernunft ist: Aufgrund des richtigen Zielstrebens und der Ordnung der Affekte durch nichts getrübtes oder abgelenktes Erkenntnislicht. Nun stellt sich jedoch wieder die Frage: Wie steht es dann, wenn die Klugheit „unvollkommen" ist; und wie überhaupt erwirbt man Klugheit, wenn sie doch den Besitz aller sittlichen Tugenden voraussetzt und diese selbst wiederum nur durch die Leitung der Klugheit entstehen können? Wie kann die im konkreten Handlungsurteil engagierte praktische Vernunft das Gute treffen unter der Bedingung, dass die Richtigkeit des Strebens nur unvollkommen ist? Wie kann sie das trotz Schwäche und entsprechender faktischer Möglichkeit der Wahlunwissenheit? Das sind die Fragen, die Aristoteles durch seine Polis-Ethik löst, eine Lösung, die uns heute kaum mehr ausreichend erscheinen wird. Wir brauchen eine Klärung darüber, wie der Mensch in einer gewissen Unabhängigkeit vom Habitus der Tugend jene Prinzipien zu erkennen vermag, die seine handlungsbestimmende praktische Vernunft auf das der Tugend 80 EN VI, 5 1140b 5-7.

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Entsprechende hin zu leiten vermögen. Gemäß Aristotelischer Handlungstheorie müsste auch dieser zielintendierende Strebeakt irgendwie von Vernunft geleitet sein81. Er kann nicht einfach einer Konditionierung entspringen. Und diese Vernunft, die sich auf die Ziele der Tugend richtet, d.h. auf deren Prinzipien, wäre dann gleichsam der kognitive Ursprung aller Tugenden, als eine praktische Vernünftigkeit, die auch unabhängig von und vor dem Besitz der Tugend Handeln zu orientieren vermag (s. V, 1-3). Zudem brauchen wir ein Zweites: Eine Klärung der Struktur des Handlungsurteils selbst, wie sie auch im Akt der Klugheit zumindest implizit, d.h. spontan vorhanden sein muss. Denn wenn auch ein jedes Klugheits-Urteil ein affektives Urteil ist, so bleibt es dennoch ein Urteil der Vernunft. Deshalb müssen in ihm auch Vernunft-Strukturen enthalten sein, die gesondert analysiert zu werden vermögen (V, 4). Dafür gibt es bei Aristoteles vielleicht Ansätze in seiner Lehre über die euboulia als der Tugend der rechten Überlegung, und der synesis und gnome als der Tugenden des rechten Urteilens. Dies ist jedoch nicht ausreichend zum Aufweis jener Grundstrukturen des sittlichen Urteils der praktischen Vernunft insofern sie eben nicht Habitus der Klugheit, sondern bloße praktische Vernunft ist, die zwar der Sache nach Kluges erkennt - also dem gemäß urteilt, was der Klugheit entspricht und wie der Kluge urteilen würde - , jedoch nicht aufgrund affektiver Konnaturalität mit dem Vernunftgemäßen, sondern einfach aus bloßer Vernünftigkeit (wie eine solche „bloße" Vernünftigkeit überhaupt möglich ist, wird dabei selbst zum Problem). Solche Strukturen drücken sich z.B. aus in formalen Prinzipien wie „Der Zweck heiligt nicht die Mittel" und „Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun". Solche Strukturen beziehen sich auch auf Fragen der Art: Tragen wir für alle Folgen unserer Handlungen die Verantwortung? Wie weit, und gemäß welcher Kriterien müssen wir also solche Folgen in unsere Handlungsurteile einbeziehen? Wie sind die Umstände, in der eine Handlung vollzogen wird, zu gewichten? Oder: Gibt es Handlungsweisen, die immer schlecht sind? Wie können sie identifiziert werden? Eine vierte Art von Fragen ist: sollen wir immer das als zu tun gut Erkannte auch wirklich tun? Und: Welchen Grad von Gewissheit über die Richtigkeit unserer Handlungsurteile braucht es, um handeln zu können? Anders gefragt: Unter welchen Bedingungen ist auch eine eventuell falsche Handlung eine gute Handlung, d.h. handeln wir aus unverschuldeter Unwissenheit? Dies sind Fragen über das Gewissen. Solche Fragen sind tatsächlich Fragen, die sich auf „Klugheit" beziehen, aber nicht insofern sie Habitus, d.h. eben sittliche Tugend ist82. Sie sind nicht Fragen, die sich die Klugheit im eigentlichen Sinne stellt oder zu stellen braucht, sondern eher Fragen über die Klugheit. Denn der Kluge im Sinne der Tugend wird gar nicht in die Lage kommen, sich zu fragen, ob denn nun der Zweck die Mittel heilige, um aufgrund eines solchen Urteils dann u.U. von einer Handlung abzulassen, zu deren Vollzug er anfänglich geneigt war; oder ob er seinem Gewissen folgen müsse. Insofern er den Habitus der Klugheit besitzt, wird er gar nie zu einer schlechten Handlung geneigt sein und sein spontanes, eben affektiv richtig geleitetes Handlungsurteil wird gerade immer den Befehl zu einer guten Handlung geben. 81 Dies wurde betont in der für die neuere Aristotelesinterpretation bahnbrechenden Arbeit von D. J. Allan, Aristotle's Account of the Origin of Moral Principles (1953), in: J. Barnes, M. Schofield, R. Sorabji (Hrsg.), Articles on Aristotle, Vol. 2: Ethics and Politics, New York 1977, S. 72-78. Vgl. auch J. D. Allan, The Philosophy of Aristotle, Oxford 1952 (Neuauflage 1970). 82 So wird die Lehre über die Klugheit entwickelt bei P. Geach, The Virtues, 2. Aufl. Cambridge 1979, S. 88-109.

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Aber bei wem ist das schon, zumindest immer, der Fall? Und kann nicht auch der Kluge auf ungewohnte Situationen stoßen, in denen er auf Strukturen „bloßer Vernünftigkeit" zurückgreifen muss (eine klassische lautet z.B. „in dubio pro reo", „im Zweifelsfall für den Angeklagten")? Sind nicht Handlungszusammenhänge und Folgenstrukturen oft so komplex und immer wieder neu, dass jeglicher Habitus eigentlich immer hinter dem zurückbleiben muss, was praktische Einsicht erfordert? In der Tat ist es so. Anderseits stellen sich auch heute die moralischen Grundfragen konkreter Lebensführung kaum anders als vor zweitausend Jahren. Es geht ja in unserem Leben zumeist und vordringlich nicht um hochkomplexe Entscheidungen, sondern um jene immer ähnlichen Lebensfragen im Bereich des Verhaltens zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen: Tod und Leben, Wahrhaftigkeit, Eigentum, Treue, Geduld, Beharrlichkeit, Mäßigkeit usw. Erst wenn hier Klarheit herrscht, können auch Fragen in Bezug auf das Handeln in komplexeren Zusammenhängen zufriedenstellend beantwortet werden, Fragen, bei denen es dann gleich um die Gesellschaft, die Menschheit, die Welt im Ganzen geht. Auch ihre Lösung bemisst sich letztlich an der Antwort bezüglich der erwähnten Grundfragen. Aristoteles betrachtet in der Tat nur den Fall der vollkommenen Klugheit, den Idealfall also. Er kennt zwar auch den unvollkommenen Menschen und analysiert ihn: Den Lasterhaften, den er für unverbesserlich hält, und den Unenthaltsamen der aus Schwäche das Schlechte tut, obwohl er eigentlich weiß, was gut wäre. Er besitzt einfach keine Klugheit, obwohl seine sittlichen Prinzipien gut sind. Wie Julia Annas jedoch festgestellt hat, stellt die antike Tugendethik insgesamt die im Vollsinne tugendhafte Person, die vollkommene Klugheit besitzt, als ein Ideal hin, das dann aber in einem als Entwicklungsprozess verstandenen sittlichen Leben durchaus als Ideal wirksam wird83. Gerade deshalb aber macht sich das Fehlen einer ethischen Theorie der „Strukturen der Vernünftigkeit" bemerkbar. Und auch Thomas v. Aquin füllt diese Lücke nicht wirklich auf. Das ist für einen Theologen, und das war ja Thomas letztlich, auch nicht weiter verwunderlich. Denn eine theologische Antwort gibt es ja für das Problem der unvollkommenen Klugheit: Die „Heilung der Natur" durch die Gnade und die Offenbarung der grundlegenden sittlichen Prinzipien als göttliches Gesetz. Diese Antwort ist natürlich theologisch die wesentliche und spezifische. Aber sie ist philosophisch belanglos, und theologisch ist sie unvollkommen, sobald man bedenkt, dass Offenbarung und Gnade ja immer Natur voraussetzen und ihr gleichsam zur Hilfe eilen. Das sollten sie also auch auf der Ebene des Handlungsurteils. Dann aber braucht es auch bereits natürliche Strukturen, die einer solchen Hilfe zugänglich sind, soll nicht schließlich alles in einem Offenbarungspositivismus und dem, was man - oft allerdings zu Unrecht - „Legalismus" nennt, enden. Deshalb schon bedarf es auch aus theologischen, zunächst jedoch aus philosophischen Gründen, einer Ergänzung der klassischen Tugendethik durch eine Ethik des Handlungsurteils und der diesem vorgelagerten praktischen Prinzipien. Das heißt es bedarf dessen, was man neuzeitlich-modern „normative Ethik" und „Moralphilosophie" nennt. Eine solche bietet auf, allerdings unbefriedigende Weise, der „Deontologismus" der Kantischen Ethik (ihr genialster Kritiker war Hegel). Nicht weniger unbefriedigend ist hier die utilitaristische Theorie des sittlichen Urteils, die heute auch unter dem Namen „teleologische Ethik" bekannt ist (s. V,4,f). Beide jedoch, sowohl die Kantische wie auch die utilitaristische Moralphilosophie, haben - gerade weil sie die klassische Tugendlehre hinter sich ließen ein 83 Vgl. J. Annas, The Morality of Happiness, a. a. O., S. 83.

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wahres Problem thematisiert, das heute auch in einer Tugendethik zur Sprache gebracht werden muss. Hier werden entsprechende Lösungen jedoch eine ganz andere Färbung erhalten. Die während der letzten drei Jahrzehnte in kantianischer Tradition entwickelt Diskursethik hingegen lässt wiederum das Spezifikum einer Tugendethik schon deshalb hinter sich zurück, da sie nur einen intersubjektiven Normendiskurs als Grund für mögliche Geltungsansprüche zulässt und damit von Anfang eher politische Ethik und Rechtsethik ist. Die klassischen moraltheologischen Handbücher entwickelten hingegen eine solche Ethik des Handlungsurteils: Eine, zumeist unvollständige, Theorie des Gewissensurteils; und die klassische Lehre über die „fontes moralitatis"84, Handlung mit Doppeleffekt u.ä., dies aber hauptsächlich als Anleitung um die Handlungen anderer beurteilen zu können. Der Grund für diese Eigenheit ist, dass diese Handbücher als Ausbildungsmittel für Beichtväter gedacht waren. Die Moral der Manuale reflektierte die klassische Weisheit der Tugendethik, wurde aber zunehmend nicht mehr in ihrem Kontext verstanden. Der neue Kontext war derjenige von „Gesetz" und „Gewissen", der schließlich zum sog. „Moralpositivismus" und „Legalismus" führt: Ein zumeist kasuistisches Reden über „Gebote" und die Bedingungen, wann und wie sie verpflichten und wie weit ihnen gegenüber der Freiheitsspielraum des einzelnen abgesteckt werden kann85. Heutige Kritik an legalistischer Moral bleibt dennoch nur allzu oft gerade ihren grundlegenden Kategorien verhaftet. So sieht man dann etwa nicht, dass „Gebote" eigentlich Wegweiser für „Tugend" sind und damit gerade auch Wegweiser für Verwirklichung von Freiheit; und man versucht letztlich nur, den durch sittliche Normen vermeintlich eingeschränkten „Freiheitsspielraum" des einzelnen zu vergrößern.

d) Gerechtigkeit (I): Gerechtigkeit als Wohlwollen und ihr sozialer Charakter Die Tugend der Gerechtigkeit ist die Vervollkommnung des Willens hinsichtlich des Erstrebens des „Guten für den anderen". Sie ist der feste und beständige Wille, „jedem das Seine", das ihm Zustehende zu geben, und zwar, wie bereits erwähnt (3, b), in den verschiedenen Bereichen der zwischenmenschlichen Beziehungen, die wiederum die verschiedenen Teile der Gerechtigkeit als Spezialtugenden bilden: Tausch-, Verteil- und Gesetzesgerechtigkeit. Wieso braucht der Wille zur Ausrichtung auf das Gut des anderen überhaupt eine habituelle Vervollkommnung? Thomas beantwortet diese Frage folgendermaßen 86 : Das Gut des anderen ist allein Gegenstand der Vernunft; die Sinne können nicht ein Gut für einen anderen, sondern nur ein solches für den Strebenden selbst erfassen und erstreben.

84 Dass diese Lehre kein Bestandteil sog. „normativer Ethik" ist, sondern jeweils bereits die Bestimmtheit von (objektiv) „gut" und „schlecht" voraussetzt, zeigt, m.E. grundsätzlich zutreffend, B. Schüller, Die Quellen der Moralität. Zur systematischen Ortung eines alten Lehrstückes der Moraltheologie, in: Theologie und Philosophie 59 (1984), S. 535-559. Vgl. auch: G. Stanke, Die Lehre von den „Quellen der Moralität". Darstellung und Diskussion der neuscholastischen Aussagen und neuerer Ansätze, Regensburg 1984; G. Höver, Sittlich handeln im Medium der Zeit. Ansätze zur handlungstheoretisehen Neuorientierung der Moraltheologie, Würzburg 1988. 85 Für eine Darstellung und Kritik vgl. S. Pinckaers, Les sources de la morale chrétienne. Sa méthode, son contenu, son histoire, Freiburg/Ue. - Paris 1985, S. 258-282. 86 Vgl. I—II, q. 56, a. 6.

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Damit z.B. Sexualität wirklich Subjekt von menschlicher Liebe und Tugend sein kann, muss sie immer mehr als bloße Sexualität sein, sonst bliebe sie rein selbstbezogen. Ebenfalls haben wir keinen Ernährungstrieb, der die Selbsterhaltung anderer erstrebt. Nur ein vernunftgeleitetes Streben ist dazu imstande. Aber der Ernährungstrieb als sinnliches und damit selbst-bezogenes Streben, dient nun einmal seiner Natur gemäß der Selbst-Erhaltung. Sexualität jedoch ist von Natur aus überhaupt nicht selbst-bezogen, sondern Bestandteil einer Beziehung zwischen zwei Personen, und deshalb muss sie immer auch auf das „Gute für den anderen" ausgerichtet sein (worunter auch das Gut der menschlichen Spezies fällt), was sie als bloße Sexualität, d.h. als Trieb, keineswegs vermag.

Wenn auch die Vernunft das Gut des anderen zum Gegenstand hat, so übersteigt dieses dennoch die „Proportion" des Willens. Was dieser mit naturhafter Spontaneität und Beständigkeit, d.h. habituell erstrebt, ist nur das eigene Gut. Das Streben des Willens muss sich demnach auch habituell gemäß der Vernunft ausrichten. Deshalb braucht es einen Habitus der Gerechtigkeit im Willen, d.h. Tugend. Damit ist keineswegs gemeint, dass der Mensch von Natur aus ein Egoist sei. Es gibt Prinzipien der Gerechtigkeit, die natürlicherweise vernünftig sind; so etwa die goldene Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu!" Oder ihre positive Formulierung: „All' das, was du willst, dass die andern dir tun, das tu auch ihnen!" Ähnlich auch: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Um solcher Prinzipien einsichtig werden und das in ihnen Geforderte erstreben zu können, bedürfen Vernunft und Wille an sich keiner Tugend. Deshalb kann Aristoteles sagen, der Mensch fühle sich dem Menschen wie ein Familienangehöriger verwandt und befreundet 87 . Es gibt gleichsam eine naturhafte Solidarität unter den Menschen, die nur durch habituelle Abkehr von Gerechtigkeit - durch das Laster der Ungerechtigkeit - zerstört wird. Ähnlich spricht auch Thomas von einem „natürlichen Instinkt", mit dem Menschen sich gegenseitig helfen und beistehen 88 . Das Problem besteht auf der Ebene des Habitus. Hier ist der auf das eigene Gut gerichtete Wille von Natur aus stärker. Er besitzt „natürlicherweise" eine habituelle Ausrichtung auf das eigene Gut und ist deshalb wiederum aus Natur geneigt, das eigene Gut dem Gut des anderen vorzuziehen. Erst der Habitus der Gerechtigkeit vermag dem Willen jene zweite Natur der sittlichen Tugend zu verleihen, die es ihm ermöglicht, das Gute für den anderen mit der gleichen habituellen Festigkeit, Beständigkeit und Freude zu erstreben, wie er das bezüglich des eigenen Gutes von Natur aus tut. Der gerechte Mensch freut sich über das Gute des anderen im gleichen Maße, wie er sich über das eigene Gute freut (und mit der Trauer über anderer Übel steht es gleich; die solcher tugendhafter Freude und Trauer jeweils entgegengesetzten Laster sind Neid und Schadenfreude). Dem Gerechten erscheint es deshalb ebenso angenehm und anziehend, das Gute für den anderen zu erstreben, wie das für ihn selbst Gute. Der andere wird für ihn zu einem alter ipse, zu einem „anderen Selbst" 8 9 . Er besitzt jene affektive Konnaturalität, die er von Natur aus nur in Bezug auf das ihm selbst Zuträgliche und Geschuldete besitzt, auch in Bezug auf jenes, was dem anderen zuträglich und geschuldet ist. Er liebt den Nächsten „wie sich selbst". Denn „lieben" ist in diesem Zusammenhang ja nur ein anderer Name für „wollen". Deshalb ist die Tugend der Gerechtigkeit bereits ein Habitus des „Wohl-Wollens" in Bezug auf andere, erste Realisation jener Liebe, die „FreundschaftsLiebe" (amor amicitiae oder amor benevolentiae) heißt. 87 Vgl. EN VIII, 1, 1155a 21-22. 88 Summa contra Gentiles, III, cap. 116. 89 EN IX, 4 1166a 32; I-II, q.28, a. 1.

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Die Gerechtigkeit hat es also von ihrem Wesen her mit der Beziehung zum Mitmenschen zu tun: zu ihm als Person, zu seinem Leben, seiner physischen Integrität, den materiellen und geistigen Gütern, die ihm zustehen. Gerechtigkeit zielt auf „einen gewissen Ausgleich" 90 , eine aequalitas, die den Charakter eines dem anderen jeweils Geschuldeten besitzt. Dieses ist das Recht des Mitmenschen, ius oder iustum, eine für den Handelnden aufgrund von Sachverhalten, Gesetzen und anderen Rahmenbedingungen existierende objektive Gegebenheit 91 . Genau sie ist Gegenstand der Tugend der Gerechtigkeit. Denn die Gerechtigkeit ist nichts anderes als „ein Habitus kraft dessen der Mensch mit beständigem und dauerhaftem Willen jedem sein Recht verleiht" 92 . Ungerechtigkeiten sind somit sämtlich Rechtsverletzungen. Sie entziehen dem Mitmenschen die Anerkennung durch die Verweigerung dessen, was ihm zusteht. Sie zerstören das Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten. Dabei unterscheidet Thomas eine allgemeine Gerechtigkeit von der speziellen. Erstere bezieht sich darauf, was wir den anderem in ihrer Allgemeinheit schuldig sind, d.h. auf das Gemeinwohl. Diese Priorität des Gemeinwohlbezugs mag erstaunen. Sie ist aber Ausdruck der Tatsache, dass für Thomas der Bezug zum Mitmenschen notwendig und immer auch vermittelt ist durch die gemeinschaftlichen Strukturen des Zusammenlebens in der Gesellschaft 9 3 . „Demnach können die Akte aller Tugenden zur Gerechtigkeit gehören, sofern sie den Menschen ausrichtet auf das Gemeinwohl" 94 Da es dem Gesetz zusteht, die Handlungen der Menschen auf das Gemeinwohl auszurichten, heißt diese allgemeine Gerechtigkeit auch „Gesetzesgerechtigkeit". In diesem allgemeinsten Sinn können auch „alle Laster, sofern sie dem Gemeinwohl entgegen sind, die Bewandtnis der Ungerechtigkeit haben" 95 . Immer wenn wir Böses tun verstoßen wir also - in diesem allgemeinsten und unspezifischen Sinne - gegen die Gerechtigkeit. Davon zu unterscheiden ist die spezielle Gerechtigkeit. Sie bezieht sich in direkter und unmittelbarer Weise auf die Beziehung zum Mitmenschen, sei es im Zuteilen von Gütern (iustitia distributiva), sei es im austauschenden Verkehr mit ihm (iustitia commutativa). Ungerechtigkeit ist hier eine „Unausgeglichenheit in der Beziehung zum anderen, sofern der Mensch zu viel von den Gütern, zum Beispiel Reichtum oder Ehren, haben will und weniger von den Übeln, zum Beispiel Arbeit und Schaden" 96 . So gibt es für jeden Gegenstandsbereich der Gerechtigkeit eine eigene ihr jeweils entgegengesetzte Ungerechtigkeit. Bei der speziellen Gerechtigkeit geht es, wie Thomas es ausdrückt, um „Koordination" mit dem Mitmenschen aufgrund äußerer Handlungen und hinsichtlich Sachen, mit denen diese Handlungen zu tun haben. Gerechtigkeit ist nicht zu trennen von gesellschaftlicher Koordination und Kooperation. Gerechtigkeit besitzt in ihrem Kern immer schon einen sozialen Charakter. Sie ist als solche schon die Tugend, durch die der Mensch, ganz unabhängig von Gesetzen, auf das Wohl der Gesellschaft und damit der Gesamtheit seiner Mitmenschen ausgerichtet ist. Deshalb ist

90 II-II, q. 57, a. 1. 91 Dies ist nicht zu verwechseln mit „Recht" im modernen Sinne eines subjektiven Rechts oder Rechtsanspruches („Recht auf etwas") 92 II-II, q 58, a. 1. 93 Vgl. auch das Kapitel „Individual and Social Justice" in: T. Gilby, Principality and Polity. Aquinas and the Rise of State Theory in the West, London, 1958), S. 219-27. 94 II-II, q. 58, a. 5. 95 Ebd., q. 59, a. 1. 96 Ebd.

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sie auch nicht von der Liebe - der Caritas - zu trennen, auch wenn sie davon in ihrem Wesen unterscheidbar bleibt. Grundlegend - auf der Ebene des Geschuldeten - erweist sich jedoch für Thomas Gerechtigkeit bereits als eine grundlegende Form jenes Wohlwollens, wovon die Caritas dann die letzte, gnadengewirkte Vollendung ist. Genau deshalb verstößt jeder die Gerechtigkeit verletzende Akt auch gegen die Liebe zum Mitmenschen, denn was der Gerechtigkeit entspricht, gerade das fordert zunächst und immer auch die Liebe (das Umgekehrte hingegen gilt nicht: die Liebe fordert manches, was die bloße Gerechtigkeit nicht verlangt). Jede Ungerechtigkeit bedeutet in irgend einer Weise Schädigung eines anderen, und jede Schädigung steht an sich im Gegensatz zur Liebe, welche dazu bewegt, das Wohl des anderen zu erstreben 97 . Sowohl Liebe wie auch Gerechtigkeit finden also ihre gemeinsam Wurzel im Wohlwollen gegenüber dem Mitmenschen. Die Liebe ist zwar eine höhere Form dieses Wohlwollens, welche die Gerechtigkeit ergänzt und übersteigt (so sagt es bereits Aristoteles bezüglich der Freundschaft). Aber gerade die gemeinsame Struktur des Wohlwollens offenbart Natur und Tragweite der Ungerechtigkeit: Sie impliziert ein unsoziales, unsolidarisches Verhältnis zum Mitmenschen unter den verschiedensten Aspekten. Thomas hat diesen Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Sozialbezug noch stärker zum Ausdruck gebracht als Aristoteles 98 . Für Thomas steht somit in jeder Ungerechtigkeit der Bezug nicht nur zum konkreten Mitmenschen auf dem Spiel, dem das Unrecht angetan wird, sondern auch die Beziehung zur Sozietät insgesamt und damit gewissermaßen potentiell zu jedem anderen Mitmenschen als Glied dieser Gemeinschaft. Die bekannten grundlegenden Formulierungen des Gerechtigkeitsprinzips („Jedem das Seine geben", „Niemandem Schaden zufügen" oder die Goldene Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu") mögen trivial erscheinen, Leerformeln, aus denen nichts zu gewinnen ist. Einer solchen Einschätzung würde jedoch der Fehler unterlaufen, das Grundlegende mit dem Trivialen zu verwechseln. In der Tat handelt es sich hier um Prinzipien, und das heißt um Ausgangspunkte jedes weiteren Gerechtigkeitsdiskurses. Ohne diese Prinzipien könnte es einen solchen Diskurs nicht geben. Mehr noch, in diesen Prinzipien, die selbst Inhalte von Urteilen der praktischen Vernunft des Handlungssubjekts sind, konstituiert sich der Mensch in seiner Identität als Sozialwesen und Subjekt von Gerechtigkeit. Darauf wird in Kapitel V zurückzukommen sein. Das genannte, die Gerechtigkeit auszeichnende Wohlwollen bezieht sich jedoch strikte gesprochen nur auf das „Recht" des anderen. Und „Recht" (Geschuldetes) gibt es in zweierlei Sinn 99 : Das, was „von Natur" aus Recht ist; und jenes, was durch menschliche Satzung ein Recht konstituiert („positives Recht"). Von Natur aus ist es ein Recht, für eine bestimmte Leistung eine äquivalente Gegenleistung zu erhalten. Eine zum Verkauf stehende Ware hat „von Natur aus" ihren Preis (aber nicht einen bestimmten). Ein Geschenk verlangt „von Natur

97 Ebd., a. 4. 98 Besonders wichtig ist deshalb auch die Tugend der Wahrhaftigkeit, die allerdings, mit dem ihr entgegengesetzten Laster der Lüge, erst später zu Sprache gebracht wird (II-II, q. 109 und 110, unter den partes potentiales der Tugend der Gerechtigkeit). Wahrhaftigkeit können wir als „Kommunikationsgerechtigkeit" verstehen: Gerade das Medium der Sprache ist Vorbedingung und fundamentalste Äußerung des menschlichen Sozialbezugs; Missbrauch und Zerstörung dieses Mediums wird von Thomas als in einem fundamentalen Sinne ungerecht betrachtet. Wir werden darauf zurückkommen. 99 Vgl. II-II, q. 57, a. 2.

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aus" den Dank des Beschenkten. „Aufgrund menschlicher Satzung" ist etwas Recht, wenn z.B. ein Vertrag geschlossen wird, oder aufgrund von Gesetzen usw. Solches begründet Rechts-Beziehungen. „Natürlich ist jenes [Recht], das überall die nämliche Geltung hat, unabhängig davon, ob es den Menschen gut scheint oder nicht; gesetzlich jenes, dessen Inhalt ursprünglich indifferent ist, das aber einmal durch Gesetz festgelegt, seinen bestimmten Inhalt hat, z.B. die Anordnung, dass das Lösegeld für einen Gefangenen eine Mine betragen, oder dass man eine Ziege, keine zwei Schafe opfern soll, femer gesetzliche Bestimmungen, die für einzelne Fälle getroffen werden, z.B., dass dem Brasidas geopfert werden soll, und endlich alles, was durch Plebiszite festgesetzt wird" ,0°.

e) Gerechtigkeit (II): Menschenrechte und politische Ethik „Menschenrechte" können wir jene Rechte nennen, die einem Menschen „von Natur aus" zukommen, ihm also nicht erst aufgrund menschlicher Satzung zugesprochen werden. Aber so wie eine jede menschliche Satzung z.B. im Bereich von Kaufverträgen, das von Natur Rechte modifiziert und konkretisiert, so wird auch menschliche Satzung immer MenschenRechte modifizieren. „Abstrakte" Menschenrechte, die in eben dieser Abstraktheit unbedingt einklagbar wären, sind eine fiktive Vorstellung. Etwa so, „als würde man mit einem Scheck in einem Gesellschaftssystem bezahlen wollen, das kein Geld kennt"101. „Menschenrechte" und „Naturrecht" sind immer geschichtlich variant, weil sie immer nur in geschichtlicher Konkretion auftreten können. Denn Menschen leben nun einmal in konkreten, sich wandelnden geschichtlichen Bezügen. Das heißt aber nicht, dass Menschenrechte selbst nur „geschichtlich" oder „relativ" oder gar, wie A . Maclntyre behauptet, „Fiktionen" sind102. Deshalb können Menschenrechte auch verletzt werden. „Religionsfreiheit" z.B. heißt, dass es jedem Menschen zusteht, jenen Gott zu verehren, den er im Gewissen als den wahren erkennt. Wenn andere Menschen, z.B. eine staatliche Autorität, einem Menschen die Verehrung „seines" Gottes verbieten oder ihm zur Ausübung einer Religion zwingen, der er im Gewissen nicht anhängt, so ist dies eine Verletzung eines Menschenrechtes. Es kann aber sein, dass sich diese Freiheit zum Schaden der Mitmenschen auswirkt, dass sie also das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen oder den Bestand der Gesellschaft zerstört. Wenn nun „Menschenrecht" abstrakt verstanden wird, so wäre auch unter diesen Bedingungen z.B. 100

E N V , 7 1134b 19-24

101

A . Maclntyre, Der Verlust der Tugend, a. a. O. S 96.

102

A . Maclntyre, a. a. O., S. 99. S. auch M . Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 400 f f . und E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996. Maclntyre argumentiert hier gegen A . Gewirth, Reason and Morality, Chicago 1978, S. 63 und seine These (in den Worten Maclntyres), „dass jeder, der die Grundvoraussetzungen für die Ausübung rationalen Handelns für notwendige Güter hält, logisch verpflichtet ist, auch ein Recht auf diese Güter zu behaupten" (Der Verlust der Tugend, a. a. O., S. 95). Maclntyre macht in diesem Zusammenhang zu Recht geltend, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was jemand braucht, und dem, wozu jemand ein Recht hat. Allerdings würde Gewirth dies wohl kaum leugnen. Er macht aber geltend, dass das genannte Prinzip den Anspruch gegenüber anderen Personen ausdrückt, ihn nicht solcher Grundvoraussetzungen („freedom and well-being") zu berauben oder ihnen entgegenzuwirken (vgl. Reason and Morality, a. a. O., S. 66). Sobald natürlich Drittpersonen mitgedacht sind, können u. U. aus qualifizierten Bedürfnissen Rechtsansprüche abgeleitet werden.

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ein Verbot der öffentlichen Ausübung dieser Religion als Verletzung der Religionsfreiheit zu betrachten und seine Einklagung führte zu einem unlösbaren Konflikt. Moderne Gesellschaften sind geprägt von solchen Konflikten, die sich aus der Berufung auf miteinander konkurrierende, abstrakte „menschenrechtliche" Forderungen ohne Hinblick auf das Gemeinwohl ergeben. Ein Menschenrecht, so fundamental es sein mag, ist immer Bestandteil der Gesamtheit der Rechtsbeziehungen einer bestimmten Gesellschaft und seine Wahrnehmung muss auch wiederum nach moralischen Kriterien beurteilt werden (obwohl das oft infolge mangelnden Konsenses gar nicht möglich ist). „Die anderen" haben ja auch „ihre" Menschenrechte. Z.B. das Recht auf ein geordnetes und friedliches Zusammenleben in einem Gemeinwesen. Oder würden wir das Verbot der Ausübung einer Religion, die Menschenopfer verlangt, als Verstoß gegen ein Menschenrecht betrachten? Folglich können Menschenrechte nicht in abstrakter Uneingeschränktheit gelten, auch wenn sie in sich unveräußerlich und unaufhebbar sind. Die abstrakte Idee eines „Naturrechts" ist eine Schöpfung der Neuzeit, die viele unverzichtbare Einsichten enthält, zugleich aber den einseitigen Geist des Rationalismus atmet. Auch eine Naturrechtstheorie müsste wieder im Kontext der Lehre über die Tugend der Gerechtigkeit aufgearbeitet werden. Abgesehen davon, dass dies nicht Aufgabe einer Einführung in die Grundlagen der Ethik sein kann, ist das Problem „Menschenrechte" letztlich ein Thema der politischen Philosophie, die ja gemäß klassischem Verständnis auch Abschluss und Krönung der Ethik bildet, da sie das Leben der Menschen in ihrer Gesamtheit zum Thema hat103. Es scheint deshalb gerade auf dem Hintergrund der Aristotelischen Wesensbestimmung des Menschen als eines politischen Lebewesens (zoon politikon) richtig und einleuchtend, dass es gar keine Menschenrechte geben kann, die gleichsam „vorstaatliche" Rechte sind, also Rechte eines Menschen, der außerhalb der gesellschaftlichen, politischen, staatlichen Existenz betrachtet wird, ganz einfach weil es einen solchen ungesellschaftlichen oder unpolitischen Menschen gar nicht gibt; eine solche Betrachtungsweise würde gerade das Wesen des Menschen als zoon politikon verfehlen. In diesem Sinne gilt durchaus: „Die Vorstellung, dass bestimmte Rechte natürliche Rechte sind, geht in der Geschichte weit zurück. Es entsteht leicht der Eindruck, als ob gewisse Dinge wie Privateigentum oder Versammlungsfreiheit eine von jeder Staatlichkeit losgelöste Existenz und Bedeutung haben könnten. In Wirklichkeit setzen sie aber alle eine staatliche Ordnung voraus. Es wäre deshalb sinngemäßer, diese Rechte als soziale und politische Rechte zu bezeichnen" 104 . Die Rede von „Menschenrechten" als „natürlichen" oder „vorstaatlichen" Rechten besitzt dennoch den plausiblen, wenn auch leicht missverständlichen Sinn, diese Rechte als ein „Sollen" dem jeweiligen faktischen „Sein" einer bestimmten, u.U. diese Rechte missachtenden gesellschaftlichen, politischen, staatlichen Realität entgegenhalten zu können. Nur des-

103

Vgl. Thomas v. Aquin, Proömium zum Kommentar der Aristotelischen „Politik", wo es heißt, die „Politik" sei unter allen praktischen Wissenschaften die erste und vollkommenste. Vgl. auch allgemein zum Mittelalter: G. de Lagarde, La Naissance de l'Esprit Laïque au déclin du Moyen Age (5 Bände), I u. II. Louvain-Paris 1956 u. 1958. 104 C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1953, S. 182. Vgl. auch das immer noch unverzichtbare Standardwerk von G. De Ruggiero, Storia del Liberalismo Europeo (1925), Reprint Roma-Bari 1984, bes. S. 25-34.

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halb können Menschenrechte ja auch in einem geschichtlichen Prozeß überhaupt als verfassungsrechtlich-institutionelle Realität verwirklicht werden 105 . Exakt diese verfassungsrechtlich-institutionelle Realität der Menschenrechte als einklagbare Grundrechte (Bürgerrechte), die durch eine unabhängige Justiz zur Geltung gebracht werden können, ist jedoch der politische und damit auch praktisch-reale Gehalt der Menschenrechte. Dies kann man gerade nirgends besser zeigen als am Beispiel der Religionsfreiheit: Hier handelt es sich nicht einfach um Toleranz, die von einem Souverän aufgrund allgemeiner Einsichten in die „Natur des Menschen" gewährt wird, sondern um ein institutionell gesichertes Grundrecht, dessen Sinn es gerade ist, Souveränität zugunsten der individuellen Freiheit verfassungsmäßig zu beschränken. Dies ist auch deshalb nötig, weil gerade die Auffassungen darüber, worin die menschliche Natur, die wahre Religion usw. besteht, institutionell gar nicht abgesichert werden können, ohne gerade die Grundrechte als persönliche Freiheitsrechte aufzuheben 106 . Es war gerade die Perspektive der Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils, Religionsfreiheit nicht als „abstraktes" Menschenrecht, sondern als Bürgerrecht (ius civile) einzufordern: Nicht mehr die „Wahrheit" hat nun das Recht auf gesellschaftliche Existenz, sondern die Person, der Bürger besitzt Rechte. Das bedeutet nun freilich auch, ohne den Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum aufzuheben, dass dem Irrtum mit politischen Mitteln nicht mehr begegnet werden darf, zumindest eben nicht einfach deshalb, weil er religiöser Irrtum ist, sondern wiederum nur aus politisch-rechtlichen Gründen, d.h. aus Gründen des Gemeinwohls bzw. der Verletzung der Rechte Dritter (vgl. das früher angeführte Beispiel). So verstanden ist das Bekenntnis zur Religionsfreiheit auch ein Bekenntnis zum politisch-institutionellen Pluralismus und zum Vorrang der persönlichen Freiheit des Gewissens (ohne deshalb auch schon ein Bekenntnis zum religiösen Pluralismus notwendigerweise einzuschließen, da dieser ja faktisch gar nicht gegeben sein muss; und noch weniger heißt dies, die Möglichkeit auszuschließen, dass nur eine Religion die wahre sei. Dies wäre nicht „fundamentalistisch", denn Fundamentalismus meint, einen solchen Anspruch mit politischen Mitteln durchsetzen zu wollen).

Deshalb wäre es falsch, den Appell, „die Menschenrechte zu verwirklichen", einfach als Aufruf an Souveräne oder Machthaber zu verstehen, sich bestimmter naturrechtlicher Prinzipien gemäß zu verhalten bzw. bestimmte Freiheitsräume und Rechte zu gewähren. Menschenrechte werden nicht von oben herab „gewährt", sondern sie werden „verankert", „abgesichert", „eingeklagt" und „durchgesetzt", und zwar immer von „unten her", gegen souveräne Gewalten und Machthaber, zur Beschränkung bzw. Inpflichtnahme ihrer Gewalt (was auch durchaus bezüglich der Gewalt des souveränen Volkes gilt: „Volkssouveränität" als politisches Absolutum begriffen ist wie jede unbeschränkte Souveränität mit der Idee der Menschenrechte unverträglich). Das Thema „Menschenrechte" ist deshalb immer auch das Thema „Freiheit des Individuums" und das Thema „Pluralismus". Eine wahrhaft politische Ethik, und sie tut not, kann sich nicht auf reine Tugendethik beschränken; sie muss auch Institutionenethik sein. Das ist,

105

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Eine gute Einführung bietet: M. Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 4. Aufl. Opladen 1990. Vgl. auch N. Bobbio, L'età dei diritti, Turin 1990. Vgl. auch klärend: E.-W. Böckenförde, Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt (Schriften zu Staat-Gesellschaft-Kirche, Band III), Freiburg i. B. 1990.

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trotz aller Vorbehalte, die Quintessenz neuzeitlicher politischer Philosophie von Hobbes über Kant und Hegel bis hin zu Rawls. Maclntyres „Anti-Modernismus" und sein „Zurück zu Aristoteles!" greifen hier etwas zu kurz und erscheint einseitig. Er übersieht auch, dass moderne politische Philosophie nicht Ursache der Konflikte der Moderne, sondern der Versuch ihrer Bewältigung ist107. Das Problem besteht in der Vermittlung und im Ausgleich zwischen Tugend- und Institutionenethik, eine Vermittlung, in der ein sich rein auf die Ziele und entsprechende ungeschichtlich reklamierte „naturrechtliche" Postulate beschränkender „moralisierender Fundamentalismus" überwunden wird und die Einsicht Boden gewinnt, dass politische Ethik als wirklich praktische Philosophie ebenso, wenn nicht gar vordringlich, von den Mitteln der institutionellen Verwirklichung von Frieden, Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit handeln muss, - das Grundanliegen des klassischen politischen Liberalismus. Es ist deshalb sinnlos, eine wertbezogene „Moral" einer rein „sachorientierten" Politik gegenüberzustellen. Das Auseinanderreißen von Zielen und Mitteln ist in der Perspektive der Praxis gar nicht möglich: Ziele können immer nur im Horizont von konkreten Mitteln praktische Gestalt und Wirksamkeit erlangen, und deshalb ist jede politische Moral, will sie wirklich Moral sein, notwendigerweise eine Aussage über politische Sachfragen im Sinne der in einer konkreten historischen Situation notwendigen institutionellen, rechtlichen, ökonomischen Erfordernisse politischen Handelns108 Wir brauchen hier jedoch nicht auf die Einzelheiten einer politischen Philosophie bzw. politischen Ethik einzutreten109. Ebenfalls ist hier nicht die Tugend der Gerechtigkeit in den verschiedenen menschlichen Bezügen darzustellen: als kommutative, distributive und legale Gerechtigkeit; als Lehre von der Regierung und gesellschaftlicher Partizipation an den „öffentlichen Geschäften". Auch hier eröffnen sich Disziplinen wie Rechtsphilosophie und Sozialethik, politische Philosophie und Wirtschaftsethik. Auch die Umweltethik gehört hier hinein, denn Umwelt ist nicht nur Bestandteil des guten Lebens einzelner, sondern auch des mitmenschlichen Zusammenlebens. Nicht die Umwelt jedoch hat Rechte, sondern der Mensch hat Rechte bezüglich der Umwelt, Rechte, die gegenüber solchen, die Umwelt zerstören, Ansprüche und damit Gerechtigkeitsbeziehungen begründen. Über verschiedene Aspekte von Gerechtigkeit wird noch im Zusammenhang mit den praktischen Prinzipien und dem Handlungsurteil zu sprechen sein. Auch die Gerechtigkeit gründet ja auf praktischen Prinzipien und wird im Konkreten von den Strukturen der Klugheit geformt.

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Vgl. dazu auch die Bemerkungen im Einleitungskapitel meines Buches: La filosofia politica di Thomas Hobbes, a. a. O. Die Widersprüche, in die sich Maclntyre's Kritik moderner politischer Philosophie verwickelt, werden - wenn auch nicht mit der nötigen Sensibilität für Maclntyres berechtigtes Anliegen - herausgearbeitet von S. Holmes, The Anatomy of Antiliberalism, Cambridge, Mass.-London 1993, S. 88-121 (dt. Die Anatomie des Antiliberalismus, Hamburg 1995). In dieser Perspektive steht das Buch von B. Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn 1991. Vgl. auch M. Rhonheimer, Lo Stato costituzionale democratico e il bene comune, in: Ripensare lo spazio politico: quale aristocrazia? (hrsg. von E. Morandi und R. Panattoni), „Con-tratto - Rivista di fdosofia tomista e contemporanea" 7 (1997), Padova 1998, 57-122. Für einige weitere Ausführungen vgl. auch Martin Rhonheimer, Perché una filosofia politica? Elementi storici per una risposta, in: Acta Philosophica 1 (1992), 233-263.

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I V . DIE SITTLICHEN TUGENDEN

f) Gerechtigkeit (III): Religion Von einer der Tugend der Gerechtigkeit beigesellten Tugend soll jedoch noch die Rede sein, der Tugend der Religion. Religion ist nicht nur ein Faktum, „etwas das es gibt", sondern eine zur Gerechtigkeit gehörende menschliche Tugend. Gerechtigkeit heißt, ja, einem jeden anderen das ihm Geschuldete geben. Was schuldet der Mensch Gott? Er verdankt ihm eigentlich genau das, was gar nicht zurückerstattet werden kann. Wenn wir auf der rein natürlichen Ebene verbleiben, so wollen wir einmal ausklammern, dass der Mensch Gott als Schöpfer erkennt. Das ist allerdings auch aufgrund von bloßer Vernunft möglich (aber es gibt auch Religion ohne den Begriff eines Schöpfergottes). Wird Gott als Schöpfer alles Seienden erkannt, dann wird der Mensch sein Leben als durch den erkannten Gott verliehenes Geschenk begreifen können, für das er Dank schuldet. Aber auch wenn er Gott nur als jenes Wesen begreift, das über allem steht, so wird er erkennen können, dass er diesem Wesen etwas schuldig ist, nämlich Ehrerbietung. Die Identität der verschiedenen Religionen hängt ab, von dem Gottesbild, das ihnen zugrunde liegt. Das ist eine Frage der Gotteserkenntnis und der Traditionen, in die ein Mensch in seinem kulturellen Umfeld hineingestellt ist. Es gibt aber Akte der Religiosität, die in irgend einer Form überall anzutreffen sind. Dass dies so ist, ist keinesfalls ein Argument für die Relativität aller Religion oder dagegen, dass es die eine wahre Religion geben könnte. Ein solcher Schluss widerspräche aller Logik. Vielmehr ist die Universalität des religiösen Phänomens (auch dort, wo Religion offiziell abgeschafft wurde) und die Vielfalt von Religionen gerade ein Argument dafür, dass Religion ein zutiefst menschliches Phänomen ist, dass nämlich, sofern man die Existenz eines Gottes anerkennt, die Vernunft bestimmte Akte gebietet, die sich als Akte der Gerechtigkeit auf diesen erkannten Gott beziehen. Auch wenn diese immer eine unvollkommene Gerechtigkeit ist; denn die vollkommene Gerechtigkeit gibt es immer nur unter Gleichen. Gegenstand der Akte der Religion ist nun nicht Gott selbst. „Gott" ist auf der Ebene der natürlichen Moral nie Gegenstand einer Handlung, weil er hier nicht Zielgut ist. Gegenstand sind gewisse Akte, die sich auf Gott beziehen, und mit denen seine Würde anerkannt und ihm die ihm geschuldete Ehrerbietung verliehen wird. Diese Handlungen nennt man Kulthandlungen. Sie sind, wie alle menschlichen Handlungen, zugleich äußerlich und auch innerlich (Willensakte) und können in drei Handlungstypen zusammengefasst werden: Anbetung, Gebet und Opfer. Alle Religionen kennen diese Kulthandlungen in irgend einer Form. Die Tugend der Religion besitzt eine architektonische Funktion im menschlichen Leben. Das heißt: Sie ordnet in ganz besonderer Weise vor allem den Willen des Menschen. Religion ist die grundlegende Garantie für Gerechtigkeit überhaupt, weil sie Demut einschließt, die den Menschen davor bewahrt, eigene Vortrefflichkeit in ungeordneter Weise zu erstreben. Genau dies ist ja, was auch die zwischenmenschliche Gerechtigkeit zerstört. Allerdings: Religion kann auch fanatisch sein. Zeichen davon ist, wenn im Namen der Religion bzw. religiöser Verheißungen fundamentale Prinzipien menschlicher Gerechtigkeit - z.B. das Tötungsverbot oder die Achtung vor dem Gewissen anderer - für obsolet erklärt werden bzw. wenn dies zur grundsätzlichen Missachtung der Rechte anderer führt, oft verbunden mit einer egozentrischen subjektiven Heilsvergewisserung (zu denken ist etwa an Selbstmordattentäter u. ä.)110. In der Regel ist 110

Vgl. auch den nächsten Abschnitt über die Tugend des Starkmutes.

3 . KARDINALTUGENDEN UND EINZELTUGENDEN

213

jedoch fanatische Religion gar kein religiöses, sondern ein politisches Phänomen. Es handelt sich dabei um Politik, die sich religiöser Symbole bedient und diese zumeist auch umdeutet und missbraucht.

Viele, in sich nicht religiöse Handlungen können zudem eine religiöse Dimension erhalten: Wissenschaftliche Erkenntnis kann zur Anbetung Gottes werden. Aber auch die Ansprüche der Sittlichkeit selbst können so als das erkannt werden, „was Gott gefällt" oder „was Gott gebietet". So bezeichnet Kant „Religion" geradezu als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote" 111 . Nun ist das zwar ein reduktionistischer Begriff von Religion - und Fichte zog daraus die Konsequenz: Die „moralische Ordnung ist selbst Gott"112 - aber er drückt doch immerhin aus, dass sittliches Handeln auch religiös motiviert sein kann, obwohl uns diese Motivation nicht von der Aufgabe enthebt, nun auszumachen, was im einzelnen unsere „Pflicht" ist: Nicht einfach weil Gott etwas gebietet, ist es gut, sondern weil es gut ist, erkennen wir ja, dass Gott es gebietet (sofern es nicht offenbart ist). Die menschliche Tugend der Religion impliziert jedoch auch die Frage, ob denn dieser Gott sich nicht offenbart habe. Die Frage nach der wahren Religion kann deshalb sinnvollerweise allein die Frage danach sein, ob und wo sich göttliche Offenbarung findet; unabhängig von Offenbarung ist eine die Verschiedenheit der Kulturen transzendierende wahre Religion gar nicht denkbar. Die Frage nach der Existenz von Offenbarung ist eine vernünftige Frage. Unvernünftig wäre es, die Möglichkeit von Offenbarung prinzipiell als vernunftwidrig auszuschließen. Dies widerspräche geradezu der Vernunft der Religiosität, d.h. es wäre Unvernünftigkeit im Bereich der Tugend der Religion, und damit letztlich wieder Ungerechtigkeit und mangelnde Demut: Ungeordnetes Streben nach eigener Vortrefflichkeit oder Ungebundenheit. Falls es aber keine solche Offenbarung gäbe, so gäbe es auch nicht die eine wahre Religion, sondern nur bessere und schlechtere Religionen. Kulthandlungen wären dann genau jene, und vernünftigerweise nur jene, die der Mensch nach Maßstäben der Vernunft und kultureller Vorgaben und Traditionen für angebracht erachtet. Aber auch hier existierten sittliche Maßstäbe. Es gibt ja auch Religionen, deren Kulthandlungen unmoralisch sind; z.B. Menschenopfer: Sie verstoßen gegen die zwischenmenschliche Gerechtigkeit. Zusammenfassend: Die Ungerechtigkeit ist das schlimmste Laster. Schwäche gegenüber sinnlichen Trieben kann immer noch einhergehen mit Demut und gutem Willen. Auch wenn der Unmäßige oft Ungerechtes tut, so braucht er nicht ein „ungerechter Mensch" zu sein. Ungerechtigkeit jedoch ist Verkehrung des Willens selbst. Und da der Wille wiederum den Akt der Vernunft in der Hand hält und darüber ein Imperium auszuüben vermag, so ist der Ungerechte nicht nur ein solcher, der habituell dazu neigt, Ungerechtes zu tun, sondern auch das Ungerechte für gut zu halten. Einen solchen ungerechten Willen bezeichnen wir deshalb nicht nur als schlecht, sondern als „böse". Die eigentliche Bosheit ist also die Ungerechtigkeit.

111 I. Kant, KpV A 233 (IV, S. 261). 112 J.G. Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (Werke hsg. v. I. H. Fichte, Bd. V), Nachdruck Berlin 1971, S. 186.

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g) Starkmut (Tapferkeit) Der Starkmut ist jene Tugend, welche die Akte bzw. Leidenschaften des irasziblen Strebevermögens oder Mutes der Vernunft gemäß vervollkommnet. Leidenschaften des Mutes entstehen vor Schwierigkeiten und Gefahren. Die der Tugend widersprechenden Extreme sind die Furcht vor den Mühen, so dass die gute Handlung verhindert wird (Feigheit); und die Tollkühnheit, die sich unnötigen und unangemessenen Gefahren aussetzt. Insbesondere ermöglicht der Starkmut die Überwindung der Furcht vor dem Tode, wo diese Überwindung notwendig ist, um das Gute zu tun und das Schlechte zu meiden. Der klassische Fall ist das Martyrium. Die Tugend des Starkmutes schützt vor Verzweiflung und lässt hoffen; und schließlich bewahrt sie vor dem Laster des Zornes und leitet zur Sanftmut. Die Tugend des Starkmutes vervollkommnet näherhin zwei Akte des irasziblen Strebevermögens: Was zu tun ist „in Angriff nehmen", Anpacken oder an die Hand nehmen (aggredi). Und das Widerstehen oder Standhalten (resistere) bezüglich der Schwierigkeiten und andauernden Mühen, um das, was zu tun ist, zu Ende zu führen. Zum Starkmut gehört insbesondere die Geduld und die Beharrlichkeit. Starkmut (Tapferkeit) ist seinerseits wiederum eine Bedingung dafür, um klug, gerecht und maßvoll sein bzw. werden zu können. Denn wer das Gute zu tun bestrebt ist, wird immer auf Schwierigkeiten stoßen. Und klug ist nur, wer das Gute auch effektiv tut. Der Furchtsame oder Ungeduldige kann nicht den Habitus der Klugheit besitzen. Starkmut als Tugend ist jedoch nicht jede Art von Tapferkeit, Kühnheit und Beharrlichkeit. Wer Gefahren im Unrechttun nicht scheut, besitzt deswegen nicht die Tugend des Starkmuts. Er mag zäh, ausdauernd, furchtlos sein, - aber dies ist hier keine Tugend. Es gibt Helden, die in Wirklichkeit Schurken sind. Nichts ist verfänglicher als ein Heroen-Ethos, das die Frage nach Recht und Unrecht ausklammert. Denn wir loben ja niemanden seines Starkmutes wegen, wenn wir ihn nicht auch zugleich seiner Gerechtigkeit wegen loben können. Es gibt Menschen, die den Tod nicht fürchten, aber nicht aus Liebe zum Guten, sondern aus verkehrter Liebe. Es ist eine Furchtlosigkeit, „die auf einer falschen Einschätzung und Bewertung der Wirklichkeit beruht"" 3 . Hier wird „Tapferkeit" zur Knechtung und Funktionalisierung der wirklichkeitserschließenden Vernunft: zum Fanatismus. Im wahrhaft Starkmütigen gehen Tapferkeit und Gerechtigkeit zusammen, und das heißt auch oft: um nicht Unrecht zu tun, Unrecht erleiden und ertragen können. Der wahrhaft Starkmütige ist wiederum der Kluge. Die Schwierigkeiten, die sich dem Tun des Guten entgegenstellen, sind innere und äußere. Die inneren sind unsere eigenen Unvollkommenheiten. Der Mensch, der sich auf dem Weg zur Tugend befindet, erfährt in sich die Tatsache, dass die Neigungen seines Willens und seiner Sinne oft gegen die Vernunft rebellieren. Um die Tugend des Maßes zu erwerben, bedarf es deshalb des öfteren der Enthaltsamkeit, durch die ungeordnete Neigungen zurückgedrängt werden. Enthaltsamkeit wiederum ist ein Akt des Starkmutes. „Durch Enthaltsamkeit wird der Mensch gesammelt und zurückgeführt in die Einheit, von der entfernt er ins Vielerlei zerflossen war"114. Äußere Schwierigkeiten sind oft andere Menschen oder auch Strukturen der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Um die sokratische Maxime „Lieber Unrecht erleiden als Unrecht tun" in die Tat umzusetzen, bedarf es des Starkmutes. Ohne Starkmut gibt es keine 113 J. Pieper, Vom Sinn der Tapferkeit, 7. Aufl. München 1959, S. 51. 114 Augustinus, Bekenntnisse X, 29.

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Gerechtigkeit. Der Starkmütige zeichnet sich aus durch Gelassenheit. Er ist fähig, anderen Menschen Halt und Sicherheit zu geben. Er vermag seine Phantasie, die manchmal das Fürchten lehrt, zu beherrschen, die Nerven zu wahren und über Kleinigkeiten zu stehen, um sich nicht vom Wesentlichen ablenken zu lassen. Er handelt nicht, weil er Lohn und Lob erntet, sondern weil er das in Wahrheit Gute will. h) Maß Die Tugend des Maßes oder Mäßigkeit vervollkommnet das sinnliche Begehren (konkupiszibles Strebevermögen), das sich auf jenes richtet, was gemäß der Wertung der Sinne als lustvoll erscheint. Es gibt die Lust des Sehens, des Hörens, Riechens und Schmeckens. Allen zugrunde aber und am stärksten ist die Lust des Tastsinnes. Sie bestimmt das Streben nach Essen, Trinken und den Sexualtrieb, und ihnen gemäß gibt es ebensoviele Einzeltugenden. Die Tugend des Maßes erhält die Ordnung des Strebens im Gefüge der personalen leib-geistigen Einheit des Menschen. Ohne Mäßigkeit gibt es keine wirkliche Liebe: Weder Liebe zur Wahrheit, noch Liebe zu einer anderen Person. Aus der leib-geistigen Einheit desintegrierte, also isolierte Sexualität z.B. verunmöglicht die personale Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau. Unmäßigkeit, deren dominanteste Form die Unkeuschheit ist, hat - je nach dem - zur Folge Unvernünftigkeit, Überstürzung im Urteil, Charakterschwäche, Schlaffheit, Egozentrik, Sentimentalität, Aggressivität, Brutalität. Sie zerstört im Menschen die Neigung, anderen nützlich zu sein, und führt letztlich auch zum Gotteshass. Der Gotteshass (odium Dei) ist nur die letzte Form der Abkehr von der Liebe zur Wahrheit. In einer der genialsten Passagen seiner „Bekenntnisse" fragt sich Augustinus: „Doch warum erzeugt die Wahrheit Hass?" Der Grund ist: Der Mensch strebt von Natur danach, sich an der Wahrheit zu erfreuen. Er will als Genießender nicht ein Getäuschter sein. Diejenigen, die in der Unmäßigkeit des Erstrebens von sinnlicher Lust gefangen sind, möchten, dass dies der Wahrheit entspricht. „Und weil sie nicht getäuscht sein wollen, darum wollen sie sich auch nicht überführen lassen, dass sie die Getäuschten sind. Und sie hassen die Wahrheit um desselben Dinges willen, das sie für Wahrheit lieben. Sie lieben an ihr das Licht, hassen es aber, von ihr widerlegt zu werden"115. Die Wahrheit wird hier als eine sich dem Geiste zunehmend verbergende Macht erfahren, und zugleich als der größte Feind der Erfüllung des eigenen, ungeordneten Glücksstrebens.

Die Tugend des Maßes, die nicht Ausschaltung von Leidenschaft ist, sondern deren Einordnung in die Ordnung der Vernunft, ist, wie Aristoteles bemerkt, die eigentliche „Bewahrerin" der Klugheit" 6 . Der Unmäßige kann nicht klug sein. Unmäßigkeit zerstört am meisten die rechte Einschätzung des Zieles und des Guten im konkreten Handeln. Der Unmäßige ist prinzipiell affektiv fehlgeleitet und der Wahlunwissenheit ausgesetzt. Der eigentlich lasterhaft Unmäßige ist sogar, mehr noch, überzeugt davon, dass es prinzipiell gut ist, dem rein sinnlichen Scheinen des Guten zu folgen. Seine Vernunft ist also auch auf der Ebene der Prinzipien vom Guten abgelenkt. Dadurch wird er auch ungerecht" 7 (vgl. auch V,l,f).

115 116 117

Augustinus, Bekenntnisse, X, 23. EN VI, 5 1140b 10-22. Vgl. EN VII, 9.

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Unmäßigkeit bewirkt jedoch keineswegs größere Freude an der Lust. Im Gegenteil. Sie zerstört die „Lust an der Lust" und führt zur Frustration. Der Prozess lässt sich, wie bereits früher angedeutet, charakterisieren als ständig steigende Begierde mit zunehmend abnehmender Befriedigung. Das sinnliche Begehren besitzt nämlich die Eigenart, dass es ins Unendliche fortzuschreiten vermag. Und das kann es, weil ja auch das Begehren der Sinne immer Begehren einer menschlichen Person ist, die Vernunft besitzt. Die Vernunft des Unmäßigen stellt sich ganz in den Dienst der Sinnlichkeit, die eben deshalb nicht gesättigt werden kann, weil die Vernunft immer weiter „von Begierde zu Begierde"' 18 schreiten kann. Tiere können deshalb, weil sie keine Vernunft haben, nicht unmäßig sein. Dennoch ist der Gegenstand dieses Begehrens als sinnliches begrenzt. Es vermag nie zu erfüllen, ist punktuell, und Befriedigung heißt hier auch schon, dass das Genießen vorbei ist. Nur die Integration der Sinnlichkeit in die Ordnung der Vernunft vermag der Lust Dauer zu verleihen und den faustischen Wunsch „Augenblick verbleibe doch, du bist so schön" zu erfüllen. Damit erst kann Lust dazu beitragen, einem ganzen menschlichen Leben Befriedigung zu verleihen. Denn, was wir alle als gut erachten, sind nicht Augenblicke des Genießens, nicht ein Leben voller Genüsse, sondern ein genussreiches Leben. Das Leben als ein Ganzes kann aber nur ein Gegenstand der Vernunft sein. Der Unmäßige lebt also in einer beständigen Selbsttäuschung. Er wird auch blind dafür, was vernünftigerweise zu erhoffen ist, und die Hoffnungslosigkeit ist im ständig auf den Fersen. Der Materialismus des bloßen Konsumierens wird so zum Präludium von Resignation und Verzweiflung. Der Unmäßige kann nicht die Tugend des Starkmutes besitzen, und er wird schließlich Ungerechtes tun. Und in dem Maße, wie das Tun des Ungerechten ihn dazu führt, auch das Ungerechte zu wollen, wird er ein ungerechter Mensch. Der Maßvolle hingegen ist jener, der mit Leidenschaft das Gute tut. Seine Sinne begehren, was vernünftigerweise gut ist. Der Mäßige lebt in Übereinstimmung mit sich selbst. Die Pflicht ist ihm Freude. Das Vernunftgemäße erscheint ihm lustvoll und er tut es mit Beständigkeit und Spontaneität. Die Tugenden hängen zusammen, sind unter einander verknüpft und bilden gleichsam einen lebendigen und dynamischen Organismus. i) Der innere Zusammenhang der sittlichen Tugenden Keine sittliche Tugend kann vollkommen sein, sofern nicht auch alle anderen vorhanden sind. Die vorangehende synthetische Darlegung der einzelnen Kardinaltugenden hat gezeigt, dass Tugenden nicht voneinander isolierte Vollkommenheiten sind, sondern einen lebendigen Organismus und letztlich einen unteilbaren Lebensvollzug bilden" 9 . Auch wenn wir von einzelnen Tugenden sprechen, so sind dies nur verschiedene Aspekte einer komplexen Einheit. Denn Tugenden sind nicht einfach nur Vollkommenheiten einzelner Vermögen, sondern immer auch Tugenden einer menschlichen Person. Diese ist ein komplexes Gebilde, aber sie besitzt innere Einheit (s. oben III,5,e). Und ebenso bildet der „Vollzug eines Lebens", auch in seiner geschichtlichen Dimension als Lebensgeschichte oder Biographie eines Menschen eine

118 119

Vgl. T. Hobbes, Leviathan, 11. Kapitel. Die These vom Zusammenhang der Tugenden findet sich bei Aristoteles in EN VI, 13,1144b 36, aber auch in der Stoa; vgl. J. Annas, The Morality of Happiness, a. a. O., S. 73 ff.

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Einheit. Dies ist die klassische Lehre über die connexio virtutum, den „Zusammenhang" oder die „Verknüpfung der Tugenden"120. So kann, wie wir bereits sahen, die Klugheit als Habitus der richtigen Mittelbestimmung nur bei dem vollkommen sein, der auch alle anderen Tugenden besitzt. Und umgekehrt können diese Tugenden nicht ihre Vollkommenheit erreichen, wenn es an Klugheit fehlt. Ungerecht handelt man nicht nur aus Ungerechtigkeit. Zumeist geschieht dies aus Unmäßigkeit oder mangelndem Starkmut, was allerdings keineswegs bedeutet, dass die Tat deshalb nicht weiter ungerecht ist. Sie bleibt eine ungerechte Tat121. Aber auch ein Fehlen von Gerechtigkeit kann feige Handlungen oder Unmäßigkeit bewirken. Wer sittlich schlecht handelt, der „verstößt" in der Regel gegen eine Vielzahl von Tugenden. Und sittlich gute Handlungen sind immer ein Zusammenwirken von Maß, Starkmut und Gerechtigkeit. Mut und Kühnheit für Ungerechtes ist nicht die Tugend des Starkmutes. Solche Tapferkeit würden wir ja nicht loben. Und allen Tugenden voran steht die Klugheit, die als praktische Vernunft alle menschlichen Handlungen kognitiv leitet. Das Urteil der handlungsbestimmenden praktischen Vernunft wird verdorben durch Ungerechtigkeit, Mangel an Maß und an Starkmut. Die thomanische Lehre vom Zusammenhang der Tugenden wurde von A. Maclntyre in seinem Buch After Virtuem als eine unzulässige Übertreibung kritisiert, wobei er allerdings einem verbreiteten Sprachgebrauch gemäß statt von der connexio, dem Zusammenhang, von der „Einheit der Tugenden" spricht, was leicht missverständlich ist, weil damit suggeriert wird, die Lehre von der connexio virtutum meine, dass es eigentlich nur eine einzige Tugend gebe. Maclntyre begründet seine Meinung mit dem Argument, dass ein Mensch dessen Ziele und Absichten grundsätzlich schlecht sind, z.B. ein intelligenter und seiner Sache völlig ergebener Nazi, der aber für seine Sache tapfer und unerschrocken eintrete, nach einer „moralischen Umerziehung", die ihn zu einer gerechten, bescheidenen, die Rechte aller Menschen achtenden Person machen würde, nun nicht auch das „Vermeiden von Feigheit und Unbeherrschtheit angesichts von Leid und Gefahr" neu erlernen müsste. Er besaß vielmehr die Tugend der Tapferkeit bereits, als er ein abgrundtief ungerechter, ja böser Mensch war. Das Argument, diese „Tapferkeit" des fanatischen Nazi sei in Wirklichkeit gar keine Tapferkeit oder aber zumindest keine Tugend gewesen, lässt Maclntyre nicht gelten, eben weil es seiner Ansicht nach implizieren würde, dass ein moralisch Umerzogener dann auch Mut und Unerschrockenheit aufs Neue erwerben müsse, was natürlich absurd ist. 120

121

122

Diese „narrative Struktur" der sittlichen Tugend ist, gegenüber einer abstrakten Normenethik, in eindrücklicher, wenn auch im Ergebnis noch nicht befriedigender Weise bei A. Maclntyre, Der Verlust der Tugend, a. a. O. herausgearbeitet worden (s. Kap. 15, S.273 ff.). Der Mangel von Maclntyre's Buch besteht in einer völligen Ausklammerung der Anthropologie der Tugend und dem Fehlen einer Theorie der praktischen Vernunft, die sich erst in seinem 1988 erschienen Buch „Whose Justice? Which Rationality?" findet. Vgl. auch die weiterführende Arbeit von Maclntyres Schülerin P. M. Hall, Narrative and the Natural Law. An Interpretation of Thomistic Ethics, Notre Dame-London, 1994. Grotius (De jure bello ac pacis, Vorrede, a. a. O.) behauptet absurderweise, gemäß dieser Aristotelischen Lehre könne man dann „den Ehebruch aus Wollust und den Totschlag im Zorn" nicht mehr als Unrecht gelten lassen. Deshalb betrachtet Grotius die Aristotelische Tugendlehre als verderblich für den Bestand der menschlichen Gesellschaft, da letztere gänzlich auf der Unterscheidung von Recht und Unrecht beruhe. S. 179 f.; Der Verlust der Tugend, S. 239 f.

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Die Argumentation Maclntyres offenbart jedoch ein tiefliegendes Missverständnis darüber, was eine sittliche Tugend ist, oder zumindest Unkenntnis, welches Verständnis davon der klassischen Lehre von der „Einheit" oder besser dem Zusammenhang der Tugenden zugrunde liegt123. Das Missverständnis ist identisch mit der ebenso unzutreffenden aber immer wieder anzutreffenden Meinung, Tugenden könnten missbraucht werden124. Wenn man bedenkt, dass sittliche Tugend gerade von ihrem Begriff her die Richtigkeit des Zielstrebens (des Wollens und Beabsichtigens) einschließt, so wird klar, dass hier ein Verständnisproblem vorliegt. In der Tat interpretiert Maclntyre Tugend gemäß der Logik von Fertigkeiten und Kenntnissen, um die in bestimmten Arten von Praxis inhärenten Güter zu erreichen (Maclntyres Paradigma für eine solche Praxis ist das Schachspiel). Es ist einleuchtend, dass solche Fertigkeiten nicht unbedingt voraussetzen, dass man auch die Fertigkeiten anderer Arten von Praxis besitzt. Vor allem aber verwechselt er die Tugend der Tapferkeit mit bloßen Teilaspekten und Bestandteilen dieser Tugend, die für deren Besitz zwar wesentlich und notwendig sind, nicht aber schon die Tugend ausmachen125. Es ist wahr: Wer tapfer ist, muss mutig sein, er braucht Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin, Willensstärke, Fähigkeit zur Selbstüberwindung, Furchtlosigkeit vor Schmerzen. Ein Schurke kann sich hier vieles antrainieren, was er natürlich nach einer „moralischen Umerziehung" zu einem anständigen Menschen sich nicht mehr neu anzugewöhnen bräuchte. Anderes, was als tapfer und mutig erscheint, kann aber auch ganz einfach die Folge fanatischer Einstellung sein, die das Urteil der Vernunft dermaßen beeinflusst, dass gewisse Gefahren und Schwierigkeiten nicht mehr als solche wahrgenommen werden (was nun allerdings ein Defekt ist und keineswegs zur Tugend der Tapferkeit gehört). Ein „umerzogener" Fanatiker wäre dann wohl automatisch plötzlich nicht mehr so unerschrocken und bereit, gewisse Gefahren auf sich zu nehmen. Denken wir beispielswise an einen Ex-Terroristen oder Ex-Kamikaze. Ein mutiger, furchtloser, selbstbeherrschter Mensch ist also noch nicht ein solcher, der die Tugend der Tapferkeit besitzt. Würde die These vom Zusammenhang aller Tugenden meinen, wer keine guten Ziele und Absichten hat und ein ungerechter oder böser Mensch ist, könne nicht mutig oder selbstbeherrscht sein oder mit Leichtigkeit Gefahren trotzen, dann wäre sie allerdings kontraintuitiv und leicht zu wiederlegen. Die Pointe ist jedoch, dass der Tugendhafte ein solcher ist, dessen Strebungen sämtlich auf das Gute ausgerichtet sind. Die Tugend 123

124

125

Freilich bezieht sich dieses Urteil auf den Tugendbegriff von After virtue. Ich gehe hier nicht darauf ein, ob und wie Maclntyre diesen später, seit Beginn seiner „thomistischen" Phase modifiziert hat. Dagegen argumentiert gut P. Foot, Tugenden und Laster, a. a. O. Vgl. hingegen Maclntyre, a. a. O., S. 267: „Ich muss gelten lassen, dass Tapferkeit manchmal Ungerechtigkeit unterstützt, dass Treue, wie man weiß, schon manch mörderischen Aggressor gestärkt und Großzügigkeit manchmal die Fähigkeit zum Guten geschwächt hat." Die Aussage ist zumindest zweideutig, da nicht klar ist, ob Maclntyre meint, auch einem Tugendhaften könne „manchmal" (etwa in der Einschätzung der Folgen seines Handelns bzw. der konkreten Umstände) ein Fehler unterlaufen oder ob er sagen will, dass es „manchmal" d.h. einige Menschen gibt, welche die Tugend der Tapferkeit besitzen und zugleich ungerecht sind, die einem mörderischen Aggressor aus reiner Tugend die Treue halten und deren Großzügigkeit bewirkt, dass ihre Fähigkeit zum Guten ständig geschwächt wird. Die Aussage scheint tatsächlich eher in der zweiten Weise gemeint zu sein, denn Maclntyre erinnert hier an die Argumente für seine Zurückweisung der thomanischen These von der „Einheit der Tugenden". Vgl. oben 3 a) die Ausführungen über die „Teile" der Tugenden.

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der Tapferkeit besitzt deshalb, wer auf Grund seiner affektiven Ausrichtung auf das Gute fähig ist, mit Leichtigkeit Widerstände, Gefahren usw. zu überwinden, weil seine Liebe zum Guten bewirkt, dass ihn diese Widerstände und Gefahren nicht zurückhalten können, auch tatsächlich zu tun, was für seine Erlangung erfordert ist. Der Tapfere ist nicht unbedingt ein Furchtloser, einer der Angst vor nichts hat, keine Gefahren mehr sieht oder eine Selbstbeherrschung besitzt, die ihn zu allem fähig macht, was seiner Sache nützt. Solche Menschen können höchst gefährlich sein. Als Fahrzeuglenker richten sie oft großen Schaden an. Der wirklich Tapfere muss vielleicht gerade seine Angst überwinden - gemäß dem Bericht der Evangelien hat Jesus am Ölberg vor Angst Blut geschwitzt: fehlte es ihm an der Tugend der Tapferkeit? - , aber diese Überwindung wird ihm leicht fallen, da seine Affekte im Guten verankert sind und gerade das zu erreichende Gute für ihn attraktiv ist. Das Urteil seiner praktischen Vernunft, die Klugheit, wird ihm auf untrügliche und praktisch wirksame Weise gebieten, dieses Gute zu tun. Es leuchtet allerdings ein, dass ein gewisses Maß an Selbstüberwindung, Furchtlosigkeit und Selbstbeherrschung als erworbene Charakterdispositionen dazu gerade nötig wenn auch nicht ausreichend sind. Und hier gibt es ja, wie schon erwähnt, auch ein Zuviel: Nicht derjenige mit dem Höchstmaß an „Mut" und „Selbstüberwindung" ist derjenige, der die Tugend der Tapferkeit besitzt (es könnte hir auch das Laster der Tollkühnheit oder eben Fanatismus vorliegen), sondern wer diese Eigenschaften der rechten Vernunft gemäß besitzt (und deshalb auch fähig ist, vor den richtigen Dingen zurückzuschrecken und im richtigen Maße und dort, wo es angebracht ist, Angst zu haben). Maclntyres Interpretation ist also auch mit der Aristotelischen Lehre von der Tugendmitte unvereinbar. Auch Peter Geach hat im Zusammenhang der Behandlung der Tugend der Tapferkeit die Lehre von der „Einheit der Tugenden" kritisiert (obwohl er von Maclntyre fälschlicherweise als deren Verfechter angeführt wird)126. Geach attackiert die These vor allem wegen der ihm unerträglich erscheinenden Implikationen für die Klugheit. Gemäß der Einheits-These, sagt Geach, führte das Fehlen einer Tugend zur Korrumpierung der Klugheit, was bedeuten würde, dass ein Mensch, der es an einer Tugend gebricht, auch in jeder anderen Hinsicht eine korrumpierte Klugheit besässe, was aber aller Erfahrung widerspreche, denn viele Menschen seien doch in mancher Hinsicht lobenswert, in anderer Hinsicht hingegen würden wir dieselben Personen tadeln127. Das gegen Maclntyre Gesagte trifft auch hier zu. Hinzuzufügen ist, dass Geach die thomanische Lehre von der connexio virtutum, dem Zusammenhang (nicht der Einheit) der Tugenden, unvollständig wiedergibt. Denn wie immer differenziert Thomas, und hier nun unterscheidet er zwischen der virtus imperfecta und der virtus perfecta.128 Die erste, die unvollkommene Tugend, ist jene, die eine angeborene oder aus Gewohnheit erworbene Charaktereigenschaft wie etwa Mäßigkeit oder Tapferkeit ist und die einen Menschen zu entsprechenden Handlungen geneigt macht. Verstehe man Tugenden auf diese Weise, sagt Thomas, so seien sie nicht untereinander verknüpft. So gebe es freigebige und gleichzeitig unkeusche Menschen. Anders jedoch die vollkommene Tugend (und sie ist die eigentliche Tugend, von der wir hier sprechen). Sie kann nur dort vorhanden sei, wo die Klugheit vorhanden ist; und diese wiederum setzt die Richtigkeit des Zielstrebens voraus. Der eigentliche Grund, für die innere Verbundenheit der sittlichen Tugenden ist also die Einheit der prakti126 127 128

P. Geach, The Virtues, Cambridge 1977, 160 ff. Auch B. Williams führt dies gegen Aristoteles ins Feld (Ethics and the Limits of Philosophy, a. a. O., S. 36). I—II, q. 65, a. 1.

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sehen Vernunft bzw. der Klugheit129. Praktische Vernunft ist in Streben eingebettete Vernunft und deshalb kann diese nicht vollkommen sein, wenn das Subjekt ein Laster besitzt. Allerdings ist hier sicherlich zu konzedieren, dass auch die vollkommenen Tugenden auf mehr oder weniger vollkommen ausgebildete Weise vorhanden sind, denn sie müssen sich ja im Laufe eines Lebens entwickeln. Deshalb ist die im Vollsinne tugendhafte Person ein Ideal130. Zu unterscheiden ist wohl sicher die (unzweifelhaft mögliche) Koexistenz von noch unvollkommen entwickelten Tugenden von der Behauptung, vollkommene Tugenden könnten im gleichen Subjekt mit Lastern koexistieren. Schließlich kann auch der im eigentlichen Sinne Tugendhafte durchaus hin und wieder einen Fehltritt begehen. Der empirischen Tatsache, dass wir die gleichen Menschen in mancher Hinsicht loben und in anderer tadeln, lässt sich oft auch auf diese Weise erklären. Damit werden Maclntyres und Geachs Argumente hinfällig. Es geht nicht um die „Einheit" der Tugenden, sondern um ihren inneren Zusammenhang, ihre innerliche Verknüpfung. Und Grund dafür ist die Einheit der praktischen Vernunft. Allen Erfahrungstatsachen ist damit Genüge getan und zugleich ist damit auch die eigenartige, immer wieder auftauchende und stark kontraintuitive These vom Tisch, eine sittliche Tugend könne auch zum Schlechtem verwendet, d.h. missbraucht werden. Zum Begriff der Tugend gehört gerade, dass sie nur zum Guten „gebraucht" werden kann. Die Lehre vom inneren Zusammenhang der sittlichen Tugenden reflektiert wiederum, dass Tugenden nicht einfach Wissen und auch nicht nur Vollkommenheiten des Willens sind. Alle Strebepotenzen, die im Handeln engagiert sind, werden durch die Tugenden vervollkommnet, d.h. die menschliche Person als ganze, als leibgeistige Wesenseinheit, und mit ihnen die praktische Vernunft, die damit zur Klugheit wird.

4. Der mitmenschliche Charakter der Tugenden und die Freundschaft a) Der Primat der Person Zeitgenössische Ethik lässt sich dadurch charakterisieren, dass sie sich praktisch ausschließlich mit Fragen der Gerechtigkeit - Fragen der zwischenmenschlichen Beziehungen - beschäftigt. Im Bereich der anderen Tugenden, die eher Fragen der individuellen Lebensführung betreffen, scheinen ihr allgemeinverbindliche Aussagen unmöglich zu sein. Sofern es sich nicht um spezifisch politische Ethik handelt, ist dies jedoch ein verhängnisvoller Reduktionismus. Dieser Reduktionismus gründet zunächst in der bereits einleitend erwähnten, typisch neuzeitlichen „moralphilosophischen" Auffassung, Moral beginne dort, wo das Verfolgen des eigenen Interesses zugunsten der Interessen der anderen bzw. der Allgemeinheit eingeschränkt werde. Zudem rührt er wohl auch daher, dass man eine Ethik, die sich um den „ganzen" Menschen kümmert, also nicht nur um sein Verhältnis zum Mitmenschen, für sachlich undurchführbar hält, da ihre metaphysischen und anthropologischen Grundlagen unwiederbringlich verlorengegangen seien. Deshalb gelangt man, wie dies am deutlichsten bei der Diskursethik der Fall ist, zu einer Reduktion von Ethik auf politische Ethik, die sich ganz im Medium der intersubjektiven Begründungspraxis von Geltungsansprüchen bewegt. Die 129

Vgl. In VI Ethic., lect. 11, n. 1288: ,,Et ideo propter prudentiae unitatem omnes virtutes morales sunt sibi connexae". 130 J. Annas, The Morality of Happiness, a. a. O., S. 83.

4 . MITMENSCHLICHER CHARAKTER UND FREUNDSCHAFT

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Meinung von Habermas, wer an dem klassisch-aristotelischen Anspruch der Auszeichnung bestimmter Lebensweisen vor anderen festhalte, nehme den modernen Pluralismus nicht ernst131, ist nicht einleuchtend, weil dies ja bereits ein politisch-ethisches oder rechtsethisches Argument ist und weil es zweitens lediglich ein Argument gegen die Wünschbarkeit einer Wiederbelebung der klassisch-aristotelischen Einheit von Ethik und politischer Philosophie sein kann, nicht aber ein Argument gegen die Möglichkeit einer Ethik, die bestimmte Lebensformen sittlich auszeichnet und damit nicht nur einen Diskurs über das für eine Vielzahl von Menschen, die in einer staatlichen Zwangsordnung und Rechtsgemeinschaft zusammenleben, zu geltende „Rechte" anerkennt, sondern auch einen Wahrheitsdiskurs über das für den Menschen in seiner alltäglichen Lebensorientierung und -praxis vernünftigerweise zu verfolgende Gute132. Klassische Tugendethik ist ja eine Ethik der „ersten Person". Sie stellt den handelnden Menschen, als ein nach dem Guten und dem Glück strebendes Subjekt in den Mittelpunkt. Klassische Ethik lebt aber auch von der Einsicht, dass individuelle Lebensführung und zwischenmenschliche Moral in einem engen Zusammenhang stehen. Dies bedeutet zwar keineswegs, nun zum aristotelischen Paradigma des Verhältnisses von Politik und Ethik zurückkehren zu müssen. Erst gehört zu den nichthintergehbaren Errungenschaften der politischen Kultur des neuzeitlichen modernen demokratischen Verfassungsstaates, dass dieses Verhältnis keines mehr der unmittelbaren Umsetzung, sondern ein gebrochenes, das Faktum von Pluralismus und Konflikt und die Erfordernisse von Freiheit und Autonomie berücksichtigendes Verhältnis geworden ist133. Wohl aber heißt es, davon auszugehen, dass es unmöglich ist, über die Tugend der Gerechtigkeit zu sprechen, ohne sie als Bestandteil der Gesamtorganismus der sittlichen Tugenden zu verstehen. Auch wenn sich nur die Tugend der Gerechtigkeit unmittelbar auf das mitmenschliche Verhalten bezieht, so sollte deutlich geworden sein, dass Starkmut und Maß dafür nicht weniger bedeutsam sind. Ja in Tat und Wahrheit ist es so, wie es die Lehre vom inneren Zusammenhang der Tugenden reflektiert, dass Gerechtigkeit und Klugheit mehr durch Unmäßigkeit und Mangel an Starkmut, bis hin zur Feigheit, als durch eigentliche „Ungerechtigkeit" und allgemeine Unkenntnis des Guten verletzt und zerstört wird. Zu vermeiden ist allerdings auch der gegenteilige Fehler, wie er etwa bei Vertretern der neueren virtue ethics anzutreffen ist, den Fehler nämlich, durch die Zentrierung des ethischen Diskurses auf die emotionalen Dispositionen des sittlichen Subjekts den Gerechtigkeitsdiskurs praktisch auszuklammern, was dann zum Kuriosum einer durch und durch subjektivistischen und relativistischen Tugendethik führt134. 131

J. Habermas,, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus, in: Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a. a. 0 . , S. 89. 132 Die Alleinzuständigkeit der praktischen Wissenschaft für das „Rechte" (the right) und ihre gleichzeitige Nichtzuständigkeit für das Gute (the good), das den Präferenzen des Individuums anheim gestellt ist und wofür es keine universalen Maßstäbe gibt, wurde sehr wirksam von J. Rawls, A Theory of Justice, Oxford/New York 1971 dekretiert. Differenzierter ist Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 173 ff. S. jetzt auch Rawls, Collected Papers, hrsg. von S. Friedmann, Cambridge 1999, S. 449 ff. Prominentester Kritiker dieser Dissoziierung ist M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982. 133 Vgl. dazu meinen bereits genannten Aufsätze Perché una filosofia politica? und Lo Stato costituzionale democratico e il bene comune. 134 Ein Beispiel dafür ist R. Hursthouse, Virtue Theory and Abortion, in: Crisp/Slote, Virtue Ethics, a. a. O., S. 217-238. Hursthouse kommt zu ihren Schlussfolgerungen durch konsequente Aus-

222

I V . D I E SITTLICHEN TUGENDEN

All dies besitzt seine genauen anthropologischen Gründe. Eine Ethik, die sich von der Anthropologie löst, die den Primat des handelnden und strebenden Subjekts „menschliche Person" ausklammert, verfehlt ihren Gegenstand. Das ist vielleicht die tiefste Weisheit, die wir wieder von der klassischen Tugendethik lernen können.

b) Freundschaft. Politische Tugenden und Institutionen Gerechtigkeit, so sahen wir, ist Wohl-Wollen im Bereiche dessen, was „dem anderen" geschuldet, was also sein Recht ist. Wohlwollen erschöpft sich jedoch nicht in reiner Gerechtigkeit. Die goldene Regel oder das „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" verlangt mehr. Wir wollen von den anderen nicht nur, dass sie uns unser Recht geben. Wir wollen ihr Wohlwollen auch dann, wenn wir kein Recht darauf haben und wenn sie uns nichts schuldig sind. Ja gerade dann sind wir oft am meisten darauf angewiesen. Das „Angewiesensein" zeigt, dass auf dieser Ebene eine Asymmetrie besteht: Auf diese Weise „schulden" wir ja dem anderen ein Wohlwollen, welches über das nach Rechtsbegriffen Geschuldete hinausgeht, das wir deshalb selbst in Bezug auf uns als Geschuldetes nie einfordern, sondern höchstens als wohlwollende Zuwendung anderer erwarten können: Ein Wohlwollen, das Gerechtigkeit voraussetzt aber zugleich ergänzt. Dem anderen über das durch das „Recht" gebotenen hinaus wohl zu wollen, nennt man Freundschaft. Freundschaft gründet zwar in Gerechtigkeit, übersteigt sie jedoch. Aristoteles widmet der Lehre über die Freundschaft das ganze Achte und einen Teil des Neunten Buches seiner Nikomachischen Ethik. Wir dürfen deshalb sagen: Die Lehre über die Freundschaft bildet geradezu den Hauptteil und den Kern Aristotelischer Ethik. Aristoteles sagt, dass es eigentlich unter Freunden gar nicht der Gerechtigkeit bedarf 135 . Damit ist gemeint: Unter Freunden fragt man nicht, was das Recht des anderen ist, sondern man ist, darüber hinaus, ganz einfach auf sein Wohl bedacht. Solche Beziehungen der Freundschaft jedoch bestehen nur zwischen bestimmten, einzelnen Personen. Die Gesellschaft als Gesamte beruht nicht auf dieser Art von Freundschaft, welche die Frage des Rechts bereits hinter sich gelassen hat; das wäre unrealistisch und sogar gefährlich. Die Gesellschaft beruht zunächst immer auf Gerechtigkeitsbeziehungen. Aber diese Gerechtigkeit bedarf der Freundschaft, „als einer Ergänzung" 136 . Wo keine Gerechtigkeit existiert, da kann es folglich auch nicht jene Freundschaft geben, die Aristoteles als das Band erklärt, das die Gesellschaft zusammenhält. Ist nun die Freundschaft eine eigene Tugend? „Die Freundschaft", sagt Thomas v. Aquin, „ist nicht eigentlich eine Tugend, sondern eine Folge der Tugend. Denn gerade daraus, dass einer tugendhaft ist, folgt auch, dass er solche, die ihm gleich sind, liebt" 137 . Diese

135 136 137

klammerung von Gerechtigkeitsgesichtspunkten. Gegen eine relativistische Tugendethik argumentiert generell M. C. Nussbaum, Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz, a. a. O. Eine entsprechend prominente Stellung nehmen deshalb bei Nussbaum auch Gerechtigkeitsgesichtspunkte ein. Vgl. EN VIII, 1 1155a 27. Ebd. 28. Thomas von Aquin, De Virtutibus, q.unica, a.5 ad 5.

4 . MITMENSCHLICHER CHARAKTER UND FREUNDSCHAFT

223

„Freundschaftsliebe" (amor amicitiae, amor benevolentiae), deren erste Form bereits die Gerechtigkeit ist, besteht darin, wie bereits gesagt, dass Gute für den anderen zu erstreben, gleich wie man das Gute für sich selbst erstrebt. Der Freund ist „ein zweites Selbst" l38 , und zwar gerade insofern der Freund für den Freund „das Gute wie für sich selbst will" l39 . Wir wollen das alle bereits aufgrund einer natürlichen zwischenmenschlichen Solidarität. „Der Mensch ist dem Menschen von Natur aus ein Freund", so ungefähr könnte man diese Antithese zur Hobbesschen Formel „Homo homini lupus" formulieren. Die Formulierung des Thomas Hobbes, welche die gesamte neuzeitliche Sozialphilosophie geprägt hat, klingt freilich realistischer. In Wirklichkeit ist die Aristotelische Konzeption nicht weniger realistisch; die Frage ist, welche von beiden der Wahrheit entspricht. Die These, der Mensch sei dem Menschen von Natur aus Freund, will ja nur besagen, dass die Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen hervorbringende Vernunft, nicht gegen die Natur gebietet, etwa als Imperativ politischer Vernunft, die zur Befriedung den staatlichen Zwangsapparat schafft. Die Aristotelische Meinung besagt aber nicht, dass Frieden und Einheit unter den Menschen bereits von Natur aus gegeben seien. Sie sind vielmehr Folge des Habitus' der Tugend, letztlich der Tugend der Gerechtigkeit, aber da diese auch der anderen Tugenden bedarf, Folge aller sittlichen Tugenden. Der Unterschied zwischen Aristoteles und Hobbes besteht also nicht in der Frage, ob Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen aufgrund von Natur oder aufgrund von Vernunft zustandekomme, sondern ob sie aufgrund der Vernünftigkeit der sittlichen Tugend der einzelnen oder aufgrund der - durch einen vernünftigen politischen Nutzenkalkül der einzelnen ermöglichten - Vernünftigkeit des Staates, seiner Gesetze und seiner Zwangsgewalt zustande kommt140. Die Machbarkeit von Friede und Gerechtigkeit durch gesellschaftliche Organisation unabhängig von der Tugend des Einzelnen, das ist die Quintessenz der politischen Philosophie von Hobbes, aber auch derjenigen des heimlichen Hobbesianers Rousseau141; sie ist gegenwärtig in Kants berühmtem Diktum: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar", wenn es gelingt, „den Widerstreit der unfriedlichen Gesinnungen" durch ein System von Zwangsgesetzen zu neutralisieren, unter den sie sich durch Einsicht in seine größere Nützlichkeit für den einzelnen begeben' 42 . In Hegels Begriff „substantieller Sittlichkeit", in der Sitte als organisierte Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft als „zweite Natur" zur Institution wird und der Mensch von den subjektivistischen Zwängen der Moralität befreit ist, „hat die eigentliche Tugend nur in außerordentlichen Umständen und Kollisionen jener Verhältnisse ihre Stelle und Wirklichkeit". Tugend als grundlegendes Gestaltungsprinzip gibt es nur „im ungebildeten Zustande der Gesellschaft und des Gemeinwesens"143.

138 139 140

141 142 143

EN IX, 4 1166a 32. I—II, q. 28, a. 1. „Von Natur" aus gibt es im Aristotelischen Sinne Freundschaft nicht nur zwischen „Mensch und Mensch", sondern in gesonderter Weise auch zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Regierenden und Regierten. Aber damit diese Naturveranlagung auch wirklich das Handeln und die zwischenmenschlichen Verhältnisse zu bestimmen vermag, ist der Habitus der sittlichen Tugend Voraussetzung. Vgl. Du contract social, I, VII. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Dritter Definitivartikel, Erster Zusatz, A 60 f. (VI, S. 224). G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 150.

224

I V . DIE SITTLICHEN TUGENDEN

Dass hier ein Element von Wahrheit ausgesprochen ist, nämlich die Notwendigkeit von Rechtsstaatlichkeit, Institutionalisierung und Souveränität staatlicher Entscheidungskompetenz, mag niemand bestreiten. Denn gerade Institutionen bzw. das bürgerliche Leben unter den Bedingungen institutioneller Konfliktlösung und entsprechender Entlastung des einzelnen ermöglichen zunächst das gute Leben im Sinne der Heranbildung von Tugenden, insbesondere eben jener Tugenden, die für das bürgerliche Leben charakteristisch sind. So bildet eben die Kehrseite des ominösen, ursprünglich gar nicht hobbes'sehen homo homini lupus, das homo homini Deusw, die Erwartung also, dass unter den Bedingungen der durch Institutionen der Befriedung und Konfliktlösung bestehenden bürgerlichen Gesellschaft der Mensch dem Menschen „ein Gott", d.h. ein Wohltäter wird. Dennoch tendiert modernes politisches Denken daraufhin, es komme allein auf die öffentlich geltenden institutionellen Regelungen bzw. Gesetze an, alles andere gehöre zum dann unerheblichen Bereich der „Privatgesinnungen". Es sei denn, man enthebe sie dieser Unerheblichkeit dadurch, dass man - wie B. Mandeville gegen Hobbes die Meinung vertritt, private Laster summierten sich zum öffentlichen Nutzen145. Im allgemeinen war aber die Neuzeit aus wiederum verständlichen Gründen bemüht, den Regeln für das konfliktfreie Zusammenleben in einer Rechtsgemeinschaft gegenüber der Reflexion über das gute Leben des Einzelnen Priorität einzuräumen. Dies kommt am besten zum Ausdruck in der auf Grotius zurückgehenden Lehre Pufendorfs über die Unterscheidung von vollkommenen Pflichten (die für die Existenz und das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft einzuhaltenden Rechtsregeln) und unvollkommenen Pflichten (Gebote der Nächstenliebe, der Tugend generell, von deren Erfüllung jedoch der Bestand der Gesellschaft nicht abhängt, sich also nicht im Bereich von strikten Rechtsansprüchen bewegen)146. Selbstverständlich wusste auch Aristoteles, dass Frieden und Eintracht unter den Menschen nur unter der Bedingungen der „Herrschaft der Gesetze" zustande kommt, denn „das Gesetz ist ohne Leidenschaft" 147 ; ebenfalls wusste er, dass zivilisatorische „Lebensqualität" institutionell gesichert sein muss. Aber das genügt nicht, denn Gesetze verfehlen manchmal das Richtige; und dann dürfen sie nicht gelten. Nur nach dem Buchstaben des Gesetzes regieren heißt schlecht regieren und „wo das Gesetz überhaupt nicht oder nicht gut entscheiden kann, soll da bei Einem, dem Besten, die Entscheidung stehen, oder ist nicht besser, dass sie in aller Hände gelegt wird?"148 Hobbes sagt: Selbstverständlich soll die Entscheidung bei Einem oder einer souveränen Köperschaft liegen, aber ob die Regierenden die Besten sind oder nicht, 144

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Vgl. T. Hobbes, De cive (Vom Bürger), Widmungsschreiben an den Grafen von Devonshire (T. Hobbes, Vom Menschen - Vom Bürger, hrsg. v. G. Gawlick, 2. Aufl. Hamburg 1966, S. 59). S. dazu F. Tricaud, „Homo homini Deus", „Homo homini lupus": Recherche des Sources des deux Formules de Hobbes, in: R. Koselleck/R. Schnur (Hrsg.), Hobbes-Forschungen, Berlin 1969, S. 61-70; M. Rhonheimer, La filosofia politica di Thomas Hobbes, a. a. O., 5.2. Allerdings auch dies bei Mandeville nur „durch das geschickte Vorgehen eines tüchtigen Politikers", d.h. durch staatliche Lenkung. Mandeville war kein laissez faire-Liberaler, sondern dachte merkantilistisch; vgl. B. Mandeville, Die Bienenfabel, oder: Private Laster, öffentliche Vorteile (hrsg. v. W. Euchner), Frankfurt M . 1980, S.400. Vgl. dazu J. B. Schneewind, The Misfortune of Virtue, in: Crisp/Slote, Virtue Ethics, a. a. O., S. 178-200 und Schneewind., The Invention of Autonomy, a. a. O., S. 78 ff. (für Grotius) und 131 ff. (für Pufendorf). Politik, III, 15 1286a 19. Ebd. 25-26.

4 . MITMENSCHLICHER CHARAKTER UND FREUNDSCHAFT

225

spielt keine Rolle; Hauptsache sie entscheiden149. Heutiger Wirklichkeit entspricht eher: Die Entscheidung liegt letztlich in den Händen aller, bzw. einiger, die von allen kontrolliert werden, und es gilt die Entscheidung von Mehrheiten. Dies entspricht durchaus der letztlich doch sehr realistischen Sicht des Aristoteles. Nur würde er hinzufügen: Gerade deshalb ist ausschlaggebend, welche Art von Menschen diejenigen sind, die in einem Gemeinwesen Entscheidungen treffen. Das Thema gehört zur politischen Philosophie und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden150. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass es Gerechtigkeit als Tugend des einzelnen und als Institution nur geben kann, soweit alle sittlichen Tugenden gelebt werden; und dass so allein jene Solidarität oder Freundschaft unter Menschen Bestand zu haben vermag, die Grundbedingung dafür ist, dass die menschliche Gesellschaft nicht zerfällt, - auch wenn es zu ihrem Bestand auch der Rechtsstaatlichkeit, institutioneller Garantien und staatlicher Entscheidungssouveränität bedarf, d.h. Elemente, die Gerechtigkeit und Frieden bis zu einem gewissen Umfang auch unabhängig von Gerechtigkeit und Friedfertigkeit des einzelnen oder trotz ihres Fehlens zu garantieren vermögen (gerade dies ist eine der historischen Leistungen des modernen Konstitutionalismus und des Prinzips des Rechtsstaates). Dass diese Garantie aber eine Garantie für Gerechtigkeit ist, das wiederum hat seinen Grund in der Tatsache, dass die Schaffung eines solchen institutionellen Rahmens nicht nur einem Kalkül entspringt, dem letztlich nur das Eigeninteresse des einzelnen zugrunde liegt, sondern dass es vom Wohlwollen zum anderen getragen wird: von Gerechtigkeit und Freundschaft, die nun eben immer Tugenden des einzelnen bzw. deren Folge sind. Ein „Volk von Teufeln" jedoch wird sicherlich auch teuflische Gesetze haben. c) Sittliche Tugend und das Glück dieses Lebens Der Lasterhafte, so Aristoteles, habe „nichts Liebenswertes an sich" und „so kann er auch nicht mit sich selbst in Freundschaft leben"' 51 . Die Tugenden der Gerechtigkeit, des Starkmutes und des Maßes bewirken, dass der Mensch gleichsam mit sich selbst im Einklang 149

Zum Hintergrund dieses hobbesschen Dezisionismus vgl. M. Rhonheimer, „Autoritas non veritas facit legem": Thomas Hobbes, Carl Schmitt und die Idee des Verfassungsstaates, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 86 (2000) S. 484-498. 150 Vgl. auch M. Rhonheimer, Politisierung und Legitimitätsentzug, Freiburg/München 1979, Teil C (S. 313 ff.); sowie mein oben zitierter Aufsatz: Perché una filosofia politica? Interessante, wenn auch nicht in allen Punkten überzeugende Ansätze bietet D. L. Norton, Democracy and Moral Development. A Politics of Virtue, University of California Press, Berkeley-Los Angeles-Oxford 1991. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang auch die Debatte zwischen Liberalismus und „Communitarianism" in den USA, worauf hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann. Aus der enormen Fülle der Literatur seien genannt: A. Honneth, Grenzen des Liberalismus. Zur politisch-ethischen Diskussion um den Kommunitarismus, in: Philosophische Rundschau 38 (1991) und Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. (Theorie und Gesellschaft, 26), Frankfurt a. M. 1992; S. Mulhall / A. Swift, Liberals and Communitarians, Blackwell, Oxford / Cambridge Mass. 1992 (eine hervorragende Einführung). Und schließlich sei noch verwiesen auf M. Rhonheimer, L'immagine dell'uomo nel liberalismo e il concetto di autonomia: al di là del dibattito fra liberali e comunitaristi, in: I. Yarza (Hrsg.), Immagini dell'uomo. Percorsi antropologici nella filosofia moderna, Rom 1997, S. 95-133. 151

EN IX, 4 1166b 17.

226

I V . D I E SITTLICHEN TUGENDEN

lebt, dass sein Streben jene Sättigung und jene Freude besitzt, die nur durch die Ausrichtung gemäß jenem Guten, das die Vernunft aufzeigt, gefunden werden können. Dies ist kein egoistisches Glück, denn es besteht wesentlich gerade darin, jeweils den anderen wie ein eigenes Selbst zu lieben. Damit ist die frühere Bestimmung des Glücks dieses Lebens eingelöst: Die Ordnung der Affekte, Strebungen und Handlungen gemäß der Vernunft. Vernunftgemäßheit des Lebens eröffnet jedoch auch, weil die Vernunft herrscht, jene Öffnung des Strebens auf Erkenntnis nach Wahrheit, welches das dominante Ziel menschlicher Existenz ist. Die sittliche Tugend ebnet den Weg zur „Kontemplation", zum schauenden Besitz des Wahren. Die Klugheit selbst, und damit die Fülle der sittlichen Tugend, ist „Türhüterin der Weisheit" 152 . Dies ist, so meint Aristoteles, nur wenigen vergönnt. Und so wäre es auch geblieben, wäre nicht derjenige, der alle Wahrheit und Weisheit selbst ist, gekommen, um dem Menschen zu sagen: „Ich nenne euch nicht mehr Diener, sondern Freunde". Durch die Erhebung aus Gnade wird Gott dem Menschen und der Mensch Gott zum Freund. Und dadurch eröffnen sich jene Dimensionen der Tugend der Caritas, die den ausschnitthaften Bereich einer philosophischen Ethik zugleich übersteigen und vollenden153.

152

153

Das Bild erscheint in der ziemlich sicher Aristotelischen „Großen Ethik" (Magna Moralia), I, 34 1198b 13. Die Lehre findet sich auch in der Eudemischen Ethik, VIII, 3. Vgl. Thomas v. Aquin, De virtutibus cardinalibus, a. 1, ad 4. Vgl. dazu die Bemerkungen im Epilog.

V. Strukturen der Vernünftigkeit

1. Die Prinzipien der praktischen Vernunft a) Das „von Natur aus Vernünftige" Wie im vorhergehenden Kapitel herausgearbeitet wurde, ist das intentionale Zielstreben der einzelnen sittlichen Tugenden für die Klugheit, bzw. für das Handlungsurteil affektives Prinzip. Sittliche Tugend ist jedoch nicht nur eine affektive Struktur, sondern zudem auch die Richtigkeit (Aristoteles: orthotes) des Strebens. Diese Behauptung wiederum setzt voraus: Sittliche Tugend ist durch Strukturen der Vernünftigkeit formiert. Die Übereinstimmung des Handlungsurteils mit „richtigem Streben" nannte Aristoteles die „praktische Wahrheit" dieses Urteils und der nachfolgenden Handlungen. Worin aber gründet diese „Richtigkeit" des Zielstrebens und damit letztlich auch die praktische Wahrheit des Handlungsurteils, der Handlungswahl und des Handelns selbst? In seinem Kommentar zu jener Stelle der Nikomachischen Ethik, an der Aristoteles den Begriff „praktische Wahrheit" einführt, bemerkt Thomas, es scheine sich hier ein Zirkel zu finden: Aristoteles behaupte ja, die Wahrheit der praktischen Vernunft hänge von der Richtigkeit des Strebens ab, die Richtigkeit des Strebens jedoch wiederum von praktischer Vernunft. Thomas löst den Zirkel folgendermaßen: Jene praktische Vernunft, deren Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem richtigen Streben besteht, ist die Vernunft, die sich auf die „Wege zum Ziel" (die Mittel) richtet. Das Ziel selbst jedoch ist dem Menschen „von Natur aus bestimmt"1. Damit ist gesagt: Die fundamentale Zielstruktur menschlichen Handelns, ist nicht gesetzt durch einen Akt der Wahlfreiheit, sondern sie liegt jedem freien Wählen und entsprechendem vernünftigem Überlegen immer schon als Ausgangspunkt zugrunde, und zwar eben „von Natur aus". Aber was ist damit gemeint? Thomas verweist zurück auf das dritte Buch der Nikomachischen Ethik. Tatsächlich heißt es dort, Ziele seien bezüglich der Handlungswahl schon immer ein Zugrundeliegendes und damit vorgegeben. Und zwar entweder „von Natur", oder aber als erworbene Disposition. Denn das Ziel des Tugendhaften ist „richtig", das Ziel des Lasterhaften jedoch „verkehrt", und zwar aus eigenem Verdienst bzw. eigener Schuld. Was uns als Ziel gut und richtig erscheint - d.h. was wir als jenes Letzte erstreben, um dessentwillen uns das Leben als ein 1 In VI Ethic., lect. 2.

228

V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Ganzes erstrebenswert erscheint - das hängt wiederum davon ab, was wir selbst f ü r ein Mensch sind bzw. zu was für einem Menschen wir uns gemacht haben. Insofern aber das Ziel, bzw. die Einschätzung dessen, was Ziel ist, nicht unseren erworbenen Dispositionen entspringt, ist es ein von Natur Gegebenes 2 . Das gilt j a bereits vom „Glück": Wir erstreben es alle „von Natur aus". Damit ist freilich nicht geklärt, was denn ein Ziel „richtig" mache. Aber der Zirkel ist aufgelöst: Über jene Ziele, die unserem Handeln die fundamentale Orientierung verleihen, beratschlagen wir nicht und ebensowenig wählen wir sie; sonst würden wir nie handeln. Wir beratschlagen und wählen j a immer u m eines Zieles willen. Und zwar letztlich genau um jener Ziele willen, die wir entweder „von Natur aus" oder aufgrund unserer erworbenen Dispositionen erstreben. Was demnach einer für gut hält, das hängt letztlich davon ab, was für ein Mensch er ist, und das wiederum hängt davon ab, was er wählt und entsprechend tut. Die „Ziele", von denen hier die Rede ist, sind also wesentlich nichthintergehbare Ausgangspunkte d.h. Prinzipien. Eine ursprüngliche Zielwahl, die nicht bereits um eines vorausliegenden (und in diesem Sinne „höheren") Zieles erfolgt, d.h. eine absolut erste, freie Setzung dessen, was wir wollen, ist undenkbar. Eine „reine Wahl der Ziele", die ursprünglich und ohne vorausliegendes „Um-willen" sich vollzöge, wäre eine pure Entscheidung oder Setzung ohne Vernunft. Denn vernünftig wählen kann man nur hinsichtlich eines vorausliegenden Zieles. Das bedeutet allerdings nicht, dass nun die Prinzipien - also das jeweils Erste - vernunftlos erstrebt werden. Aber sie werden nicht gewählt. Und das heißt, es handelt sich um eine Ebene, wo Ziele bzw. Güter intellektiv als solche erkannt und entsprechend erstrebt werden, ohne dass dies jedoch einer Setzung im Sinne einer (Vorzugs-) Wahl entspringt. Allerdings ist dabei die Freiheit nicht aufgehoben; denn man kann sich der Intelligibilität dieser Prinzipien oder Güter und dem ihnen entsprechenden Streben - zumindest teilweise - auch widersetzen. Z.B. (vorgreifend): Auch wenn „Leben-wollen" nicht etwas ist, was wir „vernünftig wählen", sondern einfach immer schon wollen, so können wir uns diesem Streben doch widersetzen und „nicht mehr leben wollen".

Dennoch führt die Meinung des Aristoteles, unsere Auffassung vom Guten hänge jeweils davon ab, was für Menschen wir sind, nicht zu der Ansicht, letztlich sei alles relativ. Denn wir haben zwar die sittlichen Tugenden nicht „von Natur aus", aber auch nicht „gegen die Natur", sondern wir sind „von Natur aus" dazu angelegt, sie zu erwerben 3 . Zudem spricht Aristoteles von einer „natürlichen Tugend" 4 . Diese Rede unterstellt, dass es für jeden Habitus der sittlichen Tugend entsprechende naturgegebene Dispositionen gibt, die bei verschiedenen Menschen zwar wiederum von Geburt an verschieden ausgeprägt, aber eben sittliche Tugend gleichsam im Keim und als Anlage sind. Aber das allein würde uns j a noch keine kognitive Orientierung vermitteln, ja solche Tugend, die reines Vermögen ist, könnte sogar Schaden anrichten. Wirkliche, „eigentliche" Tugend, so Aristoteles, ist erst, wo auch Klugheit ist, wo also diese natürliche Disposition mit Vernunft einhergeht. Aber Vernunft allein, das wäre auch wieder nicht Tugend. Vernunft bedarf der natürlich angelegten Disposition oder Neigung. Der Habitus der Klugheit vervollkommnet demnach etwas, was zwar natürlicher-

2 Vgl. EN III 7,1114a 32-b 25. 3 EN II, 1. 4 Vgl. EN VI, 13 1144b 2-17.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN VERNUNFT

229

weise, aber nicht als sittliche Tugend bereits vorhanden ist. Gleichwohl hilft uns auch das nicht weiter. Denn „natürliche Tugend" als natürliche Tugend zu erkennen - als „Anlage zum Guten" - , das setzt ja selbst wiederum voraus, dass man schon weiß, was gut ist: Es setzt Erfahrung sittlicher Tugend als des Vollkommenen und deshalb Naturgemäßen voraus (vgl. III,5,e). Der Begriff der natürlichen Tugend ist von der Vollkommenheit her gedacht und von ihr her erst wird die natürliche Disposition als Disposition zur Tugend erkannt. Die Frage eines kognitiven Prinzips für diese Vollkommenheit ist damit also nicht gelöst. Die Möglichkeit einer Lösung hängt von der Antwort auf folgende Frage ab: Gibt es Ziele, die wir von Natur aus erstreben und auch als „richtige" Ziele unabhängig vom Besitz des Habitus der Tugend und seiner affektiv-kognitiven Orientierungsleistung erkennen können? Das Glück, die Eudaimonia ist zwar ein solches Ziel. Aber es taugt ja nicht zur Bestimmung unserer Handlungs-Wahlakte (vgl. 111,1). Gibt es Gutes, das wir von Natur aus erstreben und das zugleich Handeln zu leiten vermag? Wenn es das gibt, so wäre es in der Tat ein Handlungsprinzip, wie wir es suchen. Es wäre ein Kriterium von „Richtigkeit" des Zielstrebens. Allerdings könnte man fragen: Warum denn wäre es ein Kriterium von Richtigkeit? Es wäre doch zunächst ganz einfach nur ein Faktum, und richtig könnte immer noch jenes sein, was wir durch Hinterfragung dieses Faktums aus Freiheit bejahen oder auch verneinen. Der Einwand klingt zunächst plausibel. Es gibt jedoch einen gewichtigen Grund, ihn als falsch zu betrachten. Zunächst: Falls wir tatsächlich etwas von Natur aus als gut erstreben, so kann dies nur aus einem einzigen Grund sein: Weil unsere Vernunft wiederum von Natur aus dieses so Erstrebte als gut erkennt, und zwar in der Logik der Struktur praktischer Urteile der Art „p ist gut". Freilich ist jenes Gute, auf das sich das sinnliche Streben (auf der sinnlich-naturalen Ebene) richtet, damit nicht gemeint. Denn dieses Gut ist ja nur ein naturales Gut, und nicht ein „Gut der Vernunft" (bonum rationis). Aber der Wille - das „Streben in der Vernunft" - vermag sich ja auch auf solche in ihrem Ursprung bloß sinnliche Güter zu richten, und sie als Gut der Vernunft, d.h. in der Ordnung der Vernunft wiederum als gut (als „Gutes für die Vernunft") zu erfassen. Und insofern sie in dieser Ordnung von Natur aus als gut erkannt und erstrebt sind, sind sie eben „von Natur aus" Zielgüter menschlichen Handelns und damit Prinzipien der praktischen Vernunft. Worin besteht nun die Widerlegung des obigen Einwandes? Die Widerlegung lautet: Ein Streben, das sich auf solches richtet, was die Vernunft „von Natur aus" als gut erkennt, das ist notwendigerweise auch „richtig". Jede Freiheit, die ein solches Streben nur als bloßes Faktum anerkennen würde, um es darauf noch einmal hinsichtlich seiner Richtigkeit zu hinterfragen, würde sich selbst als vernunftgeleitete Freiheit aufheben. Sie würde nämlich fragen, ob das Vernünftige vernünftig sei, wenn anders die Frage nach Richtigkeit in eins fällt mit der Frage nach Vernünftigkeit. Dass dies aber der Fall ist, das haben wir ja bereits gezeigt: „Gut" und „schlecht", „richtig" und „falsch" im menschlichen Handeln bestimmen sich gemäß der Vernunft. Falls also die Vernunft etwas von Natur aus als Gut oder Übel erfasst, so ist ein entsprechendes Erstreben dieses Guten oder Fliehen dieses Üblen notwendigerweise - ja geradezu definitionsgemäß - auch richtig. Denn das Richtige ist eben genau das Vernunftgemäße, und nicht umgekehrt. Und das „von Natur aus Vernünftige" ist dann auch das „von Natur aus Richtige" oder Gute. Die Frage stellen, ob jenes Streben richtig sei, das sich darauf erstreckt, was wir von Natur aus als gut erfassen, hieße, Vernünftigkeit wiederum aufgrund von Kriterien der Vernünftigkeit hinterfragen zu wollen. Jedoch auch hier gilt: „Man kann nicht

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Gründe hören wollen dafür, dass man auf Gründe hören soll" 5 . Die Frage zielt ins Leere, und ebenso ins Leere zielte eine Freiheit, die, was von Natur aus von der Vernunft als gut erfasst wird, durch Hinterfragung zu problematisieren suchte. Ein solches „Faktum der Vernunft", das unableitbar ist und auch nicht aus „dem Bewusstsein der Freiheit" abgeleitet werden kann, sondern diesem zugrunde liegt, anerkennt auch Kant6. Allein, dieses Faktum ist bei Kant eigentlich gar kein solches einer ursprünglichen Vernünftigkeit, die „Gutes" zum Gegenstand hat, sondern die reine Gegebenheit des Bewusstseins eines Willens, der deshalb, so Kant, der Selbstgesetzgebung der Vernunft bedarf, weil dies die einzige Art von Bestimmtheit ist, die den Willen unabhängig von empirischen Bedingungen und damit in seiner Autonomie belässt. Kant umschreibt dieses Bewusstsein tatsächlich voluntaristisch mit dem Spruch sie volo, sie iubeo: „so will ich, so befehle ich"7. Vor aller Vernünftigkeit gibt es also bei Kant noch einmal die Autonomie des Willens (transzendentale Freiheit), dessen Vernünftigkeit aber gerade durch eine solche nicht an Vernunft gebundene Autonomie gefährdet ist. Denn Vernunft ist hier leigitimiert nicht durch ihre Aufgabe, die Ausrichtung des Willens nach dem Guten zu bewerkstelligen, sondern Freiheit und Autonomie des Willens zu wahren; damit wird das Verhältnis zwischen Vernunft und Freiheit (Wille) jedoch auf den Kopf gestellt. Deshalb ist die Kantische Ethik letztlich und in ihrer Tiefenstruktur nicht eine Ethik der Vernunftautonomie, sondern eine solche der Autonomie des Willens8. Dies ist bei Kant übrigens bereits vorgebildet in seiner Auseinandersetzung mit Rousseau („Rousseau hat mich zurecht gebracht") und der in der Kantischen Rousseau-Rezeption grundgelegten Bestimmung des „moralischen Gefühls" als ein Gefühl der Lust an der Anwendung der eigenen Freiheit9. So schreibt Kant in den Jahren 1764-65: „Der Wille ist vollkommen, insofern er nach den Gesetzen der Freiheit der größte Grund des Guten überhaupt ist. Das moralische Gefühl ist das Gefühl von der Vollkommenheit des Willens" l0 . Und weiter: „Wir haben Vergnügen an gewissen von unseren Vollkommenheiten, aber weit mehr, wenn wir selbst die Ursache sein. Am allermeisten, wenn wir die freie wirkend Ursache sein. Der freien Willkür alles zu subordinieren, ist die größeste Vollkommenheit. Und die Vollkommenheit der freien Willkür als einer Ursache der Möglichkeit ist weit größer als alle anderen Ursachen des Guten, wenn sie gleich die Wirklichkeit hervorbrächten ... Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über das, wogegen wir leidend sein, oder über uns selbst als ein tätig prineipium durch Freiheit vor dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl"". 5 R. Spaemann, Glück und Wohlwollen: Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, S. 11. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei K. Baier, Der Standpunkt der Moral, a.a.O., S. 293 ff. 6 Vgl. KpV, A 55 ff. (IV, S. 141 ff.). 7 Ebd., A 56 (S. 142). 8 Aus diesem Grund scheint mir auch die Ansicht von A. Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, S. 97 ff., dass es zwischen Thomas v. Aquin und Kant keinen Unterschied im „Zentrum des fundamentalethischen Ansatzes" gebe, eine nicht zutreffende Harmonisierung und Verharmlosung einer in der Tat tiefgreifenden Differenz. Kritisch gegenüber Anzenbachers Harmonisierung von Kant und Thomas ist auch Ch. Schröer, Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin, Stuttgart-Berlin-Köln 1995, S. 205 (Anm. 14). 9 Vgl. J.B. Sala, Das Gesetz oder das Gute? Zum Ursprung und Sinn des Formalismus in der Ethik Kants, in: Gregorianum 71 (1990), S. 67-95; 315-352; hier: S. 87. Der Artikel Salas hat mich auch auf die nachfolgend zitierten Stellen aufmerksam gemacht. 10 I. Kant, Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Akademie Ausgabe, Bd. XX„ S. 136f. 11 Ebd., S. 144 f. Zum Zusammenhang dieser Position mit Kants weiterer Entwicklung s. B. Sala, a. a. O. S. 88-95 und 315 ff. Zum historischen Hintergrund der Genese von Kants AutonomieKonzeption vgl. J. B. Schneewind, The Invention of Autonomy, a. a. O.

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Um das „von Natur aus Vernünftige" zu bestimmen, dafür hat uns Aristoteles keine Theorie geliefert, wohl aber Thomas von Aquin. Es ist seine Lehre über die lex naturalis, das „natürliche Gesetz". Zu diesem Terminus sind jedoch zunächst einige Bemerkungen angebracht, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden 12 . b) Zum Begriff des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) Lex naturalis, „natürliches Gesetz" oder „Naturgesetz" ist ein höchst verfänglicher Terminus. Wichtig ist der Kontext, in dem er entsteht. In der scholastischen Lehre von der lex naturalis finden sich zumindest zwei verschiedene Traditionen, die zusammenlaufen: Die altrömische Tradition der Juristen und ihres ius naturale, vor allem Ulpian 1 3 sowie die christliche Theologie des „Gesetzes", die teils biblische Vorgabe ist, teils auf der Augustinischen Lehre über die lex aeterna gründet. Diese jüdisch-christliche Tradition ist für die Terminologie „lex naturalis" ausschlaggebend 14 Erst nachdem nämlich Thomas in seiner Summa Theologiae bereits über die menschlichen Handlungen, ihre Spezifizierung und sittliche Qualifizierung durch die Vernunft, über „gut" und „schlecht" in den menschlichen Handlungen, über die Leidenschaften und die sittlichen Tugenden zumeist in Aristotelischen Kategorien alles Wesentliche gesagt hat, wendet er sich der spezifisch theologischen Frage nach dem Gesetz zu. Er rezipiert zunächst den Augustinischen Begriff des ewigen Gesetzes: Der Vernunft-Plan im göttlichen Geist, demgemäß alles geschaffene Sein auf sein Ziel hingeordnet wird. Dann ist vom „göttlichen Gesetz" (lex divina) die Rede: Der Offenbarung der im göttlichen Geist existierenden Hinordnung der Geschöpfe auf ihr über-natürliches Ziel, das als solches positive (wenn auch nicht menschliche) Satzung ist. Hier wiederum ist das Gesetz des Alten Bundes (lex vetus) von demjenigen des Neuen Bundes zu unterscheiden, der lex nova oder lex evangelica, die vor allem in der Gnade des Heiligen Geistes besteht und erst in zweiter Linie auch lex scripta ist. Weiter ist vom menschlich-positiven Gesetz (lex humana) die Rede. Immer handelt es sich dabei um Formen der „Partizipation" am ewigen Gesetz: Dem von Ewigkeit, sich mit der Vernunft Gottes selbst identifizierenden Plan, gemäß dem die Geschöpfe auf ihr Ziel hingeordnet werden. So gesehen ist auch die ganze Natur als Natur - also die „Naturordnung" - sowohl die menschliche als auch die nichtmenschliche, „Teilhabe am ewigen Gesetz", denn sie ist ja durch dieses „geregelt". „Gesetz" selbst bestimmt sich hier als Ordnung der göttlichen Vernunft (ordinatio rationis divinae) auf das Gute hin. 12 Eine ausführliche Darstellung der thomanischen Lehre über die lex naturalis findet sich in meinem Buch:-Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. (engl.: Natural Law and Practical Reason: A Thomist View of Moral Autonomy, New York 2000). Eine Analyse des Zusammenhangs zwischen der Doktrin über die lex naturalis (als Prinzipienlehre) und der Aristotelischen Tugendlehre findet sich in: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O. Für Details sei deshalb auf diese beiden Arbeiten verwiesen. 13 Wie wenig in Tat und Wahrheit Thomas' Begriff der lex naturalis von Ulpians „ius naturale" bestimmt wurde, bzw. wie sehr Thomas Ulpians Lehre umformte, zeigt W. E. May, The Meaning and Nature of the Natural Law in Thomas Aquinas, in: American Journal of Jurisprudence 22 (1977), 168-189. 14 Vgl. für die Entwicklung des thomanischen Begriffs von lex naturalis von der Bestimmtheit durch die Augustinische lex aeterna zur Aristotelischen Tugendlehre: G. Abbä, Lex et virtus. Studi sull'evoluzione della dottrina morale di san Tommaso d'Aquino, Rom 1983.

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„Gesetz" im allgemeinen wird näherhin bestimmt als „Regel und Maßstab, gemäß dem jemand zum Handeln geführt oder von ihm abgehalten wird"; es „verpflichtet zum Handeln"; es ist „Maßstab menschlicher Handlungen"; „erstes Prinzip menschlicher Handlungen"; „etwas, was zur Vernunft gehört"; „etwas, was durch den Akt der Vernunft konstituiert wird"; Gesetze sind „universale, auf Handlungen bezogene Aussprüche (propositiones) der praktischen Vernunft"; die Vernunft, die hier gemeint ist, ist jene Vernunft, die bewegt, weil sie selbst vom Willen bewegt d.h. in Streben eingebettet ist. Der Begriff des Gesetzes erfüllt also alle wesentlichen Eigenschaften einer durch praktische Vernunft erstellten Anordnung und bestimmt sich schließlich als ordinatio rationisls.

Der Mensch findet sich also erstens eingespannt in eine „Naturordnung". Diese jedoch ist zwar Teilhabe am ewigen Gesetz, selbst jedoch ist sie nicht ein Gesetz, denn „Gesetz" findet sich nur dort, wo praktische Vernunft zu finden ist; jedes Gesetz ist ja ordinatio rationis. Die sinnlichen Neigungen des Menschen jedoch und alle nicht-menschlichen innerweltlichen Lebewesen erstreben das ihnen eigentümliche Gute nicht aufgrund von Vernunft; also stellen sie auch nicht ein „Gesetz" auf. Sie unterstehen freilich, als geschaffene Wirklichkeiten, dem ewigen Gesetz. Und insofern sie an diesem teilhaben, kann man sie „Gesetz" nennen; aber nicht im wesentlichen, sondern nur im abgeleiteten (teilhabenden) Sinn 16 . Diese Art von „Gesetz-Mäßigkeit" ist hier jedoch überhaupt nicht von Interesse. Denn wenn es überhaupt ein für sittliches Handeln und Moral relevantes „natürliches Gesetz" gibt, dann muss es eine Wirklichkeit sein, das der inneren Struktur menschlichen Handelns als freiem, vernunftgeleitetem, willentlichem Handeln entspricht.

Zweitens findet der Mensch die offenbarte Weisung zum Guten hin (als göttliches Gesetz). Dieses entspringt jedoch nicht seiner Vernunft; es wird von ihr nur anerkannt und aufgenommen. Drittens schließlich ist das menschliche Leben eingebunden in die Weisungen menschlicher Gesetze. Und nun erhebt sich die Frage: Gibt es denn nicht auch eine ordinatio rationis, eine Anordnung oder Weisung der Vernunft zum Guten, die dem Menschen „natürlich" ihm von Natur aus eigen - ist, und in diesem Sinne ein natürliches Gesetz genannt werden kann? Das heißt: Eine von Natur aus im Menschen bestehende praktische Vernünftigkeit, die im Sinne einer Anordnung der Vernunft unabhängig von göttlicher oder menschlicher Satzung den Weg zum Guten weisen kann? Ein solches „Gesetz" wäre dann weder göttliche noch menschliche positive Weisung und auch nicht „Natur" (denn diese konstituiert als solche keine ordinatio rationis); es wäre nicht ein „Gesetz der Natur" und keine „Naturgesetzlichkeit". Sondern vielmehr etwas, was „von Natur aus" den Charakter eines Gesetzes, d.h. einer Anordnung der Vernunft auf das Gute hin besitzt. Ja, solches gibt es, sagt Thomas: Es ist nichts anderes als die Ordnung, welche die praktische Vernunft des Handlungssubjekts „von Natur aus" durch ihre präzeptiven Akte in den menschlichen Neigungen und Handlungen erstellt. Sobald einmal gesagt ist, dass das „natürliche Gesetz" die in den menschlichen Neigungen und Handlungen Ordnung erstellende praktische Vernunft des Menschen ist, so wird einleuchtend, das im Kontext einer rein philosophischen Ethik der Terminus „Gesetz", zumindest in diesem Zusammenhang, genau genommen redundant ist. Die Kategorie der lex natura15 Alle diese Bestimmungen über das Gesetz im allgemeinen finden sich in I—II, q. 90, a.l, c. sowie ad 2 und ad 3. 16 I-II,q. 90, a. l a d l .

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Iis ist eigentlich nicht etwas Neues, was zur Lehre über die maßstäbliche Rolle der Vernunft hinzukommt, sondern sie weist bei Thomas gerade zurück auf die Lehre von der praktischen Vernunft, auf die Lehre über die menschlichen Handlungen, die Bestimmung von gut und schlecht durch die Vernunft, die Anthropologie von Vernunft, Wille und sinnlichem Streben und die Lehre über die sittliche Tugend17. Neu ist hier lediglich die Einordnung dieser Lehre in den Kontext einer christlichen Gesetzestheologie, eine Einordnung, die Thomas allerdings an anderer Stelle selbst wiederum biblisch zu begründen vermag18, und die im Rahmen einer Philosophie des ewigen Gesetzes vorgenommene Zurückführung menschlicher praktischer Vernunft auf göttliche Vernunft, den Aufweis des theonomen Ursprungs und der theonomen Gründung praktischer Vernunft also (s. unten V. 2 c). „Lex naturalis" meint also nichts anderes als die Prinzipien der praktischen Vernunft aufgrund derer das Zielstreben der sittlichen Tugend kognitiv geleitet wird. Die „lex naturalis" ist ein „Gesetz" der praktischen Vernunft, und das heißt: sie ist eine bezüglich menschlicher Strebungen und Handlungen und der Unterscheidung zwischen „gut" und „schlecht" in ihnen maßstäbliche Regelung durch die praktische Vernunft des Menschen u n d d a m i t a u c h d a s

Ensemble der kognitiven Prinzipen der sittlichen Tugend. Deshalb genügt es, von nun an, anstatt von „natürlichem Gesetz" oder „Naturgesetz" von praktischen Prinzipien oder den natürlichen Prinzipien der sittlichen Tugend zu sprechen. Genau dann, wenn man diesen ursprünglichen Kontext einer „Theologie des Gesetzes" vergisst, wird der Begriff „Naturgesetz" problematisch, verfänglich, ja geradezu irreführend. Es entsteht dann aus einer ursprünglich rein theologisch gemeinten Einordnung der Lehre von der praktischen Vernunft und menschlicher personaler Autonomie in den biblischen Kontext des „Gesetzes" eine philosophisch verselbständigte Kategorie, in welcher anstelle der Perspektive der Vernunft dann jene der „Natur" in den Vordergrund tritt. Verstärkt wird dies durch den neuzeitlichen, naturwissenschaftlichen Begriff von „Naturgesetzen" und die Vermischung mit der neuzeitlich-naturrechtlichen Tradition („Jusnaturalismus"). Das ius naturale, das „von Natur aus Rechte" ist eben gerade nicht „Naturgesetz", sondern wird vielmehr erst durch den praktischen, ordnenden Akt der Vernunft als ein solches „von Natur Rechtes" erfasst. Wenn deshalb Thomas von einer dem menschlich-positiven Gesetz vorgeordneten „lex naturalis" spricht, so vergleicht er dieses wiederum mit ersten Prinzipien der praktischen Vernunft, unter deren Leitung das menschliche Gesetz partikulare Konkretionen „hinzufindet"

Damit enthüllt nun die oben angeführte Aussage von Thomas, dass uns die Ziele der Tugenden „von Natur aus bestimmt" sind, erst ihren eigentlichen Sinn: Diese Ziele sind nicht eigentlich Naturfinalitäten oder eine Naturordnung, die von der Vernunft erkannt, auf Grund der Erfassung ihres theonomen Ursprungs als verpflichtendes Sollen anerkannt und entsprechend angewandt oder befolgt werden. Vielmehr sind diese Ziele ein naturaliter cognitum, etwas, was die menschliche Vernunft auf eine naturhafte Weise und unabhängig von der Erkenntnis eines hinter der Naturordnung stehenden Schöpfergottes erfasst. Das heißt auf eine Weise, die zwar eben „vernünftig" ist, aber nicht jener Vernünftigkeit entspricht, mit der wir über „Mittel zu einem Ziel" beratschlagen, also überlegen, sondern einer Art von Vernünftigkeit, die selbst 17 Sehr gut wurde dies bemerkt von J. Tonneau, Absolu et obligation morale, Montréal-Paris 1965, S. 89 f. 18 Vgl. seinen Kommentar zum Römerbrief, II, lect. 3. 19 Vgl. I - I I , q . 9 1 , a . 3 .

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wiederum „Natur" ist: „Natur" heißt aber jenes, das „auf Eines hin determiniert ist". Es handelt sich hier um einen eigenen Akt des prinzipienerfassenden Intellektes, durch den mit naturhafter Spontaneität oder Unmittelbarkeit all jenes erkannt wird, was für jedes weitere praktische Erkennen Ausgangspunkt und Grundlage bildet. Wir entdecken jetzt also praktische Vernunft insofern sie „Natur „ist, oder die natürliche Vernunft (ratio naturalis) und auch einen entsprechenden Willen „als Natur" (voluntas ut natura)20. Gäbe es keine „Vernunft als Natur" oder „naturhafte Vernunft", kein „von Natur aus Vernünftiges", gäbe es also in Vernunft und Vernünftigkeit nichts, was von Natur aus bestimmt und aller nachfolgenden Vernünftigkeit vorgeordnet und dessen Grundlage wäre, so gäbe es überhaupt keine Vernünftigkeit, sondern nur blindes Streben, affektive Konditionierung, soziale Konventionen, internalisierte gesellschaftliche Zwänge, das Recht des Stärkeren, die Macht der Experten; es gäbe keine Autorität, die nicht auch immer Bedrohung der Freiheit wäre; es gäbe keine praktische Wahrheit. Es gäbe keine Unterscheidung zwischen „gut" und „schlecht" außer derjenigen dessen, der die Macht besitzt, diese Unterscheidung gegenüber anderen durchzusetzen. Eine Vernunft ohne „Natur" wäre grund-lose, orientierungslose Vernunft. Sie wäre reines Instrument für irgendwelche Zwecke. Wir alle wissen natürlich, das sie dies nicht ist und nicht sein darf. Vertreter der Diskursethik würden hier freilich Einspruch erheben, denn Diskursethik beansprucht ja nicht nur, eine adäquate Rekonstruktion moralischer Vernunft zu sein, sondern dabei gerade von der Voraussetzung auszugehen, dass so etwas wie die Feststellung naturgegebener moralische Einsichten der einzelnen Subjekte keine Grundlage für die Anerkennung moralischer Verbindlichkeiten schaffen könne. Dafür, so heißt es, fehlt es uns in einer nachmetaphysischen, wertpluralistischen und rationalitätsskeptischen Epoche an den begrifflichen Mitteln. Nur in einem intersubjektiven Verständigungsprozess ließen sich sittliche Normen begründen, und zwar indem die moralisch relevanten, allen Diskursen bzw. allem auf Verständigung zielendem Handeln immer schon zugrunde liegenden Voraussetzungen analysiert und zu Bedingungen der Möglichkeit normativer Geltungsansprüche erhoben werden. Damit wird versucht, moralische Vernunft konsensuell d.h. als kommunikative Vernunft wiederzugewinnen. Das Problem der Diskursethik besteht jedoch darin, dass Diskursteilnehmer bereits moralische Subjekte sein müssen, um die Bedingungen zu erfüllen, die sie zu kompetenten bzw. akzeptablen Diskursteilnehmern machen. Und je nach dem, wie diese moralische Kompetenz der einzelnen Akteure und Diskursteilnehmer gedacht wird und entsprechende Wertpräferenzen wirksam werden, wird der Diskurs herauskommen, vor allem auch das, was Diskursethiker den „Anwendungsdiskurs" nennen21. Durch den Diskurs selbst jedenfalls können Akteure keine moralischen Subjekte werden, da sie ja, wenn sie es im Sinne der Diskursethik nicht schon wären, vom Diskurs ausgeschlossen wären. Deshalb setzt jede Diskursethik bereits voraus,

20 Vgl. I—II, q. 10, a. 1. 21 Vgl. z.B. den Beitrag von A. Matheis, Ethik und Euthanasie. Diskursethische Kritik von Peter Singers Konzept Praktischer Ethik, in: K.-O. Apel und M. Kettner, Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 232-259, wo der Entscheidung über Leben und Tod ein privilegierter Status eingeräumt wird (S. 251,253) und von der „Unverfügbarkeit existentieller Grenzsituationen" (S. 255) die Rede ist, was natürlich Wertpräferenzen entspricht, die von der von Matheis kritisierten Singerschen Position gerade nicht geteilt werden. Das entscheidende diskursethische Argument, die Behinderten müssten als Betroffene ihre Interessen selber vertreten, scheint hier zudem ins Leere zu greifen, weil jene Behinderte, deren Leben Singer jegliche Qualität abspricht, gerade solche sind, die an einem Diskurs gar nie teilnehmen könnten (z.B. ein anenzephaler Säugling oder ein im Dauerkoma liegender PVS-Patient).

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was eine Theorie des „von Natur aus Vernünftigen" bzw. der Prinzipien der praktischen Vernunft gerade aufzuweisen versucht: die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjekts. Falls aber eine solche Antwort möglich ist, wird der Anspruch des diskursethischen Programms deutlich relativiert.

c) Das erste Prinzip der praktischen Vernunft „Prinzip" (arche) ist jenes, in dem alles Nachfolgende seinen Ausgangspunkt hat. Ein Erkenntnisprinzip ist Ausgangspunkt von Erkenntnisakten. Und ein Prinzip praktischer Vernunft ist Ausgangspunkt praktischer Vernunfttätigkeit. Da praktische Vernunft in Streben eingebettete Vernunft ist, besitzen ihre Prinzipien jeweils den Charakter eines Imperium oder Praeceptum: Sie sind „Anordnung", „Befehl", „Gebot", das heißt ein kognitiver Akt, der zum Handeln bewegt. Ein „erstes Prinzip" der praktischen Vernunft ist ein solches, von dem dieser imperative (oder präzeptive) handlungsleitende Prozess der praktischen Vernunft seinen ursprünglichen Ausgang nimmt und das selbst Prinzip anderer spezifischerer Prinzipien ist. Zudem muss es dies, „von Natur aus" tun (und nicht aufgrund von Überlegung und Wahl) und es muss ein „von Natur aus erstes Prinzip" sein, das aufgewiesen, aber nicht eigentlich begründet werden kann (was eigentlich für alle Prinzipien gilt). Man könnte freilich einwenden: Es gibt gar keine eigentlichen praktischen Prinzipien. Am Anfang stehe die theoretische Erkenntnis dessen, was „ist", und daraus können dann praktische Anwendungen erschlossen werden. Zuerst müsse man doch erkennen, was der Mensch ist; und dann erst könne man etwas über die Ordnung seines Handelns sagen. Praktische „Prinzipien" seien immer schon abgeleitete Sätze, die nur durch Metaphysik, Anthropologie oder eine empirisch-humanwissenschaftliche Erkenntnis begründet werden können. Kritiker einer an Aristoteles bzw. der klassischen ethischen Tradition anknüpfenden Tugendethik setzen zumeist voraus, dass die im obigen Einwand formulierte Position die authentische und einzig mögliche Position einer solchen Ethik ist, dass hier also praktische Prinzipien keinen eigenständigen Status besitzen, sondern in irgend einer Weise aus starken metaphysischen bzw. theoretischen Prämissen abgeleitet werden22. Da solche Kritiker der Meinung sind, solche Prämissen seien nicht (oder nicht mehr) begründbar, halten sie jegliche Form eines „neoaristotelischen" Projekts von vornherein als zum Scheitern verurteilt.

Dem obigen Einwand, praktische Prinzipien seien doch bereits aus metaphysischen oder anderswie gewonnenen Wahrheiten über das Wesen des Menschen abgeleitete Sätze, müsste man jedoch entgegenhalten: Wie können wir denn überhaupt wissen, „was der Mensch ist"? Um zu wissen, was der Mensch ist, genügt es ja nicht zu wissen, was Menschen faktisch tun, was sie faktisch erstreben und für gut halten oder in welchem, durch empirische Humanwissenschaften aufweisbaren, naturalen und sozialen Bedingungsgefüge sich ihre Akte jeweils vollziehen. Um zu wissen, was der Mensch ist, müssen wir wissen, was für den Menschen gut ist, bzw. was man allein vernünftigerweise als gut erstreben kann (vgl. oben III,5,e). Das können wir aber nur wissen, wenn wir wissen, was der Mensch faktisch von Natur aus vernünftigerweise als „gut" erstrebt. Folglich kann uns eine rein theoretische Außen22 Vgl. z. B. E. Tugendhat, Retraktationen, in: Tugendhat, Probleme der Ethik, a. a. O., S. 146; J. Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus, in: Habermas Erläuterungen zur Diskursethik, a. a. O., S. 81.

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ansieht des Menschen nicht mehr sagen, als was wir unabhängig von den Akten seiner praktischen Vernunft von ihm wissen können; z.B. dass er zur Gattung der Säugetiere gehört oder dass er instinktschwach ist. Eine Theorie, die wirklich konsequent damit beginnt, zu bestimmen, „was der Mensch ist", um daraus Normatives abzuleiten, ist der Behaviorismus, der wiederum zur Gattung der naturalistischen Theorien gehört. Schon dass wir „vernünftige Säugetiere" sind, das wissen wir ja nur, insofern wir Selbsterfahrung von unserer Vernünftigkeit besitzen. Und dass wir Säugetiere sind, die jeweils erstreben, was sie aufgrund von Vernunft als gut erfassen, das wiederum wissen wir nur, insofern wir Selbsterfahrung von den Akten unserer praktischen Vernunft besitzen. Und diese Akte wiederum erkennen wir nur aufgrund ihrer Inhalte (oder Objekte). Und dieses Objekt ist ganz allgemein das Gute. Eine Ableitung der Prinzipien der Praxis aus Erkenntnis darüber „was der Mensch ist", würde also in einem Zirkel enden. In Wirklichkeit setzt jede nicht-naturalistische und nicht-reduktionistische Anthropologie bereits Selbsterfahrung jener geistigen Akte voraus, die wir eben nicht einfach beobachten können, es sei denn in uns und an uns selbst. Zu diesen Akten gehören auch jene der praktischen Vernunft. Damit wird deutlich: Eine Ethik, die eine substantielle Theorie des Guten mit allgemeinverbindlichem Anspruch vertritt, muss sich also nicht auf Metaphysik gründen, im Gegenteil. Es entspricht ja auch unserer Erfahrung, dass die Akte der praktischen Vernunft ihren eigenen Ausgangspunkt besitzen, und nicht „Ableitungen" oder „Anwendungen" von theoretischen Urteilen darüber sind, „was der Mensch ist". Früher (III, 3 a) sahen wir: Aus der Erkenntnis, dass wir Wesen sind, die sich durch Ernährung erhalten, können wir nicht ableiten, dass es nun „gut" ist, sich zu ernähren (im Sinne eines Urteils „p ist gut", „p ist zu tun", das zum Handeln bewegt). Denn dies könnten wir nur, insofern wir wüssten, dass es „gut" ist, uns selbst zu erhalten. Und mehr noch: Dass es ,/ür mich gut ist", mich zu erhalten. Aber woher wissen wir das? Und wie könnten wir das begründen? Letztlich wissen wir es doch, weil wir und insofern wir tatsächlich Selbsterhaltung als unser Gut erstreben, und zwar nicht aufgrund einer Überlegung, ob sie nun gut sei und ob wir sie deshalb wählen sollten, sondern eben ganz einfach „von Natur aus". Deshalb erfasst die Vernunft dieses Streben als „gut" und wird es vom Willen in der Ordnung der Vernunft als Gutes (als bonum rationis) erstrebt. Das ist nun aber nicht eine Begründung des Gutseins von Selbsterhaltung. Ihr Gutsein ist vielmehr gerade das Erste überhaupt, was von der Vernunft in diesem Bereich erfasst wird - sie ist ein „von Natur aus Vernünftiges" - , und ist deshalb Grundlage für jede weitere Begründung. Nur der konsequente Naturalist könnte den Hinweis auf das Faktum des Strebens als Teil einer „Begründung" missverstehen: Er könnte sagen, wir folgen eben notwendigerweise unseren Trieben, und worauf sich der Trieb richtet, das nennen wir „gut". Aber sollte das allein schon ein Kriterium für das Gute sein, dann gäbe es keine Moral mehr, sondern nur noch Naturwissenschaft und Techniken der optimalen Triebsteuerung. Von einem moralischen Standpunkt her kann es hingegen sehr schlecht sein, seinem Trieb zu folgen. Das naturale Faktum als solches - sofern es nicht auch ein Faktum der Vernunft ist - ist kein Kriterium für das sittlich Gute. Nur ein Urteil der Vernunft „p ist gut" bezüglich dieses Faktums vermag das „für den Menschen Gute" zu konstituieren. Wir müssen das Gute als der Vernunft gegenständliches Gutes also bereits vorher erfasst haben, um das naturale Faktum gemäß Kriterien von „gut" und „schlecht" werten zu können. Und das heißt: Wir müssen immer schon wissen, „was für den Menschen gut ist", um uns selbst richtig zu interpretieren und um zu verstehen, „was der Mensch ist". Wenn auch das Sollen im Sein gründet, so führt jeder Versuch einer ursprünglichen Ableitung des Sollens aus dem Sein in eine Sackgasse. Das ursprüngliche

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Erfassen von Strebungen als „gut" ist eine Leistung der praktischen Vernunft. Sie konstituiert deshalb auch das „Sollen", das uns erst ermöglicht, menschliches Sein ohne naturalistische Fehlschlüsse adäquat zu verstehen. Natürliche Bedingtheit praktischer Erkenntnis des Guten und Gesollten ist also nicht zu verwechseln mit Ableitung praktischer Erkenntnis aus (theoretischen) Erkenntnissen über die Natur; letztere ist für die Ethik kein gangbarer Weg (vgl. auch III,5,e): Die Behauptung, praktische Vernunft und damit Moral insgesamt finde in einem „von Natur aus Vernünftigen" ihren Ausgangspunkt, hat nichts mit der Auffassung gemein, moralische Normen bzw. Werte könnten ursprünglich aus einer Metaphysik der „menschlichen Natur" abgeleitet werden. Es sei denn, man verstehe unter einer solhen Metaphysik eine philosophische Lehre vom Menschen, welche die originär praktische Erfahrung des „von Natur aus Vernünftigen" bereits voraussetzt und einschließt. Das praktische Urteil „p ist gut" ist ein Urteil im Kontext eines Strebens. Und da praktische Vernunft in Streben eingebettete Vernunft ist, so muss sie auch einen eigenen, auf keine anderen Urteile zurückführbaren Ausgangspunkt besitzen23. Welcher ist dieser Ausgangspunkt? Er ist ein anderer, als derjenige theoretischer Urteile der Art „A ist B". Für die theoretische Vernunft gibt es ein erstes Prinzip: „Etwas kann nicht in gleicher Hinsicht zugleich sein und nicht sein". Dieses Prinzip gründet auf der Struktur des Seienden (der ratio entis) schlechthin. Würde es als Prinzip nicht immer zugrundeliegen, so wäre ein Urteil der Art „A ist B" sogleich zu ergänzen mit dem zweiten Urteil „A ist auch nicht B". Das heißt, es könnte gar nicht vollzogen werden. Eine Theorie dafür, dass beide Urteile nebeneinander bestehen können, weil das Widerspruchsprinzip nicht gilt, ist die Hegeische Dialektik. Aber sie beruht wiederum auf der Behauptung, das reine Sein sei ursprünglich identisch mit dem reinen Nichts24. Dies ist jedoch selbst ein erstes Prinzip, allerdings nicht ein konstitutives, sondern ein solches, das jeglichen Gegenstand „aufhebt" und „vernichtet", um den „wahren Gegenstand" erst zu konstruieren. Hegel hat am konsequentesten den Gedanken der Neuzeit zu Ende gedacht, dass Erfahrung nicht Gegebenheit, sondern Konstruktion ist. Was dabei zurückbleibt ist aber kein Gegenstand mehr, sondern nur noch das Erfahrung konstruierende Subjekt des absoluten Idealismus. Aufgrund jener Urteile, die im Bereich der Struktur des Seienden vollzogen werden, würden wir jedoch nie handeln. Die praktische Vernunft muss deshalb einen ihr eigenen Ausgangspunkt besitzen. Ihr erstes Prinzip gründet nicht auf der Struktur des Seienden, sondern auf jener des Guten25. Diese ratio boni lautet „Das Gute ist jenes, wonach alles strebt"26. Praktische Vernunft konstituiert sich ja durch Streben. Das erste, was jene Vernunft, die praktisch ist, erfasst, ist ein „Erstrebtes". Und dieses vergegenständlicht sie als ein „Gutes". Der Begriff des „Guten" ist ja nichts anderes als der Begriff dessen, was Korrelat eines Strebens ist und insofern es ein solches Korrelat ist.

23 Es sei an die früheren Ausführungen (III,3,a) über „Das Praktische der praktischen Vernunft" erinnert. Die praktische Prinzipienlehre des Aristoteles hängt eng mit seiner Bewegungslehre aus De Anima III und De Motu Animalium zusammen. 24 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik (hrsg. von G. Lasson), Hamburg 1967, S. 67. 25 Vgl. zum Folgenden: I—II, q. 94, a. 2. Siehe auch G. Grisez, The First Principle of Practical Reason: A Commentary on the Summa Theologiae, 1-2, Question 94, Article 2, in: Natural Law Forum 10 (1965), S. 168-201. Leicht gekürzte Fassung in: A. Kenny (Hrsg.), Aquinas: A Collection of Critical Essays, Garden City N.Y. 1969, S. 340-382. 26 Vgl. EN 1,1 1094a 3.

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Ebenso gibt es freilich auch solches, was dem Streben entgegengesetzt ist, wovor es also flieht, auf das es sich durch Abwendung, Flucht, Meidung usw. bezieht. Dies nennen wir ein Übel. Aufgrund dieser Grundstruktur von „gut" und „übel" formuliert sich nun das erste Prinzip der praktischen Vernunft (das Thomas selbstverständlich im Zusammenhang das erste Gebot, praeceptum, des „natürlichen Gesetzes" nennt): „Das Gute ist zu tun und zu verfolgen, das Üble zu meiden" (bonum estfaciendum et prosequendum, et malum vitandum)27. Eine Trivialität, so könnte es scheinen. Um eine bloße Trivialität handelte es sich in der Tat, wenn wir in diesem Prinzip eine reine „Aussage" erblickten, also ein Urteil der theoretischen Vernunft. Als solches wäre es nämlich eine Tautologie oder eine bloße Erklärung der Ausdrücke „gut" und „übel". Die Pointe ist nun aber, dass eine solche theoretisch-erklärende Aussage, dass wir „gut" nennen, was zu tun und zu verfolgen, und „übel", was zu meiden ist, gerade die Erfahrung dieses Prinzips als praktisches bereits voraussetzt. Die theoretische Aussage entspringt einer Reflexion über dieses Prinzip und ist nicht sein Ursprung; (um zu handeln, sagen wir uns ja nicht immerfort „Das Gute ist zu tun ..."). Seinen Ursprung als Handlungsprinzip besitzt es gerade in der praktischen Vernunft und in ihrer Faktizität als praktische, in Streben eingebettete Vernunft. Unabhängig von diesem Faktum wäre auch das reflexe, theoretische Urteil gar nicht möglich. Als Urteil der praktischen, in Streben eingebetteten Vernunft ist dieses Prinzip nun aber keine Tautologie, weil Tautologien ohnehin nur zum Bereich theoretischer Urteile, also bloßer „Aussagen über etwas" gehören. Das Wollen einer konkreten Handlung „p" besitzt ja denselben Inhalt wie die Ausführung dieser konkreten Handlung „p". Wäre er nicht derselbe, so hätte man ja nicht getan, was man wollte, also auch nicht die gewollte Handlung „p" dann tatsächlich vollzogen. Aber dennoch ist „Wollen von p" und „p-tun" ja auch wiederum nicht dasselbe. Etwas tun wollen und das Gewollte auch tun, das ist nicht einerlei. Deshalb würden wir auch nicht sagen, Handeln, das sei eine bloße Tautologie, in diesem Fall eine Verdoppelung von „p", oder von „p" wiederum „p" aussagen. Das entscheidende am Wollen von „p" ist ja gerade, dass dieses Wollen tatsächlich zum Tun von „p" führt, und dass „p-Tun" gegenüber dem Tun-Wollen von „p" eben tatsächlich ein Mehr ist. Und genau so verhält es sich mit dem ersten Prinzip der praktischen Vernunft: Es führt uns nämlich dazu, überhaupt Gutes zu tun und zu verfolgen, und Übles zu meiden. Es ist das fundamental handlungsbegründende Urteil überhaupt. Es konstituiert die praktische Differenz, die bereits moralische Differenz ist. Das erste Prinzip der praktischen Vernunft bewegt also überhaupt zum Handeln. Es ist ein imperium oder praeceptum. Denn Handeln kommt ja nur immer unter der Differenz von „gut" und „übel" zustande, und zudem, insofern diese Differenz zum Prozess eines Strebens gehört. Das erste Prinzip der praktischen Vernunft liegt also jedem nachfolgenden Urteil der Art „p ist gut", „p ist zu tun" (bzw. „p ist schlecht", „p ist nicht zu tun") implizit zugrunde: Es ist im wahrsten Sinne Prinzip der Praxis. Dass das erste Prinzip der praktischen Vernunft, wie auch alle nachfolgenden Prinzipien, Prinzip der Praxis und nicht der Ethik ist, bedeutet näherhin, dass es Handlungsprinzip von konkreten Handlungssubjekten, und nicht Prinzip des Diskurses über Praxis, z.B. eines von Ethikern gefühlten Normendiskurses ist. Es ist jenes Prinzip, das vernünftigem menschlichen Handeln immer schon zugrunde liegt und dessen inneren, intelligiblen Antrieb bildet. Praktische Prinzipien sind nicht Denk- oder Reflexionsprinzipien, sondern Bewegungs- d.h. Handlungsprinzipien. Praktische Vernunft und ihre Prinzipien sind, zunächst einmal, nicht 27 I—II, q. 94, a. 2.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN V E R N U N F T

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„Ethik" oder Normendiskurs, sondern zum Handeln antreibende Vernunfteinsicht des sittlichen Subjekts selbst. Dies lässt sich dann auch auf praktische Prinzipien generell bzw. auf die lex naturalis übertragen: Auch hier handelt es sich nicht um Aussagen über Praxis im Modus der Reflexion, sondern um unmittelbar handlungsantreibende praktische Urteile universaler Art, welche den Menschen als sittliches - in seinem Handeln unter der Differenz von gut und böse stehendes - Subjekt konstituieren. Praktische Prinzipien sind deshalb auch nicht eigentlich „Normen", an denen sich praktische Erkenntnis auszurichten hätte, sondern gerade genuine praktische Erkenntnisleistungen des handelnden Subjekts selbst, die dann erst nachträglich Grundlage und Maßstab für „sittliche Normen" sind (s. V, 3). Genau deshalb muss es als Verkürzung erscheinen, im ersten Prinzip lediglich den Ausdruck der „Struktur praktischer Vernünftigkeit überhaupt" zu sehen, welche „die formale Widerspruchslosigkeit des als gut Erkannten festhält" 28 . Entsprechend wird dann praktische Wahrheit nur noch als Kohärenz des Denkens über Praxis verstanden und die aristotelische Idee praktischer Wahrheit als Übereinstimmung mit dem richtigen Streben wird zur bloßen Übereinstimmung mit dem „jeweils vorgegebene(n) übergreifende(n) Ziel" 29 . Ebenso wenig zutreffend scheint die Bezeichnung des ersten Prinzips der praktischen Vernunft als „Prinzip der praktischen Nichkontrarietät" zu sein30. Der rein logische Charakter dominiert bei einer solchen Auffassung gegenüber dem dynamisch-praktischen oder handlungspsychologischen Aspekt, der m. E. hier der entscheidende ist. Die grundlegende Differenz „wahr"/„falsch" bzw. „ja"/„nein", wie er Aussagen der theoretischen Vernunft eigen ist, besitzt gemäß Thomas ihr Pendant nicht in einer Differenz „gut"/„böse", die gleichsam der grundlegende Aussagemodus praktischer Vernunft wäre. Das praktische Pendant zur theoretischen Konstatierung „wahr"/„falsch" bzw. „ja"/„nein" ist, wie wir sahen, vielmehr das „prosequi" bzw. „facere"/,,vitare" bzw. „fugere" („verfolgen", „tun"/„meiden", „entfliehen") 31 . Diese sind nicht „Aussagen über etwas" (auch nicht Aussagen normativer Art), sondern (vernunftgeleitete) Strebeakte, die bewirken, dass das Handlungssubjekt etwas tut oder nicht tut. Im Unterschied zu theoretischen Bejahungen und Verneinungen ist die praktische „Bejahung" ein „Erstreben" und „Tun", die entsprechende „Verneinung" hingegen ein „Meiden", „Fliehen" und entsprechendes „Nichttun". Genau dies ist die Logik des ersten Prinzips der praktischen Vernunft: es bewegt zum vernunftgeleiteten Handeln.

d) Die Konstituierung spezifischer Handlungsprinzipien Aufgrund des ersten Prinzips der praktischen Vernunft allein wird nun aber noch nichts getan. Es ist ja völlig unspezifisch. W i e bereits erwähnt wurde, heißt dies allerdings nicht, es sei tautologisch oder inhaltsleer 32 . Vielmehr besitzt es höchste inhaltliche Fülle, weil es das Subjekt

28 L. Honnefelder, Wahrheit und Sittlichkeit. Zur Bedeutung der Wahrheit in der Ethik, in: E. Coreth (Hrsg.), Wahrheit und Vielheit, Düsseldorf 1987, S.147-169, S. 156 u. 167. 29 Ebd., S. 167 bzw. 151. 30 L. Honnefelder, Absolute Forderungen in der Ethik. In welchem Sinne ist eine sittliche Verpflichtung „absolut"? In: W. Kerber (Hrsg.), Das Absolute in der Ethik, München 1991, S. 13-33; bes. S. 25 f. Vgl. auch Honnefelder, Praktische Vernunft und Gewissen, in: A. Hertz, W. Korff, T. Rendtdorff, H. Ringeling, Handbuch der christlichen Ethik, Band 3, Freiburg usw. 1982, S. 19^43. 31 Dies geht ganz deutlich aus I—II, q. 94, a. 2 hervor; vgl dazu ausführlich M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und das „von Natur aus Vernünftige". Zur Lehre von der Lex naturalis als Prinzip der Praxis bei Thomas von Aquin, in: Theologie und Philosophie 75 (2000), S. 493-522. 32 So L. Honnefelder, Die ethische Rationalität des mittelalterlichen Naturrechts. Max Webers und

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zum Guten überhaupt antreibt und gleichsam die Natur des Guten als Erstrebtes zum Ausdruck bringt. Die Frage ist jetzt nur, wie es sich weiter auf spezifische Handlungsbereiche hin aufgefächert findet; denn erst dadurch kann es auch füglich Prinzip der Praxis genannt werden, da ja Handlungen immer ein spezifisches Gutes zum Inhalt haben, nie „das Gute überhaupt" bzw. die Ganzheit des Guten. Freilich sind mit solcher „Auffächerung" nicht „Ableitungen" gemeint. Aus dem ersten Prinzip kann nichts inhaltlich „abgeleitet" werden. Vielmehr „zeigt" es sich gleichsam in den verschiedenen spezifischen Prinzipien und entwickelt in ihnen seine praktisch-fundierende Wirksamkeit, allerdings nicht nur als reines Denkprinzip, sondern eben als Bewegungsprinzip33. Der Bezug der praktischen Vernunft auf „gut" und „übel", so sahen wir, ist ein von Natur aus gegebener Bezug. Er gehört zum Bereich der Vernunft als Natur. Wenn es nun noch anderes gibt, was die Vernunft von Natur aus als gut erfasst, so besitzt auch dieses den Charakter eines Prinzips. Deshalb, fährt Thomas fort, gründen in diesem ersten Prinzip alle anderen Gebote des natürlichen Gesetzes (d.h. alle anderen Prinzipien der praktischen Vernunft), „so dass nämlich all jenes als ,zu tun' oder ,zu meiden' zu den Geboten des natürlichen Gesetzes [= zu den von Natur aus gegebenen Prinzipien der praktischen Vernunft] gehört, was die praktische Vernunft natürlicherweise als menschliche Güter erfasst"14. Was kann die praktische Vernunft natürlicherweise als „für mich als Menschen gut" erfassen? Alle jenes, worauf der Mensch eine „natürliche Neigung" (naturalis inclinatio) besitzt: „All jenes, zu dem der Mensch eine natürliche Neigung besitzt, erfasst die Vernunft natürlicherweise als Gutes, und folglich als durch Handeln zu Verfolgendes, und was ihnen entgegengesetzt ist, erfasst sie als Übles und zu Vermeidendes. Deshalb verläuft die Ordnung der Gebote des natürlichen Gesetzes [= der von Natur aus gegebenen Prinzipien der praktischen Vernunft] gemäß der Ordnung der natürlichen Neigungen"35. Es scheint nun, dass wir doch wiederum bei der „Natur" angelangt sind. In einem gewissen Sinne stimmt das, und die Natur wollten wir ja auch nie ausklammern. Tatsächlich sind wir bei der Natur angelangt, aber wir sind nicht von ihr ausgegangen. Oder besser: Wir sind ausgegangen von jener Natur, die Vernunft ist. Diese Vernunft ist nun aber nicht ein freischwebendes Vermögen, sondern die Vernunft einer menschlichen Person. Der Mensch wiederum ist leib-geistige Einheit und fundamental ein strebendes, sich auf Gutes hinneigendes Wesen. Emst Troeltschs Deutung des mittelalterlichen Naturrechts und die Bedeutung der Lehre vom natürlichen Gesetz bei Thomas von Aquin, in: W. Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, Frankfurt a. M. 1988, S. 254-275; hier S. 260 f. Eine kurze kritische Auseinandersetzung mit Honnefelder findet sich bei Ch. Schröer, Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin, a.a.O. S. 205 ff. und ausführlicher in M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und das „von Natur aus Vernünftige", a. a. O. 33 In dieser Bewegung ist freilich wiederum Denken impliziert und damit auch die Möglichkeit zur Selbstreflexivität, d.h. die Möglichkeit, selbst in jeder Phase des Strebens zum eigenen Streben Stellung zu beziehen, es zum Gegenstand des Beurteilens und Wollens (oder Nichtwollens) zu machen und dabei in jedem Akt des Strebens nicht nur „etwas" als ein Gutes zu ergreifen, „sondern im Ergreifen des Guten jeweils allererst sich selbst zu ergreifen, als das durch Vernunft in Freiheit sich bestimmende Wesen, um eben damit dieses Wesen zu sein" (L. Honnefelder, Absolute Forderungen in der Ethik, a. a. O. S. 30). Vgl. dazu auch die früheren Ausführungen (III, 3, a) über den „praktischen Syllogismus". 34 I—II, q. 94, a. 2. 35 Ebd.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN VERNUNFT

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Wenn praktische Vernunft in Streben eingebettete Vernunft ist, so ist sie fundamental eine Vernunft, die in die Struktur jener Neigungen und Strebungen eingebettet ist, die j a die IchStruktur der menschlichen Person konstituieren (vgl. III,5,e). Der Mensch, das ist nicht einfach die Vernunft oder die Freiheit. Der Mensch ist animal rationale, ein Körper- und Sinnenwesen, das seine animalitas auf geistige, vernünftige Weise verwirklicht und zudem auch Neigungen besitzt, die ursprünglich dem vernunftgeleiteten Streben entspringen, dem in Bezug auf alle anderen Neigungen - wiederum eine architektonische oder ordnende Funktion zukommt. Für die Vernunft des Menschen gibt es deshalb nicht nur jene Natur, die ihn umgibt, mit der er umgeht und in Bezug auf die er etwas tut. Sondern es gibt auch „Natur" (Leiblichkeit, Sinnlichkeit), die ihn - sein personales Ich - selbst konstituiert; Natur also, die er selbst ist. Und diese Natur besitzt selbst, in der Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte und Schichtungen, eine Dynamik des Strebens. Sie ist hin-geneigt auf das, was den verschiedenen sinnlichen Vermögen und was dem Willen entspricht (das Gute der Vernunft); denn auch im Willen gibt es selbstverständlich „natürliche Neigung". Die Reflexivität von Vernunft und Wille (als vernünftiges Streben) eröffnet freilich auch die Möglichkeit, sich von Natur zu distanzieren, die eigene Natur nicht nur zu sein, sondern sie auch zu haben (und in diesem Sinne ist der Mensch nicht nur sein Leib, sondern er hat ihn auch). Allerdings tut das praktische Vernunft nicht als inhaltsleere Vernunft, sondern immer nur als eine solche, die sich als praktische Vernunft bereits in der Strebedynamik auf das von Natur aus für den Menschen Gute eingebettet findet. Dieser Dynamik kann sich die praktische Vernunft gar nicht entziehen; sie kann nicht „bloße Vernünftigkeit an sich" sein, die dann einer von solcher „Vernünftigkeit an sich" zu regelnden Natur gegenübertritt. Die verschiedenen natürlichen Neigungen sind deshalb eben natürlicherweise Gegenstände praktischer Vernunft. Und insofern praktische Vernunft eines Menschen die eigenen Neigungen seines Menschseins erfasst, erfasst er sie natürlicherweise als für den Menschen Gutes. Das ist eigentlich wiederum trivial. Aber das Triviale nicht zu verharmlosen oder gar zu übersehen, ist hier erneut entscheidend: Aufgrund der Erfassung der natürlichen Neigungen als „menschliche Güter" konstituiert sich nämlich grundlegend die Identität des Menschen. Die Prinzipien praktischer Vernunft konstituieren demnach zugleich das Bewusstsein dessen, „wer" oder „was" wir eigentlich sind. Die durch natürliche Neigungen abgesteckte Struktur fundamentaler menschlicher Güter selbst bietet an sich kein Problem. Hier gibt es weitreichenden Konsens. Die Frage ist die Interpretation dieser Güter: Sind sie bloß „nichtsittliche" Güter, über die man disponieren kann, die zur Abwägung stehen usw.? Oder sind sie unhintergehbare Prinzipien aller praktischen Vernunfttätigkeit und damit Bedingung dafür, dass diese im Rahmen menschlicher Identität verläuft? Gerade um den Nachweis, dass das Zweite zutrifft, geht es hier. Als Strebekorrelate konstituieren nämlich diese Güter auf fundamentale Weise den intentionalen Bezugsrahmen und Objekt-Gehalt aller menschlichen Handlungen und damit das sittlich Gute. „Güter" als Strebekorrelate betrachten bedeutet ja, sie in einer praktischen Perspektive zu betrachten - und aus der Perspektive des Handelns ist nun einmal „Sittlichkeit" nicht wegzudenken. „Im Gegensatz zu einer Auslegung des Menschen als reinen Naturwesens, bewegt sich das Handeln des Menschen als Menschen immer auch im Horizont der Sittlichkeit"36.

36 O. Höffe, Philosophische Handlungstheorie als Ethik, in: H. Poser (Hrsg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg/München 1982, S. 233. Deshalb wird man auch der folgenden Aussage zustimmen dürfen (ebd., 234): „Indem die philosophische Handlungstheorie fundamentale

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Diese menschliche Identität konstituiert sich im Erfassen der natürlichen Neigungen durch Vernunft. Und hier liegt die Pointe und der Grund dafür, dass wir jetzt nicht einfach zur bloßen Natur zurückgekehrt sind. Genau so wie die „natürliche Tugend" (als bloß natürliche, vernunftlose Disposition) von der „eigentlichen", vernunftgeleiteten Tugend zu unterscheiden ist, so sind auch die natürlichen Neigungen (als naturale Dispositionen) von dem „für den Menschen Guten" zu unterscheiden. Ein „für den Menschen Gutes" sind die natürlichen Neigungen nämlich gerade insofern sie von der Vernunft erfasst und geregelt sind. Das gilt, sagt Thomas, für alle „Teile" der menschlichen Natur, so etwa für das „konkupiszible und das iraszible Vermögen" 37 . Wir sind also wiederum beim Thema der sittlichen Tugend angelangt. Die aufgrund der Erfassung der natürlichen Neigungen als menschliche Güter konstituierten praktischen Prinzipien konvergieren mit den Zielen der sittlichen Tugenden. Der Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn Thomas sagt: „So wie im Menschen die Vernunft alle anderen Vermögen beherrscht und über sie befiehlt, so müssen auch alle diesen anderen Vermögen zugehörigen natürlichen Neigungen gemäß der Vernunft geordnet werden" 38 . Die alles beherrschende natürliche Neigung ist jene, die der Vernunft folgt, und sie neigt den Menschen dazu, „gemäß der Vernunft zu handeln. Und das heißt nichts anderes, als der Tugend gemäß zu handeln. Deshalb gehören alle Akte der Tugenden zum natürlichen Gesetz [= zu den praktischen Prinzipien]: Denn die Vernunft eines jeden Menschen befiehlt ihm, tugendhaft zu handeln"39.

Die naturalistische These würde ja lauten: Eine natürliche Strebung ist ein menschliches Gut, einfach weil und insofern sie natürlich ist. Wir jedoch haben gesagt: Eine menschliche Strebung wird, weil sie natürlich ist, von der Vernunft auch natürlicherweise als menschliches Gut erkannt. Aber nur insofern sie von der Vernunft als „gut" erkannt ist - das heißt als ein „Gutes der Vernunft" - und nicht schon, weil sie „natürlich" ist, enthüllt sie ihre Identität als ein „menschlich Gutes". „Die Deutung des Triebes geschieht nicht von selbst. Sie ist das, was wir das Vernünftige nennen. Erst in der Vernunft kommt Natur als Natur zur Erscheinung" 40 , - und d.h. auch: als „menschliche Natur". Die Erfassung und Deutung durch die Vernunft impliziert nämlich bereits eine maßstäbliche Regelung durch die Vernunft. Menschliche Güter sind immer intelligible Güter d.h. Korrelate natürlicher Neigungen auf der Stufe ihrer Intelligibilität als Funktionselemente der konkreten Wesenseinheit „menschliche Person". Im Unterschied dazu verbleiben etwa gemäß W. Korff die natürlichen Neigungen auf der Ebene der bloßen Natur. Sie sind zwar kein einfach beliebig formbares Material, sondern bereits „Metanormen", d.h. „dispositive, entwurfsoffene Größen", die in sich bereits eine eigene Teleologie tragen, aber keine „handlungsleitenden Regeln": „Soll das mit ihnen von Natur aus Intendierte erreicht werden, so bedürfen sie der normativen Konkretion. Das aber ist die Leistung der praktischen Vernunft als „Klugheit", die hierzu die geeigneten Wege und Mittel zu erkunden und darin letztendlich auch das jeweilige Ziel in seiner genaueren Gestalt zu formulieren hat. Die Welt der Normen, die menschliches Handeln konkret regeln, ist dem Menschen nicht einfachhin vorgegeben, sondern kraft des in

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Bedingungen jedes menschlichen Handelns expliziert, übernimmt sie gegenüber der Ethik auch ein Stück weit Begründungsfunktion." Vgl. auch O. Höffe., Sittlichkeit als Horizont menschlichen Handelns, in: Höffe, Sittlich-politische Diskurse, Frankfurt/M. 1981, 23-51. I-II, q. 94, a. 2 ad 2. Ebd., a. 4 ad 3. Ebd., a. 3. R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, a. a. O. S. 214.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN V E R N U N F T

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ihm wirkenden „natürlichen Gesetzes" zur Gestaltung aufgegeben" 41 . Bei näherem Hinsehen entdeckt man allerdings, dass es bei dieser Deutung eigentlich keine lex naturalis mehr gibt, d.h. keine (natürliche), dem Akt der Klugheit vorausliegende allgemeine Prinzipien der praktischen Vernunft. Das einzige Allgemeine ist bei Korff die Metanorm „natürliche Neigung"; diese ist aber noch reine „Natur". Das Vernünftige hingegen findet sich dann erst auf der Ebene der Konkretion, im Akt der Klugheit (die ja immer das Partikuläre zum Gegenstand hat42). „Normen" werden dann erst im nachhinein „gestaltet". Was wegfällt ist jedoch ein der Klugheit vorausliegendes „Allgemeines der Vernunft", d.h. eben (natürliche) Prinzipien der praktischen Vernunft; genau diese sind ja, was wir mit lex naturalis meinen. Die Unterscheidung Vernunft/Natur wird bei Korff - anthropologisch geradezu dualistisch - zur Disjunktion paralleler bzw. heterogener Faktoren. Zudem bleibt unklar, woher überhaupt die normative Bedeutsamkeit der „Metanorm" kommen soll, wieso ihr „Sein" ein „Sollen" impliziert 43 . Korffs natürliche Neigung verbleibt unausweichlich auf der Ebene der vernunftlosen Natur, des bloß naturgegebenen Antriebs. Einen kruden Naturalismus vermeidet er dadurch, dass er dan sittliche Normativität als Werk der „gestaltenden Klugheit" versteht. Eine solche gestaltende Klugheit ist dann aber praktische Vernunft ohne Vernunft-Prinzipien! Demgegenüber wurde hier die Position entwickelt, dass die natürliche Neigung als intelligible Neigung durch Vernunft bereits in die ihr eigene Ordnung hineingenommen ist, dabei als „Natur" (des Menschen) zu sich selbst kommt und so zum praktischen Vernunftprinzip, und damit auch zum Prinzip der Klugheit und des nachfolgenden Normendiskurses, wird. Damit ist nicht gemeint, das solche Prinzipien - z.B. jenes der Selbsterhaltung - bereits unmittelbar handlungsleitend sind; wohl aber steht dabei - in einer Ethik welche Sittlichkeit ja an Vernünftigkeit zurückbindet - die später zu behandelnde Frage nach der Möglichkeit nicht zur Disposition stehender Grenzen des moralisch Möglichen zur Debatte 44 . In der Erfassung und Deutung der natürlichen Neigung durch die Vernunft finden wir erneut die Unterscheidung von naturaler und moralischer Identität, von Materie und Form: D i e Vernunft verhält sich zur natürlichen N e i g u n g w i e die Form zur Materie. Eine v o n der Vernunft als „gut" erfasste natürliche N e i g u n g ist mehr als die bloße Natürlichkeit dieser

41 W. Korff, Der Rückgriff auf die Natur. Eine Rekonstruktion der thomanischen Lehre vom natürlichen Gesetz, in: Philosophisches Jahrbuch, 94 (1987), S. 285-296; hier S. 289; s. auch Korff, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft (1973), 2. Aufl. Freiburg/München 1985. Auch A. Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, S. 132 f., übernimmt in diesem Punkt die Darstellung Korffs; vgl. auch S. 87 ff. die weitgehend mit der hier gebotenen übereinstimmende Darstellung der lex naturalis-Lehre wobei allerdings die entscheidende Frage der Beziehung zwischen natürlicher Neigung und Vernunft nicht wirklich geklärt wird. 42 Zu der von Korff angesprochenen Zuständigkeit der Klugheit für die „genauere Formulierung der Ziele" (die praestitutio finis) s. meine Ausführungen in: Praktische Vernunft und Vemünftigkeit der Praxis, a. a. O. S, 362 ff. und S. 583 ff. 43 Vgl. Ch. Schröer, Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin, a. a. O. S. 120 (Anm. 179). 44 Nicht berücksichtigt werden diese Inkohärenzen von Korffs Darstellung bei E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a. a. O. S. 151 f., und ebensowenig bei F.-J. Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart, Berlin, Köln 1999, S. 230 ff. Kritisch gegenüber meiner Deutung äußerte sich - im Anschluss an L. Honnefelder - vor allem G. Wieland, Secundum naturam vivere. Über das Verhältnis von Natur und Sittlichkeit, in: B. Fraling, Natur im ethischen Argument, Freiburg i. Ü - Freiburg i. Br. 1990, S. 13-31; bes. S. 21-26. Meine ausführliche Antwort darauf findet sich im „Postscript" der englischen Ausgabe meines Buches „Natur als Grundlage der Moral": Natural Law and Practical Reason: A Thomist View of Moral Autonomy, New York 2000, S. 562 ff. und in M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und das „von Natur aus Vernünftige", a. a. O.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Neigung. Sie ist bereits durch Vernunft formiert, und - da j a das Prinzip dieser Formierung, die Vernunft, selbst auch „Natur" des M e n s c h e n ist - enthüllt sie erst so ihre wahre Natürlichkeit als das einer m e n s c h l i c h e n Person „Naturgemäße". Bei j e n e n N e i g u n g e n , die ursprünglich d e m vernunftgeleitetem Streben, also d e m W i l l e n entspringen, fallen freilich naturale und moralische Identität wiederum in eins. Thomas von Aquin arbeitet hier mit einer von seinen Interpreten zumeist übersehenen Differenzierung. Er unterscheidet nämlich den „eigentümlichen Akt und das eigentümliche Ziel" (actus et finis propius) einer Neigung von ihrem „erforderten (gesollten) Akt und Ziel" (actus et finis debitus). Allein die der Vernunft entspringende Neigung ist eine solche auf das debitum. Oder: Das „Eigentümliche" der Vernunft ist gerade die Neigung auf das Gesollte 45 . Alles den ursprünglich nicht-vernünftigen Neigungen „Eigentümliche", wird durch die Erfassung durch die Vernunft auch in die Ordnung des debitum erst hineingenommen. Und das heißt: Es tritt durch die Vernunft aus der Ebene des „genus naturae" in diejenige des „genus moris" ein. Die moralische Differenz konstituiert sich also in jedem Fall durch die Vernunft, und nicht schon durch die Tatsache der „Natürlichkeit". Andrerseits hätte ohne die natürliche Neigung und das ihr Eigentümliche die Vernunft gar keinen Gegenstand. So könnte sie auch keine praktische Orientierung vermitteln 46 . Praktische Prinzipien, die sich durch intellektive Erfassung natürlicher N e i g u n g e n als „gut" konstituieren, sind also nicht identisch mit der natürlichen N e i g u n g ; vielmehr sind sie - als Prinzipien der Vernunft - Regelungen, Maßstäbe, Ordnung in diesen Neigungen. Ohne natürliche N e i g u n g gäbe e s w e d e r praktische Prinzipien noch Handlungen. Aber die Prinzipien selbst sind nicht d i e s e N e i g u n g e n als natürliche, sondern praktische, universale Urteile der Art „p ist gut" bezüglich dieser Neigungen. Jedes praktische Prinzip, und das heißt wiederum: 45 Vgl. z.B. I—II, q. 91, a. 2. 46 Deshalb erscheint die Alternative, die Vernunft sei entweder reine „Ablesevernunft" oder aber „Gestaltungsvernunft" nicht sehr hilfreich; vgl. L. Honnefelder, Natur als Handlungsprinzip. Die Relevanz der Natur für die Ethik, in: L. Honnefelder (Hrsg.), Natur als Gegenstand der Wissenschaften, Freiburg/München 1992, S. 151-190; hier S. 178. Die Alternative ist deshalb irreführend, weil es beim Menschen „natürliche Neigung" als praktisch relevantes Streben ohne Vernunft gar nicht geben kann. Die genannte Alternative würde die Möglichkeit einer Vernunft voraussetzen, die der natürlichen Neigung als pure Natur einfach „gegenübersteht", um sie dann zu „gestalten". Demgegenüber ist aber einzuwenden: Wenn der Mensch - im Modus der Reflexion sich mit seiner Vernunft zu sich selbst als Strebendem in Beziehung setzt, dann bezieht er sich auf seine natürlichen Neigungen nicht als auf reine, noch nicht durch Vernunft gestaltete Natur, sondern bereits als auf ein durch Vernunft geformtes Streben bzw. als auf die diesem Streben gegenständlichen intelligiblen menschlichen Güter. Honnefelder (wie auch G. Wieland, Secundum naturam vivere, a. a. O. S. 25) geht von einem, m. E. gar nicht möglichen, ursprünglichen Selbstbezug praktischer Vernunft auf die eigenen natürlichen Strebungen als „reiner Natur" aus, die erst dadurch „überhaupt für den Handlungszusammenhang bedeutsam werden kann" (Wieland, ebd.; s. dazu meine Kritik im „Postscript" zur englischen Ausgabe von „Natur als Grundlage der Moral" sowie in Rhonheimer, Praktische Vernunft und das „von Natur aus Vernünftige", a. a. O.). Eine Vernunft, die als reine Form, noch nicht bezogen auf die Gegenständlichkeit irgend einer Neigung, Prinzip einer durch Vernunft geleiteten Praxis zu sein beansprucht, ist gar keine Vernunft; denn Vernunft, auch praktische, ist ein Erkenntnisvermögen; ohne Gegenstand gibt es aber keine Erkenntnis. Die von Honnefelder und Wieland genannte Vernunft erscheint eher als die ursprüngliche Erfahrung der Autonomie des Willens, als das, was Kant „transzendentale Freiheit" nennt. Zur Vermischung von Kant und Thomas v. Aquin vgl. noch einmal Ch. Schröer, a. a.O. S. 205 ff.

1 . D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN V E R N U N F T

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Jedes Präzept des „natürlichen Gesetzes", ist eine Anordnung der Vernunft in Bezug auf oder in den natürlichen Neigungen. e) Praktische Prinzipien, Tugenden und intentionale Basis-Handlungen So schließt sich nun allmählich der Kreis, den wir mit der Analyse menschlichen Handelns, des Begriffs des Handlungsobjektes als Gehalt intentionaler Basis-Handlungen und der anschließenden Darstellung der sittlichen Tugenden eröffneten. Zunächst ist jedoch zu fragen: Welches sind die grundlegenden natürlichen Neigungen, aufgrund deren Erfassung sich praktische Prinzipien konstituieren? Als die wichtigsten können folgende genannt werden: Zunächst der Selbsterhaltungstrieb: Bewahrung von Sein und Leben. Davon abhängig ist etwa der Ernährungstrieb, die Neigung zur Selbstverteidigung und -behauptung. Weiter: die Neigung, sich mit dem anderen Geschlecht zu verbinden, d.h. der Sexualtrieb. Schließlich jene Neigungen, die der Vernunft entspringen: Zusammenleben in Gemeinschaft mit Seinesgleichen (dazu gehören Dinge wie: Kommunikation, Wohlwollen, Freundschaft mit anderen Menschen, bzw. das Meiden dessen, was ihm entgegensteht); Erkenntnis von Wahrheit (bzw. Meiden der Unwissenheit); Gottesverehrung. Auch die Neigung zu Spiel, Kunstschaffen und ästhetischer Erfahrung wie auch zu „praktischer Vernünftigkeit" selbst können wir als natürlich ausmachen 47 : Denn niemand würde es ja für gut erachten, auch nur irgend eines der anderen Güter zu verfolgen, es sei denn aufgrund von Einsicht, eigenem Streben (Willentlichkeit) und Herrschaft über sich selbst; gleichsam also rein passiv. So würde das Gutsein eines jeglichen Gutes verschwinden. Deshalb sind auch Lust, Genießen und Befriedigung als solche keine menschlichen Güter. Ein Zustand der vollkommenen Befriedigung, in dem wir jedoch nichts tun, gleichsam Lohn ohne Arbeit, oder Freude ohne einen Gegenstand, über den man sich freut, Gefühl der Befriedigung ohne die Wirklichkeit oder Tätigkeit, die befriedigt, das alles erachten wir nicht als „gut", sondern eher als entwürdigend. Lust und Befriedigung sind menschliche Güter nur als „Lust an Gutem", bzw. „Freude über Gutes" oder „Befriedigung durch Gutes" (vgl. oben II,2,b).

Selbsterhaltung erstreben wir, insofern wir „sind" und „leben". Die Verbindung mit dem anderen Geschlecht ist eine natürliche Neigung, die, wie Thomas den Spruch des römischen Juristen Ulpian zitiert, „die Natur alle Lebewesen (animalia) gelehrt hat" 48 . Aber heißt das nun, dass wir Selbsterhaltung um jeden Preis erstreben? Oder dass jede Neigung sexueller Art in gleicher Weise gut ist? Selbstverständlich nicht. Denn diese natürlichen Neigungen konstituieren ja menschliche Güter und praktische Prinzipien, insofern sie in der Ordnung der Vernunft erstrebt werden; insofern also der Wille sie gemäß der Ordnung der Vernunft, als „Gutes der Vernunft" erstrebt. Auch Selbsterhaltung und Sexualität - als menschliche Güter und nicht nur als natürliche Neigung - das ist immer auch Wille zur Selbsterhaltung und das Wollen (oder Lieben) einer anderen Person. Das Erfassen dieser Neigungen durch die Vernunft ordnet diese Neigungen auch gemäß den Ansprüchen von Vernunft, und so erst sind sie Gegenstand des Willens und Prinzip von menschlichen Handlungen.

47 Vgl. J. M. Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, S. 87 ff. 48 Vgl. I-II, q. 94, a. 2.

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So finden sich Selbsterhaltungsstreben und Sexualität auch in den Kontext der anderen Neigungen eingeordnet. Beide werden sie auch, als menschliche Güter, etwas mit Zusammenleben, Kommunikation, Wohlwollen, Freundschaft usw. zu tun haben (was sich etwa darin zeigt, dass es dem menschlichen Gut „Selbsterhaltung" nicht zuwider ist, für den Freund das eigene Leben zu opfern). Erst in dieser Integration in das Ganze dessen, was der Mensch ist, werden auch die einzelnen, den natürlichen Neigungen des Menschen entsprechenden Güter als „Gutes für den Menschen" einsichtig. Erst so formen sie sich in ihrer eigentlichen menschlichen, intelligiblen Identität. Diese Ausformung natürlicher Neigungen zu ihrer Identität als menschliche Güter - d.h. zu ihrer Identität als „für die Vernunft Gutes" oder „der Vernunft gegenständliches Gutes" - entspringt einem inventiven Prozess der natürlichen Vernunft49, der zwar immer noch im Bereich der Prinzipien verläuft und deshalb nicht eigentlicher Begründung zugänglich ist, dennoch aber argumentativ rekonstruiert werden kann. So gelangen wir zur Identifizierung handlungsspezifischer Prinzipien, die nichts anderes als die Ziele einzelner Tugenden sind. Handlungsspezifische Prinzipien beinhalten nicht mehr nur „Das Gute ist zu tun und zu verfolgen, das Üble zu meiden", sondern „P,Q,...,R ist zu tun und zu verfolgen, S,T, ...,U ist zu meiden", wobei P,Q, ...,R als „gute" Handlungstypen und S,T, ...,U als „schlechte" oder „üble" Handlungstypen erfasst werden. Das erste Prinzip der praktischen Vernunft ist hier also lediglich spezifiziert, aber implizit als Ursache der Disjunktion der moralischen Differenz präsent. Wichtig ist, an dieser Stelle folgendes zu betonen: Einerseits sind die einzelnen natürlichen Neigungen voneinander zu unterscheiden', sie sind also nicht auseinander ableitbar, sondern jede ist in ihrer Spezifität fundamental. Für jede dieser Neigungen kann eine spezifische Herkunft angegeben werden (zur Selbsterhaltung neigt der Mensch, weil er „ist" bzw. „lebt"; Sexualität wurzelt in der leiblich-animalischen Schicht des Menschen: sie ist etwas, „das die Natur alle Lebewesen gelehrt hat". Die übrigen Neigungen sind spezifisch menschlich, das heißt sie sind nur durch Vernunft möglich und entspringen der „Logik des Geistes"). Andrerseits jedoch ist keine dieser natürlichen Neigungen als menschliche nur in sich oder aus sich selbst allein verstehbar. Der Horizont des Verstehens, jeder einzelnen Neigung - ihre Intelligibilität - ist immer der ganze Mensch als leib-geistiges, personales Suppositum. Auch wenn z.B. „die Neigung zur Verbindung zwischen Männlich und Weiblich" etwas ist, „was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat", so hat die Natur dies nicht alle Lebewesen in der Weise gelehrt, wie sie es den Menschen gelehrt hat, d.h. im Sinne einer Neigung, deren Gegenstand als menschliches Gut in die Ordnung der Vernunft integriert ist. Die einzelnen Neigungen durchdringen sich gegenseitig und erst in dieser Durchdringung - und somit jeweils als „Bestandteil" eines komplexen höheren Ganzen, das nur der Vernunft gegenständlich ist bilden sie, was in jeder dieser Neigungen ein entsprechendes „menschliches Gut" ausmacht. Diese Integrationsleistung ist kognitiv gesehen wiederum eine solche der Vernunft. Sie ist nun auf der Ebene der Prinzipien - dieselbe maßstäbliche und ordnende Leistung der Vernunft, die bereits bei der Konstituierung von Handlungsobjekten anzutreffen war. Aus den genannten Gründen kann keines der erwähnten menschlichen Güter isoliert betrachtet werden; sie formen in ihrer Gesamtheit und wechselseitigen Bezogenheit, was „integral human fulfil-

49 Zum Prozess der inventio der natürlichen Vernunft vgl. Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 216 ff.; s. auch unten Abschnitt f.

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ment" (integrale menschliche Vollkommenheit) genannt wurde50. Dennoch formieren diese Güter eine strukturierte Ordnungseinheit (vgl. auch oben, II,3,b); dies nicht, weil eines sich aus dem anderen ableitet, sondern weil gerade in der wechselseitigen Bezogenheit des ursprünglich Unabgeleiteten dann Beziehungen der Fundierung und der Abhängigkeit aufgewiesen werden können. So beispielsweise ist das Gut der zwischenmenschlichen Kommunikation dem Gut des menschlichen Zusammenlebens nach- und untergeordnet; dennoch aber ist „Wahrhaftigkeit" nicht aus „Soziabilität" abgeleitet, sondern als menschliches Gut unmittelbar als „gut" einsichtig. Durchleuchten wir diese Zusammenhänge exemplarisch in einigen Aspekten anhand der Rekonstruktion oder „Phänomenologie" der kognitiven G e n e s e solcher praktischer Prinzipien, die zugleich fundamentale menschliche Güter sind. (1) Die Entstehung des Prinzips „Gerechtigkeit": Jeder Mensch erstrebt von Natur aus Selbsterhaltung, „Sein" und „Leben". Daraus entstehen Bedürfnisse: Der M e n s c h m u s s sich ernähren, kleiden (als Schutz vor Kälte usw., aber auch, und zumindest, aus Schamgefühl; Scham gehört in g e w i s s e r W e i s e ebenfalls zur Selbstbehauptung und besitzt eine Schutzfunktion). Er sucht geeigneten Wohnraum, der wiederum Schutz und Selbstbehauptung dient. Er arbeitet, um sich seine Bedürfnisse zu decken. Zur Sicherung der Bedürfnisdeckung eignet er sich Dinge an wie Boden, Werkzeuge, Kapital (was auch immer darunter fallen mag) u.a. Daraus entsteht Besitz. All dies tut der M e n s c h aufgrund von Vernunft. Es sind dies bereits menschliche Handlungen. Es gibt natürlich im Tierreich funktional äquivalente Strukturen von Selbsterhaltung, und Bedürfnisdeckung. D i e vernünftige Weise, in der der Mensch dies alles verfolgt, enthält aber auch immer schon spezifisch Menschliches w i e „Arbeiten" und „Erwerb von Eigentum". Ebenfalls die Selbstbehauptung gegenüber anderen Lebewesen, vor allem Seinesgleichen, findet sich im Tierreich. B e i m Menschen erhält dies alles jedoch noch zusätzlich den Charakter des Rechts. Als freies, verantwortliches, vernünftiges W e s e n erfasst der M e n s c h die D e c k u n g seiner Bedürfnisse und sich daraus ergebende Verhältnisse und Sachverhalte als „Recht" gegenüber den Ansprüchen anderer, die dasselbe tun. Besitz wird zum Eigentum. Zur Vernunft gehört aber auch, den „anderen" als Seinesgleichen zu erkennen. D i e Anerkennung des anderen als „mir Gleichen" können wir nicht begründen. Man kann solche Anerkennung in der Praxis verneinen, aber man kann keine Gründe dafür angeben, weshalb man einen anderen Menschen „als mir Gleichen" anerkennt. Darin liegt gerade das Wesen dieser Art von Anerkennung. Der Versuch Hegels ihrer Rekonstruktion in seiner „Phänomenologie des Geistes"51 impliziert gerade eine Aufhebung fundamentaler Anerkennung und macht sie abhängig von „Arbeit" und „Leistungen" des anderen, durch die dieser sich zum anerkennungswürdigen Subjekt erst emanzipiert. Gleichheit ist hier erst Folge von Anerkennung. Dies enthält eine inhumane Pointe. - Die fun-

50 Vgl. vor allem G. Grisez, J. Boyle, J. Finnis, Practical Principles, Moral Truth, and Ultimate Ends, in: The American Journal of Jurisprudence 32 (1987), 99-151. Als Gegenposition (mit z.T. berechtigten Einwänden) vgl. R. Hittinger, A Critique of the New Natural Law Theory, Notre Dame Indiana 1987; und bereits früher: R. Mclnerny, Ethica Thomistica. The Moral Philosophy of Thomas Aquinas, Washington D. C. 1982 (vor allem S. 48 ff.). 51 In dem berühmten Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft". Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (hrsg. von J. Hoffmeister) Hamburg 1952, S.141-150.

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damentale Anerkennung des anderen als ein mir Gleicher kann auch verhindert werden durch einen Irrtum darüber, wer überhaupt ein anderer ist (also im Bereich der Frage: „Wer ist mein Nächster?"). Dies ist das Phänomen der Diskriminierung. So können dann etwa solche, die einer anderen Rasse zugehören, nicht als „andere" und „mir Gleiche" anerkannt werden; oder ungeborene Menschen. Mit ihnen fühlt man sich dann auch nicht durch das Band der Gerechtigkeit verbunden, oder zumindest werden andere Maßstäbe von Gerechtigkeit angelegt. Deutlich ist dabei, dass hier nicht ein praktisches Prinzip versagt, sondern dass eine falsche Behauptung über die Wirklichkeit das Prinzip verdirbt. Diskriminierungen (Rassismus, Aufhebung des effizienten Rechtsschutzes für ungeborene Menschen, Sklaverei) entspringen - analog zu Stammesmoralen - strenggenommen nicht einer anderen moralischen Logik oder Denkstruktur, sondern anderen Auffassungen darüber, wer ein Mensch, das heißt: „ein mir Gleicher" ist (was dann zu einer anderen Moral führt). Aufgrund der Hegeischen Anerkennungstheorie wird man zu einem anerkennungswürdigen menschlichen Subjekt durch „Arbeit", also eine bestimmte Form von Leistung. Auch das ist eine Art Diskriminierungstheorie. 52

Durch die Anerkennung des anderen als „mir Gleicher" entstehen Interaktionsgefüge, und so weit der Mensch zur Deckung seiner Bedürfnisse auch seiner Mitmenschen bedarf (z.B. ihrer Arbeit, der Produkte ihrer Arbeit, ihres Schutzes oder ihrer Kenntnisse usw.) entstehen arbeitsteilige Gesellschaften. „Gesellschaft" entsteht allerdings schon im Bereich der „Fortpflanzungsgemeinschaft" (davon später). Der Mensch bedarf von Natur aus der Gemeinschaft mit Seinesgleichen. Die Vernunft vermag auch Selbsterhaltung auf den anderen hin zu transzendieren, als „Verantwortung für andere", Fürsorge, Hilfe, usw. Gesellschaften (Vergemeinschaftung) entstehen, weil sie und insofern sie nötig und ein Bedürfnis sind. Ein Bedürfnis sind sie nicht nur, weil es vernünftiger ist, sich durch Kooperation im Kontext der Gesellschaft mit Seinesgleichen zu erhalten und die eigenen Bedürfnisse zu decken; sondern auch weil Dinge wie Kooperation, Verantwortung für andere tragen, Fürsorge, miteinander Umgang pflegen, Kommunikation mit anderen Menschen usw. selbst von der Vernunft natürlicherweise als Gutes erfasst wird. Das Gegenteil zu behaupten wäre zumindest kontraintuitiv. „Gesellschaft" ist deshalb ein natürliches Bedürfnis des Menschen. Auch „Arbeit" erhält im Kontext der Vernunft eine neue Dimension; sie wird zu einem gesellschaftlichen, mitmenschlichen Prozess: Zusammenarbeit, Arbeitsteilung, Arbeiten als Dienstleistung, ja überhaupt Arbeit als Tragen von Verantwortung für andere und für die Gesellschaft als ganze. Am wichtigsten ist jedoch: Insofern der andere als „ein mir Gleicher" erkannt und anerkannt wird, entsteht jene natürliche Freundschaft oder Solidarität, welche Ursprung und Band allen gesellschaftlichen Zusammenlebens ist. Auch wenn der Mensch zu seiner Selbsterhaltung gar keine Bedürfnisse hätte, so wäre es ihm doch ein Bedürfnis, mit Seinesgleichen zusammenzuleben. Es wäre ein „menschliches Gut", gemäß den Worten des 52 In Anlehnung an die Hegeische Anerkennungstheorie scheint auch die Diskursethik Anerkennung abhängig zu machen von einer gewissen „Leistungsfähigkeit" im Sinne performativer Kompetenzen, nämlich von der Fähigkeit, überhaupt ein Diskursteilnehmer zu sein. Auch kontraktualistischen Theorien eignet eine gewisse Tendenz zum Ausschluss von nicht als mögliche Vertragspartner qualifizierten Gruppen, wie z. B. Schwerbehinderte. Vgl. etwa O. Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a. M., 1987, S. 427; Höffe ist sich allerdings dieses Problems bewusst und optiert deshalb für eine Ergänzung der Gerechtigkeit durch Solidarität mit jenen, bezüglich derer (wie bei den Schwerbehinderten der Fall) keine Freiheitsrechte begründet werden können. Zur bedingungslosen Anerkennung von Menschen als Personen vgl. hingegen R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ,etwas' und jemand', Stuttgart 1996, S. 191 ff. und 252 ff.

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biblischen Schöpfungsberichtes: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt" (Gen 2,18). Dem Menschen geht es nämlich nicht nur um das nackte Leben oder Überleben, „denn nicht das Leben ist das zu erstrebende höchste Gut, sondern das gute Leben" 53 . Zum guten Leben gehört die Gemeinschaft mit Seinesgleichen. Dies wird nicht nur in der klassischen Lehre vom Menschen als zoon politikon (animal sociale) reflektiert, sondern durchaus auch im neuzeitlichen Kontraktualismus; hier werden oft falsche Gegensätze konstruiert. Nicht nur für John Locke, sondern sogar für den radikalen Individualisten Thomas Hobbes gilt, dass der Mensch aus natürlichen Antrieben nach einem Leben in Frieden und Kooperation mit Seinesgleichen strebt. Als nicht-natürlich wird die Soziabilität bei Hobbes nur insofern behauptet, als die Natur alleine als hilflos und unfähig angesehen wird, einen solchen Zustand hervorzubringen; nur das Kunstprodukt „Staat" - politische Institutionen - vermag Frieden, Sicherheit und damit menschliche Gemeinschaft und Kooperation in der bürgerlichen Gesellschaft zu garantieren.

Sobald jedoch der andere als „mir Gleicher" erkannt und anerkannt ist, und insofern er das ist, entsteht bereits das Grundprinzip „Gerechtigkeit", das einen in praktisch allen Kulturen anzutreffenden Ausdruck in der sogenannten goldenen Regel gefunden hat: „Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu"; oder positiv gewendet: „Tu deinem Mitmenschen all jenes, wovon du willst, dass auch er es dir tue". Dieses „Prinzip Gerechtigkeit" ist also nichts anderes als das Prinzip der Symmetrie von Rechten aufgrund der Anerkennung des Mitmenschen als ein mir Gleicher: Jene Rechte, die ich habe, sind auch die Rechte des anderen. Und: Was ich vom anderen bezüglich meiner Rechte verlangen kann, dass kann auch der andere von mir bezüglich seiner Rechte verlangen, - auch wenn er dieses Verlangen nicht zu artikulieren vermag, wie z.B. ein geistig schwer Behinderter, ein noch nicht Geborener, ein Säugling oder ein durch Alter oder Krankheit zur jeglicher Kommunikation Unfähiger. Daraus folgt, dass man dem anderen etwas schuldet: Menschliche Handlungen erhalten dadurch immer auch eine proportio ad alterum, ein „Verhältnisbezug auf den anderen". Die goldene Regel selbst ist als solche zwar keineswegs ein Maßstab für das dem anderen jeweils Geschuldete; sie ist ja, als Regel, überhaupt kein Maßstab für das Gute54. Vielmehr besteht ihre Leistung darin, das „für uns Gute" in ein jeweils auch dem anderen geschuldetes Gutes und damit in die Struktur fundamentaler Mitmenschlichkeit zu transformieren. Wir wissen ja, was wir nicht wollen, dass die anderen es uns tun, bzw. was wir wollen, dass sie es uns tun: Wir wollen, dass andere unser Leben achten, unsere Ehre, unseren guten Ruf, unser Eigentum; dass sie uns, wenn sie uns etwas sagen, auch das meinen, was sie sagen, d.h., dass sie die Wahrheit sagen bzw. nicht lügen; dass sie uns in der Not beistehen; dass sie halten, was sie versprechen usw. Die goldene Regel als Ausdruck der Anerkennung des anderen als „mir Gleichen" transformiert, was wir alle als „für uns gut" wollen, in Prinzipien dafür, was wir den anderen schuldig sind. Wir wissen nun nicht nur in Bezug auf uns selbst, sondern auch im Bereich mitmenschlichen Zusammenlebens welches das Gute ist, dass wir zu tun und zu verfolgen, welches das Übel, das wir zu meiden haben. Das geforderte Gute nicht tun, bzw. das 53 Piaton, Kriton, 48 b. 54 Vgl. dazu O. Höffe, Die Frage nach dem Moralprinzip, in: O. Höffe, Sittlich-politische Diskurse, a. a. O., S. 66 (dieser Artikel ist ein interessanter und zugleich fragwürdiger Versuch Utilitarismus und transzendentalen Formalismus zusammenzubringen).

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Üble zu wählen und zu tun, das heißt immer auch, sich als Mensch selbst zu verraten, gegen die Vernunft zu handeln, nicht jenes zu erstreben, was man allein vernünftigerweise erstreben kann, aber es bedeutet auch, die Fundamente mitmenschlichen Zusammenlebens anzugreifen. Letztlich also ist jeder Akt der Ungerechtigkeit implizite Nicht-Anerkennung des anderen als ein mir Gleicher. Das ist die „Bosheit des Willens", die schon im Zusammenhang der Tugend der Gerechtigkeit behandelt wurde. Es ließe sich hier allerdings einwenden, dies bedeute nun, dass man es auch als „gerecht" bezeichnen müsse, dem anderen etwas zu tun, was zwar der Vorstellung von „gut" (und damit dem Interesse) des Handelnden entspricht, nicht aber derjenigen des anderen bzw. dessen Interesse. „... dann wäre ein Masochist sittlich verpflichtet, auch andere leiden zu lassen, also zum Sadisten zu werden und seine Mitmenschen zu quälen, oder jemand, der sich aus Stolz nicht helfen lässt, dürfte auch anderen nicht beistehen" 5 5 . Der Einwand stimmt für den Fall, dass jemand, wie gesagt: fälschlicherweise, behauptete, die goldene Regel sei Maßstab für gerecht und ungerecht („gerecht ist, was aufgrund der goldenen Regel getan wird"). Er trifft aber nicht die formale Struktur des Prinzips Gerechtigkeit. Wer allerdings falsche Vorstellungen von Gut und Übel besitzt, der wird auch in Anwendung der goldenen Regel keine gerechten Handlungen vollziehen, sondern eben ungerechte. Was „gut" und was „übel" ist, das können wir nicht aufgrund der goldenen Regel begründen, ebensowenig wie, was „gerecht" und was „ungerecht" ist. Und so weit es sich dabei um Prinzipien handelt, gibt es hier überhaupt keinen deduktiven Begründungsdiskurs. Allerdings ist es nicht zwingend, dass aufgrund falscher Vorstellungen von „gut" und „übel" sowie der goldenen Regel der Masochist nun zum Sadisten werden muss; eher ist es wahrscheinlich, dass er die goldene Regel gar nicht zur Anwendung bringt; und wer sich prinzipiell aus Stolz nicht helfen lässt, der wird nicht aufgrund der goldenen Regel anderen nicht helfen, sonden eben weil er stolz ist (wobei er vielleicht gerade deshalb wiederum oft anderen helfen wird, z.B. um deren Anerkennung zu finden, oder aus Wohlgefallen an eigener Überlegenheit usw., aber gerade nicht aus Gerechtigkeit, d.h. aufgrund der Überzeugung, dies dem anderen schuldig zu sein). Das Prinzip Gerechtigkeit konstituiert also im Bereich verschiedener Handlungsbezüge (Leben, Eigentum, Kommunikation usw.) verschiedene Typen (Spezies) von Handlungen, und zwar, gemäß den verschiedenen Handlungsbereichen oder Handlungsmaterien, bis hinunter zur Schwelle spezifisch unterscheidbarer Typen intentionaler Basis-Handlungen. Auf gleiche Weise sind in diesem Prinzip und seiner handlungsspezifischen Ausformung die Ziele der sittlichen Tugenden kognitiv gegeben. Dies im einzelnen auszuführen, erscheint an dieser Stelle nicht mehr nötig, weil dazu j a bereits früher das Wesentliche gesagt worden ist (111,4 und IV,3,b). Deshalb nannte die Tradition die Prinzipien des natürlichen Gesetzes, bzw. die natürlichen Neigungen selbst, auch semina virtutum, „Keime der Tugenden". In diesen Prinzipien sind ja alle sittlichen Tugenden bereits in ihrer kognitiven Zielstruktur und, als Neigung, in ihrer affektiven Intentionalität im Keime angelegt und ordnen so menschliches Handeln in der Weise, dass durch dieses jene affektiven Dispositionen entstehen, die wir dann, insofern sie Akte der Handlungswahl leiten, „sittliche Tugenden"nennen. Klar wird auf diese Weise auch die traditionelle Unterteilung in „erste" oder „gemeinsame" Präzepte des Naturgesetzes, und praecepta secundaria, oder „zweitrangige" Präzepte56. Die ersten (communia 55 O. Höffe, a. a. O., S. 66. 56 Vgl. dazu auch R. A. Armstrong, Primary and Secondary Precepts in Thomistic Natural Law Teaching, Den Haag 1966.

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oder communissima) sind solche wie die goldene Regel, die also bezüglich einzelner Handlungsbereiche übergreifend sind. Die „zweitrangigen" sind nun eben die handlungsspezifischen Prinzipien. Zu den ersteren gehört z.B. „Jedem ist das ihm Zustehende zu geben"; zu den zweiten: „Geliehenes soll man zurückerstatten", „Verträge soll man einhalten"; usw. Die ersteren bilden wiederum das übergreifende Ziel von Tugenden (auf der Ebene der Kardinaltugend); die zweiten das spezifische Ziel von Einzeltugenden, das Thomas auch den finis proximus einer Handlung nennt; und dieser ist wiederum identisch mit dem Objekt eine Handlung. Denn jede intentionale Basis-Handlung ist objektiv Akt einer speziellen Tugend.

Hinzuzufügen bleibt, dass die konkrete Ausgestaltung des Gerechtigkeitsprinzips eng verbunden ist, mit der konkreten Ausgestaltung einer Gesellschaft, ihrem Ethos und damit, was in ihr als Recht durch positive Satzung bestimmt ist. Wenn es ungerecht ist, Verkehrsregeln zu missachten, weil dadurch das Leben anderer in Gefahr gebracht oder ein persönlicher Vorteil auf Kosten anderer erreicht wird, so hängt die Möglichkeit solcher Ungerechtigkeit natürlich wiederum nur von der Existenz von Verkehrsregeln ab. Und entsprechend ist es dann auch gut, in den meisten Ländern auf der rechten Seite der Straße zu fahren; in Großbritannien hingegen wäre das ausgesprochen unverantwortlich und nur links fahren wäre hier gut. Das Beispiel ist natürlich trivial; es mag an dieser Stelle genügen. Gerechtigkeit als das Prinzip, „einem Jeden das ihm Zustehende", sein Recht, zu verleihen spezifiziert sich bis hin auf die Ebene von spezifischen Handlungstypen oder intentionalen Basis-Handlungen „Eigentum anderer achten", „das Leben anderer achten", „die Wahrheit sagen"; bzw. „Diebstahl", „Mord", „Lüge". Die Frage, ob es hier „Ausnahmen" gebe, ist natürlich gar keine sinnvolle Frage. Ein Diebstahl ist - schon dem Namen nach - immer schlecht und eine Verletzung der Gerechtigkeit. Gäbe es hier eine Ausnahme, dann hieße das: Der Diebstahl ist gar kein Diebstahl. Aber etwas Ungerechtes kann ja auch nicht einmal ausnahmsweise etwas Gerechtes sein. Umgekehrt: Die Verletzung einer Verkehrsregel ist zwar immer Verletzung einer Verkehrsregel. Aber vielleicht ist dies nicht ausnahmslos eine Verletzung der Gerechtigkeit. Die Frage also, wann eine konkrete Handlung „gerecht" und „ungerecht" ist, wird durch Prinzipien allein noch nicht gelöst. Dafür brauchen wir Formulierungen der Prinzipien, die sich auf Handlungsbeschreibungen beziehen, so dass bestimmte Handlungsweisen als unter ein bestimmtes Prinzip fallend identifiziert werden können. Zudem ist dies Sache des konkreten Handlungsurteils (vgl. V,3 und 4). „Gerechtigkeit" definiert einen „ethischen Kontext" und nur in Bezug auf diesen ethischen Kontext lassen sich intentionale Handlungen adäquat beschreiben und entsprechende moralische Normen definieren. (2) Ein zweites Beispiel von „natürlicher Neigung" ist die Sexualität oder die Neigung des Menschen, sich mit dem anderen Geschlecht zu verbinden, eine Neigung, die ihren Ursprung im Sexualtrieb hat. Dieser Trieb richtet sich naturgemäß auf einen „anderen", und er besitzt auch eine ebenso naturgegebene Funktion: Weitergabe des menschlichen Lebens, Fortpflanzung, Prokreation, Arterhaltung. All dies hat „die Natur alle Lebewesen gelehrt". Was ist nun aber menschliche Sexualität, bzw. die sexuelle Neigung als von der Vernunft erfasstes menschliches Gut? Ist auch menschliche Sexualität etwas, „was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat"? Selbstverständlich nicht. Menschliche Sexualität, bzw. ihre Wahrheit und Identität als menschliches Gut, ist coniugium, d.h. eheliche Gemeinschaft, bzw. eheliche Liebe. Bei Tieren führt Sexualität instinktgesteuert zu Kopulationsakten und mehr oder weniger stabilen, dauerhaften, oft aber auch ganz fehlenden Paarbeziehungen. Prokreativen Folgen tierischer Sexualität eignen ebenfalls gewis-

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se, zumeist allerdings limitierte Sozialisierungseffekte. Bei Menschen ist Sexualität zwar triebbedingt, aber nicht instinktgesteuert. Die Steuerung ist eine solche durch Vernunft und Wille (sofern Sexualität aus diesem Kontext nicht desintegriert wird). Die Beziehungen, die aufgrund des Sexualtriebes zwischen Mann und Frau entstehen (also der Sozialisierungseffekt), wie auch das Verhalten zu den prokreativen Folgen sexueller Kopulation, sind solche, die sich durch die Leitung der Vernunft und des vernunftgeleiteten Willens konstituieren. Es sind Beziehungen, die wir benennen können als: Liebe, Selbst-Hingabe einer Person an eine andere, Treue, prokreative Verantwortung, Unauflöslichkeit der Bindung. Dies alles sind nicht Güter, die zur Sexualität erst noch hinzukommen. Sie gerade sind Sexualität als menschliches Gut; d.h. sie sind der Sexualtrieb einer menschlichen Person selbst in seiner Deutung durch die Vernunft eben dieser Person, deren Trieb er ja gerade ist. Die natürliche Neigung ist hier hineingenommen in die Ordnung der Vernunft, welche den ehelichen Charakter menschlicher Sexualität zur Geltung bringt. Prokreation wird hier nicht auf jene Weise verfolgt, wie sie die Natur alle Lebewesen gelehrt hat: Sondern auf verantwortliche Weise. Es kann Gründe dafür geben, mehr oder weniger Kinder zu haben, und der Mensch vermag diesen Gründen gemäß sein sexuelles Verhalten zu modifizieren. Zwischen Eltern und Nachkommenschaft konstituieren sich soziale Bande der Fürsorge, denen der Charakter von Gerechtigkeitsbeziehungen eigen ist, die wiederum durch die Struktur verschiedenster Bedürfnisse abgesteckt werden. So hat ein Kind das Recht auf Ernährung (Hilfe zur Selbsterhaltung) und Erziehung (Hilfe zum Erwerb von Tugenden, Wissen, Bildung, Fertigkeiten). Es hat auch das Recht, in einer Familie aufzuwachsen (Ehescheidung ist u.a. eine Verletzung der Gerechtigkeit gegenüber dem Kind); usw. Ähnliches gilt für die Beziehung zwischen Mann und Frau selbst. Sexualität konstituiert Paarung. In dieser sind aber nicht nur zwei Körper impliziert, die sich triebgesteuert kopulieren, sondern zwei menschliche Personen. Der Bezug zum anderen konstituiert wiederum Beziehungen der Gerechtigkeit und der Freundschaft: Gleichheit, Treue, Lebensgemeinschaft. Eine Freundschaft, die sexuell geprägt ist und sich zugleich in der Aufgabe der Weitergabe des Lebens transzendiert und erfüllt, besitzt den Charakter gegenseitiger Hingabe im Hinblick auf eine gemeinsame Aufgabe. Sie besitzt eine affektive Tiefe und Totalität, der auch die personale Bindung entsprechen muss, will sich das spezifisch Personale (Freiheit, Kommunikation usw.) nicht dem bloß sinnlichen Trieb unterordnen. Freundschaft zwischen Mann und Frau wird deshalb zu jener Liebe, die eheliche Liebe heißt: Lebensgemeinschaft zweier Personen in ausschließlicher und unkündbarer Treue, deren affektive Erfüllung gerade Akt jenes Triebes ist, dem diese Liebe entstammt und dem jene Aufgabe zukommt, hinsichtlich der diese Liebe sich als eine spezifische Form von Liebe definiert: Die leibliche Vereinigung, aus der neues menschliches Leben ensteht. Menschliche Fortpflanzung wird dabei wiederum erkennbar als jene Art von Prokreation, die aus der Liebe zwischen zwei Personen entspringt, so wie auch diese Liebe wesentlich dadurch geformt ist, der Weitergabe des menschlichen Lebens zu dienen. So erklärt sich eine untrennbare Wesenseinheit menschlicher Sexualität durch die beiden Sinngehalte Fortpflanzung und Liebesgemeinschaft: Menschliche Sexualität ist personale Liebe, die der Weitergabe des Lebens dient57.

57 Vgl. auch M. Rhonheimer, Sozialphilosophie und Familie. Gedanken zur humanen Grundfunktion der Familie, in: B. Schnyder (Hrsg.), Familie - Herausforderung der Zukunft, Freiburg/Ue. 1982, 113-140; Familie und Selbstverwirklichung, Köln 1979; Sexualität und Verantwortung. Emp-

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Es geht hier nicht um die Vollständigkeit, sondern darum zu zeigen, wie sich die natürliche Neigung „Sexualität" als menschliches Gut konstituiert und dadurch Handlungsprinzipien formuliert, die wiederum durch die Integration der sinnlichen Neigung in die Ordnung der Vernunft entstehen. Es formulieren sich entsprechende intentionale Basis-Handlungen und sittliche Tugenden: Beherrschung des Sexualtriebes im Dienste personaler Liebe und verantwortlicher Weitergabe des Lebens (Keuschheit als Teilbereich der Tugend des Maßes; und dazu gehört als Bestandteil auch jene Tugend, die wir „prokreative Verantwortung" nennen können58); Eheliche Treue, und ihr Gegenteil: Untreue. Handlungstypen wie Erziehung, elterliche Fürsorge, aber auch Freundschaft zwischen Eltern und Kindern, die nicht eine symmetrische Freundschaft ist: vom Kind aus gesehen ist es die Tugend der pietas\ von den Eltern aus gesehen ist diese Freundschaft erzieherische Autorität, Vertrauen und Fürsorge. Auch hier wieder gilt: Was nun im Konkreten z.B. eine Handlung des Typs „Erziehung" ist, ist durch die Prinzipien noch keineswegs ausgemacht. f) Genese und Applikation praktischer Prinzipien: Die Rolle von Erfahrung und Klugheit Aufgrund der eben exemplarisch skizzierten Rekonstruktion der kognitiven Genese praktischer Prinzipien dürfte deutlich geworden sein, dass hier nicht für eine deduktivistische Prinzipienethik plädiert wird. Jene praktischen Prinzipien, die in der Art eines natürlichen moralischen Gesetzes wirken, sind weder einfach schlagartig dem sittlichen Bewusstsein gegenwärtig und zur „Anwendung" bereit, noch vermögen sie unmittelbar konkretes Handeln zu bestimmen und zu leiten. Für beides, die Herausbildung der Prinzipien, wie auch der konkreten Handlungsleitung, bedarf es situativ vermittelter und narrativ strukturierter, in eine persönliche Lebensgeschichte integrierter Erfahrung in konkreten sozialen Kontexten, sowie jener Vernunft, die das Partikulare, hier und jetzt zu Tuende zum Gegenstand hat und deren Vollkommenheit die Tugend der Klugheit ist. Allerdings ist gegen die kommunitaristische Reduzierung moralischer Prinzipien auf den Kontext von Traditionen und Gemeinschaften auch die Universalität solcher Prinzipien zu betonen. A. Maclntyres These von der Traditionsgebundenheit praktischer Vernunft und von Gerechtigkeitsvorstellungen impliziert jedoch nicht mit Notwendigkeit, dass es „keine universal gültigen Gerechtigkeitsgrundsätze" gibt59, sondern nur, dass sich praktische Vernunft und entsprechende Gerechtigkeitsvorstellungen jeweils immer im Zusammenhang bestimmter sozialer Kontexte ausbilden und deren Traditionen reflektieren. Die Frage, ob es auch einen Gerechtigkeitsdiskurs gibt, der diese Kontextualität zu transzendieren und zwischen der Vernünftigkeit bzw. „moralischen Richtigkeit" von Traditionen zu entscheiden vermag, ist damit noch nicht beantwortet 60 . Gemeint ist bei fängnisverhütung als ethisches Problem (IMABE Studie Nr. 3), Wien 1995 (in it. Übersetzung abgedruckt in: Rhonheimer, Etica della procreazione, Mailand 2000). 58 S. auch meine Ausführungen in: Sexualität und Verantwortung, a. a. O.; kürzere Fassung: Contraception, Sexual Behavior, and Natural Law. Philosophical Foundation of the Norm of „Humanae Vitae", in: The Linacre Quarterly, Vol. 56, No. 2 (1989), 20-57. Ebenfalls in: „Humanae Vitae": 20 anni dopo". Atti del II Congresso Internazionale di Teologia Morale, Rom 1989,73-113. 59 So interpretiert Höffe eigenartigerweise Maclntyres „Whose Justice? Which Rationality? (vgl. O. Höffe, Aristoteles' universalistische Tugendethik, a. a. O., S. 58). 60 Ähnlich, wenn auch mit anderer Zielrichtung, argumentiert Habermas gegen Rorty's Kontextualismus; vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rorty's pragmatischer Wende, in Habermas, Wahrheit und Rechtfertiung, a. a. O., S. 230 ff.

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Maclntyre, dass es keinen neutralen Standpunkt außerhalb bestimmter Traditionen bzw. kulturspezifischer Vorgaben geben kann und dass, wer sich entsprechend in einem leeren Raum zu bewegen versucht, keine rationalen Ressourcen zur Verfügung hat, um in rationaler Weise darüber zu entscheiden, welche Tradition u. U. vorzuziehen sei. Maclntyres Anliegen ist also ausgesprochen gegen Relativismus und „Perspektivismus" gerichtet. Die notwendige Kontextgebundenheit der praktischen Vernunft ist für ihn gerade Grundlage für den Diskurs über die moralische Richtigkeit bzw. Vorzugswürdigkeit einer bestimmten Tradition 61 . Nicht selten wird behauptet, z w i s c h e n einer auf e i n e m S y s t e m v o n Prinzipien und entsprec h e n d e n moralischen R e g e l n aufgebauten Ethik und einer die Partikularität und Einzigartigkeit von Situationen und Personen in den Vordergrund stellenden Klugheitsethik g e b e es einen unüberbrückbaren Gegensatz 6 2 . Ein solcher bestünde in der Tat, falls davon ausgeg a n g e n wird, konkrete H a n d l u n g e n seien grundsätzlich nicht i m Lichte v o n a l l g e m e i n e n Prinzipien beurteilbar b z w . die E b e n e des Partikularen und des Universalen seien schlicht inkommensurabel; nur die aufs Einzelne gehende praktische Vernunft, die Klugheit, könne das j e w e i l s sittlich R i c h t i g e und G e b o t e n e z u m G e g e n s t a n d haben, das sich grundsätzlich einer Normierung durch allgemeine Regelung entziehe 6 3 . W e r allerdings die Richtigkeit einer solchen A u f f a s s u n g bestreitet, der braucht deshalb noch k e i n e s w e g s zu behaupten, die Erkenntnis und B e s t i m m t h e i t des Partikularen k o m m e 61 Vgl. A. Maclntyre, Whose Justice? Which Rationality?, a. a. O., S. 367. Zum ganz anderen, nämlich relativistischen und pragmatischen Kontextualismus von Rorty hingegen sei verwiesen auf R. Rorty, Solidarität oder Objektivität; und: Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, beide in: Rorty, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 11 ff. bzw. 82 ff.; sowie Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1993, S. 84 ff. 62 So M. C. Nussbaum, Aristotle's De Motu Animalium. Text with Translation, Commentary, and Interpretive Essays, Princeton 1978 (Essay 4: Practical Syllogisms and Practical Science, S. 165-220); The Discernement of Perception: An Aristotelian Conception of Private and Public Rationality, in: Nussbaum, Love's Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New YorkOxford 1990, S. 54—105; D. M. Nelson, The Priority of Prudence: Virtue and Natural Law in Thomas Aquinas and the Implications for Modern Ethics, University Park, Pennsylvania, 1992. Der Zusammenhang zwischen lex naturalis und Klugheit wird hingegen - kritisch gegenüber Nussbaum und Nelson - gut herausgearbeitet bei P. M. Hall, Narrative and the Natural Law, a. a. O. Vgl. auch D. Westberg, Right Practical Reason. Aristotle, Action, and Prudence in Aquinas, Oxford 1994. 63 Wie P. M. Hall, Narrative and the Natural Law, a. a. O. S. 109 f. zeigt, beruht M. C. Nussbaums Feststellung einer Inkompatibilität von Prinzipien- und Klugheitsethik auf der Annahme einer grundsätzlichen Gebrochenheit und Verworrenheit weltlicher und menschlicher Verhältnisse, was ethische Universalien gar nicht zulässt. Auf dieser Grundlage wird es natürlich unmöglich, konkrete Handlungen allgemeinen Prinzipien bzw. Zielen „des Menschen als solchem" oder einem Für-denMenschen-Guten zuzuordnen. Richtig bemerkt Pamela Hall, dass jedoch Thomas nicht von einer Gebrochenheit und Verstricktheit der Welt, sondern einer solchen des Menschen selbst ausgeht. Sinn von Moral und Bedingung für das Gelingen des Lebens ist dann nicht mehr die Selbstbehauptung des Menschen in einer gebrochenen und verworrenen Welt, sondern vielmehr die Entwirrung des Menschen selbst, seine Ausrichtung auf das Gute, so dass sich menschliches Streben jener Ordnung des Guten gemäß zu entfalten vermag, die dem Menschen und seiner Welt - als Schöpfung Gottes - ursprünglich innewohnt. Dass dies für Thomas letztlich nur durch eine spezifisch christlich-theologische Vollendung der Ethik eingelöst zu werden vermag, ist nicht zu bestreiten, vermindert aber nicht die Gültigkeit der rein philosophischen Gehalte seiner Moraltheorie (vgl. den Epilog).

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN V E R N U N F T

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durch bloße Applikation oder Ableitung aus dem Universalen zustande; oder es sei, um im konkreten Handeln das jeweils Richtige und Gebotene zu treffen, allein nötig, konkrete Situationen und Fälle unter eine einschlägige Regel zu subsumieren. Vielmehr behauptet er, das Partikulare - die hier und jetzt zu vollziehende konkrete Handlung - sei eine tatsächliche „Konkretisierung" des Prinzips, gleichsam dessen Exemplifizierung im konkreten Fall, eine Exemplifizierung, die das Prinzip als solches jedoch selbst nicht zu leisten vermag, sondern eine zusätzliche, genuine Leistung der aufs Partikulare gerichteten praktischen Vernunft - der Klugheit - ist; dies allerdings unter der kognitiven Leitung der praktischen Prinzipien, deren Sinn und Bedeutsamkeit sich nun aber für den Einzelfall verdeutlicht und damit eben erst im vollen Sinne praktisch wird. Freilich sind nun damit gleich mehrere Probleme angesprochen, von denen einige weiter unten zu erläutern sein werden. Im Augenblick wollen wir uns auf die zwei genannten Punkte - Genese und Applikation praktischer Prinzipien - konzentrieren. Zum ersten Punkt: Als lex naturalis ordnen praktische Prinzipien unser Handeln auf jene Ziele und Güter hin, welche die Vernunft aufgrund der natürlichen Neigungen als spezifisch „Für-den-Menschen-Gutes" erfasst. Diese Erfassung ist ein Prozess, der sich in der Zeit und in konkreten sozialen Kontexten vollzieht (Familie, Nachbarschaft, Schule, Gesellschaft, kultureller Kontext, vorherrschendes Ethos usw.). Solche Kontexte können diesen Lernprozess unterstützen, aber auch behindern oder zumindest teilweise fehlleiten. Wie auch die moderne Entwicklungspsychologie (z.B. Jean Piaget, William Dämon u.a.) in empirischen Untersuchungen festgestellt hat, bilden sich Gerechtigkeitsprinzipien bereits in der frühen Kindheit in der Interaktion mit der Umwelt heraus. Das Bewusstsein dieser Handlungsprinzipien verfeinert sich und sie werden sukzessive tiefer erfasst durch ihre Applikation in konkreten Situationen und nicht zuletzt auch durch die Erfahrung von eigener Schwäche, Scheitern und Schuld. Damit der eigentliche Gehalt der spezifischen Prinzipien sich herauszubilden vermag - erinnert sei nochmals an die Rekonstruktion des Prinzips Gerechtigkeit - bedarf es, neben der Bewusstwerdung der eigenen Bedürfnisstruktur, Affektivität usw., der Erfahrung von Interaktion mit anderen Personen in konkreten zwischenmenschlichen Verhältnissen 64 . So vermag menschliche Vernunft im bereits oben erwähnten Prozess der inventio zwischen der Welt der Erfahrung und allgemeinsten Prinzipien wie der Goldenen Regel oder dem Prinzip „Jedem ist das Seine zu geben" Spezifischeres zu erfassen. Dieses besitzt durchaus die Eigenschaft einer „Konklusion", eines aus dem Allgemeinen „Erschlossenen". Das bedeutet aber nicht, es sei durch bloße Deduktion aus einem „übergeordneten" Allgemeinem gewonnen; aus dem Prinzip „jedem ist das Seinige zu geben" lässt sich nämlich gar nichts ableiten. Vielmehr handelt es sich um eine Erfassung des Prinzips im Konkreten und Partikularen und dadurch um eine tiefere und reichere Erfassung des Prinzips selbst aufgrund der Erfahrung des Partikularen. Dazu bedarf es eben gerade der Klugheit, die dadurch, wie Thomas aus-

64 Vgl. etwa verschiedene Forschungsansätze bei J. Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt a. M. 1973; W. Dämon, Die soziale Entwicklung des Kindes. Ein entwicklungspsychologisches Lehrbuch, Stuttgart 1989 (vor allem S. 194 ff.), sowie Dämon, Die soziale Welt des Kindes, Frankfurt a. M. 1990 (bes. S. 101 ff.); G. Nunner-Winkler, Zum Verständnis von Moral Entwicklungen in der Kindheit, in: F. E. Weinert (Hrsg.), Entwicklung im Kindesalter, Weinheim 1998, S. 136-157.

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driicklich lehrt, in gewisser Weise an der Formierung der Ziele der einzelnen Tugenden - und damit der praktischen Prinzipien - mitbeteiligt ist65. Praktische Prinzipien - bzw. die lex naturalis - werden also durch Erfahrung im Partikularen entdeckt. Dies notwendigerweise, weil es in der Welt des Menschen keine allgemeinen, sondern überhaupt nur konkrete, partikulare Dinge, Personen, Beziehungen, Handlungen usw. gibt. Allgemeine Wirklichkeitsgehalte sind immer nur Inhalt nachträglicher Erkenntnis, in deren Licht dann das konkrete Einzelne wiederum tiefer erfasst, d.h. als einem Allgemeinen zugehörig verstanden wird: Die konkrete Handlung als partikulares praktisches Erfordernis „hier und jetzt" kann so als Konkretisierung des „guten Lebens", des Für-denMenschen-Guten, verstanden werden. Konkrete Handlungsweisen werden als Weg zu jenem Guten einsichtig, das Ziel menschlicher Strebungen und Tugenden ist und selbst ja wiederum den Gehalt praktischer Prinzipien ausmacht. Umgekehrt werden so auch bestimmte Handlungsweisen in ihrer Widerspriichlichkeit zum moralisch Gebotenen und Guten verstehbar. Sogar allererste Prinzipien - auch theoretischer Art, wie jenes des Enthaltenseins des Teiles im Ganzen - , die sich gleichsam naturhaft-spontan herausbilden, bedürfen ja der anfänglichen Erfassung eines Partikularen, in dem das Prinzip verstanden wird. Allerdings besteht gerade deshalb zwischen dem so gefundenen Allgemeinen - dem Prinzip - und dem Partikularen ein innerer kognitiver Zusammenhang. In der Rekonstruktion kann dann nachträglich das eine als Konklusion aus dem anderen dargestellt werden - etwa das Tötungsverbot als Konklusion aus dem allgemeineren Gerechtigkeitsprinzip „Jedem ist das ihm Geschuldete zu geben" - , ohne dass dies nun hieße, das Spezifischere oder gar Partikulare ließe sich aus dem Allgemeinen ohne Erfahrung direkt und unmittelbar ableiten. Es handelt sich Uberhaupt nicht um einen deduktiven, sondern um einen reflexiven Prozess, ein ständiges über eigenes Tun und Urteilen reflektierendes Vertiefen des praktischen Verstandes, das, um ein Bild zu gebrauchen, nicht linear-deduktiv, sondern gleichsam kreis- oder spiralförmig-mvenriv verläuft. Martha Nussbaum fragt sich in ihrer Aristoteles-Interpretation, ob Prinzipien bloße Faustregeln seien, die aus der (immer provisorischen) Verallgemeinerung von Einzelfällen resultieren, wobei der Einzelfall immer letzte Autorität bleibt und unter Umständen das Prinzip zu korrigieren vermag; oder aber ob sie „letzte Autoritäten" seien, auf deren Grundlage die Korrektheit von Einzelentscheidungen beurteilt wird, so dass also letzere gleichsam aus den ersteren deduziert werden können 66. Nussbaum sympathisiert natürlich zu Recht mit der ersten Version, weil sie richtig feststellt, dass Prinzipien unfähig sind „to capture the fine detail of the particular, which is the subject matter of ethical choice" (S. 300 f.). Allerdings unterscheidet Nussbaum hier nicht zwischen Prinzipien und Regeln (oder Normen), eine m. E. wichtige Differenzierung. Den entscheidenden Punkt erwähnt sie erst am Ende ihrer Ausführungen (S. 306), dass nämlich das Partikulare ohne die leitende und differenzierende Kraft des Universalen „stimmlos" und unintelligibel wäre. Genau dies, so ist gegen Nussbaum geltend zu machen, ist nun aber gerade die Funktion von moralischen Prinzipien: Sie verleihen der partikularen Entscheidung bzw. konkreten Handlungsweisen ihre moralische Identität d.h. ihren Charakter, „Fälle" von bestimmten Tugenden bzw. Wege („Mittel") zu bestimmten sittlichen Zielen zu sein (was nun gerade nicht die Funktion von Regeln oder Normen sein kann, denn diese beziehen

65 Zur Lehre der praestitutio finis durch die Klugheit bei Thomas vgl. M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O. S. 362 ff. und 583 ff. 66 M. C. Nussbaum, The Fragility of Goodness, a. a. O., S. 299 ff.

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sich gerade auf hinsichtlich ihrer moralischen Identität bereits definierte Handlungsweisen (s. unten V, 3). Gerade damit erweist sich erneut, wie sehr universale Prinzipien und Klugheit sowohl hinsichtlich ihrer Genese wie auch ihrer Applikation ineinander verwoben sind.

Schon in ihrer Grundstruktur bilden also praktische Prinzipien bzw. die lex naturalis keineswegs einen Gegensatz zur Klugheit. Ohne die aufs Partikulare gerichtete Vernunft, deren Vollkommenheit die Tugend der Klugheit ist und die in einem durch Erfahrung bereicherten Prozess die Prinzipien erst in ihrer spezifischen Bestimmtheit erfassbar macht, wäre die Erkenntnis eines für Praxis relevanten Allgemeinen undenkbar. Damit verfällt die Argumentation nun keineswegs einem unauflösbaren Zirkel; das Gesagte widerspricht auch nicht der Tatsache, dass Prinzipien eben Prinzipien, also logisch früher als das aufgrund der Prinzipien Bestimmte sind. Denn wie schon gesagt besitzt die Bildung der Prinzipien und ihre Interaktion mit der situativen Erfahrung die Eigenschaft eines Prozesses, dessen Struktur narrativer Art ist. Der Mensch entwickelt sich als sittliches Subjekt in der Zeit. Er ist als ein solches nicht einfach immer schon da oder wird so geboren. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass sich grundlegende Prinzipien, vornehmlich solche der Fairness, der Gerechtigkeit und hier insbesondere der Kommunikations- und Eigentumsgerechtigkeit (im Bereich des Lügens und Stehlens also) gerade bei Kindern rasch und deutlich ausbilden. Dennoch bedarf der Mensch differenzierter und oft langer Erfahrung um in komplexeren Situationen den Gehalt praktischer Prinzipien angemessen zu verstehen. Denn diese Prinzipien erfüllen ja die Aufgabe, konkrete Handlungen auf die grundlegenden Ziele, die in unseren natürlichen Neigungen angelegte Grundstruktur des Guten, hinzuordnen. Sie sollen praktische Wahrheit im Handeln, dessen Übereinstimmung mit dem richtigen Streben herstellen. Dies bedarf nicht nur allgemeinen Wissens um Prinzipien, sondern der Erfahrung und Klugheit. Dabei wiederum sind für die entsprechende kognitive Entwicklung die Hilfe und Prägung durch erzieherische Vorbilder und Autoritäten, der soziale und kulturelle Kontext von entscheidender Bedeutung. Das konkrete Ethos, in welches das Subjekt eingebunden ist, wird weiterhin für gewisse Konkretionen des sittlich Gebotenen entscheidend sein, kann aber im Licht der praktischen Prinzipien auch hinterfragt und als korrekturbedürftig erkannt werden. Sowohl das konkrete Ethos wie auch affektive Fehlleitung der Vernunft können den Prozesse der inventiven Prinzipienerkenntnis behindern; denn es ist „dem Laster eigen, das Prinzip zu verderben" 67 . Deshalb ist auch, wie Thomas hervorhebt, „nicht bei allen die gleiche Richtigkeit" vorhanden. Dies nicht nur, weil hin und wieder ein konkreter Umstand bewirken würde, dass die Anwendung eines Gerechtigkeitsprinzips Unrecht provoziert (so wird man einem plötzlich verrückt Gewordenen eine von ihm entliehene Waffe nicht zurückgeben), sondern auch weil lasterhafte individuelle und kulturelle Gewohnheiten, zuweilen aber auch pathologische Dispositionen der Natur, das sittliche Urteil verderben können68. In der Tat kann die lex naturalis ohne Weiterentwicklung zum Ethos (wozu auch eine menschlich-positive Rechtsordnung und Kultur in all ihren Dimensionen gehört) nicht handlungsleitend sein69. Dennoch aber ist sie notwendigerweise mehr, als eine bloße „entwurfsoffene Prinzipienstruktur" (auf 67 Aristoteles, EN, VI, 5, 1140 b 20. Vgl. auch unten Abschnitt h) „Prinzipienerkenntnis und affektive Dispositionen". 68 Vgl. I—II, 94,4. Darauf werden wir noch zurückkommen. 69 W. Kluxen, Menschliche Natur und Ethos, in: Münchener Theologische Zeitschrift 23 (1972), 1-17; Ethik des Ethos, Freiburg/München 1974.

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der Ebene der principia communia), die dann durch die „positiven menschlichen Gesetze wie das positive Gesetz Gottes als die in der Geschichte geschehenen Determinationen dieser Struktur" ergänzt und erfüllt wird70. Die lex naturalis enthält, zumindest im thomanischen Verständnis der Vernunft prinzipiell zugängliche handlungsspezifische Prinzipien materialer Art, die nicht nur Legitimationsmaßstab für ein Ethos zu sein vermögen, sondern auch substanziell genug sind, um die Grundrisse eines spezifischen sittlichen Ideals zu begründen, das wiederum einer spezifischen Sicht des Menschen und einer entsprechenden anthropologischen Wahrheit entspricht. Der zweite Punkt, die Rolle der Klugheit bei der Applikation der Prinzipien, hängt mit dem ersten unmittelbar zusammen: Praktische Prinzipien, bzw. Gebote der lex naturalis, können als solche noch nicht die Funktion der konkreten Handlungsregelung ausüben. Nur eine auf die konkrete Situation gerichtete Vernunft ist dazu imstande71. Ohne Klugheit vermögen also praktische Prinzipien gar nicht konkret handlungsleitend zu wirken. Wer nicht nur im allgemeinen verstehen will, was Achtung vor dem Eigentum anderer oder Wahrhaftigkeit gegenüber dem Mitmenschen heißt, sondern auch in konkreten Situationen entsprechend handeln will, der bedarf eines differenzierten Verständnisses von Eigentumsrechten und kommunikativer Situationen, um überhaupt erfassen zu können, was das Prinzip hier und jetzt bedeutet und erfordert72. Genau deshalb führt dann die sich so ausbildende Klugheit wiederum zu einem vertieften Verständnis des Prinzips. Andererseits jedoch könnte die aufs Konkrete gerichtete praktische Vernunft ohne ihren kognitiven Rückbezug auf das in den Prinzipien erfasste Allgemeine auch niemals Klugheit, d.h. menschliches Handeln auf das in Wahrheit „Für-den-Menschen-Gute" ausrichtende praktische Vernunft sein. Das Partikulare, hier und jetzt zu Tuende, ist immer komplex, kontingent und weniger gewiss als die Prinzipien. Wenn auch letztere nur geringe unmittelbar handlungsbestimmende Kraft aufweisen73, so wird doch das Partikulare eben überhaupt nur durch die Subsumption unter die Allgemeinheit eines Prinzips als Konkretion des Für-denMenschen-Guten und somit auch als moralisches Erfordernis verständlich. In diesem Sinne regeln diese Prinzipien dann auch wirklich das konkrete Handeln, weil sie gleichsam den Ort oder die notwendige Verlaufsbahn jener Handlungen bestimmen, die zum Programm „Gelingen des menschlichen Lebens" gehören können. Genau deshalb werden ja praktische Prinzipien trotz ihres fundamental positiven, auf das Für-den-Menschen-Gute hinordnenden Charakters oft auch in negativer, verbietender Form formuliert. Wie C. Schröer richtig festgestellt hat, besitzen deshalb die „praktischen Prinzipien und die jeweils daraus gewonnenen materialen Erfordernisse (...) für die jeweils konkretere Ebene die Bedeutung von einschränkenden Bedingungen, unter denen allein ein bestimmtes Handeln ein vernunftgemäßes Handeln sein kann. Es liegt in der Konsequenz dieses Begründungsschemas, dass die jeweils erreichte konkretere Ebene niemals die vorhergehenden Prinzipien vollständig einholt und ersetzt, und dass deshalb umgekehrt jede erreichte partikulare Ebene 70 Vgl. L. Honnefelder, Die ethische Rationalität des mittelalterlichen Naturrechts,. Max Webers und Emst Troeltschs Deutung des mittelalterlichen Naturrechts und die Bedeutung der Lehre vom natürlichen Gesetz bei Thomas von Aquin, in: W. Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, Frankfurt a. M. 1988, S. 254-275; S. 267. 71 Vgl. M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 224 und 257. 72 Vgl. dazu P. M. Hall, Narrative and the Natural Law, a. a. O., S. 38^-3; sowie unten, 3, d und e. 73 Sofern es sich nicht um negative Prinzipien oder Verbotsnormen handelt; vgl. unten 3, d.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN V E R N U N F T

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wiederum einem prüfenden Rekurs ausgesetzt bleibt"74. Dass genau dies im Falle von negativ formulierbaren Prinzipien oder Verbotsnormen dann zu ausnahmslos geltenden praktischen Regeln führen kann, wird später zu behandeln sein. Aber auch in diesem Falle geht es um den Zusammenhang des partikularen Handelns mit den Prinzipien, die eben nichts anderes als die Ziele von Tugenden, das „Für-den-Menschen-Gute" formulieren. Allerdings sind hier Missverständnisse möglich, vor allem nämlich das Missverständnis, hier werde für ein Moralkonzept plädiert, demgemäß es praktischer Vernunft möglich wäre, konkrete Handlungsanweisungen gleichsam aus allgemeinen Prinzipien einfach abzuleiten, so dass das konkrete Handlungsurteil als eine Art Verlängerung der Prinzipien aufs Partikulare hin aufzufassen wäre. Vor allem E. Schockenhoff hat in kritischer Absicht eine solche Interpretation der hier vorgelegten Position vorgetragen75, und zwar vor allem auf Grund meiner These über „die Einheit der praktischen Vernunft und ihrer Vollendung in der Klugheit"76 sowie der Erinnerung an die in ihrem Kontext stehende Aristotelische Lehre von der Unfehlbarkeit des Klugen. Die These besagt jedoch schlicht, dass praktische, auf das Partikulare gerichtete Handlungsurteil des Klugen sei ein Urteil derselben praktischen Vernunft, die auch die Prinzipien zum Gegenstand hat, und deren eigentliche Vollkommenheit. Damit ist nun eben gerade nicht gemeint, das konkrete Urteil werde aus den Prinzipien abgeleitet und bilde nur dessen „Verlängerung". Vielmehr besagt die These, die universale praktische Vernunft der Prinzipien sei ungenügend, um konkretes Handeln zu regeln, praktische Vernunft sei aber erst vollkommen, wenn sie das Konkrete und Partikulare zu regeln imstande ist. Und das kann sie erst auf Grund der Klugheit. Diese ist praktische Vernunft im Stadium ihrer höchsten Vollkommenheit, weil sie erst in diesem Stadium dazu befähigt, worauf ja praktische Vernunft eigentlich abzielt: zu handeln. Dies wurde folgendermaßen erläutert: „Beide - prinzipienerkennender Intellekt und Klugheit - sind Akte derselben praktischen Vernunft. Und mehr noch: Sie sind derselbe Akt der praktischen Vernunft in einem je verschiedenen ,Stadium' seiner Entfaltung und .extensio ad opus'. Wenn wir .Klugheit' als auf die .operative Konkretisierung' der universalen Prinzipien gerichtet behaupten, so benennen wir genau das, was sie dem Intellekt der Prinzipien voraus hat; das heißt: Wir benennen damit, hinsichtlich des Intellekts der Prinzipien, nicht eine Einschränkung oder ein .Weniger', sondern ein Mehr'. Die Klugheit - insofern wir sie als ein bestimmtes .Stadium' des Prozesses der praktischen Vernunft betrachten - wird dadurch nicht .auf die Mittel eingeschränkt', sondern umgekehrt wird gesagt: Durch die Klugheit erwirbt die praktische Vernunft ein höheres Maß an Vollkommenheit als sie dies als Intellekt der Prinzipien besitzt. Nämlich jene Vollkommenheit, deren die praktische Vernunft als praktische gerade am meisten bedarf: Die richtige Erfassung des Partikularen und

74 Ch. Schröer, Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin, a. a. O., S. 202. Deshalb ist, wie Schröer hier ebenfalls richtig bemerkt, die Ethik des Thomas von Aquin zugleich Prinzipien-, Tugend, Pflichten- und Gesetzesethik. 75 Vgl. E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a. a. O., S. 153 f. und: Compte Rendu zu: M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, in: Studia Moralia 34 (1996), S. 133-147. Zur Auseinandersetzung mit Schockenhoff sei verwiesen auf das „Postscript" zu M. Rhonheimer, Natural Law and Practical Reason, a. a. O., S. 574 ff. und Rhonheimer, Praktische Prinzipien, Naturgesetz und konkrete Handlungsurteile. Zur Diskussion über praktische Vernunft und lex naturalis bei Thomas von Aquin, in: Studia Moralia 39 (2001), S. 113-158. 76 S. Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O., S. 558 ff.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Kontingenten. Denn Ziel der praktischen Vernunft ist ja auszumachen, was zu tun ist; und das Tun ist immer partikularer und kontingenter Natur."77

Im Akt der Klugheit sind jedoch die Prinzipien, d.h. die Ziele der Tugenden intentional präsent, d.h. die Klugheit bestimmt das Partikulare als „Mittel" auf die Ziele der Tugenden hin (als eine Handlung also, „die zum Ziel führt"). Der Kluge ist der Tugendhafte im eigentlichen Sinne, weil er in der konkreten Situation tut, was dem Ziel der Tugend entspricht, und weil er es auch wirklich tut. Die Emphase liegt also darauf zu zeigen, dass die Klugheit die auf das eigentlich konkrete, auf ein Ziel hinführendes partikulares Tun - das „Mittel" - gerichtete Vollkommenheit der praktische Vernunft ist und dass diese ihre Eigenschaft, mittelbestimmende praktische Vernunft zu sein, ihre Dignität keineswegs schmälert, weil es sich dabei eben immer um die eine und einzige praktische Vernunft in verschiedenen Stadien ihres Vollzugs und ihrer Vollkommenheit handelt. R. A. Gauthier betrachtete bekanntlich die aristotelische Klugheit im Unterschied dazu gerade als das Vermögen der richtigen Zielsetzung und wirft Thomas vor, die Aristotelische Lehre verunstaltet zu haben, indem er Klugheit zur rein mittelbestimmenden Vernunft degradiere 78 . Die spezifische Leistung von Thomas scheint jedoch gerade darin zu bestehen, durch das Zusammendenken Aristotelischer Klugheitslehre und der Lehre von der lex naturalis als praktischer Prinzipienlehre die Einheit der praktischen Vernunft und ihre Vollendung in der Klugheit adäquat erfasst zu haben 79 . Damit wird Klugheit als jener Habitus erkennbar, in dem „alle Fäden zusammenlaufen": der Habitus der mittelbestimmenden praktischen Vernunft, der die Handlungen wählt, die auch effektiv die Ziele der einzelnen Tugenden verwirklichen, wobei dieser Habitus eine Vollkommenheit desselben praktischen Vernunftvermögens ist, der auch die Ziele als Handlungsprinzipien (im Sinne der lex naturalis) zum Gegenstand hat. Die Vollkommenheit der praktischen Vernunft zeigt sich wie gesagt gerade in der „operativen Konkretisierung" der Ziele der Tugenden, denn praktische Vernunft ist auf Handeln gerichtet, und Handeln ist immer nur konkret. Diese Konkretisierung ist keine Ableitung, sondern genuine Erkenntnis des Partikularen, wobei allerdings der Zusammenhang mit den Prinzipien immer gewahrt bleibt und deshalb sichergestellt ist, dass die aufs Konkrete gerichtete Handlungsvernunft auch sittliche Vernunft ist80. Die konkretisierende praktische Vernunft ist deshalb eine eigentliche Verwirklichung und Erfüllung des praktischen Prinzips, des Zieles der sittlichen Tugend. Klugheit ist nicht nur einfach mittelbestimmende Vernunft, sondern sie ist die Vernunft, die auch sittlich einwandfreie Mittel wählt. Konkretisierung des Prinzips heißt z.B., dass auch die konkrete Handlung, was auch immer sie beinhaltet, eine gerechte Handlung ist. Es geht hier also um die Frage der „Moralität der Mittel". Genau dies ist das Thema der Ethik: nicht nur die sachliche Frage, „Was ist hier und jetzt richtigerweise zu tun?", sondern „Was ist hier und jetzt richtig, weil es z.B. der Gerechtigkeit entspricht?"; „Was also

77 M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O., S. 561. 78 Aristote, L'Éthique à Nicomaque. Introduction, Traduction et Commentaire par René Antoine Gauthier et Jean Yves Jolif, 2ème édition, Tome 1, Première partie: Introduction (par R. A. Gauthier), Louvain-Paris 1970, S. 273-283. 79 M. Rhonheimer, a. a. O., S. 558 ff. 80 Vgl. auch das bereits oben erwähnte „Eingeständnis" von M. C. Nussbaum The Fragility of Goodness, a. a. O., S. 306): „Still, it is now time to say that the particular case would be surd and unintelligible without the guiding and sorting power of the universal".

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN VERNUNFT

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ist gerechterweise zu tun?", die dann eben die Frage nach dem im moralischen Sinne „Richtigen" ist. Die Distanz zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen der Praxis ist nicht unendlich, das Allgemeine und das Besondere gehören nicht zwei verschiedenen Welten an; und wie das Allgemeine nicht unabhängig von seinen einzelnen Fällen feststeht, so bezieht sich eben jeder besondere Fall auf das Allgemeine und verwirklicht es81. Gerade deshalb kann das Besondere aber dem Allgemeinen, dem Prinzip, auch widersprechen und deshalb auf Grund des Prinzips für moralisch unrichtig erklärt werden 82 . Das Verhältnis von Klugheitsurteil und praktischen Prinzipien ist aber dennoch nicht ein solches der Ableitung, sondern der intentionalen Leitung des partikularen Handlungsurteils durch die praktischen Prinzipien. „Der begründende Entwurf einer vernünftig gewollten Handlung schreitet im Sinne einer zunehmenden Konkretisierung voran von den ersten allgemeinen Prinzipien über die partikularen Erfordernisse und immer spezielleren Dispositionen bis schließlich hin zur Applikation der Handlungsüberlegung auf die konkrete Situation, in der gehandelt wird" 8 3 . Diese Konkretisierung ist, da nicht „Ableitung" aus den Prinzipien, eigene Leistung - „Vermittlung" der „ratio" der Klugheit die nun aber gerade deshalb „Klugheit" und nicht bloße Schlauheit, Durchtriebenheit oder Gerissenheit ist, weil sie sich intentional auf die durch die praktischen Prinzipien formulierten Ziele der sittlichen Tugenden bezieht. Genau in diesem Zusammenhang steht auch die ursprünglich Aristotelische Lehre von der „Unfehlbarkeit" des Klugen. Denn Klugheit ist ja für Aristoteles ein „untrüglicher (alete) Habitus des vernünftigen Handelns in Dingen, die für den Menschen Güter und Übel sind" 84 . Dieser „untrügliche" Habitus stellt, wie bereits oft erwähnt, „praktische Wahrheit" im konkreten Handlungsurteil fest. Thomas hat diese Lehre konsequent weitergeführt. Allerdings: Sie darf wiederum nicht missverstanden werden als die Behauptung einer durch die Klugheit ermöglichten „sachlichen Irrtumsfreiheit" des konkreten Handlungsurteils und damit einer epistemischen oder technischen Missdeutung praktischer Vernunft, denn immer geht es lediglich um die Frage der „praktischen Wahrheit" d.h. der moralischen Richtigkeit dieses Urteils, seiner Übereinstimmung mit den Zielen der Tugenden. Die Aussage, die Klugheit garantiere die Unfehlbarkeit der Vernunft, ist also nicht so gemeint, als ob die Klugheit gleichsam aus den allgemeinen Prinzipien der lex naturalis das für den konkreten Fall „an sich Richtige" ableiten und in Handeln umsetzen würde. Es geht hier vorerst gar nicht um die Frage der materialen Richtigkeit. Vielmehr ist hier von der „sittlichen Richtigkeit" oder dem sittlichen Gutsein der Handlung die Rede, die wiederum die mit der bereits erwähnten praktischen Wahrheit in eins fällt. Man kann hier auch von der „moralisch erfolgreichen Handlung" sprechen. Noch weniger wird behauptet, es gebe für die praktische Vernunft in jeder Situation jeweils nur eine einzige sittlich richtige Handlungsmöglichkeit. In einer gegebenen Situation können verschiedene, wenn unter Umständen auch nicht gleich optimale, sachliche „Richtigkeiten" unter dieselbe moralische Richtigkeit fallen, d.h. sie können in ihrer Verschiedenheit doch sämtlich mit den entsprechenden Tugendzielen übereinstimmen. Konkretes Handeln „ist durch dieses Zielstreben niemals eindeutig festgelegt, denn die 81 Vgl. R. Elm, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Paderborn, 1996, S. 279. 82 So auch L. Honnefelder, Absolute Forderungen in der Ethik, a. a. O., S. 13-33; 28. 83 C. Schröer, Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin, a. a. O., S. 201. Ebenso M. Rhonheimer, Praktische Vernunft und Verniinftigkeit der Praxis, a. a. O., S. 369. 84 EN VI, 5, 1140 b 7.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Materie des Handelns ist kontingent, verschiedene, aber nicht beliebige, Handlungsmöglichkeiten können unter die gleiche ,Zielrichtigkeit' fallen" 85 . Die „Unfehlbarkeit" der Klugheit meint eben, dass der Kluge unfehlbar wählt, was „gut" ist, was „sittlich richtig" ist, d.h. was mit den Zielen der Tugenden übereinstimmt. „Von der Sache her" ist es vielleicht nicht unbedingt das Beste (es kann auch durchaus nur „für mich das Beste" sein, aufgrund ganz persönlicher Umstände). Diese moralische Unfehlbarkeit kann auch - besonders in komplexen und neuartigen Situationen - einhergehen mit Unsicherheit, Schwanken oder subjektiver Ungewissheit. Aber das Tun des Klugen wird immer ein solches sein, das mit dem Ziel der Tugend in Übereinstimmung steht; er wird nichts Ungerechtes tun, nicht überstürzt oder maßlos handeln. Gerade im Bereich der Tugenden des Maßes und des Starkmutes werden ihn seine wohlgeordneten Affekte einen klaren Kopf bewahren helfen, wodurch es ihm einfach fallen wird, das Richtige zu sehen. Er wird nicht aus Feigheit, Bequemlichkeit, Ressentiment u. ä. zu Ungerechtem neigen, etwa parteilich sein; er wird sich nicht, da lasterhaft, ein X für ein U vormachen. Er hat ein Gespür für das Recht des anderen, er liebt die Wahrheit, auch wenn sie ihm unbequem ist. Er ist fähig, loyal zu sein, opferbereit, solidarisch, d.h. ihm ist es am Wohl des Mitmenschen wirklich gelegen, er hat ein aufrichtiges Interesse daran (gemäß der Goldenen Regel), und deshalb werden seine Handlungsurteile gerecht sein. Auch wenn die Affekte und der Wille des Klugen so geordnet sind, dass seine Vernunft affektiv richtig geleitet ist und er so sittliche „Unfehlbarkeit" erwirbt, so meint dies nicht, ein Kluger könne sich nicht auch irren (z.B. aus Grund eines ihm unbekannten Mangels an Information oder aufgrund der Komplexität eines Problems und möglichem Zeitdruck) oder dass jede Unsicherheit verschwunden wäre. Vielmehr ist der Kluge fähig, wo gehandelt werden muss, trotz gewisser Unsicherheit zu handeln (da er nicht ängstlich oder skrupulös ist), aber auch innezuhalten, zu warten und Rat zu holen, wo die Ungewissheit zu groß oder das Risiko zu hoch ist. Ja, gerade der Kluge weiß, wann Unsicherheit sofortiges Handeln verbietet, denn er handelt nie überstürzt, und wann die Suche nach Rat geboten ist. Der Kluge wird auch geneigt sein, auf den Rat anderer zu hören, auch wenn er dadurch eigene Meinungen und sich selbst in Frage stellen muss; denn der Kluge ist daran interessiert, „das in Wahrheit Gute zu tun", und nicht nur, was ihm als ein solches Gutes erscheint. Gerade wer sich in gewissen Fällen emphatisch auf die „Freiheit der eigenen Gewissensentscheidung" beruft, beweist ja damit oft mangelnde Klugheit. Es geht demnach um die Frage, wie jenes menschlich Gute, das der Intellekt auf der allgemeinen Ebene der Prinzipien erkennt bzw. als praktisches Gebot konstituiert, bis hin auf das konkrete Handeln übertragen werden kann, so dass dieses Handeln eben tatsächlich mit diesem Guten übereinstimmt (dies ist die praktische Wahrheit des Handlungsurteils), d.h. den Menschen zu diesem Guten hinführt und in so zu einem „guten Menschen" werden lässt. Wir wollen ja gerechte Menschen sein; aber Gerechtigkeit können wir praktisch nicht verwirklichen, indem wir einfach nach Gerechtigkeit streben; wir müssen Gerechtes tun und uns von Ungerechtem enthalten. Der Kluge ist derjenige, der - was auch immer er wählen mag - wählt, was mit dem Ziel der Gerechtigkeit in Übereinstimmung steht und damit dieses Ziel und das entsprechende Prinzip erfüllt. Darin besteht seine „Unfehlbarkeit", die aber nicht impliziert, dass zwischen dem „Prinzip Gerechtigkeit" und der konkreten, durch die Klugheit bestimmten Handlung gleichsam eine ein-eindeutige Beziehung bestünde. Und noch weniger ist gemeint, dass aus allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien irgend etwas für das konkrete 85 M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O., S. 257.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN V E R N U N F T

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Handeln abgeleitet oder erschlossen werden könnte. Dennoch aber ist die konkrete gerechte Handlung eben Verwirklichung und Erfüllung des Prinzips Gerechtigkeit, und damit von Vemünftigkeit, wodurch der Handelnde zu einem gerechten Menschen wird, - sogar wenn er sich hie und da in der Sache irrt oder sub-optimal handelt. Diese sittliche „Unfehlbarkeit" der Klugheit enthebt sie deshalb auch nicht der Aufgabe des ethisch-normativen Diskurses. Darauf wurde bereits im Abschnitt über die Tugend der Klugheit hingewiesen. Nun ist aber, im nachfolgenden Exkurs, noch auf einen weiteren Aspekt der eben behandelten Thematik einzugehen: die Frage der Gewissheit konkreter Handlungsurteile. g) Exkurs: Die Mehrstufigkeit der praktischen Vernunft und das „Gesetz der abnehmenden Gewissheit" Vor allem im deutschen Sprachraum weisen Thomasinterpreten immer wieder darauf hin, dass gemäß Thomas von Aquin die „Gewissheit" einer praktischen Erkenntnis mit zunehmender Konkretisierung abnehme. Die Behauptung eines solchen Gesetzes der abnehmenden Gewissheit bei zunehmender Konkretisierung erscheint allerdings zunächst unklar denn, so würde man meinen, ein solches Gesetz gilt doch gerade für die theoretische Vernunft, die über Einzelnes überhaupt nichts Gewisses mehr aussagen kann und es deshalb auch gar nicht zum Gegenstand hat. Theoretische Vernunft besitzt Gewissheit nur auf der universalen Ebene. Für die praktische Vernunft muss es sich doch eigentlich gerade umgekehrt verhalten: je handlungsnäher ein Urteil ist, desto näher ist praktische Vernunft an ihrem Ziel und desto gewisser wird die Erkenntnis dessen, was zu tun ist. Wäre es umgekehrt, käme es nie zur Wahl einer Handlung. Allerdings ist einzuräumen, dass mit zunehmender Konkretisierung die Irrtumsmöglichkeiten steigen, aber das ist trivial, weil dies auch für theoretische Erkenntnis gilt: je weiter ein Erkenntnisprozess fortschreitet, desto mehr Fehlerquellen können auftreten (wobei auch oft der Fall ist, dass sich eine Frage gerade durch das Fortschreiten des Erkenntnisprozesses zunehmend klärt und damit mit der Konkretion auch die Gewissheit des Urteils zunimmt). Ebenfalls wahr ist, dass universal-notwendige (epistemische) Aussagen das für die konkrete Handlung Geforderte nicht zu fassen vermögen. In diesem Sinne, aus der Perspektive des allgemeinen Prinzips, ist das konkret zu Tuende noch „ungewiss", d.h. auf Grund des Prinzips ist es noch nicht voraussehbar und deshalb auch nicht aus ihm ableitbar. Damit erweist sich aber der von Autoren wie E. Schockenhoff und L. Honnefelder, aber auch von C. Schröer immer wieder betonte Grundsatz der abnehmenden Gewissheit praktischer Urteile mit zunehmender Konkretion als trivial. Gemeint sein kann damit hinsichtlich Aristoteles und Thomas eigentlich nur, was bis anhin wohl bereits zur Genüge betont wurde, dass nämlich die Uniformität der allgemeinen Regel das Partikulare in seiner Singularität nicht adäquat darzustellen vermag. Das Partikulare ist immer ein Weniger an Universalität, aber zugleich ein Mehr an praktischer Bestimmtheit und in diesem Sinne reicher und wirklichkeitsnäher. Dass ich gerecht handeln, einem jeden das ihm Zustehende geben soll, ist eine allgemeine Regel, deren Gewissheit darin besteht, dass sie alle Fälle von konkreten Handlungen in sich schließt und deshalb immer zur Anwendung kommt. Aber ich kann auf ihrer Grundlage nicht wissen, was denn nun in diesem konkreten Fall das einer bestimmten Person Zustehende ist. Der Gewissheit der allgemeinen Regel entspricht eine große Vielfalt und damit auch Kontingenz ihrer Anwendung. Das Partikulare entzieht sich dem Zugriff eines epistemisch universal-notwendigen Wisssens. Es ist das, um mit Aristoteles zu sprechen, was „immer wieder anders ist".

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Etwas ganz anderes bedeutetete es allerdings zu behaupten - genau dies wird aber von den genannten Interpreten offensichtlich behauptet - , mit zunehmender Konkretisierung wachse auch die Unsicherheit des Handlungsurteils, als ob der Handelnde bezüglich des konkret zu Tuenden, weil es partikular ist, nie zur Gewissheit kommen könne, sittlich richtig, d.h. in Erfüllung des Prinzips gehandelt zu haben; und deshalb sei auch die Verbindlichkeit konkreter praktischer Urteile geringer, als jene allgemeiner Regeln, die mit Notwendigkeit und ausnahmslos gelten. In diese Richtung scheinen in der Tat gewisse Äußerungen etwa von L. Honnefelder 86 und F.-J. Bormann 87 zu zielen. Schockenhoff hingegen drückt sich in dieser Beziehung eher unklar und zweideutig aus: „Deshalb kann es auf der Ebene der konkreten Schlussfolgerungen der praktischen Vernunft überhaupt keine allen gemeinsame Wahrheit oder praktische Richtigkeit mehr geben, denn die einzelnen Handlungen entziehen sich in ihrer Singularität und Kontingenz der Erkenntnis durch allgemeine und notwendige Begriffe" 88 . Zu sagen, das Singulare entziehe sich „in seiner Singularität und Kontingenz" dem allgemeinen Begriff, ist nun freilich zunächst wiederum trivial und schlicht tautologisch89. Aber was soll heißen, es gebe „auf der Ebene der konkreten Schlussfolgerungen der praktischen Vernunft überhaupt keine allen gemeinsame Wahrheit oder praktische Richtigkeit"? Von einem aristotelischen Standpunkt her ist diese Aussage nicht vertretbar. Was Aristoteles „praktische Wahrheit" nennt, ist ja gerade das verschiedenen konkreten praktischen Urteilen Gemeinsame: ihre Übereinstimmung mit dem „richtigen Streben", d.h. mit den Zielen der sittlichen Tugenden. Gerade diese Art von Wahrheit und Allgemeinheit ist die Weise, in der auch das Singuläre, Kontingente, das operabile in seiner Konkretion, „wahr" genannt werden kann; ein genuin praktischer Typus von Wahrheit, welche das operabile in seiner Singularität und Kontextualität nicht aufhebt, es aber gleichzeitig intentional einem praktischen, jeweils das Ziel einer sittlichen Tugend formulierenden Prinzip zuordnet, so dass sie dann auch, je nach dem, eine „gerechte", „maßvolle", oder „tapfere" Handlung genannt werden kann. Die „Wahrheit" des Konkreten besteht damit letztlich darin, dass es durch das Prinzip, das es zu verwirklichen vorgibt, gerechtfertigt und in diesem Sinne aus ihm „abgelei-

86 Vgl. L. Honnefelder, Absolute Forderungen in der Ethik, a. a. O., S. 26: „... während Thomas davon ausgeht, dass ausnahmslose und mit Notwendigkeit geltende Verbindlichkeit nur den allgemeinsten Regeln zukommt und im Prozess der konkretisierenden Determination der allgemeinen Regeln mit der Allgemeinheit auch die Verbindlichkeit abnimmt, und zwar nicht, weil die Konkretion als solche schon den Anspruch mindert, sondern weil sie die Gewissheit der Erkenntnis des Anspruchs abnehmen lässt." 87 Hier m.E. allerdings bereits an der Grenze des Unsinnigen, so wenn Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis, a. a. O., S. 293, behauptet, die praktische Vernunft durchlaufe „bis zu der nur noch auf diskursivem Wege zu gewinnenden Einsicht in die hier und jetzt richtige Handlungsalternative einen komplizierten mehrstufigen Prozess (...), indem die Gewissheit der Richtigkeit des jeweiligen Urteils mit wachsender Konkretion beständig abnimmt" (Hervorhebung von mir). Auch wenn die Universalisierbarkeit des Urteils selbstverständlich abnimmt, so gewiss nicht die „Gewissheit der Richtigkeit" des Urteils. Das macht deshalb keinen Sinn, weil es bedeutet, dass man entweder nie oder immer mit schlechtem Gewissen und/oder Furcht, sich geirrt zu haben, handeln würde. 88 E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a. a. O., S. 176. 89 Und es wird nicht besser, wenn Schockenhoff fortfährt: „In ihren konkreten Urteilen untersteht die praktische Vernunft dagegen dem Gesetz einer abnehmenden Gewissheit, weshalb auf dieser Ebene von vornherein mit einer größeren Bandbreite ihrer Ergebnisse zu rechnen ist." Das stimmt eben nur, insofern damit wiederum Triviales gemeint ist.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN VERNUNFT

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tet" werden kann; seine Unwahrheit läge im Widerspruch zu diesem Prinzip, in seiner „Unableitbarkeit" also. Präzis in diesem Sinn ist eben auch die nur in der letzten Konkretion des Einzelfalles bestehende Praxis auch der Erkenntnis durch allgemeine Begriffe zugänglich und kann es deshalb auch eine praktische Wissenschaft geben 90 . Wiederum trivial ist auch, dass konkrete Handlungsurteile in vielen Fällen auf Grund der Komplexität der Materie oder der Umstände den Handelnden in Unsicherheit oder sogar Perplexität belassen. Das wiederum liegt jedoch nicht an der Konkretion des Urteils als solcher, sondern an der Komplexität der Materie und der Umstände. Handlungstheoretisch und aus der Perspektive des Handlungssubjekts betrachtet muss hingegen betont werden, dass gerade das konkrete Handlungsurteil einen höheren Grad von Gewissheit aufweisen muss, als das allgemeine Prinzip. Gerade die Allgemeinheit von Prinzipien, gestattet ja wegen ihrer praktischen Unterdeterminiertheit noch gar kein konkretes Handeln - und Handeln ist immer konkret - und belässt damit den zum Handeln Aufgerufenen in einem Zustand der Ungewissheit und Unentschlossenheit; und dies solange, bis er zur Konkretion hinsichtlich des z.B. hier und jetzt „Gerechten" bzw. des dem Mitmenschen Geschuldeten und Zuträglichen gelangt ist. Handeln kommt gerade dann zustande, wenn jener Grad von Gewissheit erlangt ist, den allein die Konkretisierung des Prinzips durch das Urteil der Klugheit ermöglicht. Der Handelnde wird dann den letzten, handlungsauslösenden Spruch seiner praktischen Vernunft (das iudicium electionis) als das verbindlichste aller Urteile empfinden und sich deshalb auch „verpflichtet" fühlen, zu tun, was die Vernunft ihm gebietet. Wie Honnefelder zu behaupten, die „Gewissheit der Erkenntnis des Anspruchs" nehme „im Prozess der konkretisierenden Determination" ab, würde bedeuten, mit zunehmender Konkretisierung praktischer Vernunft entfernte sich das handelnde Subjekt immer mehr vom Entschluss zum Handeln, um schließlich beim Urteil über die Einzelhandlung angelangt, sich hinsichtlich des sittlich Gebotenen im Zustand maximaler Unsicherheit zu befinden. Was abnimmt, ist allein die Verallgemeinerungsfähigkeit des konkret-situativen Anspruchs, die mögliche Richtigkeit dieser konkreten Handlungsweise für andere bzw. für alle Fälle. Aber auch das ist wiederum trivial. Mit dem genannten „Gesetz der abnehmenden Gewissheit" und der damit verbundenen Interpretation der Mehrstufigkeit praktischer Vernunft wird in der Tat zuweilen erheblicher Missbrauch getrieben. Man beruft sich dazu auch oft auf Thomastexte, die bei genauerem Hinsehen ganz anderes besagen 91 . So zitiert Schockenhoff hier zum Beleg die bekannten Stellen über die „Veränderlichkeit der menschlichen Natur" 92 ; Honnefelder hingegen beruft sich auf das Prinzip „non est eadem rectitudo apud omnes" („nicht bei allen ist die gleiche Richtigkeit vorhanden") 93 , das gemäß Thomas für die praktische Erkenntnis gelte, die im Unterschied zur spekulativ-theoretischen, die auf Notwendiges gerichtet ist, das Partikulare und Kontingente zum Gegenstand hat. In der Tat führt Thomas an dieser Stelle aus, dass zwar im Bereich der allgemeinsten Prinzipien auch die praktische Vernunft bei allen Menschen dieselbe Richtigkeit besitze; nicht jedoch gelte dies bezüglich der spezifischeren Prinzipien oder Gebote, die sich bereits auf bestimmte Handlungstypen wie z.B. Mord. Diebstahl oder die Verpflichtung zur Zurückerstattung von Geliehenem bezieht. Aber ist nun mit dieser ver90 91 92 93

Vgl. W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, a. a. O., S. 222. Vgl. dazu ausführlicher M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O., S. 378 ff. E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a. a. O., S. 176. I—II, q. 94, a. 4.

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schiedenen „Richtigkeit" ein Gesetz abnehmender Verbindlichkeit und Gewissheit der praktischen Erkenntnis formuliert? In dem besagten Artikels lässt sich jedenfalls schwerlich etwas finden, was diese These stützen könnte. Thomas zeigt hier nur, dass erstens gewisse spezifische Prinzipien oder besser: Normen und Regeln - wie etwa jene, man solle Geliehenes zurückerstatten - in Einzelfällen versagen und nicht der Gerechtigkeit entsprechen (das allerdings lässt sich im Einzelfall wiederum mit u. U. hoher Gewissheit und Eindeutigkeit erkennen). Thomas spricht hier von einem impedimentum particulare, einem „konkreten Hindernis" dafür, dass die Befolgung einer solchen Regel in einem konkreten Fall möglich ist, weil die Befolgung gerade zur Verkehrung ihres Sinnes führen und sie damit ein Gerechtigkeitsprinzip in ein Unrechtsprinzip verwandeln würde (so wenn jemand einem plötzlich verrückt Gewordenen die von ihm ausgeliehene Waffe zurückgäbe94). Zweitens jedoch behauptet hier Thomas - zumeist bleibt dies von jenen, die sich auf diese Stelle berufen, unerwähnt - , ändere oder verkehre sich bei zunehmender Konkretion die „Richtigkeit" weil „einige Menschen aufgrund der Leidenschaft, aufgrund schlechter Gewohnheit oder einer schlechten (pathologischen) Verfassung der Natur eine verdorbene Vernunft besitzen"95. Damit klingt nun wiederum die Perspektive des aristotelischen Klugen oder spoudaios an: die unrichtige Erkenntnis des spezifischen Handlungsprinzips gründet auf der Verderbnis der Vernunfterkenntnis durch affektive, aber u. U. auch kulturspezifische und sozialisationsbedingte Fehlorientierung, falls nicht gar eine pathologische Ursache vorliegt. Präziser als Aristoteles reflektiert Thomas allerdings auch die Bedingtheit sittlicher Einsicht durch Kultur und Ethos. Das ist, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht zu übersehen. Aber er versteht auch diese Art von Bedingtheit nicht als eine Schmälerung der universalen Geltung sittlicher Prinzipien. Nur was im Konkreten zu tun ist, und zwar gleichsam innerhalb dieser Prinzipien oder auf ihrer Grundlage, das kann nicht auf universale Weise gesagt werden. Zu groß ist die mögliche Bandbreite menschlicher Möglichkeiten und der situativen Bedingtheit des Handelns sowie auch legitimer kultureller Varianz und Vielfalt. Allgemein kann das konkrete Handeln nur durch negativ formulierte Prinzipien unmittelbar praktisch normiert werden, weil sie die Grenzen dessen formulieren, innerhalb derer praktische Wahrheit, d.h. Übereinstimmung des konkreten Tuns mit den Zielen der sittlichen Tugenden zu finden ist. Einzelne Handlungen können zwar durch Prinzipien gerechtfertigt, aber nie zwingend aus ihnen abgeleitetet werden. Anders steht es mit Handlungsverboten: sie können u.U. zwingend aus dem Prinzip abgeleitet werden, da die Erkenntnis eines Widerspruchs zum Prinzip alle darunter fallende Handlungen ausnahmslos erfasst.

94 Vgl. dazu A. M. González, Depositum gladius non debet restituí furioso: Precepts, Synderesis, and Virtues in Saint Thomas Aquinas, in: The Thomist 63,2 (1999), S. 217-240. Dabei handelt es sich eben nicht um eine „Ausnahme" (als ob das Prinzip nicht immer gültig wäre), sondern darum, dass der Einzelfall nicht unter ein bestimmtes Prinzip subsumierbar ist. Die Unterscheidung, - sie geht letztlich auf die Verwendung oder die Nicht-Verwendung eines intentionalen Handlungsbegriffs zurück - ist wichtig im Zusammenhang mit dem Versuch, aus der Behauptung von „begründeten Ausnahmen" die Legitimität einer teleologischen (konsequentialistischen oder proportionalistischen) Ethik abzuleiten (vgl. dazu unten, V.3 und 4). 95 I—II, q. 94, a. 4.

1. D I E PRINZIPIEN DER PRAKTISCHEN V E R N U N F T

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h) Prinzipienerkenntnis und affektive Dispositionen Die Konvergenz zwischen Handlungsprinzipien und Zielen der sittlichen Tugenden sowie die oben dargestellte Rolle der Klugheit bei der Genese und Applikation praktischer Prinzipien begründen einen für die praktische Vernunft überaus bedeutsamen Zusammenhang, der ebenfalls bereits mehrfach erwähnt wurde und für eine Tugendethik von zentraler Bedeutung ist: Die Wichtigkeit der affektiven Dispositionen für die Erkenntis dieser Prinzipien und für den Grad ihrer Wirksamkeit. Damit kehren wir wieder zum Thema der sittlichen Tugend und ihrer affektiv-kognitiven Leistung zurück, „Konnaturalität mit dem Guten" hervorzubringen. Denn wie Aristoteles betont, „verdirbt" das Laster „das Prinzip". Nicht jedes Urteilen allerdings wird durch „Lust und Unlust verdorben und verkehrt". So etwa ist das „Urteil über die Frage, ob das Dreieck eine Winkelsumme hat, die zwei rechten Winkeln gleich ist" affektiv nicht gefährdet; es ist ein rein theoretisches Urteil. Gefährdet sind hingegen Urteile, die affektiv gebunden sind, also solche der praktischen Vernunft, „Urteile über das, was man tun soll. Denn die Prinzipien der Handlungen liegen in ihren Zwecken. Ist man aber einmal durch Lust oder Unlust bestochen, so verbirgt sich einem sofort das rechte Prinzip, und man vergisst, dass man seinetwegen und um seinetwillen alles wählen und tun soll. Denn es ist der Schlechtigkeit eigen, das Prinzip zu verderben"96. Erworbene affektive Dispositionen, also Tugenden und Laster, haben einen Einfluss sowohl auf die Erkenntnis der Prinzipien wie auch auf ihre handlungsleitende Effizienz. Der Tugendhafte tut das Gute aufgrund affektiver Konnaturalität mit dem Guten. Das intentionale Zielstreben seiner affektiven Dispositionen bewirkt gerade, dass er mit Leichtigkeit, Beständigkeit und Freude tut, was den Prinzipien entspricht. „Tugend, natürliche oder durch Gewöhnung erworbene, lehrt, die rechte Auffassung über das Prinzip des Handelns zu besitzen" 97 . Dadurch wird Klugheit möglich, die ein „untrüglicher, vernünftiger Habitus des Handelns ist in Dingen, die die menschlichen Güter betreffen" 98 . Der Unenthaltsame hingegen weiß zwar, was gut ist, er verfällt jedoch dem Wahlirrtum: Sein praktisches Urteil in der Handlungswahl wird affektiv fehlgeleitet. Aber „er hat das Beste, das Prinzip nicht verloren" 99 . Typisch ist in diesem Fall nachträgliche Einsicht und Reue'00. Der eigentlich Lasterhafte jedoch besitzt anstelle der Prinzipien ein anderes Prinzip, nämlich jenes, das seinen affektiven Dispositionen entspricht. Den bloß Unenthaltsamen oder moralisch Schwachen vergleicht deshalb Aristoteles mit „einer Stadt, die alles Notwendige beschließt und vortreffliche Gesetze hat, dieselben aber nicht in Vollzug bringt"; der Lasterhafte jedoch „gleicht einer Stadt, die ihre Gesetze zwar in Vollzug bringt, aber schlechte Gesetze hat"101. 96 97 98 99 100 101

EN VI, 5 1140b 13-21. Ebd., VII, 8 1151a 19. Ebd., VI, 5 1140b 21. Ebd., VII, 8 1151a 26. Ebd., 1150b 31. Ebd., 11 1152a 20-24. In seiner ersten Arbeit über Aristoteles ( Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München-Salzburg 1971, S. 141, wieder aufgelegt Berlin 1996) brachte O. Höffe diesen wesentlichen Unterschied zwischen dem Lasterhaften und dem bloß Unenthaltsamen mit der Behauptung zum Verschwinden, gemäß Aristoteles zeichne sich der Lasterhafte dadurch aus, „überhaupt kein Prinzip" zu haben, während es für den Tugendhaften charakteristisch sei, „dem Prinzip, das Gute zu erstreben", zu folgen. Damit wird aber der für Aristoteles wesentliche Unterschied zwischen dem in Wahrheit und dem nur dem Scheine nach

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Das aber macht das Geschäft der Ethik selbst zu einer gefährdeten Aufgabe. Aristoteles betont gleich zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik, dass derjenige, der „den Leidenschaften gemäß lebt" und nicht der Vernunft gemäß, kein geeigneter Hörer von Ethikvorlesungen ist. Diese Aussage ist freilich eine Zumutung. Aber ist sie deshalb weniger wahr? Auch wenn man sie wohl in dem Sinne präzisieren müsste, dass kein geeigneter Hörer der Ethik jener sei, der nicht zumindest die Absicht verfolgt oder sonst irgendwie gewillt ist, der Vernunft gemäß zu handeln. Denn genau dieser ist es ja, der nicht auf Gründe hören will, und dem ebenfalls nicht daran liegt, seine Präferenzen und Prioritäen zu hinterfragen und sie gegebenenfalls zu revidieren. Genau das ist jedoch das Geschäft der Ethik. Wie Aristoteles im Ersten Buch sagt, muss der Ethiker von Anfang an das Prinzip als ein „Bekanntes" voraussetzen. „Deshalb muss man eine gute Charakterbildung bereits mitbringen, um die Vorträge über das sittliche Gute und das Gerechte, überhaupt über die das Leben in der Polis betreffenden Dinge, in fruchtbringender Weise zu hören. Denn wir gehen hier von dem ,Dass' aus, und ist dieses hinreichend erklärt, so bedarf es keines ,Darum' mehr. Wer nun so geartet ist, der kennt entweder die Prinzipien schon oder kann sie doch leicht erlernen. Bei wem aber weder das eine noch das andere gilt, der höre, was Hesiod sagt: ,Der ist von allen der Beste, der selber jegliches findet. Aber auch jener ist tüchtig, der guter Lehre Gehör gibt. Wer aber selbst nichts erkennt, noch fremden Zuspruch bedächtig bei sich erwägt, der ist wohl unnütz unter den Menschen'" 102 .

Es ist wohl möglich, die Aristotelische Lehre über die Prinzipien der praktischen Philosophie auf jene Lehre über die induktive Erkenntnis der Prinzipien zurückzuführen, wie sie Aristoteles in seiner Zweiten Analytik entwickelte, und auf die er auch in der Nikomachischen Ethik selbst anspielt 103 . Aber ausgeführt hat Aristoteles selbst eine solche ethische Prinzipienlehre nirgends. Sie findet sich aber - allerdings auch hier nur beiläufig - bei Thomas von Aquin, und sie darf wohl als kongeniale Ausfüllung einer Lücke der Aristotelischen Ethik betrachtet werden 104 . Der christliche Philosoph mutet dem Menschen allerdings ein höheres Maß an kognitiver Autonomie und Vernünftigkeit zu, als der heidnische. Das hat seinen Grund letztlich in der christlichen Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Deshalb gibt es, wie Thomas betont, Prinzipien, deren Kenntnis schlechterdings selbst durch affektive Disposition nicht „auslöschbar" sind, auch wenn sie durch diese im konkreten Handeln punktuell unwirksam werden können 105 . Etwa die goldene Regel, und selbstverständlich das erste Prinzip der praktischen Vernunft selbst. Denn ohne die Wirksamkeit dieses Prinzips würde nicht einmal der Lasterhafte etwas tun; denn auch er handelt ja nur, insofern er

102 103 104 105

Aristoteles wesentliche Unterschied zwischen dem in Wahrheit und dem nur dem Scheine nach Guten aufgehoben und ein formalistischer, inhaltlich unbestimmter Begriff der Tugend als „Handeln auf Grund von Prinzipien" begründet. In Wirklichkeit handelt aber gemäß Aristoteles ebenfalls der Lasterhafte auf Grund von Prinzipien, aber eben von falschen bzw. schlechten Prinzipien. Nur der Unbeherrschte handelt nicht aus Prinzip, sondern aus augenblicklicher Schwäche. Vgl. meine kurze Kritik an Höffes Interpretation in: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O., S. 435 (Anmerkung 48). EN 1,2 1095b 4-11. Vgl. EN 1,7 1098b 3. Dies ist die zentrale These, die ich in meinem Buch „Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis" zu begründen versuche. Vgl. I—II, q. 94, a. 6. Auch diese Aussagen beziehen sich selbstverständlich immer auf die lex naturalis.

2 . SITTLICHES W I S S E N UND GEWISSEN

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das ihm gut Scheinende verfolgt und was er für übel erachtet meidet. In diesem Sinne steht dieses erste Prinzip gleichsam jenseits von Gut und Böse, weil es diese Differenz ja überhaupt erst begründet und so menschliches Handeln unter die moralische Differenz stellt. Thomas anerkennt auch eine „Auslöschung" der Prinzipien durch Gewohnheiten einer Gesellschaft (man denke etwa an polygamische Gesellschaften), die den Kontext eines Ethos bilden, das zu hinterfragen man unter Umständen keinen Anlass hat, ohne deswegen aber ein „schlechter" Mensch zu sein. Thomas spricht von den Germanen, die glaubten, die Tötung eines auf frischer Tat ertappten Diebes sei gerecht106. Die Gewohnheit kann dermaßen zum Selbstverständnis eines Ethos gehören, dass sie das Prinzip verdeckt, ohne dass man solche, die in diesem Ethos leben, deshalb schon des Lasters der Ungerechtigkeit bezichtigen müsste, auch wenn sie Ungerechtes tun. Die kognitive Stabilität und Unauslöschbarkeit der allerersten Prinzipien jedoch, sowie die Möglichkeit einer argumentativen Rekonstruktion und Rechtfertigung der darauf gründenden handlungsspezifischen Prinzipien, eröffnet die Möglichkeit eines ethischen Diskurses, der nicht - wie bei Aristoteles - schon von Anfang an jene auszuschließen braucht, deren Dispositionen nicht mit den Prinzipien im Einklang stehen, und der auch immer die Möglichkeit bietet, ein Ethos auf seine Vernünftigkeit hin zu hinterfragen. Dennoch aber ist und bleibt Ethik praktische Philosophie: Sie wird von Subjekten betrieben, die bereits in Praxis engagiert sind, und sie weist auf Praxis. Indem sie nun über Praxis spricht, so sind in ihr wie in keiner anderen Disziplin Erkenntnis und Interesse in intensivster Weise miteinander verwoben. Sie kann nie aus der unbeteiligten Position der „dritten Person", des bloßen Zuschauers betrieben werden. Wissenschaftliche Objektivität impliziert hier immer auch die Zumutung, das eigene Leben zu reflektieren, es zu prüfen und danach zu trachten, es zu verbessern.

2. Sittliches Wissen und Gewissen a) Der Habitus des sittlichen Wissens Die Erkenntnis der Prinzipien ist ein Akt der in Streben eingebetteten praktischen Vernunft. Prinzipien leiten menschliches Streben bis hin zur konkreten Handlungswahl: Diese ist die letzte, handlungsauslösende Konkretion des Strebens und damit auch jener praktischen Vernunft, die in den Prinzipien ihren Ausgangspunkt, aber auch ihre intentionale Erfüllung besitzt. Denn Gerechtes tut der Gerechte ja um der Gerechtigkeit willen; sonst würde er zwar wohl Gerechtes tun, aber kein gerechter Mensch sein. Nun besitzt jedoch Vernunft - wie jedes geistige Vermögen - die Fähigkeit, über ihre eigenen Akte zu reflektieren. Diese Reflexion vollzieht sich spontan; nur der Grad der Aufmerksamkeit, die wir dieser Reflexion zuwenden, vermag vom Willen gesteuert zu werden. In dieser Reflexion wiederum erkennt das Subjekt sein eigenens praktisches Erkennen - sei es auf der Ebene der Prinzipien, sei es auf jener konkreter Handlungsurteile - als Gegenstand und Inhalt. In dieser Form der Reflexion bildet sich habituelles sittliches Wissen (scientia moralis), dessen Applikation auf das Tun moralisches Bewusstsein ist107. 106 107

I-II, q. 94, a. 4. Vgl. De Veritate, q. 17, a. 1.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

„Bewusstsein" ist immer eine Form des „Mit-Wissens" („con-scientia"). Das Wissen des faktischen ob man etwas tut und was man tut ist „Bewusstsein" im allgemeinsten Sinne. So handeln wir eben „bewusst" oder „ohne Bewusstein" dessen, was wir tun oder sogar dass wir überhaupt etwas tun. Sinnliches Bewusstsein entspringt dem (allerdings nicht reflexiven) Fühlen des Fühlens, geistiges Bewusstsein dem Erkennen oder Wissen von Fühlen und Neigung, aber auch dem „Wissen des Wissens". Geistiges Bewusstsein vollzieht sich im Modus der Reflexion. So vermag die alle praktische Vernunft konstituierende Hinneigung auf das Gute bzw. das Fliehen des Übels und das entsprechende praktische Urteil dann in der Reflexion als Gegenstand und Inhalt erfasst und als Aussage formuliert zu werden: „Das Gute ist zu tun und zu verfolgen, das Üble zu meiden." Ebenso vermag die Goldene Regel reflex formuliert zu werden: „Man soll niemandem tun, was man nicht will, dass andere es einem tun!" Das „Sollen" als Aussagemodus erscheint gerade auf dieser Ebene des sittlichen Bewusstseins. Die Reflexion ermöglicht demnach, das Ensemble unserer praktischen Urteile als praktische Erfahrung zu vergegenständlichen und in der Reflexion zu formulieren - eine Formulierung, die immer sprachlicher Natur ist. Solche Formulierungen praktischer Erfahrung in der Reflexion sind normative Aussagesätze, d.h. Aussagen im Modus des „Sollens": Sie sind Aussagen über vergegenständlichte imperative oder präzeptive Akte praktischer Vernunft. Und deshalb sind sie Aussagen über das menschlich Gute, sei es auf der Ebene der Prinzipien, sei es auf jener konkreter Handlungsurteile. So lässt sich verstehen, wie sich gerade auf der Ebene der Konkretionen jene Erfahrung ausbildet, die wiederum Bestandteil der Klugheit ist. Normative Aussagen, d.h. Aussagen im Modus des „Sollens", entsprechen also eigentlich nicht der Grundstruktur praktischer Vernunft, sondern entspringen einer Reflexion auf ihren ursprünglichen Akt. Als Reflexionsgehalte praktischer Art gehören sie jedoch ebenfalls zur praktischen Vernunft und vermögen sie diese auch wiederum zu leiten. Reflexionsmöglichkeiten und -durchgänge unterliegen keinerlei Begrenzungen. Reflexionsgehalte können wiederum zum Gegenstand erneuter Reflexion gemacht werden; sie können aber auch unmittelbar Gegenstand eines imperativen Aktes praktischer Vernunft werden: So wenn jemand aus irgend einem Grund oder einer Leidenschaft ein praktisches „Wissen" flieht oder meidet, etwa in der Form: „Es ist nicht gut, diesen Akt der Gerechtigkeit zu verfolgen" („Dieses Gerechte ist jetzt nicht zu tun"), z.B. aus Furcht vor eigenem Schaden u.ä.: Man weiß also, was zu tun wäre (Reflexionsgehalt, sittliches Wissen), hält es aber hier und jetzt nicht für gut, das heißt für „zu meiden", wie gesagt, z.B. aus Furcht vor den Folgen. Nur über die Zustimmung des Intellektes zu den ersten Prinzipien - d.h. über seine fundamentale Wahrheitsbezogenheit bezüglich des „von Natur aus Erkannten" - besitzt der Wille kein Imperium'08. Reflexionsgehalte formen einen kognitiven Habitus: Das sittliche Wissen (scientia moralis). In diesem Habitus sind die Inhalte praktischer Vernünftigkeit aufgehoben und wiederum „anwendbar". Auf dieser Ebene des Wissens formt sich nun auf der Ebene der ersten Prinzipien der Habitus der ersten praktischen Prinzipien, wie Thomas das durch die Tradition (aufgrund eines etymologischen Zufalls) mit dem Namen Synderesis bezeichnete „Urgewissen" in aristotelischem Sinne uminterpretiert109. 108 109

Vgl. I—II, q. 17, a. 6. Vgl. M.B. Crowe, The Changing Profile of the Natural Law, Den Haag 1977, S. 136 ff.; und O. Lottin, Syndérèse et conscience aux Xlle et XHIe siècles, in: O. Lottin, Psychologie et Morale aux XII et XHIe siècles, Tome II, Louvain/Gembloux 1948, 103-350.

2 . SITTLICHES W I S S E N UND GEWISSEN

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Diesen Habitus nennt Thomas einen „natürlichen Habitus": Er ist nicht eingeboren, aber er bildet sich mit derselben naturhaften Spontaneität, mit der beispielsweise im Bereiche der theoretischen Vernunft das Prinzip „Das Ganze ist größer als der Teil" habituell gewusst wird. Der Habitus der ersten praktischen Prinzipien ist gleichsam „das Gesetz unseres Intellektes" und er enthält „die Präzepte des Naturgesetzes, die die ersten Prinzipien der menschlichen Handlungen sind"' 10 . Die Funktion dieses fundamentalsten Habitus' der praktischen Vernunft besteht darin, „zum Guten anzuspornen und gegen Übles aufzubegehren, sofern wir aufgrund der ersten Prinzipien voranschreiten, um zu finden, [was zu tun ist], und wir das Gefundene beurteilen" 1 ". So wird der Habitus der ersten Prinzipien zur „Präambel des Aktes der Tugend"112. Wie sich der Habitus des sittlichen Wissens im konkreten Lebensprozess eines bestimmten Menschen faktisch ausbildet, ist eine andere Frage. Es spielen hier auch Faktoren wie Anerkennung von Autorität (Erziehungsinstanzen, glaubensvermittelnde Autoritäten), Unterweisung verschiedenster Art, Einflüsse durch das gesellschftliche Umfeld, Einbindung in ein Ethos usw. mit. Sofern wir all diese Einflüsse nicht einfach als solche außengeleiteter Konditionierung, Sozialisation und Über-IchBildung verstehen, so ist klar, dass sie den kognitiven Prozess der Erfassung der Prinzipien nicht ersetzen, sondern höchstens stimulieren, unterstützen oder auch behindern. Weiter gehört selbstverständlich zum sittlichen Wissen nicht nur jenes, was in den Bereich der Prinzipien fällt, sondern auch all das, was Folge der persönlichen Lebensgeschichte ist. Weiter sind dazu zu rechnen jene Ethosvermittelten kognitiven Dispositionen, die einen Menschen erst in einen konkreten geschichtlichen und sozialen Zusammenhang einordnen und deshalb trotz der Einheit der Prinzipien eine Pluralität ihrer geschichtlich, sozialen und auch individuellen Konkretion ermöglichen.

Wenn wir deshalb von Prinzipien der praktischen Vernunft oder auch von lex naturalis oder „Naturgesetz" sprechen, so können wir damit immer zweierlei meinen: Entweder die Prinzipien als kognitive Inhalte jener Urteile praktischer Vernunft, die sich in Streben eingebettet vom ersten Prinzip an bis zur Konkretion des Handlungsurteils hin „entfaltet". Und das heißt soviel wie: Wir sprechen dann von der lex naturalis als ursprüngliche ordinatio rationis, in der sich die praktischen Prinzipien konstituieren (das war das Thema des vorhergehenden Abschnittes). Oder aber wir sprechen von den Prinzipien, wie sie im Modus der Reflexion als die Inhalte dieser Anordnung der Vernunft gegeben sind. Hier zeigt sich das Ensemble der Prinzipien als Bewusstsein menschlicher Identität oder „menschlicher Natur", wie sie durch die Regelung der natürlichen Neigungen durch die Vernunft als ordo rationis, „Ordnung der Vernunft" konstituiert werden. In dieser Weise, als formuliertes Ensemble normativer Aussagen, sprechen wir oft über das (sittliche) „Naturgesetz", was uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass sein Ursprung im ordnend-imperativen Akt der praktischen Vernunft des Handlungssubjekts selbst zu erblicken ist. Dies ist nun auch, was wir mit „menschlicher Natur" meinen, insofern wir sie als jenes Sein betrachten, dem das Handeln entsprechen muss, soll es menschlich gutes Handeln sein. Diese menschliche Natur ist nicht „bloße Natur" (Naturgegebenheit, „Naturordnung"), sondern eben bereits „Ordnung der Vernunft". Wie bereits oben (III,5,e) gesagt: Die „menschliche Natur", auf die wir im uns ethischen Diskurs berufen, ist bereits jene, die wir im Lichte sittli110 I-II, q. 94, a. 1 ad 2. 111 I, q. 79, a. 12. Zur „Synderesis" vgl. auch: De Ventate, q. 16. 112 De Veritate, a. a. O. a. 2, ad 5.

V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

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chen Wissens als solche interpretiert haben. Sie setzt also Selbsterfahrung praktischer Vernünftigkeit voraus und schließt diese als hermeneutischen Schlüssel des Sich-selbstVerstehens ein. Gerade deshalb kann es eine urprüngliche theoretisch-metaphysische Ableitung des „für den Menschen Guten" aus der bloßen „Natur" nicht geben. „Menschliche Natur" wird, ausgehend von der Reflexion über Akte, durch eine reditio completa, ein „vollständiges Zurückgehen" auf die ihnen zugrundeliegende Ursache erkannt: So erkennen wir durch Reflexion auf inhaltlich (objektiv) verschieden geprägte Akte unserer Seelenvermögen die Natur dieser Vermögen, und dadurch erst die Natur jenes Aktes, der den Menschen zum Menschen macht: die Seele. So erst können wir die „Natur", die wir selbst sind, adäquat verstehen113. Die weitere Reflexion auf Reflexionsgehalte praktischer Vernünftigkeit, ja der Modus der Reflexion selbst, ist demnach nicht eigentlich praktische Vernunft, sondern eher theoretische (betrachtende) Vernunft: Sie betrachtet hier ja etwas, was „ist", und zwar nicht unmittelbar um des Handelns willen (um zu wissen, „was zu tun ist"), sondern, um zu verstehen. Das Interesse ist hier zunächst ein solches an der „Wahrheit des Seins". Aber diese Erkenntnis enthält ja nun als ihren Gegenstand gerade die durch praktische Vernunft auf das „für den Menschen Gute" hin geordnete Dynamik des Strebens, und deshalb kann aus solcher Erkenntnis dann auch Weiteres, was praktisch-normative Geltung besitzt, abgeleitet werden. Das Problem des als ursprüngliche Ableitung unmöglichen Schlusses vom Sein auf das Sollen stellt sich hier nicht mehr. Eine solcher Erkenntnis entstammende Anthropologie und Metaphysik ist dann immer auch normativ relevant. b) Das Gewissen „Gewissen" gehört zum Phänomen „Bewusstsein", heißt also im eigentlichen Sinne „MitWissen" („con-scientia"). Das moralische Gewissen ist ein Bewusstseinsphänomen und nichts anderes als das Praktischwerden dieses Bewusstseins, d.h. die Applikation des sittlichen Bewusstseins bzw. des sittlichen Wissens auf konkrete Handlungsurteile bzw. vollzogene Handlungen, eine Applikation, die den Prozess praktischer Vernunft auf der Ebene von Praxis wiederum kognitiv beeinflusst" 4 . Dies jedoch auf eine dem Gewissensakt eigentümliche Weise" 5 . Das Gewissen ist weder ein besonderes Vermögen noch eine „Anlage". Rein phänomenologisch zwar vermag es sich so zu zeigen. Das phänomenologisch Gegebene vermag jedoch nicht die komplexe, dem Gewissensakt zugrundeliegende Struktur zu entschlüsseln. Dies ist nur durch eine Metaphysik des Handelns möglich. In Tat und Wahrheit ist das Gewissen ein Arides Habitus „sittliches Wissen", d.h. ein Urteil. Und zwar jenes Urteil, in dem das sittliche Wissen auf konkrete Überlegungen oder Urteile, bzw. auf bereits vollzogene Handlungen appliziert wird, um diese im Lichte dieses Wissens zu prüfen und, wenn nötig, korrigierend einzugreifen. Das Gewissen ermöglicht, dass der Mensch seine immer affektiv gebundenen Handlungsurteile noch einmal kognitiv auf ihr Gut-Sein hin hinterfragen kann" 6 . 113 114 115 116

Vgl. De Veritate, q. 10, a. 9. Vgl. I, q. 79, a. 13; De Veritate, q. 17. Vgl. für das Folgende auch das Kapitel „Gewissen" in R. Spaemann, Personen, a. a. O., S. 175 ff. E. Schockenhoff, Das umstrittene Gewissen, Mainz 1990 identifiziert die konkret handlungsbestimmende praktische Vernunft mit dem Gewissen (ohne letzteres von der Klugheit zu unterschei-

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Das Gewissen kann auch einfach generell „Selbstbezug der handlungsleitenden Vernunft"117 genannt werden. Durch diesen Selbstbezug - Reflexion der Vernunft auf sich selbst mit der Möglichkeit zustimmender oder ablehnender Stellungnahme - ergibt sich: „Gewissen haben ist nicht einfachhin ein gegenständliches Gutes zu ergreifen und dadurch sittlich zu werden, sondern im Ergreifen des jeweils Guten allererst sich selbst zu ergreifen als das durch Vernunft in Freiheit sich bestimmende Wesen, und damit dieses Wesen zu sein"" 8 . Damit ist ein wesentlicher Aspekt praktischer Vernunft und menschlicher Praxis benannt: Der Mensch kann das Gute nur ergreifen in der „Selbstbestimmung des Wollens durch die Vernunft"; das Gute für den Menschen ist immer „secundum rationem esse" " 9 . Wie wir bereits eingangs bei der Behandlung des Begriffs der „menschlichen Handlung" (II,l,b) und im Abschnitt über die Freiheit des Willens (III,5,c) sahen, liegt in dem durch den Akt reflektierender Vernunft „ermöglichten reflektierten Selbstverhältnis des Handelnden der ganze Ursprung seiner Freiheit" 120 . Dieser sehr weitgefasste Gewissensbegriff hat allerdings den Nachteil, dass er nicht mehr zwischen der in aller praktischen Erkenntnis des Guten notwendigerweise eingeschlossenen Reflexivität der Vernunft und jenem Akt, in dem sittliches Wissen auf das handlungsleitende Urteil der praktischen Vernunft bzw. auf bereits vollzogene Handlungen appliziert wird, zu unterscheiden erlaubt. Hier jedenfalls bezeichnen wir nicht generell Selbstbezug der praktischen Vernunft als „Gewissen", sondern nur eine bestimmte Art solchen Selbstbezugs; als Reflexionsgehalte praktischer Vernunft betrachteten wir auch bereits jenes sittliche Bewusstsein, das zum Habitus des sittlichen Wissens führt. Allein die Applikation dieses Wissens auf konkretes Handeln - bzw. der prüfende Rückbezug konkreten Handelns auf dieses Wissen - ist, was hier „Gewissen" oder „Gewissensakt" genannt werden soll. Entsprechend „mahnt", „erlaubt, „gebietet" oder „verbietet" das Gewissen. Und bezüglich einer bereits vollzogenen Handlung „lobt" oder „tadelt" es. Letzteres ist der „Gewissensbiss". Das Urteil des Gewissens vermag in dieser Weise ein Handlungsurteil in der Reflexion zu prüfen, einzugreifen, seinen Vollzug zu stoppen, oder zu bewirken, dass die Sache noch einmal im Lichte höherer Prinzipien, Regeln der Klugheit oder auch der Kenntnis positiver Rechtsbestimmungen erwogen und somit der Verlauf des Handelns beeinflusst wird, quasi adhuc speculando per principia, „indem man das [was man zu tun vorhat] noch einmal im

117 118 119 120

den) und übergeht damit den hier zentralen Unterschied zwischen Gewissensurteil und Handlungsurteil (iudicium electionis), welch letzteres die Konkretisierung des Handelns auf die mannigfaltige Partikularität des hier und jetzt zu Tuenden besorgt und dessen Tugend die Klugheit ist. Das Übersehen dieser Differenzierung ist wohl der Grund für Schockenhoffs Meinung (ebd. S. 80 u. 107 und Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a. a. O. S. 152 ff.), meiner Ansicht nach erschöpfte sich die Aufgabe der praktischen Vernunft in der Erfassung allgemeiner Prinzipien und deren unmittelbaren Applikation auf konkretes Handeln, ohne dass noch Raum für eine individuums- und situationsbezogene Handlungsvernunft - für ihn eben das Gewissen - übrig bliebe. Für eine ausführliche Antwort vgl. das „Postscript" zur englischen Ausgabe meines Buches „Natur als Grundlage der Moral"; Natural Law and Practical Reason, a. a. O. S. 574 ff. sowie Rhonheimer, Praktische Prinzipien, Naturgesetz und konkrete Handlungsurteile in tugendethischer Perspektive, a. a. O. In unkritischer Weise hat F.-J. Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis, Schockenhoffs Interpretation übernommen (z.B. a. a. O. S. 263 f.). L. Honnefelder, Praktische Vernunft und Gewissen, a. a. O. S. 26. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd.; auch Honnefelder verweist hier auf De Veritate q. 24, a.2: Nur die Vernunft, die über ihren eigenen Akt reflektiert (...), vermag über ihr eigenes Urteil zu urteilen: Deshalb wurzelt alle Freiheit in der Vernunft" („unde totius libertatis radix est in ratione constituta").

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Rückgriff auf die Prinzipien beurteilt 121 " Das Gewissen ist also die Weise, durch die sittliches Wissen wiederum unmittelbar praktisch wird. So kann der in Streben eingebettete Prozess der praktischen Vernunft, d.h. das affektiv geleitete Urteil, dazu neigen, ein Urteil „p ist gut", „p ist zu tun" zu fällen. Das Gewissen vermag aber einzugreifen und anzumelden, dass „p" Unrecht ist (z.B. Diebstahl) und dass man solches nicht tun darf, oder dass ein legitimes staatliches Gesetz existiert, das „p" verbietet, und dass es der Gerechtigkeit entspricht, Gesetze zu befolgen. So vermag das Gewissen eine Handlung zu verbieten oder zumindest den Vollzug von „p ist gut" aufzuschieben. Wird „p" dennoch vollzogen, so geschieht dies dann gegen das Gewissen. Die Folge ist, dass das Gewissen nachträglich „beißt", also anklagt und tadelt. Dies kann dazu führen, das Gewissen zum Schweigen bringen zu wollen (der Wille besitzt ja ein Imperium über den Intellekt), oder aber auch zur Reue: „Ich hätte p nicht tun sollen", „es war schlecht, p zu tun".

Damit zeigt sich auch eine wichtige Eigenschaft des Gewissensurteils: Es besitzt nicht denselben Grad der affektiven Einbindung, wie die im eigentlichen und engeren Sinne praktischen Urteile (die Urteile, die den freien Willen zum handlungsauslösenden Wahlakt hin determinieren). „Denn das Urteil des Gewissens besteht in reiner Erkenntnis, das Urteil des freien Willens jedoch in einer Applikation von Erkenntnis auf die Affektivität: dieses Urteil ist das Wahlurteil" 122 . Auch das Gewissen kann freilich zuvor, begleitend oder nachträglich affektiv wiederum gesteuert werden. Man kann ja sittliche Unwissenheit auch wollen, indem man sich z.B. nicht informiert, das Gewissen also nicht bildet, „von ihm wegschaut" oder es nachträglich, z.B. durch Selbstrechtfertigung, zum Schweigen bringt. In sich jedoch ist das Gewissensurteil ein Urteil, das affektiv ungebunden ist. Es repräsentiert ja einen Reflexionsgehalt und habituelles sittliches Wissen, und Reflexion selbst ist ein spontaner Akt des Intellektes, der nicht affektiv verursacht ist; und der Habitus des sittlichen Wissens wird durch ihm konträre Affekte nicht aufgehoben. Deshalb erfahren wir auch die „Stimme des Gewissens" als eine Stimme, die mit derjenigen unserer Affektivität, mit dem, worauf wir hinneigen, in Konkurrenz stehen kann. Als etwas „Objektives" im Gegensatz zur „Subjektivität" des Affektiven. Die Rede von „objektiv" und „subjektiv" ist hier jedoch verfänglich: In Wirklichkeit handelt es sich um zwei verschiedene Formen von Subjektivität. Wir erfahren jedoch die Subjektivität des Gewissens als Anspruch von Wahrheit, d.h. als die Wahrheit der Subjektivität, und in diesem Sinne als „Objektives". Die Rede, etwas sei „objektiv" gut oder richtig, im Unterschied zum bloß „subjektiven" Dafürhalten, gehört also zu einer Phänomenologie des Gewissensaktes. Nicht aber kann mit „objektiv" gemeint sein, das „in Wahrheit Gute" sei eine vom Handlungssubjekt unabhängige bzw. von ihm zu unterscheidende Gegebenheit (Gesetz, Norm, Natur, Seinsordnung), zu der sich dann das freie Subjekt durch „Erkennen" und „Befolgen" verhalte. Die Gegenüberstellung von „Subjekt" (Freiheit, handelnder, urteilender Mensch) und „objektiver Norm" entstammt dem (auch bei Kant noch grundlegenden) Subjekt-Objekt Dualismus neuzeitlicher Gesetzesmoral. Die Frage der Objektivität ist eine solche der Wahrheit der Subjektivität. Die Subjektivität des Handelnden, das „Ich", gehört ja auch

121 122

De Ventate, q. 17, a. 1 ad 4. De Ventate, a. a. O., a. 1 ad 4.

2 . SITTLICHES WISSEN UND GEWISSEN

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zur „objektiven Welt", zur „Natur" oder zur „Seinsordnung". Gerade durch die Vernunft als maßstäbliche Subjektivität des Menschen entsteht erst die Objektivität des Normativen. „Bloß subjektiv gut" und „objektiv gut" ist demnach eine Unterscheidung innerhalb der Subjektivität des Handelnden; es ist die Aristotelische Unterscheidung zwischen dem lediglich „gut Scheinenden" und dem darüber hinaus auch „in Wahrheit Guten". Deshalb ist es auch verfänglich, vom Gewissen als einer „subjektiven Norm", im Unterschied zu einer „objektiven Norm" zu sprechen, weil man dabei die Wahrheitsfrage ausklammert: „Norm" kann nämlich das Gewissen nur sein, insofern es „wahr" sein kann, d.h. weil es in seiner Subjektivität „objektiv" zu sein vermag.

In der Tat ist das Gewissen immer mein Gewissen. Jede praktische, handlungsleitende Erkenntnis ist ja immer „meine" Erkenntnis und „meine" Vernunft123. Auch das Gewissen entspringt der kognitiven, personalen Autonomie des Menschen als Handlungssubjekt. Aber es zeigt sich - aufgrund seiner affektiven Ungebundenheit - als die Stimme der Wahrheit dieser Subjektivität. Deshalb besteht die letzte und tiefste Verfehlung des Menschen immer darin, seinem Gewissen nicht zu folgen, und die größte Entwürdigung eines anderen Menschen darin, dass die Freiheit seines Gewissensaktes und ein entsprechendes Handeln durch Zwang unterdrückt wird. Das ist nämlich die Negierung des Menschen, bzw. seine Selbstaufhebung als menschliches Handlungssubjekt. Was im Widerspruch mit dem eigenen Urteil des Gewissens getan wird, ist im fundamentalsten Sinne unvernünftig, „nicht der Vernunft gemäß" und menschlicher Identität zuwider und deshalb ein sittliches Übel. Die Verpflichtung, dem eigenen Gewissen zu folgen, ergibt sich aus der Tatsache, dass menschliches Handeln ein Handeln aufgrund von Vernunft ist. Nicht dem als gut Erkannten gemäß zu handeln wäre die Selbstnegierung als sitttliches Handlungssubjekt. „Dem eigenen Gewissen folgen" heißt jedoch nicht einfach, das zu tun, was einem „gut scheint", sondern jenes, von dem man sicher ist, dass es das „in Wahrheit Gute" ist. Wer darüber irrt, der befindet sich zwar im Gewissensirrtum, aber er folgt seinem Gewissen gerade deshalb, weil er überzeugt ist, dass es ihm die Wahrheit zeigt. Und gerade insofern er von der „Wahrheit" seines Gewissensurteiles überzeugt ist, verpflichtet es ihn auch. In diesem Fall bindet das Gewissen per accidens, d.h. weil es für wahr gehalten wird. Wer jedoch behauptet, das Gewissen sei gar nicht an Wahrheit gebunden, sondern etabliere immer nur ein „Gutes für mich", der hebt in Wirklichkeit den unhintergehbarem Bindungsanspruch des Gewissens auf: Er nimmt dem Gewissen die Autorität, überhaupt verpflichten zu können. Sofern man also unter „Gewissensfreiheit" eine nicht-wahrheitsgebundene „Autonomie" des Gewissens versteht, zerstört man gerade Autorität und Autonomie des Gewissens, d.h. seinen verpflichtenden Charakter und damit auch die Grundlage dafür, dass Gewissensfreiheit ein menschliches Gut ist.

Freiheit des Gewissens heißt demnach Freiheit des Gewissensaktes. Nicht kann damit gemeint sein, dass das Gewissen gleichsam Ursprung oder Quelle von Wahrheit darüber ist, was für den Menschen gut ist. Dieser Ursprung sind die im vorhergehenden Abschnitt analysierten Akte praktischer Vernunft, und hier gibt es ein „von Natur aus Richtiges". Das sittliche Wissen, das durch das Gewissensurteil appliziert wird, ist ein Empfangenes, das seinen Ursprung darin hat, was praktische Vernunft von Natur aus als für den Menschen gut erfasst: „Gewissen" ist ja bezogen auf das ursprünglich durch Reflexion auf praktische Erfahrung gebildete sittliche Wissen, das im Gewissensurteil wiederum lediglich auf Handeln appliziert wird. Das Gewissen ist deshalb gleichsam eine regula regulato, eine „normierte Norm", und 123

Vgl. T. Styczen, Das Gewissen - Quelle der Freiheit oder der Knechtung? In: Archiv für Religionspsychologie 17 (1986), 130-147.

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deshalb kann es sich auch im Irrtum befinden124. Das Gewissen aus dieser Wahrheitsbindung zu lösen würde bedeuten, die kognitive Autonomie des Menschen zu zerstören, d.h. an die Stelle eines vernünftigen Handlungssubjekts ein solches zu setzen, das als „gut" verfolgt nur was ihm gut „scheint", ohne die Bekümmerung darum, ob dieses Scheinen auch der Wahrheit entspricht. Wie Spaemann deshalb richtig betont hat, darf die „Absolutheit des Gewissens" nicht „mit einem objektiven Anspruch auf Anerkennung" verwechselt werden125. Aufschlussreich ist hier der Vergleich mit Kant, der „ein irrendes Gewissen ein Unding" nennt126. Freilich anerkennt er: „... in dem objektiven Urteile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren"127. „Gewissen" ist aber für Kant gar nicht eine Instanz, um die Konkordanz zwischen dem, was ich praktisch-subjektiv für gut beurteile, und dem, was objektiv meine Pflicht ist, festzustellen, sondern nur jene innere Stimme oder „moralische Anlage", die mich dazu anhält, dem, was meine subjektiv-praktische Vernunft als pflichtgemäß beurteilt, auch praktisch Folge zu leisten128. Tue ich das, dann handle ich gewissenhaft und damit auch sittlich gut, unabhängig davon, ob das, was ich als Pflicht erkenne auch „objektiv" gut ist. Im letzteren kann man irren, aber dies ist unerheblich für die Frage, ob man gewissenhaft und gut handelt. Im Gewissen kann es deshalb gemäß Kant gar keinen Mangel (oder Irrtum) geben; möglich ist nur „Gewissenlosigkeit", d.h. der „Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren" 129 . Trotz der Differenzierung zwischen praktischer Vernunft (welche die Regel vorschreibt) und Gewissen als „Gerichtshof bezüglich subjektiv-praktischer Urteile läuft dies dann aber faktisch doch darauf hinaus, die Zweistufigkeit von affektiv gebundener praktischer Vernunft, - die sich im Wahlurteil vollendet und kognitiv-kontrollierendem Gewissen aufzuheben, so dass dann jedes wirklich praktische Urteil, sofern man ihm auch wirklich Folge leistet, als Gewissensurteil zu betrachten ist und letzteres de facto mit dem iudicium electionis identifiziert wird. Der oberste moralische Imperativ - darauf scheint es hinauszulaufen - lautet dann, man müsse seinem Gewissen folgen, d.h. tun, was man jeweils subjektiv für gut bzw. seine Pflicht erachte (dies natürlich, kantisch gesprochen, gemäß dem Prüfungsverfahren durch den kategorischen Imperativ, der allerdings nicht eigentlich Pflichten bestimmt, sondern nur die Übereinstimmung unserer subjektiven Maximen mit einem Willen feststellt, der autonom, d.h. frei von heteronomen Einflüssen und eigennützigen Motiven ist, und in diesem Sinne das Pflichtgemäße ausspricht). Problematisch ist dies nun keineswegs wegen der Forderung, man müsse seinem Gewissen folgen, als solcher. Das Problem liegt darin, dass dieser Imperativ als absolut und nichthintergehbar verstanden wird, also zu der Vorstellung eines Gewissens führt, dem zu folgen sittlich gut ist ganz unabhängig davon, welcher Art das subjektiv-praktische Urteil ist, dem dieses Gewissen zu folgen gebietet, einem Gewissen zudem, das sich selbst inhaltlich gar nicht in Frage stellen kann oder in Frage zu stellen braucht, da der einzige Imperativ, den es zu erlassen vermag, darin besteht, ihm zu folgen 130 . Dies entspricht nun

124 125 126 127 128 129 130

De Veritate, a. a. O. a. 2 ad 7. R. Spaemann, Personen, a. a. O., S. 184. I. Kant, MS, A 38 (IV, S. 532). Ebd. Vgl. auch MS, Ethische Elementarlehre § 13, A 98 ff. (IV, S. 572 ff.) MS, A 38 (IV, S. 532). Allerdings vermute ich, dass gerade deshalb der Kantische Gewissensbegriff eine Zirkularität enthält; er definiert sich gleichsam durch sich selbst in dem Sinne als „Gewissenhaftigkeit" nur noch

2 . SITTLICHES W I S S E N UND GEWISSEN

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exakt dem Kantischen Primat der Autonomie des Willens - oder der reinen Subjektivität bezüglich dessen Vernünftigkeit: Bei Kant steht ja „Vernünftigkeit" im Dienst der Autonomie des Willens; in Wirklichkeit jedoch gründet jegliche richtig verstandene Autonomie des Willens in Vernünftigkeit, und nur in Rückbindung an diese kann sie auch als menschliches Gut gerechtfertigt werden. Hier gilt Hegels gegen die reine „Subjektivität der Überzeugung" gerichtetes Wort: „In der Tat ist mein Überzeugtsein etwas höchst Geringfügiges, wenn ich nichts Wahres erkennen kann"131. Zur Verteidigung Kants könnte hier allerdings hinzugefügt werden, dass ja in einem gewissen Sinne gerade die Universalisierungs-Funktion des kategorischen Imperativs („Handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann"132) darin besteht, durch das Einbringen des moralischen Gesichtspunktes die „moralische Wahrheit" des Handelns und damit auch die Richtigkeit des Gewissens zu verbürgen133. Dabei handelte es sich jedoch um einen dermaßen „schwachen", von allen Vorstellungen über das „gute Leben" abgelösten Begriff von Wahrheit und Richtigkeit, dass Hegels Vorwurf immer noch gerechtfertigt erscheint. Es steht deshalb mit kognitiver Autonomie des Menschen keineswegs im Widerspruch, das sittliche Wissen durch solche Autoritäten informieren zu lassen, deren Anerkennung wiederum vernünftig ist. Bloße Unterwerfung unter Autorität ist kein vernünftiger Akt, wohl aber z.B. die Vernunft das Glaubens (sei es im zwischenmenschlichen, sei es im religösen Bereich), weil sie vernünftige Einsicht in die Glaubwürdigkeit einer Autorität voraussetzt (diese Glaubwürdigkeit ist das Fundament aller Erziehungsprozesse). Auch wenn das so durch Autorität Angenommene auch nicht unmittelbar einsichtig ist, entspricht dessen Annahme durch den Akt des Glaubens und Vertrauens in die Autorität durchaus der Würde des Gewissens und der kognitiven Autonomie des Menschen (vgl. auch oben III,4,d).

Wir können deshalb festhalten: Gegen das Gewissen handeln ist ein sittliches Übel und konstituiert Schuld, und zwar auch dann, wenn das Gewissen im Irrtum befangen ist. Ergibt sich nun aber daraus auch umgekehrt, dass wer einem sich im Irrtum befindlichen Gewissen folgt - in der subjektiven Überzeugung, das sittlich Richtige zu tun - dann nicht nur Schuld vermeidet, sondern auch gut handelt und durch sein Handeln ein guter Mensch wird?134 Garantiert die Treue zum eigenen Gewissen und entsprechende Spontaneität und Authentizität das Gutsein des Handelns und des Handelnden? Man wird diese Frage nicht leicht bejahen können. Auf der Grundlage eines tugendethischen Ansatzes muss jedenfalls gesagt werden: Wer dem sich durch eigenes Verschulden irrenden Gewissen folgt, der verstrickt sich noch weiter tautologisch als „dem eigenen Gewissen folgen" beschrieben werden kann; genau wie für Kant auch die „Pflicht (...), sein Gewissen zu kultivieren" nur noch bedeutet, „die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden (...), um ihm Gehör zu verschaffen" (MS, a. a. O. A 39, IV, S. 532), nicht aber, darum bemüht zu sein, dass das Gewissen auf das in Wahrheit Gute ausgerichtet, d.h. nicht in irgend einem Irrtum befangen sei. 131 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 140. 132 I. Kant, MS, Einleitung, AB 25 und 26 (IV, S. 331, 332). 133 So verteidigt etwa Habermas sowohl Kant wie auch die Diskursethik gegen diesen Vorwurf mit dem Argument, das Universalisierungsgebot des kategorischen Imperativs fordere nicht nur formale Konsistenz, sondern sei auch „Anwendung eines substantiell gehaltvollen moralischen Gesichtspunktes": J. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a. a. O., S. 9 ff.; S. 21. 134 Vgl. auch oben, III, 3, c.

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in Schuld. Und das Verharren in einem Gewissensirrtum ohne Schuld ist, zumindest hinsichtlich grundlegender sittlicher Prinzipien und Normen, nicht denkbar. So glauben wir nicht, dass Naziverbrecher wie Adolf Eichmann, der sich ja vor Gericht auf seine subjektive Überzeugung, sein Pflichtbewusstsein, und sein Gewissen berief, deshalb, weil er dieser Überzeugung und seinem Gewissen folgte und immer tat, was er als seine Pflicht erachtete, gut handelte und eigentlich ein guter Mensch war. „Ein guter Mensch sein" ist also nicht identisch mit „seinem Gewissen folgen". Vielmehr glauben wir, dass gerade subjektiv überzeugte Naziverbrecher wegen ihres verbildeten und irrenden Gewissens besonders verwerfliche Menschen genannt werden müssen, dass ihr verbildetes Gewissen Schuld war und deshalb auch die Handlungen, die diesem Gewissen folgten, nicht nur unrichtig waren, sondern sie auch als Personen schlecht machten und immer tiefer in Schuld verstrickten. Freilich sind nicht alle Fälle so dramatisch. Dennoch müssen wir in einer Tugendethik davon ausgehen, dass ein bezüglich des Guten sich im Irrtum befindliches Gewissen zumindest partiell diesen Irrtum durch vorheriges Eigenverschulden erworben hat - bzw. durch eigenes Mitverschulden dem Irrtum verhaftet geblieben ist - und das Fehlverhalten, das daraus folgt, damit keineswegs ein Beitrag dazu bilden kann, dass der Handelnde zu einem guten Menschen wird. Insofern wir also für die Verbildung des Gewissens Verantwortung tragen, verstrickt uns die Befolgung eines solchen Gewissens immer tiefer in die betreffende Schuld, auch wenn wir subjektiv überzeugt sind, das Richtige zu tun. Wir tragen nämlich dafür, was für ein Gewissen wir haben, selbst wiederum die Verantwortung. Nicht zuletzt darin zeigt sich die Würde des Menschen, dessen freies Wollen wesentlich von Vernunft bestimmt ist. Auch im Falle minimaler Eigenverantwortung wird die Befolgung eines irrenden Gewissens den Handelnden von der vernünftigen Einsicht in das für den Menschen Gute entfernen. Der eigentliche Irrtum des Gewissens ist nicht einfach ein intellektueller, sondern ein sittlicher Defekt 135 . Deshalb ist Thomas von Aquin der Meinung, dass zwar derjenige, der gegen sein Gewissen handelt, in jedem Falle sündigt, auch im Falle eines irrenden Gewissens; wer hingegen einem irrenden Gewissen folgt, besitze nicht deshalb schon einen guten Willen' 36 . Dagegen wird oft eingewendet, der sich im Irrtum Befindliche sei doch subjektiv überzeugt, dass er objektiv das Richtige tue; folglich könne er einen Irrtum als solchen gar nicht erkennen, was zur Folge habe, dass sein Handeln präzis jene Vorbedingung des Gutseins erfüllt, die im secundum rationem agere besteht. Deshalb könne man von Thomas her auch das Umgekehrte vertreten137. In der Tat ist auch Thomas der Meinung, 135

136 137

Vgl. auch, das in V , l , h über „Prinzipienerkenntnis und affektive Dispositionen" Ausgeführte, sowie R. Spaemann, Personen, a. a. O., S. 184 ff. - Auch der frühe Kant hatte dies noch durchaus anerkannt, vgl. I. Kant, Eine Vorlesung über Ethik, hrsg. von G. Gerhardt, Frankfurt a. M. 1990, S. 146: „Es ist eine böse Sache, sich mit dem irrenden Gewissen zu entschuldigen, es kann auf diese Rechnung vieles geschoben werden, allein man muss auch von den Irrtümern Rechenschaft geben." Vgl. I-II, q. 19, a. 5-6; De Veritate, q. 17, a. 4-5. Vgl. E. Schockenhoff, Das umstrittene Gewissen, a. a. O. S. 88 ff. Schockenhoff zitiert hier auch die Stelle aus Quodlibetum 3, q. 12, a. 2, wonach die menschliche Handlung tugend- oder lasterhaft genannt wird aufgrund des erfassten Guten als solchem, auf das sich der Wille jeweils bezieht, und nicht aufgrund des materialen Objektes der Handlung. Allerdings entgeht es Schockenhoff, dass Thomas dies ausdrücklich nur hinsichtlich einer möglichen ignorantia facti sagt (über jemanden, der auf der Jagd seinen Vater mit einem Hirsch verwechselt und ihn in dieser Meinung erschießt; er ist deshalb kein Vatermörder). Bei der ignorantia iuris, der Unwissenheit bezüglich der sittlichen Berechtigung zu einer Handlung (bezüglich der „sittlichen Norm" also), gelte solche

2 . SITTLICHES WISSEN UND GEWISSEN

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derjenige, der ein schuldhaft irrendes Gewissen besitze, müsse - dieses Gewissen vorausgesetzt hier und jetzt von der Richtigkeit des Falschen überzeugt sein138. Thomas hält jedoch ebenfalls fest, dass ein solcher grundsätzlich die Möglichkeit hat, diesen Irrtum als solchen zu erkennen und ihn abzulegen. Deshalb befinde er sich auch nicht in einer Situation vollkommener Perplexität139. Offensichtlich gilt für Thomas - außer bei Fällen simpler ignorantia facti - nicht einfach die Alternative „Wissen" oder „Nichtwissen", „Überzeugtsein" oder „Nichtüberzeugtsein", woraus es kein Entrinnen gibt. Die Alternative ist für ihn vielmehr „Tugend" oder „Laster": jenes irrende Gewissen, um das es hier geht, ist gerade aufgrund von Vernunft und ihrer Prinzipien grundsätzlich immer korrigierbar (nur Aristoteles bestritt ja die Möglichkeit der „Umkehr" aus dem Zustand der lasterhaften Verblendung). Auch das irrende Gewissen befindet sich nicht vollständig und restlos im Irrtum und es vermag auch sich selbst in Frage zu stellen. Auch der Geisterfahrer auf der Autobahn kann, trotz seiner festen Überzeugung, dass alle außer ihm selbst in die falsche Richtung fahren, auf den Gedanken kommen, dass vielleicht doch er im Irrtum ist, und nicht alle anderen. Dies ist möglich, weil eigene Überzeugungen z. B. aufgrund ihres Verhältnisses zur Umwelt als korrekturbedürftig erfahren werden können. Und so gibt es für Thomas im Bereich der „sittlichen Norm" (außer bei kranken Menschen) nie ein vollständig schuldlos irrendes Gewissen, auch wenn die eigene Schuld klein sein und noch viel größeres Fremdverschulden vorliegen kann (im Falle der oben erwähnten Naziverbrecher würden wir hingegen annehmen, dass die eigene Schuld sehr groß ist). Der Weg zum Gutsein des Handelnden verläuft hier jedenfalls nicht über ein simples „Seinem Gewissen folgen", sondern über die Ablegung des Irrtums, in der Hinwendung zu dem für den Menschen Guten, wozu es freilich auch der Demut, sich selbst in Frage zu stellen, des Hörens auf andere und der Gewissensbildung bedarf140. Wenn das sittliche Wissen unvollkommen oder im Irrtum ist, ohne dass diese Unvollkommenheit oder der Irrtum dem Willen entspringt, sofern man sich also unverschuldet und deshalb auch unüberwindbar im Gewissensirrtum befindet, so entschuldigt jedenfalls ein solches Gewissen von dem Tun des Schlechten oder Unrichtigen. Dies verhält sich beim Wahlirrtum oder der Wahlunwissenheit gerade umgekehrt: Hier konstituieren und vergrößern Irrtum und Unwissenheit gerade die Schuld, denn diese sind ja durch affektive Dispositionen verursacht, die, sofern sie das Handlungsurteil verfälscht, immer auch in höherem oder geringerem Grade willentlich ist. Gerade die Unwissenheit ist hier also sittliche Verfehlung 141 . Es ist also durchaus möglich, das zu tun, wovon man - auf der Ebene des Handlungsurteils - überzeugt ist, dass es „gut ist", und dennoch nicht dem Gewissen zu folgen. Menschen, die in solchen

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Entschuldigung nicht, es sei denn bei Verrückten und Schwachsinnigen (Quodlibetum 3, q. 12, ad 2). Es ist klar, dass Thomas der menschlichen Vernunft viel zutraut. Vgl. I—II, q. 19, a. 6 ad 3. Ebd. und: Quodlibetum 3, a.a.O. „Perplexität" des Gewissens liegt vor, wenn alle Handlungsalternativen (auch Nichthandeln) als unmoralisch erscheinen bzw. wenn kein Ausweg zum Guten mehr in Sicht ist und man deshalb das Unmoralische auch nicht mehr als solches erkennen kann oder sich gezwungen fühlt, sich damit abzufinden. Vgl. auch unten V, 4, g. Freilich müssen hier auch Zwänge und Einflüsse des soziokulturellen Umfeldes berücksichtigt werden, die individuelle Verantwortung oft erheblich schmälern. - Zum Thema bei Thomas v. Aquin ist grundlegend: R. Schenk, Perplexus supposito quodam. Notizen zu einem vergessenen Schlüsselbegriff thomanischer Gewissenslehre, in: Recherches de Théologie ancienne et médiévale, 57 (1990), S. 62-95; s. auch T. G. Belmans: Le paradoxe de la conscience erronée d'Abélard à Karl Rahner, in: Revue Thomiste, 90 (1990), S. 570-586. Vgl. De virtutibus in communi, q.un., a.6 ad 3.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Fällen sich emphatisch auf ihr Gewissen berufen, können in Wirklichkeit - aus affektiver Gebundenheit - durchaus gegen ihr Gewissen oder mit schlechtem Gewissen handeln. Emphase und Aggressivität der Berufung auf das Gewissen ist oft gerade ein Zeichen dafür, dass man ein schlechtes Gewissen hat. Genau dies ist dann auch der Weg, der zu einem schließlich verbildeten Gewissen führt.

Sofern jedoch Affekte den Willen geradezu ausschalten, d.h. das Zustandekommen eines Handlungsurteils überhaupt verunmöglichen, dann ist nachfolgendes Tun gar nicht als „menschliche Handlung" zu betrachten, und es kann somit auch nicht zugerechnet werden oder Lob und Tadel verdienen; d.h. es steht außerhalb der moralischen Differenz. Affektive Dispositionen (als Habitus oder Zustand) dieser Art können allerdings auch wiederum selbstverschuldet sein: Und in diesem Falle ist eine sittliche Zurechnung von Verantwortung auch in sich unfreier Handlungen möglich. Wer sich freiwillig betrinkt, der vermag wohl manches, was er im Zustand des Rausches tut, nicht mehr zu kontrollieren. Aber insofern er sich freiwillig in seinen Zustand begab - und nur insofern - , wird er auch für das in diesem Zustand Getane zur Verantwortung gezogen: Es ist ihm zurechenbar als ein aufgrund der Ursache Willentliches (voluntarium in causa). Wenn jemand aus Pech oder durch Gewalt in einen tiefen Brunnen fällt, so wird man seinen Zustand nicht tadeln und die Vergeblichkeit seiner Versuche, daraus herauszukommen, bemitleiden. Fiel er hinein, weil er alle guten Ratschläge in den Wind schlug, so wird man ihn eher seines Zustandes wegen tadeln und über seine vergeblichen Befreiungsversuche lachen - was nicht heißt, dass man ihm auch dann nicht hilft, aus der ungemütlichen Lage sich wieder zu befreien. Jenes Wissen, das durch den Wahlirrtum in concreto ausgeschaltet oder unwirksam wird, ist nun gerade jenes habituelle sittliche Wissen, das im Gewissensakt appliziert wird. Somit zeigt sich für sittliches Handeln eine doppelte Forderung: Die Bildung des Gewissens und der Erwerb der sittlichen Tugend, d.h. jener affektiven Dispositionen, die es dem Menschen ermöglichen, seine kognitive Autonomie und personale Würde auch im konkreten Handeln zu verwirklichen. Der vollkommen Kluge oder Tugendhafte, so sagte Aristoteles, ist derjenige, der mit sich selbst im Frieden lebt: Er besitzt jenen Frieden oder innere Ruhe, die daraus entspringt, dass Gewissen und Handlungsurteil bzw. Handlungsvollzug im Einklang stehen. Je mehr menschliches Handeln durch sittliche Tugend geprägt ist, desto mehr verbleibt die Rolle des Gewissens diejenige des zustimmenden Zuschauers. c) Sittliche Verpflichtung und ihre theonome Begründung Gemäß Kant handelt aus „Pflicht" derjenige, der auf Grund eines bloßen Imperativs der Vernunft, und nicht aus Neigung handelt. Nicht schon wer das der Pflicht Gemäße tut, sondern nur wer es aus Pflicht d.h. aus Achtung vor dem moralischen Gesetz tut, handelt moralisch. Moralisch handelte also z.B. jemand, der einen kranken Freund besucht, nur weil es ihm die Pflicht gebietet. Wer seinen Freund besucht, nur weil er dazu aus Freundschaft geneigt ist und es ihm auch noch Freude macht, der handelte nicht eigentlich moralisch, sondern hedonistisch d.h. um seines eigenen Wohlbefindens willen, obwohl er vielleicht durchaus das Richtige, d.h. das der Pflicht Gemäße tut. Die Pflicht ist aber nicht die Triebfeder seines Handelns und deshalb ist dieses auch nicht „moralisch" ,42 . 142

Ein ähnliches Beispiel findet sich in dem mittlerweile klassischen Aufsatz von M. Stocker, The

2 . SITTLICHES W I S S E N UND GEWISSEN

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Diese Auffassung scheint nun allerdings nicht mit unseren moralischen Intuitionen übereinzustimmen, obwohl wir zugeben würden, dass es durchaus vorkommen kann, dass einer das Richtige (Pflichtgemäße) aus schlechten z.B. eigennützigen Motiven tut. Dennoch sind wir alle geneigt, denjenigen, der seinen kranken Freund aus Neigung - aus Freundschaft eben - besucht, der dabei aus Freundschaft gerade das Richtige trifft und dem es zudem noch, weil er seinen Freund liebt, Freude macht, als sittlich höherstehend einzustufen, als einen, der dies nur tut, weil er sich auf Grund der Überlegung, die dieser Handlungsweise zugrunde liegende Maxime könnte zum allgemeinen Gesetz erhoben werden, dazu verpflichtet weiß. Nun hat das natürlich auch Kant gesehen und deshalb versucht er in der „Tugendlehre" seines Spätwerks „Die Metaphysik der Sitten" solche Konsequenzen seiner Moraltheorie abzuschwächen' 43 . Die Dichotomie von Pflicht und Neigung bleibt dabei jedoch bestehen. Die „Tugendlehre" vermag die Pointe aller Tugendethik gerade nicht einzuholen, dass nämlich der Tugendhafte, der seinen Freund aus Freundschaft besucht, genau deshalb das Richtige tut, weil er seinem Freund wohlgesinnt ist, ihn liebt und sich deshalb verpflichtet fühlt, ihn zu besuchen. Das pflichtbewusste kantische Subjekt tut hingegen das Richtige bzw. die Pflicht deshalb, weil ihm dies der kategorische Imperativ als eine Handlungsweise, die zum allgemeinen Gesetz werden könnte, so gebietet; erst wer so, aus Pflicht, handelt könne dann auch im Nachhinein so weit gelangen, jene Menschen, denen er Gutes tut, zu lieben, eine Liebe, die in der „Fertigkeit der Neigung zum Wohltun" besteht144. Die Bestimmung der Menschenliebe als „Fertigkeit der Neigung zum Wohltun" trifft nun eben nicht das eigentliche Charakteristikum sittlicher Tugend. Falls ich Kant nicht falsch verstehe, ist mit der „Neigung zum Wohltun" eben die Neigung gemeint, jeweils die Tat zu vollbringen, welche der Pflicht entspricht. Es handelt sich also um eine Neigung, das jeweils Richtige zu tun - wobei eben dies Richtige nicht durch die Neigung bzw. die Tugend bestimmt wird (also gerade nicht durch Liebe oder Freundschaft), sondern wiederum durch das moralische Gesetz, das sich im kategorischen Imperativ äußert. Die Neigung selbst trägt nichts zur sittlichen Erkenntnis, zur Erkenntnis des Richtigen bei; sie bewirkt lediglich, dass das Subjekt eben geneigt ist, das jeweils als das Richtige Erkannte auch zu tun (und es vielleicht auch mit Freude zu tun, weil es Freude am „Gutes tun" hat, was allerdings schon in die Nähe der von Scheler kritisierten selbstzufriedenen Haltung des moralischen Pharisäers rückt). Im aristotelischen Sinne ist aber Tugend gerade nicht einfach „Neigung das jeweils Richtige zu tun" (wobei noch offen bleibt, wie das Richtige zu bestimmen ist); dies entspräche dem TrivialBegriff von Tugend als moralisch positiv zu bewertende Handlungsdisposition. In einem nicht-trivialen Sinne ist Tugend nicht die Neigung, das jeweils Richtige zu tun, sondern die Disposition, „das Richtige aus Neigung zu tun" d.h. gerade auf Grund der Neigung das Schizophrenia of Modern Ethical Theories (orig. The Journal of Philosophy 73, 1976) in: Crisp/Slote (Hrsg.), Virtue Ethics, a. a. O., S. 66 ff. (dt.: Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien, in: Rippe/Schaber, Hrsg., Tugendethik, a. a. O., S. 19 ff.). 143 Vgl. MS A 39 ff. (IV, S. 532 f.): „Einleitung zur Tugendlehre": „Von der Menschenliebe". S. oben IV, 2 c. 144 Vgl. nochmals MS A 40 f. (IV, S. 533): „Wohltun ist Pflicht. Wer diese oft ausübt und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Absicht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben. Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohltun, sondern: tue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt) in dir bewirken!"

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V . S T R U K T U R E N DER V E R N Ü N F T I G K E I T

Richtige zu treffen. Die affektive Verfasstheit des tugendhaften Subjekts ermöglicht ihm gerade, das hier und jetzt Richtige zu erfassen und es auch zu tun, weil es ein „ihm Gut Scheinendes" ist. Er erkennt das Richtige, das, was zu tun ist, seine „Pflicht", gerade durch seine Neigung, seine affektive Verfassung, die ihm den ungetrübten Blick auf das hier und jetzt Gute als ein „für ihn Gutes" eröffnet (was, wie zur Genüge betont wurde, freilich kein vernunftloser Prozess ist, sondern ein solcher, in dem praktische Vernunft affektiv geleitet und potenziert wird). Dem gegenüber vertritt nun aber Kant, wie wir früher sahen145 gerade die Meinung, dass Tugend bzw. moralisches Handeln aus reiner Pflicht genau dann realisiert ist, wenn sich der Handelnde bewusst ist, seine Neigung zugunsten der Befolgung der Pflicht zurückgedrängt zu haben. Für Kant bleibt der Konflikt zwischen Neigung und moralischer Vernunft bzw. Pflichtbewusstsein für das, was er „Tugend" nennt, konstitutiv. Aristoteles hingegen vertritt die Auffassung, dass durch die sittliche Tugend dieser Zweispalt gerade aufgehoben werde. Auch Kant befindet sich allerdings in Übereinstimmung mit der Meinung des Aristoteles, dass „für den Schlechten (...) ein Zwiespalt zwischen Pflicht und Handlung" bestehe, „bei dem Tugendhaften dagegen befindet sich die Handlung mit der Pflicht im Einklang. Denn die Vernunft begehrt in jedem Menschen, was für sie das Beste ist, die Vernunft aber ist es, der der Tugendhafte gehorcht" 146 . Für Aristoteles und im Unterschied zu Kant ist jedoch der Tugendhafte gerade derjenige, der tut, wozu er affektiv geneigt ist, denn seine Neigung entspricht ja der Vernunft. Tugend ist also Einheit und Übereinstimmung von Neigung und Vernunft, von Neigung und Pflicht, von „subjektiven" Motiven und „objektiven" moralischen Handlungsgründen'47. Zwischen dem Schlechten und dem Tugendhaften liegt für Aristoteles derjenige, der nicht die tugendhafte Neigung besitzt, aber dennoch z.B. aus Selbstbeherrschung tut, was gut ist; der also seine „Pflicht" erfüllt, aber gegen die Neigung. Für Kant entspricht gerade dieser Letztere, der Beherrschte, Enthaltsame, sich schlechten Neigungen Widersetzende und Starke, dem moralischen Menschen und damit dem schlechthin Tugendhaften, ja „selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist" kann durch Unterwerfung unter das „moralische Sollen" einen guten Willen haben148. Der gute Wille scheint also mit ansonsten schlechten Neigungen vereinbar zu sein. Die Kritik lautet hier nicht, dass dies nicht möglich sei. Ein unmäßiger Mensch kann ja durchaus den guten Willen haben, von seinem Laster loszukommen, bereits bevor er es schafft, ein maßvoller Mensch zu werden. Aber dies ist nicht Tugend, sondern der Anfang des Weges zur Tugend. Es scheint nun nicht, dass für Kant diese Unterscheidung Sinn macht oder dass sie zumindest in seiner Ethik eine Rolle spielt. Kantisch gesehen genügt für „Tugend" der Wille, sich schlechten Neigungen zu widersetzen. Die Kantische Ethik ist eben gerade deshalb keine Tugendethik, auch wenn sie gleichsam als Anhang eine „Tugendlehre" enthält. Als reine Pflichtenethik von Vernunftimperativen, als eine Ethik der Zähmung einer bösen und egoistischen Natur durch Vernunft, muss sie aber aus der Sicht einer Tugendethik das Wesen von Moralität notwendigerweise verfehlen.

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Vgl. oben IV, 1 b. EN IX, 8 1169a 16-18. Vgl. auch M. Stocker, Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien, a. a. O., wo gerade das Auseinandertreten von Motiven und Handlungsgründen als der entscheidende Defekt, eben die „Schizophrenie", moderner Moralphilosophie bezeichnet wird. Kant, GMS, B 112 f. (IV S. 90 f.).

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Hier ist allerdings zu ergänzen: Kantische Ethik bemüht sich natürlich, auch eine Tugendethik zu sein und Tugend als Erneuerung des inneren Menschen zu sehen, aber die Bemühung kommt gleichsam zu spät und bleibt m. E. ambivalent. Das wird gerade in der aus der gleichen Spätperiode wie die „Metaphysik der Sitten" stammenden Religionsschrift deutlich, wo Kant von der Revolution des inneren Menschen, der „Änderung des Herzens" spricht, die nötig ist, um zur wahren sittlichen Vollkommenheit zu gelangen149. Diese darf nicht nur darin bestehen, das der Tugend Gemäße aus „empirischen" Gründen, „gemäß dem gepriesenen Prinzip der Glückseligkeit" zu tun, also etwa die „Mäßigkeit um der Gesundheit" willen zu erstreben oder das Ungerechte „um der Ruhe oder des Erwerbes willen" zu meiden. Damit der Mensch moralisch gut d.h. „nach dem intelligiblen Charakter" tugendhaft werde, darf seine Triebfeder keine andere als die „Vorstellung der Pflicht selbst" sein150. Diese Steigerung vom bloß Empirisch-Egoistisch-Hedonistischen zum IntelligibelMoralischen ließe sich nun durchaus aristotelisch verstehen, würde dann aber bedeuten, dass man z.B. das Gerechte um der Gerechtigkeit willen, aus Liebe zur Gerechtigkeit tun sollte (und eben nicht etwa, „gemäß dem gepriesenen Prinzip der Glückseligkeit" um irgend eines eigenen Vorteils willen) Den Freund sollte man also deshalb besuchen, weil das „gerecht" oder „der Freundschaft entsprechend" ist, also eigentlich, weil es eben „gut" und „richtig" ist (und nicht damit dieser uns in Zukunft irgend einen Vorteil verschafft). Damit sind wir jedoch schon bald bei der Aussage angelangt, moralisch handle derjenige, der seinen Freund aus Freundschaft besuche, d.h. aus Neigung zum Guten. Der „Vorstellung der Pflicht" kann demnach für Kant gerade nicht die (aristotelische) Bedeutung zukommen zu handeln, um das der betreffenden Tugend eigene Gute zu erreichen, denn dies bedeutete, moralisches Handeln sei Handeln aus Neigung zum Guten. Für Kant kann Handeln aus Pflicht nur bedeuten, in Befolgung jenes kategorischen Imperativs zu handeln, der uns jeweils gebietet, so zu handeln, dass die dieser Handlung zugrunde liegende Maxime allgemeines Gesetz werden könnte. Grund moralischen Handelns („Vorstellung der Pflicht") ist also nicht das jeder Tugend jeweils spezifische Gute, sondern der transzendentale Formalismus der Verallgemeinerung, wie er dem kategorischen Imperativ eigen ist151. - Die Ambivalenz des Kantischen Tugendbegriffs zeigt sich auch in seiner Auffassung, man könne bereits vor der Revolution der Gesinnung, durch „lange Gewohnheit" Tugenden erwerben, ohne „Herzensänderung", durch bloße „Änderung der Sitten"152. Das Handeln aus Pflicht (die dem intelligiblen Charakter gemäße Tugend) kommt dann erst hinzu, ist also ein von bloßer („empirisch" motivierter) Tugend unterschiedener Modus der Motivation, und er erst begründet Moralität. Dieser ist aber wieder nur der Formalismus der „Vorstellung der Pflicht" (die eigentli-

149 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 48-64 (IV, S. 694-705). 150 Ebd., 54 f. (IV, S. 698). 151 Genau deshalb ist der Einwand von F. Ricken, Aristoteles und die moderne Tugendethik, a. a. O., S. 397 gegen Michael Stocker, der Gegensatz von „etwas aus Freundschaft tun" und „etwas aus Pflicht tun" sei bloß falsch konstruiert, nicht stichhaltig, ja er verfehlt die Pointe von Stockers Argumentation. Ricken meint, wer jemanden aus Freundschaft besuche, der habe dies eben als seine Pflicht erkannt („Schmidt hat die Pflicht, seinen Freund zu besuchen, weil er sein Freund ist"); folglich falle auch der Gegensatz zwischen Handlungsgrund und Motivation weg. Das stimmt natürlich unter aristotelischen Voraussetzungen, weil hier jeweils das der Pflicht Gemäße gerade das Gute und Richtige der Tugend ist. Bei Kant und generell dem, was Stocker als „moderne ethische Theorien" kritisiert, ist dies aber gerade nicht der Fall: Schmidt hat hier nicht die Pflicht seinen Freund zu besuchen, weil er sein Freund ist. Nicht das Gut der Freundschaft darf hier Handlungsgrund und Motiv sein, sondern nur eine von der Motivation der Freundschaft zu unterscheidende „Pflicht", die den Besuch erst zu einer moralischen Handlung werden lässt. - Vgl. zu dieser Thematik und zum Vergleich zwischen Aristoteles und Kant auch R. Audi, Acting from Virtue, in: Mind 104 (1995), S. 449 ff. 152 Ebd., B 51 f. (IV, S. 679).

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

chen, den einzelnen Tugenden spezifischen Güter scheinen hingegen zur noch-nicht-moralischen Ebene der bloßen „Sitten" zu gehören). Deshalb schließt Kant auch folgerichtig die „moralische Bildung" des Menschen komme nicht „von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart und von Gründung eines Charakters ..." I53 . Das alles wäre mit Aristoteles vereinbar, beruhte es nicht auf der Dichotomie von Neigung und Pflichtbewusstsein und auf der Reduktion von Moralität auf Handeln aus Pflicht und wäre dabei nicht ein völlig unaristotelischer Begriff von Tugend impliziert, der, auf der Ebene der „Sitten", Tugend als bloße Gewohnheit, nicht aber als „hexis proairetike" „habitus electivus", versteht, d.h. als Habitus der richtigen Handlungswahl, in dem bereits der Wille, die „Gesinnung" und das „Herz" des Menschen gemäß den Zielen der einzelnen Tugenden auf das in Wahrheit Gute hin ausgerichtet ist.

Aristoteles und Kant, sind sich jedoch in einem Punkt einig: „Pflicht" hat etwas mit „Imperativen der Vernunft" zu tun. Kant freilich würde sagen, die aristotelischen Vernunftimperative seien keine kategorischen Imperative (solche also, die ganz unabhängig von unseren Wünschen und Erwartungen ausdrücken, was gesollt ist, und damit den Grund ihrer Verbindlichkeit in sich selbst tragen, nicht in ihrer „Nützlichkeit", ein vorgesetztes Ziel zu erreichen), sondern vielmehr bloß hypothetische Imperative, d.h. Imperative, welche eben die Form von „Wenn-dann" Sätzen haben und sich darauf beziehen, was nützlich ist, um unsere Wünsche und Absichten, insbesondere das Ziel der eigenen Glückseligkeit zu verwirklichen. Wer einen Freund aus Neigung der Freundschaft besucht, würde dies dann also, falls er einen hypothetischen Imperativ befolgt, tun, weil er das Besuchen des Freundes als Mittel wählt, um sein Glücksstreben zu befriedigen. Das ist die klassische Form aller Eudämonismuskritik, auch diejenige Max Schelers und der von ihm begründeten Wertethik154. Sie geht jedoch an der klassischen Position, wie sie Aristoteles vertritt, vorbei: Wer einen Freund aus Neigung der Freundschaft besucht, tut dies ganz einfach deshalb, weil er dies als „gut" erkannt hat und sein Wille den Habitus des Wohlwollens besitzt, so dass er seinem Freund jenes Gute will, das ihm in diesen Umständen zuträglich ist: ein Besuch. (Der diesem Handeln zugrunde liegende „hypothetische" Zusammenhang, lautet also: Er besucht seinen Freund, um ihm einen Besuch zu machen; das „Ihn-Besuchen" ist das Gute, um dessentwillen hier gehandelt wird, und die Handlung ist das Besuchen.) Mit anderen Worten, er liebt seinen Freund, und weil er ihm wohl will, macht es ihm auch Freude, ihn zu besuchen. Denn sein Streben ist Wohlwollen, und Sättigung des Strebens ist Glück und bewirkt Freude. Aber wo bleibt hier die „Pflicht"? Sie scheint in der Tat verschwunden zu sein. Gleichwohl ist sie präsent. Sie zeigt sich als „reine Pflicht" jedoch nur, insofern das Vernünftige und die Neigung auseinander klaffen. Oder es kann ja wiederum sein, dass unser Mann dringend eine andere Aufgabe zu erledigen hat (Pflichtenkollision); und er steht im Zwiespalt. Zuletzt jedoch obsiegt das Urteil: mein Freund braucht jetzt einfach einen Besuch; ich kann ihn nicht ihm Stich lassen, und das andere kann warten, auch wenn sich daraus zusätzliche Schwierigkeiten ergeben werden; usw. Das heißt, es ist meine Pflicht, ihn jetzt zu besuchen. Die Vernunft meldet sich an, und wenn unser Mann ihr folgt, so tut er dies wiederum aus dem Habitus der Freundschaft, aus Wohlwollen zu seinem Freund und nicht um glücklich zu werden oder weil er sich davon größere Befriedigung verspricht. Auch das Umgekehrte ist denkbar: Der Besuch ist wegen anderweitiger Verpflichtung aufzuschieben, mit einem Anruf kann das dem kran153 154

Ebd., B 55 (IV, S. 699). Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1916), 5. Aufl. Bern und München 1966, vor allem „Zweiter Teil", V, S. 246 ff.

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ken Freund vielleicht erklärt und der Besuch kann nachgeholt werden, vielleicht dann unter schwierigeren Bedingungen, was aber u.U. noch besser den Wert dieser Freundschaft zum Ausdruck bringen kann. Freunde pflegen sich in solchen Situationen zu verstehen und die Motive des anderen wohlwollend und richtig zu beurteilen. Natürlich ist hier keine Rede davon, dass verschiedene Tugenden kollidieren. Im Gegenteil: Pflichtenkollisionen werden gerade durch Tugenden so gelöst, dass in den meisten Fällen vermeintliche Widersprüche zwischen kollidierenden Pflichten aufgehoben werden (ein Rest „tragischer Fälle" ist natürlich nicht auszuschließen). Wenn man allerdings Tugenden von Pflichten oder abstrakt betrachteten moralischen Verbindlichkeiten her denkt, ohne ihren narrativ-kontextuellem Charakter zu berücksichtigen, wird man zu der eigenartigen Auffassung gelangen, Tugenden könnten gegenseitig im Widerspruch stehen. Wer von der Kollision verschiedener Tugenden spricht, hat einen wesentlichen Aspekt dessen, was eine Tugend eigentlich ist, aus den Augen verloren. Eine Tugendethik vermag zu begründen, dass das Urteil „p ist meine Pflicht" nichts anderes ist, als das Urteil der Vernunft „p ist in Wahrheit gut". Der Mechanismus des Kantischen kategorischen Imperativs ist eher eine Hilfskonstruktion, um einer praktischen Vernunft, die zuvor aus dem Kontext aller (hedonistisch interpretierten) affektiven Neigung herausdestilliert wurde, dann ein Kriterium für die Bestimmung des Guten an die Hand zu geben. So wenn ich weiß, dass ich die Maxime, man solle kranke Freunde besuchen, als allgemeines Gesetz denken oder wollen könnte, ich also „verpflichtet" bin, es auch zu tun. Dabei allerdings denke ich zunächst einmal an alles mögliche, außer daran, meinem kranken Freund wohl zu wollen. Nun ist die Lehre vom kategorischen Imperativ, dem transzendentalen Formalismus praktischer Vernunft also, keineswegs das einzige Wort Kantischer Ethik. Diese ist ja, wie bereits erwähnt, wesentlich eine Maximenethik. Der kategorische Imperative ist ein Prüfungsverfahren hinsichtlich der Moralkompatibilität unserer subjektiven Maximen (für Kant hypothetische Imperative, die sich auf unsere Absichten und Wünsche beziehen). Insofern der kategorische Imperativ sich auf solche Maximen bezieht und sie als mit einer allgemeinen Gesetzgebung vereinbar erklärt, besitzt er nicht nur die Funktion einer (formalen) Bedingung der Möglichkeit von Moralität, sondern auch diejenige eines Kriteriums für die (inhaltliche) Bestimmung dessen, was in einem bestimmten Fall zu tun richtig ist. Hier vermag er dann auch mit dem utilitaristischen Kalkül der Güterabwägung - allerdings mit wenig Erfolg - in Konkurrenz zu treten. Das erklärt auch, dass mancher Kantianer zugleich Utilitarist ist und dass Kant selbst bisweilen zu utilitaristischer Argumentation Zuflucht nimmt 155 . Im Kontext einer Tugendethik, wie sie bis anhin skizziert wurde, ist das Phänomen der Verpflichtung nichts, was noch „hinzukommt". Die Vernunft, die Gutes erfasst, ist hier selbst Grund aller Verpflichtung. Bewusstsein von Pflicht ist nichts anderes als Gewahrwerden der Intelligibität des Guten. Thomas, für den ja jedes „Gesetz" wesentlich eine Anordnung der Vernunft ist, führt dessen verpflichtenden Charakter gerade auf die Vernunft zurück: „Gesetz" 155

So z.B. in der oben erwähnten „Staatserrichtung für ein Volk von Teufeln" (vgl. IV, 4, b) oder im Essay „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen" (IV, S. 637-643). Überhaupt besitzt das Universalisierungskriterium des kategorischen Imperativs eine große Affinität zu gewissen Formen des regelutilitaristischen Kalküls. Vgl. als Beispiel O. Höffe, Sittlich-politische Diskurse, a. a. O. S. 52 ff. Aus ähnlichen Gründen meint auch G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, S. 60, der kategorische Imperativ bedürfe der Ergänzung durch utilitaristische Folgenabschätzungen.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

ist eine Regel des Handelns, die zum Handeln verpflichtet. Regel oder Maßstab menschlichen Handelns ist aber die Vernunft, denn ihr kommt es zu, auf das Ziel, auf das Gute hinzuordnen 156 . Aus dem, was die Vernunft im Handlungsurteil als Gutes aufweist, wird das Handlungssubjekt verpflichtet; ja dieses Urteil der Vernunft über das Gute besitzt, wie Thomas sagt, geradezu eine vis coactiva, eine nötigende Kraft 157 . Das ist erklärbar, weil praktische Vernunft in Streben eingebettete Vernunft ist: Was die Vernunft als gut aufweist, darauf richtet sich das Streben mit Notwendigkeit. Verpflichtung ist nichts anderes als das Wollen des durch Vernunft als gut Erkannten. Pflicht ist vernunftgemäße Neigung, ausdrückbar in der Form „p ist gut", „p ist zu tun" (das selbst wiederum durch ein Gewissensurteil mitgeprägt sein kann). Deshalb ist die höchste Form von Pflichtbewusstsein diejenige des Tugendhaften, der allerdings am allerwenigsten aus Pflicht, sondern aus Freude am Guten handelt 158 . So vermag Thomas den Satz zu schreiben: „Denn die Vernunft, Prinzip des Sittlichen, verhält sich im Menschen zu dem, was sich auf den Menschen bezieht, so wie Fürst und Richter sich zum Staatswesen verhalten" 159 . Kant braucht allerdings für die letzte Einsichtigkeit von sittlicher Verpflichtung das Postulat der Existenz Gottes, der demjenigen, der sich durch moralisches Handeln der Glückseligkeit würdig erwiesen hat, dann auch tatsächlich diese Glückseligkeit einmal zuerteilen wird. Die Idee Gottes wird „von uns selbst gemacht", um „zur Triebfeder in unserem Verhalten zu dienen": „Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst" 160 . Aber wie verhält es sich denn mit Gott in einer Tugendethik? Ist er hier überflüssig geworden? In der Tat ist er weit weniger notwendig, als in der Kantischen Moral 161 . Die Tugendethik braucht sittliche Verpflichtung nicht noch einmal durch den Rekurs auf Gott abzusichern. Im methodischen Gang einer Tugendethik erscheint Gott erst, nachdem die Begründung sittlicher Verpflichtung bereits geleistet wurde. Ja, gerade die Erfahrung sittlicher Verpflichtung durch vernünftige Einsicht in das Gute führt zur Frage nach dem Grund dieses Phänomens. Die Frage nach dem Ursprung sittlicher Verpflichtung erscheint hier in genau der gleichen Art, wie die Gottesfrage überhaupt erscheint: Als die Frage nach dem Ursprung dessen, was ist. Denn die Phänomene „Moral", „sittliche Erfahrung", „Gewissen", „sittliche Verpflichtung" MW ja. Und so können wir jetzt fragen: Warum „sind" sie? Woher kommen sie? Wichtig ist, den Unterschied dieser Auffassung mit jener zu betonen, der gemäß das „Natürliche" zunächst von der Vernunft (als Naturordnung und natürliche Finalitäten) und diese dann überdies als „von Gott geschaffen" erkannt und daraus erst die sittliche Verpflichtung abgeleitet wird, diese Ordnung nun auch zu befolgen. Der verpflichtende Charakter der Urteile praktischer Vernunft entstünde also erst als Folge der Erkenntnis, dass diese Urteile eine von Gott erschaffene Ordnung der Natur zum Ausdruck bringen, die dadurch als sittlich normativ erfasst wird. Dies ist die gerade in der Neuscholastik wirksam gewordene, auf F. Suärez (1548-1617) zurückgehende Position. Gemäß der hier vertretenen Auffassung jedoch läuft der Prozess anders: Am Anfang steht der imperativ-ordinative Akt der praktischen Vernunft auf das Gute hin; dieser schließt, als Vernunft, bereits das Element

156 157 158 159 160 161

Vgl. I—II, q. 90, a. 1. De Veritate, q. 17, a. 3 ad 2. Eine eingehende Rekonstruktion der klassischen „Symbiose" von Pflicht und Tugend leistet G. Abbà, Felicità, vita buona e virtù, a. a. O. I—II, q. 104, a. 1 ad 3. I. Kant, MS, A 109 (IV, S. 579 f.). Vgl. auch die früheren Ausführungen in I, 4.

2 . SITTLICHES WISSEN UND GEWISSEN

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„sittliche Verpflichtung" ein. Und erst nachfolgend wird die so etablierte, in ihrem „Pflichtcharakter" eingesehene Ordnung auf Gott als ihren Ursprung zurückgeführt162.

Die Frage nach dem Ursprung führt zu Gott. Sie hat auch immer zu Gott geführt. Es gab noch nie einen Philosophen, der das Gegenteil behauptete; das einzige, was behauptet wurde, ist, dass diese Zurückführung eine Täuschung ist. Kant ist der Letzte, der die Unvermeidbarkeit einer solchen Zurückführung leugnen würde: Die Vernunft, so ist seine Meinung, kann gar nicht anders, als zur Idee eines Gottes aufzusteigen, der Ursprung all dessen ist, was ist. Nur sagt Kant, diese Naturveranlagung der Vernunft führe leider zu einem bloßen „dialektischen Schein", auf dessen Gehalt wir zwar als regulative Idee für Naturerkenntnis und als Triebfeder für praktisches Verhalten angewiesen sind, den wir aber nicht als gesicherte Erkenntnis betrachten dürfen. Da wir Gott für die Moral brauchen, meint Kant, so müssen wir ihn postulieren; er muss „von uns selbst gemacht" werden. Hier wird ja nicht die Existenz Gottes negiert, sondern nur die Art und Weise präzisiert, wie wir uns seiner Existenz vergewissern können: Wir können Gottes Existenz nicht erkennen, sondern nur postulieren und daran glauben. Was bleibt ist also die Gewissheit eines „Vernunftglaubens". Kein Philosoph hat bisher zu beweisen versucht, dass Gott nicht existiert. Alle haben sie nur gesagt, er könne entweder nicht erkannt werden oder, was wir als Gott erkennen, das sei gar nicht Gott, sondern wir selbst. Der folgenreichste Schritt wurde dabei wohl von Fichte getan: „Die moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen und vermittels eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben anzunehmen." Denen, die es dennoch versuchen, hält Fichte entgegen „ihr habt nicht, wie ihr wolltet, Gott gedacht, sondern nur euch selbst im Denken vervielfältigt"163. Damit sind wir eigentlich bereits bei Feuerbach angelangt, für den Erkenntnis Gottes nichts anderes als (entfremdete) Erkenntnis des menschlichen Wesens ist. Marx lässt sich auf die Frage erst gar nicht ein, sondern löst sie mit der Aufforderung, sich zunächst einmal auf den Standpunkt des „atheistischen Sozialismus" zu stellen164. Und Sartre meinte: „Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern" l65 , denn um die menschliche Freiheit zu behaupten, müsste man von ihm ohnehin absehen. 162

163 164 165

Völlig unverständlicherweise behauptet F.-J. Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis, a.a.O. S. 199 f. ich verträte die Meinung, zur Konstituierung der „bindenden Kraft" einer praktischen Erkenntnis des sittlich Richtigen sei der Rekurs auf Gott als Gesetzgeber nötig. Bormann gelangt zu dieser grotesken Fehleinschätzung meiner Position durch eine irrtümliche Lektüre meines Buches Natur als Grundlage der Moral, vor allem S. 70, wobei er u.a. S. 63-69 nicht berücksichtigt. Ebenfalls übersehen hat Bormann meine Ausführungen in Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, a. a. O. S. 531 ff., sowie natürlich die hier vorgetragenen, die allerdings erst in italienischer Sprache vorlagen. Sie wurden eigenartigerweise in einem Fall wiederum in genau umgekehrter Weise gelesen, nämlich als die Forderung nach einer „Ethik ohne Gott"; vgl. F. Di Blasi, Dio e la legge naturale. Una rilettura di Tommaso d'Aquino, Pisa 1999, S. 83 ff. J. G. Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, Werke V, a. a. O. S. 186 und 187. Vgl. K. Marx, Pariser Manuskripte von 1844, in: Karl Marx. Die Frühschriften, hsg. v. S. Landshut, Stuttgart 1968, S. 246-248. J.-P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, a. a. O. S. 36.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Wer also behauptet, die Erkenntnis dessen, was ist, führe zur Frage nach dem Ursprung, d.h. zur Frage nach Gott, der behauptet, was eigentlich alle zugeben, auch wenn sie es nur dadurch zugeben, dass sie die Antwort als Täuschung, Schein oder als irrelevant abwehren. Wer aber tatsächlich dafür hält, Gottes Existenz sei erkennbar, der hat eine andere Auffassung über die menschliche Erkenntnisfähigkeit, bzw. über die Wünschbarkeit der Existenz Gottes. Dies zu diskutieren gehört nun aber nicht zur Ethik. Was jedoch außer allem Zweifel steht ist: Die Erfahrung von sittlicher Verpflichtung und „moralischer Ordnung" führt zur Frage nach deren Ursprung, und das heißt zur Frage nach Gott als Ursprung dieser Ordnung des praktisch Guten. Thomas von Aquin hat dafür seine Lehre von natürlichen Gesetz als „Teilhabe des ewigen Gesetzes im vernünftigen Geschöpf entwickelt166. Dies setzt wiederum eine Schöpfungsmetaphysik voraus; sie ist die höchstentwickelte Form der Antwort auf die Frage nach dem Ursprung. Gemäß der thomanischen Lehre ist jene Vernunft, die uns „von Natur aus" auf das Gute hinordnet, nichts anderes als Teilhabe an jener göttlichen Vernunft, durch die alle Geschöpfe auf ihr Ziel hingeordnet werden. Und damit ist das natürliche Gesetz Teil göttlicher Vorsehung. Ja, durch die vernünftige Erkenntnis des Guten nimmt der Mensch aktivkognitiv am „Vorsehen" Gottes teil167: Als personale Akte des Menschen gehört dieses menschliche Vorsehen zur Vorsehung Gottes168. Der Mensch partizipiert das ewige Gesetz in doppelter Weise: Passiv, in seinen natürlichen Neigungen; und aktiv-kognitiv, durch seine Vernunft. Die natürlichen Neigungen sind zwar Teilhabe am „ewigen Gesetz", aber sie sind nicht schon „natürliches Gesetz": Anordnung der Vernunft zum guten Handeln oder sittliche Ordnung. „Natürliches Gesetz" ist vielmehr die in diesen Neigungen erstellte Ordnung der Vernunft, durch welche natürliche Neigungen erst als „menschliche Güter" - auf das sittlich Gesollte hingeordnet werden. Nicht das „Naturale" der natürlichen Neigungen ist also natürliches sittliches Gesetz, sondern die bezüglich dieser Neigungen formulierten Prinzipien der praktischen Vernunft. Diese Prinzipien können, ist einmal das natürliche Gesetz als Teilhabe am ewigen Gesetz erkannt, selbst als Kundgebung des göttlichen Willens an den Menschen verstanden werden, so dass nun die „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote"169 möglich wird. Aber damit sittliche Verpflichtung zur praktischen „Triebfeder" werden kann, ist eine religiöse Absicherung bei Thomas gerade nicht nötig. „Triebfeder" ist ja hier je meine (praktische) Einsicht in das Gute. Diese allerdings ist nichts anderes als Teilhabe an der praktischen Vernunft Gottes d.h. am „ewigen Gesetz". Dazu zitiert Thomas mit Vorliebe den sechsten Vers von Psalm 4 (nach der Vulgata) Multi dicunt, Quis ostendit nobis bona?: „Viele sagen: Wer zeigt uns, was gut ist?", worauf die Antwort lautet: Signatum est super nos lumen vultus tui, Domine: „In uns ist das Licht deines Antlitzes eingeprägt, Herr" und Thomas interpretiert dies wie folgt: „das heißt: das Licht der natürlichen Vernunft, durch die wir unterscheiden, was gut und was schlecht ist - und das ist die Funktion des natürlichen Gesetzes - , ist nichts anderes, als die Einprägung des göttlichen Lichtes in uns"170.

166 167 168 169 170

Vgl. I—II, q. 91, a. 2. Vgl. auch De Veritate, q. 5. C.G. III, c. 112. I. Kant, KpV, A 233 (IV, S. 261). I—II, q. 91, a. 2.

2 . SITTLICHES W I S S E N UND GEWISSEN

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Da jedes Gesetz einer Promulgation bedarf, so auch das „natürliche Gesetz". Sie besteht darin, dass Gott dem menschlichen Geist die Fähigkeit verlieh, „es natürlicherweise zu erkennen"171. Aufgrund dieses „Lichtes der Vernunft, das uns von Gott eingegeben wurde" kann man sagen, dass „Gott in uns spricht"172. Gerade deshalb nennt Thomas das natürliche Gesetz nicht eine „lex divina", ein göttliches Gesetz: Denn das „göttliche Gesetz" ist jenes, durch das Gott durch eine zusätzliche Offenbarung und damit durch positive Satzung zum vernunftbegabten Menschen spricht.

In dieser Perspektive der Rückführung auf den Ursprung hat es nun wieder einen Sinn, die Ordnung praktischer Prinzipien als natürliches Gesetz zu bezeichnen. Man muss aber auch zugeben, dass das Umgekehrte möglich, ja vielleicht sogar plausibler ist: Dass nämlich das Sprechen vom „ewigen Gesetz" und von „göttlichen Gesetzen" selbst einem (durchaus sinnvollen) Anthropomorphismus entspringt. Gemeint ist damit: Dass dieser Rede eine ursprünglich dem menschlichen Bereich entspringende Erfahrung, jene der menschlich-positiven Gesetzgebung, zugrunde liegt, und im Kontext dieser Erfahrung sowohl sittliche Verpflichtung wie auch jene Ordnung auf das Gute hin interpretiert wird, wie sie der Weisheit Gottes entspricht. Jedenfalls: Ob wir nun von „Gesetz", „moralischer Ordnung", „praktischen Prinzipien" oder „menschlicher Natur" sprechen, immer ist gemeint, was allein solcher Rede sinnvollerweise zugrunde liegen kann: Die Ordnung der sittlichen Tugend, die eine Ordnung der Vernunft auf das für den Menschen Gute ist und deshalb auch „vor allem die Ordnung auf das Glück hin betrifft" 173 . Deshalb kann Thomas ja auch sagen, dass wir Gott nur dadurch beleidigen, dass wir gegen unser eigenes Wohl verstoßen174. Aber die so begriffene Zurückführung von Sittlichkeit auf ihren Ursprung in Gott vermag uns freilich - unabhängig von Offenbarung - keine weiteren Aufschlüsse darüber zu geben, was wir nun zu tun haben: Was „gut" und unserem Wohl entsprechend ist. Denn den „Willen Gottes" erkennen wir - sofern nicht Offenbarung hinzutritt - immer nur durch unsere Vernunfterkenntnis dessen, was „gut" ist. Das ist ja gerade die Pointe der Ansicht, der Mensch werde nun durch Teilhabe am ewigen Gesetz der göttlichen Vorsehung tatsächlich teilhaftig. Damit ist gemeint, menschliches Vorsehen sei gerade selbst aktiv mitwirkender Bestandteil göttlicher Vorsehung. Die Lehre vom natürlichen Gesetz als Teilhabe am ewigen Gesetz ist philosophisch-schöpfungsmetaphysische Zurückführung der Gegebenheit einer inhaltlich geprägten Vernunftordnung auf das Gute hin. Deshalb ist es nicht möglich, „Theonomie" nur als Entlassung des Menschen in die Verpflichtung „schöpferisch Normen zu entwerfen" zu verstehen („theonome Autonomie"). Philosophisch können wir ja nur von einem Gott als Ursprung dessen, was ist, sprechen. Die Theoretiker von „schöpferischer Vernunft" und „theonomer Autonomie" machen aber eine Aussage über diese geschöpfliche Wirklichkeit von Gott her, obwohl der Begriff dieses Gottes die Erkenntnis

171 172 173

174

I-II, q. 90, a. 4 ad 1. De Veritate, q. 11, a. 1 ad 13. I-II, q. 90, a. 2. Damit sollte das von A. Maclntyre im Postskript seines Buches „Der Verlust der Tugend", a. a. O. S. 369 angesprochene Problem eigentlich gelöst sein. Sein dortiger Hinweis auf H. Jaffas „Thomism and Aristotelianism" (Chicago 1952) muss als unglücklich bezeichnet werden, weil Jaffas einflussreich gewordene Fehlinterpretation thomanischer Moralbegründung einer Unkenntnis und Oberflächlichkeit entspringt, die Maclntyre selbst, wie man in seinem Nachfolgewerk („Whose Justice? Which Rationality?") sieht, überwunden hat. Summa contra Gentiles, II, cap. 122.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

dieser Wirklichkeit als ein auf seinen Ursprung zurückzuführendes Seiendes bereits voraussetzt und aus ihm ja gewonnen wurde. Das Ganze ist damit als Zirkelschluss und illegitime Vermischung von philosophischer und theologischer Methode erkennbar175.

Die Erfassung der Theonomie sittlicher Verpflichtung verleiht dem Urteil des Gewissens eine weitere Motivationsquelle. Das als gut Erkannte kann nun durch das Gewissen zusätzlich als das „dem Willen Gottes" Entsprechende geboten werden. Das hat natürlich nichts mit „Legalismus" zu tun. Denn Voraussetzung ist ja immer die Einsicht in das Gutsein dessen, was gerade deshalb als Wille Gottes erfasst wird. Motivationsmäßig kann dieser sich im Gewissen anmeldender Aspekt dann aber der ausschlaggebende sein, um jenes Gute zu tun, wozu man u.U. überhaupt keine Neigung verspürt. Jedenfalls ist in jedem Akt theonomer Motivierung immer auch ein Element der Anerkennung Gottes implizit, was dem so motivierten Tun zusätzlich die Eigenschaft verleiht, Akt der Tugend der Religion zu sein. Aber ist dann grundsätzlich eine Moral ohne Gott möglich? Kann der Atheist ebenso „moralisch" sein, wie derjenige, der die Existenz Gottes anerkennt? Die Frage ist natürlich zunächst, wer denn überhaupt ein Atheist ist, und inwiefern es wirkliche, d.h. von der Nichtexistenz Gottes überzeugte Atheisten tatsächlich gibt. Aber sie braucht hier nicht diskutiert zu werden. Folgender Hinweis mag genügen: Die Struktur der Vernünftigkeit, die zur Erkenntnis der praktischen Prinzipien und ihrer Umsetzung in konkretes Handeln führt, sowie das Bewusstsein sittlicher Verpflichtung aufgrund vernünftiger Einsicht in das Gute und damit auch die Möglichkeit sittlicher Tugend: all dies kann nicht von der Erkenntnis der Existenz Gottes abhängen. Insofern gibt es also auch eine „atheistische Moral", d.h. insofern eben die Erkenntnis Gottes dazu nicht notwendig ist. Nun muss aber der Atheist notwendigerweise der Überzeugung sein, dass der Mensch selbst, oder - was noch bedenklicher wäre - sonst eine innerweltliche Wirklichkeit das Höchste sei, was existiert. Dies ist nicht ein praktisches Prinzip, sondern eine Annahme über die Wirklichkeit, die nun wiederum für menschliches Handeln, d.h. für die Umsetzung praktischer Prinzipien in Handeln, nicht belanglos und ohne Folgen bleiben kann. Wenn, wie bei Feuerbach und Marx, die „Gattung Mensch" als höchstes Wesen proklamiert wird, so hat dies Konsequenzen für den Bereich der Tugend der Gerechtigkeit: Das Wohl des Individuums wird dem Wohl der Gattung untergeordnet. Oder wenn, zunächst harmloser, die Subjektivität des einzelnen oder die Autonomie des Willens zum höchsten sittlichen Gut wird, dann wird das nicht weniger, wenn auch in anderer Weise, die Wirklichkeit des menschlichen Handelns mitgestalten. Die Folge davon nämlich ist, Vernünftigkeit selbst als Bedrohung der Autonomie des Subjekts zu begreifen, und damit das Desinteresse an „Wahrheit", das „Desinteresse am So-Sein der Wirklichkeit", wie das Grundprinzip von Aufklärungskultur genannt worden ist176. Bereits Aristoteles hatte gesagt, der Mensch sei ja nicht das Beste, was es im Universum gibt. Deshalb sei das praktische Wissen, das es mit den menschlichen Dingen zu tun hat, auch 175

176

So: F. Böckle, Fundamentalmoral, München 1977; K.-W. Merks, Theologische Grundlegung der sittlichen Autonomie. Strukturmomente eines .autonomen' Normbegründungsverständnisses im lex-Traktat der Summa Theologiae des Thomas von Aquin, Düsseldorf 1978. Zur Kritik des Konzepts „theonome Autonomie" vgl. auch: M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a .a. O. S. 159-204. Dort schlage ich als angemessener die Kategorie einer „partizipierten Autonomie" vor, die als Vermittlung von Theonomie gleichzeitig „partizipierte Theonomie" ist. Vgl. H. Lübbe, Philosophie als Aufklärung, in: H. Lübbe, Praxis der Philosophie, Praktische Philosophie, Geschichtstheorie, Stuttgart 1978, S. 5-34.

3 . SITTLICHE N O R M E N

291

nicht die höchste Form des Wissens. Darüber steht die Weisheit177. Die Liebe zu ihr als Liebe zur Wahrheit kann nur gesichert sein, wo der Mensch sich nicht selbst als Höchstes anerkennt. Denn hier ist das Prinzip Gerechtigkeit selbst gefährdet, durch den naturhaften Hang des Menschen, das eigene Gut, letztlich die „Autonomie der Subjektivität", demjenigen „des anderen" vorzuziehen, bzw. „Vernunft" durch Streben nach Autonomie des Wollens zu gefährden. Problematisch ist nicht die Autonomie der Vernunft, sondern die Autonomie des Willens. Sie ist erkenntnislogisch schon im cartesianischen Cogito wirksam und in der Ethik wird sie von Kant zum Prinzip erhoben. Vernunftautonomie führt zur Anerkennung Gottes als den tragenden Grund, Autonomie des Willens hingegen schließt in sich bereits den Keim seiner Ablehnung als Störfaktor.

3. Sittliche Normen a) Die Formulierung der Prinzipien als Normen „Normen" sind Maßstäbe, denen gemäß etwas getan oder unterlassen werden soll und sie erheben Anspruch auf Verbindlichkeit (Geltung). Normen beziehen sich jeweils auf eine Klasse von Handlungen, einen Handlungstyp: Sie sind also ihrer Natur nach Universalien178. Sittliche Normen sind Maßstäbe bezüglich des Vollzugs menschlicher Handlungen, denen gemäß vollziehbare Handlungstypen als „gut" oder „schlecht", sittlich richtig oder falsch bezeichnet werden. In einem gewissen Sinn, weil sie Maßstab ist, ist praktische Vernunft selbst eine Norm. Und ebenfalls sind es die praktischen Prinzipien. Bei der Rede über sittliche Normen stellen wir uns jedoch in die Perspektive des Betrachters: Wir schauen menschliche Handlungen gleichsam „von außen her" an. Das heißt: Das Sprechen von sittlichen Normen ist eigentlich ein Sprechen über die sittliche Normierung von menschlichen Handlungen durch praktische Prinzipien, eine Perspektive, die nicht identisch ist mit derjenigen der Normierung der Sittlichkeit einer Handlung in der Perspektive ihres Vollzugs. Es sei daran erinnert, dass die praktischen Prinzipien, die wir als lex naturalis identifizierten, wahrhafte Prinzipien der Praxis sind (vgl. V,l,c). Praktische Prinzipien sind kognitive Prinzipien der Bewegung - denn Praxis ist eine Art Bewegung - , die dem Handlungssubjekt nicht nur innerlich sind, sondern dieses gerade als handelndes Subjekt konstituieren. D.h. ohne praktische Prinzipien würden wir gar nicht handeln. Praktische Prinzipien in diesem Sinne bilden also Bestandteil des „Organismus" praktischer Vernunft. „Normen" hingegen entspringen bereits einem Sprechen über praktische Vernunft. Handlungsnormen oder sittliche Normen sind deshalb nicht eigentlich Prinzipien der Praxis, sondern eher Prinzipien des Sprechens über Praxis, Prinzipien des Beurteilens und der Regelung von Praxis. In diesem Sinne sind sie Prinzipien der Ethik. Als Prinzipien des normativen Diskurses über Praxis werden sie dann selbst, als von der praktischen Vernunft anerkannte Normen, zu praktischen Prinzipien.

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EN VI, 7 21 ff. Es scheint mir unangebracht zu sein, unter Normen auch Bitten, Befehle, Erlaubnisse, Ermächtigungen zu verstehen, d.h. überhaupt alle sprachlichen Formulierungen, in denen Ausdrücke wie „müssen", „sollen", „dürfen", „richtig", „falsch", „gut" und „schlecht" vorkommen; vgl. N. Hoerster, Artikel „Norm", in: H. Seiffert, G. Radnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, S. 231.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Der Begriff der „Norm" stammt ursprünglich aus der antiken Architekturtheorie („Richtschnur", „Winkelmaß") und findet durch Cicero Eingang in die Rechtssprache179. Erst durch die Vorliebe der Aufklärung für juristische Begriffsbildungen findet das Wort „Norm" definitives Heimatrecht in der praktischen Philosophie. Heute ist die Verwendung des Wortes „Norm" aus der Ethik nicht mehr wegzudenken und das Problem ist nicht das Wort, sondern die Interpretation des Begriffs. Die Rede von sittlichen Normen nimmt auf jener Ebene ihren Ausgangspunkt, die wir durch das „sittliche Wissen" charakterisierten: Die Ebene der Reflexion über Handeln. Dieser Ebene eigen ist der „normative Aussagesatz", das heißt: Aussagen im Modus des „Sollens". Solche Aussagen, so wurde bereits gesagt, besitzen immer eine sprachliche Struktur. Sie sind reflexiv-sprachliche Formulierungen von Prinzipien. Die „Norm" besitzt demnach eine Doppelnatur: Sie gründet in praktischen Prinzipien, reflektiert diese und gibt ihnen einen sprachlichen Ausdruck. Durch Normen sprechen wir über menschliche Handlungen aus der Perspektive der „dritten Person". Wenn auch sittliche Normen ein Sprachphänomen sind, so besitzen sie ihrer Natur nach eine Transparenz auf das ihnen zugrundliegende praktische Prinzip und die entsprechenden Tugenden - sie sind Ausdruck des „für den Menschen Guten" - und nur aufgrund dieser Transparenz können sie selbst wiederum adäquat verstanden und interpretiert werden. Denn im Grunde sind ja sittliche Normen und praktische Prinzipien nichts Verschiedenes; verschieden ist nur der Gesichtspunkt demgemäß dieselbe Struktur der Vernünftigkeit sich zeigt. Sittliche Normen als Ausdruck des „für den Menschen in Wahrheit Guten" formulieren somit gleichsam die Spielregeln für das Gelingen menschlichen Lebens; sie sind auch das sprachliche Medium, durch das sich Menschen über diese Spielregeln verständigen. Dies unbeschadet der Tatsache, dass sozialer, geschichtlicher, kultureller und auch individueller Kontext - das faktische Ethos - auch die Möglichkeit einer gewissen Pluralität konkreter Normierung eröffnet180. Es ist durchaus möglich, dass identische praktische Prinzipien in verschiedenen kulturell vermittelten kognitiven Kontexten und entsprechenden Ausgestaltungen des Ethos auch zu verschiedenen sozial anerkannten Verhaltensnormen führen. Ein typisches Beispiel sind bestimmte Normen, die Respekt und Liebe der Kinder gegenüber ihren Eltern regeln und in anderen Kulturen zu für uns z.T. schockierenden Praktiken führen181. Gerade spezifische Stammes- und Gruppenmoralen sind Beispiele dafür, wie an sich identische moralische Prinzipien wie die Goldene Regel, das Tötungsverbot, die Forderung der Solidarität zwischen den Generationen, Respektierung von Eigentum usw. sich auf der Ebene des konkreten Ethos auf verschiedene, z.T. widersprüchliche Weise äußern können. Damit soll freilich gerade nicht einem kulturbedingten Relativismus der Moral das Wort geredet werden, als ob etwa das indische Kastensystem nicht weniger als eine auf Freiheit und Gleichheit beruhende Gesellschaft westlichen Typs das Prinzip Gerechtigkeit verkörpern könnte'82. Verschiedene Ethos-

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Vgl. den Artikel „Norm" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 6, Basel 1984), Sp. 906 ff. Vgl. zu dieser Thematik auch W. Kluxen, Ethik des Ethos, a. a. O. Vgl. das interessante Kapitel über „Cultural Relativism" bei H. Arkes, First Things. An Inquiry into the First Principles of Morals and lustice, Princeton 1986, S. 134-158, bes. S. 148 ff. Dies ist die Meinung von M. Walzer, Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, Oxford 1983, S. 313-315. Gegen die Relativisierung ethischer Standards wie sie z.B. auch dem Kommunitarismus und gegenwärtiger virtue ethics eigen ist, wendet sich auch M. C. Nussbaum, Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz, a. a. O.

3 . SITTLICHE N O R M E N

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formen brauchen keineswegs als gleich wertvoll bzw. als in gleicher Weise dem Menschen und seiner Würde gemäß und in diesem Sinne praktisch wahr betrachtet zu werden. Ebenfalls ist es nicht nötig zu behaupten, sie seien alle gleich geeignet, an sich identische sittliche Prinzipien auch tatsächlich zu verwirklichen, schon deshalb weil ein Ethos oft bestimmte moralische Prinzipien auf Kosten anderer verwirklicht 183 . Verschiedene Kulturen bzw. Ausgestaltungen des Ethos bezeugen aber oft gerade in ihrer Verschiedenheit die Universalität und erstaunliche transkulturelle Invarianz moralischer Prinzipien, die sich in einem jeden Ethos dann in konkreter Weise ausdrückt.

b) Gesetzesnormen, Verhaltensregeln und sittliche Normen Die dem menschlichen Handeln und der praktischen Vernunft eigene Logik ist die Logik der Prinzipienerkenntnis und der Tugenden mit ihrer intentionalen, durch die Prinzipien abgesteckten Zielstruktur. „Normative Formulierungen" meinen etwas anderes, je nachdem ob sie sprachlicher Ausdruck der Ordnung der sittlichen Tugend, oder aber positiv-gesetzliche Regeln vernünftigen Verhaltens sind. Letztere sind uns bekannt als Verkehrsregeln, Steuergesetze, Verhaltensvorschriften, Verfahrensregeln, strafrechtliche Normen, Prüfungsordnungen usw. usw. Generell kann man sagen: Die Ausbildung moderner Staatlichkeit und Institutionalisierung hat einen Begriff der „Norm" als „gesetzliche Regel" geprägt, in dessen Logik wir geneigt sind, auch das Phänomen der sittlichen Norm zu interpretieren und dadurch dieses Phänomen zugleich grundsätzlich zu verfehlen und zu verfälschen184. Worin besteht die Logik der positiv-gesetzlichen Regel? Nehmen wir den Fall einer Gerechtigkeitsnorm im Bereich der Steuergesetzgebung: Die Richtigkeit oder Angemessenheit einer Handlung, die unter diese Norm fällt, bemisst sich aufgrund der Übereinstimmung mit der Norm und mit dem Zweck (Verteilgerechtigkeit), um dessentwillen die Norm erlassen wurde. Das heißt: Die Norm selbst konstituiert oder etabliert hier die Richtigkeit oder Vernünftigkeit bestimmter Handlungsvollzüge gemäß Maßstäben der Gerechtigkeit. In diesem Sinne „normiert" die Norm also das Handeln. Wohl am deutlichsten zeigt sich dies bei Verkehrsregeln: Richtig und vernünftig ist jenes Verhalten, das der Regel, der Norm entspricht, und zwar genau weil und insofern es der Norm entspricht. Und dies wiederum, weil sich die Norm durch einen bestimmten Zweck oder Nutzen rechtfertigt. Existierte die Norm nicht, so fíele auch der Maßstab für entsprechende Richtigkeit des Handelns weg.

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So besitzt die Praxis der Polygamie in muslimischen Gesellschaften ursprünglich die Funktion der Wahrnehmung von Solidarität gegenüber allein stehenden, zumeist durch kriegerische Ereignisse verwitweten Frauen. Die polygame Familie ist also eine enorm bedeutungsvolle Sozialhilfeinstitution. Dies allerdings auf Kosten anderer sittlicher Prinzipien ehelicher Gemeinschaft, nicht zuletzt der Gleichwertigkeit von Mann und Frau (man denke an die dadurch institutionalisierte weibliche Abhängigkeit von den Männern). 184 Eine solche Verfälschung liegt auch in einem Begriff der moralischen Norm als eine bestimmte Form sozialer Norm, die wiederum als sanktionierte soziale Forderung verstanden wird; so etwa E. Tugendhat, Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik, in: Tugendhat, Probleme der Ethik, a. a. O., S. 57 ff. Kritisch gegenüber Tugendhat versuchte Ursula Wolf, in der Tradition einer „Aufklärungsmoral", wiederum den Standpunkt des guten Lebens zurückzugewinnen: U. Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin 1984. Vgl. dazu dann Tugendhats „Retraktationen" in: Probleme der Ethik, a. a. O. S. 132 ff. Aus diskursethischer bzw. „kognitivistischer" Sicht zu Tugendhat: J. Habermas, Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., S. 78 ff.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Es kann nun aber sein, dass eine konkrete Handlung, die unter die Norm fällt, durch Subsumtion unter sie gerade dem Zweck zuwiderläuft, um dessentwillen die Norm erlassen wurde. In diesem Fall ist „Epikie" angebracht, d.h. man macht eine „Ausnahme", indem man dem Wortlaut der Regel zuwiderhandelt, um ihrem Sinn zu entsprechen und ihren Zweck dennoch zu erreichen185. Die Anwendung der Norm wird also aus Zweckmäßigkeitsgründen suspendiert, und zwar aus einer Zweckmäßigkeit, die genau jener entspricht, um derentwillen die Norm aufgestellt wurde, so dass die Norm zwar nicht dem Buchstaben nach, wohl aber ihrem Geist entsprechend erfüllt wird. Das ist die Logik von Gesetzesnormen und Verhaltensregeln, wobei nicht zu übersehen ist, dass viele positiv-gesetzliche Normen unmittelbar sittliche Normen formulieren, und zwar aufgrund eines öffentlichen Interesses an deren Einhaltung. Es gibt aber ethische Theorien, welche die eben beschriebene Logik der positiv-gesetzlichen Norm oder Regel grundsätzlich auf das Phänomen sittliche Norm anwenden; z.B. der sogenannte Regelutilitarismus186. In utilitaristischen Theorien besitzen sittliche Normen prinzipiell nur den Sinn, ein Verhalten unter eine Regel zu stellen, weil das Regelverhalten als jenes betrachtet wird, das insgesamt zum besten Ergebnis führt. Normen werden hier nicht als Ausdruck des Guten betrachtet, sondern als richtig oder falsch, vernünftig oder unvernünftig, je nachdem ob das Ergebnis ihrer Befolgung wünschenswert ist oder nicht. Für konsequente Utilitaristen ist die Handlung „Danksagen" nicht ein Akt der vergeltenden Gerechtigkeit, sondern ein Mittel, um Personen dazu anzuspornen, auch in Zukunft Gutes zu tun, und eine entsprechende Norm bezieht sich auf die Sicherung dieses Zwecks; utilitaristischer Logik gemäß dürfen Unschuldige zur Beruhigung des aufgebrachten Mobs nicht deshalb nicht verurteilt werden, weil dies in sich ein Akt der Ungerechtigkeit ist, sondern weil dies die Funktionsfähigkeit der Institution Strafrecht zerstören würde, - aber eben auch nur deshalb187. Das Phänomen der sittlichen Norm wird durch den Normenutilitarismus grundsätzlich inadäquat interpretiert. Der moderne, von J. Bentham begründete Utilitarismus stammt denn auch aus dem Interesse an einer effizienten Sozialgesetzgebung. - Einen grundsätzlichen Normenutilitarismus vertritt gerade die für die moderne Sozialphilosophie entscheidend gewordene Position von Thomas Hobbes. Hier gibt es die Unterscheidung „gerecht" und „ungerecht" überhaupt erst aufgrund der normativen Unterscheidungen der positiven Gesetze, d.h. sofern es eine gesetzgebende Zwangsgewalt gibt188. Handlungen sind gut oder schlecht dadurch, dass sie mit der Gesetzesnorm übereinstimmen. Die

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Vgl. II-II, q. 120, a.l. Vgl. als typisches Beispiel R. Brandt, Einige Vorzüge einer bestimmten Form von Regelutilitarismus, in: O. Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte, München 1975, S. 133-162; sowie: J. Rawls, Zwei Regelbegriffe, ebd. S. 96-120. (Beide Autoren haben später ihre Positionen wesentlich verändert bzw. modifiziert, was hier aber nicht von Belang ist.) Vgl. B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, a. a. O. S. 290 f. Zur Kritik: M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, S. 308 f.; und: Menschliches Handeln und seine Moralität. Zur Begründung sittlicher Normen, in: M.Rhonheimer, A. Laun, T. Goritschewa, W. Mixa, Ethos und Menschenbild. Zur Überwindung der Krise der Moral, St. Ottilien 1989, S. 76 ff. Es gibt auch Handlungsutilitaristen wie J. J. C. Smart, die einen Justizmord durchaus zu rechtfertigen gewillt sind; vgl. von ihm: An outline of a system of utilitarian ethics, in: J. J. C. Smart and B. Williams, Utilitarianism for and against, Cambridge 1973, S. 3-74; vor allem S. 69 ff. Vgl. T. Hobbes, Leviathan, Kap. 15.

3 . SITTLICHE NORMEN

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Gesetzesnorm jedoch selbst ist wiederum nur durch ihre Nützlichkeit zur Wahrung des Friedens legitimiert. Der richtige Kern von Hobbes' Theorie ist die Herausarbeitung der Logik der Normativität positiver Gesetzlichkeit und des dazu nötigen staatlichen Gewaltmonopols. Zugleich hat er jedoch in verhängnisvoller Weise die Logik sittlicher Normativität total der ersteren untergeordnet189.

Ethiken, die sittliche Normativität gemäß dem Muster von Gesetzesnormativität verstehen, sind entweder extrem legalistisch und konventionalistisch, oder aber - nur das andere Extrem - sie betrachten sittliche Normen lediglich als „Artefakte"190, als eine Art Entlastungsinstitutionen191 oder Faustregeln, die grundsätzlich durchbrochen werden können. Das Gegenteil wird dann, auf dieser Grundlage des Normenverständnisses, als Legalismus gebrandmarkt, wobei allerdings ein legalistisches Normenverständnis eher auf Seiten dieses Anti-Legalismus anzutreffen ist192. Freilich entspringen auch gemäß diesen Ethiken Normen nicht einfach der Beliebigkeit; denn menschliches Handeln - so wird betont - unterliegt ja naturalen und sozialen Bedingtheiten und Sachzwängen, innerhalb deren jeweiliger Unbeliebigkeit menschliches Handeln durch Normen vernünftig zu regeln ist (für die Einschränkung der Beliebigkeit der Veränderung solcher Unbeliebigkeiten können dann allerdings keine Normen mehr formuliert werden). Diese Vernünftigkeit ist jedoch eine solche, die Normen als konstitutive Regeln für die Vernünftigkeit bzw. sittliche Richtigkeit von Handlungen betrachtet. Normen sind hier vernünftig, weil und insofern man mit ihnen etwas Gutes erreicht. Und Sittlichkeit - als Befolgung von solchen Normen oder Regeln - besitzt dann keinen anderen Zweck, als dieses Gute zu erreichen. „Moralisch handeln" muss sich hier also selbst noch einmal als nützlich rechtfertigen. Sittliche Normen und ihre Vernünftigkeit hingegen sind in Wirklichkeit gar keine konstitutive Regeln. Konstitutive Regel für die Richtigkeit menschlicher Handlungen ist vielmehr die praktische Vernunft, insofern sie - zunächst „von Natur aus" - das für den Menschen Gute und entsprechende Typen intentionaler Handlungen aufzeigt. Sittliche Normen sind dann lediglich nachträgliche sprachliche Formulierungen der Prinzipien der praktischen Vernunft d.h.: der Ordnung der sittlichen Tugend, die eine Ordnung und Struktur der Vernünftigkeit ist, die sich wiederum auf Arten intentionaler Handlungen bezieht und immer auch menschliche Identität zum Ausdruck bringt. Dann aber gilt im Unterschied zur Gesetzesnorm: Sittliche Normen erheben Anspruch auf Geltung, weil sie ausdrücken, dass eine bestimmte Handlungsweise zu einer Tugend gehört oder einer Tugend - und damit auch der menschlichen Natur - entgegengesetzt ist. Wenn wir eine sittliche Norm „befolgen", so befolgen wir nicht eine zweckmäßige Regel, sondern wir vollziehen den Akt einer Tugend, d.h. wir intendieren und wählen einen bestimmten Aspekt des für den Menschen Guten, des für mich oder andere Angemessenen, Gerechten usw. Der Ausdruck „eine Norm befolgen" ist nur eine Art, um über diese Tatsache zu sprechen: In Wirklichkeit sprechen wir dabei gar nicht über Normen, sondern wir sprechen in normativer Weise über Tugenden; und in Wirklichkeit (sofern wir einigermaßen normal sind) befolgen

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Dazu M. Rhonheimer, „Autoritas non veritas facit legem": Thomas Hobbes, Carl Schmitt und die Idee des Verfassungsstaates, a. a. O. 190 Der Ausdruck stammt von W. Korff, Norm und Sittlichkeit, a. a. O. S. 9. 191 So bei F. Furger, Einführung in die Moraltheologie, Darmstadt 1988, S. 97 ff. 192 Z.B. W. Korff, Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985, S. 13 f.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

wir auch keine Normen oder Regeln, sondern wir wählen und vollziehen gute oder schlechte Handlungen. Wer eine auf der Straße aufgefundene prall gefüllte Brieftasche seinem Besitzer zurückgibt oder sie ins Fundbüro bringt, tut dies nicht, um die Regel zu erfüllen, man solle aufgefundene Wertsachen ihrem Besitzer zurückgeben oder ins Fundbüro bringen, sondern um der betreffenden Person ihr Eigentum zurückzugeben bzw. ihr dabei behilflich zu sein, es zurückzuerhalten. Auch wenn der Finder vor der Versuchung steht, sich den Inhalt der Brieftasche anzueignen und sich dann das Gewissen meldet mit der Erinnerung an die Regel, „Man soll gefundenes Eigentum anderer an seinen Besitzer zurückgeben oder es ins Fundbüro bringen", so wird er diese Regel nicht mit der Absicht befolgen, diese Regel zu befolgen (aus Gründen x, y,...), sondern um das zu tun, was durch die Regel als „gut" und „richtig" ausgedrückt wird. Ein Regelutilitarist hingegen müsste das von der Regel Gebotene gerade mit der Absicht tun, die Regel zu erfüllen, denn er ist überzeugt, dass die Regel gerade zum Ausdruck bringt, dass durch ihre Befolgung bestimmte wünschenswerte Folgen bewirkt werden, die gerade begründen, warum die Regel gilt und eine moralische Norm ist. Deshalb wird man die Regel mit der Absicht befolgen, die Regel zu befolgen, dies allerdings um der weiteren Absicht willen, die durch die Befolgung der Regel bewirkten Konsequenzen herbeizuführen (die Regelbefolgung ist also das Mittel, um das zu erreichen, wozu die Regel eigentlich aufgestellt wurde). Diese Art von praktischer Überlegung stimmt freilich nicht ganz mit unseren normalen moralischen Intuitionen überein, was aber kein Argument gegen die hier vorgetragene Charakterisierung des Regelutilitarismus ist, sondern vielmehr ein Argument dafür, dass der Regelutilitarismus unsere gesunden moralischen Intuitionen und den moralischen Common sense nicht adäquat zu rekonstruieren vermag193. Somit kann also bei der „Befolgung sittlicher Normen" auch nicht das Regelverhalten (die Übereinstimmung mit der Norm) das Gut- oder Richtigsein einer Handlung begründen; „gut" oder „richtig" kann allein der Vollzug (oder nicht-Vollzug) jener einzelnen Handlungen genannt werden, die unter die Norm fallen und über deren Güte oder Schlechtigkeit die Norm eben nur eine Aussage macht. Eine sittliche Norm beinhaltet also das praktisch Gute (das Vollziehen von Akten einzelner Tugenden bzw. das Unterlassen von Akten, die ihnen entgegengesetzt sind); nicht aber ist eine sittliche Norm eine Regel, die ein bestimmtes Regelverhalten als richtig festsetzt, weil (erfahrungsgemäß oder voraussichtlich) durch dieses Verhalten bestimmte wünschenswerte Zustände, Sachverhalte oder Ereignisse verursacht würden. Aus diesem Grund kann es hier auch nicht das Phänomen der Epikie oder der Ausnahme geben 194 . „Verträge soll man halten" ist, als sittliche Norm, Ausdruck eines Aktes der Gerechtigkeit. Wir meinen nicht, das Einhalten von Verträgen sei deshalb richtig, weil das Befolgen der Norm „Verträge soll man halten" zweckmäßig ist - etwa aus dem Grund, weil

193 Dies, wie bereits gesagt, unbeschadet der Tatsache, dass es tatsächlich auch Regeln gibt, die um ihrer wünschenswerten Folgen willen aufgestellt und befolgt werden (z.B. Verkehrsregeln, Verfahrensregeln usw.). Sie sind aber keine moralischen Normen, obwohl wiederum unter eine moralische Norm fallen kann, solche Regeln zu beachten (Verkehrs- und Verfahrensregeln nicht zu beachten ist ungerecht, leichtsinnig, unfair usw.). 194 Für das Gegenteil plädiert G. Virt, Epikie - verantwortlicher Umgang mit Normen. Eine historisch-systematische Untersuchung zu Aristoteles, Thomas von Aquin und Franz Suarez, Mainz 1983. Freilich setzt die Position Virts einen konsequent normenethischen Ansatz in der Ethik voraus.

3 . SITTLICHE NORMEN

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nur so die Praxis „Vertrag" als soziale Institution überhaupt bestehen kann (wieso das Bestehen dieser Praxis überhaupt wünschenswert ist, muss dann erneut begründet werden) wir meinen vielmehr, das Einhalten von Verträgen sei gerade deshalb richtig, weil dies ein Akt der Gerechtigkeit ist. Dagegen ließe sich einwenden, die obige regelutilitaristische Begründung sei doch gerade eine Begründung dafür, weshalb die Einhaltung eines Vertrages überhaupt ein Akt der Gerechtigkeit ist, und nicht dafür, weshalb man einen gerechten Akt wie das Einhalten von Verträgen vollziehen soll; das, so liefe der Einwand weiter, solle man selbstverständlich gerade deshalb, weil dieser Akt eben gerecht ist; die Unterscheidung sei also irrelevant. Bevor diesem Einwand begegnet wird (vgl. nächsten Abschnitt) ist festzuhalten: Die Ansicht, man solle Verträge einhalten, könne als Gerechtigkeitsnorm deshalb formuliert werden, weil das Einhalten eines Vertrages ein Akt der Gerechtigkeit ist, meint: Die Gerechtigkeit einer Handlung der Vertragstreue liegt in dieser Handlung selbst, und nicht in der Befolgung der Regel, unter die sie subsumiert wird. Es kann nämlich Fälle geben, in denen es kein Akt der Gerechtigkeit ist, einen Vertrag (oder ein Versprechen) zu halten. Dies kann jedoch nicht als Ausnahme von der Norm interpretiert werden: Denn die Norm bezieht sich ja nur auf Akte der Gerechtigkeit, so dass „Ausnahme" hier heißen würde, ausnahmsweise nicht das Gerechte zu tun. Sollte es also einmal der Gerechtigkeit entsprechen, einen Vertrag oder ein Versprechen nicht zu halten, so kann das nicht deshalb sein, weil hier die Befolgung einer Norm nicht dem Zweck der Norm entspricht, sondern weil die entsprechende Handlung gar nicht unter diese Norm fällt. Sie darunter zu subsumieren wäre hier ganze einfach eine falsche Zuordnung von Worten zu Sachverhalten, d.h. eine falsche Benennung. Übersieht man diesen grundsätzlichen Unterschied zwischen praktischen Prinzipien (Zielstruktur der Tugenden) und Formulierungen sittlicher Normen als ein Sprechen über diese Prinzipien (und die ihnen entsprechenden Tugenden) dann entstehen oft Scheinprobleme und Schwierigkeiten, wie z.B. die sogenannten „Pflichtenkollisionen", die dann zu einer eigentlichen „Grenzfallethik" führt, eine geradezu vorherrschende Tendenz, Ethik nicht als Lehre vom guten und glücklichen Leben zu begreifen, sondern als eine Theorie dafür, wie „moralische Problem", Perplexitäten, „puzzling cases" usw. gelöst und entschieden werden können195. Sogenannte „Pflichtenkollisionen" sind jedoch oft, wenn auch nicht immer, lediglich auf die Art zurückzuführen, wie wir über unsere Pflichten sprechen196. Darauf ist nun noch näher einzugehen. c) Normen und Handlungsbeschreibungen; Normenutilitarismus und Tugendethik Die im vorhergehenden Abschnitt herausgearbeiteten Unterscheidungen mögen zunächst als irrelevante Spitzfindigkeit erscheinen. In Wirklichkeit aber reflektiert das Gesagte zwei alternative Auffassungen von menschlichem Handeln und Moral. Diese Auffassungen können wie folgt beschrieben werden: 195

196

Eine gerechtfertigte und anregende, wenn auch in den Lösungsvorschlägen nicht befriedigende Kritik bietet E. L. Pincoffs, Quandaries and Virtues. Against Reductivism in Ethics, Lawrence, Kansas 1986 (vor allem Kap. 2: „Quandary Ethics"). Vgl. den Art. „Pflichtenkollision" von M. Forschner in: O. Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 3. Aufl. München 1986, S. 192-193. Pflichtenkollisionen werden hier als „Normenkonflikt" dargestellt und dies führt dann zwangsweise auch dazu, die klassische Tugendethik als ein System „hierarchisch gestufter Güter- und Pflichtenordnung" zu verstehen (S. 193).

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

(1) Die erste ist diejenige einer Normenethik bzw. eines utilitaristischen Normenverständnisses (im Sinne des Regelutilitarismus). Dieser Konzeption gemäß beziehen sich Normen (als Regeln) auf bestimmte „äußerlich" beschreibbare Handlungsvollzüge. Diese werden identifiziert (a) aufgrund einer bestimmten Ereignisstruktur (z.B. sprachliche Äußerungen, Körperbewegungen), d.h. aufgrund der Ereignisse und Sachverhalte, die sich in ihrem Vollzug vorfinden und (b) aufgrund bestimmter Zustände, die solche Vollzüge zur Folge haben. Die sittliche „Richtigkeit" einzelner, in dieser Weise beschriebener Handlungsvollzüge bestimmt sich durch ihre Subsumtion unter eine Regel, wobei gilt: der Vollzug der betreffenden Handlung führt gerade unter der Bedingung der Einhaltung der Regel zu der insgesamt optimalen Folgenbilanz. In diesem Sinne konstituiert also die Regel eine sittliche Norm. Das heißt: Erst die Norm, unter die einzelne Handlungsvollzüge subsumiert werden, verleiht diesen Vollzügen als einzelne ihre moralische Identität als sittlich „richtige" und vernünftige Handlungsweisen. So ist dann ein „Versprechen" eine bestimmte Form von sprachlicher Äußerung, mit der der Sprechende einem anderen in die Lage versetzt, sicher zu sein, dass das in der sprachlichen Äußerung Enthaltene vom Sprechenden getan werden wird (Handlungsbeschreibung). In Bezug auf diesen Vollzug kann dann eine Norm formuliert werden: „Man soll Versprechen halten", und zwar weil man der Meinung ist, dass es insgesamt für das menschliche Zusammenleben am besten ist, dass Menschen sicher sein können, ihre Mitmenschen würden auch immer tun, was sie versprechen. „Versprechen soll man einhalten" ist also dieser Auffassung gemäß eine vernünftige Norm, weil ihre Einhaltung die gute Folge der Aufrechterhaltung der Praxis „Versprechen" bewirkt. Die Richtigkeit des einzelnen Vollzugs „Versprechen-halten" (als Akt der Gerechtigkeit) wird hier überhaupt erst durch die Norm (und ihre Nützlichkeit) begründet (es gibt hier keinen Grund, den einzelnen Akt „Halten eines Versprechens" als „in sich" gut oder gerecht zu bezeichnen, d.h. als Akt der Gerechtigkeit und des Wohlwollens gegenüber einer konkreten Person). Wenn aber einmal voraussichtlich die üblen Folgen des Einhaltens eines Versprechens überwiegen, dann könnte es allerdings ebenso richtig sein, sich nicht an die Norm zu halten (ihre Befolgung wäre dann nicht mehr zweckmäßig). D.h. es wäre richtig, von der Norm eine Ausnahme zu machen. Es gibt allerdings Regelutilitaristen, die solche Ausnahmen wiederum prinzipiell als illegitim betrachten, weil sie der Meinung sind, dass die Folgen der ausnahmslosen Einhaltung einer Regel insgesamt besser sind, auch dann, wenn die Einhaltung einer Regel im Einzelfall zu unerwünschten Folgen führt. Dann wird der Regelutilitarismus zu einem extremen Konventionalismus, der dann auch prompt von anderen Utilitaristen als „Regelfetischismus" (Smart) bezichnet wird. Solche extreme Regelutilitaristen vertreten also die Auffassung, Normen seien zwar utilitaristisch zu begründen, die konkreten Handlungsurteile des Handelnden hingegen dürften gerade nicht utilitaristisch sein; im Handeln gehe es vielmehr darum, zweckmäßige Regeln zu befolgen. Die Eigenart dieser Normenethik besteht also darin, dass sie Normen auf Handlungen bezieht, die in ihrer physischen Verlaufsstruktur, ihrer rein naturalen Ereignisstruktur beschrieben werden, aber nicht auf Handlungen in ihrer moralisch-intentionalen Identität. Vielmehr sind es die Normen selbst erst, die diese Identität konstituieren; im Falle der Ausnahme von der Norm ist es das entsprechende konsequentialistische Handlungsurteil (Folgekalkül, zumeist eine Güterabwägung). Aber Normen sind hier ja selbst nur konsequentialistisch begründet. Und deshalb kann eine Norm eine Ausnahme erfahren, insofern die Folgen ihrer Anwendung im konkreten Fall sich als schlecht erweisen. Deshalb kann dann prinzipiell jede Handlungsweise aufgrund der Umstände sittlich gerechtfertigt werden, auch

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jene, die für den Regelfall durch eine Norm ausgeschlossen werden. Diese Auffassung beruht also auf der Übertragung der Logik der positiv-gesetzlichen Normierung auf den Bereich der Normierung sittlicher Handlungen und ihr entspricht dasselbe Handlungsmodell, dem wir bereits früher (III,3,c) begegneten: ein Modell, das Handlungen in einen beobachtbar-ereignishaften und einen intentionalen Bestandteil aufsplittert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich nun das eben skizzierte Verständnis objektiver Identität von Handlungen nicht wesentlich von jenem, das in der früheren neuscholastischen Moraltheologie geläufig war. Im früher weitverbreiteten Handbuch von D. Prümmer197 beispielsweise finden wir die Aussage, die Handlung „einen Menschen töten" bestehe aus zwei Komponenten: Zunächst aus ihrem esse physicum („includit et vires physicas, quae causaverunt occisionem, et ipsum effectum physicum occisionis": physisches Aktgeschehen, bestimmte Körperbewegungen und ihre tödliche Wirkung); und zweitens aus ihrem esse morale, das jene Eigenschaft sei, durch welche die Handlung (also eigentlich das vollzogene physische Geschehen mit seiner Wirkung) im sittlichen Sinne gut (erlaubt) oder schlecht (unerlaubt) werde. Diese Eigenschaft, so Prümmer, entstammt einer „transcendentalis relatio humani actus ad normam moralitatis", einer „transzendentalen Beziehung der menschlichen Handlung zur sittlichen Norm". Eigenartig, bezeichnend und entscheidend ist hier, dass gerade die menschliche Handlung als ein ausschließlich auf der „physischen" Ebene situierter Vollzug beschrieben wird; der Bezug zur Ebene der Moralität wird hier handlungstheoretisch lediglich hinzugedacht als die Beziehung zu einer Norm, scheint also mit der Handlung als solcher noch gar nichts zu tun zu haben. Die Moralität der Handlung - konstituiert durch die Relation zur „norma moralitatis" - bleibt somit der Handlung selbst völlig äußerlich: Die Moralität wird durch die Norm erst konstituiert (und deshalb tritt nun verständlicherweise der Begriff des „moralischen Gesetzes" als Norm in den Vordergrund, und schließlich der Begriff Gottes als Gesetzgeber, und zwar dergestalt, dass ohne solche begriffliche Verankerung alle Moralität und Normativität ins Nichts versänken). Prümmer räumt ein, dass sich soweit alle Autoren einig sind; Uneinigkeit herrsche nur darüber, worin denn nun diese „norma moralitatis" genau bestehe. Die heutige „teleologische Ethik" bzw. der Konsequentialismu ist letztlich nur eine weitere Position in dieser alten Diskussion. Sie unterscheidet sich von ihren Vorläufern dadurch, dass sie einen utilitaristischen Normbegriff verwendet, der, das darf man einräumen, im Rahmen einer Normenethik tatsächlich leistungsfähiger ist. (2) Die zweite Auffassung ist diejenige einer Tugend- oder Prinzipienethik („Prinzipien" verstanden als Ziele der Tugenden). Ihr gemäß sind Normen, wie gesagt, lediglich Formulierungen der objektiven sittlichen Richtigkeit oder Falschheit, der Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit von Handlungsweisen. Dabei beziehen sie sich nicht auf die physische Verlaufs- oder Ereignisstruktur von Handlungsvollzügen, sondern auf intentionale BasisHandlungen (s. III,2,a). Mithin müssen Handlungen, auf die sich solche Normen beziehen, als intentionale Handlungen beschrieben werden. Sittliche Normen sind normative Aussagen über intentionale Handlungen, d.h. Aussagen im Modus des Sollens („p soll man tun"/„soll man nicht tun"; „p soll man nie tun"; was wiederum formuliert werden kann als: „p ist gut/schlecht", „p ist immer" oder „in sich schlecht"; usw.). Und somit gilt auch: Nur jene Handlungen, aufweiche die intentionale Beschreibung zutrifft, aufgrund derer die Norm formuliert wurde, können auch unter die entsprechende Norm fallen, bzw. nur in diesem Fall ist die Norm auch eine adäquate normative Aussage über diese Handlung. Aber wenn eine kon-

197 D. M. Prümmer, Manuale Theologiae Moralis secundum principia S. Thomae Aquinatis (1915), 15. Aufl., Freiburg i. Br. 1961,1, Nr. 99: „De natura et divisione moralitatis", S. 67 f.

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krete Handlung unter eine Norm fällt, dann kann ihre objektiv-intentionale Identität durch weitere Umstände oder Folgen nicht verändert werden. Das heißt, die Norm gilt. Zum Beispiel: Wir beschrieben oben ein Versprechen als „eine bestimmte Form von sprachlicher Äußerung, mit der der Sprechende einen anderen in die Lage versetzt, sicher zu sein, dass das in der sprachlichen Äußerung Enthaltene vom Sprechenden getan werden wird". Nun ist aber „Ich verspreche dir, dass ich dich morgen umbringen werde" zwar eine Äußerung, die beim Angesprochenen sichere Erwartung hervorruft; es handelt sich jedoch dabei nicht um ein Versprechen, sondern um eine Drohung oder Mitteilung einer Absicht. Oder: „Ich werde morgen um neun Uhr mit dem Zug ankommen" versetzt den Angesprochenen ebenfalls in die Lage, sicher zu sein ... usw., ist aber auch nur eine Mitteilung. „Jemanden in die Lage versetzen, sicher zu sein ..." ist demnach gar nicht die Beschreibung eines Versprechens, sondern nur die Beschreibung der Verursachung eines (psychischen) Sachverhaltes durch einen Sprechakt. Man könnte in allen Fällen auch sagen „Du kannst dich darauf verlassen, dass ich ...". Die Verursachung dieses Sachverhaltes kann aber unter ganz verschiedene intentionale Beschreibungen fallen, d.h. es kann ganz Verschiedenes damit gemeint sein In der Terminologie der von J. L. Austin und J. R. Searle begründeten modernen Sprechakttheorie sie zeigt, wie wir mit unserer Sprache nicht nur Aussagen über Sachverhalte machen, sondern jeweils auch etwas tun - ist zu unterscheiden zwischen dem propositionalen Gehalt eines Sprechaktes (z.B. die Tatsache, dass ich morgen mit dem Zug ankommen werde) und seiner „illokutionären" Rolle, die nicht darin besteht, was hier gesagt, sondern was mit dem Sagen getan wird, z.B. ein Akt des Warnens, oder Versprechens. „Der Hund ist bissig" kann eine Warnung sein oder (als vom Verkäufer an Kunden gerichtete Aussage) eine Information oder ein Versprechen (weil der Kunde einen bissigen Wachhund kaufen will). Der Satz kann aber auch eine einfache Aussage über einen Sachverhalt sein, oder aber eine Erwartung ausdrücken. Mit dem oben verwendet Ausdruck, es könne mit dem Satz „Du kannst dich darauf verlassen ..." ganz verschiedenes gemeint sein, geht es also um verschiedene mögliche illokutionäre Rollen dieses Satzes.

„Du kannst dich darauf verlassen, dass ich morgen um neun Uhr mit dem Zug ankommen werde" könnte ein Versprechen sein, es kann sich aber auch um eine Drohung handeln. Entscheidend ist gerade: Was heißt „ ich verspreche dir, morgen um neun Uhr mit dem Zug anzukommen?" Es heißt eben, den anderen auf eine ganz bestimmte Weise „in die Lage zu versetzen sicher zu sein, dass...", nämlich dadurch, ihm einen Anspruch d.h. ein Recht darauf zu verleihen. Die „Sicherheit" gründet hier also in der Erwartung, dass der Sprechende im Rahmen des Zumutbaren der Gerechtigkeit entsprechen wird. Das erst ist die intentionale Identität der Handlung „etwas versprechen" und auf sie bezieht sich die Norm „Versprechen soll man halten". Wenn eine Person A einer Person B verspricht, x zu tun, so besteht also das intentionale „Wozu?" dieser Handlung darin, eine Gerechtigkeitsbeziehung zwischen A und B in Bezug auf A's x-Tun herzustellen. Die Einhaltung des Versprechens (x-Tun) ist demnach ein Akt der Gerechtigkeit. Keine Person A kann deshalb einer Person B ein Recht darauf verleihen, dass er, A, eine Ungerechtigkeit begehen werde. Denn keine Person B kann ein Recht darauf beanspruchen, dass A Ungerechtes tut. Folglich ist ein Versprechen, wissentlich eine ungerechte Handlung zu vollziehen, bereits eine ungerechte Handlung und damit der Tugend der Gerechtigkeit entgegengesetzt. Die Nichteinhaltung eines solchen Versprechens - z.B. weil man den Fehler einsieht - ist deshalb Unterlassung einer ungerechten Handlung d.h. ein Akt der Tugend der Gerechtigkeit. Deshalb kann es also nicht ungerecht sein, das Versprechen nicht zu halten.

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Falls man irrtümlicherweise etwas Ungerechtes verspricht und man es vorzeitig merkt, so merkt man, gar nicht getan zu haben, was man eigentlich wollte: In Bezug auf den anderen eine Gerechtigkeitsbeziehung herzustellen. Trotzdem das Versprechen einzuhalten, wäre natürlich ein Akt der Ungerechtigkeit, worauf der andere keinen Anspruch erheben kann; je nachdem besitzt er höchstens Anspruch auf Entschädigung für Folgeschäden. In keinem dieser Fälle ist die Nichteinhaltung eines Versprechens eine Ausnahme von der Norm oder gefährdet sie die Institution „Versprechen". Im Gegenteil, sie wird gestärkt. Wieder anders ist es, wenn das Versprochene erst nachträglich, durch die Veränderung der Umstände, zu einer Ungerechtigkeit wird. Wenn ich meinem Freund verspreche, ihm das ausgeliehene Jagdgewehr morgen zurückzuerstatten, er aber unterdessen den Kopf verloren hat und die Zurückerstattung voraussichtlich zu einem Blutbad führen würde, so wäre die Zurückerstattung soviel wie Beihilfe zum Mord. In diesem Fall sind gleich zwei Normen betroffen: „Geliehenes soll man zurückerstatten" und „Versprechen soll man halten". Beides sind Normen der Gerechtigkeit: Ihre intentionale Identität besteht darin, dem anderen das ihm Zustehende (sein Recht) zu geben. Die Zurückerstattung wäre nun aber kein Akt der Gerechtigkeit mehr; sie fällt aus dieser intentionalen Identität gleichsam heraus. Die Nichtzurückerstattung kollidiert demnach auch mit keiner der beiden Normen, denn beide beziehen sich ja auf Akte der Gerechtigkeit; und die Nichtzurückerstattung ist hier gerade ein Akt der Gerechtigkeit. Man könnte einwenden, hier werde, was gerecht ist, ja nun ebenfalls einfach aufgrund vorausgesehener Folgen beurteilt. Das ist zwar nicht falsch, aber kein Einwand. Denn die Ungerechtigkeit der Zurückerstattung begründet sich aufgrund einer Folge und nicht aufgrund der (aller) voraussichtlichen Folgen. Diese eine Folge verleiht der Handlung ihre objektiv-intentionale Identität, d.h. sie hebt den Rechtsanspruch des anderen auf. Sie zeigt, dass die Handlung der Zurückerstattung die Handlung „einem potentiellen Mörder eine Waffe in die Hand geben" wäre, wie wenn die Waffe gar nicht ihm gehörte. Die Berücksichtigung der Folge entspricht hier also nicht einem Folgenkalkül, sondern einem Urteil darüber, ob der Betreffende überhaupt noch ein Recht auf Zurückerstattung habe. Das setzt nun aber gerade eine nicht-konsequentialistische Auffassung der Norm „Geliehenes soll man zurückerstatten" voraus198.

Die beiden oben angeführten Beispiele sind freilich unverfänglich, und auch mit einer normenutilitaristischen Argumentation würde man wohl in der Praxis zum gleichen Ergebnis kommen (weil sie vermutlich die gleiche Folge als die allein ausschlaggebende betrachten würde). Der Unterschied wird erst richtig deutlich bei der Frage, ob es Handlungsweisen gibt, die trotz übler Folgen unter allen Umständen zu unterlassen sind. Normenutilitaristisch könnte man nämlich nie begründen, dass die Verurteilung eines Unschuldigen prinzipiell nie - unabhängig von anderen Erwägungen - gerechtfertigt sein kann. Denn diese Ethik fragt nicht danach, ob eine solche Handlung in sich (objektiv) ungerecht wäre, sondern nur, ob die Folgen der Einhaltung oder jene der Nichteinhaltung der Norm „man soll Unschuldige nicht verurteilen" besser sind. Wenn man dann, wie Bruno Schüller, trotzdem zur Auffassung kommt, man dürfe einen Unschuldigen deshalb nicht verurteilen, damit der Bestand der Institution „Strafrecht" nicht gefährdet werde, so ist hier das Argument gegen die Verurteilung eines Unschuldigen

198

Dazu auch M. González, Depositum gladius non debet restituí furioso: Virtues in Saint Thomas Aquinas, a. a. O.

Precepts, Synderesis, and

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nicht die Tatsache, dass die Handlungsweise in sich ungerecht wäre, sondern ausschlaggebend ist allein das Kalkül, dass die NichtVerurteilung insgesamt die bessere Folgenbilanz aufweist. Was geschieht aber, wenn es einmal voraussichtlich nicht so sein sollte oder wenn es gelänge, eine Strafrechtspraxis einzuführen, die gegen solche Gefährdungen resistent ist?199 Gemäß einer Tugendethik wiederum kann man begründen, dass die Wegnahme des Besitzes eines anderen dann kein Diebstahl (keine Ungerechtigkeit) ist, wenn der „Wegnehmende" in einer extremen Notsituationen zur Selbsterhaltung keine andere Möglichkeit besitzt (sog. „Mundraub"), und zwar, weil in einem solchen Fall niemand ein Recht auf seinen Besitz hat. Es handelt sich dann objektiv-intentional gar nicht um einen Diebstahl, sondern um einen bloßen Akt der Selbsterhaltung200. Vom Besitzer her gesehen wäre es schlicht ungerecht, in einer solchen Situation Eigentumsrechte geltend zu machen, die genau in dem Maße, wie sie mit schierer Selbsterhaltung des „Diebes" kollidieren, als nicht existent betrachtet werden müssen201. Eine normenutilitaristische Ethik hingegen wird grundsätzlich (auf der Ebene physischer Handlungsvollzüge und -ereignisse, also nicht-intentional) Diebstahl als „Wegnehmen des Eigentums anderer" beschreiben, und behaupten müssen, Mundraub sei nun eine Ausnahme von der Norm „Man darf nicht stehlen", weil die Folgen der Einhaltung der Norm hier insgesamt schlechter seien, als ihre Nichtbefolgung (Güterabwägung aufgrund einer Pflichten- oder Normenkollision). Das Ergebnis ist zwar dasselbe, die zweite Argumentationsweise ist aber in ihrer Struktur problematisch und führt dazu, dass man nun dafür plädieren wird, es könne überhaupt grundsätzlich gerechtfertigt sein zu stehlen, vorausgesetzt die Folgen des Diebstahls seien insgesamt besser als jene der Respektierung des Eigentums (d.h. konkrete Handlungsurteile implizierten überhaupt immer eine Güterabwägung; und auch Normen kämen durch eine solche zustande, d.h. formulierten eine Abwägung, die in der Regel die richtige sei; erst im Kollisionsfall bräuchte eine neue Abwägung vorgenommen zu werden). Deshalb bleiben dann letztlich als einzig immer und für alle Fälle gültige Normen nur noch tautologische Formulierungen der Art „man soll nie ungerechterweise, d.h. ohne angemessenen Grund", stehlen bzw. töten, eine Falschaussage machen usw. Freilich: Es gibt viele Entscheidungen, die man aufgrund von Güterabwägungen und Folgenkalkülen treffen muss, vielleicht sogar die Mehrzahl. Besonders gilt dies für Entscheidungen in einem größeren sozialen Zusammenhang (Sozial-, Wirtschafts-, Wissenschafts-, Forschungspolitik usw.). Aber entsprechende Handlungsmöglichkeiten werden eben gerade aus moralischen Gründen eingeschränkt, nämlich durch die Bedingung, dass sie mit der fundamentalen „Richtigkeit des Strebens" auf der Ebene der konkreten Wahlakte zusammenstimmen (vgl. auch unten, 4,f und g). Hier gibt es demnach negative Verantwortlichkeiten, die wir in den sogenannten absoluten Handlungsverboten zu formulieren pflegen. Güterabwägung und Folgenkalküle sind hier gerade ausgeschlossen. 199 200 201

Vgl. H.J. McCloskey, A Note on Utilitarian Punishment, in: Mind 72 (1963), S. 599. Vgl. II-II, q. 66, a. 7. In der Tatsache, dass auch hier das Wort „Dieb" benutzt werden muss (wenn auch absichtlich in Anführungszeichen), zeigt sich die Beschränktheit unserer Sprache bzw. ihre oftmalige Unangemessenheit, moralische Phänomene genau zum Ausdruck zu bringen. Dies führt dazu, dass wir im Sprechen über sittliche Handlungen gerade in solchen Fällen gerne von „Ausnahmen" sprechen. Bei genauerer Betrachtung liegt der Ausnahmecharakter nur auf der Ebene der Sprache. So meinen wir dann, ein solcher „Diebstahl" sei eigentlich „in diesem konkreten Fall" und „ausnahmsweise" gar keiner. Leider wird mit diesem Phänomen sprachlicher Unzulänglichkeit, oft

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d) Absolute Handlungsverbote. Töten und Lügen Wie bisher ausgeführt wurde, gründen normenutilitaristische und Tugendethik auf zwei grundsätzlich verschiedenen Auffassungen darüber, was menschliches und sittliches Handeln ist. Darauf wird später eingehender zurückzukommen sein (vgl. 4,c und f). Im Zusammenhang der Begründung von Handlungsnormen wird dieser Unterschied jedoch oft gar nicht sichtbar, weil - trotz unterschiedlicher Begründungsstruktur - das Ergebnis dasselbe ist. Es wurde jedoch bereits angedeutet, dass es Fälle gibt, bei denen der Unterschied deutlich zu Tage tritt, nämlich bei den absoluten Handlungsverboten, den ausnahmslos geltenden Verbotsnormen. Verbotsnormen besitzen handlungslogisch andere Eigenschaften als Normen, die positiv etwas zu tun gebieten. Als Beispiel seien zwei Normen genannt, die eigentlich identisch sind, aber in ihrer positiven bzw. negativen Formulierung die verschiedene Normierungslogik zu veranschaulichen vermögen: „Man soll immer die Wahrheit sagen!" bedeutet nicht, dass ein Unterlassen der Handlung „Die Wahrheit sagen" schon ein Verstoß gegen die Norm ist; die Norm besagt nur, dass wenn man etwas sagt, dann soll es der Wahrheit entsprechen. Man darf aber auch einfach nichts sagen. Die Norm schreibt also nicht vor, immer und unter allen Umständen die Handlung zu vollziehen, die sie gebietet; man kann sie auch unterlassen. Die Handlungsnormierung positiv formulierter Normen ist also nicht „absolut", d.h. nicht für alle Fälle einschlägig. Sie vermag als Universal-Positives noch nicht, das Handeln in einer konkreten Situation abschließend zu normieren. Eine (negativ formulierte) Verbotsnorm hingegen: „Man soll nicht lügen" (d.h. „man soll nie etwas sagen, was nicht der Wahrheit entspricht!") normiert absolut. Zu unterlassen, was diese Norm vorschreibt, d.h. die von ihr vorgeschrieben Unterlassung (des Lügens) zu „unterlassen" - also die Handlung auszuführen, die sie verbietet - ist in jedem Fall ein Verstoß gegen die Norm. Das Universal-Negative vermag also Praxis in ihrer situationsgebundenen Partikularität abschließend zu normieren, d.h. ausnahmslose Gültigkeit zu besitzen.

Unter einem absoluten Handlungsverbot verstehen wir näherhin eine Norm, die besagt, eine als intentionale Handlung beschreibbare, konkrete Handlungsweise - d.h. ein bestimmter Typ intentionaler Basis-Handlung - sei immer (unter allen Umständen) zu unterlassen, was auch formuliert werden kann mit dem Ausdruck, die betreffende Handlungsweise sei „ in sich schlecht". Gebräuchlich ist auch der Ausdruck „innerlich schlecht" (intrinsece malum). Diese etwas zweideutige Formulierung besitzt den Nachteil, dass „innerlich schlecht" eigentlich im Gegensatz zu „äußerlich" oder „von außen her schlecht" (extrinsece malum) steht. So gesehen wäre der Begriff der „innerlich schlechten" Handlung identisch mit demjenigen der Handlung, die schlecht ist, nicht weil sie verboten ist, sondern die verboten ist, weil sie schlecht ist. In diesem Sinne wäre dann aber eigentlich jede sittlich schlechte Handlung auch innerlich schlecht d.h. schlecht aufgrund ihres eigenen unsittlichen Wesens, und nicht - wie linksfahren oder freitags Fleisch essen - nur aufgrund entsprechender bürgerlicher oder kirchlicher Gesetze. So verstanden erweist sich aber der Ausdruck „in sich schlechte Handlungen" für die ethische Analyse als wenig hilfreich und eigentlich überflüssig. Sinnvollerweise ist mit dem Ausdruck intrinsece malum bzw. den „in sich" schlechten Handlungen eher eine Handlung gemeint, die wir als schlecht bezeichnen unabhängig von hinzukommenden weiteren Faktoren bzw. Absichten. Dies im Unterschied zu einer Handlung,

auch durch Moraltheologen, nicht wenig Missbrauch betrieben, wenn sie behaupten, es könne keine ausnahmslos gültige moralische Normen geben.

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die - um ein klassisches Beispiel zu verwenden - wie Almosengeben für sich betrachtet (und in diesem Sinne eben „in sich") gut ist, aber etwa um eitler Ruhmsucht willen betrieben zusätzlich oder nachträglich zu einer schlechten Handlung wird. In diesem Sinne würde man auch sagen, einen Unschuldigen töten sei schon „in sich" eine schlechte Handlung, unabhängig von weiteren möglichen, sogar löblichen Absichten. Irreführend wäre die Ansicht, mit dem Ausdruck „in sich schlechte Handlung" sei gemeint, die betreffende Handlung sei „in sich" im Sinne von „an sich schon, ganz unabhängig vom Willen des Handelnden" schlecht. Denn das „in sich Schlechte" definiert nicht einen Bereich subjektunabhängiger Objektivität, dem dann das subjektive Wollen oder Intendieren entgegengestellt würde (etwa im Sinne der neuzeitlich-scholastischen Unterscheidung zwischenflnis operis undfinis operantis, „Zweck der Handlung" und „Zweck des Handelnden"). Ohne durch die Vernunft geformte Willensintention kann eine menschliche Handlung gar nicht beschrieben werden. Vielmehr meint die Rede von der „in sich schlechten Handlung", eine Handlung sei bereits auf der Ebene der in ihr implizierten BasisIntentionalität schlecht, unabhängig von weiter dazukommenden Absichten.

Warum aber ist das überhaupt so wichtig? Es ist wichtig, weil es bedeutet, dass es möglich ist, zumindest einige Handlungen bzw. Handlungsweisen abschließend zu beschreiben, die durch weitere Absichten nicht um-definiert bzw. neu-beschrieben werden können, dass also in solchen Fällen das Handlungsobjekt gegenüber weiteren, dazukommenden Absichten bzw. Folgenabschätzungen und entsprechende Erwartungen gleichsam resistent ist. Dies entspricht der von G. Patzig beschriebenen Common Sense-Intuition, „dass wir uns über weite Strecken in vollem Einklang mit der utilitaristischen Doktrin bewegen. Wir überlegen uns, was wohl bei einer bestimmten Handlungsweise herauskommen muss, und wenn uns das bedrohlich und unerfreulich scheint, so halten wir eine solche Verhaltensweise für moralisch unzulässig. (...) Trotzdem sind wir der Meinung, dass gewisse Handlungen auch ohne jede Berücksichtigung ihrer möglichen Folgen moralisch schlecht sind"202. Dieser Intuition kann man aber nur gerecht werden, wenn man annimmt, dass es Handlungsobjekte gibt, die gegen ein „UmDefinieren" und eine entsprechenden Neu-Beschreibung ihrer moralischen Identität durch weitere, hinzukommende löbliche Absichten bzw. das Voraussehen unerwünschter Folgen resistent bleiben. In seiner Aufzählung einiger „Laster der Tugendethik" nennt Robert Louden auch die Unfähigkeit der von ihm kritisch beleuchteten Tugendethik, „gewisse Handlungen auszuzeichnen, die absolut verboten sind", also Handlungsverbote zu begründen, „die ganz klar die Grenzen aufzeigen in Bereichen wie dem Töten Unschuldiger, sexuellen Beziehungen und der Rechtsprechung gemäß den jeweiligen Gesetzen und Bräuchen". Dabei sei an Handlungen zu denken, „die einen derartig großen Schaden anrichten können, dass sie den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören und es (zumindest zeitweise) verhindern, moralisch Gutes zu erreichen." Es geht hier also nicht nur um „schlechte", sondern um „unerträgliche" Handlungen („intolerable actions") 203 . Es mag zutreffen, das gewisse Formen heutiger virtue ethics solche absoluten Handlungsverbote nicht zu begründen vermögen, da sie die Richtigkeit von Handlungen einseitig von der Motivationsstruktur des Handelnden her und nicht auf Grund 202 203

G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, a. a. O., S. 60. (Hervorhebung nicht im Original). R. B. Louden, On Some Vices of Virtue Ethics, in: Crisp/Slote, Virtue Ethics, S. 201 ff. Hier zitiert nach der dt. Übersetzung: Einige Laster der Tugendethik, in: Rippe/Schaber (Hrsg.), Tugendethik, S. 185 ff.; hier: 195.

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der Charakteristik der Handlung selbst zu bestimmen suchen. Für klassische Tugendethik trifft das jedoch nicht zu. Aristoteles spricht sogar explizit von Handlungen, die unabhängig von ihren Umständen in sich schon schlecht sind204. Im Gegenzug zu Loudens Ansicht muss sogar gesagt werden (vgl. auch oben IV, b 2), dass gerade eine Tugendethik klassischen Zuschnitts die Existenz solcher absoluten Handlungsverbote zu begründen vermag, einer Normen- oder regelorientierten Ethik dies jedoch höchstens im Sinne der Begründung einer „prima facie"-Geltung solcher Handlungsverbote gelingen kann. Denn moralische Normen sind sprachliche Universalien; sie beziehen sich auf Handlungstypen, auf Klassen von Handlungen mit gleichen Eigenschaften. In einer auf dem Phänomen der „Norm" aufgebauten Ethik bezieht sich, gleich allen Normen, auch eine Verbotsnorm lediglich auf entsprechend typische Fälle. Umstände und Folgen, die bei der Formulierung der Norm nicht berücksichtigt wurden, können dann in einem nachfolgenden „Anwendungsdiskurs" die Absolutheit einer Verbotsnorm relativiem205. Damit ein Handlungsverbot wirklich „absolut" gilt und damit resistent gegenüber sie relativierenden Anwendungsdiskursen ist, muss ein solches Verbot bzw. eine universale Verbotsnorm als auf moralische Prinzipien bezogen begriffen werden, die wiederum auf ein „von Natur aus Vernünftiges" rückverweisen; d.h. sie sind als Ausdruck eines Widerspruchs oder der Inkompatibilität mit den Zielen bestimmter Tugenden, die jeweils einen spezifischen „ethischen Kontext" definieren, zu verstehen und nicht, wie in einer „Normenethik", einfach als Widerspruch zu einer durch typische Merkmale definierten Klasse von Handlungen206. Inkompatibilität einer konkreten Handlungsweise mit sittlichen Prinzipien, welche die Zielstruktur einer Tugend und damit einen spezifischen ethischen Kontext ausdrücken, begründet, dass eine Handlungsweise nicht nur „prima facie", sondern in allen Fällen zu unterlassen ist, weil auch eventuell „später" hinzukommende Gesichtspunkte, Umstände oder Folgenabschätzungen, nichts daran ändern, dass diese intentionale Inkompatibilität mit dem Ziel einer oder mehrerer Tugenden weiter besteht. Was sich hingegen durch „später" hinzukommende Gesichtspunkte ändern kann, ist nicht die Geltung des Unterlassungsgebotes, sondern das, was nun die veränderte Situation anstelle der zu unterlassenden Handlung zu tun erfordert. Nun gibt es aber zwei Möglichkeiten, von immer zu unterlassenden („in sich" oder per se schlechten) Handlungsweisen zu sprechen: (1) „Immer zu unterlassen" ist die Wahl und der Vollzug einer Handlung, die objektiv schlecht, z.B. ungerecht ist. Eine objektiv schlechte Handlung wählen impliziert ja einen intentionalen Bezug darauf, was dem Ziel einer bestimmten Tugend entgegengesetzt ist, z.B. Missachtung dessen, was eines anderen Recht oder was ihm geschuldet ist. Deshalb muss man Geliehenes immer zurückerstatten, sofern eben hier „Zurückerstattung" objektiv eine Handlung der Gerechtigkeit ist. Das ist sie jedoch aufgrund der Kontingenz, d.h. Veränderlichkeit, der Handlungsmaterie nur in den meisten Fällen, aber nicht immer. Normen dieser Art sind also nur ut in pluribus (in den meisten Fällen) eine adäquate normative Aussage über einen Handlungsvollzug. Das heißt: Das physische Tun „Zurückerstattung von Geliehenem" besitzt nicht immer oder in allen Fällen oder unter allen Umständen die intentio204 205 206

EN II, 6 1107a 9-18. Die Stelle wurde bereits früher ausführlich zitiert, vgl. IV, 2 b. Vgl. J. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 281 f. Vgl. zum Begriff des „ethischen Kontexts" meine früheren Ausführungen in: Natur als Grundlage der Moral, a. a. O., S. 367 ff.

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nale Identität eine Aktes der Gerechtigkeit (jemandem das Seine, ihm Zustehende, ihm Geschuldete, sein Recht erstatten), und deshalb fällt sie dann auch nicht unter die (intentionale) Beschreibung jener Handlungsweise, aufgrund derer die Norm „Geliehenes muss zurückerstattet werden" formuliert wurde. Analoges gilt für Diebstahl, Einhalten von Versprechen und Verträgen. Dieses „Versagen" von Normen im Einzelfall ergibt sich, wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, aus der Unvollkommenheit der normativen Formulierung, d.h. des normativen Sprechens über intentionale Handlungen. In einer Norm muss ja auch ein äußerer Handlungsvollzug mitformuliert werden, aber diese Formulierung vermag nicht zu berücksichtigen, dass aufgrund eines Umstandes dieser bestimmte äußere Handlungsvollzug eine intentionale Identität erhalten kann, die verschieden ist von derjenigen, die der Formulierung der Norm zugrundeliegt; denn diese bezieht sich ja auf eine intentionale Handlung (vgl. auch unten 4,d).

(2) „Immer" oder „in sich schlecht" kann aber auch heißen, dass eine konkret beschreibbare Handlungsweise unter allen Umständen ihre intentionale Identität bewahrt. Dass also in Bezug auf sie eine Norm formuliert werden kann, die nicht nur ut in pluribus, sondern in jedem denkbaren Fall gilt, weil der durch sie betroffene Handlungsvollzug gar nie infolge eines Umstandes unter eine andere intentionale Beschreibung fallen kann. Solche Normen sind z.B. im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit „nicht töten" und „nicht lügen". Diese Normen gehören zu jenen, die wir im eigentlichen Sinn absolute Handlungsverbote nennen. Gleichzeitig hindert uns diese Kennzeichnung nicht daran, Mord, Verhängung der Todesstrafe, Töten im Krieg oder „Tyrannenmord" als je andere Typen (Spezies) intentionaler Handlungen zu betrachten, weil ihr genus moris, ihre moralische Identität jeweils verschieden ist. Deshalb fallen sie auch unter verschiedene Normen. Dies ist nun allerdings ausführlicher zu erläutern. Dabei ist von einer Analyse der intentionalen und damit objektiven Identität der Handlung „einen Menschen (X) töten" auszugehen. X-Töten heißt soviel wie „X das Leben nehmen". Dazu gehört ein entsprechendes physisches Tun, ein äußerer Handlungsvollzug (oder die bloße Zulassung eines Ereignisses, das man verhindern könnte, dessen Verhinderung man aber willentlich unterlässt). Aber das physische Tun oder das Ereignis allein macht noch nicht die Handlung „X-töten aus". Sonst müsste man ja sagen, das auch ein Erdbeben oder eine Pistole im genau gleichen Sinn „X-tötet". Ein Erdbeben vermag wohl den Tod von X zu verursachen, man kann aber nicht sagen, dass diese Verursachung identisch mit der menschlichen Handlung „X-töten" sei. Die intentionale Handlung „X-töten" (die weder ein Erdbeben noch eine Pistole vollziehen kann) impliziert zumindest einen gegen das Leben des Opfers, seine physische Existenz oder seine Anwesenheit in der menschlichen Gesellschaft gerichteten Willen (intentio) des Tötenden207. So gesehen heißt dann „X-töten": (1) Entweder „X aus dem Weg räumen", d.h. seine Existenz wird als Übel betrachtet. Sei es 207

Die in meinem früher erwähnten Aufsatz „Intentional Actions and the Meaning of Object: A Reply to Richard McCormick", a. a. O., kritisierte Position von J. Fuchs, R. A. McCormick, u. a. übersieht gerade, dass „Töten" als von einem Menschen vollzogener Akt - es ist ja nicht bloßes Ereignis - gar nicht ohne eine solche (Basis-)Intentionalität beschrieben werden kann. Andernfalls würde man „Handeln" nur noch als „willentliche Verursachung von Ereignissen" (hier: des „Tötungsereignisses") verstehen, wodurch dann in der Tat nur noch der Zweck, um dessentwillen man das Ereignis verursacht, sittlich zu qualifizieren wäre; der Akt des „Tötens" selbst jedoch verbliebe unterhalb dieser Schwelle.

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schlechthin, d.h. die letzte Absicht der Tötungshandlung ist einfach, dass X „nicht mehr sei" (das dürfte wohl selten vorkommen); oder als Mittel für eine andere Absicht: Um einen Vorteil zu erhalten (z.B. eine Erbschaft); um die Frau des Getöteten heiraten zu können; um das eigene Leben zu schützen; um anderen das Leben zu retten (z.B. im Erpressungsfall). In allen Fällen lautet das Handlungsurteil: „p ist gut", wobei „p" für „Verursachung der (physischen, gesellschaftlichen) Nichtexistenz von X" steht. Immer ist hier, sei es auf der Ebene der Mittel oder der Ziele, das Urteil über die Nichterwünschtheit eines konkreten menschlichen Lebens impliziert, so dass dieses Leben von der diesem Urteil folgenden Willensentscheidung abhängt. Vorausgesetzt wir sind der Meinung, dass die Anerkennung des anderen als mir Gleicher die Grundlage aller Gerechtigkeit ist, dass der andere also ein Recht auf sein Leben hat ganz genau gleich, wie ich es habe, und dass die Anerkennung dieses Rechtes der fundamentale Akt des Wohlwollens gegenüber unserem Mitmenschen ist, so erweist sich die intentionale Handlung X-töten als ein Akt fundamentaler Ungerechtigkeit; unter Umständen kann er sogar explizit ein Akt der Nichtanerkennung des anderen als mir Gleicher sein, sofern ich nämlich nicht nur sein Recht zu leben missachte, sondern ich ihm ein solches Recht nicht einmal zugestehe (Beispiel: Abtreibung). Jedenfalls ist für X „Leben" im fundamentalsten Sinne „das für ihn Gute". Intentional ist die Handlung unmittelbar gegen das gerichtet, was wir dem anderen im grundlegenden Sinne schulden; der Handelnde erreicht durch diese Rechtsverletzung auf Kosten des anderen einen Vorteil (die Handlung ist „unfair") und zugleich ist die Tötungshandlung ein Angriff auf die Gesellschaft, deren Bestand ja auf der gegenseitigen Anerkennung der Gleichheit von Rechten beruht. Sie ist also gleichzeitig auch eine Bedrohung der Überlebenden. Das Tötungsverbot wird damit relativ zum ethischen Kontext „Gerechtigkeit" definiert. Nicht als Zerstörung eines bestimmten Gutes (das Gut des Lebens), das zwar „hochrangig", dennoch aber kein sittliches, sondern nur ein physisches, naturales Gut ist, sondern als Entzug der Anerkennung des anderen als mir Gleicher und damit als fundamentale Ungerechtigkeit. Schlecht ist Töten, weil man sich zu einer konkreten lebenden menschlichen Person durch die Zerstörung ihres Lebens (ihrer leiblichen und damit vollmenschlichen Existenz in dieser Welt) in einer fundamental ungerechten Weise verhält. Verletzt wird dabei nicht das „Gut des Lebens", sondern ein „von Natur aus vernünftiger", in der natürlichen Neigung auf Selbsterhaltung gründender Anspruch d.h. ein Recht einer menschlichen Person und damit diese Person selbst. Das sittliche Übel des Tötens liegt also allein in seiner Ungerechtigkeit. Und umgekehrt: soweit töten im genannten fundamentalen Sinne ungerecht ist, ist es auch ein sittliches Übel. Dieses Argumentation greift nicht für den Fall aktiver Euthanasie aufgrund einer Tötungsbitte von X. Die intentionale Identität einer solchen Handlung „X-Töten" ist vielmehr Beihilfe zu Selbstmord; oder genauer: Mitvollzug eines Selbstmordes. Die Handlung erhält hier also ihre intentionale Identität von der Handlung „Selbstmord". Dieser selbst ist wiederum eine „Ungerechtigkeit" gegen sich selbst, obwohl man das nur im übertragenen Sinn sagen kann. Ganz abgesehen von schöpfungsmetaphysischen Argumenten (Leben als „Geschenk Gottes") hebt sich der Selbstmörder damit selbst als sittliches Subjekt auf. Wenn es kein Leben nach dem Tod gibt, bleibt diese Handlung für das Subjekt folgenlos, da es ja nicht mehr existiert. Andernfalls jedoch lässt sich begründen, dass Selbstmord als sittliche (immanente) Handlung, die irreparable sittliche Selbstzerstörung eines weiter existierenden menschlichen Handlungssubjekts ist, die totale Abwendung von sich selbst. Das kommt allerdings auch zum Ausdruck, wenn ein Selbstmordversuch misslingt und der Täter als sein eigenes Opfer weiterlebt. Beihilfe oder Mit-Vollzug einer solchen Handlung ist demnach eine gravierende Ungerechtigkeit. Gerecht ist allein zu versuchen, einen Menschen von dieser Handlung abzuhalten.

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(2) Ein zweiter Fall von „X-Töten" wäre derjenige einer Affekthandlung. Hier ist nicht in erster Linie der Wille gegen das Leben des anderen gerichtet, sondern die Handlung erfolgt aus Leidenschaft. Genau insofern die Leidenschaft willentlich ist, lässt sich dieser Fall auf den ersten zurückführen: Die Handlung ist dann ungerecht, wenn auch nicht aus Ungerechtigkeit, sondern aus Leidenschaft vollzogen. Wird der freie Wille durch die Leidenschaft ausgeschaltet, liegt hier gar keine menschliche, zurechenbare Handlung vor. (3) Drittens schließlich ist Töten als Vergeltung, d.h. als Strafe denkbar208. Eine Strafe im allgemeinen ist ein Akt der Vergeltung. „Durch eine Strafe wird die Gleichheit der Gerechtigkeit wiederhergestellt"209. Eltern, Lehrer, Vorgesetzte in verschiedenen Bereichen und schließlich die öffentliche Staatsgewalt verhängen Strafen. Wo Strafe für Unrechttun ausbleibt, empfinden wir das spontan als ungerecht. Denn wer Unrecht tut erhält dadurch einen Vorteil auf Kosten der anderen. Die Strafe hat den Zweck der Wiederherstellung und Bewahrung der Gerechtigkeit: Denn wo man ungestraft Unrecht tun kann, da wird die Basis menschlichen Zusammenlebens, die auf der Gerechtigkeit beruht, zerstört. „Strafen" bedeutet, einem, der Unrecht getan hat, gegen seinen Willen ein Übel zuzufügen, das den auf unfaire Weise willentlich erworbenen Vorteil kompensiert (vergilt) und deshalb die Gerechtigkeit wiederherstellt. Eine Strafe richtet sich nicht auf die Schädigung des Betroffenen (das wäre nicht Vergeltung, sondern Rache), sondern auf die Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit. Eine Strafe setzt deshalb immer Schuld voraus: Bestraft werden kann man nur, wofür man die Verantwortung trägt; denn andernfalls gäbe es keinen Grund, die verletzte Gerechtigkeit wiederherzustellen, weil ein (materielles) Unrecht, das ohne Schuld verübt wird, oder eine Gefahr, die auf der bloßen Existenz einer Person beruht, eben keine Verletzung der Gerechtigkeit ist. Eine Strafhandlung bezieht sich also intentional auf „Wiederherstellung der Gerechtigkeit". Sie ist objektiv eine Handlung der Gerechtigkeit. Sie verletzt nicht ein Recht eines anderen, sondern beraubt ihn des Vorteils, den er auf Kosten anderer erworben hat. Sie stellt wieder her, was der Bestrafte aus eigener Schuld aus dem Gleichgewicht brachte. Zudem aber werden Strafen um eines bestimmten Zieles willen vollzogen: Z.B. zur Besserung des Bestraften, zum Schutz anderer Menschen oder aber zur Verteidigung des Bestandes der Gesellschaft. Wenn einer, der schweres Unrecht vollzieht, sich der Justiz zu entziehen vermag, dann aber durch einen Unfall oder ein Naturereignis einen Schaden erleidet oder sogar stirbt, so betrachtet man das nicht als „Wiederherstellung der Gerechtigkeit". Was der Gerechtigkeitssinn des Menschen fordert, ist nicht der Schaden oder ein Übel für den Übeltäter (dies zu intendieren, wäre intentional kein Akt der Gerechtigkeit). Was man fordert ist die Bestrafung, d.h. ein Strafurteil der für die Wahrung der Gerechtigkeit zuständigen Instanz (deshalb wird auch Begnadigung und Amnestie aus angemessenem Grund nicht als ungerecht empfunden). Ein Zeichen dafür ist deshalb, dass - im oben genannten Fall - die Menschen dazu neigen, einen Schaden durch Unfall oder Naturereignis als „gerechte Strafe Gottes" zu interpretieren. Aufgrund des Begriffs der Vorsehung ist diese Interpretation durchaus zulässig und sie bewahrt zudem den Menschen vor der Versuchung, sich über den Schaden des anderen zu freuen. Denn man freut sich ja darüber, dass die Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde.

208 209

S. zum folgenden auch die Ausführungen bei J. M. Finnis, Fundamentals of Ethics, a. a. O. S. 127 ff. Vgl. ferner Agnes Heller, Beyond Justice, Oxford 1987, S. 156 ff. II—II, q. 108, a. 4. Zur thomanischen Strafrechtstheorie siehe auch J. Finnis, Aquinas, Moral, Political, and Legal Theory, Oxford 1998, S. 210 ff.

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Es ist sehr wichtig, das eigentliche Objekt der Strafhandlung von dem weiteren, mit ihr verfolgten Ziel zu unterscheiden. Eine Strafe, die überhaupt nichts „nützt", außer zu vergelten, würden wir nicht als sinnvoll betrachten; dennoch könnte sie eine gerechte Strafe sein (so etwa im Falle von Kleists „Michael Kohlhaas"). Strafen haben immer einen Nutzen; allerdings ist bereits die bloße Wiederherstellung von verletzter Gerechtigkeit ein solcher Nutzen. Denn sie bedeutet Wahrung der Gerechtigkeitsbeziehungen unter den Menschen. Anderer Nutzen ist diesem immer unter- bzw. auf ihn hingeordnet: Besserung, Abschreckung, Verteidigung, Schutz. Das liegt gerade daran, dass der Bestrafte ja ein Schuldiger ist und dass er bestraft wird, insofern er ein solcher ist, d.h. einen gegen das Recht der anderen gerichteten Willen besitzt, und er somit die Gemeinschaft der sich gegenseitig als Gleiche und in ihren Rechten anerkennenden Subjekte schädigt. Nur dadurch können sich die weiteren Ziele wie Besserung oder Schutz rechtfertigen. Deshalb ist dieser weitere Nutzen der Strafe selbst auch nie der Grund dafür, dass man überhaupt straft, bzw. dafür, dass Strafen ein Akt der Gerechtigkeit ist. Dies wäre eine utilitaristische Straftheorie, dergemäß eine Strafe wesentlich ein Mittel ist, einen optimalen gesellschaftlichen Zustand herzustellen. Wenn man so argumentiert, dann kann man eben grundsätzlich die Möglichkeit bejahen, auch einen Unschuldigen zu „bestrafen", nämlich dann, wenn dies für die Gesellschaft insgesamt oder die Gesamtheit der Betroffenen bessere Folgen zu haben verspricht. Weil utilitaristisch argumentierende Ethiker so denken, sind sie der Meinung, die traditionelle Norm „man soll nie einen Unschuldigen töten" beruhe ebenfalls auf einer bloßen Güterabwägung: Ein Schuldiger sei einfach jener, durch dessen Leben oder Existenz das Gemeinwohl in irgend einer Weise bedroht sei210. Das ist aber falsch: Die traditionelle Norm meinte, ein Schuldiger sei jener, der an der Bedrohung des Gemeinwohls Schuld d.h. wer dafür Veratwortung trägt, weil er die Gerechtigkeit verletzte. Es scheint einleuchtend, dass ein Unrecht, das das „öffentliche Wohl" gefährdet, allein durch jene Instanz oder Person vergolten werden kann, welche die Kompetenz besitzt, für dieses öffentliche Wohl die Sorge zu tragen. Strafen wie Geldbußen, Freiheitsentzug, Entzug von Bürgerrechten, Ausweisung, Verbannung, Ächtung, Tod können nur Akte der Gesamtgesellschaft, bzw. der legitimen öffentlichen Gewalt sein (genauso wie das Einziehen von Steuern oder Abgaben unter Strafandrohung, als Akte der distributiven Gerechtigkeit: Als Akte einer Privatperson wäre dies Erpressung und Diebstahl). Die Todesstrafe bedeutet Ausschluss aus der Gesellschaft durch Aufhebung der physischen Existenz einer Person. Als Vergeltungsakt (Wiederherstellung und Wahrung der Gerechtigkeit) kann dies intentional vollzogen werden nur von solchen, die eine entsprechende Kompetenz besitzen. Das gilt jedoch für alle Strafen: Vergeltung ohne Kompetenz ist Unrecht. Eltern dulden nicht, dass Geschwister sich untereinander strafen; auch unter Schülern, Angehörigen eines Unternehmens oder Soldaten wird dies nicht als zulässig akzeptiert: Das tun Eltern und entsprechende Vorgesetzte. Strafkompetenz (Kompetenz zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit) setzt nämlich Zuständigkeit für das Ganze voraus, in Bezug auf das Gerechtigkeit wiederhergestellt werden muss (im Falle des Versagens der zuständigen Autorität bilden deshalb solche Gemeinschaften selbständig eine legitimierte „ad hoc-Autorität"). Wer mit Zuständigkeit in Bezug auf das Ganze handelt, der handelt also in einem anderen ethischen Kontext als derjenige, der als Privatperson handelt. Ein Akt der Vergeltung ohne 210

Vgl. R.A. McCormick, Notes on Moral Theology 1965 through 1980, Lanham/London 1981, S. 453. S. dagegen J. Finnis, Fundamentals of Ethics, a. a. O. S. 127 ff.

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Zuständigkeit kann keine Wiederherstellung von Gerechtigkeit sein. Wer als Privatperson ein Unrecht mit einer „Strafe" vergilt, der vergilt Unrecht mit Unrecht. Er intendiert nicht die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, sondern das Übel des anderen als Vergeltung für das Üble, das dieser ihm zugefügt hat (Rache). Natürlich kann er das tun, weil er der Meinung ist, die Gerechtigkeit müsse wiederhergestellt werden. Aber insofern er dafür keine Kompetenz besitzt, kann der objektive Gehalt der intentionalen Basis-Handlung „X-Töten" kein Akt der Gerechtigkeit sein (das ist klassisch beschrieben in Kleists „Michael Kohlhaas"). Weil also eine Privatperson - d.h. eine Person als bloßer Angehöriger jener Gemeinschaft, in Bezug auf die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden soll - grundsätzlich nicht „strafen" kann, so kann sie a fortiori auch nicht mit dem Tod „bestrafen". Folglich gibt es keinen denkbaren Fall, in dem „x-Töten" als Handlung einer Privatperson eine gerechte Handlung wäre. Sie ist immer und unter allen Umständen ungerecht. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass die Todesstrafe existieren muss, bzw. dass ihre tatsächliche Verhängung immer schon - oder unter allen Umständen - als gerecht erwiesen ist. Das haben wir mit den bisherigen Überlegungen nicht bewiesen. Ja, es ist auch auf der Grundlage des bisher Gesagten immer noch möglich, sogar das Gegenteil zu beweisen. Was gezeigt wurde ist nur: Sofern und wenn „Verhängung der Todesstrafe" eine Handlung des Typs „ strafen " („Wiederherstellung der Gerechtigkeit) ist, so besitzt die darin implizierte Wahl des „Todes von X" bzw. die Handlung „X-Töten" eine intentionale Identität, die verschieden ist von jeder denkbaren Tötungshandlung einer Privatperson. Es handelt sich also, im genus moris um eine objektiv verschiedene Handlungsweise: Das implizierte „Wozu?" ist nämlich verschieden. Falls Strafen durch Töten gerechtfertigt werden kann, so ist die legitim verhängte Todesstrafe ein Akt der Gerechtigkeit und nicht eine „Ausnahme" des absoluten Handlungsverbots „Du sollst nicht töten"211. Deshalb beziehen sich auf diese beiden Handlungstypen auch verschiedene Normen212. Damit ist das hier anstehende Problem eigentlich gelöst. Die Frage, ob nun die Verhängung der Todesstrafe tatsächlich der Gerechtigkeit entspricht, ist zu unterscheiden von der Frage, ob man die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Todesstrafe nur als Ausnahme von der Norm „du sollst nicht töten" denken kann, so dass letztere also nicht ein absolutes Handlungsverbot wäre. Die zweite Frage - und nur um sie ging es hier - kann verneint werden213. Es handelt sich genau gleich wenig um eine Ausnahme, wie etwa die Möglichkeit der Verhängung von Geldbußen oder Gefängnisstrafen Ausnahmen sind von der Verpflichtung, anderer Eigentum und Freiheit nicht anzutasten. Wer also behauptet, die Todesstrafe könne nicht wie jede Art von Strafe als Akt der Gerechtigkeit begründet werden, der sagt implizit, „strafen" heiße überhaupt, eine Art Ausnahme von im allgemeinen geltenden moralischen Normen zu machen. Dann befindet man sich aber bereits in bedenklicher Nähe einer Straftheorie, in der Strafen generell nicht mehr als Akte der vergeltenden Gerechtigkeit, son-

211

212 213

Diese Formulierung aus dem Dekalog ist auch durch den Kontext eindeutig als Gebot an Privatpersonen gemeint. Denn der Dekalog ist ein Teil jenes mosaischen Gesetzes, in dem ja auch die Todesstrafe vorgesehen war. Vgl. dazu nochmals das in III, 4, c angeführte Zitat aus I—II, q. 1, a. 3 ad 3. Zu einigen Unklarheiten in der Begründung der Todesstrafe bei Thomas v. Aquin vgl. M. Rhonheimer, Sins Against Justice, in: S. J. Pope (Hrsg.), Essays on the Ethics of St. Thomas Aquinas, Washington D. C. (erscheint voraussichtlich 2001).

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dem als „nützliche Maßnahmen" ganz unabhängig von der Schuld des Bestraften angesehen werden214. Damit eine konkrete Art von Strafe gerechtfertigt werden kann, muss sie angemessen sein. Das gilt für Bußen, Freiheitsentzug und Todesstrafe, d.h. für jede Strafe in gleicher Weise. Die Angemessenheit der Todesstrafe bemisst sich nach der Notwendigkeit des Todes des Schuldigen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit und ihrer Bewahrung (Zusammenleben der Menschen gemäß Maßstäben der Gerechtigkeit). Dies wiederum hängt aber weitgehend von den Umständen ab und von den Möglichkeiten des Strafvollzugs. Generell können wir sagen: Um die Todesstrafe als angemessene Strafe zu rechtfertigen, müsste man zeigen, dass sie notwendig ist, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen und das heißt auch: um die menschliche Gesellschaft als Rechtsgemeinschaft zu bewahren. Eine nicht-notwendige Strafe ist nämlich eine unangemessene Strafe. Die Herabsetzung der Schwelle dieser Notwendigkeit ist eng mit den modernen Möglichkeiten des Strafvollzugs verbunden und kann durchaus als zivilisatorischer Fortschritt begriffen werden215. Denn zunächst einmal scheint es ja gerechter, einem Übeltäter die Möglichkeit zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu geben, wobei entsprechender Freiheitsentzug selbst eine angemessene Strafe sein kann. Zudem gibt es starke Argumente gegen die Todesstrafe, wie die Irreparabilität eines Justizirrtums216. Deshalb ist aufgrund der Argumentation, dass die Todesstrafe - wie jede Strafe - prinzipiell ein Akt der vergeltenden Gerechtigkeit ist, noch nichts darüber entschieden, ob sie auch ein angemessener Akt der vergeltenden Gerechtigkeit ist. Das kann auch von den Umständen abhängen; es ist aber durchaus auch möglich, sie grundsätzlich für unangemessen zu halten. Es ist kennzeichnend für viele traditionelle aber auch für die utilitaristische Begründung (oder Ablehnung) der Todesstrafe, diese beiden Fragen nicht auseinanderzuhalten 217 . Deshalb sei 214 Vgl. J.-C. Wolf, Verhütung oder Vergeltung?, Einführung in ethische Straftheorien, Freiburg/München 1992, S. 39, wo allerdings die utilitaristische Straftheorie als die überlegene dargestellt wird. Wolf sträubt sich dagegen, retributive Theorien in den Kontext „Gerechtigkeit" einzuordnen, indem er die Behauptung eines begrifflichen Zusammenhangs zwischen „Strafe" und „Vergeltung" (Wiederherstellung der Gerechtigkeit) als illegitime „Definitionssperre" bezeichnet (ebd. S. 52). 215 Vgl. H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Heidelberg 1992, S. 319 (über die sog. „peinliche Strafe" im Hoch- und Spätmittelalter): „Noch gab es keine weltliche Gefängnisstrafe. So waren einfache Lösungen gefragt. Deren wichtigste war die Tötung des Täters. Die andere bestand in seiner jedermann sichtbaren Kennzeichnung. Hinzu trat die dauernde oder vorübergehende Landesverweisung." Die Vorstellung, dass die Tötung in bestimmten Fällen an sich schon eine Forderung der vergeltenden Gerechtigkeit sei („Auge um Auge ..."... „Leben um Leben") dürfte wohl eher erst neuzeitlich-rationalistischen Ursprungs sein, im Sinne einer nachträglichen Legitimierung einer Strafpraxis, die schon lange nicht mehr, wie in früheren Zeiten, als die „einfache Lösung" begründet werden konnte. 216 Der Vergeltungsgedanke ist nicht mit dem Sühnegedanken zu verwechseln. Dass ein Verbrechen „gesühnt" werden muss, ist eher ein Missbrauch des Wortes „Sühne", denn gemeint ist hier eher Rache. Sühne ist ein Akt oder Prozess des schuldig Gewordenen selbst, und zwar ein Akt oder Prozess der Wiedergutmachung und innerlichen Läuterung, der aber besser unter den Bedingungen eines langen oder gar unbefristeten Freiheitsentzugs, sofern dieser unter menschenwürdigen Voraussetzungen durchgeführt wird, als durch das Annehmen der eigenen physischen Liquidierung verwirklicht werden kann,. 217 Wie dies hingegen vorbildlich bei Agnes Heller, Beyond Justice, a. a. O. der Fall ist. Zuzustimmen ist insofern und aus demselben Grund auch der Rehabilitierung von Kants Vergeltungsbegriff der

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wiederholt: Akte der Selbstbehauptung der Gesellschaft wie die Todesstrafe können nur gerechtfertigt werden, weil und insofern sie in sich Akte der Gerechtigkeit sind und sie können deshalb nur jene treffen, die Schuld tragen218. Wir können also nicht - utilitaristisch sagen, die Todesstrafe sei z.B. aus Nützlichkeitserwägungen abzulehnen, zugleich aber sei es prinzipiell diskutierbar, ob im Einzelfall ein Todesurteil gegen einen Unschuldigen aus Nützlichkeitsgründen gerechtfertigt werden könnte. Auch wenn Utilitaristen in der Regel Gründe für den Nachweis finden, dass auch dies nicht zur optimalen Folgenbilanz führen könne, so liegt das Bedenkliche schon darin, dass sie diese Möglichkeit überhaupt ernsthaft erwägen. Für Töten im Krieg und Tyrannenmord gelten analoge Argumente, die hier nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen. Man hat daraufhingewiesen, wie der ideologische Pazifismus, der Töten in kollektiver Selbstverteidigung überhaupt als unmoralisch behauptet, dazu führt, dass - falls man einmal das nackte Leben zu verteidigen hat - dann einfach alles erlaubt ist und somit die Unterscheidungen zwischen Krieg, Mord und Massaker unerheblich werden219.

Es ergeben sich nun einige Folgerungen für die Interpretation von normativen Formulierungen: Die Norm, „man darf nie einen Unschuldigen töten", ist eine Norm, die sich auf den ethischen Kontext der Verhängung von Strafen durch Justizbeamte der öffentlichen Gewalt bezieht. Schon deshalb kann sie z.B. nicht auf den Fall angewendet werden, in dem ein Fötus im Mutterleib das Leben der Mutter bedroht. Eine Abtreibung wäre in keiner Weise ein Akt der Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Denn der Fötus ist kein Aggressor, er trägt keine Schuld und verletzt deshalb auch nicht die Gerechtigkeit. Man könnte die Abtreibung als Akt der Selbstverteidigung zu rechtfertigen suchen. Aber auch das ist nicht möglich. Denn das hieße, dass es gerecht ist, einen Menschen um eines guten Zieles willen zu töten. Die als Mittel gewählte Handlung ist ungerecht: Sie besitzt die intentionale Identität der Tötungshandlung. Nicht einmal gegenüber einem Aggressor ließe es sich rechtfertigen, seinen Tod als Mittel zu wählen, um sich das Leben zu retten220. Der Fall der legitimen Selbstverteidigung mit Todesfolge für den Aggressor ist hier nicht betrachtet. Wir werden später darauf zurückkommen (4,e). Aufgrund der ursprünglichen Herkunft aus dem Zusammenhang der Gerichtspraxis (und auch entsprechender Bestimmungen im mosaischen Gesetz) erklärt sich wohl jene andere Formulierung des Tötungsverbotes, wonach es sittlich unerlaubt sei, einen Unschuldigen zu töten. Dies ist heute noch in der katholischen Moraltheologie die gebräuchliche Fassung des Tötungsverbotes221. Sie besitzt Strafe als nur partielle, aber eben fundamentale Straflegitimation bei Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt/M. 1990, S. 228 f. Der erwähnten Zweistufigkeit von Retributionstheorien kaum gerecht wird hingegen die Darstellung bei J.-C. Wolf, Verhütung oder Vergeltung?, a. a. O. 218 So auch, bezüglich des Strafrechts generell, Michael Walzer, Spheres of Justice, a. a. O. S. 268-271. 219 Vgl. zu diesen Fragen G. E. M. Anscombe, War and Murder, in: The Collected Philosophical Papers of G. E. M. Anscombe, Vol. Ill, Oxford 1981, 51-61; T. Nagel, War and Massacre, in: T. Nagel, Mortal Questions, Cambridge 1979, 53-74; J. Finnis, J. Boyle, G. Grisez, Nuclear Deterrence, Morality and Realism, Oxford 1987. 220 Vgl. II-II, q. 64, a. 7. 221 Wobei in der Regel noch die Präzisierung hinzukommt, die direkte Tötung eines Unschuldigen sei unsittlich. Vgl. jetzt die Enzyklika „Evangelium vitae" vom 25. 3. 1995, Nr. 57. Allerdings finden

3 . SITTLICHE NORMEN

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den Vorteil, für die umgangssprachliche Verständigung klar und einsichtig zu sei. Sie steht zu der bisher gebotenen Analyse keineswegs im Widerspruch, besitzt aber einige Unscharfen. In dieser Fassung verbietet die Norm ja eigentlich nur (1) die ungerechte Verhängung der Todesstrafe (Justizmord bzw. Verurteilung aufgrund nichtbewiesener Schuld); und (2) die Tötung außerhalb eines legitimen Gerichtsverfahrens (normaler Mord, private Vergeltung, Rache, Abtreibung). Der Nachteil ist, dass bei dieser Formulierung des Tötungsverbotes die Tötung des Aggressors in legitimer Selbstverteidigung sowie Töten im (gerechten) Krieg (=legitime kollektive Verteidigung) nur unter der Voraussetzng als sittlich erlaubt betrachtet werden können, dass man jeweils den Aggressor als „Schuldigen" betrachtet. So wird dann nur Verteidigung gegen einen ungerechten Aggressor als legitim bezeichnet, was aber letztlich darauf hinausläuft zu sagen, dass nur „gerechte Selbstverteidigung" legitim sei; das ist aber tautologisch. Es ist gerade die - ursprünglich eben aus einem anderen Kontext stammende - Kategorie des „Unschuldigen", die hier leicht Verwirrung stiften kann, denn Angehörige kombattanter Truppen können ja persönlich unschuldig an der Aggression sein, gegen die sich andere gerechterweise zur Wehr setzen. Im Falle der legitimen Selbstverteidigung kann der Aggressor z.B. ein hochgefährlicher Geistesgestörter sein, den ebenfalls keine Schuld trifft. Dennoch wird man seine Tötung in Selbstverteidigung (vgl. unten 4,e) nicht als Verletzung des Tötungsverbotes betrachten, obwohl man hier „Unschuldige" tötet. Falls man die Kategorie des „Schuldigen" aber auch auf solhe Fälle ausweiten will, so verliert sie gänzlich ihre Schärfe und die Norm, man dürfe nie einen Unschuldigen töten, wird damit als ganze zur Tautologie: Sie würde nur noch definieren, dass ein Schuldiger jeweils derjenige ist, dessen Tötung sittlich erlaubt ist. Für den konkreten Fall würde das bedeuten, dass man jeweils abzuklären hätte, ob der zu Tötende ein Schuldiger ist oder nicht. Da dies, gemäß obigem Muster, unabhängig von der Frage nach persönlichem Verschulden geschehen müsste, würde die Rechtskategorie des Schuldigen unvermittelt ersetzt durch die pragmatische Kategorie des „Bedrohenden" oder „Schädigenden". So ließe sich dann aber auch etwa (konsequentialistisch) ein Justizmord (zur Verhinderung von Schlimmerem) rechtfertigen oder die Tötung von durch einen gefährlichen Virus befallenen Menschen, die dadurch zur tödlichen Bedrohung ihrer Mitmenschen geworden sind; und anderes mehr. Wer ein „Schuldiger" bzw. eben „Bedrohender" oder „Schädigender" ist würde dann von Fall zu Fall konsequentialistisch ausgemacht. Die Norm, man dürfe nie einen Unschuldigen töten, würde natürlich dadurch völlig ausgehöhlt. Aus diesem Grund haben wir hier versucht, das Tötungsverbot zunächst einmal unabhängig von der Kategorie des „Unschuldigen" allein aufgrund der Analyse der intentionalen Handlung „Töten" zu definieren. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb der intentional ganz anders strukturierte Fall der legitimen Selbstverteidigung hier erst später zur Behandlung gelangen wird. Diese Bemerkungen ändern freilich nichts an der Gültigkeit der Formulierung, dass die Tötung eines Unschuldigen sittlich nie gerechtfertigt werden kann; wohl aber können sie helfen, die analytische Unscharfe dieser Formulierung auszugleichen. Sofern man einmal vom Falle der legitimen Selbstverteidigung und der legitimen kollektiven Verteidigung („gerechter Krieg") absieht und die genannten Schwierigkeiten berücksichtigt, ist diese Formulierung der Norm in der Tat die zweckmäßigste. Ein zweites Beispiel eines absoluten Handlungsverbots ist die Lüge. Die Lüge ist eine kommunikative Täuschungshandlung. Das heißt: Sie ist ein Verstoß gegen jenen Teil der Tugend der Gerechtigkeit, den man Wahrhaftigkeit nennt. Die Tugend der Wahrhaftigkeit könnten wir auch Kommunikationsgerechtigkeit nennen. sich hier auch Formulierungen, die den Ausdruck „direkt" ersetzen durch die damit gemeinte Intentionalität, z. B.: „Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich und kann niemals, weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden" (ebd.). Vgl. dazu auch M. Schlag, Das moralische Gesetz in Evangelium Vitae, Frankfurt a. M. 2000, S. 124 ff.

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V . S T R U K T U R E N DER V E R N Ü N F T I G K E I T

Wahrhaftigkeit ist jene Art von Gerechtigkeit, die die kommunikative Basis des menschlichen Zusammenlebens bildet. Und eine Lüge ist eine willentliche Falschaussage innerhalb eines kommunikativen Kontextes. Ein kommunikativer Kontext ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm ein durch sprachliche Kommunikation vermitteltes gesellschaftliches Zusammenleben existiert, in welchem Sprache die Funktion eines Zeichens für Gedanken, Gefühle, Absichten usw. dessen besitzt, der dieses Zeichen benutzt. Missbrauch der Sprache durch Falschaussagen sind Akte kommunikativer Täuschung. Man unterscheidet „Lüge" von „Falschaussage". Eine Falschaussage ist ein Sprechakt, in dem das Zeichen (Wort) nicht mit dem Gedanken des Sprechenden übereinstimmt. Das kann geschehen, weil man z.B. eine Sprache nicht richtig beherrscht oder durch Versprechen. Eine „Lüge" ist eine willentliche Falschaussage, d.h. ein Sprechakt, in dem die genannte Nichtübereinstimmung gewollt ist.

Eine Lüge ist aufgrund ihrer intentionalen Identität - also objektiv - eine sprachliche Handlung, die gegen die eigene Hinordnung auf menschliches Zusammenleben, sowie gegen das „Gut des anderen" gerichtet ist: Gegen sein Recht, dass die Worte seiner Mitmenschen „wahr" sind, d.h. mit dem, was der Sprechende denkt übereinstimmen. Er hat dieses Recht, nicht getäuscht zu werden, weil er das „Recht auf Gesellschaft" und das Recht auf Gleichheit der Anerkennung als Glied der Kommunikationsgemeinschaft hat. Zudem hat er auch das Recht auf das Funktionieren entsprechender Institutionen, was ebenfalls Wahrhaftigkeit voraussetzt. Lügen ist demnach dem Wohlwollen gegenüber dem anderen entgegengesetzt und ein Entzug der Anerkennung des anderen als mir Gleicher. D i e s e objektive Identität der willentlichen Falschaussage innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft besteht unabhängig von weiteren Absichten, mit denen man eine Lüge vollzieht: U m jemandem zu schaden; um sich selbst, einem anderen oder sogar dem Belogenen selbst, einen Vorteil zu verschaffen bzw. einen Nachteil zu vermeiden; oder zum Scherz. Letztlich ist eine Falschaussage dann als ungerecht zu betrachten, wenn der andere vernünftigerweise erwarten kann, dass der Sprechende ihm die Wahrheit sagt („vernünftigerweise" meint nicht „voraussichtlich" sondern „gerechterweise": Denn einer, von dem bekannt ist, dass er immer lügt, und dem deshalb niemand mehr glaubt, ist deshalb weiterhin ungerecht).

Deshalb können wir Kontexte angeben, in denen eine willentliche Falschaussage keine Ungerechtigkeit sein kann. In einem Spiel z.B., in dem es gerade darum geht, den anderen hereinzulegen und Lügen zu den Spielregeln gehören, erwartet niemand, dass der andere die Wahrheit spricht, sondern nur, dass er sich an die Spielregeln hält; und Falschaussagen gehören hier zu den Spielregeln. Der kommunikative Kontext ist gemäß der Spielsituation modifiziert. Deshalb sind spielregelgerechte Falschaussagen auch keine Ungerechtigkeit. Sie richten sich intentional in keiner Weise gegen die kommunikative Basis des menschlichen Zusammenlebens. Ein anderer Fall sind Falschmeldungen, kommunikative Täuschungsakte, irreführende Angaben in einer Kriegssituation (z.B. zur Irreführung des Gegners über eigene operative Pläne, Standorte von Truppen, Angaben bei Kontrollen oder Verhören; spezieller auch die Fälschung von Dokumenten). Man kann solche Handlungen nicht als Verletzung der Kommunikationsgemeinschaft betrachten, weil eine solche hier ja gar nicht existiert. Wenn man sich durch Hinterhalte, Tarnmanöver usw. täuschen darf, so ist nicht einzusehen, wieso nicht auch durch Sprechakte.

3 . SITTLICHE N O R M E N

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Man muss allerdings präzisieren: Genau insofern zwischen Kriegsparteien keine Gemeinsamkeit menschlichen Zusammenlebens besteht, so gibt es zwischen ihnen auch gar nicht die Möglichkeit eines Verstoßes gegen die kommunikative Basis eines solchen Zusammenlebens. Nun sind aber gegeneinander kriegführende Menschen in einem fundamentalen Sinne immer „Mitmenschen". Krieg ist eine Ausnahmesituation und entsprechende Kriegshandlungen sind nur so lange gerechtfertigt - vorausgesetzt natürlich, der Krieg selbst lasse sich moralisch rechtfertigen - , bis die Normalsituation „Frieden" wiederhergestellt zu werden vermag. Solche Menschen sind also potentielle Partner gesellschaftlichen Zusammenlebens und damit potentielle Glieder einer Kommunikationsgemeinschaft. Deshalb gibt es auch im Krieg Akte, die der Wiederherstellung der Kommunikationsgemeinschaft dienen; z.B. Verhandlungsangebote, etwa signalisiert durch die weiße Fahne. Diese zur Täuschung einzusetzen, wäre deshalb ein sogar besonders schwerwiegender Verstoß gegen die Kommunikationsgerechtigkeit und einer Lüge gleichzusetzen. So wie der Missbrauch aller anderen Handlungsweisen bzw. Kommunikationshandlungen, denen derselbe Sinn zukommt. Die Grenzen können hier durchaus fließend sein und es kann Grauzonen geben.

Von Fichte stammt das Wort „Du darfst nicht lügen, und wenn die Welt darüber in Trümmer zerfallen sollte" 222 . Er meinte zwar, dass für ein moralisches Subjekt klar sei, dass „in dem Plane ihrer [der Welt] Erhaltung sicherlich nicht auf eine Lüge gerechnet ist". Aber der Satz ist schon deshalb fragwürdig, weil eine Situation, in der die Enthaltung von einer Lüge die Welt zertrümmerte, wohl zumindest einer Kriegssituation ähnlich wäre. Bevor man solche Spitzfindigkeiten diskutiert, wäre es allerdings ratsam, ein konkretes Beispiel für einen solchen Fall anzugeben. In seinen Vorlesungen zur Philosophie des Rechts aus dem Jahre 1819/20 macht sich Hegel über ein Beispiel aus Fichtes „System der Sittenlehre" lustig - es scheint allerdings von Benjamin Constant zu stammen und wurde bereits von Kant diskutiert223 - nämlich über den Fall, „dass einer wütend mit dem Dolche in ein Zimmer dringt und jemand ermorden will, der sich verborgen hat. Es frägt sich hier, ob ein anderer, der mit ihm im Zimmer ist und um den Verborgenen weiß, schlechthin gehalten sein soll, die Wahrheit zu sagen". Hegel löst den Fall elegant: Hier sei „das Sprechen nicht bloß ein Sprechen, sondern ein Handeln, und zwar ein ebensolches, als ob ich einem andern, der jemand ermorden will und keinen Dolch hat, den Dolch dazu in die Hand gebe"224. Das ist sicher richtig. Aber Hegel geht dem Problem aus dem Weg. Denn was tut man, wenn der Eindringling sich mit Schweigen nicht begnügt, sondern eine Antwort verlangt? Nichts sagen ist kein Problem, aber darf man etwas Falsches sagen? Es scheint, dass dies durchaus vertreten werden kann: So wie die Angabe der Wahrheit der Handlung „jemandem einen Dolch in die Hand zu geben" gleich ist, wäre eine falsche Auskunft hier eine reine Verteidigungshandlung („ihm den Dolch aus der Hand nehmen"). Von der Existenz eines kommunikativen Kontextes kann nicht die Rede sein. Dass ihm die Wahrheit gesagt werde, kann der Eindringling nicht vernünftigerweise erwarten. Und sollte er nur im Affekt den Tod des anderen wollen, so wäre er später, nach erfolgter Ernüchterung, dem „Lügner" wahr-

222 223 224

J. G. Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (Fichtes Werke hrsg. von I. H. Fichte, Nachdruck Berlin 1971, Bd. V), S. 185 f. Vgl. den bereits genannten Essay „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen", IV, a. a. O. G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Hrsg. von D. Henrich, Frankfurt/M. 1983, S. 118-119.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

scheinlich sogar dankbar, ihm eine falsche Angabe gemacht zu haben. Letztlich ist es jedoch sinnlos, solche Fälle kasuistisch zu diskutieren. Denn in der Wirklichkeit gibt es, je nach Situation, eine Vielfalt von Möglichkeiten: Um den Bedrohten zu verteidigen, könnte und mlisste man ja ohnehin versuchen, den Eindringling zu überwältigen, ihn hinauszutreiben, oder wenigstens zu fliehen, usw. Vorausgesetzt also, eine kommunikativer Kontext bzw. Kommunikationsgemeinschaft existiert, so gilt die Norm des Lügenverbotes als absolutes Handlungsverbot: Verstoß gegen die Tugend der Wahrhaftigkeit und damit gegen Gerechtigkeit. Der kommunikative Kontext ist genau jener Kontext, in Bezug auf den sich die Tugend der Wahrhaftigkeit konstituiert und der der Handlung „Falschaussage" somit die intentionale Identität einer Ungerechtigkeit verleiht. Die intentionale Handlung „lügen" ist gegen ein „für den Menschen Gutes" gerichtet: Gegen das Gut nämlich, als Glied einer Gemeinschaft menschlichen Zusammenlebens zu existieren; bzw. es richtet sich gegen dieses Gut als ein „für den anderen Gutes", d.h. dass er „als mir Gleicher" mit mir in einer Gemeinschaft des Zusammenlebens existiert. Das wird gerade deutlich bei der an sich harmlosesten aller Lügen, der Scherzlüge, die, wenn sie systematisch mit jemandem betrieben wird und man sich nicht dafür entschuldigt, dem anderen Anerkennung versagt und zwischenmenschliche Gemeinschaft zerstören kann. Insofern kein kommunikativer Kontext besteht, können diese Güter nicht verletzt werden; bzw. sofern diese Güter gar nicht verletzt werden können, kann man auch nicht von einer Ungerechtigkeit sprechen. Anders verhält es sich jedoch, falls eine Lüge lediglich als ungerechtfertigte Falschaussage betrachtet und angenommen wird, eine Falschaussage sei ein nur nichtsittliches Übel und die Handlung „eine Falschaussage machen" wiederum bloß die Verursachung eines solchen nichtsittlichen Übels, so dass man deshalb als einzig mögliche sinnvolle Formulierung der Norm gelten ließe: „Man darf nicht ungerechterweise, d.h. ohne angemessenen Grund eine Falschaussage machen". Das impliziert ja, dass man ebenso generell „Kommunikation" selbst nur als nichtsittliches Gut betrachtete, das aus angemessenen Gründen verletzt werden darf. Das führte aber dazu, dass man begründen könnte, es sei u.U. richtig, die kommunikative Basis menschlichen Zusammenlebens zu verletzen, wenn sich daraus voraussichtlich ein größeres Maß an guten Folgen ergibt. So wäre diskutierbar, ob es gerecht sein könnte, als Zeuge vor Gericht eine Unwahrheit zu sagen, um den (reumütigen) Angeklagten zu schützen, um dessen Schuld man zwar weiß, dessen Freispruch aber voraussichtlich insgesamt bessere Folgen als seine Verurteilung hat. Da „Gerechtigkeit" einer solchen Theorie gemäß nicht schon an gewisse intentionale Handlungsweisen gebunden ist, sondern eben jeweils - was die „Richtigkeit" einer Handlungsweise betrifft - hinsichtlich der Gesamtheit der voraussichtlichen Folgen für alle Betroffenen beurteilt werden muss, wäre dies dann eine „gerechtfertigte" Falschaussage und somit auch keine Lüge und keine ungerechte Handlung. Man könnte zwar auch für diesen Fall regelutilitaristisch die Norm aufstellen, es sei für das Wohl der Gesellschaft am besten, vor Gericht immer die Wahrheit zu sagen (um den Bestand der Institution nicht zu gefährden), aber eine solche Regel wird man ja vernünftigerweise nur befolgen, sofern man voraussieht, dass die Lüge ans Licht kommen könnte. Und dann wäre sie ja utilitaristisch gesehen ohnehin zu unterlassen. Folglich kann sich der Utilitarist nur die Frage stellen, ob er es riskieren soll oder nicht, - es sei denn er ist ein Anhänger des „Regelfetischismus". Es ist zwar durchaus nicht unrichtig, die Norm „man soll nicht lügen" zu formulieren als „man soll nicht ungerechterweise Falschaussagen machen", weil eine Lüge (willentliche

3 . SITTLICHE NORMEN

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Falschaussage) ja gerade deshalb eine schlechte Handlung ist, weil sie die Gerechtigkeit verletzt; und zwar jenen Teil der Gerechtigkeit, der durch die Tugend der Wahrhaftigkeit geregelt ist: die kommunikative Basis des menschlichen Zusammenlebens. Innerhalb dieses ethischen Kontextes lässt sich nun aber „nicht Lügen" als absolutes Handlungsverbot formulieren, d.h. als negative Norm im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit, die - wie alle solche Normen - keine Ausnahme zulässt. Die Rechtfertigung einer „Ausnahme" wäre hier dann gleichbedeutend mit der Rechtfertigung des Prinzips „Der Zweck heiligt die Mittel". Wenn das Lügenverbot meint, „man soll nicht ungerechte Falschaussagen machen", so kann deshalb als Grund von Ungerechtigkeit hier nicht die schlechte Absicht bzw. die schlechte Bilanz vorausgesehener Folgen bezeichnet werden, sondern allein der Kontext einer existierenden Kommunikationsgemeinschaft, ein Kontext, der eben ganz unabhängig von Absichten und weiteren Folgen existiert oder nicht existiert. Innerhalb dieses ethischen Kontextes gibt es demnach keine Kontingenz der Handlungsmaterie; aber der Kontext selbst ist kontingent, d.h. er besteht nicht immer. Ein absolutes Verbot kann aber, wie jede sittliche Norm und jede intentionale Handlung, immer nur in Bezug auf einen ethischen Kontext definiert werden. Kant polemisiert an sich mit gutem Grund gegen die Maxime: „Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat." Er schränkt dies sinnvollerweise auf den Fall ein, wo ein Mensch „einer Beantwortung mit Ja oder Nein nicht ausweichen kann". Die Maxime ist tatsächlich falsch, insofern damit gemeint ist, innerhalb eines ethischen Kontextes müsse der Sprechende sich jeweils noch fragen, ob der andere nun eine „Recht" auf eine der Wahrheit entsprechende Aussage habe oder nicht. Dies negiert Kant und es ist ihm zuzustimmen. Man kann aber obige Maxime auch so verstehen, dass die Existenz eines solchen Rechts von der Existenz eines kommunikativen Kontextes abhängt. Dann wird der Einwand Kants gegenstandslos. Er hingegen muss das Lügenverbot regelutilitaristisch begründen, was ihn allerdings dazu führt, konsequent zu sagen, dass man „durch eine gewisse Lüge in der Tat niemandem Unrecht tue"; man schade nur dem Prinzip allen Rechts und damit der Menschheit, „welches viel schlimmer ist als gegen irgendjemand eine Ungerechtigkeit begehen" 225 . Damit rechtfertigt nun Kant paradoxerweise gerade die Logik des regelutilitaristischen Konsequentialismus 226 .

Sofern also ein kommunikativer Kontext - der Kontext menschlichen, gesellschaftlichen Zusammenlebens - vorliegt, ist deshalb eine willentliche Falschaussage oder „Lüge" in sich und immer eine Ungerechtigkeit. Weil aber Normen immer in Bezug auf ethisch relevante 225 226

Vgl. I. Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, a. a. O. A 303 u. 313 (IV, S. 637 f. u. 642). In seiner Ethikvorlesung hingegen argumentiert Kant traditioneller und deshalb flexibler. Er vertritt dort noch eine durchaus tugendethisch geprägte Argumentation (Vorlesung über Ethik, a. a. O., S. 244): „Sofern ich gezwungen werde, durch Gewalt, die gegen mich ausgeübt wird, ein Geständnis von mir zu geben, und von meiner Aussage ein unrechtmäßiger Gebrauch gemacht wird und ich mich durch Stillschweigen nicht retten kann, so ist die Lüge eine Gegenwehr". Gemeint ist natürlich, dass sie dann gar keine Lüge, sondern ein bloßes falsiloquium und, moralisch betrachtet, objektiv ein Akt der Selbstverteidigung ist; denn hier gibt es, so können wir sagen, keinen ethischen Kontext „Kommunikationsgerechtigkeit" mehr. Entsprechend konsequent ist auch Kants Polemik gegen die Praxis der reservatio mentalis, die eben gerade durchaus die Kommunikationsgerechtigkeit zu verletzen vermag, weil ihre Anwendung keineswegs das Fehlen des entsprechenden ethischen Kontextes voraussetzt.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Kontexte und entsprechende intentionale Handlungen formuliert werden, sprechen wir i m Falle von nichtkommunikativen Kontexten von einer „Ausnahme". Streng g e n o m m e n liegt j e d o c h die A u s n a h m e nicht auf Seiten der N o r m , sondern auf der S e i t e des ethischen K o n t e x t e s , auf den sie sich bezieht. W i e das T ö t u n g s v e r b o t kennt es, w e n n wir die B e schränktheit jeder N o r m f o r m u l i e r u n g und ihren R ü c k b e z u g auf praktische Prinzipien, Tugenden und intentionale Handlungen berücksichtigen, keine Ausnahme. Auch ausweichende Antworten wie „Ich weiß nicht" (als Antwort auf einen Fragesteller, der kein Recht auf die entsprechende Information hat) oder „Er ist nicht hier" (z. B. um jemanden vor einem unwillkommenen Telefonanruf zu „beschützen"), können m. E. unter Umständen eine Verletzung der Kommunikationsgerechtigkeit und damit der Tugend der Wahrhaftigkeit sein, nämlich dann, wenn die fragende Person vernünftigerweise annehmen darf, der Befragte und mit „Ich weiß es nicht" Antwortende wisse es tatsächlich nicht bzw. der ans Telefon Gerufene sei wirklich nicht zugegen. Hier werden falsche Informationen übermittelt und es liegt eine bewusste Irreführung vor 227 . Es gibt aber Kontexte, in denen - konventionellerweise - solche Antworten nichts anderes als allgemein bekannte Umgangsformen sind, die dazu dienen, auf höfliche, nicht brüskierende Weise zum Ausdruck zu bringen, man wolle, könne oder dürfe jemandem auf diese Frage keine Antwort geben oder der am Telefon Verlangte wolle jetzt, mit der Bitte um Respektierung seiner Privatsphäre, eben nicht ans Telefon kommen. Allerdings sind wohl gerade für den letzten Fall durchaus noch weniger brüskierende Wege denkbar. Da die Lüge eine willentliche Falschaussage und nur als solche eine Verletzung der Kommunikationsgerechtigkeit ist, verliert sie an Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit, je mehr der Wille des Sprechenden unter Einfluss von Furcht vor einem ihm drohenden Übel steht (und sie ist dann auch entsprechend weniger „Lüge"). Thomas v. Aquin sagt, j e größer das mit einer Lüge zu erreichen beabsichtigte Gut ist, desto geringer ist die Schuld des Lügners 228 . Deshalb sind wir auch geneigt, in gewissen Umständen eine Lüge leicht zu entschuldigen. Das hat aber nichts mit ihrer normativen Rechtfertigung zu tun. Man soll sich ja auch für eine verständliche Notlüge entschuldigen; das kann man aber nur, wenn man nicht sagt, es habe sich um eine „gerechtfertigte Falschaussage" gehandelt, man habe also „richtig" gehandelt. Dann bräuchte man sich ja gar nicht zu entschuldigen; man verdiente vielmehr Lob. In Wahrheit sind Notlügen Zeichen der Schwäche, der Feigheit („Ein Lügner ist ein feiger Mensch" 229 ), und oft ist ihre (subjektive) „Unausweichlichkeit" Folge unklugen Verhaltens. D i e bisherigen B e i s p i e l e für N o r m e n stammten sämtlich aus d e m B e r e i c h der T u g e n d der Gerechtigkeit. Im Falle der Tugenden des Maßes und des Starkmutes gelten mutatis mutandis dieselben Grundsätze. Hier können allerdings zumeist nur sehr formale Kriterien angegeben werden, da j a die Mitte dieser T u g e n d e n i m m e r nur eine „Mitte in B e z u g auf uns" ist. „Schlecht" i m Bereich dieser Tugenden, die j a die vernunftgemäße Ordnung der sinnlichen Strebungen herstellen, sind nicht eigentlich bestimmte Handlungen zu nennen, sondern das Verhältnis des Willens zu den Leidenschaften. Eine Leidenschaft - sofern der Wille mitspielt - ist schlecht, w e n n sie die Herrschaft der Vernunft über das sinnliche Begehren verunmöglicht b z w . das Urteil der Vernunft über das Gute verkehrt. Über die sittliche Bedeutsamkeit dieser Tugenden wurde bereits früher genügend gesagt. Man kann aber in dieser B e z i e h u n g nicht eigentliche Handlungsnormen, sondern höchstens sittliche Beurteilungskriterien formulieren.

227 228 229

Genau so argumentiert auch Kant in seiner Ethikvorlesung, a. a. O., S. 245. II-II, q. 110, a. 2. Kant, Eine Vorlesung über Ethik, a. a. O., S. 245.

3 . SITTLICHE NORMEN

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Es gibt allerdings auch Handlungen im Bereich dieser Tugenden, bezüglich derer Normen formuliert werden können, weil diese Handlungen ein bestimmtes Verhältnis der Vernunft und des Willens zur eigenen Triebstruktur etablieren oder zum Ausdruck bringen. „Sich betrinken" ist als (willentliche) Handlungsweise eine Handlung, durch die die Herrschaft der Vernunft ausgeschaltet wird. Hier kann ein absolutes Handlungsverbot formuliert werden, allerdings wiederum nur bezüglich der Tugend des Maßes (und damit eines ethischen Kontextes): Das Handlungsverbot gilt für Akte der Unmäßigkeit, und nicht z.B. für jenen, der sich zum Zwecke eines wissenschaftlichen Experimentes oder zum Zweck der Anästhesie bei einer Notoperation in den Zustand der totalen Betrunkenheit versetzt. Wir können sagen: (1) Eine Handlungsweise, welche die durch Vernunft und Wille zu vollziehende verantwortliche Modifizierung der Dynamik eines sinnlichen Strebens behindert oder verunmöglicht, - so dass die Vernunft ihrer Herrschaft über die sinnliche Triebstruktur enthoben wird - , oder aber (2) eine Handlung, die darauf abzielt, diese verantwortliche Modifizierung überflüssig zu machen - indem aus Gründen der Verantwortung zu vermeidende Folgen von Akten dieses Triebes verhindert werden, so dass der Trieb zu Vermeidung dieser Folgen nicht mehr durch Vernunft und Wille beherrscht zu werden braucht und er seiner nun folgenlosen Eigendynamik überlassen werden kann - sind Handlungen, die in sich gegen jene Tugend Verstössen, durch die das entsprechende Streben vervollkommnet wird230. e) Verbotsnormen: Grenzbedingungen der Wahrung menschlicher Identität Die vorangehenden Überlegungen zeigen, dass Verbotsnormen nichts anderes als die Formulierung der Grenzen menschlichen Handelns sind. Weiter können sie betrachtet werden als die Minimalbedingungen dafür, dass menschliches Handeln in den Bahnen menschlicher Identität, des „für den Menschen Guten" verläuft. Deshalb sind sie auch so wichtig, obgleich sie selbst nicht den Kern von Sittlichkeit ausmachen. Absolute Handlungsverbote können in einer reinen Normenethik nicht stringent begründet werden, weil hier die Norm immer so formuliert werden kann, dass sie absolut oder auch nicht-absolut gilt. Die Einsichtigkeit in die Existenz absoluter Handlungsverbote ergibt sich allein im Kontext einer Tugendethik. Dort ist sie auch zum ersten Mal aufgetreten: In der Aristotelischen Ethik (s. oben IV, 2, b). „Absolute Handlungsverbote" sind nicht zu verwechseln mit absoluten Werten oder Gütern. Solche gibt es innerhalb der geschaffenen Welt nicht. Absolute Handlungsverbote sind normative Aussagen, die immer gelten. Sie beziehen sich auf menschliche Handlungen. Trotz der Kontingenz und Relativität aller innerweltlichen Güter kann es intentionale Handlungen geben, deren sittlicher Qualität ein „moralisch absoluter" Charakter zukommt. Das heißt in ihnen steht das Menschsein des Menschen als Ganzes auf dem Spiel. Für den Menschen als Handlungssubjekt ist sein „Menschsein" (menschliche Identität) ein absolutes, nichtrelativierbares Gut.

230

Das letztere trifft m. E. auf die Handlung „Empfängnisverhütung" zu, in Bezug auf die deshalb eine absolut verbietende Handlungsnonn formuliert werden kann. Zur Beschreibung des Objekts dieser Handlung s. oben III,4,c; zur Begründung der Norm vgl. M. Rhonheimer, Sexualität und Verantwortung, a. a. O. In kürzerer Form findet sich die Argumentation in meinem Artikel: Empfängnisverhütung, Sexualverhalten und Menschenbild, in: Imago Hominis II, 1 (1995), S. 145-152.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Wir sprachen bis anhin von „absoluten" Handlungsverboten. Strenggenommen ist das Wort „absolut" freilich überflüssig. Eine Verbotsnorm gilt, wie man traditionellerweise sagte, Semper et pro semper, immer und für jeden Fall. Sie formuliert eine Grenze, die nicht überschritten werden kann, will man nicht jenen Bereich verlassen, in dem jede potentiell tugendhafte Handlung angesiedelt ist. „Töten" und „lügen" sind Handlungen, die gegen die Fundamentalbedingungen von Gerechtigkeit Verstössen, wodurch der Wille des Handelnden vom Ziel „Gerechtigkeit" oder „Gerechtes tun" überhaupt sich abwendet. Solche Handlungen sind mit jeder möglichen Handlung des Typs „Gerechtigkeit" schlechthin unvereinbar. Ausnahmen von einer Verbotsnorm rechtfertigen zu wollen würde bedeuten, rechtfertigen zu wollen, dass man „ausnahmsweise" nicht das für den Menschen Gute zu verfolgen oder gut zu handeln brauche; dass hie und da ein Schuss Unmoral aufs Ganze gesehen schließlich besser sei (es ist allerdings keineswegs die Absicht des Utilitarismus, dies zu behaupten; dieser Vorwurf ist nur aus der Sicht einer Tugendethik begründbar). Der Begriff „absolutes" Handlungsverbot ist jedoch gerechtfertigt, weil es Verbotsnormen gibt, die sich nicht nur auf einen feststehenden ethischen Kontext, sondern zudem auch auf eine kontingente Handlungsmaterie beziehen (Beispiel: Diebstahl, Einhalten von Verträgen oder Versprechen, Zurückerstattung von Geliehenem). Die Bedingung, unter der die Norm gilt, muss hier deshalb in ihre Formulierung hineingenommen werden (im Beispiel Diebstahl die Rechtmäßigkeit des entwendeten Besitzes; deshalb ist „Diebstahl" „Aneignung rechtmäßigen fremden Besitzes"). Bei sog. absoluten Handlungsverboten ist das nicht nötig. Die Angabe des ethischen Kontextes genügt hier. Es mag nützlich sein, an dieser Stelle zu wiederholen, dass mit dem Ausdruck „in sich" oder „innerlich schlechte" Handlungen nicht eine gleichsam unabhängig vom Wollen des Handelnden in rerum natura bestehende „innere" Schlechtigkeit gewisser Handlungen gemeint ist; vielmehr soll gesagt sein, es gebe beschreibbare Handlungsweisen, die unabhängig von weiter hinzukommenden intentionalen Faktoren in allen Fällen unsittlich sind. Dies unbeschadet der Tatsache, dass auch die betreffende „in sich schlechte" Handlungsweise nie ohne Basis-Intentionalität gedacht werden kann; auch „in sich schlechte Handlungen" sind immer intentionale Handlungen, zu deren Beschreibung ein vernunftgeleitetes Wollen des Handelnden gehört. Es handelt sich also um ein Lehrstück, welches die Struktur des Zustandekommens sittlicher Urteile betrifft.

Eine positiv formulierte Norm hingegen, die uns etwas zu tun gebietet und die wir deshalb eine exhortative Norm nennen können, formuliert nicht Grenzen, sondern jeweilige Tugenden, die sich innerhalb dieser Grenzen bewegen. Das Handlungsverbot ist der Straßenrand und die Leitplanke; die exhortative Norm (die Tugend) ist die Straße selbst und das Ziel. Sie sind deshalb das eigentliche Thema der Ethik. Denn niemand würde wohl behaupten, das Wichtigste an einer Straße seien ihre Ränder und Leitplanken; das Wichtigste ist die Straße selbst und das Ziel, zu dem sie hinführt. Das „Normenproblem" ist nicht das Hauptthema der Ethik. Aber ebensowenig kann man sagen, der Begriff der Tugend habe lediglich „paränetische" Funktion, d.h. er diene nur der sittlichen Ermahnung, das jeweils Richtige immer auch in bester Absicht, mit guter Gesinnung und mit Entschlossenheit zu tun; für die „normative Ethik" jedoch bringe das Sprechen über Tugenden und generell über das, was des Menschen Absichten und Gesinnungen sittlich gut mache, nichts. Selbstverständlich gelten auch exhortative Normen ausnahmslos. Sofern sie Zielnormen sind („man soll gerecht handeln") gelten sie ebenfalls in jedem einzelnen Fall. Aber das ist für die diskursive Normenbegründung nicht sehr relevant. Exhortative Handlungsnormen hinge-

4 . ETHIK DES HANDLUNGSURTEILS: STRUKTUREN DER KLUGHEIT

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gen, die sich auf konkrete Handlungsweisen richten, gelten zwar immer, aber nicht für jeden Fall. „Die Wahrheit sagen" ist in sich betrachtet (objektiv) eine gute Handlungsweise. Aber aufgrund der Umstände oder auch der Absicht kann „die Wahrheit sagen" eine schlechte Handlung sein. Es kann deshalb geboten sein, unter Umständen zu schweigen, was ja nicht dasselbe ist, wie etwas Falsches zu sagen. Jemandem die Wahrheit zu sagen, um ihn zu kränken hingegen, oder um ihn zu erschrecken, das ist, aufgrund der Absicht, eine schlechte Handlung. Andrerseits ist „ein Versprechen halten" „in sich" eine gute Handlung. Aber sie kann schlecht sein, wenn sich die Situation dermaßen ändert, dass das Einhalten zu einer ungerechten Handlung verpflichtete, die man als Gegenstand des Versprechens in keiner Weise voraussah, als man das Versprechen vollzog. Dies ist ein Fall der Änderung der Handlungsmaterie, ähnlich wie bei „Diebstahl" und „Mundraub". „Sich verehelichen" wiederum ist in sich eine gute Handlung. Aber sicher nicht für jeden, und in jeder Lebenssituation. Mithin können dafür, was in concreto immer schlecht und deshalb zu unterlassen ist, eigentliche Handlungsnormen formuliert werden. Sie sind Ausgangspunkt und Grenze für jeden Akt der Klugheit. Was in concreto jedoch jeweils gut ist und hier und jetzt getan werden soll, dafür kann es keine Handlungsnorm geben, sondern es ist nur durch die Klugheit auszumachen.

4. Ethik des Handlungsurteils (Strukturen der Klugheit) a) Die Einheit der praktischen Vernunft und die Perspektive der Moral (Rekapitulation und Vertiefung) Zunächst ein zusammenfassender Rückblick auf das bisher Erarbeitete, sowie einige vertiefende Bemerkungen: Der Prozess aller Tätigkeit der praktischen Vernunft besitzt seinen Ausgangspunkt in praktischen Prinzipien, die zugleich die Zielstruktur der menschlichen Tugenden formulieren. Praktische Vernunft entfaltet sich in zunehmender Konkretion bis hin zum letzten praktischen Urteil, das in handlungsauslösender Weise festlegt, was hier und jetzt zu tun ist. Aufgrund der habituellen Ausrichtung der menschlichen Strebungen und Affekte bildet sich diese konkret-handlungsbestimmende Vernunft zum Habitus der Klugheit aus. Damit ist nicht gemeint, dass jede praktische Überlegung in einem diskursiven Gang von den Prinzipien zum konkreten Handlungsurteil führt. Die Prinzipien sind als Ausgangspunkt der letzte Grund aller Intelligibilität des konkret Guten; sie begründen die Intelligibilität des „für den Menschen Guten", in Bezug auf das alles konkrete Urteilen sich vollzieht und auf das es in seiner kognitiven Struktur abzielt. Ohne die Erfassung der Grundstrukturen von Gerechtigkeit auf der Ebene der Prinzipien wäre es unmöglich, konkrete Handlungsweisen als gerechte Handlungsweisen zu erkennen. Das im Konkreten Gerechte muss unter das Prinzip „Gerechtigkeit" subsumierbar sein, um als Gerechtes gewählt und getan werden zu können. Dies heißt nun eben nicht, um erneut dem möglichen Missverständnis entgegenzutreten, dass das im Konkreten Gerechte von Gerechtigkeitsprinzipien abgeleitet werden könnte. Vielmehr ist es Gegenstand einer genuin auf das Partikulare gerichteten praktischen Erkenntnis. Aber nur im Lichte der Prinzipien kann partikulares Handeln als ein der Gerechtigkeit entsprechendes Handeln verstanden und gewählt werden231. Die Prinzipien weisen also menschlichem 231

Vgl. oben V, 1 f: „Genese und Applikation praktischer Prinzipien: Die Rolle von Erfahrung und Klugheit"

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Handeln die Richtung, aber sie erbringen auch - wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt die Leistung, eindeutige Grenzen abzustecken. Wenn wir die prinzipienerfassende Vernunft von jener Vernunft, die konkrete Handlungsurteile vollzieht und sich zum Habitus der Klugheit ausweitet, unterscheiden, so darf darüber nicht die fundamentale Einheit der praktischen Vernunft vergessen werden. Praktische Vernunfttätigkeit ist eine einzige, das Streben ordnende und leitende, sich in Bezug auf konkretes Handeln konkretisierende erkennende Hinwendung auf das für den Menschen Gute. Nicht nur die Einheit des intellektiven Vermögens selbst ist hier zu beachten, sondern auch die intentionale Einheit praktischer Vernunftakte. „Auch die Überlegung über die Mittel [ = die konkreten um eines Zieles willen zu wählenden Handlungen], insofern sie im Hinblick auf ein Ziel Gegenstand der Überlegung sind, ist derselbe Denkakt, wie derjenige, der das Ziel zum Gegenstand hat"232. Mittel und Ziel verhalten sich zueinander wie Materie und Form und sie bilden eine objektive Wesenseinheit. Das gilt sowohl für das Streben wie auch für das Erkennen. Die konkret mittelbestimmende Vernunft ist demnach die letzte Vervollkommnung jener praktischen Vernunft, die als ihr Fundament und ihren Ausgangspunkt die Ziele zum Gegenstand hat. Je konkreter und handlungsnäher praktische Vernunft wird, desto größere Vollkommenheit besitzt sie; denn Akte praktischer Vernunft werden ja um des Handelns willen vollzogen; und Handlungen sind immer partikulare Konkretion des Guten. Praktische Vernunft in ihrer Vollkommenheit letzter Konkretisierung ist jedoch dieselbe Vernunft, welche die Prinzipien zum Gegenstand hat. In jedem konkreten Handlungsurteil sind die Prinzipien intentional präsent, aber in der für das hier und jetzt zu Tuende notwendigen Partikularität233. Dasselbe gilt folglich für den vernunftgeleiteten Willen. Aus diesem Grund bezieht sich der Handelnde in jedem konkreten Akt des Wählens und Handelns immer auch intentional auf das „für den Menschen Gute" auf der Ebene der Universalität der Prinzipien und so wird sein Wille ein guter oder ein schlechter Wille. Wenn diese handlungsbestimmende Vernunft den Habitus der Klugheit besitzt, so ist die Vollkommenheit eine doppelte: Nicht nur die unmittelbar handlungsleitende Konkretion praktischer Vernunft ist hier gegeben, sondern auch die affektive Konnaturalität des vernünftigen Handlungssubjekts mit dem für den Menschen Guten. Das praktischer Vernunft vermittels der natürlichen Neigungen gegenständliche „von Natur aus Vernünftige" besitzt dabei die Funktion einer Wahrheitsbedingung der Erkenntnis des „für den Menschen Guten" und ist letzter Grund für die ursprüngliche Richtigkeit des Strebens. Dem „von Natur aus Vernünftigen" kommt dabei zwar gerade keine transzendentale Funktion zu (denn es ist kein A priori, sondern ein in die Ordnung der Vernunft integriertes empirisch Gegebenes), als Bedingung der Möglichkeit praktischer Wahrheit, ist es jedoch einem transzendentalen Prinzip funktional äquivalent. Die praktische Wahrheit konkreter Handlungsurteile schließlich ist nicht Übereinstimmung dieser Urteile mit irgendwelchen Sachverhalten, sondern ihre Übereinstimmung mit dem richtigen Streben, das wie gesagt seine letzte Gründung im „von Natur aus Vernünftigen" und den sich in dessen Horizont ausformenden praktischen Prinzipien besitzt. Die handlungsbestimmende Vernunft, die sich zur Klugheit - zu recta ratio des Handelns und damit eigentlich zu einem „Habitus praktischer Wahrheit" - ausbildet, formt das affektive 232 233

In II Sent., d. 38, q. 1, a.4 ad 3. Vgl. (auch für das Folgende) De Virtutibus in communi, q. un, a. 6 und 7.

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Zielstreben. Dieses, das vernunftgemäße Zielstreben der sittlichen Tugend, erwirbt das Handlungssubjekt ja durch der Tugend entsprechende Akte. Denn durch die naturhafte Erfassung der Prinzipien ist erst die „natürliche Tugend" gegeben. Die eigentliche, sittliche Tugend bildet sich aus durch immer wieder vollzogenes Wählen und Tun des konkret Guten. In diesem Sinne kann man sagen, dass die handlungsbestimmende praktische Vernunft, die sich zur Klugheit ausbildet, Ursache der eigentlichen, der sittlichen Tugend ist. Diese ist, als Klugheit, die eigentliche Regel bzw. der adäquate Maßstab für menschliches Handeln. Sittliche Tugend jedoch ist eine besondere Art von „Regel", eine solche nämlich, die nicht uniform, sondern plastisch und auf eine Viefalt hin offen ist. Denn sie muss ja regeln, was „je wieder anders ist". Dennoch ist sie eine Regel, da sie in der Tat dies , j e wieder andere" in die Übereinstimmung mit dem richtigen Streben bringt. Dazu genügen nun eben die Prinzipien selbst, das „von Natur Gegebene" nicht; es bedarf der Konkretion, um in der Vielfalt des Praktischen dem Prinzip gerecht zu werden. Und das genau ist die Leistung jener Vernunft, die Klugheit heißt. Wir können utilitaristische Ethiken (welcher Art auch immer) als Theorien darüber begreifen, wie man in gegebenen Situationen ganz abgesehen davon ob nun der Wille des Handelnden gut oder schlecht ist zu „richtigen" Entscheidungen gelangt; Kantische Ethik hingegen ließe sich begreifen als das Umgekehrte, nämlich als eine Theorie darüber, unter welchen Bedingungen unser Wille gut oder schlecht ist, ganz abgesehen davon, was nun in einer gegebenen Situation die richtige Handlungsentscheidung ist. Kantische Ethik ist eine (transzendentale) Theorie der Bedingungen der Möglichkeit eines guten Willens; Utilitarismus ist eine Theorie des richtigen Handelns. Damit bewegen sich beide auf einer verschiedenen Ebene und es kann nicht erstaunen, dass sie sich trefflich ergänzen: Man kann als Utilitarist gleichzeitig Kantianer, und als Kantianer Utilitarist sein; Kant selbst verfährt ja, wie wir sahen, bei der Behandlung des Lügenverbotes zunächst regelutilitaristisch, um dann aber die unbedingte Befolgung der so gewonnenen Norm zur unhintergehbaren Bedingung der Moralität des Willens zu erheben (eine Ebene, mit der sich utilitaristische Begründungen gar nicht beschäftigen). Hier also sind Theorie über das Gutsein des Willens und Theorie über die Richtigkeit des Handelns auseinandergetreten. Die Moderne braucht für die Ethik immer mindest zwei in sich disparate Theorien, die dann, zum Verständnis des Ganzen, kombiniert werden müssen (wobei die gegenwärtige virtue ethics sich praktisch auf einen einzigen der beiden Teile, nämlich den ersten, konzentriert). Kennzeichen klassischer Tugendethik ist hingegen gerade, in einem einzigen Zugriff Gutsein des Wollens und Richtigkeit des Handelns zusammenzubringen. Dies freilich um den Preis, keine eindeutigen Lösungen für konkrete Entscheidungsprobleme anbieten zu können234. Sie bleibt eine Grundrisswissenschaft. Es gehört ja gerade zum Begriff der sittlichen Tugend, dass sie sich auf jenes bezieht, „was immer wieder anders ist". Wenn ein Kritiker der modernen Tugendethik beklagt: „Folglich können wir uns von ihr keinen großen Nutzen in angewandter Ethik und Kasuistik erhoffen" 235 , so gilt dies für Tugendethik in klassischer Tradition allerdings nur in eingeschränkter Weise. Wenn man unter Kasuistik 234

235

In diese Richtung zielen die ausgezeichneten Darlegungen von E. D. Pellegrino, Der tugendhafte Arzt und die Ethik der Medizin, in: H.-M. Sass (Hrsg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989,40-68. Ähnliches ist auch über die Arbeiten von Hans Jonas zu sagen (vgl. z.B. in demselben Band: Humanexperimente, 232-253). R. Louden, Einige Laster der Tugendethik, a. a. O., S. 193.

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das Erzielen von eindeutigen Handlungsanweisungen und Lösungen erwartet, dann ist allerdings jede Form von Tugendethik ein schlechter Helfer. Das heißt jedoch keineswegs, dass es nicht auch spezifisch tugendethische Kasuistik und Anwendungsdiskurse geben kann. Allerdings werden diese freilich einen anderen Stellenwert einnehmen, als in einer Normenund Regelethik. Denn Tugendethik bindet dieses „immer wieder andere" zugleich zurück an Wahrheit, praktische Wahrheit nämlich, die von Aristoteles bestimmt wird als Übereinstimmung des Gewählten und des Tuns mit dem richtigen Streben. Die fundamentale Richtigkeit der intentionalen Ausrichtung des handelnden Subjekts auf das Gute ist es, was Tugendethik interessiert. Und damit nicht so sehr die Rationalität von Entscheidungsprozeduren, sondern das Gelingen des Lebens. Aber vielleicht ist es gerade dieses Interesse, dass das Leben als Ganzes „richtig" sei, was auch in konkreten Entscheidungsprozessen letztlich Rationalität zu sichern vermag; gemeint ist freilich eine moralische Rationalität. Dies zu zeigen, wird Gegenstand der nachfolgenden Kritik an der konsequentialistischen Ethik sein (s. Abschnitt f). Damit erweist sich, dass praktische Prinzipien eben nicht nur propositionale Prinzipien d.h. sprachlich formulierte Regeln eines rationalen Diskurses sind. Sie sind nicht lediglich Prinzipien einer Vernunft, die „über Handlungen spricht" und auch nicht einfach Prinzipien der akademischen Disziplin „Ethik" oder eines gesellschaftlich-politischen Normendiskurses. Wären sie nur dies, so wäre alle reflektierte Moral letztlich Expertenmoral, wodurch die moralische Kompetenz des gewöhnlichen Menschen, des sittlichen Subjekts schlechthin, unberücksichtigt bliebe und gleichsam als unerheblich zur Seite geschoben würde. Doch brauchen wir „auf die Verlautbarungen der akademischen Moralphilosophie im Regelfall nicht erst zu hören, um uns als moralische Subjekte konstituieren und bewähren zu können"236. Praktische Prinzipien sind vielmehr die Prinzipien der Vernunft eines Subjekts, das nach dem Gelingen seines Lebens strebt. Als solche sind sie nicht Prinzipien des Diskurses über Praxis, sondern Prinzipien der Praxis selbst, die den Menschen überhaupt als Handlungssubjekt konstituieren und sich gleichzeitig auch als die grundlegenden Prinzipien der Richtigkeit des Strebens erweisen, da sie das Handlungssubjekt, sein Wollen und die in dieses eingebetteten praktischen Urteile der moralischen Differenz von Gut und Böse unterstellen. Wer gegen diese Prinzipien verstößt ist nicht ein solcher, der unrichtig denkt und schließlich in seinen Entscheidungen einen Fehler begeht. Vielmehr ist er einer, der, weil sein Streben das Richtige verpasst, einen „unrichtigen" d.h. schlechten Willen besitzt. Hier besteht nun eben ein wesentlicher Unterschied zu allen Arten utilitaristischer Rationalität (von Kant her gesehen ist der eben ausgesprochene Satz ohnehin völlig daneben): Diese nämlich begreift praktische Prinzipien als orientierende Regeln für Entscheidungsprozesse. Diese Regeln jedoch, und das ist wesentlich, sind selbst wiederum Produkte einer bestimmten „decision-makingtheory"; sie sind nichts anderes als Generalisierungen, die gerade jener Entscheidungsrationalität entstammen, die sie dann zu regulieren haben. Sie haben also keinen eigenen Usprung, sind der Entscheidungsrationalität selbst weder vor- noch übergeordnet, und vermögen diese letztlich auch nicht grundlegend, d.h. eben: prinzipiell, einzuschränken. Denn diese Prinzipien oder Regeln können, ja müssen, gemäß der Entscheidungslogik, die sie regulieren, immer wieder adaptiert und neu gefasst werden. Somit besitzen auch alle Prinzipien als 236

H. Lübbe, Moral und Philosophie der Moral, in: Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen (Die Beiträge des XII. Deutschen Kongresses für Philosophie in Innsbruck vom 29. September bis 3. Oktober 1981), Innsbruck 1983, S. 545-555; hier: S. 545.

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Formulierung von „Pflichten" immer nur prima facie-Geltung, sind also gleichsam provisorischer Art237. Praktische Prinzipien jedoch, wie hier begriffen als Ziele sittlicher Tugenden, besitzen einen allen konkreten Entscheidungsprozessen und ihrer Logik vor- und übergeordneten Status. Sie entstammen nicht dieser Logik selbst, sondern bilden vielmehr gerade einen eigenständigen moralischen Maßstab für konkrete Entscheidungsprozesse. Deshalb ist es dann auch möglich, konkrete Entscheidungen als praktisch unwahr, d.h. mit der Richtigkeit des Strebens w'c/ii-übereinstimmend auszumachen. Solche Prinzipien können durch die Entscheidungslogik selbst nicht unterlaufen werden, sondern formulieren vielmehr für deren moralische Rationalität und Legitimität Richtung und Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen jedoch ist für eine Tugendethik eine Vielzahl von Entscheidungslogiken denkbar, auch jene der Güterabwägung und Folgenbilanzierung. Dies ist wiederum abhängig davon, um welchen Typ von Entscheidung es sich handelt bzw. auf welche Art von Materie sie sich bezieht. Das Thema „Entscheidungslogik" ist jedoch als solches gar kein Thema der Ethik, sondern es gehört in den Bereich der verschiedenen Fachkompetenzen (Ökonomie, Sozialpolitik, Erziehung, wissenschaftliche Forschung, Technologien, usw.). Ethik bzw. Moral selbst als eine eigene Art von „Entscheidungslogik" zu begreifen ist entweder Anmaßung (und Einmischung) gegenüber solchen Formen von Fachkompetenz oder aber es tendiert dazu, „Moral" nun einfach mit einer dieser fachspezifischen Logiken zu identifizieren, was soviel wie Abdankung der Moral bedeuten würde. Ethik entspringt vielmehr der bezüglich aller fachspezifischen Entscheidungslogik übergreifenden Frage nach der Kompatibilität jeglicher Entscheidung mit der Richtigkeit des Strebens, d.h. ihrer praktischen Wahrheit. Genau hier werden dann „absolute", unübeschreitbare Grenzen sichtbar, sowie die Tatsache, dass z.B. mit der Methode der Güterabwägung jeweils nicht über die fundamentale Richtigkeit unseres Tuns zu entschieden werden vermag. Dass es Bedingungen für die fundamentale Richtigkeit des Handelns gibt, die an Grundstrukturen des „richtigen Strebens" gebunden sind, dass man deshalb konkrete Handlungsweisen beschreiben kann, deren Wahl immer Unrichtigkeit des Strebens impliziert, ist eine der gewichtigsten Grundaussagen klassischer Tugendethik. Eine Ethik, die sich - auf der Ebene „normativer Ethik"- als rationalen Diskurs zur Begründung von Normen versteht, wird dies nicht ins Blickfeld bekommen können. Normenethiken sind nämlich in einer Weise „objektivistisch", die es ihnen verbietet, das Handlungssubjekt und die in seinen Wahlakten bezüglich konkreter Handlungsweisen implizierte willentliche Stellungnahme zu „Gut" und Übel" mitzureflektieren. Entsprechend können sie dann auch nicht - unabhängig von der Berücksichtigung weiterer Intentionen bezüglich der Sachverhalte oder Folgenbilanzen, die sich voraussichtlich aus den entsprechenden Handlungen oder deren Unterlassung ergeben die Frage nach der „Richtigkeit des Strebens" bzw. nach der „Wahrheit der Subjektivität" auf der Ebene der konkreten Handlungswahlakte stellen. Es stimmt zwar, wie vorgebracht wurde238, dass die traditionelle Lehre über die „Quellen der Sittlichkeit" alleine keine Probleme normativer Ethik löst, sondern deren Lösung bereits voraussetzt. Denn alles hängt ja bei dieser Lehre davon ab, was man jeweils als „Objekt" einer Handlung bestimmt. Dennoch enthält diese klassische Lehre eine nicht hintergehbare 237 238

Der Begriff der „prima facie-Geltung" von Pflichten stammt von W. D. Ross, The Right and the Good, a. a. O. Vgl. B. Schüller, Die Quellen der Moralität, a. a. O.

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Aussage: Dass nämlich, ganz unabhängig von weiteren Intentionen, jeweils zwischen einem die Handlung (d.h. den Willen des Handelnden) sittlich spezifizierenden „Objekt" und eben diesen weiteren Intentionen unterschieden werden muss (vgl. weiteres unten, Abschnitte c, d und e); dass es also Handlungsvollzüge gibt, die trotz bester Intentionen schlecht sind, weil die Wahl der konkreten Handlung, durch die solche löblichen Absichten erreicht werden wollten, bereits sittlich schlecht ist239. Man wird eine solche Lehre allerdings niemals aufgrund einer Ethik, die sich als Normendiskurs versteht, einsichtig machen können. Und dies deshalb, weil hier ganz einfach die Unterscheidung zwischen „Objekt" und „weiterer" Intention aus dem Raster fallt. Das einzige was eine argumentative Normenethik handlungstheoretisch aufweisen kann, sind bestimmte „Ereignisse" („Handlungen") auf der einen, und sich daraus ergebende Folgen auf der anderen Seite. Intendiert man die jeweils besten Folgen, so sind es gerade diese, die dann als „Objekt" der „Handlung" bezeichnet werden müssen. In Wirklichkeit jedoch befolgen wir, wie wir sahen, weder Normen noch Regeln, noch bestimmen wir unser Handeln jeweils auschließlich aufgrund der voraussichtlichen Folgen für alle von einer Handlung Betroffenen. Unser Handeln vollzieht sich vielmehr im Rahmen bestimmter „sittlicher Verhältnisse", die Verhältnisse zwischen Personen (Freunde, Eheleute, Eltern-Kinder, Vorgesetzter-Untergebener, Vertragspartner, Personen, die in Kommunikationsgemeinschaft stehen usw.)240. Hier geht es immer darum, was wir dem anderen schuldig sind, es geht um Recht und Wohlwollen zum jeweils Nächsten, um VerantwortungsVerhältnisse zu konkreten Mit-Menschen. Solche Verhältnisse besitzen für die Bestimmung unseres Willens im Vergleich zu anderen Umständen eine privilegierte Stellung. So ist eben die Ehefrau nicht verpflichtet, ihren Ehemann wegen eines von ihm vergangenen Verbrechens der staatlichen Gewalt auszuliefern, auch wenn sie anerkennt, dass es für das allgemeine Wohl notwendig ist, dass Übeltäter bestraft werden241. Sowohl die Ehefrau wie auch die Polizei

239

240

241

Vgl. dazu auch die folgende Formulierung aus der Enzyklika „Veritatis splendor" vom 6. August 1993, Nr. 79: „Zurückgewiesen werden muss daher die für teleologische und proportionalistische Theorien typische Ansicht, es sei unmöglich, die bewusste Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter Handlungen nach ihrer Spezies - ihrem „Objekt" - als sittlich schlecht zu bewerten, ohne die Absicht, mit der die Wahl vollzogen wurde, oder ohne die Gesamtheit der vorhergesehenen Folgen jener Handlungen für alle betroffenen Personen zu berücksichtigen." Vgl. dazu M. Rhonheimer, „Intrinsically Evil Acts" and the Moral Viewpoint: Clarifying a Central Teaching of Veritatis splendor, in: The Thomist, 58,1 (1994), S. 1-39 (wiederabgedruckt in: J. A. Di Noia und R. Cessario, Veritatis splendor and the Renewal of Moral Theology, Princeton-HuntingtonChicago 1999, S. 161 ff.). Die Kategorie des „sittlichen Verhältnisses" und darauf sich aufbauender Verantwortlichkeiten wurde sehr gut herausgearbeitet bei R. Spaemann, Wer hat wofür Verantwortung? Zum Streit um deontologische oder teleologische Ethik, in: Herder Korrespondenz 36 (1982), 3 4 5 - 3 5 0 und 403^408. Die nachfolgenden Kritiken durch A. Elsässer, F. Furger und P. Müller-Goldkuhle (ebd. 509 ff., 603 ff., 606 ff.) sind leider auf die Grundgedanken Spaemanns gar nicht eingegangen, wie Spaemann selbst in seiner Replik (ebd. 37 [1983], S. 7 9 - 8 4 ) bemerken musste. Vgl. auch E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a. a. O. S. 209 ff., gestützt auf A. Gewirth, Are there any Absolute Rights? in: Gewirth, Human Rights. Essays on Justification and Application, Chicago 1982, S. 218-233; sowie in: J. Waldron (Hrsg.), Theories of Rights, Oxford 1984, S. 91-109. Vgl. dieses Beispiel in I—II» q. 19, a. 10.

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erfüllen hier ihre Pflicht, und beide sind von ihrem Standpunkt her gesehen im Recht, d.h. ihr Handeln ist gut und gerade deshalb auch richtig. Der fundamentale Unterschied zwischen einer Tugend- und einer Normenethik besteht demnach darin, dass sich für die erstere das sittlich Richtige immer auch schon als Richtigkeit des Strebens bezüglich des „Für-den-Menschen-Guten" auf der Ebene konkreter Handlungen in Bezug auf bestimmte Personen bestimmt, mit denen der Handelnde (sei es von Natur aus oder durch einen Handlungsbezug wie Versprechen, Verträge usw.) in einem sittlich qualifizierten Verhältnis steht (auch zu sich selbst steht der Handelnde in einem sittlichen Verhältnis). Deshalb vermag sie von Handlungen zu sprechen, die „in sich" oder „immer" schlecht sind. Eine Normenethik utilitaristischer Art jedoch, d.h. letztlich eine argumentativ verfahrende Normenethik, kann solchen Verhältnissen keine privilegierte Stellung einräumen; sie muss deshalb auch die Kategorie der „Richtigkeit" von Handlungen von derjenigen der „Güte des Willens" abtrennen. Sie kann deshalb auch nicht verstehen, dass der intentionale Bezug des Willens auf „Gerechtigkeit" - d.h. der „gerechte Wille" - in jeder einzelnen konkreten Handlungswahl auf dem Spiel steht. Die immer wieder ins Zentrum der vorliegenden Darstellung gerückte Eigenschaft menschlichen Handelns als intentionales Handeln und die wesentlich intentionale Strukturierung von Handlungsobjekten - es ist entscheidend, dies nie aus den Augen zu verlieren - begründet und reflektiert zugleich die aller Moral eigene Perspektive: Sittliche Handlungen sind immanente Akte, die - abgesehen von ihren Wirkungen auf andere Handlungssubjekte - immer auch den Handelnden selbst verändern. Durch Handeln als intentionaler Vollzug erlangt der Mensch als ein Seiendes jene zunehmende Seinsfülle - Vervollkommnung - , die wir meinen, wenn wir von ein „guten Menschen" sprechen. „Intentionale Handlungen" sind Vollzüge, mit denen das Handlungssubjekt vernünftig-strebend auf etwas abzielt und er sich gemäß diesem „Abzielen auf etwas" (das Gute) auch verändert. Deshalb werden wir, je nach dem, durch intentionale Handlungen „gute" oder „schlechte" Menschen - und damit ist gemeint: wir erlangen, was man allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben kann, wodurch unser Streben jene Sättigung erfährt, auf die wir in unserem Glücklichsein-wollen alle schon immer aus sind. Die Frage der Moral ist nie einfach: Was soll ich tun? Welche Handlungsweise ist hier und jetzt die richtige? Diese Fragen sind zweifellos Fragen der Ethik und der Moral, sie sind aber nachgeordnet und untergeordnet unter die erste und entscheidende Frage: Was für ein Mensch bin oder werde ich, wenn ich dieses oder jenes tue, d.h. es aus freien Stücken wähle? Worauf richte ich mich, worauf zielt mein Leben als Gesamtes, wenn ich diese oder jene Handlung vollziehe bzw. unterlasse? Sittliches Gutsein ist gegenüber dem bloßen Gutsein aufgrund der Tatsache, ein existierender Mensch zu sein, ein Mehr: Es ist metaphysisch gesprochen ein akzidentelles (hinzukommendes) Sein, in der Perspektive des Guten jedoch erst das eigentliche Gutsein, aufgrund dessen wir dann auch von einem Menschen sagen: er ist ein guter Mensch. Als sittliche (handelnde) Subjekte werden wir bzw. sind wir, was wir erstreben und aufgrund unseres Strebens tun. Nichts würde es dem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt verbesserte, dabei aber selbst kein guter Mensch wäre bzw. würde. Er würde dann nämlich gar nicht die Welt verbessern. Denn eine Welt ohne Menschen guten Willens - ohne „gute Menschen" - ist keine gute Welt. Das klingt nun freilich wortklauberisch, weil man meinen könnte - und utilitaristische Ethiker meinen es in der Tat - schließlich sei man gerade dann ein guter Mensch, wenn man die Welt zu verbessern suche. Dieser Einwand ginge jedoch am zentralen Punkt vorbei: Wir

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können das Gute für die Welt, die Gesellschaft, kurz: für unsere Mitmenschen immer nur in dem Maße erstreben, verfolgen und daran mitwirken, in dem wir selbst schon auf das „für den Menschen Gute" aus sind. Und das wiederum sind wir nur, insofern wir uns zunächst die Frage stellen: Was ist das in Wahrheit für mich Gute? Es ist unmöglich, anderen wohlzuwollen, wenn wir nicht wissen, was jeweils zu unserem Wohl gehört. Denn auf den anderen beziehen wir uns ursprünglich - auch kognitiv - nicht als auf einen schlechthin anderen, sondern als auf einen „mir Gleichen" und damit als auf ein „anderes Selbst" (vielleicht hat das auch Emmanuel Levinas übersehen). Das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" oder die goldene Regel sind keine Trivialitäten; vielmehr bilden sie - ganz abgesehen von ihrer paränetischen Funktion - das kognitive Strukturgesetz praktischer Vernunft. Die Ausformung sittlicher Tugend durch die handlungsbestimmende praktische Vernunft in dieser Perspektive der Moral, führt uns dazu, einige Grundstrukturen einer „Ethik des Handlungsurteils" zu formulieren und sie durch Kritik an der Gegenposition des Utilitarismus zu präzisieren. Eine solche Ethik des Handlungsurteils reflektiert die moralische Logik der konkret-handlungsbestimmenden Vernunft, d.h. jene Logik, deren Einhaltung Bedingung dafür ist, dass diese Vernunft der Struktur der Klugheit gemäß urteilt und so schließlich den Habitus der Klugheit zu erwerben vermag. b) Klugheit und Kompetenz A. Maclntyre wirft Kant vor, dass er unterscheide „zwischen dem guten Willen, dessen Besitz allein sowohl notwendig, als auch hinreichend für den moralischen Wert ist, und dem Wissen, das er für eine ganz besondere natürliche Gabe hielt, wie man allgemeine Regeln auf bestimmte Fälle anwendet, eine Gabe, deren Nichtvorhandensein Dummheit genannnt wird. Bei Kant kann man also beides sein, gut und dumm; für Aristoteles dagegen schließt Dummheit einer bestimmten Art das Gutsein aus"242. Eine solche Art von Dummheit ist die Inkompetenz, und sofern sie in irgend einer Form selbstverschuldet ist, ist sie kaum mit einem guten Willen vereinbar. Kant würde das sicherlich nicht leugnen, aber es ist kein Thema seiner Ethik; insofern mag Maclntyre recht haben. Mit Inkompetenz ist hier das Fehlen jener Fertigkeiten und Kenntnisse gemeint, die nun einmal in allen menschlichen Handlungsbereichen unverzichtbar sind, um etwas Vernünftiges zu tun. Fachliche Kompetenz (eines Arztes, Mechanikers, einer Hausfrau, von Erziehern, Lehrern und Taxifahrern, eines Journalisten, Bäckers, Computerspezialisten oder Anlageberaters) ist jene Art von Kompetenz, die notwendig ist, um das für den Menschen Gute auch in konkretes Handeln umzusetzen. Nur kann Fachkompetenz missbraucht werden; sie ist als solche noch keine moralische Kompetenz und keine sittliche Tugend. Sittliche Tugend ist gerade jene Art von Habitus, die gar nicht missbraucht werden kann. Tugend ist also Bedingung für den rechten Gebrauch aller fachlichen Kompetenz, aber ohne diese bleibt auch Tugend nur, was ein von Maclntyre in diesem Zusammenhang zitiertes Sprichwort sagt: „Be good, sweet maid, and let who will be clever". Fachkompetenz, die Fähigkeit in sektoriellen Handlungsbereichen das Richtige zu tun, bildet mit sittlicher Tugend und mit Klugheit eine Einheit. Der Kluge ist zunächst einmal immer jener, der sich darum bemüht, in seinem Bereich die angemessene fachliche Kompetenz, Wissen und Fertigkeit zu besitzen; der deshalb auch die Fähigkeit besitzt, die Folgen seines 242

A. Maclntyre, Der Verlust der Tugend, a. a. O. S. 208.

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Tuns einschätzen und ein Urteil darüber fällen zu können, wie weit er für diese Folgen die Verantwortung trägt243. Es genügt hier, einfach darauf hinzuweisen. Es muss aber zumindest gesagt sein, damit das Profil der Tugend der Klugheit nicht verfälscht wird. Der Kluge ist kompetent, d.h. er bemüht sich um größtmögliche Kompetenz, und zugleich versteht er es, diese Kompetenz in den Dienst des für den Menschen Guten zu stellen. Gerade deshalb wird er wissen, dass auch der beste Zweck nie schlechte Mittel heiligen kann244.

c) Kann der Zweck die Mittel heiligen? Im Grunde genommen gilt für jedes zweckrationale Kalkül: Der Vollzug einer konkreten Handlung wird gerade nur dadurch gerechtfertigt, dass man mit ihr auf einen guten Zweck abzielt. Denn das Mittel, die konkrete Handlung, dient ja gerade dazu, den Zweck zu erreichen. Und genau insofern sie dazu dient, rechtfertigt dann auch der Zweck - und nur der Zweck - das Mittel. Dafür gilt also, was der handlungstheoretisch immer subtil argumentierende Hegel sagt: „Wenn der Zweck recht ist, so sind es auch die Mittel, ist insofern ein tautologischer Ausdruck, als das Mittel eben das ist, was nicht für sich, sondern um eines Anderen willen ist, und darin, in dem Zwecke, seine Bestimmung und Wert hat - wenn es nämlich in Wahrheit ein Mittel ist"245. Nun ist aber, wie Hegel hinzufügt, der Satz „der Zweck heiligt die Mittel" nicht nur in diesem „formellen Sinn" zu verstehen, „sondern es wird darunter etwas Bestimmteres verstanden, dass nämlich für einen guten Zweck etwas als Mittel zu gebrauchen, was für sich schlechthin kein Mittel ist, etwas zu verletzen, was für sich heilig ist, ein Verbrechen also zum Mittel eines guten Zwecks zu machen, erlaubt, ja auch wohl Pflicht sey". Was hier mit „Verbrechen" gemeint sei, ist nicht eine „unbestimmt gelassene Allgemeinheit", sondern „hat bereits seine bestimmte, objektive Begrenzung" 246 . So verstanden sei das Prinzip Ausdruck der Ansicht, „dass die subjektive Überzeugung es sey, wodurch die sittliche Natur einer Handlung allein bestimmt werde", so dass man, wenn man das Prinzip bejahe, übersehe, „dass gewisse Handlungen an und für sich Vergehen, Laster und Verbrechen sind"247. Hier liegt denn auch der anstößige Gehalt dieses „machiavellistischen" Prinzips. Nur hätte wohl nicht einmal Machiavelli das Prinzip in dieser Form gutgeheißen, sondern nur in der ersteren, in der es trivial ist und stimmt. Es ist nämlich schlicht unmöglich, das Prinzip in der von Hegel kritisierten zweiten Form überhaupt zu begründen. Wenn Machiavelli sagt, „ein Herrscher, wenn er sich behaupten will", müsse sich „zu der Fähigkeit erziehen, nicht allein nach moralischen Gesetzen zu handeln, sowie von diesen Gebrauch oder nicht Gebrauch zu machen, je nachdem es die Notwendigkeit erfordert" 248 , so ist damit gemeint: das gemäß 243 244

245 246 247 248

Zum Thema „Handlungsfolgen" vgl. auch R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, a. a. O. S. 186 ff. Vgl. (auch zum Folgenden) M. Rhonheimer, Gut und böse oder richtig und falsch - was unterscheidet das Sittliche?, a. a. O., bzw. die erweiterte Fassung: Ethik - Handeln - Sittlichkeit. Zur sittlichen Dimension menschlichen Tuns, a. a. O. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 140. Ebd. Ebd. N. Machiavelli, Der Fürst („II Principe"). Übers, und hrsg. von R. Zorn, Stuttgart 1955, XV. Kapitel, S. 63. Die Übersetzung ist sinngemäß, weicht jedoch vom italienischem Originaltext ein wenig ab; vgl. N. Machiavelli, II Principe e altre opere politiche, Mailand 1987, S. 61: „... onde e

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„moralischen Gesetzen" bestimmte Gute kann unter Umständen der Notwendigkeit der Herrschaftsbehauptung entgegenstehen, und genau insofern versagen diese „moralischen Gesetze" dann auch in ihrer Funktion der Bestimmung dessen, was „gut" ist. Der Zweck „heiligt" also auch für Machiavelli keineswegs ein „schlechtes" Mittel, sondern der Zweck bestimmt überhaupt erst, unter welchen Bedingungen die „normalen moralischen Gesetze" angeben können, was ein gutes Mittel ist. „Moralische Gesetze" formulieren für Machiavelli schließlich auch nur Mittel um Gutes zu erreichen; und dazu gehört eben auch die Herrschaftsbehauptung des Fürsten. Folglich gebraucht auch Machiavelli das Prinzip nur im ersten, trivialen Sinn. Machiavellis Position ist also gar nicht „machiavellistisch", sondern ein gewöhnlicher, wenn auch paradox und schockierend formulierter Normenutilitarismus. Der moderne Utilitarismus entwickelte die hohe Kunst, dasselbe auf weniger schockierende Weise zu sagen. Das Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel" ist die Maxime des Amoralismus: Als solche ist sie gar nicht diskutierbar und niemand, der beansprucht, Ethik zu betreiben, würde sie vertreten wollen; auch jeder utilitaristische Ethiker wird sich zu recht gegen sie verwahren249. Keine ethische Position, auch nicht diejenige Machiavellis, ist eine Position des Amoralismus in diesem Sinne (auch wenn sie als solche empfunden wird)250. Das utilitaristische Prinzip hingegen ist ein Prinzip, das eine bestimmte Art von Moral begründen will - aber es gibt Gründe dafür, dieses Prinzip für falsch zu halten. Wenn wir uns die Frage stellen, ob das „gute Ziel" nicht vielleicht doch eine Handlung, die wir an sich als „schlecht" betrachten, rechtfertige, so meinen wir ja eigentlich damit, dass in diesem Fall die Handlung gar nicht schlecht sein könne. Wir meinen also nicht, der gute Zwecke heilige das (schlechte) Mittel, sondern in diesem Fall sei dieses Mittel gar nicht mehr schlecht. Denn jeder weiß, dass man mit einem schlechten Mittel einen guten Zweck nie erreichen wird. Als laxe Handlungsmaxime allein ist dies allerdings nicht begründbar und die Termini „gut" und „schlecht" erhalten hier plötzlich eine verdächtige Zweideutigkeit. Utilitaristisch jedoch ist das obige Kalkül durchaus begründbar (und Utilitaristen sind nicht lax, sondern rigoros): Denn gemäß Utilitaristen aller Spielarten besitzen Handlungen in sich betrachtet, unabhängig von den Folgen, die sie bewirken, überhaupt keine moralische (objektive) Identität. Sie sind physische Abläufe, bewusst provozierte Ereignisse, die bestimmte Zustände und Sachverhalte bewirken. Ihre moralische Identität erhalten diese Abläufe durch die Bilanz der Folgen, die sie bewirken, die wiederum als Normalfolgenbilanz zu einer utilitaristisch begründeten Regel führen kann. Und auch für Machiavelli sind eben „moralische Gesetze" nur solche Regeln. Folglich handeln Utilitaristen nicht nach dem Grundsatz, „gute Zwecke

249

250

necessario a uno principe, volendosi mantenere, imparare a potere essere non buono, et usarlo e non usare secondo la necessità ...". Vgl. als Beispiel B. Schüller, Der gute Zweck und die schlechten Mittel, in: B. Schüller.: Der menschliche Mensch. Aufsätze zur Metaethik und zur Sprache der Moral, Düsseldorf 1982, 148-155. Im Unterschied zur Gelegenheitsschrift „II principe" bieten die „Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio" - Machiavellis eigentliches Hauptwerk - eine differenziertere Sicht; vgl. Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Übers, und hrsg. von R. Zorn, 2. Aufl. Stuttgart 1977: z. B. Kapitel 26 (S. 78 f.), sowie auch das 9. Kapitel (S. 36 f.). Vgl. auch H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 1982 und 1984.

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heiligen schlechte Mittel". Vielmehr machen sie diesen Grundsatz einfach gegenstandslos, weil für sie ja ohnehin allein die Zwecke (optimale Folgenbilanz) bestimmen, was überhaupt gut oder richtig sein kann. Gemäß utilitaristischer Logik kann man gar nicht tun, was das Prinzip „ein guter Zweck heiligt nicht ein schlechtes Mittel" verbietet, denn was man um eines guten (genauer: optimalen) Zweckes willen tut, ist für sie ja definitionsgemäß das Richtige (welches prinzipiell im Handeln zu verfolgen, wiederum als Kennzeichen für das sittliche Gutsein des Handelnden betrachtet wird). Vorausgesetzt jedoch, diese Logik ist falsch, und Handlungen als intentionale BasisHandlungen besitzen unabhängig von weiteren Zwecken und Folgen bereits eine moralische Identität, so ergibt sich freilich (aus der Sicht einer Tugendethik): auch wenn Utilitaristen nicht gemäß dem Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel" zu argumentieren beabsichtigen, so können sie sich dennoch nicht dem Vorwurf entziehen, genau diesem Prinzip zu huldigen. Denn auch die utilitaristische Leugnung dieser Tatsache vermag ja nichts daran zu ändern, dass die Mittel - die konkreten Handlungen - die wir wählen, immer schon intentionale Handlungen mit einer moralischen Identität sind, aufgrund derer wir „gute" oder „schlechte", „gerechte" oder „ungerechte" Menschen werden, - unabhängig von den weiteren Zwecken. Eine objektiv schlechte, ungerechte Handlung ist ja - und hier können wir wieder Hegel zitieren - in Wahrheit überhaupt kein Mittel, um irgend etwas Gutes oder Gerechtes zu erreichen, genau so wenig wie Steine Mittel sein können, um sich zu ernähren, was auch gilt, wenn man fälschlicherweise meinte, sie könnten es. Zur Moralität des Handlungsurteils gehört also immer die Frage: Ist, was ich tun will, auch objektiv („an sich" oder „in sich" schon) eine „gute" Handlung? Bzw.: Kann x-Tun überhaupt ein Mittel sein, ist x-Tun in sich überhaupt eine nach moralischen Maßstäben wählbare Handlung? Ist dies oder jenes nicht vielmehr unter allen Umständen zu unterlassen? Brauche ich überhaupt noch nach den Folgen einer absichtlichen Tötung eines Unschuldigen zu fragen oder sollte ich vielmehr innehalten und sagen: das darf ich nicht? Dass Utilitaristen solche Fragen gar nicht stellen können, weil sie für sie sinnlos sind, bzw. dass das kategorische „Nein!" für sie immer nur ein provisorisches, durch ein mögliches Folgenkalkül doch wieder relativierbares ist, das gerade bringt sie verständlicherweise in den Ruf, die Maxime „Der gute Zweck heiligt jedes Mittel" zu vertreten. Freilich ist diese Reflexion auf den objektiven Sinn dessen, was man zu tun erwägt, oft gar keine eindeutige Angelegenheit. Deshalb ist es oft ebensowenig eindeutig, worauf unser Wille eigentlich abzielt, wenn wir eine konkrete Handlung wählen und welche Art Mensch wir dadurch werden: Er zielt nämlich notwendigerweise darauf, was die Vernunft ihm als „gut" vorlegt. Man könnte dafür halten, wichtig sei ja nur jeweils zu meinen, was die Vernunft als gut ausmache, das sei auch wirklich das für den Menschen Gute. Und dann müsse ja auch der Wille gut sein. Aber abgesehen davon, dass wohl niemand ernsthaft mit einem Leben zufrieden wäre, dessen Ausrichtung sich auf ein solches bloßes Meinen gründete, würde derjenige, der sich der Unbekümmertheit des „Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß" auslieferte, im fundamentalsten Sinne das „für den Menschen Gute" bereits verpasst haben, nämlich das Gute, das darin besteht, der Vernunft gemäß zu leben. Dieses Gute ist Bestandteil dessen, was wir Menschenwürde nennen 251 . Um jeweils identifizieren zu können, was wir ganz unabhängig von weiteren Absichten objektiv tun und worauf deshalb auch unser Wille tatsächlich abzielt, wenn wir es wählen, 251

Vgl. dazu R. Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: R. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige. Aufsätze zur Anthropologie, München 1987, 77-106.

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spielen die Umstände und auch die Folgen wiederum eine Rolle - d.h. sie spielen eine Rolle bei der Klärung des objektiven Gehaltes dessen, was man zu tun erwägt. Der Utilitarist würde wohl an dieser Stelle - jedoch, wie wir sehen werden, fälschlicherweise - entgegnen, genau solche Fragen stelle er sich ja auch. Es gehe ihm ja ebenfalls um nichts anderes, als um den „objektiven" Sinn seines Handelns, der sich doch gerade nur durch die bewirkten Folgen bestimmen lasse252. Was sind Umstände und Folgen?

d) Umstände und Folgen. Prinzipien für die moralische Bewertung von Handlungsfolgen Der objektive Gehalt einer intentionalen (Basis-) Handlung ist, wie wir sahen, Gegenstand der Vernunft. Die Vernunft ist es, die die verschiedenen Handlungselemente (Handlungsabläufe, Umstände, „Wozu?", ethischer Kontext) zu einer gegenständlichen Einheit zusammenfügt und sie so - in Relation zu Prinzipien (Tugenden) - als gut oder schlecht zu identifizieren vermag: species moralium actuum constituuntur ex formis prout sunt a ratione conceptae, „die Artbestimmungen sittlicher Handlungen bilden sich aus Formprinzipien wie sie von der Vernunft erfasst werden" 253 Wenn wir eine Handlung in ihrer naturalen Identität (in ihrem genus naturae) als rein physischen Handlungsablauf betrachten, so gibt es allerdings eine Menge von Umständen und Folgen bzw. Wirkungen dieses Handlungsablaufs, deren Abmessung durch die Vernunft nun tatsächlich diesem Vollzug als intentionale Handlung erst ihre moralische Identität (ihr genus moris) verleiht. Damit ein Diebstahl ein Diebstahl ist, muss die weggenommene Sache rechtmäßiger Besitz des anderen sein. Bezüglich des physischen Handlungsablaufs „jemandem etwas wegnehmen" ist dies lediglich ein „Um-stand" (es gehört zu den circum-stantia). Für die Vernunft wird dieser jedoch zu einem konstitutiven Element der moralischen Identität dieser Handlung: Der Wille richtet sich hier gegen das Recht des anderen. Die Rechtsverletzung (die Verletzung des „dem anderen Zustehenden", „ihm Geschuldeten", des „Seinen") ist die eigentümliche objektive Wirkung der Handlungsweise, so wie sie der Vernunft gegenständlich ist; denn nur die Vernunft vermag ja gemäß dem ihr selbst entspringenden Prinzip Gerechtigkeit zu urteilen. Die Handlung ist demnach ein Akt der Spezies „Ungerechtigkeit". Was auf der Ebene der naturalen Identität des Aktes ein Umstand ist, muss auf der Ebene seiner moralischen Identität als intentionale Handlung eine konstitutive, der Ordnung der Vernunft widersprechende „Objektbedingung" (principalis conditio obiecti rationi repugnans)2S4 oder „wesentliche Objektdifferenz" (differentia essentialis obiecti)255 genannt werden (bezüglich der Ebene des genus naturae ist auch das intentionale „Wozu?", die „Aneignung", nur ein Umstand; für die Vernunft gehört dies jedoch zur Wesensform der Handlung). Ob der Diebstahl morgens oder abends stattfindet, ob zwei oder nur ein Pferd gestohlen werden, ob sich dies auf dem Land oder in der Stadt vollzieht, das alles ändert nichts

252

253 254 255

Vgl. als Beispiel: S. Ernst, Hat die autonome und teleologische Ethik die Objektivität sittlichen Handeln vergessen? Marginalien zu M. Rhonheimers Buch „Natur als Grundlage der Moral", in: Theologie und Glaube 78 (1988), 80-89; und meine Replik: „Natur als Grundlage der Moral": Nichts als Spiegelfechterei?. Ebd. 79 (1989), 69-83. Auf die anschließende Erwiderung von Ernst (ebd. 84—87) mag das Folgende als Antwort gelten. I—II, q. 18, a. 10. I-II, a.a.O.. I-II, q. 18, a. 5 ad 4.

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an der Tatsache, dass es sich um einen Diebstahl handelt. Diese Gegebenheiten sind nun also Umstände in Bezug auf die moralische Identität der Handlung. Für die Vernunft bilden sie höchstens quantitative Elemente (ein mehr oder weniger schwerwiegender Diebstahl). Falls der Bestohlene z.B. aus geschäftlichen Gründen auf seine Pferde angewiesen ist und ihm durch den Diebstahl als Folge ein wirtschaftlicher Schaden erwächst, so ist dies (in Bezug auf die objektive Identität „Diebstahl") ein Umstand - oder eine Folge - die der Handlung allerdings eine weitere objektive Dimension als zusätzliche Schädigung verleiht (auch wenn dies nicht ein weiteres Ziel war, das man mit dem Diebstahl verfolgte). Oder: Wen A das Haus von B anzündet, so ist dies objektiv eine materielle Schädigung von B. Ob sich B im Haus befindet oder nicht, ist bezüglich der naturalen Identität der Handlung lediglich ein Umstand; nicht aber bezüglich ihrer moralischen Identität: Wenn B als Folge (der physischen Handlung) verbrennt, so ist diese Folge bezüglich der moralischen Identität der intentionalen Handlung entweder eine unbeabsichtigte Folge (weil A meinte, es sei niemand im Haus), für die A allerdings die volle Verantwortung trägt; oder aber A hat B's Haus gerade deshalb angezündet, weil er B töten wollte. Dann ist die Handlung objektiv ein Mord (obwohl bezüglich der naturalen Identität des Handlungsvollzugs „das Haus von B anzünden" das „im Haus sein" nicht mehr als ein Umstand ist; moralisch betrachtet, d.h. für die Vernunft, handelt es sich jedoch um eine konstitutive Objekt-Bedingung). Nun ist es wiederum denkbar, dass B ein gefährlicher Terrorist ist, und sein Tod zu Folge hat, dass ein von ihm geplantes Attentat am nächsten Tag nicht zur Durchführung kommt, so dass viele Menschen durch A's Handlung vor dem Tod bewahrt werden, und dass dieser B deshalb töten wollte, weil er genau dies zu erreichen beabsichtigte. Diese Folge ist nun allerdings bezüglich der moralischen Identität der Handlung von A wiederum nur ein - allerdings gewichtiger - Umstand; sie ändert nichts an deren objektiver Identität. A hat B gegenüber eine Ungerechtigkeit vollzogen (Mord), wenn auch mit einer an sich guten Absicht. A's Handlung „B töten" wird dadurch weder gerechtfertigt noch „besser", obwohl der ganze Handlungskomplex (also die Absicht einbezogen) freilich weniger schlecht ist, als wenn auch die Absicht eine schlechte gewesen wäre. Für die praktische Vernunft gibt es demnach zwei Arten von Umständen und Folgen: (1) Solche die bezüglich des physisch-natural betrachteten Aktes reine Umstände sind, als nicht zum naturalen Wesen des Aktes gehören, für das Objekt der intentionalen Handlung jedoch und damit für die moralische Identität von Handlungen konstitutiv und gerade Bedingung sind; und (2) solche, die gerade bezüglich der moralischen Identität nur Umstände sind, diese Identität also nicht verändern. Und hier ist auch zu sagen: Solche Umstände der zweiten Art können durchaus wiederum bezüglich des naturalen Aktes keine Umstände sein, sondern dessen notwendige Wesenfolge: Wenn durch einen ehebrecherischen Sexualverkehr ein Kind gezeugt wird, so ist die Zeugung bezüglich des naturalen Aktes eine „direkte Wesensfolge" und keineswegs ein Umstand; wohl aber ist es ein Umstand bezüglich der moralischen Identität der Handlung „Ehebruch": Die Handlung ist ein Ehebruch (Verletzung der Treue) ganz unabhängig davon, ob nun dabei ein Kind gezeugt wird oder nicht256.

256

Bezüge zur analogen rechtswissenschaftlichen Problematik der Handlungsdefinition und Schuldzurechnung zeigt T. Nisters, Akzidentien der Praxis. Thomas von Aquins Lehre von den Umständen menschlichen Handelns, Freiburg/München 1992. Diese Studie weist eindringlich auf die Plastizität von Handlungsdefinitionen hin, was wiederum eine Eigenart von Tugendethiken ist (vgl. S. 189).

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Aufgrund dieser intentionalen Analyse von Handlungen können wir nun einige Prinzipien darüber formulieren, wie die Folgen unserer Handlungen zu beurteilen sind. (1) Jene Folgen, die Objektbedingung sind, prägen den objektiven Gehalt dessen, was wir wählen. Ob eine Folge Objektbedingung ist, beurteilt die Vernunft hinsichtlich der Ziele der Tugenden. Wenn „A ein Pferd wegnehmen, das er rechtmäßig besitzt" zur Folge hätte, dass sich das Pferd verdoppelte und jetzt A und B ein Pferd besitzen würden, so läge hier keine Ungerechtigkeit vor. Nun ist aber die Folge des Wegnehmens, dass A ein Pferd, auf dessen Besitz ihm ein Rechtsanspruch zusteht, nicht mehr besitzt. Folglich ist die Handlung objektiv ungerecht. (2) Für die guten Folgen unserer guten Handlungen tragen wir zusätzlich das Verdienst und wird man uns entsprechend auch loben. Dies sogar, wenn wir sie nicht voraussehen konnten. (3) Für die üblen Folgen unserer schlechten Handlungen tragen wir ebenfalls die Verantwortung, auch wenn diese Folgen nicht vorausgesehen waren. Wir hätten sie ja vermeiden können, wenn wir getan hätten, was gut ist bzw. wenn wir jene schlechte Handlung nicht vollzogen hätte, aus der sich die üblen Folgen ergaben. (4) Die guten Folgen schlechter Handlungen können dem Handelnden nicht als Verdienst angerechnet werden. Denn die eigentliche, zurechenbare Folge ist die schlechte Folge, d.h. jene Wirkung, die eine schlechte Handlung eben schlecht macht, und das ist diejenige Folge, welche die intentionale Identität der Handlung konstituiert (z.B. Verletzung eines Rechtsanspruchs). Was sich daraus überdies an Gutem ergeben mag, ist gemäß obigen Bestimmungen dann als Nebenfolge (Umstand) der intentionalen Handlung zu betrachten, auch wenn sie mit der Absicht vollzogen wurde, diese Folge zu bewirken. (5) Für die nicht-voraussehbaren üblen Folgen unserer guten Handlungen sind wir nicht verantwortlich. Sie sind schlechterdings nicht-intentional, vorausgesetzt, dass wir sie wirklich nicht voraussehen konnten. (6) Die vorausgesehenen üblen Folgen der Unterlassung einer Handlung können uns dann nicht zugerechnet werden, sofern der Vollzug der unterlassenen Handlung objektiv schlecht gewesen wäre (=der Zweck heiligt nicht die Mittel); des weiteren gilt Prinzip (4). (7) Die vorausgesehenen üblen Folgen objektiv guter Handlungen können dem Handelnden nicht zugerechnet werden, vorausgesetzt, (a) diese Handlung wurde nicht gerade deshalb vollzogen, um diese Folge zu bewirken (d.h. es gibt unabhängig von ihrem voraussichtlichen Eintreten einen Grund, die Handlung zu vollziehen); (b) der Grund, die Handlung trotz Voraussicht der üblen Folge zu vollziehen, ist der Folge angemessen schwerwiegend und (c) man hat alles weitere in seiner Macht Stehende getan, damit die üble Folge nicht eintritt. Die üble Folge ist dann ebenfalls nicht-intentional, d.h. eine nichtintentionale Nebenfolge. Gerade dies letztere Prinzip ist das umstrittenste. Es ist das Prinzip des „indirekten Handelns" bzw. besser: des „indirekt Gewollten" (voluntarium indirectum), oft auch formuliert als Prinzip der „Handlung mit Doppeleffekt". Genauer: Umstritten ist die Relevanz der Unterscheidung zwischen Prinzip (6) und (7). e) Handlungen mit nichtintentionalen Nebenfolgen Gemäß den bisherigen Ausführungen über die intentionale Bestimmung des objektiven Gehaltes menschlicher Handlungen konnten wir zwei Arten von Folgen einer Handlung unterscheiden: Diejenigen, die das Objekt einer Handlung konstituieren (z.B. Verletzung von Besitzrechten, kommunikative Täuschung als Verletzung der Kommunikationsgemeinschaft,

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Wiederherstellung der Gerechtigkeit usw.) und diejenigen, die sich zu diesem Objekt intentional wie ein Umstand, ein Zusätzliches verhalten. Utilitaristische (bzw. konsequentialistische) Theorien lehnen eine solche Unterscheidung als sinnlos ab, weil für sie der objektive Gehalt einer jeden Handlungsweise und damit ihre „Richtigkeit" allein ihre tatsächliche Eignung ist, die optimale Bilanz aller voraussichtlichen Folgen zu bewirken. Der Mensch ist demnach auch „verantwortlich für alle voraussichtlichen Folgen seines Handelns" 257 . Deshalb ist für sie auch die Unterscheidung der obigen Prinzipien (6) und (7) gegenstandslos: Wenn man für alle voraussichtlichen Folgen die Verantwortung trägt und erst diese Folgen bzw. die intentionale Bezugnahme des Handelnden zu ihnen den objektiven Gehalt einer Handlungsweise formieren - als eine Art „erweitertes" oder „Gesamtobjekt" - , so wird man man sich zunächst einmal für die Folgen einer jeden Unterlassung verantwortlich fühlen müssen und, umgekehrt, wird man nie sagen können, dass man, wie in Prinzip (7) behauptet, unter Umständen für vorausgesehene üble Folgen keine Verantwortung trägt. In diesem Zusammenhang ist interessant, wie, laut Presseberichten, im März 1994 die Verteidigung des französischen Nazi-Kollaborateurs Paul Touvier vor Gericht argumentierte. Mit seiner Anordnung, am 28. Juni 1944 sieben Juden erschießen zu lassen, hätten er, Touvier, und der Lyoner Milizchef Victor de Bourmont verhindert, dass die Absicht des Lyoner Gestapochefs Werner Knab ausgeführt würde, 100 Juden als Vergeltung für ein Attentat der Resistance hinrichten zu lassen. Er, Touvier, habe also in Wirklichkeit nicht sieben unschuldige Menschen getötet, sondern vielmehr 93 Menschen das Leben gerettet. Die Handlung, so meint es die Argumentation, dürfe nicht aufgrund des „eingeschränkten" Objektes „sieben unschuldige Menschen töten" definiert werden. Hätte Touvier das nämlich nicht getan, so wird unterstellt, hätte er für den unausweichlichen Tod von hundert Unschuldigen die Verantwortung tragen müssen; diese Folge sei also ebenfalls relevant für die Definition, welche Handlung hier eigentlich vollzogen wurde. Aufgrund eines dermaßen erweiterten Objektes, hätten Touvier und seine Schergen also in Wirklichkeit die Handlung „Lebensrettung" (von 93 Menschen) vollzogen. Die Tötung von sieben Unschuldigen fällt dabei für die Handlungsdefinition aus dem Raster258. Diese Auffassung allerdings lässt sich nur dann begründen, wenn man von einem „physizistischen" Handlungsbegriff ausgeht, wenn man also leugnet, dass es so etwas wie intentionale Basis-Handlungen gibt - einen unschuldigen Menschen töten - , die man unabhängig von weiteren Absichten als in sich gut oder schlecht qualifizieren kann. Der physizistische Handlungsbegriff versteht - wie gezeigt wurde - Handeln als Verursachung von Ereignissen, Sachverhalten, Zuständen durch Körperbewegungen oder andere Art von physischen Vollzügen. Ausschließlich die durch sie bewirkten Ereignisse, Sachverhalte, Zustände sind sittlich beurteilbar; die sittliche Beurteilung der Richtigkeit einer Handlung beruht ausschließlich auf ihrer faktischen Eignung, diese Wirkungen hervorzubringen. Wie bereits 257 B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, a. a. O. S. 290. 258 Freilich könnte man in einer konsequentialistischen Argumentation das Objekt noch mehr „erweitern" und etwa geltend machen, dass die in der „Lebensrettungsaktion" implizierte Kollaboration Touviers mit der Besatzungsmacht zur Stützung des Naziregimes in Frankreich und zur Schwächung der Resistance beigetragen habe, was langfristig noch mehr Juden das Leben kostete, so dass es also richtiger gewesen wäre, sich aus diesem Grund der Tötung der sieben Unschuldigen zu enthalten; usw. Vgl. dazu meine Kritik an R. A. McCormicks Begriff des „expanded object" in: Rhonheimer, Intentional Actions and the Meaning of Object, a. a. O., S. 291 ff., sowie R. Spaemann, Einzelhandlungen, in: Zeitschr. f. phil. Forschung 54 (2000), S. 514-531.

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ausreichend gezeigt wurde, ist dieser von Utilitaristen zumeist unreflektiert unterstellte Handlungsbegriff unhaltbar. Gehen wir von einem intentionalen Handlungsbegriff aus, so verstehen wir, was mit einer „nichtintentionalen Nebenwirkung" gemeint ist: Sie ist die Folge einer Handlung, deren intentional-objektiver Gehalt gut (oder zumindest nicht schlecht) ist und deren Vollzug u.U. die Vernunft gebietet. D.h. die Handlung nicht zu vollziehen wäre schlecht, z.B. ein Unrecht, d.h. es wäre geboten, sie zu vollziehen, auch im Falle, dass sich die schlechte Folge gar nicht einstellte (oder sie nicht vorausgesehen würde) und es gibt, in Voraussicht der schlechten Folge, eine Angemessenheit zwischen guter Wirkung der Handlung selbst und dieser Nebenfolge. Wäre die Handlung im Falle des Nichteintretens der schlechten Folge nämlich gar nicht geboten oder wäre sie in jedem Fall unangemessen, so hieße das: Das Bewirken der schlechten Folge ist in Wirklichkeit das Objekt der Handlung, die dann Mittel zum Zweck ist. Ein klassisches Beispiel, um dies zu erläutern, ist der Fall der schwangeren Frau mit Gebärmutterkrebs, die nur durch operative Entfernung des Uterus (Hysterektomie) gerettet werden kann. Dieser Eingriff bewirkt natürlich physisch gesehen notwendigerweise und in diesem Sinn „direkt" den Tod der Leibesfrucht. Die Handlung ist aber intentional betrachtet ein Akt der Lebensrettung der Mutter, d.h. der lebensrettende therapeutische Eingriff. Zeichen dafür ist, dass man die Hysterektomie selbstverständlich ebenfalls vornehmen würde, wenn die Frau gar nicht schwanger wäre. Dann würde sie sich unmissverständlich als geboten erweisen. Da es also objektiv gut ist, der Frau durch die Operation das Leben zu retten und genau dies die intentionale Identität der Handlung ist, so fällt die Folge des Todes des Fötus aus der intentionalen Objektstruktur der Handlung gleichsam heraus: Es handelt sich um eine nichtintentionale Nebenfolge. Tötung des Fötus ist hier sicherlich kein Mittel (weil Folge der an sich guten Handlung „Uterusexstirpation"), und auch nicht die Absicht der Handlung (die ja auch vollzogen würde, wenn die Frau gar nicht schwanger wäre). Die Handlung ist zudem angemessen: Denn es geht um das Leben der Frau. Folglich kann die Handlung vollzogen werden, ohne dass sie intentional durch die Folge „Tod des Fötus" geprägt wird. Der Tod des Fötus ist hier wie ein Naturereignis zu betrachten (das man zwar verhindern könnte, aber es gibt ja einen angemessenen Grund, es nicht zu verhindern). Falls man einwenden wollte, der Tod des Fötus werde hier doch eigentlich als Mittel gewählt - da sein Tod notwendige Bedingung für das Gelingen der Operation sei - , so wäre zu entgegnen: Das einzige Mittel, das gewählt wird, ist die Entfernung des Uterus. Dies allein ist das Gewollte (Intendierte). Der Tod des Fötus ist eine bloße Folge davon. Sie hat darauf, dass man die Handlung „Entfernung des Uterus" wählt, überhaupt keinen positiven Einfluss, eher tendiert sie dazu, von der Handlung abzuhalten. Ein umgekehrtes Beispiel ist die Rechtfertigung der Abwerfung der Atombombe zur Beendigung des Krieges mit Japan: Hier war der Tod der Zivilbevölkerung keineswegs die nichtintentionale Nebenfolge einer ansonsten gerechtfertigen Kriegshandlung. Denn um das Ziel „Beendigung des Krieges" zu erreichen, musste man gerade diesen Tod von Hunderttausenden wollen; er war das eigentliche, gewählte Mittel, um die Kapitulation zu erreichen, d.h. das Objekt der gewählten Kriegshandlung259.

259

Eine ausführlichere Diskussion dieser Beispiele findet sich in M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 355 ff.

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Nun können wir, bezüglich des obigen Beispiels, einen physisch identischen Handlungsablauf angeben, der jedoch intentional völlig anders strukturiert ist. Nehmen wir an, der Krebs der Frau ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass er unmittelbar lebensgefährdend ist; das Kind könnte geboren und nachher die Hysterektomie vorgenommen werden - allerdings wäre dies mit einigen Unannehmlichkeiten und geringen Risiken verbunden. In diesem Fall die Entfernung der Gebärmutter mit Todesfolge für den Fötus vorzunehmen, um diese Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wäre unangemessen. Und intentional gesehen heißt dies: Man hätte den Tod des Fötus verhindern können, hat das aber nicht getan. Der Umstand des mangelhaft gerechtfertigten Zeitpunktes der Operation wird aufgrund der Unangemessenheit zur Objektbedingung der Handlung. Intentional heißt das: Der Tod des Fötus ist zwar immer noch eine Nebenfolge, aber eine solche, die man hätte verhindern können, ohne auf die in sich gute Handlung (Lebensrettung der Mutter) verzichten zu müssen. So kann man auch nicht sagen, der Tod des Fötus habe hier nichts mit dem Willen des Handelnden zu tun. Deshalb trägt man auch für seinen Tod die Verantwortung. Schließlich: Würde eine schwangere Frau ihre Gebärmutter entfernen lassen, obwohl sie gar keinen Krebs hat, und sagte man dann, dies sei ja nur eine „indirekte Tötung" des Fötus gewesen, so verwechselte man das physisch „Indirekte" mit dem intentional „Indirekten". Zeichen davon ist: wäre die Frau nicht schwanger, so hätte sie die Operation gar nicht vornehmen lassen und sie wäre in keiner Weise geboten gewesen. Die Tötung des Fötus ist also das eigentliche „Wozu?" dieser Handlungsweise, ihr Objekt. Physisch betrachtet sind alle diese Handlungen identisch. Intentional betrachtet jedoch sind es drei verschiedene Handlungen: Die erste ist „Lebensrettung"; die zweite ist „Vermeiden von Unannehmlichkeiten" (auf Kosten des Lebens eines Menschen); die dritte ist „einen Menschen töten" (Abtreibung). Somit wird auch der Unterschied zu einer Abtreibung aufgrund medizinischer Indikation deutlich (der kaum mehr eintretende Fall, dass eine Schwangerschaft oder Geburt für die Mutter tödliche Folgen hätte, das Kind aber überleben würde). In diesem Falle abzutreiben, heißt den Tod eines Menschen direkt als Mittel zu wählen. Die Handlung ist intentional „einen Menschen töten". Im übrigen - sofern Embryo und Fötus ein lebendes Wesen der Gattung „Mensch" ist, was gemäß heutiger Kenntnisse niemand vernünftigerweise leugnen kann - besteht an sich überhaupt kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Töten eines erwachsenen Menschen und dem Töten eines Embryos oder Fötus. Denn das Töten eines Embryos oder Fötus heißt, genau jenen erwachsenen Menschen zu töten, der dieser Embryo oder Fötus einmal sein würde, falls man ihn nicht tötete. Die Tötung eines Ungeborenen ist die Auschaltung bzw. Verunmöglichung der gesamten Lebensgeschichte einer menschlichen Person. Man muss deshalb, obwohl dies möglich ist, nicht einmal beweisen, dass der Embryo bereits eine Person ist; es genügt, dass er ein Lebewesen der Gattung Mensch ist, und deshalb zumindest einmal Person sein wird. Man beachte: Wenn ich heute A daran hindere, morgen x zu tun, so kann ich morgen nicht sagen, ich sei dafür, dass nun A x nicht tun könne, gar nicht verantwortlich, weil A ja zum Zeitpunkt, als ich ihn daran hinderte, x noch gar nicht tun konnte. Frauen, die abgetrieben haben, merken übrigens später, dass sie nicht „nur" einen Embryo oder einen Fötus getötet haben, sondern genau jenen Menschen, der jetzt leben würde, hätten sie nicht abgetrieben260.

260

Dennoch sind menschliche Föten nicht nur als potentielle Personen sondern als Personen zu betrachten; vgl. R. Spaemann, Sind alle Menschen Personen? Über neue philosophische Rechtfertigungen der Lebensvernichtung, in: J.-P. Stüssel (Hrsg.), Tüchtig oder tot. Die Entsorgung des

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V . S T R U K T U R E N DER V E R N Ü N F T I G K E I T

Oftmals wird auch der (noch seltenere) Grenzfall angeführt, dass, falls ein Fötus am Leben gelassen wird, Mutter und Kind sterben würden261. Beim Argumentieren mit Grenzfällen ist immer Vorsicht geboten, weil man nicht annehmen kann, dass es für alle Fälle eine Lösung gibt, die man normativ rechtfertigen kann. Mithin kann man aus solchen Fällen auch keine Schlüsse bezüglich der ausnahmslosen Geltung von Normen ziehen262. Aber eine Antwort im genannten Fall muss trotzdem gegeben werden können. Das Grundproblem besteht hier darin, dass die Entscheidung, Mutter und Kind sterben zu lassen, wenn man doch wenigstens das Leben der Mutter retten könnte und das Kind auf jeden Fall sterben wird, schlechterdings von der Vernunft - insbesondere aus der Perspektive des Arztes - nicht mitvollzogen werden kann. Die Überlegung eines in dieser Situation Befindlichen ließe sich etwa wie folgt rekonstruieren: Die Norm, die töten eines Menschen verbietet, erscheint in diesem Fall schlicht sinn- und gegenstandslos. Denn ihr Sinn liegt ja darin, kein Unrecht zu begehen. Es ist aber nicht einsichtig, weshalb man in diesem Fall ein Recht des Kindes auf sein Leben missachtet. Eine Lebensgeschichte, über die bereits entschieden ist, dass sie gar nie stattfinden wird, kann man ja auch nicht verhindern. Das Argument, der Mensch dürfe über menschliches Leben nicht verfügen und dabei seinen Wert oder seine Bedeutsamkeit gegen anderes Leben aufrechnen, scheint hier ebenfalls nicht zu greifen, denn die Natur selbst hat hier ihr Urteil bereits gesprochen. Nur noch das Leben der Mutter unterliegt hier menschlicher Verfügungsgewalt. Bezüglich des Fötus ist dies, im Sinne einer Entscheidung zwischen „Töten oder Lebenlassen", nicht mehr der Fall. Das einzige, was hier noch gewählt werden kann und auch wirklich gewählt wird, ist die Lebensrettung der Mutter. Bezüglich Leben oder Tod des Embryos oder Fötus kann hier überhaupt nichts mehr entschieden und gewählt werden. Und nur diese Wahlalternative, „Töten oder Lebenlassen?", ist ja sittlich relevant. Übrig bleibt in dieser Situation jedoch allein die sich auf die Mutter beziehende Alternative „Sterbenlassen oder Retten?" Es ist deutlich, dass eine solche Alternative keine von „gerecht oder ungerecht" ist. Nur im ethischen Kontext „Gerechtigkeit" kann eine Tötungshandlung als ungerechte Handlung beschrieben werden und hier liegt gerade kein

261

262

Leidens, Freiburg i. Br. 1991, S. 133-147 (leicht verändert unter dem Titel: Person ist der Mensch selbst, nicht ein bestimmter Zustand des Menschen, in: H. Thomas (Hrsg.), Menschlichkeit der Medizin, Herford 1993, S. 261-276) sowie Spaemann, Personen, a. a. O., S. 252 ff.; G. Pöltner, Achtung der Würde und Schutz von Interessen, in: J. Bonelli (Hrsg.), Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Wien-New York 1992, S. 3-32; L. Honnefelder, Der Streit um die Person in der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993), S. 246-265; M. Rhonheimer, Absolute Herrschaft der Geborenen? Anatomie und Kritik der Argumentation von Norbert Hoersters .Abtreibung im säkularen Staat", IMABE-Studie Nr. 4, Wien 1995 (it. Übers, in: Rhonheimer, Etica della procreazione, a. a. O.); S. Schwarz, Die verratene Menschenwürde. Abtreibung als philosophisches Problem, Köln 1992 Zu solchen Grenzfällen können u.U. auch eine ektopische Schwangerschaft (z.B. Eileiterschwangerschaft) oder das Auftreten von Hämorrhagien in der Gebärmutter im Extremstadium werden. Allerdings stehen hier oft auch für das Kind, und sogar für Mutter und Kind, lebensrettende Alternativen offen. Vgl. zum Problem des Argumentierens mit Grenzfällen: Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. 362 ff. S. auch: B. Williams, Kritik des Militarismus, Frankfurt/M. 1979 (engl. Original: A Critique of Utilitarianism, in: J. J. C Smart & B. Williams, Utilitarianism. For and against, Cambridge 1973,75-150).

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Kontext vor, in dem noch sinnvoll von Verletzung von Rechten gesprochen werden könnte263. Alles was die Tötung eines unschuldigen Menschen als Unrecht, Verbrechen, Ungerechtigkeit erschienen lässt, was sie für uns verabscheuenswert oder auch nur verurteilungswert macht, fehlt hier. Gegen eine solche Handlungsweise mit Tötungsfolge für den Embryo oder Fötus ließe sich höchstens noch einwenden, dass die Tötung hier „direkt", d.h. physisch direkt geschieht. Aber genau das allein ist ja noch kein moralisch relevanter Gesichtspunkt. Aus diesem Grund, so scheint es, bestünde in diesem Fall eine Tötung des Fötus nicht darin, den Tod eines Menschen als Mittel zur Lebensrettung der Mutter zu wählen. Intentional (objektiv) können wir den Fall ohne weiteres als „Lebensrettung der Mutter" beschreiben. Der Tod des Fötus könnte nur dann als Mittel gewählt werden, wenn er andernfalls überleben würde. Man will hier nicht den Tod des Fötus, um die Mutter zu retten. Bezüglich des Todes des Fötus bedarf es überhaupt keines Wollens mehr: Er wird ja sowieso sterben. Das Töten des Fötus fällt hier zurück auf das bloße genus naturae der sittlichen (intentionalen) Handlung „Lebensrettung der Mutter". Deshalb wäre es auch unrichtig, den besprochenen Fall nun als eine Ausnahme vom Tötungsverbot zu betrachten; denn hier haben wir es gar nicht mit der intentionalen Handlung „einen Unschuldigen töten" zu tun, auf welche sich die Norm des Tötungsverbotes bezieht. Fälle, die diesem Muster entsprechen, lassen sich überhaupt unter keine Norm subsumieren und deshalb auch nicht normativ rechtfertigen, nicht einmal als „Ausnahmen". Das ist aber auch gar nicht nötig; denn zusätzlich zu dem überdies noch zum Handeln drängenden Zeitdruck, besitzen solche Fälle die Eigenart, dass es bei ihrem Eintreten gar nicht mehr zwei rational vertretbare Handlungsalternativen gibt. Nur die Lebensrettung der Mutter kann hier vor der Vernunft gerechtfertigt werden. Die physische Tötungshandlung (z.B. durch Kraniotomie und Exstirpation des Fötus oder der Einleitung einer vorzeitigen Geburt) ist deshalb intentional allein durch den Willen zur Lebensrettung der Mutter geprägt. Die Handlungsweise bedarf deshalb auch keiner normativen Rechtfertigung; gerechtfertigt werden muss allein die Nichtintentionalität der Tötung des Fötus. Das scheint durch den Hinweis auf die in dieser Situation gegebene Auflösung des ethischen Kontexts „Gerechtigkeit" möglich zu sein und deshalb ist die Tötung des Fötus dem Handelnden genau so wenig zurechenbar, wie wenn sein Tod durch Nichtstun eintreten würde; d.h. er bleibt, trotz des Eingriffs, ein bloßes Naturereignis. Das absolute Tötungsverbot besagt demnach, man dürfe nie den Tod eines Menschen als Mittel zu einem Ziel wählen. Das heißt: Der Tod eines Menschen darf nie als Objekt (als „Wozu?") einer Handlung intendiert werden: Auch mit der Absicht, einem Menschen das Leben zu retten, ist es deshalb nicht zu rechtfertigen, zwischen Tod oder Leben eines anderen Menschen zu wählen. Und dies gilt auch für den letzten Fall, der hier noch zur Sprache kommen muss: den Fall der Selbstverteidigung. Thomas von Aquin sagt hier kategorisch: „Es ist unerlaubt, dass der Mensch das Töten eines Menschen intendiert, um sich selbst zu verteidigen" 264 . Die hier angesprochene intentio ist der mittel-wählende Wille zum Zwecke der Selbstverteidigung. 263

264

Das impliziert nicht, dass ein Embryo oder Fötus in einer solchen Situation sein Lebensrecht verloren hätte. Das wäre nicht einsichtig. Ebenso wenig einzusehen ist aber, weshalb dieses Recht durch die hier in Frage stehende Handlungsweise verletzt werden sollte. Es geht also nicht um die Frage der Existenz des Lebensrechts, sondern seiner Verletzung. II-II, q. 64, a. 7.

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V . STRUKTUREN DER VERNÜNFTIGKEIT

Obwohl Thomas dafür hält, dass es nicht erlaubt sei, jemandem töten zu wollen, um sich selbst das Leben zu retten, so hat er zuvor gezeigt, dass es sehr wohl „erlaubt" sei, sich selbst das Leben retten zu wollen mit einer Handlung, die den Tod des Angreifers zur Folge hat. „Physisch" können freilich beide Handlungen identisch sein. Thomas argumentiert, dass sittliche Handlungen ihre Spezies durch das erhalten, was man intendiert, nicht durch das, was aus der Intention herausfällt. Sofern man mit einer Handlung die Erhaltung des eigenen Lebens intendiert, ist die vollzogene Handlung objektiv eine Handlung der Selbstverteidigung und nicht die Handlung „einen Menschen Töten" mit der Absicht, sich selbst zu verteidigen. Die Frage ist nur, ob dies tatsächlich der Fall ist. Es ist der Fall, wenn man zur Selbstverteidigung nicht mehr Gewalt anwendet, als nötig ist, um eine lebensgefährdende Aggression abzuwehren. Der (physische) Akt der Selbstverteidigung muss dem „Wozu?" der Handlung „Selbstverteidigung" angemessen („proportionatus") sein; andernfalls wäre der Akt intentional, und das heißt: objektiv kein Akt der Selbstverteidigung, sondern die intentionale Handlung „Töten des Angreifers" zum Zwecke der Bewahrung des eigenen Lebens. Diese „Angemessenheit" oder Proportion zwischen Gewalt und Intention der Selbstverteidigung ist deshalb nicht ein Kriterium dafür, ob man einen Menschen töten „ d a r f (Mittelwahl), um sich das Leben zu retten (Zielintention). Sondern sie ist nur ein Kriterium dafür, ob die Tötung des Angreifers nichtintentional ist, d.h. als eine nichtintentionale Nebenfolge betrachtet werden kann. Nicht zu rechtfertigen ist deshalb z.B., einen Angreifer zu töten, wenn man sich durch Flucht der Aggression entziehen könnte bzw. alle Fälle einer vorsätzlichen Tötungshandlung aus der Überlegung, dass man dadurch einer Aggression des anderen zuvorkommen kann (natürlich gilt dies, wie früher gezeigt, nicht für die Kriegssituation). Aber die kasuistische Diskussion von „Fällen" ist hier zumeist unerheblich. Denn die Nichtintentionalität der Tötung des Angreifers ergibt sich in der Regel durch die Reflexartigkeit der Selbstverteidigungshandlung, die - mehr als durch Vernunft und Kalkül - durch Furcht, also triebhaftes Fliehen eines Übels, geprägt ist. Das Übermaß an Gewaltanwendung ist nicht mehr als ein äußeres Beurteilungskriterium. Entscheidend ist, was im Herzen des Menschen vorgeht.

Nun ließe sich einwenden: auch eine Abtreibung zur Lebensrettung der Mutter sei „angemessene Gewalt", um das eigene Leben zu retten. Man könne deshalb ebenfalls die Handlung „Abtreibung" als Selbstverteidigungshandlung interpretieren, mit der nicht-intendierten Nebenfolge „Tod des Fötus". Das Argument ist jedoch nicht stichhaltig: Die Frage der angemessenen Gewalt ist in diesem Fall gar kein Kriterium zur Beurteilung der Nichtintentionalität. Der Fall Selbstverteidigung nämlich impliziert, dass Nicht-Handeln den eigenen Tod zur Folge hat, das heißt, dass „Nicht-Handeln" gleich „Zulassen des Vollzugs einer Tötungshandlung des Angreifers" ist. Die Gewaltanwendung richtet sich ja gegen eine Tötungshandlung (Aggression) des anderen und nicht gegen sein Leben. Das ist beim Fötus nicht der Fall. Abtreibung ist nicht ein Akt der Selbstverteidigung, sondern ganz einfach die intentionale Handlung „Töten eines Menschen" (als Mittel) mit der Absicht, sich am Leben zu erhalten. Der lebensbedrohende Fötus ist gar kein Aggressor, und folglich kann hier auch keine aggressionshemmende Handlung vollzogen werden. Dies zeigt auch, wie verfänglich im Zusammenhang der privaten Selbstverteidigung die Rede v o m „ungerechten Aggressor" ist. D i e s e Rede hat nur einen Sinn im Zusammenhang mit öffentlicher Justiz (oder Kriegführung), w o es ja um eine Strafe für Schuld geht. Im vorliegenden Zusammenhang

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gibt es jedoch schlicht keinen Unterschied zwischen „gerechter" und „ungerechter" Aggression. Jeder Mensch ist in jeder Situation befugt, sich selbst zu verteidigen und dafür den Tod des Angreifers in Kauf zu nehmen. Selbst ein am Tage vor der Hinrichtung entflohener zum Tode Verurteilter.

Es ist erneut daran zu erinnern, worum es bei diesen vielleicht allzu subtil scheinenden Analysen der intentionalen Identität von Handlungen eigentlich geht: um die Grundfrage aller Moral nach der Qualität des Willens des Handelnden. Die analytische Logik der vorhergehenden Diskussion darf nicht vergessen lassen, dass sie ja nur wiederspiegelt, was „im Herzen" des handelnden Menschen vor sich geht. „Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen. Das ist es, was den Menschen unrein macht" (Mt 15, 19 f.). Ginge es, wie Utilitaristen sagen, nur um die Zustände, die wir als Folge unserer Handlungen bewirken und würde sich die „Reinheit des Herzens" ausschließlich daran bemessen, welche Zustände wir bewirken wollen, so wären die obigen Analysen irrelevante Spitzfindigkeiten. Irgendwie aber wissen wir, dass es sich nicht um Spitzfindigkeiten handelt. Schon deshalb, weil wir es ja schon als ungerecht empfinden, etwas Ungerechtes zu wünschen, auch wenn man es - wegen der voraussichtlich üblen Folgen - gar nicht tun will, der Wunsch also folgenlos bleibt. In der hier vertretenen Optik blieben solche Wünsche aber keinesfalls folgenlos: Sie haben gravierende Folgen für denjenigen, der solche Wünsche hat, und deshalb nachher auch für den „Zustand der Welt". Hier lässt sich ein weiteres Wort zitieren: „Ein guter Mensch bringt Gutes hervor, weil er Gutes in sich hat, und ein böser Mensch bringt Böses hervor, weil er Böses in sich hat" (Mt 12,35). Dies ist nicht eine Berufung auf das Evangelium, um die eigene philosophische Position argumentativ zu rechtfertigen, sondern lediglich Aufweis, dass diese Position dieselbe wie diejenige des Evangeliums ist. Worin besteht sie? In der seit Beginn erläuterten „Perspektive der Moral". Dass nämlich in jeder unserer konkreten Handlungen, die wir aufgrund eines Urteils der Vernunft wählen, immer unser ganzes Menschsein auf dem Spiel steht: Unsere Orientierung auf das „für den Menschen Gute" hin. Dass also unsere menschliche Identität als vernünftig strebende Handlungssubjekte gerade in der Wahl dessen, was wir willentlich tun, auf dem Spiel steht und dass ein Lebensvollzug nicht in guten Absichten, sondern in guten Handlungsvollzügen besteht. Gute Absichten sind nutzlos, wo es nicht Handlungen gibt, die ihnen entsprechen. Erst so entsteht ein kohärenter Lebensvollzug, der sich dann auch durch entsprechende Gesinnungen, Haltungen, Einstellungen charakterisieren lässt. Dies allerdings setzt voraus, Handlungsvollzüge nicht wie physische Ereignisse, sondern als intentionale Vollzüge von Personen zu verstehen. Wenn wir die Dinge so sehen, dann lässt sich zeigen, dass jede utilitaristische Position hier nicht mehr mit dem Argument entgegnen kann, „Utilitarismus" sei ja nur eine Theorie dafür, wie wir die solchen guten Absichten angemessenen konkreten Handlungen - also ihre Richtigkeit - bestimmen können. Das Argument zielt ins Leere, weil nämlich, wie jetzt zu zeigen ist, in jeder utilitaristischen Ethik gerade die Beurteilung dessen, was man tut und was man in Bezug auf das eigene Tun will, nebensächlich, ja ausgeklammert und überflüssig wird. f) Güterabwägungskalküle und Folgenbilanzen („teleologische Ethik", Konsequentialismus) „Utilitarismus" ist hier nicht als diffamierendes Etikett gemeint, sondern als Selbstbezeichnung derjenigen, die diese Position vertreten. Heute präsentiert sich utilitaristische Ethik unter den Namen „Konsequentialismus", „Proportionalismus" oder „teleologische"

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Ethik. Die Einführung des letzten dieser drei Namen muss allerdings als eher unglückliche Wortwahl, wenn nicht sogar als Fehlgriff bezeichnet werden265. Alle drei Benennungen beziehen sich auf eine Ethik, dergemäß sich die Richtigkeit unserer Handlungen ausschließlich aufgrund ihrer voraussichtlichen Folgen bemisst (vgl. oben III,3,c). Diejenige Handlung ist jeweils die sittlich richtige, deren Folge in einer Optimierung von nichtsittlichen Gütern bzw. eine Minimalisierung von nichtsittlichen Übeln besteht, und zwar hinsichtlich aller durch die Handlung Betroffenen. Einer konsequentialistischen Folgenbilanz liegt also jeweils eine Güterabwägung zugrunde266. „Handlungen" werden dabei - wie bereits wiederholt gesagt - physizistisch oder „eventistisch" als Verursachungen von Sachverhalten und Weltzuständen begriffen 267 (mit „Welt" ist hier jeweils mindestens der der Voraussicht des Handelnden zugängliche und in diesem Sinne „betroffene" Teil der Welt gemeint). Nur Sachverhalte haben Bedeutung, nicht die Handlungen, durch die sie hervorgebracht werden. „Dem Konsequentialisten ist es völlig egal, ob ein Sachverhalt darin besteht, was ich tue, oder durch das, was ich tue, herbeigeführt wird. (...) Dem Konsequentialismus kommt es nur darauf an, dass diese Vorgänge als Konsequenzen meines Handelns erscheinen" 268 . Deshalb ist es für ihn auch einerlei, ob etwas als Folge eines Tuns oder als Folge einer Unterlassung eintritt oder ob „ich" oder „ein anderer" etwas tut; denn da für den Konsequentialismus „alle kausalen Verknüpfungen auf derselben Stufe" stehen, so ist es auch „unerheblich, ob ein bestimmter Sachverhalt durch einen 265 Die Unterscheidung zwischen „teleologischen" und „nichtteleologischen" Merkmalen einer ethischen Argumentation stammt von C. D. Broad, Some of the Main Problems of Ethics, in: Philosophy XXI (1946). Zuletzt wieder gedruckt in: C. D. Broad, Broad's Critical Essays in Moral Philosophy, ed. by D. R. Cheney, London-New York 1971, S. 223-246. Broad schien es schlicht evident, dass eine Ethik, die „Verpflichtung" durch das „Gute" begründet, konsequentialistisch ist; vgl. auch sein früheres Buch „Five Types of Ethical Theory" (London 1930), S. 278. - Der Name „Konsequentialismus" stammt von G.E.M. Anscombe, Moderne Moralphilosophie (orig.: Modern Moral Philosophy, 1958), in: G. Grewendorf und G. Meggle, Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt/M. 1974, 217-243. - Der Terminus „Proportionalismus" kennzeichnet einen Typus konsequentialistischer Ethiken, deren Argumentationsstruktur im wesentlichen darin besteht, man dürfe im Handeln auf direkte Weise „physische Übel" (z. B. die Amputation eines Beines oder den Tod eines Menschen) verursachen, sofern die Verursachung dieses Übels nicht als solche Zweck der Handlung ist und im Gesamt der Handlung bzw. ihrer abschätzbaren Folgen durch einen angemessenen Grund („proportionale reason") gerechtfertigt erscheint; die Methode ist, wie generell im Konsequentialismus, eine Güterabwägung. Für den Fall einer Beinamputation ist eine solche Argumentationsweise unmittelbar einsichtig; für den Tötungsfall wird es problematischer. 266 Zur Differenzierung zwischen den Namen „Utilitarismus", „Konsequentialismus", „Proportionalismus" und „teleologische Ethik" vgl. auch J. M. Finnis, Fundamentals of Ethics, a. a. O. S. 81-86. Für eine genaue entscheidungstheoretische Definition des Konsequentialismus vgl. auch J. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, München 2 1995. 267 Der Begriff „Eventismus" ist hier übernommen von A. W. Müller, Unrecht-Tun, Unrecht-Leiden und Utilitarismus, in: Ratio 19 (1977), S. 105-120; bes. S. 107 ff. Die Meinung, „Eventismus" sei lediglich ein „neuer Name für die Position, die man gemeinhin als ,Erfolgsethik' bezeichnet" halte ich nicht für zutreffend (W. Wolbert, Vom Nutzen der Gerechtigkeit, Freiburg/CH und Freiburg/Br. 1992, S. 81), da ja die „erfolgsethische" Perspektive nicht diejenige von Handlungsurteilen ist, sondern von Urteilen über Handlungen (im nachhinein). 268 B. Williams, Kritik der Utilitarismus, a. a. O. S. 56 f.

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zweiten Handelnden verursacht wird oder nicht"269. Wenn also infolge meiner Unterlassung ein anderer tut, was ich unterlassen habe, so bin ich dafür gleich verantwortlich, als ob ich es selbst getan hätte; deshalb kann ich es also gerade so gut selbst tun - wozu ich sogar verpflichtet bin, wenn ich es voraussichtlich auf weniger schlimme Weise tun oder dadurch anderes Übel abwenden kann270. Mit diesem Prinzip der „negativen Verantwortlichkeit" ist der entscheidende Punkt des konsequentialistisch-utilitaristischen Handlungsbegriffes benannt 271 . In der Tat verbirgt sich hinter ihm ein ganz spezifischer, innerhalb des Konsequentialismus nicht reflektierter, sondern stillschweigend vorausgesetzter Handlungsbegriff. Die Frage, für wen und was wir in unserem Tun und Lassen eigentlich Verantwortung tragen, ist nämlich für den Handlungsbegriff zentral. Will man sich mit teleologischer Ethik auseinander setzen, so darf man die Beantwortung dieser Frage keineswegs voraussetzen und ausklammern. Eine Kritik des Konsequentialismus mit dem Argument, wir seien nicht in gleicher Weise verantwortlich für die Folgen dessen, was wir tun, und dessen, was auf Grund unserer Unterlassungen geschieht oder von anderen getan wird, wäre eine Petitio principii; denn die Frage,

269

Ebd. S. 57 f. Vgl. auch J. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, a. a. O., S. 57 und seine Diagnose, dass im Utilitarismus „Personen in einem bestimmten Sinne als unwesentlich für die ethische Beurteilung angesehen werden." 270 Entsprechend stellt J. Nida-Rümelin, ebd., S. 92, fest: „Strikt-konsequentialistisch motiviertes Verhalten reduziert die Person auf ein Instrument (unpersönlicher) Wertmaximierung und ist damit unter fast allen empirischen Bedingungen mit der Integrität der Persönlichkeit unvereinbar." 271 Williams Analyse der Negative responsibility als Kennzeichen des Konsequentialismus ist im angelsächsischen Raum umstritten geblieben und wurde natürlich insbesondere von konsequentialistischen Ethikern abgelehnt, die immer wieder, gerade in der bioethischen Diskussion über den Unterschied (für Konsequentialisten: den Nicht-Unterschied) zwischen „Töten und Sterbenlassen", die prinzipielle Identität von Tun und Unterlassen zu beweisen versuchten. Stellvertretend für viele andere Diskussionsbeiträge vgl. z.B. J. Harris, Williams on Negative Responsibility and Integrity, in: The Philosophical Quarterly 24 (1974), S. 265-273; J. Glover and M. Scott-Taggart, „It Makes No Difference Whether or not I Do It", in: Proceedings of The Aristotelian Society, Suppl. Vol. XLIX (1975), S. 171-209; N. Davis, Utilitarismus und Verantwortlichkeit, in: Ratio 22 (1980), S. 18-37. Eine nützliche Bibliographie zur Diskussion findet sich bei S. Scheffler (Hrsg.), Consequentialism and its Critics, Oxford 1988. Vgl. auch B. Steinbock (Hrsg.), Killing and Letting Die, Englewood Cliffs, N. J., 1980; Second Edition (hrsg. von B. Steinbock und A. Norcross), New York 1994 (aufschlussreich insbesondere der Beitrag von J. Rachels, Active and Passive Euthanasia, S. 63-68, bzw. in der 2. Aufl. S. 112-119; dt.: Aktive und passive Sterbehilfe, in: H.-M. Sass, Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S.254-264; hier zeigt sich, ebenso wie bei J.-C. Wolf, Aktive und passive Euthanasie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 79 (1993), S. 393-415, wie Vertreter des Konsequentialismus nicht mit einem intentionalen, sondern einem eventistischen Handlungsbegriff operieren). - Kritiker von Williams These trivialisieren zumeist seine Position in der Hinsicht, dass sie ihr unterstellen, sie anerkenne nicht, dass es Unterlassungen geben könne, deren Folgen wie diejenigen einer eigenen Handlung beurteilt werden müssen. Das ist aber nicht Williams These; diese vermag durchaus Unterlassungen anzuerkennen, die eigentlich Handlungen sind (z.B. wenn man es unterlässt, ein Kind vom gefährlichen Spielen mit einem elektrischen Gerät abzuhalten; für die Folgen dieses Tuns eines anderen ist man verantwortlich). Die konsequentialistische Auffassung ist, gemäß Williams, dass generell der Unterschied zwischen Tun und Unterlassen bzw. eigenem und fremdem Tun eingeebnet wird und dass die Handlungsanalyse gerade jeweils auf dieser Grundlage erfolgt.

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um die es letztlich geht, ist ja gerade, ob und warum das so ist. Erst in der Auseinandersetzung mit dieser Frage klärt sich, was man eigentlich unter einer „Handlung" im Unterschied zu einer bloßen Unterlassung und was unter einer „eigenen Handlung" im Unterschied zu einer „Handlung eines anderen" versteht. Erst wenn dies geklärt ist, lässt sich zeigen, dass das konsequentialistische Argumentationsmuster nicht einfach eine andere Weise ethischen Argumentierens ist, sondern dass es, falls es für die Klärung ethisch-normativer Fragen als das grundlegende und ausschließliche behauptet wird, das Phänomen des Ethischen, die Perspektive der Moral grundsätzlich verfehlt272. Konsequentialisten sehen ihre Position im Gegensatz zu dem, was sie „deontologische Ethik" nennen, - ein, wie mir scheint, ebenso schwerwiegender terminologischer Fehlgriff. Ihnen gemäß behauptet eine solche Ethik, dass bestimmte Handlungsweisen in sich - und deshalb immer - schlecht seien und deshalb unabhängig von den Folgen nie vollzogen werden dürften. Eine solche Charakterisierung muss aber aus zwei Gründen als unzutreffend erscheinen: Erstens, weil sie impliziert, ein Nicht-Teleologe sei der Meinung, der Vollzug einer solchen „in sich" schlechten Handlung sei folgenlos. Wer aber von „in sich" schlechten Handlungen spricht meint zweifellos, dass ihr Vollzug zumindest eine schlechte Folge besitzt - nämlich diejenige, durch die sie ihre intentionale Identität erhält - und dass genau dieser Folge wegen diese Handlung nicht gewählt werden darf. Bestünde die Position des sogenannten „Deontologen" in der Behauptung, dass der Vollzug einer „in sich" schlechten Handlung keine schlechten Folgen hätte und eine solche Folge auch gar nicht der Grund wäre, weshalb sie nicht vollzogen werden dürfte, so würde er eine schlechthin unbegründbare Position vertreten. „Echt" deontologisch ist freilich etwa folgende Formulierung: „X darf man nie tun, weil man das nicht darf", „... weil dies gegen den Willen Gottes verstößt", „... weil dies in sich schlecht ist", „... weil ich dazu nicht berechtigt bin" - „trotz aller Folgen." Das sind nun aber gerade keine normative Formulierungen davon, weshalb man etwas nicht tun darf, weshalb es gegen den Willen Gottes verstößt, in sich schlecht ist, man dazu nicht berechtigt ist usw. Das „Deontologische" ist hier nur eine Applikation von Urteilen über das Gutsein von Handlungen bzw. von normativen Aussagen auf konkrete Handlungsvollzüge. Das deontologische Element ist also eine typische Eigenschaft des Gewissensurteils bezüglich einer konkreten Handlung X: „X darf man nie tun, weil es in sich schlecht usw. ist". Weshalb aber x-tun in sich schlecht oder unrichtig ist (bzw. die Begründung einer Norm), das ist kein Urteil des Gewissens und es kann deshalb auch nicht deontologisch formuliert werden. Würde man in diesem Fall x dennoch tun, so würde man das nicht, weil man über das Gutsein der Handlung eine falsche Auffassung hätte, sondern weil man gegen das Gewissen handelte. Der „teleologischen" eine „deontologische" Auffassung der Normenbegründung entgegenzustellen entspringt demnach einer Verwechslung von zwei verschiedenen Kategorien praktischer Urteile273.

272 Die genannte Schwäche findet sich m.E. in der ansonsten äußerst erhellenden und hilfreichen Kritik teleologischer Ethik bei E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a. a. O., bes. S. 223-227. Der Autor argumentiert weitgehend aufgrund der, von Konsequentialisten gerade bestrittenen, These, dass wir jeweils nur für unsere eigenen Handlungen und nicht auch für diejenigen anderer, die sie (z.B. im Erpressungsfall) als Folge unserer Unterlassungen vollziehen, verantwortlich sind. 273 Bei C. D. Broad ist diese Verwechslung ganz deutlich; vgl. Some Main Problems of Ethics, a. a. O. S. 230 f.

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In Wirklichkeit sagt der sogenannte „Deontologe" nur: gewisse Handlungsweisen charakterisieren sich geradewegs durch üble Folgen, die durch keine andere üble Folge, die sich voraussichtlich aus ihrer Unterlassung ergeben wird, aufgewogen werden könnte, und deshalb können sie grundsätzlich nicht Bestandteil einer Güterabwägung sein. Eine „in sich ungerechte" Handlung, wie die von einer Privatperson vollzogene Tötung eines Menschen als Mittel zu irgendeinem Zweck, ist eine Ungerechtigkeit. Die Handlung besitzt zwei üble Folgen: Verletzung des Rechtes eines andern; und Intendieren dieser Rechtsverletzung in der Handlungswahl des Handelnden, dessen Wille sich von dem, was er seinem Mitmenschen schuldet, abwendet, also ein ungerechter Wille ist. Dies sind wahrhafte Folgen der Handlung. Zugleich sind es jedoch Folgen, die die Handlung selbst als intentionale Handlung konstituieren, und zwar als schlechte Handlung. Ähnlich ist ja auch eine Lüge (Täuschung, Verletzung der Kommunikationsgemeinschaft) keineswegs folgenlos. Gerade weil sich der Wille des Handelnden, wenn er eine solche Falschaussage zu vollziehen wählt, „in sich" und deshalb „immer" (Kommunikationskontext vorausgesetzt) auf Täuschung und Verletzung der Kommunikationsgemeinschaft richtet, ist diese intentionale Handlung auch „in sich" und „immer" schlecht. Die Folge verleiht der Handlung wiederum ihre Identität. Die Pointe konsequentialistischer oder „teleologischer" Ethik besteht ja gerade und nur darin, genau diesen Aspekt menschlicher Handlungen einfach zu übergehen und systematisch vom Ansatz her auszuklammern. Sie setzt ihre Folgenbilanzierung bzw. Güterabwägung nicht auf der Ebene von intentionalen Handlungen an, sondern erst auf der Ebene von solchen Handlungen äußeren, durch sie verursachten „Gesamtzuständen". In Wirklichkeit ist also der Konsequentialismus lediglich eine verkürzte oder einseitige teleologische ethische Position. Zudem jedoch ist sie inkonsequent: Ist einmal eine Handlung in dieser Weise aufgrund einer Folgenbilanzierung als die „richtige" bestimmt (bzw. ist einmal eine Handlungsweise als „unrichtig" und ihre Unterlassung als sittlich geboten bestimmt), so wird das konsequentialistische Urteil dann selbst deontologisch: „ich soll x tun (unterlassen), weil x richtig (falsch) ist, - unabhängig von allen weiteren Folgen". Denn nach vollzogener Folgenbilanzierung und Bestimmung der richtigen Handlungsweise bleiben ja oft noch zumindest einige üble Folgen in Kauf zu nehmen (man kann ja nicht annehmen, und niemand tut das, dass eine konsequentialistisches Folgenkalkül darin besteht, jeweils nur jene Handlung als die richtige auszumachen, die ausschließlich gute Folgen bewirkt). Folglich gilt auch für den teleologischen Ethiker: Er muss in concreto eine Handlungsweise als die richtige (oder die unrichtige) bestimmen, unabhängig von weiteren üblen Folgen ihres Vollzugs (oder ihrer Unterlassung). Daraus ergibt sich: Ist einmal die richtige Handlungsweise bestimmt, so kann auch der Konsequentialismus nicht mehr sagen, wir seien für alle voraussehbaren Folgen unserer Handlungen verantwortlich. Das widerspricht nun aber dem Grundprinzip dieser Ethik, wir trügen jeweils für alle vorausgesehenen Folgen unserer Handlungen die Verantwortung (ein Prinzip, das eine nichtteleologische Ethik gerade negiert). Würde man behaupten, wir trügen weiterhin die Verantwortung, für die üblen Folgen, die wir aufgrund einer güterabwägenden Bilanzierung der Folgen nun einmal in Kauf nehmen müssen, so wäre das schlicht unerträglich. Die einzige vernünftige Interpretation besteht darin, den Konsequentialismus - genau gleich wie eine „nichtteleologische" Ethik - als eine Theorie dafür zu begreifen, für welche Folgen wir die Verantwortung tragen und für welche wir keine tragen. Damit zeigt sich, dass auch für sie unabhängig von den Folgen gewisse Handlungen richtig oder falsch sind. Die anfängliche Absetzung gegenüber einer „deontologischen" Ethik dient demnach zur Erschleichung dieses Ergebnisses; sie lenkt vom eigentlichen Unterschied zwischen beiden

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Positionen ab. In Wahrheit besteht dieser Unterschied nämlich allein in den Kriterien, gemäß denen die Richtigkeit von Handlungsweisen unabhängig von weiteren Folgen bestimmt wird. Der Unterschied zum sog. „Deontologen" liegt also gar nicht dort, wo ihn Konsequentialisten vermuten. Er ist ein ganz anderer: Erstens wird der Konsequentialist nie von einer Handlungsweise sagen, sie sei gut oder schlecht; er kann nur von „richtigen" und „unrichtigen" Handlungen sprechen. Und zweitens wird er „Richtigkeit" und „Unrichtigkeit" immer nur bestimmen in Bezug auf voraussichtlich verursachte Gesamt-Zustände des Feldes aller Betroffenen („Welt-Zustände"). Beides hängt zusammen. Das erste ergibt sich nämlich aus dem zweiten: Gefüge möglicher und vorausgesehener Folgen sind kontingente Gefüge ohne stabile Identität. In ihnen erscheint der handelnde Mensch als ein Element unter vielen. Er wird „objektiviert". Konsequentialismus ist eine Ethik der „dritten Person". Das Handlungsurteil vollzieht sich aus der Perspektive des unparteiischen Beobachters einer Ereignisstruktur, die überhaupt erst über die Identität konkreter Handlungen entscheidet. Das verleiht utilitaristischer Ethik die Plausibilität und Attraktivität von Objektivität, Fairness und Unparteilichkeit. Bei näherem Zusehen ersieht man jedoch sogleich, dass diese Ethik genau das ausklammert, was die Pointe des Sittlichen überhaupt erst ausmacht: Die Identität des handelnden Subjektes als auf das Gute hin strebendes und durch seine Handlungen und entsprechende Wahlakte sich zum Guten oder zum Schlechten hin veränderndes Wesen, sowie die darauf gründende Identität von intentionalen BasisHandlungen als gute oder schlechte Handlungen, unabhängig vom Gesamtgefüge aller voraussichtlichen Folgen; eine Handlungsidentität, die sich vielmehr im Kontext des „für den Menschen Guten", auf das sich der Mensch in jeder Handlungswahl intentional bezieht, konstituiert. Diese Identität von Handlungen in ihrem intentionalen Bezug auf das „für den Menschen Gute" ist wiederum das jeweils „für mich Gute" und das „Gute für den anderen als mir Gleicher", d.h. jenes anderen, auf den meine Handlungen sich jeweils unmittelbar beziehen. Für eine auf dem Begriff der intentionalen Handlung gründende Tugendethik ist für das Gutsein von Handlungen immer auch der unmittelbare Bezug auf andere Personen-Individuen konstitutiv, deren Anerkennung als „anderes Selbst" so wenig wie das eigene jemals nur als ein Element ins Ensemble eines Sachverhaltskomplexes eingeordnet und damit der Optimierung dieses Sachverhaltskomplexes untergeordnet werden kann. Dieses von Kant hervorgehobene Prinzip „Menschenwürde" wird durch den Konsequentialismus gegenstandslos274. Es ist ausgdrückt in dem allgemein akzeptierten und auch von Utilitaristen nicht bestrittenen Grundsatz, dass man zum Besten der Menschheit nicht über Leichen schreiten darf. Der Konsequentialismus wird sich allerdings immer vergeblich bemühen, diesen Grundsatz abzusichern und zu rechtfertigen, weil er ihn ja als Regel nur begründen kann, insofern seine Akzeptierung voraussichtlich zu den besten Folgen führt. Damit hat man jedoch den Grundsatz bereits verlassen. Denn er besagt ja, dass gerade dieses Kalkül unmoralisch sei. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass diese und nachfolgende Aussagen nicht als Aussagen über die Absichten oder die moralische Einstellung von Vertretern einer utilitaristischen Ethik gemeint sind. Es geht einzig und allein um die Analyse und Kritik einer Denk- und Begründungsstruktur. Der Utilitarismus versucht, wie jede Ethik, das Phänomen „Moral" zu rekonstruieren, zu rechtfertigen und moralische Praxis zu verbessern. Die einzige Frage, die hier ansteht, ist, ob ihm

274

Vgl. den Nachweis dazu in: M. Rhonheimer, Menschliches Handeln und seine Moralität, a. a. O. S. 83; sowie: R. Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, a. a. O.

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das gelingt. Und alle vorgebrachten Argumente, die darauf zielen, die unmoralischen und selbstwidersprüchlichen Implikationen einer konsequentialistischen Ethik aufzuweisen, wollen nicht suggerieren, dass deren Vertreter unmoralische Subjekte sind, sondern sie entspringen der Erwartung, dass auch ein Utilitarist sich von diesen Argumenten - falls sie richtig sind - überzeugen lassen wird, und zwar gerade weil unterstellt ist, dass er kein unmoralisches Subjekt ist.

C.D. Broad vertrat die eigenartige Auffassung, dass sich der Ausdruck „moralisches Phänomen" auf alle Tatsachen - und nur auf diese - beziehe, zu deren Beschreibung wir die Wörter „sollen", „richtig und falsch", „gut und schlecht" gebrauchen275. Wenn das stimmte, dann wären allerdings auch Handlungen aufgrund von Kochrezepten und Gebrauchsanweisungen moralische Phänomene. Aber Broad hat hier klar eine wichtige Voraussetzung konsequentialistischer Ethik verdeutlicht. Und die Verdeutlichung zeigt, dass Konsequentialismus eine Form von Ethik ist, die alles berücksichtigt außer das spezifisch Moralische moralischer Phänomene. Denn die Frage der Moral ist ja nicht schon ohne weiteres die Frage danach, wie wir etwas tun „sollen", wie wir es „richtig oder falsch" machen, wie wir in irgend einer Hinsicht „gut oder schlecht" sind (denn auch beim Kochen oder Häuserbauen „soll" man ja gewisse Dinge tun, kann man etwas „richtig oder falsch" machen und ist man ein „guter oder schlechter" Koch oder Architekt), sondern jene, ob es eine spezifisch moralische Art von „Sollen", von „richtig und falsch", „gut und schlecht" gibt, die sich dann eben nicht auf das Zustandekommen von „guten Speisen" und „guten Häusern" bezieht, sondern auf die Qualität unserer freien, willentlichen Handlungen, mit denen wir etwas in Bezug auf unser Menschsein und auch immer in Bezug auf das Menschsein unserer Mitmenschen bewirken. Erst dann wird die Aussage sinnvoll: Die moralische Frage besteht nicht in der Frage danach, welchen Zustand der Welt wir als den besten intendieren sollen - darüber besteht unter Menschen nicht geringe Einigkeit - sondern wie wir handeln sollen, damit der beste Zustand erreicht wird. Das ist dann eben nicht mehr eine Frage von richtigen Rezepten oder Regeln sondern unmittelbar die Frage nach guten oder schlechten Handlungsweisen. Eine Tugendethik geht davon aus, dass „Moral" meint, das, was Menschen jeweils tun, seien spezifische Elemente des Gutseins eines Weltzustandes. Konsequentialisten hingegen sind der Meinung, was man tue, habe seine Bedeutung nur hinsichtlich der Veränderungen, die sein Tun als Verursachung von Folge-Sachverhalten bewirke. Mit „Moral" bezeichnen sie deshalb die Regeln, gemäß denen das Tun zur Optimierung solcher Folgensachverhalte führe (diese sind dann eben „richtig oder falsch", ihnen gemäß „soll" man etwas tun, und je nachdem kann man dann von jemandem auch sagen, er sei ein guter oder schlechter Mensch). Deshalb diskutieren konsequentialistisch denkende Ethiker heute auch ernsthaft die - zum ersten Male von dem idealistischen englischen Philosophen F. H. Bradley (gest. 1924) formulierte - Frage „Why to be moral?", „Why should I be moral?": „Wieso soll man (ich) moralisch sein?" Sie müssen auch das wiederum - wie denn sonst? - konsequentialistisch begründen. Wenn man, wie J. J. C. Smart die Frage stellen muss, worin denn Zweck und Nutzen von Moralität bestehe276, so hat man bereits das Thema „Moral" aus den Augen verloren (aus der Sichtweise einer Tugendethik kann die 275 276

C. D. Broad, Some Main Problems of Ethics, a. a. O. S. 223. Vgl. J. J. C. Smart, An outline of a system of utilitarian ethics, a. a. O. S.68. Die Frage wird allerdings nicht nur von Utilitaristen gestellt. Sie ist typisch für Moralphilosophie, die „Moral" als Gegensatz zu dem sieht, was in unserem eigenen Interesse und für uns „nützlich" ist. Eine differenzierte Diskussion der Frage „Why should I be moral?" findet sich bei B. Gert, Morality. Its Nature and Justification, New York-Oxford 1998, S. 338 ff.

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Frage gar nicht gestellt werden, weil sie ja mit dem Verstehen dessen, was Moral ist, schon beantwortet ist). Selbstverständlich findet der Utilitarist auf diese seine Frage auch eine Antwort: Der Nutzen von Moralität sei eben letztlich die Optimierung von Handlungsfolgen und damit der bestmögliche Zustand der Welt. Als Antwort auf die Frage „Why to be moral?" ist das aber keine Definition von Moral mehr, sondern eben die Definition dessen, wozu Moral nützlich ist. Und den bestmöglichen Zustand der Welt wollen ja auch solche, die offen sagen, dass es so etwas wie „Moral" gar nicht gibt. Es ist allerdings wichtig zu betonen: Die Frage „Wozu ist Moral nützlich?" bezieht sich nur auf die Frage, wozu es nützlich sei, dass sich Menschen moralisch verhalten; sie zielt also auf die Rechtfertigung jener Eigenschaften, Maßstäbe oder Regeln menschlichen Verhaltens, die wir eben eine „Moral" nennen. Wenn man diese Frage einmal damit beantwortet hat, dass der Nutzen darin bestehe, den Zustand der Welt zu optimieren, so kann man immer noch fragen, wozu wir denn das überhaupt wollen. Da gibt es dann wiederum verschiedene Antworten; z.B. die sozialeudämonistische (das größte Glück der größten Zahl), die immer noch hedonistisch oder nicht-hedonistisch sein kann. Man kann darauf auch eine theologische Antwort geben (und das tun Moraltheologen, die sich dem Utilitarismus verschrieben haben): Man kann dann z.B. die Optimierung des Zustandes der Welt als den grundlegenden christlichen Auftrag verstehen (und ganz falsch ist das ja nicht). Das alles ändert jedoch nichts daran, dass eben „Moral" selbst, das heißt die Maßstäbe dafür, wodurch unser Handeln und Verhalten lobens- oder tadelnswert wird, „nützlich" sein muss, um den Zustand der Welt zu optimieren. Auch der Theologe muss sich dann der Frage stellen, ob das, was er unter Moral versteht, wirklich eine adäquate Auffassung von Moral ist; der Hinweis auf die theologische Dimension der letzten Zielhaftigkeit allen Handelns (Gottes- und Nächstenliebe, Nachfolge Christi usw.) nützt ihm hier wenig.

Die Differenz einer konsequentialistischen Ethik zu jener, die sie „deontologisch" nennt, besteht folglich in der Ausklammerung der Identität des menschlichen Handlungssubjektes als ein Subjekt, das sich durch sein Verhalten zu „gut" und „übel" selbst verändert, ein „Verhalten zu", das sich im konkreten Handeln entscheidet, in dem sich das Handlungssubjekt intentional auf das Gute für ihn selbst und das Gute für den anderen ausrichtet. Eine solche Ethik - eine Tugendethik - ist durch das Etikett „deontologisch" selbstverständlich völlig irreführend charakterisiert. Sie ist vielmehr eine radikal und unverkürzt teleologische Ethik. Der Konsequentialismus ist nur eine andere Art von „teleologischer Ethik": Nämlich eine solche die nicht das Gutsein von Handlungssubjekten und ihrer Handlungen im Auge hat, sondern optimale Welt-Zustände bilanziert; deshalb gibt es hier auch keine „guten" und „schlechten" Handlungen mehr, sondern nur noch „richtige" und „falsche". Und Glück ist für den Konsequentialisten beschreibbar nur als Optimierung von nichtsittlichen Sachverhalten, nicht jedoch als der allein sittlich relevante Sachverhalt des guten Handelns. Das alles entscheidende Grundaxiom des Konsequentialismus liegt also gerade in seiner Unterscheidung zwischen „sittlich guten" Einstellungen, Gesinnungen und „sittlich richtigen" (bzw. falschen) Handlungen, oder - gemäß der Terminologie Broads - in der Unterscheidung zwischen „right-making-properties" von Handlungen und ihren „good-makingproperties". Diese Unterscheidung ist deshalb prinzipiell fragwürdig, weil wir Handlungen immer als Gegenstände von Wahlakten und damit intentional beschreiben müssen. In dieser Perspektive jedoch wird das Gutsein des Willens zunächst einmal zurückgebunden an das Gutsein von Handlungswahlakten; und diese Wahlakte selbst werden beschreibbar als bestimmte Formen der Richtigkeit - der Richtigkeit des Strebens nämlich. Falls eine menschliche Handlung tatsächlich im sittlichen (und nicht bloß im „technischen") Sinne „unrichtig"

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ist, so impliziert sie Unrichtigkeit des Willens, und das heißt: sie ist im sittlichen Sinne eine schlechte Handlung. Der Konsequentialismus ist plausibel, weil er kohärent ist; er zieht ja aus seinen Voraussetzungen richtige Folgerungen. Wie gezeigt wurde, sind jedoch gerade diese Voraussetzungen der Theorie, d.h. ihr Handlungsbegriff, falsch. Dem mag auch alle Kohärenz nicht abzuhelfen. Zudem führt die genannte Unterscheidung zu gravierenden Aporien und schließlich zur Selbstaufhebung konsequentialistischer Ethik. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass eine „intentionale Handlung" nicht einfach „Verursachung eines physischen Geschehens + Intention, mit der man dieses Geschehen verursacht", ist. Vielmehr ist bereits die Verursachung des „physischen Geschehens" selbst (z.B. der Tod eines Menschen) intentional und deshalb eben gar kein bloßes „Geschehen", sondern immer schon eine Handlung (zumindest eine intentionale Basishandlung), die auch eine willentliche Stellungnahme des Handelnden zu Gut und Übel im sittlichen Sinne einschließt. Unterhalb der Schwelle von intentionalen Basishandlungen ist es hingegen nicht mehr möglich, von einer „menschlichen Handlung" zu sprechen; hier gibt es nur noch Körperbewegungen, Ereignisse usw. Nur auf Grund eines solchen Begriffs der intentionalen Handlung lässt sich m.E. jeweils der ethisch relevante Unterschied von „Tun" und „Unterlassen" adäquat verstehen (denn beide sind zunächst einmal auf physisch-behavioristische Eigenschaften von Handlungen, vor allem auf Körperbewegungen bezogene Ausdrücke). Ob z.B. „Sterbenlassen" im moralischen Sinne ein Töten oder ein bloßes Verzichten auf Lebensverlängerung ist, kann nicht schon auf Grund dessen entschieden werde, was „getan" (oder „unterlassen") wird, sondern nur indem man berücksichtigt, was hier jeweils gewählt (also: gewollt) wird. Das „aktive" Abstellen einer Herzlungenmaschine oder eines Sauerstoffhahns (ein „Tun") kann sowohl ein Töten als auch legitimer Verzicht auf Lebensverlängerung sein. Wer mit dem physischen Tun wählt, ein Leben zu beenden, der tötet; wer dieses physische Handlungsmuster jedoch unter der Beschreibung „Verzicht auf Lebensverlängerung" wählt, der tötet nicht, weil er nicht den Tod eines Menschen wählt. Freilich sind hier die sprachlichen Ausdrücke immer ambivalent, da sie den intentionalen Gehalt des jeweiligen Tuns oder Unterlassens nicht adäquat zum Ausdruck zu bringen vermögen. Der Unterschied zwischen „Töten" und „Verzicht auf Lebensverlängerung" kann jedenfalls nicht in physisch-behavioristichen Kategorien wie „Tun" und „Unterlassen" beschrieben werden. Wenn „Sterbenlassen" - im Sinne einer „Unterlassung von lebensverlängernden Maßnahmen", was an sich bloß eine physisch-behavioristische Beschreibung ist - unter der Beschreibung „Verzicht auf Lebensverlängerung" gewählt wird, so wird hier deutlich, dass hier wirklich nicht der Tod eines Menschen gewollt wird, sondern dass man lediglich wählt, lebensverlängernde Handlungen zu unterlassen. Den eigentlichen Unterschied zwischen der Entscheidung, jemanden durch eine Unterlassung bzw. durch das Abstellen eines Sauerstoffhahnes (ein „Tun") zu töten oder dadurch auf eine Lebensverlängerung zu verzichten, kann jedoch wie gesagt sprachlich nicht adäquat und eindeutig ausgedrückt werden. Der Unterschied entspringt der Verschiedenartigkeit der intentionalen Strukturierung, die wiederum von situativen Elementen abhängt, vor allem vom Urteil, dass „Sterbenlassen" hier nichts anderes ist, als darauf zu verzichten, einen (in Anbetracht des Alters, eines Krankheitsverlaufs usw.) natürlichen und irreversiblen, in seinem letzten Stadium sich befindlichen Sterbeprozess nicht mehr aufhalten zu wollen und/oder dass die notwendigen Mittel der Lebensverlängerung unverhältnismäßig wären. Solches lässt sich nur schwer in eindeutigen Handlungsbeschreibungen und sprachlichen Kategorien wiedergeben 277 .

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Diese Schwierigkeiten werden auch von D. Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995 berücksichtigt, allerdings zieht er daraus die umgekehrte Folgerung. Er verzichtet konsequent auf einen intentionalen Handlungsbegriff und versucht „Unterlassen" als eindeutigen Kontrastbegriff zu „Handeln" zu verstehen (vgl. S. 24 ff.). Zum Problem vgl. auch W. Lübbe, Verantwortung in komplexen Prozessen, Freiburg 1998 (Kap. III) und zur Frage des Sterbenlassens im Zusam-

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Die Aponen und tendenzielle Selbstaufhebung konsequentialistischer Ethik lassen sich mit folgendem Beispiel veranschaulichen. Auch ein Tugendethiker hätte dem konsequentialistischen Kalkül zustimmen können „Um eine möglichst schnelle Kapitulation Japans und damit eine möglichst geringe Zahl von Todesopfern zu bewirken, ist die ,richtige' Handlung die Massenvernichtung von Zivilbevölkerung durch Abwurf einer Atombombe." Hätte Präsident Truman damals die langfristigen gesundheitsschädigenden Folgen für die Bevölkerung und das atomare Wettrüsten voraussehen können, so hätte er vielleicht diese Maßnahme nicht für „richtig" erachtet. Man mag sie vielleicht verstehen können, aber es fällt auf, dass die Bestimmung der „Richtigkeit" hier gerade einen Aspekt außer acht lässt: Die willentliche Tötung von unschuldigen Menschen, die ein Akt der Ungerechtigkeit ist. Der Konsequentialist kann hier nur einwenden: Vorausgesetzt diese Maßnahme war die Richtige zur Optimierung der damals vorausgesehenen Folgen, so konnte sie gar nicht eine ungerechte Handlung sein. Ihre Gerechtigkeit bestand gerade darin, dass sich aus ihrer Unterlassung damaliger Voraussicht gemäß üblere Folgen ergeben hätten. Deshalb sei es völlig irrelevant, nun darauf hinzuweisen, die Opfer seien „unschuldig" gewesen. Schuld oder Nicht-Schuld spiele hier überhaupt keine Rolle. Dieser Einwand, der konsequentialistische Logik ausdrückt, zeigt, dass die Kategorie der „Richtigkeit", wenn sie gegen diejenige des Gutseins einer Handlung ausgespielt wird, gar nicht dazu dienen kann, „gute Absichten", „Einstellungen" etc. im Handeln zu konkretisieren, sondern dass hier „Handeln" und „Gesinnung" zwei völlig disparaten Bereichen angehören, so dass grundsätzlich jede Handlungsweise mit einer „guten" Gesinnung vollzogen werden könnte - vorausgesetzt man tut das „Richtige". Das zeigt die falsche, eigentlich in sich bereits die Perspektive der Moral verfehlende Ausgangsbasis des obigen Kalküls. Natürlich war der Abwurf der Atombombe das „Richtige", - d.h. das Richtige, um so schnell wie möglich die Kapitulation Japans zu erwirken. Aber das Kalkül schloss eben bereits von Anfang an die Frage nach der Gerechtigkeit der dazu gewählten Handlungsweise einfach aus. Dies wäre auch der Fall, hätte Präsident Truman die Folgen auf die Gesundheit der Überlebenden und die phsychologischen und sozialen Schäden miteinbezogen und wäre zum Resultat gekommen, das Übel dieser Folgen übertreffe das durch eine schnelle Kapitulation erreichte Gute, so dass er den Abwurf der Atombombe nicht angeordnet hätte. Wie gesagt: Wir haben vielleicht mit dem, der eine solche Entscheidung trifft Verständnis. Aber die einzige als sittlich richtig und damit auch gut zu rechtfertigende Entscheidung wäre gewesen: Man darf auch zu einem guten Zweck nicht unschuldige Menschen massakrieren. Diese Art von Richtigkeit prägt nun gerade auch die Gesinnung. Heute wissen wir, dass diese Handlungsweise, gerade weil sie gerecht gewesen wäre, wahrscheinlich auch die besseren Folgen gehabt hätte. Damals konnte man das wahrscheinlich nicht wissen. Aber für die üblen Folgen unserer schlechten Handlungen tragen wir auch dann die Verantwortung, wenn wir sie nicht voraussehen konnten. So können wir sagen: Das „Richtige" in sittlicher Hinsicht ist gerade das für den Menschen Gute, oder umgekehrt. Handlungen sind operative Konkretisierungen der intentionalen Hinwendung auf das Gute. Und diese Hinwendung auf das für den Menschen Gute steht in jeder einzelnen Handlung auf dem Spiel. Handlungswahl und entsprechender Vollzug prägen

menhang mit der Euthanasie J. Keown (Hrsg.), Euthanasia Examined. Ethical, Clinical and Legal Perspectives, Cambridge 1995 (insbesondere die Diskussion zwischen John Harris und John Finnis,S. 6-71).

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gerade die Gesinnung, die Einstellung, die Grundhaltung eines Menschen. Sie entscheiden über sein „Herz". Der Konsequentialist intendiert in seinen Handlungsurteilen die Herstellung der bestmöglichen Welt, so weit diese aufgrund der voraussehbaren Folgen seiner Handlungen für ihn eben voraussehbar ist. Er behauptet also: Was wir voraussehen, dafür tragen wir auch jeweils die Verantwortung. Das klingt zwar zunächst sehr vernünftig. Und gemeint ist ja damit nicht, Konsequentialisten wollten nun beanspruchen, in der Tat durch ihr Handeln den Gesamtzustand der Welt optimieren zu können. Sie führen die Optimierung der voraussehbaren Folgen von Handlungen lediglich als Rationalitätskriterium für deren Richtigkeit an278. Kann es aber als ein solches taugen? Das eben soll hier bestritten werden: „Folgenoptimierung" könnte zwar ein Kriterium für die Rationalität bestimmter öffentlicher Entscheidungsprozesse etwa im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik sein. Auf diese Art von Rationalität lässt sich aber moralische Rationalität nicht beschränken. Deshalb auch ist es bedenklich, die „Grundformel" sittlicher Entscheidungsfindung wie folgt zu umschreiben: „Im Grunde geht es geradezu um einen wirtschaftlichen Kalkül, bei dem man jedoch den Gewinn nicht nur partikular zu maximieren versucht, indem man zu einem bestimmten Zeitpunkt die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben möglichst groß werden lässt. Vielmehr handelt es sich darum, den Gewinn auch zu optimieren. Dadurch, dass man den Gesichtspunkt, auf die Dauer und im ganzen' einführt, wird der Kalkül zu einem eigentlich ethischen"219. Das muss nun aber schon deshalb als unplausibel erscheinen, weil somit ja jeder Kalkül durch den Gesichtspunkt „auf die Dauer und im ganzen" schon ein ethischer Kalkül wäre. Genau gesehen wird dadurch aber sittliche Rationalität überhaupt aufgegeben und durch eine andere Art von Rationalität ersetzt, die an ihrem Ort zwar durchaus legitim sein kann, jedoch gerade jeweils einer ethischen Beurteilung untergeordnet und durch sie gegebenenfalls auch relativiert bzw. in die Schranken gewiesen werden muss. Die Position einer Tugendethik hingegen ließe sich durch die Aufforderung charakterisieren, man solle im konkreten Handeln überhaupt keinen „Zustand der Welt" anstreben, auch nicht den bestmöglichen. Einfach deshalb, weil wir, bevor wir ihn erreicht haben, gar nicht wissen können, worin er besteht; wobei wir auch dann nicht wüssten, ob derjenige, den wir bereits erreicht haben, wirklich der bestmögliche ist. Vielmehr wird man, viel vernünftiger, sagen: Jene Welt wird jeweils die beste sein, die sich als Folge aus den Tugenden der Menschen, d.h. letztlich aus ihren gerechten Handlungen ergibt. Wer dann in diesem Sinne gut handelt, der handelt eben gerade deshalb auch richtig. Damit kann freilich nicht gemeint sein, dass eben Tugend letztlich der bessere Weg ist, um 278

279

In seiner Erwiderung auf R. Spaemanns Kritik am Konsequentialismus scheint mir B. Schüller übersehen zu haben, dass Spaemanns Kritik am Konzept „Optimierung des Gesamtzustandes der Welt" als Kritik konsequentialistischer Rationalitätskriterien für die „Richtigkeit" von Handlungen gemeint ist, und nicht als Kritik der Anmaßung und Erwartung von „Universalteleologen", durch ihr Handeln den Gesamtzustand der Welt tatsächlich zu optimieren. So schreibt Schüller: „Wer traut es sich schon zu, durch sein Handeln den,Gesamtzustand der Welt' zu optimieren? Allerdings könnte sich das als ein Grund dafür herausstellen, dass es kaum einen Ethiker gibt, der sich dazu entschließen konnte, sich zum Anwalt einer so verzweifelten Sache zu machen." Vgl. B. Schüller, Das Muster einer schlagenden Widerlegung des Utilitarismus, in: B. Schüller, Pluralismus in der Ethik, Münster 1988, S. 55. P. Knauer, Fundamentalethik: Teleologische als deontologische Normenbegründung, in: Theologie und Philosophie 55 (1980), S. 333.

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die Optimierung des Weltzustandes zu erreichen, oder dass wir diese „beste Welt", die sich aus der T u g e n d der M e n s c h e n ergibt, als die an sich w ü n s c h e n s w e r t e s t e betrachten. D a n n würde sich j a auch T u g e n d w i e d e r u m nur durch ein F o l g e n k a l k ü l rechtfertigen. In Wirklichkeit führt j a Tugend oft gerade nicht z u m Besten in diesem Sinn, - e s sei denn, wir b e z ö g e n auch noch die Perspektive göttlicher Vorsehung mit ein; denn für jene, die Gott lieben, wird j a alles z u m Guten gelenkt 2 8 0 . Aber das ändert w i e d e r u m nichts am Zustand der Welt, sondern eben nur am Zustand derjenigen, die Gutes tun. D e s h a l b kann mit der obigen A u s s a g e allein gemeint sein, dass j e w e i l s jener Zustand der Welt der Beste ist, der sich durch die Existenz gerechter Menschen auszeichnet. D e n n ein Weltzustand, in dem eine Wohltat für die Gesamtheit als F o l g e der Ungerechtigkeit g e g e n einige erkauft wird, ist kein guter Zustand der Welt; w i e etwa, w e n n man die Ausrottung der Krebskrankheit dadurch erreichte, dass man dafür Menschen gegen ihren Willen als Experimentierobjekte opferte 281 . Konsequentialisten wischen solche tugendethischen Argumente damit vom Tisch, dass sie, wie bereits in der Einleitung kurz erwähnt, einen Trivialbegriff von Tugend unterstellen, also behaupten, Tugenden seien lediglich moralisch positiv zu bewertende Handlungsdispositionen. Aus diesem Grund könnten sie jedoch nicht dazu dienen, das jeweils moralisch Richtige zu bestimmen, da ja, umgekehrt, nur vom moralisch Richtigen her zu bestimmen ist, was eine moralisch positiv zu bewertende Handlungsdisposition, also eine Tugend ist (diese Bestimmung verläuft eben konsequentialistisch). Tugenden könnten deshalb nicht als eigenständige moralische Größe auftreten, die imstande wäre, ein konsequentialistisches Folgenkalkül als unmoralisch zu entlarven 282 . Kritik solcher Art ist natürlich eine Petitio principii, da sie einen konsequentialistischen Trivial-Begriff von Tugend unterstellt. Die Pointe der auch von Ph. Foot vertretenen tugendethischen Argumentation besteht gerade im kritischen Hinweis darauf, dass im konsequentialistischen Begriff des durch eine Handlung bewirkten besten Weltzustandes der Handelnde als Handelnder ausgeklammert wird, so dass deshalb gar nicht mehr denkbar ist, ein - in nichtmoralischen Begriffen beschriebener - an sich besserer Weltzustand könnte u.U. auch durch eine ungerechte Handlung erreicht werden (weil, konsequentialistisch gesehen, diese Handlung dann ja gerade definitionsgemäß richtig und damit gerecht wäre). „Ungerecht" kann eine solche Handlung jedoch nach tugendethischer Auffassung sein, weil sie auch ganz abgesehen von der Gesamtheit der Folgen, die sie voraussichtlich bewirkt, bereits als ungerecht bezeichnet werden kann. Das wiederum ist möglich, weil eine Handlung nicht notwendigerweise bezüglich aller ihrer Folgen für alle Betroffenen beurteilt werden muss, um zu der Bewertung zu gelangen, dass sie ungerecht ist. Falls dieses Urteil aber vollzogen ist, dann ist es eben möglich, die sittliche Integrität des Handelnden gegenüber anderen möglichen wohltuenden Folgen einer bereits als ungerecht beurteilten Handlung auszuspielen. Damit wird das Erfordernis der sittlichen Integrität des Handelnden dann als Bestandteil dessen, was man als den „besten Zustand der Welt" bezeichnen kann, erkennbar. Dieser Zustand wird dann nicht mehr als eine nichtmoralische, sondern als eine durchaus moralische Größe begriffen 283 . Genau dies ist die Struktur einer möglichen tugendethischen

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Vgl. Römerbrief 8, 28. Vgl. Ph. Foot, Morality, Action and Outcome, in: T. Honderich (Hrsg.), Morality and Objectivity. A Tribute to J. L. Mackie, London 1985, S. 32. Zum Problem der angemessenen Sicherung der Rechte von Individuen im Konsequentialismus vgl. J. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, a. a. O., S. 95 ff. So argumentiert P. Schaber, Moralischer Realismus, Freiburg/München 1997, S. 309 ff. gegen den Aufsatz von Ph. Foot, Utilitarianism and the Virtues, in: Scheffler, Samuel (Hrsg.): Consequentialism and its Critics, Oxford 1988, S. 224-242. Genau das ist der Kern von Foots Argumentation, a. a. O., S. 237f.: „... there indeed is a place within morality for the idea of better and worse state of affairs. (...) It is not that in the guise of 'the

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Argumentation, die freilich einen nicht-trivialen und nicht-konsequentialistischen Begriff von Tugend voraussetzt. Ein Konsequentialist, will er nicht einer zirkulären Argumentation verfallen, müsste sich also zunächst einmal darum bemühen, die in diesem Begriff der Tugend implizierten handlungstheoretischen Voraussetzungen zu kritisieren. Ein Mann, der die Entscheidung für eine beste Welt als Folge der Tugend getroffen hat, war der Sokrates der platonischen Apologie 284 . Als die Tyrannenoligarchie der Dreißig ihm und seinen Freunden den Auftrag gaben, den unschuldigen Leon von Salamis zur Hinrichtung herbeizuschaffen, vollzog er keine Güterabwägung, sondern er weigerte sich einfach, eine Handlung zu vollziehen, die er als in sich ungerecht beurteilte, wissend, dass ihm dieser Ungehorsam den Tod bringen würde (was, wie er nicht wissen konnte, nicht eintrat, da die Dreißig vorher gestürzt wurden)285. Sokrates handelte nach der zuerst von Demokrit formulierten Maxime „Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun"286. Diesem Satz stimmen wir alle ohne zu zögern zu. Das Schlimme für den Konsequentialismus ist, dass er ihn nicht rechtfertigen kann287. Denn der Satz setzt den Begriff intentionaler Handlungsvollzüge und die Perspektive des Handlungssubjekts, die Moral der „ersten Person" voraus: „Unrecht erleiden" ist nämlich für denjenigen, der hier entscheidet, ein nichtsittliches Übel und ein bloßer „Sachverhalt", ein Zustand, der ihn weder zu einem guten noch zu einem schlechten Menschen macht. „Unrechttun" hingegen ist ein sittliches Übel (auch für den Konsequentialisten), durch das er ein schlechter Mensch würde. Deshalb ist der Sinn des Satzes klar: „Ich ziehe es vor, in einen schlechteren Zustand versetzt zu werden, als Schlechtes zu tun (weil ich dadurch ein schlechter Mensch werde)". Dies ent-

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outcome' it [the idea of maximum welfare] stands outside morality as its foundation and arbiter, but rather that it appears within morality as the end of one of the virtues." Genau diesen Aspekt der Argumentation scheint auch S. Scheffler in seiner (nicht-konsequentialistischen) Kritik von Foots Artikel übersehen zu haben; vgl. S. Scheffler, Agent-Centred Restrictions, Rationality, and the Virtues, in: Scheffler (Hrsg.), Consequentialism and its Critics, a. a. O:, S. 243-260. Vgl. Piaton, Apologie 32c-e. Vgl. als umgekehrtes Muster den im vorhergehenden Abschnitt erwähnten Fall des Nazikollaborateurs Paul Touvier, der, um angeblich 93 Juden vor der Erschießung zu bewahren, vorsorglich deren sieben tötete, und dies zu seiner Verteidigung als Lebensrettung von 93 Menschen bezeichnete. Demokritos, Fragment B 45, in: Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker II, S. 156. Vgl. genauer meine Ausführungen in: Gut und böse oder richtig und falsch ..., a. a. O., S. 70. Dort spreche ich davon, die Demokrit-Maxime sei im Rahmen des Konsequentialismus „unbegründbar und letztlich sinnlos"; dies eben in dem Sinne, dass sie nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Damit scheint mir allerdings nicht meine Meinung in Widerspruch zu stehen, dass auch die Demokrit-Maxime auf einer letztlich unbegründbaren Evidenz beruht, die aber eben in einer konsequentialistischen Ethik auf der Ebene des konkreten Handlungsurteils nicht mehr zum Tragen kommt (d.h. „aus dem Raster fällt"), der Evidenz nämlich: „Kein Unrecht tun ist besser als Unrecht tun". Dieser Satz ist evident, aber keineswegs trivial. Ich glaube, jeder Konsequentialist wird jedoch sagen, dieser Satz sei dermaßen tautologisch, dass er auf der Ebene von Handlungsurteilen gar keine Rolle spielen könne. So viel zu Werner Wolberts Vorwurf, ich sei ein meiner Kritik am Konsequentialismus „nicht ganz konsequent" (vgl. W. Wolbert, Vom Nutzen der Gerechtigkeit, a. a. O. S. 72, Anm. 13; vgl. auch ebd., S. 84).

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spricht auch der wörtlichen Übersetzung von Demokrits Maxime: „Wer Unrecht tut ist unseliger, als w e m Unrecht geschieht" 288 . Das Problem für den Konsequentialisten besteht darin, dass er ein solches Handlungsurteil gemäß seiner Theorie nicht vollziehen darf. Denn „ungerecht" ist für ihn eine Handlung ja nur, insofern sie „unrichtig" ist. Und um diese Richtigkeit zu bestimmen, muss er alle voraussichtlichen Folgen für alle Betroffenen abwägen, und zwar in gleicher Weise die Folgen eines Tuns, w i e auch diejenigen eines Unterlassens. Ein konsequentialistischer Sokrates hätte sich also fragen müssen: (a) Welche sind voraussichtlich die Folgen einer Auslieferung des Leon und dessen Tod? (b) Welche sind voraussichtlich die Folgen meiner Weigerung, Leon auszuliefern, und meines eigenen Todes? Er hätte dann die Folgen des Todes von Leon und des seinen gegeneinander abwägen müssen. Dabei stünden nun Folgen-Sachverhalt (a) g e g e n Folgen-Sachverhalt (b). Und man sieht: Die Frage des Unrecht/««.? ist jetzt plötzlich gar keine sinnvolle Frage mehr. D i e Frage ist nur noch: W e l c h e s „Ereignis" bewirkt die besseren Folgen? Und darin, dieses Ereignis (Tun oder Unterlassen) zu verursachen, bestünde dann die richtige Handlungsweise. Die Frage „Ist es besser Unrecht zu erleiden oder Unrecht zu tun?" wird utilitaristisch also umgeformt in die Frage: „Was ist besser, dass ich durch Unterlassung der Handlung X eine üble Folge für mich selbst oder durch deren Vollzug eine üble Folge für einen anderen bewirke?". Dabei wird die „radikale Subjektivität des Sittlichen" 289 ausgeklammert: D i e Tatsache, dass ich der Handelnde bin. Das eigene Handeln wird w i e ein bloßes „Ereignis" behandelt, das gewisse Folgen zeitigt. Das Handlungsurteil besteht darin zu bestimmen, welches Ereignis erwünschter ist. Etwa so, w i e man fragen könnte: Was ist besser, dass durch ein Erdbeben hundert Menschen getötet werden oder nur fünfzig? Jedermann würde das erste Erdbeben für schlimmer halten. Erdbeben jedoch sind Naturereignisse; menschliche Handlungen sind es nicht. Sokrates hätte zum Schluss kommen können, dass die Folgen seines Todes schlimmer seien, als diejenigen des Todes von Leon (wahrscheinlich hätte er sogar gute Gründe haben können; heute wissen wir, dass gerade die nicht-utilitaristische Einstellung von Sokrates die besten Folgen hatte, denn anders wäre Sokrates nicht Sokrates g e w e s e n und es hätte wohl auch keinen Philosophen Piaton g e g e b e n usw.). D a s utilitaristische Kalkül auf den Fall Sokrates angewandt zeigt aber gerade, dass es durch die Verwandlung aller sittlicher Handlungen in eine reine „Verursachung von Sachverhalten und Weltzuständen" und deren Bilanzierung die Beurteilung der Frage überflüssig macht, was man eigentlich tut190. Nun hat aber gerade dies verheerende Folgen, weil die menschliche Natur selbst sich hier rächt. Denn jedes utilitaristische Folgenkalkül steht und fällt mit der Möglichkeit, die Folgen selbst gemäß Kriterien von „erwünscht" und „unerwünscht" zu beurteilen und zu gewichten. Woher diese Kriterien nehmen? Konsequentialisten beteuern, dass sie ihren Güterabwägungen selbstverständlich Kriterien wie Gerechtigkeit, Fairness, Wohlwollen gegenüber dem Mitmenschen usw. anlegen 291 . Aber wie entstehen entsprechende Kriterien und Vorstellungen

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In diesem Sinne findet sich der Satz auch im berühmten Gespräch des Sokrates mit dem jungen Polos im platonischen Dialog „Gorgias". A.W. Müller, Unrecht-Tun, Unrecht-Leiden und Utilitarismus, a. a. O. S. 117 ff. Vgl. G. E. M. Anscombe, Moderne Moralphilosophie, a. a. O. S. 231. So z.B. B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, a. a. O. S. 285. Zum Misslingen dieses Versuchs vgl.: Natur als Grundlage der Moral, a. a. O. S. 304 ff.

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von „Gerechtigkeit", „Fairness", „Wohlwollen", die als Maßstab für Güterabwägungen dienen können? Die Antwort ist eindeutig: Sie entstehen aus praktischen Urteilen über die Gerechtigkeit, die Fairness und den Charakter des Wohlwollens von Handlungsweisen im Sinne intentionaler Basis-Handlungen. Die ersten Prinzipien können ja nicht genügen, denn sie sagen uns nur, wir sollen jedem das ihm Zustehende geben, ihm nichts tun, wovon wir nicht wollen, dass man es uns selbst tut usw. Aber der Utilitarist sagt ja selbst: Was dem anderen „zusteht", also das Gerechte, das sei jeweils das Richtige; dieses ergibt sich aber doch erst wiederum aus der optimalen Folgenbilanz. Was wir vernünftigerweise nicht wollen können, dass man es uns tut, kann ebenfalls nur das „Unrichtige" sein. Auch ein utilitaristischer Sokrates hätte ja seinen als Folge der Unterlassung der Auslieferung des Leon voraussichtlich eintretenden Tod nur unter der Voraussetzung nicht wollen können, dass diese Auslieferung unrichtig gewesen wäre, d.h. der Tod des Leon schlimmere Folgen gehabt hätte, als sein eigener. Der Rekurs auf Prinzipien setzt demnach immer das utilitaristische Folgenkalkül voraus bzw. bedarf seiner. Dieses hängt demnach in der Luft. Es ist ein perfekter Zirkel: ein Kalkül ohne begründbaren Maßstab. Die erwähnte „Rache der menschlichen Natur" besteht gerade darin, dass derjenige, der folgenutilitaristisch handelt, die Kriterien, gemäß denen er diese Folgen gegeneinander abwägen müsste, aus den Augen verliert, weil er gar keine Möglichkeit hat, solche Kriterien überhaupt zu begründen 292 . Sie bleiben für ihn reine Leerformeln ohne Bezug zu Handlungskategorien. Wertanalyse (sittliche Prinzipien) und Handlungsanalyse fallen hier vollständig auseinander. Die konsequentialistische praktische Vernunft hebt sich selbst auf; sie macht sich selbst gegenüber dem Guten, Gerechten, Fairen usw. blind. Sie vermag nicht nur keine Kriterien dafür anzugeben, weshalb Folge x, y, ... ,z überhaupt „gut" oder „übel" ist und welche Folgen übler als andere sind, sondern letztlich vermag sie nicht einmal mehr mit moralischen Kriterien zu begründen, wieso es überhaupt gut ist, die besten Folgen zu erwirken. Dazu müsste man den Utilitarismus zurückführen auf eine Position wie diejenige von Hobbes: Es ist am besten ganz einfach aus Gründen der Selbsterhaltung. Theologen rekurrieren auf Glaube, Liebe usw.293 Dieser Rekurs wirkt hier jedoch wie eine Notverankerung für eine Moral, die selbst der wesentlichsten moralischen Gehalte entleert ist. In allen Fällen löst der Konsequentialismus in keiner Weise die Frage nach dem Guten, sondern verschärft sie. Wenn Utilitaristen gründlich sind, kommen sie zur Auffassung, man müsse die Beantwortung dieser Frage jedem selbst überlassen. Aber war die Frage nach dem Guten nicht gerade die Ausgangsfrage der Ethik und ihr eigentlicher Inhalt? Utilitaristische Ethik verlange, wie Norbert Hoerster meint, eine Ergänzung, denn sie nehme die jeweils „Begünstigten" als „selbständige Personen ernst, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, selbst zu entscheiden, worin sie eine .Begünstigung' erblicken." Folgerung: „Man könnte sagen, sie löst ihre Ausgangsfrage dadurch, dass sie zu Gunsten der betroffenen Individuen auf eine Lösung verzichtet." Das einzige, was prinzipiell auszuschließen sei, seien solche Handlungs-

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Vgl. auch L. Honnefelder, Natur als Handlungsprinzip, a. a. O. S. 173 f. Geradezu extrem ist hier die bereits früher erwähnte Position von J. F. Keenan, Die erworbenen Tugenden als richtige (nicht gute) Lebensführung, a. a. O., wo das sittlich Gute (im Unterschied zum bloß „Richtigen") als überhaupt nur noch auf der Ebene der (übernatürlichen) Liebe situiert erscheint.

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Orientierungen, „deren Inhalt in nichts als der Vereitelung von Vergnügen bzw. Interessenbefriedigung anderer liegt"294. Damit wird nun die Not des Utilitarismus zu seiner Tugend gemacht, die allerdings noch immer vor dem Problem der Bestimmung dessen steht, was denn überhaupt als Folge anzusehen ist. Denn „eine Handlung wählen" heißt ja hier die Folgen eines bestimmten Tuns wählen. Folglich ist der entscheidende Gesichtspunkt das Voraussehen der Folgen. Dabei entstehen jedoch unlösbare Probleme: Bin ich jeweils für die Folgen verantwortlich, die ich faktisch voraussehe? Wenn ja, dann heißt das, dass der Ehebrecher für den Selbstmord seiner verzweifelten Ehefrau und die Zerstörung seiner Familie keine Verantwortung trägt, sofern diese Folgen für ihn „überraschend", unvorhergesehen eintreten. Man kann dann auch sagen: Je unverantwortlicher jemand handelt (d.h.: je weniger sich jemand der üblen Folgen seines Tuns bewusst ist), desto weniger trägt er für sie die Verantwortung. Da dies absurd ist, kann also die Qualität einer Handlung nicht allein von den faktisch vorausgesehenen Folgen abhängen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass man nur für jene Folgen Verantwortung trägt, die man hätte voraussehen können. Nur kann man für ein solches „Können" wohl kaum universalisierbare Kriterien angeben; und wenn diese Kriterien als individuelle behauptet werden, dann sind wir wieder zur erstgenannten Variante zurückgekehrt: Ein bestimmtes Individuum kann nämlich (zu einem bestimmten Zeitpunkt, d.h. im Moment des Handelns) jeweils genau das und nur das voraussehen, was er faktisch voraussieht. Eine dritte Variante bestünde darin zu behaupten, man sei für alle Folgen verantwortlich, die faktisch tatsächlich eintreten werden; dann verlässt man jedoch das Prinzip der „Vorausicht", oder man behauptet, der Mensch sei einer Vorsehung fähig, die sich auf alle eintretenden Folgen bezieht (was wiederum absurd und zudem empirisch gar nicht verifizierbar, hingegen sehr leicht falsifizierbar ist). So bleibt schließlich nur noch die Möglichkeit, dass die Verantwortung von jenen Folgen abhängt, die man hätte voraussehen sollen. Um aber ein solches „Sollen" begründen zu können, müsste der Konsequentialist sein eigenes Prinzip der Begründung der sittlichen Richtigkeit von Handlungen durchbrechen; denn dieses Prinzip heißt ja, das sittlich Richtige („was man tun soll") hänge von den vorausgesehenen Folgen ab. Der konsequente Konsequentialist kann also in keiner Weise den Zusammenhang zwischen „Voraussehen von Folgen" und „Verantwortung" begründen, obwohl gerade dieser Zusammenhang der Angelpunkt seiner Argumentationsweise ist. Aber auch wenn dies möglich wäre: Eine solche Ethik wäre dem einzelnen nicht mehr zumutbar. Sie führte zum paradoxen Ergebnis, dass Experten und Fachleute mehr Chancen hätten, das Richtige zu bestimmen, also solche, die weniger Überblick über komplexe Folgenzusammenhänge besitzen. Der Idealfall sittlicher Vernunft wäre hier also die Expertenintelligenz295. Wenn dies jedoch der Idealfall ist, so bedeutet das, dass der Normfall sittlichen Urteilens ein defizienter Modus praktischer Vernunft ist. Normale Menschen wären dann gar nicht mehr im Vollsinne sittliche Subjekte; sie müssten sich, um richtig und verantwortlich zu handeln, jeweils am Urteil von Experten ausrichten. Oder aber, sie müssten zum für den Utilitarismus - paradoxen Schluss gelangen, das jeweils „Richtige" könne im norma294 295

N. Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2. Aufl. Freiburg/München 1977, S. 15. Vgl. R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, a. a. O., S. 68. S. auch das Kapitel „Konsequentialismus" in Spaemann, Glück und Wohlwollen, a. a. O., S. 157 ff.

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len Handlungsurteil ohnehin nicht bestimmt werden; deshalb sei es am Vernünftigsten, man folge jeweils dem, was man für richtig halte. R.M. Hare hat diese Konsequenz auch tatsächlich gezogen: Der perfekte Utilitarist, so sagt Hare, müsste ein „Erzengel" sein, ein idealer Betrachter, der alles überschaut. Als Handelnde sind wir aber stets nur „Proleten", die sich an jene Prinzipien halten sollen, die ihnen in ihre Erzieher eingeprägt haben und gegen deren Missachtung sie deshalb eine gefühlsmäßige Abneigung besitzen, der man folgen solle. Für Konfliktfälle und die Selektion derjenigen Prinzipien, die man dann selbst wiederum den eigenen Nachkommen einprägen wird, soll man sich dann in die Position eines Erzengels versetzen, die eigenen Ideale unparteiisch mit denen anderer vergleichen und sich an das halten, was für die Allgemeinheit am Nützlichsten erscheint; der Utilitarismus wird damit zum Erziehungsprogramm für den well educated man. Was aber wirklich jeweils richtig ist, das können wir, so meint Hare, im Moment der Handlungswahl gar nicht wissen 296 . Und das heißt ja dann wohl, gar nicht das jeweils Richtige sei das Vernünftige, sondern die Befolgung jener Regeln, die man uns anerzogen hat. Das ist eine Möglichkeit, um mit dem Utilitarismus leben zu können, die ihn allerdings nicht empfehlenswerter macht. Aber abgesehen von dieser Möglichkeit können wir uns auch fragen, was es für die zwischenmenschlichen Beziehungen bedeutete, wenn alle Menschen wirklich Konsequentialisten wären und jeder das auch wüsste. Am schlimmsten steht es für den Konsequentialisten nämlich, wenn der andere weiß, dass man selbst einer ist. Deshalb gibt es Utilitaristen, die die Frage diskutieren, ob es gerade aus utilitaristischen Gründen überhaupt richtig sei, den Utilitarismus öffentlich zu empfehlen; denn in einer Gesellschaft von lauter Utilitaristen kann er gar nicht mehr funktionieren 297 . Tatsächlich mutet es eigenartig an, jeweils zu wissen, dass jemand, der mir für eine Gefälligkeit dankt, dies deshalb tut, weil er mich dazu ermuntern möchte, ihm auch in Zukunft Gefälligkeiten zu erweisen, oder weil er der Meinung ist, dass er in dieser Weise eine Regel befolgt, die sicherstellt, dass die Menschen im allgemeinen bereit sind, ihren Mitmenschen Gutes zu tun. Oder dass meine Mitmenschen Versprechen gerade deshalb halten, weil sie sich dazu durch eine allgemein anerkannte Praxis verpflichtet fühlen, da sie der Meinung sind, dass die Aufrechterhaltung dieser Praxis bessere Folgen hat als ihre Nichtexistenz. Die Beziehung von Person zu Person bleibt hier auf der Strecke und alles wird in einer intentio obliqua funktionalisiert. Da aber zwischen solchen Regeln ohnehin immer Konflikte bestehen werden, so wissen wir leider nicht, an welche Regel sich unser Mitmensch gerade hält. Und deshalb können wir auch nie wissen, was er eigentlich gerade tut. Wenn er uns für etwas dankt, könnte es auch sein, dass er uns in Wirklichkeit gar nicht ermuntern möchte, auch in Zukunft Gutes zu tun, sondern dass er gerade dabei ist, die Regel zu befolgen, man solle sich jeweils

296

297

Vgl. R. M. Hare, Ethical theory and utilitarianism, in: A. Sen and B. Williams (Hrsg.), Utilitarianism and beyond, Cambridge 1982, 23-38; sowie: R. M. Hare, Moral Thinking. Its Levels, Methods and Point, Oxford 1981, bes. S.44 ff. Vgl. H. Sidgwick, The Methods of Ethics (1874), Reprint der 7. Aufl. von 1907 mit einem Vorwort von John Rawls, Indianapolis/Cambridge 1982, S. 489 f. Mit dem Hinweis auf die auch von Utilitaristen zugestandene Unerwünschtheit einer Gesellschaft von lauter Utilitaristen ist zwar der Utilitarismus nicht unbedingt widerlegt (vgl. J. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, a.a.O., S. 140 ff.), dennoch zeigt das Argument, dass der Utilitarismus keine adäquate Moraltheorie sein kann. Würden wir nämlich alle zu Utilitaristen erzogen im Sinne eines moralischen Ideals, dann könnte dieser nicht funktionieren.

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seinem Mitmenschen gegenüber in der Weise verhalten, dass dieser nicht den Eindruck bekommt, man habe von ihm eine schlechte Meinung. Dank ist aber in Wirklichkeit ein Akt der Anerkennung des Wohlwollens anderer uns gegenüber und eine Antwort darauf; also ein Akt der vergeltenden Gerechtigkeit. Deshalb führt Wohlwollen und Dankbarkeit zur Freundschaft unter den Menschen. Auf utilitaristischer Grundlage könnte es nie soweit kommen. Wollte man nämlich diese Folge von Wohlwollen und Dankbarkeit ins konsequentialistische Kalkül einbeziehen, so wäre sie dahin. „Dank" wäre nicht etwas schlechthin Geschuldetes, also ein Akt der Gerechtigkeit, sondern ein Mittel, um Freundschaft zu erwerben. Sobald ich aber weiß, dass der andere mir dankt, um meine Freundschaft zu erwerben, so kann ich nie sein Freund werden. Denn die Freundschaft ist ja Folge der Anerkennung meines Wohlwollens gegenüber dem anderen. Dank als Mittel um Freundschaft zu erwerben ist aber keine Anerkennung meines Wohlwollens. Er ist gar keine Dankbarkeit mehr, sondern „Gerede", um etwas zu erreichen. Und umgekehrt: Schlecht ist ja Undankbarkeit nicht deshalb, weil sie die Entstehung von Freundschaft verhindert obwohl das tatsächlich die Folge ist - , sondern weil Undankbarkeit ungerecht ist. Damit ist freilich wiederum nicht gemeint, Konsequentialisten behaupteten, wir sollten uns gemäß obigem Muster verhalten. Gemeint ist nur: Falls die konsequentialistische Theorie die Struktur sittlichen Handelns tatsächlich adäquat reflektiert, dann müssten wir uns doch eigentlich so verhalten. Aber wir wissen natürlich alle, dass sich unsere Handlungen nicht in dieser Weise strukturieren. Und deshalb scheint die vorhergehende Überlegung zu zeigen: Der Utilitarismus vermag in keinem Fall den einfachsten sittlichen Gegebenheiten und den Intuitionen des Common Sense gerecht zu werden. Es ist gerade der Begriff der sittlichen Tugend, der diesen Gegebenheiten und Intuitionen adäquat ist. Er bringt zum Ausdruck, was jede Form von Utilitarismus von Anfang an negiert: Dass wir uns in einzelnen konkreten Handlungen, die wir wählen, immer auf das „für uns Gute" und das „für den anderen Gute" intentional beziehen, eine Beziehung, die das „Herz" des Handelnden prägt und ihn zu einem guten oder einem schlechten Menschen macht.

g) Klugheit und Gewissen Es wäre nun freilich töricht zu meinen, Folgen seien für die Beurteilung unserer Handlungen ohne Bedeutung. Hier sei einmal mehr Hegel zitiert: „Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurtheilen, und sie zum Maßstabe dessen, was recht und gut sey, zu machen - ist Beides gleich abstrakter Verstand"298. So gebe es eben auch „Folgen, als die Gestalt, die den Zweck der Handlung zur Seele hat"; diese Folgen „als die eigene immanente Gestaltung der Handlung manifestieren nur deren Natur und sind nichts Anderes als sie selbst"299. Diese von Hegel eher intuitiv festgehaltene Bestimmung scheint durch den Begriff der intentionalen Basis-Handlung gerechtfertigt. Eine Güterabwägung kann demnach nur dort stattfinden, wo der objektive sittliche Gehalt konkreter Handlungsweisen, - d.h. intentionaler Basis-Handlungen - bereits geklärt ist. Dann allerdings werden wir in vielen Fällen solche Güterabwägungen vornehmen. Wenn ich weiß, dass x-tun in sich gut ist, so kann es immer noch sein, dass x-tun die Folge y hat, und (x-tun)298 299

G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 118. Ebd.

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unterlassen die Folge z. Somit wird man y und z gegeneinander abwägen müssen, um zu entscheiden, ob man x tun oder unterlassen soll. Oder: Ich komme zum Schluss, dass die Unterlassung von x-tun auf jeden Fall schlecht ist, dass ich also unbedingt x tun soll. Aber dann kann es immer noch sein, dass x in der Weise „a" getan die Folge y, und x in der Weise „b" getan die Folge z hat. Um nun zwischen x-tun(a) und x-tun(b) zu entscheiden, müssen y und z gegeneinander abgewogen werden. Wenn man auch für die üblen Folgen der Unterlassung einer in sich schlechten Handlung keine Verantwortung trägt, so trägt man u.U. doch Verantwortung für die Lösung der Probleme, die sich aus dem Eintreten dieser üblen Folgen ergeben. Wer es unterlässt einem Freund durch eine Betrügerei aus der Patsche zu helfen, so dass dieser Freund in noch größere Probleme gerät, wird sich dafür verantwortlich fühlen, ihm bei der Lösung dieser Probleme zu helfen. Ich werde zwar sagen können: „An deinen Problemen trage ich keine Schuld", denn ich durfte ihn ja nicht durch unmoralische Mittel aus der Notlage befreien. Nicht aber werde ich sagen: „Ich fühle mich für die Lösung dieser Probleme nicht verantwortlich", denn ich bin ja sein Freund. Ein sittliches Handlungsurteil wird aber, sofern wir keine Konsequentialisten sind, immer davon seinen Ausgangspunkt nehmen, sich zu fragen, ob die Handlungsweise x, y,.. ,,z objektiv eine gute, zumindest nicht in sich schlechte Handlungsweise ist. In dieser Weise formiert sich das Gefüge menschlicher Praxis, - nicht durch die Extrapolation möglicher Handlungsalternativen auf beste Weltzustände bzw. Folgenbilanzen, also gleichsam „von oben nach unten", sondern umgekehrt: wir gehen davon aus, was wir in bestimmten Situationen uns selbst und unseren Mitmenschen schuldig sind und fragen uns im Lichte des für den Menschen Guten (der Prinzipien), wie dieses Gute hier und jetzt konkret auszusehen habe; deshalb werden wir auch gewisse Handlungsmöglichkeiten von vorne herein als mit diesem für den Menschen Guten im Widerspruch stehend ausschließen. So formiert sich „von unten nach oben" ein Handlungsgefüge, und was dabei herauskommt, ist der jeweils beste Zustand, der zu erreichen war. Das Handlungsgefüge formiert sich „von unten nach oben", weil wir eben nicht hinsichtlich extrapolierter zukünftiger Weltzustände entscheiden, d.h. welchen von diesen Zuständen wir nun durch ein bestimmtes Tun verursachen wollen, sondern weil wir jeweils unabhängig von solchen Extrapolationen zunächst einmal tun, was uns hier und jetzt als gut (z.B. gerecht) geboten, und nicht tun, was uns als schlecht (ungerecht) verboten scheint. Die Folgen, die sich des weiteren - voraussichtlich und dann auch tatsächlich - daraus ergeben, formieren den Handlungskontext weiter und so entsteht erst eine sinnvolle, zusammenhängende Lebensgeschichte, bestehend aus intentionalen Handlungen gerichtet auf die Ziele der Tugenden und den Folgen dieser Handlungen, zu denen man sich in weiteren Vollzügen intentionaler Handlungen verantwortlich verhält. Niemals wird man dann jedoch sagen können: „Dafür trage ich keine Verantwortung, denn ich habe es nicht vorausgesehen". Erst in solchen Zusammenhängen kommen dann überhaupt weitere Tugenden ins Blickfeld, Tugenden wie Standhaftigkeit, Treue, der sittliche Wert des „Leidens um der Gerechtigkeit willen", der Wert des Verzichtens, usw. Es handelt sich hier darum, was wir im Gegensatz zum „Wirkwert" einer Handlung ihren „Vollzugswert" nennen können: Die Pointe von Treue, Dankbarkeit, Standhaftigkeit oder Verzichten besteht ja nicht darin, etwas zu bewirken, auch wenn damit tatsächlich oft etwas bewirkt wird; aber dies ist nicht der Grund, weswegen man entsprechende Handlungen wählt. Was hier entscheidend ist, ist das Wollen, das sich in solchen Handlungsweisen inkarniert. Und dieses Wollen entscheidet darüber, was für eine Art von Menschen wir letztlich sind.

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Freilich gibt es Handlungszusammenhänge, bei denen es gerade darum geht, bestimmte Weltzustände anzustreben. Nämlich jene, die sich von Anfang an nicht nur auf bestimmte Personen, sondern z.B. auf die Gesamtgesellschaft beziehen. Also etwa Entscheidungen im Bereich der Sozialpolitik, der Gesetzgebung, unternehmerische, militärische, forschungspolitische Entscheidungen usw. Aber auch hier gilt dann: Je nachdem, welche Mittel zur Erreichung solcher Ziele sich anbieten, müssten wir u.U. darauf verzichten, das entsprechende Ziel erreichen zu wollen. Auch wenn wir aller Voraussicht nach wissen können, dass das Ziel erreichbar wäre, so rechtfertigt das eben noch nicht das Mittel, durch das es erreichbar wird. Man erinnere sich an das genannte Beispiel der Ausrottung der Krebskrankheit durch die Opferung von Menschen zu Experimentierzwecken. Im Bereich der Gentechnologie sind solche Fragen ja unterdessen aktuell geworden. Auch hier meldet sich dann wiederum das Prinzip Gerechtigkeit gegenüber der Einzelperson unmissverständlich an. Deshalb formiert sich auch in diesen Fällen der Intendierung bestimmter Weltzustände das Handlungsgefüge letztlich „von unten nach oben". Der Habitus der Tugend der Klugheit besteht schließlich in der affektiven Konnaturalität mit dem Guten, also mit einer affektiven Geneigtheit auch im Konkreten das Gute zu tun und das Schlechte zu meiden. Dabei geht es nun nicht mehr um bloß anerzogene gefühlsmäßige Präferenzen, sondern um durch Vernunft strukturierte Affektivität und habituelles Wohlwollen des Willens. Der Habitus der Klugheit bildet sich im Laufe einer zusammenhängenden Lebensgeschichte unter der Leitung des Gewissens aus. Aber vergessen wir nicht: Das Gewissen meldet sich nicht nur, um zu verbieten. Seine eigentliche und wichtigste Aufgabe besteht darin, uns zu ermuntern, ja zu gebieten, uns daran zu erinnern, das Gute zu tun. Der Weg zur Klugheit besteht darin, wirklich seinem Gewissen gemäß zu handeln, und nicht nur dem zu folgen, was einem hier und jetzt aus affektiven Gründen gut scheint. Hier sei noch ein letzter kantkritischer Exkurs erlaubt: Gerade hier zeigt sich das Ungenügen des Kantischen kategorischen Imperativs und seiner Universalisierungslogik. Diese Imperative sind ja durchaus einleuchtend. Aber wie Kant selbst sagt: Sie können uns nur angeben, was jeweils „erlaubt" und was „unerlaubt" ist 300 . Das Wichtigste vermag der kategorische Imperativ gerade nicht zu leisten: Die Bestimmung dessen, was hier und jetzt zu tun ist, d.h. die Formierung des konkreten Wahlurteils „p ist gut", „p ist zu tun". Der kategorische Imperativ ist ja nur eine Prüfungsinstanz dafür, ob eine subjektive Maxime nicht im Widerspruch zu ihrer Vorstellung als allgemeines Gesetz steht. Wollte man mit dieser Universalisierung bestimmen, was nun effektiv hier und jetzt zu tun ist, so würde eine bloße Tautologie herauskommen: Denn, was hier und jetzt zu tun ist, ist natürlich für jedermann hier und jetzt zu tun, vorausgesetzt er befindet sich in einer identischen Situation. Aber eine konkrete Handlung, die in einer konkreten Situation steht, als allgemeines Gesetz zu denken, ist ja ohnehin sinnlos301. Nun ist dies ja auch bei Kant nicht gemeint. Wie wir bereits früher sahen, hat Kants kategorischer Imperativ gar nicht die Funktion zu bestimmen, was wir hier und jetzt tun sollen. Seine Aufgabe besteht vielmehr darin, das, was wir bereits aufgrund einer subjektiven Maxime wollen, hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit der Autonomie des Willens zu prüfen. Der kategorische Imperativ ist also Selbstkontrolle bezüglich möglicher eigennütziger Motive unseres 300 301

I. Kant, GMS, A 86 (IV, S. 74). Vgl. dazu auch M. Rhonheimer, Menschliches Handeln und seine Moralität, a. a. O. S. 103 f. (Anm. 11).

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Handelns. Ist die Prüfung bestanden (die Handlung ist „erlaubt") oder ist sie nicht bestanden (die Handlung ist „unerlaubt"), dann können wir unserer Maxime folgen bzw. wir müssen ihre Befolgung unterlassen. Ob sie selbst moralisch ist, hängt also nur davon ab, ob es - gemäß dem Kriterium der Autonomie des Willens hinsichtlich eigennütziger Motive - „erlaubt" ist, ihr zu folgen. Der kategorische Imperativ kann deshalb nie das Gut- oder Richtigsein einer konkreten Handlung bestimmen, sondern nur die grundsätzliche Erlaubtheit d.h. Moralität einer Maxime. Eine Handlung, die einer solchen durch den kategorischen Imperativ geprüften Maxime folgt, ist moralisch, aber eben nicht unbedingt richtig. Sie könnte sogar dumm sein. Denn dass sie universalisierbar ist, genügt nicht, um auszumachen, was hier und jetzt zu tun ist. Was hier und jetzt zu tun ist, das lässt sich gerade nicht als allgemeines Gesetz denken, es sei denn in einer Weise, die über die Vorstellung der konkreten Handlung hinaus nichts weiteres hinzufügt, d.h. in tautologischer Weise. Deshalb ist eben auch die Kantische Ethik - und damit stimmt sie mit dem Utilitarismus überein - eine Ethik, in der die Bedingungen für Moralität (guter Wille, gute Gesinnung) sich unabhängig davon formieren, was wir jeweils konkret tun. Nach diesem Exkurs zurück zum eigentlichen Thema: Durch das Urteil über den objektiven Sinn unserer Handlungen wird das Gewissen geformt. Das Gewissen wird dadurch gleichsam zur „letzten" und unmittelbaren Norm unseres Handelns. Wir können sagen, es sei die höchste Norm, - aber nicht weil das Gewissen Ursprung und Quelle der Unterscheidung von „gut" und „schlecht" ist, sondern weil es jene letzte normative Orientierung bietet, die schlechthin unhintergehbar ist. Wenn uns das Gewissen sagt, „x ist zu tun", so ist schlechterdings keine andere Instanz denkbar, die dieses Urteil noch einmal hinterfragen könnte, - nicht einmal ein sich mit normativen Weisungen offenbarender Gott. Denn wenn wir dem sich offenbarenden Gott Glauben schenken und tun, was er uns sagt, so tun wir das aufgrund eines Urteils des Gewissens: „Man soll Gott gehorchen". Auch wenn es uns schiene, etwas anderes, als was uns Gott sage, sei besser, so würden wir, falls wir jetzt unserer eigenen Meinung folgten, nicht unserem Gewissen folgen, sondern nur dem „was uns gut scheint". Das Urteil des Gewissens ist unhintergehbar. Deshalb muss auch die Klugheit dem Gewissen immer Gehör schenken. Wer einen positiven Zweifel über das Gutsein einer Handlungsweise besitzt handelt gegen sein Gewissen, wenn er die Handlung vollzieht, bevor der Zweifel behoben ist. Wer unsicher ist, ob das Urteil seines Gewissens der Wahrheit entspricht, muss annehmen, dass sich sein Gewissen möglicherweise in einem Irrtum befindet. Wenn er jedoch in dieser Situation aufgrund der Unsicherheit einfach unterlässt, was das möglicherweise irrende Gewissen zu tun gebietet (oder wenn er tut, was es zu tun verbietet), so handelt er gegen sein Gewissen. Aber er darf auch nicht tun (unterlassen), was es zu tun oder zu unterlassen urteilt, da es möglicherweise irrig ist und dieser Irrtum selbstverschuldet wäre. Folglich ist es nötig, vor dem Handeln sich zu bemühen, zur Sicherheit zu gelangen302. Das Problem ist hier freilich, dass das Gewissen sich im Irrtum befinden kann, ohne dass man es zu merken imstande ist. Diese Möglichkeit begründet die Pflicht zur Gewissensbildung. Es ist klar, dass die beste Gewissensbildung im Erwerb der sittlichen Tugenden besteht. Der Weg dazu ist die Bereitschaft, Fehler vor sich selbst einzugestehen, Rat zu holen, wo man ihn vernünftigerweise bekommen kann, und sich in jeder Sache angemessen zu informieren. Eine Moral der Tugenden gründet auf der Tatsache, dass der Feind unserer Orientierung auf das „für den Menschen Gute" hin die Ungeordnetheit der Affekte und des 302

Zum irrigen Gewissen vgl. oben V,2,b.

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Willens ist. Dieses „für den Menschen Gute" ist aber das einzige, was wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können, was das Leben als ein Ganzes sinnvoll und in diesem Sinne glücklich macht. Eine Tugendethik verlangt demnach vom einzelnen, dass er, damit sein Leben gelingt und er zum Gelingen des Lebens seiner Mitmenschen beitragen kann, bei sich selbst den Anfang mache. Was daraus folgt ist - soweit unsere Verantwortung eben reicht - ohne Zweifel auch der bestmögliche Zustand der Welt.

Epilog: Von der philosophischen zur christlichen Perspektive der Moral

„Der bestmögliche Zustand der Welt": Mit diesem Ausblick endete unsere Analyse der „Perspektive der Moral". Und wie gleich hinzugefügt werden muss: Zu diesem bestmöglichen Zustand der Welt, so erwarten wir es jedenfalls, gehört selbstverständlich unser eigenes Glück, das Gelingen jeweils unseres Lebens, die wir einen solchen Zustand im Auge haben. Allerdings, ist denn dieses „Gelingen des Lebens", dieses Glück wirklich so sehr ein Gelingen, ist es wirklich das Glück, das wir alle erstreben? Ist nicht, wie man so sagt, das Glück dieses Lebens immer zwiespältig, brüchig, zweifelhaft, unvollkommen,... und kurz? Wir hatten in der Tat früher gesagt: Was philosophische Ethik über die Möglichkeiten menschlichen Lebens und seines Gelingens - über das Glück also - zu sagen vermag, ist ein Torso: Menschliches Glücksverlangen treibt den Menschen über seine naturgegebenen Möglichkeiten hinaus. Selbstbescheidung und weise Resignation scheinen hier das letzte Wort zu sein; schlimm wird es lediglich, wenn man sich falsche Hoffnungen macht. Die Aristotelische Ethik ist sich, so wurde ebenfalls betont, dieses bruchstückhaften Charakters menschlicher Existenz durchaus bewusst. Ja mehr noch: Der Mensch erscheint als durchaus unabgeschlossenes wenn nicht gar widersprüchliches Wesen, und noch fragwürdiger ist ja, was uns Aristoteles über das Glück sagt: Das eigentliche, wirkliche Glück sei nur wenigen, und auch ihnen nur dank Gunsterweisen des Schicksals, möglich. Es braucht tyche. Das heißt: Glück muss man haben, um zu den wenigen Glücklichen zu zählen, denen es vergönnt ist, sich in Muße der Betrachtung der Wahrheit zu widmen. Die große Zahl jedoch, sie wird sich mit einem zweitrangigen Glück, das so eigentlich gar keines ist, begnügen müssen. Derjenige, der nur des zweitrangigen Glücks des praktischen Lebens teilhaftig wird, ist in Tat und Wahrheit ein Pechvogel. Ganz zu schweigen von der noch größeren Masse der NichtBürger, der Sklaven, deren Los nicht einmal der Rede wert ist. Wirklich Glückliche, die sich der Betrachtung der Wahrheit ergeben, kann es also hier nur geben, weil es eben auch solche gibt, die für sie arbeiten. Damit bleiben wir jedoch noch an der Oberfläche. Denn ein tieferes Problem eröffnet sich: Gemäß rein „philosophischer" Perspektive verhält es sich doch so, dass der Glücklichste derjenige ist, dem nicht das Unglück widerfährt, kein Glück zu haben. Das Glück, das so sehr abhängig schien vom verantwortungsbewussten Gebrauch unserer Freiheit, unserer Selbstbestimmung und unserem sittlichen Handeln, wird auf einmal wieder zu einer Sache des Schicksals, der Fremdbestimmung. Sind wir wirklich die Schmiede unseres Glücks? Je „moralischer" wir leben, desto mehr riskieren wir ja, dass unser Leben gar nicht gelingen

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EPILOG

wird. Das letzte Wort bleibt immer und immer wieder: Wirklich glücklich kann nur sein, wer Glück hat. Dies führt nicht zur Frage „Why to be moral?", „Warum moralisch sein?", die immer wieder von Ethikern gestellt wird. Moralität rechtfertigt sich durch sich selbst, und zwar genau deshalb, weil sich das Gute aus sich selbst rechtfertigt. Und moralisch sein, das heißt ja das Gute erstreben und es tun, und gut sein. Hier brauchen wir nicht mehr zu fragen: Wozu? Die Frage ist also eine andere. Nämlich: Weshalb dürfen, ceteris paribus, jene, die Glück haben, glücklicher sein, als diejenigen, die keines haben? In der Perspektive dieser Frage findet sich in der Tat ein innerer Widerspruch in der „Perspektive der Moral". Denn es ist ja schlechterdings nicht einsehbar, wie Schicksalsschläge, Pech, und genauer: Krankheit, Unbill aller Art, mangelndes Talent und sonstige weniger vorteilhafte Veranlagung, Umwelteinflüsse, das Erleiden von Ungerechtigkeit und Schmach durch andere Menschen usw. irgend etwas zum Glück und zum Gelingen des Lebens beitragen könnten. Gewiss, man kann gleichsam trotz solcher Faktoren glücklich sein und gerade hierbei moralische Größe zeigen (dies wäre allerdings eher etwas für den Stoiker; Aristoteles würde hier abwinken). Aber dennoch bleibt, zumindest wiederum aristotelisch gedacht, die Tatsache bestehen: um wirklich glücklich zu sein, muss man Glück haben, und das ist nur wenigen vergönnt - und wie oft trifft es zu, dass jene die Glück haben, gar nicht wirklich glücklich sind, und zwar deshalb, weil sie nicht das Gute tun. Denn um glücklich zu sein, genügt es ja nun auch wieder nicht, einfach Glück zu haben. So bleibt also das Paradox: Je vollkommener das Glück ist, desto dünner ist es gesät; und dies, was noch einsehbar wäre, nicht einmal aus eigener Schuld. Was man realistischerweise erreichen kann, ist gar nicht Glück und Gelingen des Lebens, sondern lediglich ein schwacher Abglanz davon, der stets von Vergeblichkeit, Zufall, Unabänderlichkeit und - vor allem - von Vergänglichkeit gezeichnet ist. Wer gegen solche Kontingenz menschlichen Daseins rebelliert - und Aristoteles tut es nicht, was nicht zuletzt seine Größe ausmacht - , der wird sich entweder zum Verheißungsideologen versteigen, oder aber vor dem Menschen resignieren, und alles auf Libido, Geworfensein, Sein-zum-Tode, „das sogenannte Böse", genetische Programme und Selektionsvorteile oder auf Lustmaximierung und ähnliches reduzieren. Wir sagten bereits früher: Gegen falsche Verheißungen und Resignation gibt es das Korrektiv des Glaubens. Jede Religion hat diese Funktion des Korrektivs und ist in diesem Sinne Praxis der Kontingenzbewältigung. Diese funktionale Bestimmung freilich greift zu kurz, und sie wird unwahr, sobald die Wahrheitsfrage gestellt wird. Die Wahrheitsfrage ist hier allerdings nicht eine rein theoretische, sondern eine praktisch eminent bedeutsame Frage. Wahr kann nur jener Glaube sein, der auch tatsächlich praktische Vernunft zur Vollendung bringt, nicht aber jener Glaube, der vielleicht nützlich oder „funktional" ist. Sonst wäre Religion ein Placebo. Das könnte zwar nützlich sein, aber wenn es stimmt, dass nur wahrer Glaube die Vernunft zur Vollendung zu bringen vermag - und das scheint offensichtlich: denn Vernunft selbst ist ja auf Wahrheit gerichtet - so kann auch nur wahrer Glaube zum wahren Glück verhelfen. Wer also die Frage nach der Wahrheit des religiösen Glaubens für unerheblich erklärt und sich mit einem Placebo begnügt, der erklärt zumindest auch die Wahrheitsfunktion menschlicher Vernunft für obsolet. Wie steht es denn nun dabei mit dem christlichen Glauben, und näherhin: mit der christlichen Moral? Einige unvollständige Pinselstriche sollen hier, in diesem Epilog, genügen, um darauf hinzuweisen, weshalb christliche Moral keineswegs eine Bedrohung oder gar Aufhebung, sondern vielmehr die Vollendung, ja: die Rettung derjenigen Moral ist, die wir

V O N DER PHILOSOPHISCHEN ZUR CHRISTLICHEN PERSPEKTIVE DER M O R A L

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aufgrund rein philosophischer Vernunft aufgezeigt haben. In der christlichen Perspektive wird ja nicht nur Tod zu Auferstehung, sondern Scheitern zu Sieg, und Leiden wird Quelle von Sinn und Freude. Der Angelpunkt christlicher Moral ist das Kreuz, aber eben nicht das römische Schandmal, sondern jenes Kreuz, das der menschgewordene Gott, Jesus Christus, für uns Menschen getragen hat und, da die Taten Gottes nicht an die Zeit gebunden sind, immer noch für uns trägt. Dieses Kreuz ist jedoch nur der Brennpunkt anderer Inhalte des Glaubens: Der Offenbarung, dass die Situation des Menschen und dieser Welt Folge eines Urfalles durch die Sünde, der Rebellion gegen Gott ist. Und dass Gott, der Dreifaltige, seinen Sohn gesandt hat, der Mensch geworden ist, um uns wiederum mit Gott zu versöhnen. Dass er unsere Sünden und Schwächen, sowie die Mühsal des menschlichen Lebens, auf sich lud, um für uns zu leiden und zu sterben, und aufzuerstehen, damit auch wir auferstehen. Dass er uns seinen Geist gesandt hat, in dem wir Gott vertrauensvoll „Vater" nennen können. Die Gebote der Moral, wie sie im Dekalog bereits im Alten Bund durch Offenbarung bekräftigt wurden, erfahren in Christus ihre Bestätigung und Vollendung in der Perspektive von Kreuz und Auferstehung: „Selig die Trauernden ...", „selig die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit", „selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden"; „selig wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein": Dies ist eine ganz neue Perspektive, „für den Heiden eine Torheit". Dennoch ist dies die Perspektive der Moral, die Perspektive des Glücks. Hier geht es im eigentlichen Sinne um das Gelingen des Lebens. Und wir sehen: Nicht mehr nur wer Glück hat, einige wenige, können dieses Glücks teilhaft werden. Erst in der christlichen Perspektive werden wir, paradoxerweise, tatsächlich zu Schmieden unseres eigenen Glücks, erst jetzt hängt wirklich alles nur noch von uns ab, sofern wir bereit sind, das, was nun einmal gar nicht von uns abhängen kann, dem Wirken Gottes zu überlassen: Die glücklich sein wollen, „die Menschen guten Willens", können es nun sein, unabhängig davon, ob sie nun Glück haben oder nicht. Denn das Glück, dass Gott uns liebt, das haben wir alle. Es hängt nicht von der tyche ab, sondern von der Providentia Gottes, die - vorbehaltlos und geschenkhaft - Liebe für alle ist und durch Gnade nun auch das eigene Können ermöglicht. Und so gilt: „Diligentibus Deum omnia cooperantur in bonum", „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt" (Rom 8, 28). Christliche Glückserwartung beruht auf der Initiative der Barmherzigkeit Gottes: „Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat" (1 Joh 4, 10). Das hieße dann also: Vertröstung auf das Jenseits. Das aber wäre weit gefehlt. Das Glück, das der christliche Glaube verheißt, ist keineswegs einfach Vertröstung auf das Jenseits. Das wäre eine Karikatur, und das Gegenteil trifft zu, auch wenn christliche Hoffnung erst im Leben nach dem Tod ihre letzte Erfüllung findet. Der christliche Glaube eröffnet vielmehr die einzige wirklich realistische Glücksperspektive für das diesseitige Leben. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um die beatitudo perfecta in ihrer Vollendung, aber auch nicht um das zweitrangige, strukturell unvollkommene „Glück dieses Lebens", sondern um die inchoatio, den Beginn der beatitudo perfecta, die im ewigen Leben ihre Vollendung erreicht, ja genauer noch: um den Beginn dieses ewigen Lebens selbst. Das unvollkommene Glück des diesseitigen Lebens ist also in christlicher Perspektive keineswegs einfach das sich in die duplex felicitas aufspaltende „unvollkommene Glück", von dem früher die Rede war, sondern das vollkommene Glück selbst im Stadium jedoch des noch unvollkommenen Anfangs. Es ist gezeichnet durch die sogenannten „theologischen Tugenden" Glaube, Hoffnung und Liebe:

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EPILOG

Der Glaube „weiß" bereits, was die Vernunft übersteigt, in der Hoffnung ist es schon beglückende Gegenwart, und die Liebe zieht uns „hinauf zur Vollkommenheit. Damit wird der Hiatus zwischen Kontemplation und praktischem Leben überwunden: Gerade im praktischen Leben ist hier stets der liebende Durchblick auf Gott gegenwärtig. Beschaulichkeit heißt hier nicht, von Tätigkeit ablassen, sondern im Bewusstsein der Tatsache leben und handeln, dass wir von Gottes liebender Hand geführt werden und auf diese Tatsache mit jener Liebe antworten, mit der Christus das Kreuz als Mittel der Erlösung geliebt hat. Dies ist keine Kontemplation für die wenigen „Glücklichen", sondern für einen jeden, sofern er sich der Liebe Gottes öffnet. Dass hierin eine wahre Glücksverheißung gerade für das diesseitige Leben liegt, und nicht einfach eine Vertröstung aufs Jenseits, ist gerade der Kern der Frohen Botschaft, des Evangeliums: „Jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen" (Mt 19, 29), und zwar das Hundertfache in diesem Leben (vgl. Mk 10, 30 und Lk 18,30). „Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere [und zwar im gegenwärtigen Leben] dazugegeben" (vgl. Mt 6,31-33). Und schließlich: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, ...so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele [und zwar in diesem Leben]. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht" (Mt 11, 28-30). Allerdings: Um die kenosis des Kreuzes kommt man dabei nicht herum. Die eben zitierten Worte sind keine billigen Versprechungen von Lustmaximierung. Christliche Moral ist nicht ein schließlich doch noch vorteilhafterer Nutzenkalkül. Das „Hundertfache" und das „Dazugegebene" ist ja gerade oft nicht das, was wir nach menschlichen Maßstäben uns erträumen. Das „Kreuz" bleibt, keine menschliche Anstrengung kann es gänzlich aus der Welt schaffen. Die entscheidende Frage ist hier nur: Bleibt es unser eigenes Kreuz, oder wird es zum Kreuz, das Christus mit-trägt, wodurch es letztlich zu einer „leichten Bürde" wird? Der Christliche Glaube verkündet nicht einfach das „Kreuz", er ist nicht Sadismus, er will uns nichts aufbürden, sondern vielmehr etwas abnehmen. Der christliche Glaube verkündet nicht einfach das Kreuz oder die Notwendigkeit, im „Jammertal dieses Lebens" eben nun einmal weinen zu müssen, sondern er verkündet die erlösende Kraft des Kreuzes, das Kreuz als Wurzel und Quelle von Sinn, Freude und Glück gerade in diesem „Tal der Tränen". Christlicher Glaube ist nicht einfach Diagnose, sondern Therapie. Jesus von Nazareth war ja nicht der erste, der unter den Römern ans Kreuz geschlagen wurde, und niemanden von seinen Vorgängern würden wir glücklich preisen oder sein Leben als gelungen betrachten. Jesus Christus hat das Kreuz nicht erfunden (das taten die Römer), sondern es in ein Mittel der Auferstehung, in einen Weg zu Sieg und Leben verwandelt. Und das Leben Jesu Christi ist wie kein anderes ein gelungenes Leben. Das, und die damit verlangte Christusnachfolge, ist der Kern christlicher Moral, die, wie die klassische der Philosophen, eine eudämonistische Moral, eine Lehre vom glücklichen Leben ist. Sie zerstört und relativiert nicht die Vernunft, sondern vollendet und „rettet" sie. Eigentlich nur in christlicher Perspektive wird es damit möglich, an der Wahrheit menschlicher Vernunft festzuhalten und auch philosophisch fest im Sattel zu sitzen, resistent gegenüber Resignation und gegenüber den Irrlichtern von Verheißungsideologien.

V O N DER PHILOSOPHISCHEN ZUR CHRISTLICHEN PERSPEKTIVE DER M O R A L

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Jedenfalls ist auch christliche Ethik, gerade weil sie eudämonistisch ist, Tugendethik. Und damit können wir die Schlussworte des letzten Kapitels - sie erhalten nun allerdings einen neuen Klang - hier wiederholen: Eine Tugendethik verlangt demnach vom einzelnen, dass er, damit sein Leben gelingt und er zum Gelingen des Lebens seiner Mitmenschen beitragen kann, bei sich selbst den Anfang mache. Was daraus folgt ist - soweit unsere Verantwortung eben reicht - ohne Zweifel der bestmögliche Zustand der Welt.

Verzeichnis der zitierten und weiterführender Literatur

I. Abgekürzt zitierte Werke a) Piaton Piaton: Sämtliche Dialoge. Sieben Bände, übersetzt und hrsg. von Otto Apelt, Neudruck Hamburg 1988 (zit. jeweils nach dem Namen des betreffenden Dialogs, z.B: Protagoras, Gorgias, etc.) b) Aristoteles EN: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben Günther Bien, Hamburg 1972 EE: Eudemische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, Berlin 1962 Politik: Politik. Übersetzt v. E. Rolfes, Hamburg 1958 Metaphysik: Aristoteles' Metaphysik. Griech. und deutsch. In der Übersetzung von H. Bonitz, hrsg. H. Seidl, 2 Bände Hamburg 1980 Physik: Aristoteles' Physik. Griech. und deutsch. Übers, und hrsg. von H.G. Zekl, Hamburg 1987 1988 De Anima: Über die Seele. Übersetzt von Willy Theiler, Berlin (1959), 5. Aufl. 1979 De Motu Animalium: Aristotle's De Motu Animalium. Text with Translation, Commentary Interpretative Essays by Martha C. Nussbaum, Princeton 1978

von

von und

and

c) Thomas von Aquin In Ethic. (Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles): In Decem libros Ethicorum Aristotelis ad Nichomachum expositio. ed. R. M. Spiazzi, 3. Aufl. Turin 1964 (Zit. z.B.: In I Ethic., lect.l, n.l: Kommentar zum ersten Buch, lectio 1, Nummer 1). Texte dieser Ausgabe sind jeweils zu konfrontieren mit der späteren, kritischen Ausgabe von R. A. Gauthier (im Rahmen der Neuausgabe der „Editio Leonina"), Sancti Thomas de Aquino, Sententia libri ethicorum, Opera Omnia XLVII, Rom 1969 In de Anima (Kommentar zu De Anima von Aristoteles): In Aristotelis librum de Anima commentarium, ed. A. M. Pirotta, 5. Aufl. Turin 1959 In Sent. (Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus): In quattuor libros sententiarum Petri Lombardi. Ausgabe des „Index Thomisticus": S. Thomae Aquinatis Opera omnia, Bd. 1, Ed. R. Busa, Stuttgart 1980. (Zit. z.B.: In II Sent., d.35, q.l, a.l: Buch II, distinctio 35, Quaestio 1, a.l.) In De Div. Nom. (Kommentar „De Divinis Nominibus" von Pseudo-Dionysios Areopagita): In Librum Beati Dionysii De Divinis Nominibus Expositio , ed. C. Pera, Turin 1950

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LITERATURVERZEICHNIS

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Kritik der reinen Vernunft (Studienausgabe Bd. II) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Bd. IV) Kritik der praktischen Vernunft (Bd. IV) Kritik der Urteilskraft (Bd. V) Metaphysik der Sitten (Bd. IV)

(Weitere zitierte Werke von philosophischen Klassikern sind im nachstehenden Verzeichnis aufgeführt.)

II. Literaturverzeichnis Abbà, Giuseppe: Lex et virtus. Studi sull'evoluzione della dottrina morale di san Tommaso d'Aquino, Rom 1983 - Felicità, vita buona e virtù. Saggio di filosofia morale, Rom 1989 Ackrill, J. L.: Aristotle on Eudaimonia, in: A. O. Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle's Ethics, BerkeleyLos Angeles-London 1980,15-34 Albeit, Hans: Traktat über kritische Vernunft, 5. verbesserte und erweiterte Auflage, Tübingen 1991 Allan, David J.: The Philosophy of Aristotle, Oxford 1952 (Neuauflage 1970) - Aristotle's Account of the Origin of Moral Principles (1953), in: J. Barnes, M. Schofield, R. Sorabji (Hrsg.), Articles on Aristotle, Vol. 2: Ethics and Politics, New York 1977,72-78 Annas, Julia: The Morality of Happiness, Oxford 1993

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LITERATURVERZEICHNIS

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Personenregister

Abbä, Giuseppe 50,66, 87,176,182,231, 286 Ackrill, J. L. 69 Albert, Hans 39 Allan, David J. 202 Ambrosius v. Mailand 192 Annas, Julia 11, 14, 1 8 , 2 4 , 2 6 , 3 5 , 3 7 , 4 3 , 6 4 , 65,72,203,216,220 Anscombe, G. E. M. 22, 38, 56 f., 87, 97, 103, 111 ff., 144,312,342, 354 Anzenbacher, Arno 230,243 Apel, Karl-Otto 19 f., 28,189,234 Aristoteles 12, 30, 39, 41, 49, 51, 52, 58, 62 ff., 66 f., 68 ff., 74,76,78,79 f., 84 f., 93,100,102, 111 ff., 134,146 ff., 154,163,170,173,177 ff., 186 ff., 190 ff., 201 ff., 211,216, 222 f., 224, 227 f., 235, 257, 260 f., 266, 267 f., 282, 284, 290 f., 324, 364 f. Arkes, Hadley 292 Armstrong, R. A. 250 Ashley, Benedict M. 87 Aubenque, Pierre 104 f. Audi, Robert 283

Bòckenfòrde, Ernst-Wolfgang 210 Bockle, Franz 290 Boethius, A. M. Severinus 77 Bonelli, Johannes 42,115,165,338 Bormann, Franz-Josef 243,264, 273,287 Boyle, Joseph 247,312 Bradley, Denis J. M 12,29,79, 83, 85 Bradley, Francis Herbert 347 Braine, David 166 Brandt, Richard, 294 Broad, C. D. 342, 344, 347 Brock, Stephen 98, 162 Bubner, Riidiger 98

Augustinus, Aurelius 74,95,159,177, 214,215 Austin, John L. 56, 300

D'Avenia, Marco 173 Damon, William 255 Danto, Arthur C. 98 Davidson, Donald 55 Davis, Nancy 343 Demokrit 353 f. Dent.N.J.H. 23,170 Descartes, René 13 Dewey, John 164 Di Blasi, Fulvio 287 Di Noia, J. A. 99, 326 Diogenes Laertius 119,192 Donagan, Alan 122

Baier, Kurt 15,23,170,230 Barad, Judith A. 58 Barnes, Jonathan 103,202 Baumgartner, Hans-Michael 58 Beckermann, Ansgar 58,97,98 Belmans, Theo G. 279 Bentham, Jeremy 294 Bien, Günther 66,189 Birnbacher, Dieter 349 Bobbio, Norberto 210

Caldera, Rafael T. 173 Cessano, Romanus 99, 326 Cicero 192,292 Constant, Benjamin 315 Coreth, Emerich 239 Crisp, Roger 22, 25, 37, 224, 281, 304 Crowe, Michael B. 270

384 Eichmann, Adolf 278 Elm, Ralf 261 Elsässer, Antonellus 326 Engberg-Pedersen, Troels 93 Emst, Stephan 332 Euchner, Walter 224 Feuerbach, Ludwig 287 Fichte, Johann Gottlieb 95, 213,287, 315 Finnis, John M. 62,71,87,110 f., 115,245,247, 308, 309,312,342, 350 Foot, Philippa 19,124,184,218, 352 f. Forschner, Maximilian 66,119,297 Fraling, Bernhard 243 Frankena, William K. 122 Frankfurt, Harry 54 Frankl, Viktor 71 French, P. A. 22,23 Freud, Siegmund 81 Friedrich, Carl J. 209 Fuchs, Josef 121,306 Furger, Franz 126, 295, 326 Gadamer, Hans-Georg 176,187 Gallagher, David M. 107 Ganter, Martin 100 Gauthier, René Antoine 12, 38, 260 Geach, Peter 87,124,202, 219 f. Gean, W. D. 58 Gert, Bernard 24, 347 Gewirth, Alan 208, 326 Gilby, Thomas 206 Gilson, Etienne 149 Glover, Jonathan 343 González, Ana Marta 266, 301 Gormally, Luke 87 Grewendorf, Günther 22, 342 Grisez, Germain 237,247,312 Grotius, Hugo 178,217,224 Habermas, Jürgen 17, 18, 19 ff., 29, 221, 235, 253, 277, 293, 305 Hall, Pamela M. 217, 254,258 Hare, R. M. 357 Harris, John 343, 350 Hattenhauer, Hans 311 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 211, 223, 237, 247 f., 277,315,328, 358 Heidegger, Martin 30 Heller, Agnes 308,311

PERSONENREGISTER

Hertz, Anselm 34, 239 Hittinger, Russell 247 Hobbes, Thomas 73, 211,216, 224, 249, 294 f. Hoerster, Norbert 291, 356 Höffe, Otfried 18, 25, 49, 72, 159, 178, 199, 241 f., 248,249,250,253,267 f., 285,294,297, 312 Holderegger, Adrian 121 Holmes, Stephen 211 Honderich, Ted 352 Honnefelder, Ludger 239, 240, 243, 244, 258, 261,264,273, 338, 355 Honneth, Axel 225 Hösle, Vittorio 27 Höver, Gerhard 204 Hume, David 13,115,149 Hursthouse, Rosalind 221 Jaeger, Wemer 69 Jaffa, Harry 38,289 Jolif, Jean Yves 12,260 Jonas, Hans 323 Jüssen, Gabriel 191 Kant, Immanuel 12,14,17, 21,41,44,45 ff., 49, 50, 60 f., 64, 91,95, 111, 119, 121, 129, 145, 149,159,165, 175, 184 ff., 199,211, 213, 223, 230, 244, 276 f., 278, 280 ff., 286 ff., 315, 317 f., 328, 360 f. Keenan, James F. 126, 355 Kenny, Anthony 58, 87,103,136,237 Keown, John 350 Kerber, Walter 239 Kettner, Matthias 20, 234 Kleber, Hermann 66 Kleist, Heinrich von 309, 310 Kluxen, Wolfgang 11,43, 58, 66, 67, 73, 85, 86, 88, 96,118, 131,166,257,265, 292 Knauer, Peter 351 Konrad, Michael 92 Korff, Wilhelm 34, 43, 239, 242 f., 295 Koselleck, Reinhart 224 Krämer, Hans 15, 50, 51, 52, 67, 176 Kriele, Martin 210 Kuhlmann, Wolfgang 17 Lagarde, Georges de 209 Lenk, Hans 50, 58 Levinas, Emmanuel 328 Lisska, Anthony J. 12

385

PERSONENREGISTER

Locke, John Lottin, Odon

13 270

Louden, Robert B. Low, Reinhard

3 7 , 3 0 4 f., 323

163

Lübbe, Hermann 2 9 0 , 3 2 3 Lübbe, Weyma 349 Machiavelli, Niccolö 329 f. Maclntyre, Alasdair 13, 33, 58, 112, 159, 163, 1 6 6 , 1 7 9 , 1 9 0 ff., 208, 211, 217 ff., 253 f., 289, 328 Mackie, J. L. 45 Malo, Antonio 152 Mandeville, Bemard 224 Maritain, Jacques 86 Martin, Christopher 12 Marx, Karl 287 Matheis, Alfons 234 May, William E. 231 McCloskey, H. J. 302 McCormick, Richard A. 143, 306, 309 McDowell, John 4 5 , 1 6 6 Mclnerny, Ralph 12,110, 247 Meggle, Georg 2 2 , 5 6 , 9 8 , 342 Melden, Abraham I. 58, 97 Merks, Karl-Wilhelm 290 Mikat, Paul 43 Mill, John Stuart 12,71 Moore, George Edward 12,53 Mulhall, Stephen 225 Müller, Anselm W. 17, 22, 25, 60, 100, 196, 342,354 Müller-Goldkuhle, Peter 326 Münkler, Herfried 330 Nagel, Thomas 50, 312 Nelson, Daniel M. 254 Nida-Rümelin, Julian 19, 342, 343, 352, 357 Nisters, Thomas 333 Norcross, Alastair 343 Norton, David, L. 225 Nunner-Winkler, Gertrud 255 Nussbaum, Martha C. 28, 100, 112, 222, 254, 256,260,292 Patzig. Günther 285, 304 Pauer-Studer, Herlinde 29 Pellegrino, Edmund D. 323 Piaget, Jean 255 Pieper, Josef 3 2 , 7 5 , 2 1 4

Pieper, Annemarie 17 Pinckaers, Servais 204 Pincoffs, Edmund L. 297 Piaton 30, 33, 96, 104, 134, 154, 1 8 9 , 1 9 2 , 249, 353 Pöltner, Günther 338 Pope, Stephen J. 310 Poser, Hans 6 0 , 2 4 1 Prümmer, Dominicus M. 299 Pseudo-Dionysius Areopagita 107,135 Rachels, James 343 Rahner, Karl 34, 83 Rawls, John 2 1 , 2 1 1 , 2 2 1 , 2 9 4 , 357 Raz, Joseph 15,17,51,68 Reid, Thomas 149 Rendtdorff, Trutz 34, 239 Rhonheimer, Martin 42, 86, 87, 99, 103, 104, 109, 115, 121, 140, 143, 146, 147, 165, 177, 211, 224, 225, 239, 240, 243, 252, 256, 258, 259, 260, 262, 265, 290, 294, 295, 310, 319, 3 2 6 , 3 2 8 , 335, 336, 3 3 8 , 3 4 6 , 360 Ricken, Friedoc 1 6 , 2 3 , 4 5 , 5 1 , 1 7 4 , 1 7 7 , 283 Riedel, Manfred 5 0 , 1 2 7 , 1 8 9 Ringeling, Hermann 34,239 Rippe, Klaus Peter 22,29,37,72,184,199,281, 304 Ritter, Joachim 32,189 Rodrfguez Luno, Angel 177,181,200 Rorty, Amely O. 69 Rorty, Richard 2 5 3 , 2 5 4 Ross, William D. 122,124,325 Rotenstreich, Nathan 47 Rousseau, Jean-Jacques 230 Ruggiero, Guido De 209 Ryle, Gilbert 58 Sala, Johannes B 230 Sandel, Michael 221 Sartre, Jean-Paul 12,45,159,287 Sass, Hans-Martin 323, 343 Schaber, Peter 18, 19, 22, 24, 29, 37, 72, 184, 1 9 9 , 2 8 1 , 3 0 4 , 352 Scheffler, Samuel 19,343,352,353 Scheler, Max 9 1 , 2 8 4 Schenk, Richard 279 Schlag, Martin 313 Schluchter, Wolfgang 240,258 Schnädelbach, Herbert 17 Schneewind, Jerome B. 26,178,224,230

386 Schneider, Hans-Josef 191 Schnur, Roman 224 Schockenhoff, Eberhard 66, 75, 177, 208, 243, 259,264 f., 272 f., 278,326,344 Schofield, Malcolm 103, 202 Schröer, Christian 230,240, 243, 259,261,263 Schüller, Bruno 118, 180, 204, 294, 325, 330, 335,351,354 Schuster, Joseph 22 Schwarz, Stephan 338 Scott-Taggart, M. 343 Searle, John R. 300 Sen, Amartya 28, 357 Seneca 192 Sidgwick, Henry 357 Singer, Peter 234 Slote Michael 22,24, 25,37,170,224, 281,304 Smart, J. J. C. 294, 338, 347 Sokrates 30, 33,176, 353 f. Sorabji, Richard 103,191,202 Spaemann, Robert 21,33,64,67,72,73,81, 83, 93,153,163,166,230,242,248,272,276,278, 326, 328, 331,335, 337 f., 346, 351, 356 Spitzley, Thomas 154 Stanke, Gerhard 204 Steinbock, Bonnie 343 Steinvorth, Ulrich 27, 87 Stocker, Michael 25,280 f., 282 Stiissel, Jürgen-Peter 337 Styczen, Tadeusz 275 Suärez, Francisco 286 Sutor, Bernhard 211 Swift, Adam 225 Swinbume, Richard 45 Taylor, Charles 17, 54 Thomas, Hans 42,115,338

PERSONENREGISTER

Thomas von Aquin 11 ff., 26, 30, 34, 38, 52, 53 ff., 58, 65 ff., 73 ff., 85, 88, 102, 107, 113, 135 ff., 145, 147 ff., 153 ff., 160 f., 165, 166, 174, 177, 183, 192 ff,m 203, 204 ff., 209, 217 ff., 222 f., 226, 227, 230, 231 ff., 239 ff., 256, 260, 265 f., 271, 278 f., 288 f., 332 f., 339 f., Tonneau, Jean 233 Touvier, Paul 335,353 Tricaud, François 224 Truman, Harry S. (Präsident USA) 350 Tugendhat, Ernst 21,64,67,235,293 Ulpian

231,245

Virt, Günther 296 Vossenkuhl, Wilhelm 58 Waldron, Jeremy 326 Walsh, James J. 154 Walzer, Michael 292,312 Wellmer, Albrecht 21 Westberg, Daniel 254 Wieland, Georg 243 Williams, Bernard 22, 53, 178, 219, 294, 338, 342 f., 357 Wittgenstein, Ludwig 45,97 f. Wittmann, Michael 12 Wolbert, Werner 342,353 Wolf, Jean-Claude 24,121 f., 311,312, 343 Wolf, Ursula 17,170,293 Wolter, Hans 121 Wright, Georg Henrik von 58 Zenon 192 Zorn, Rudolf 329

Sachregister

Stichworte wie „Vernunft", „Handlung", „Tugend", „Ethik", „Klugheit", „Moral", „Praxis", „Subjekt", „Gut", „Ziel" usw. finden sich im Text in großer Häufigkeit, so dass nicht sämtliche Fundstellen im Register aufgeführt werden. Dort finden sich nur die Verweise auf die wichtigsten Stellen. „Fn" nach der Seitenzahl verweist auf eine sich auf dieser Seite befindliche Fußnote. Ableitung des Sollens aus dem Sein, s. Sollen Absicht, s. auch Intention - , gute Absicht, guter Wille (s. auch Wille) 41, 105 ff., 124,143 Abtreibung 201,307, 312,337 ff., 340 acedia 194,198 actus humanus, s. Handlung, menschliche actus elicitus/actus imperatus 161 f. adiaphora 119 ff. Affekte, s. Leidenschaften akrasia/akrates 25,154 f. Amoralismus 330 Anerkennung 29 - als fundamentaler Akt der Gerechtigkeit 247, 307,316 - des anderen als „mir Gleicher" 247 f., 249, 307,314 Anstand 193 Anthropologie (philosophische) - , Beziehung zur Ethik 43f„ 163 ff., 235 ff. - der Lust 68 ff. - der sittlichen Handlung 146 ff. - und Glücksstreben 65 ff. Anwendungsdiskurs 19, 21,234, 305, 324 Arbeit 247,248 Atheismus 47,195 - und Moral 290 f. Ausnahmen - von moralischen Normen 266 Fn, 296 f., 302 Fn, 318, 320

- vom Tötungsverbot 310 f., 339 Autonomie 17,145,192 - der Vernunft, kognitive A. 145, 275 ff., 280, 291 - der Ethik, s. Ethik - des Willens 47, 145, 150, 159 f., 230, 277, 290 f., 360 f. - , „theonome A." 289 f. - und Gewissen 275 ff. Autorität - und Autonomie 277 - und Erziehung 190 ff., 253, 257,271 - und Freiheit 191 f. Basis-Handlung, s. Handlung Befehl (imperium) 235 Begehren 146 ff., 152 ff., 160 f., 198,215 f. Beharrlichkeit 193,214 Beobachterperspektive 18, 57, 58 Fn, 97 Fn, 128, 291 Bescheidenheit 193 Bewusstsein 270 moralisches 43 f., 269 f. - , Reflexivität des B., s. dort - und Gewissen 43, 272 ff. Billigkeit, s. Epikie bonum rationis 145, 147, 153, 171, 229 Caritas 89,126 Fn, 159,195,207, 226 Charakter 24,171 connexio virtutum, s. Tugend

388

SACHREGISTER

Dankbarkeit 193, 212,357 f., 359 debitum 196,244 deinotes 199 Demokrit-Maxime („Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun") 202,353 f. Demut 85 f., 158 ff., 197,212,213,279 desiderium naturale 76 ff., 83 ff. Diebstahl, Stehlen 257, 302, 320, 332 f. Diskriminierung 248 Diskurs 19 ff., Diskursethik, s. Ethik Doppeleffekt, s. Handlung duplex felicitas, s. Glück

- , Kantische 14, 18, 30, 33, 43, 44 f., 45 ff., 50, 60f„ 64, 91, 129 Fn, 184 ff., 204, 280 ff., 286, 291,323, 360 f. - , klassische 11 ff., 43, - , kognitivistische/nicht-kognitivistische E. 20, 23 ff. - , konsequentialistische, s. Konsequentialismus - , Maximenethik 18, 285, 360 f. - , Metaethik 13 f., 128 - , naturalistische 2 7 , 1 6 4 , 2 3 6 , 2 4 2 - , normative 128, 203, 320 f., 325 - , Normenethik 298 f., 319, 325 ff. - , philosophische 11 ff., 41 ff., 78 f., 80 ff., 86 ff.

Egoismus 1 8 , 9 1 , 1 0 7 , 1 7 6 , 2 0 5 Ehe 251 f. Eigeninteresse 15,18,21,225 - als Gegensatz zu Moral 15,18 Eigentum 247 Eileiterschwangerschaft 338 Fn Eitelkeit 194, 195 electio, s. Wahl Emotionen, s. Leidenschaften Empfängnisverhütung 141, 319 Fn. Empirismus 13 Enthaltsamkeit 155 f., 193,214 Epikie 193,294,296 Erbsünde 86 Erfahrung 237 - , praktische 4 3 , 2 3 6 , 2 7 0 - und Klugheit 253 ff. - und praktische Prinzipien 253 ff. - , vorwissenschaftliche 30 f., Erkenntnis, praktische, s. Urteile; Praktische Vernunft error electionis, s. Wahlirrtum Erste Person 1 6 , 1 8 , 5 0 ff., 125,221,353 Erziehung 253 - zur Tugend, s. Tugend Ethik - als Lehre vom guten Leben 14, 30,43, 61 f. - als reflektierte Praxis 42 ff., 164 f. - , Aristotelische 11 f., 78,187 ff., 319 - , Autonomie der E. 43 f., - , christliche 33, 35, 38, - , deontologische 344 ff. Diskursethik 14, 18 ff., 55 Fn, 28, 30, 43, 50, 204, 220 f., 234,248, 277 Fn - ,eudämonistische 18,30,91 ff., 169 - , Institutionenethik 20, 37, 210 f.

- , politische 20, 37,210 f., 220 -stoische 119,152 - , Strebensethik 50 Fn, 51 Fn, 52 Fn, 67 Fn, 176 teleologische (s. auch Konsequentialismus) 14, 122 ff., 128 - , theologische 35, 82, 95 - , thomanische 11 ff., 259 Fn - , Tugendethik, s. dort - U m w e l t e t h i k 211 - und Anthropologie 43 f., 163 ff. - und Gott 33, 34 ff., 4 4 , 4 5 ff., 66 ff., 89 - und menschliche Natur 52, 163 ff., 235 ff., 271 ff. - und menschliche Person 166 f. - und Metaphysik 163 f., 235 ff. - und sittlicher Charakter 268 - und Wahrheit 17,52 utilitaristische, s. Utilitarismus Ethikkommissionen 28 Ethischer Kontext 141, 251, 305, 307, 310, 312, 317 f., 319, 320, 332, 338 Ethos 24,43, 251, 257,266,269, 271, 292 f. euboulia 193 Eudämonismus, s. Ethik Euthanasie 307,349 Eventismus 18, 342 Fn Ewiges Gesetz, s. Gesetz Expertenmoral 28,44, 324, 356 Fairness 257, 301, 355 f. falsiloquium, s. Lüge Familie 252 Fanatismus, Fanatiker 212 f., 214, 218, 219 Feigheit 214 Folgen, s. Handlungsfolgen fontes moralitatis, s. Quellen d. Sittlichkeit

389

SACHREGISTER

Form einer Handlung 136 f., 139, 243 f. Fortpflanzung 251 ff. Freigebigkeit 193 Freiheit (s. auch Wille) 15, 53 ff., 145, 157 ff., 185 ff. - der Spezifizierung/der Ausführung 159 f. - , transzendentale 159 f., 230,244 Fn - und Autorität 191 f. - und Reflexivität, s. dort - und Vernunft 53 ff., 135, 145, 150 f., 157 ff., 229 f. Freude 70 ff., 75,152, 174, 198,245 Freundschaft 30,190 f., 222 f., 248,252, 358 - als Tugend 107 - , politische Bedeutung 190,248 - , zwischen Mensch und Gott 84 f, 89,226 Freundschaftsliebe (amor amicitiae / benevolentiae) 205,223 Friede 211,223,249 Fundamentalismus 210, 211 Furcht 152,214 Furchtlosigkeit 214 Geduld 193,214 Gefühle (s. auch Leidenschaften) 43 Gehorsam 145 Geistigkeit d. Menschen 166 f. Geiz 194 Gelassenheit 215 Gelingen des Lebens (s. auch Glück) 60, 64, 170,362, 363 ff. Geltung 20, 22 Fn -, prima facie G. von Normen 305, 325 Gemeinwohl 206,210 genus naturae/genus moris 139 f., 244, 306, 310 Gerechtigkeit 105 ff., 171, 181, 192, 193, 195, 196 f., 204 ff., 221,296 f., 307 ff., 313 f., 316 f., 320, 354 f. - als Wohlwollen 174, 204 ff., 222 - , allgemeine und spezielle G. 206 - , fundamentale G. und Anerkennung 247, 249, 307 - , Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) 193, 206 - , „jedem das Seine", suum cuique 204 - , Kommunikationsgerechtigkeit, s. dort - , Menschenrechte (s. dort) - , politische G. 17 - , sozialer Charakter der G. 206 f. Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa)

193,206 und Gemeinwohl 206 und Gleichheit 247 f., 249, 307, 314 und Institutionen 224 f. und Maß (Mäßigkeit) 216,217,221 und Recht 181,206,207 f., 222, 300 f., 307 und Starkmut (Tapferkeit) 214 f., 217,221 vergeltende G. 308 ff. Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) 193,206 Geschlechtstrieb, s. Sexualität Gesellschaft 248 Gesetz - als ordinatio rationis 232 - , Begriff 232 - des Alten und des Neuen Bundes 231 - e w i g e s 231 ff., 288 f. -göttliches 203,231,289 - , menschliches (positives) 231,233,289 - , natürliches (lex naturalis), s. Naturgesetz Gesetzesgerechtigkeit, s. Gerechtigkeit Gesetzesmoral 274 Gesinnung, gute (s. auch Absicht) 124,126, 143 Gewissen 25,43,176, 269 ff., 360 ff. - als Norm 275 f., 361 - als „Selbstbezug der handlungsleitenden Vernunft" 273 - als Urteil 272 ff. - bei Kant 276 f., 278 Fn - , Bildung des G., Gewissensbildung 279, 280, 361 - , Freiheit des G., Gewissensfreiheit 210, 275 ff. - , irriges G./Gewissensirrtum 275 ff., 279 ff., 361 - , perplexes Gewissen 279 - , theonome Begründung des G. 286 ff. - und Affekte 274 f. - und Autonomie, s. dort - und guter Wille 277 ff. - und Habitus des sittlichen Wissens 269 ff., 274 - und Klugheit, s. dort - und sittliche Verpflichtung 275 ff., 280 ff., 286 ff. - und subjektive Überzeugung 275 ff. - und Wahlurteil (iudicium electionis) 274, 276, 279 f. - und Verantwortung 278 - , verbildetes G. 278 ff. - , Wahrheitsbindung des G. 275 ff. -, -,

390 Gewissensfreiheit, s. Gewissen Glaube 30 ff., 78,277, 364 ff. - bei Kant 46 ff. - , christlicher 364 ff. - und philosophische Ethik 84 f., 364 - und Vernunft 79 f., 82 f., 364 Gleichheit, s. Anerkennung; Gerechtigkeit Glück 2 4 , 4 4 ff., 62 ff, 186,363 ff. - bei Aristoteles 63 ff., 68 ff. - bei Kant 64 - bei Thomas von Aquin 63 ff., 73 ff. - , hedonistisch interpretiert 64 f., 9 1 , 9 5 - , kein Moralprinzip 36 f., 229 - , klassischer Begriff 64 f. - und letztes Ziel 62 ff. - und Tugend 3 7 , 6 5 , 1 6 9 f. - , vollkommenes und unvollkommenes 73 ff., 88 f., 365 - , Zweistufigkeit des G. {duplexfelicitas) 68 ff., 7 6 , 7 9 ff., 365 Glückseligkeit 46,284 Glücksstreben 25 - und Freiheit 160 - und Handlungsmotive 91 ff. - und Moral 91 ff. - und praktische Vernunft 92 ff. Gnade 78, 80 ff., 8 9 , 2 0 3 , 2 2 6 gnome 193,202 Goldene Regel 205, 22, 249 ff., 255, 262, 268, 270,292, 328 Gott 44 f., 212 f., 226 - als letztes Ziel 66 ff., 6 9 , 6 9 , 7 4 ff., 82,195 - als Postulat der praktischen Vernunft 46 ff. Gottesbeweise 34 Fn, 44 - , Gotteserkenntnis 34 - und Moral 89, 95, 212 f., 285 ff. - und sittliche Verpflichtung 286 ff., 361 - , Vorsehung Gottes 288 f. Wille Gottes 289 f. Grenzen, moralische 16,179,182, 320, 322,325 Grenzfälle, borderline cases 37, 338 Großzügigkeit 193 Grundrechte 210 gut/schlecht 131 ff., 347 gut/richtig 42, 198, 348 ff. Gut/Güter - , absolute G. 319 - , menschliche G. 240 ff., 245 ff. - , nichtmoralische/vor-moralische G. 118 ff. praktisches G. 49, 60, 101, 103, 116 ff., 138

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- s i t t l i c h e / n i c h t s i t t l i c h e G. 115 ff., 118 ff., 141 f., 241 Gut und Übel 115 ff., 238 f. - , im nichtsittlichen Sinn 118 ff. Gute, das 18,41 ff., 53 ff. - als das Vernünftige 147,236 f. - als Korrelat des Strebens 41, 49, 146, 237 - , das gut Scheinende und das in Wahrheit Gute 15 f., 28,51 f., 8 8 , 1 4 6 , 1 7 5 ff., 275 das menschlich G. / für den Menschen G. 164 ff., 236 f., 240 ff., 245 f., 255 f., 258, 272, 292, 319, 321 f., 327 f., 331, 341, 346, 350,361 f. - , das sittlich G. 143 f. Güterabwägung 184,186,302,309,325,341 ff., 358 f. Gutes Leben (s. auch Glück, Ethik) 17,23,61 f., 249 Gutsein, sittliches 327 f. Habitus (s. auch Tugend) 172 f. - der ersten Prinzipien (Synderesis) 270 f. Habsucht 193, 194,195 Handeln - und Herstellen 59 ff. - , Zielgerichtetheit, Intentionalität des H. 53 ff., 327 Handlung - als Ereignis interpretiert 55, 127 f. - als immanente Tätigkeit 59 ff., 106, 327 - , Handlungsspezies (-art, -typ) 132 ff., 135 ff., 195 ff., 305,332 f. - i n d i f f e r e n t e 133,139 f., 141 - , in sich schlechte H., s. Handlungsverbote, absolute - , intentionale 96 ff., 105 ff., 108, 11, 116 ff., 132 ff., 138 ff., 195 ff., 303, 320, 327, 332 ff., 345 ff., 349, 359 - , (intentionale) Basis-Handlung 57,96 ff., 120, 132 ff., 195 f., 245 ff., 250 f., 253, 299 f., 303, 310, 331,335,346,349, 355, 358 - , menschliche (actus humanus) 53 ff., 57,59 ff., 9 7 , 1 2 0 , 1 3 8 f., 143 ff., 147,162, 195,349 - mit doppelter Wirkung, Doppeleffekt 204 - , naturale und moralische Identität einer H. 138 ff., 298, 300, 305 f., 332 f. - , sittliche 56, 122 ff., 327 f. - und praktische Vernunft 109 ff. - und Unterlassung (Tun und Unterlassen) 129 f., 343 ff., 343 Fn, 349 Handlungsbeschreibungen

391

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intentionale H. 56 f., 96 ff., 101 f., 133, 299 ff. - , physizistische 140, 335,342 - und sittliche Normen, s. Normen Handlungserklärung: intentionalistische und kausalistische 57 f., 97 f., 162 Handlungsfolgen 329, 332 ff., 341 ff., 356 ff., 358 ff. - als Sachverhalte und Weltzustände 50,123, 330 f., 342 ff. - , Optimierung von H. 18 f., 3 6 , 5 0 f., 121 f. - und Handlungsobjekt 301 f., 304 Handlungsgegenstand, s. Handlungsobjekt Handlungsmaterie 136 f., 195 Kontingenz der H. 317,320 Handlungsmetaphysik 44, 65 ff., 73 ff. Handlungsmotive 25, 38,91 ff. - und Intentionen 92 Handlungsobjekt 96 ff., 131 f., 132 ff., 325 f., 327 - , formell/materiell 136 f., 139,195 ff. - und Handlungsmotive 94 ff. - und Intention 96 ff., 142, 304,309, 326 - und Spezifizierung der Tugenden 196 ff. - und Umstände 332 ff. Handlungsspezies, s. Handlung Handlungssubjekt 19, 21 23, 28, 49 ff.„ 324 f., 348 ff. Handlungstheorie 13,44,49 ff. - , analytische 55,162 Handlungsurteile, s. Urteile Handlungsutilitarismus, s. Utilitarismus Handlungsverbote, absolute 266, 302, 303 ff., 319 ff., 329 ff. „in sich schlechte Handlungen" 180, 303 f., 320, 327, 344 ff., 359 Handlungswahl, s. Wahl Hass 152,198 Gotteshass 215 Hauptlaster 194 f. Hedonismus 30,91 Herstellen/Tun, s. Praxis Hochherzigkeit 193 Hochmut, Stolz 158 ff., 194 Hoffnung 152 Humanwissenschaften 4 4 , 2 3 5 Hysterotomie 336 f. Ideale Sprechsituation Identität, menschliche

21 241 f., 319 f.

ignorantia electionis, s. Wahlunwissenheit ignorantia facti/ignorantia iuris, s. Unwissenheit In sich schlechte Handlungen, s. Handlungsverbote, absolute inclinationes naturales, s. natürliche Neigungen, Institutionenethik, s. Ethik Integrale menschliche Erfüllung (integral human fulfilment) 87,246 f. Intellekt (s. auch Vernunft 15, 75 f., 78, 81, 85, 108 ff., 148 ff. - , praktischer 109 ff. - , theoretischer 108 f. Intendieren/Wählen 102 ff., 106,181 ff., 326 Intention 56 f., 92,102 ff., 105 ff. Intentionale Basis-Handlung, s. Handlung Intentionalismus, Intentionalisten 57 f., 97 f., 162 Intentionalität (s. auch Intention, Handlung) 49 ff., 56 ff., 322 Interesse - und Erkenntnis 33,175 f., 269 - und Moral 15 f., 18,28,220 Intersubjektivität 19 ff., 27 intrinsece mala, s. Handlungsverbote, absolute Intuitionen, moralische 24 inventio, s. Vernunft Irreligiosität 194 Jesus Christus

365 ff.

Kasuistik 323 f. Kategorischer Imperativ (Kant) 184,186,276 f., 281,283, 284 f., 360 f. - und hypothetische Imperative 284 Kausalismus, Kausalisten 57 f., 97 f., 162 Keuschheit 193,253 Kind(er) 2 4 , 2 5 2 , 2 5 3 , 2 5 5 , 257 Klugheit 21, 25, 172, 174, 175, 183, 189, 192, 193,199 ff., 217,219 f., 228 f., 321,321 ff. - als Form der Tugenden 199 - als imperativer Akt der praktischen Vernunft 200 f. - als sittliche Vollkommenheit 201 - als Vollkommenheit der praktischen Vernunft 259 ff., 322 - und die Bestimmung der Mittel 199 f., 260 - und Erfahrung 253 ff. - und Gewissen 273, 358 ff. - und Kompetenz 201, 328 f. - und Maß, Mäßigkeit 215

392 -

und natürliche Gewandtheit der Vernunft 199 f. - und praktische Prinzipien 253 ff., 258 ff., 321 ff. - und praktische Wahrheit 200, 257, 322 f. - und Starkmut (Tapferkeit) 214 - , Unfehlbarkeit der K„ des Klugen 261 ff. - , unvollkommene K. 201 ff. Klugheitsethik 254 Kommunikationsgemeinschaft 29, 141, 315 ff. Kommunikationsgerechtigkeit 257, 313 ff. Kommunikativer Kontext 314 ff. Kompetenz - , moralische 27 f., 107, 234 f., 324 Konflikt - , moralischer 20 f. - zwischen Tugenden 25 - zwischen Pflichten, s. Pflichtenkollision Konkretisierung - praktischer Prinzipien 255 ff., 260 ff., 321 ff. - und Gewissheit 263 ff. Konnaturalität - , Tugend als K„ mit dem Guten 173 ff., 189, 205, 267 ff., 322, 360 Konsens 21 f., 50 Konsequentialismus (s. auch Utilitarismus, teleologische Ethik) 14, 18 f., 28, 37, 107, 121, 122 ff., 128,181 f., 341 ff. - , Struktur des K. 35 f. - und Begriff der Tugend 36, 351 ff. - und Normenbegründung 298 f., 313 - und Verantwortung 343 f., 345, 350, 356 f., 359 Konstitutionalismus 225 Kontemplation 68, 79, 84, 87 f., 226, 366 Kontraktualismus 248 Fn, 249 Kooperation (als menschliches Gut) 248 f. Kreuz 365 ff. Krieg (s. auch Töten) 315 Kühnheit 152,214 Kult, Kulthandlungen 212,213 Kultur (techne) 171 Kunst 41 Kunsthandeln 41, 59 ff., 118 Laster 173, 194 f., 267 Leben - , gemäß der Vernunft 72, 80, 87 ff., 150,188 f., 226, 331 - , theoretisches 69, 72

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Lebensformen Legalismus 203, 204,290,295 Leib, Leiblichkeit 166 f. Leibgeistige Einheit, s. Mensch Leidenschaften (Affekte, Emotionen, Gefühle) 15,25,151 ff., 195 ff., 214,268, 308, 318 - als sittliche Vollkommenheit 151,152 f. - , moralische Bewertung 152 ff. - und Tugendmitte 178 f. - und Wille 153 ff., 160 ff. - und Vernunft 151 ff., 160 ff. Letztbegründung - e t h i s c h e 19, 27 f., 39 - , philosophische 14,39 Fn - , theologische 34 ff. - , transzendentalpragmatische 28 Fn lex naturalis, s. Naturgesetz Liberalismus 211 Liebe 159,191 - als Leidenschaft, Affekt 152 - e h e l i c h e 215, 251 f. - , Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit 107,207 - , Selbstliebe 107 f. - und Gerechtigkeit 207 linguistic turn 17, 149 Fn. Lüge 141,257,313 ff. - , absolutes Verbot der L. 313 ff. - , Notlüge 318 - , Scherzlüge 316 - und Falschaussage (falsiloquium) 314 - und Konsequentialismus 316 f. Lust 51, 69 ff., 73, 91, 156, 174 f., 215 f., 245, 267 Maß, Mäßigkeit 155, 174,192, 193, 194,215 f., 217,318 f. materia circa quam, (s. auch Handlungsmaterie) 136 f., 197 medium rationis 179 Mensch - als animal rationale 166 f. - als Person, s. dort - als zoon politikon 209, 249 - , Gemeinschaftsbezug 248 f. - , Gottebenbildlichkeit 88, 268 - , Gottfähigkeit 77 - , leib-geistige Einheit 15,148 f., 166 f., 240 f., 246 Menschenrechte 208 ff. - und Volkssouveränität 210

393

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Menschenwürde (s. auch Würde) 331,346 Metaethik, s. Ethik Metaphysik - und Ethik 163 f., 235 ff. Mitte (der Tugend), s. Tugend Mittel 100 ff. - , Mittel-Ziel, s. Ziel moral point ofview 15 Moral Absolutes, s. Handlungsverbote, absolute Moral 14 christliche 3 5 , 9 5 , 3 6 4 ff. - n a t ü r l i c h e 86 f., 212 - , Perspektive der M. 14, 15 ff., 22, 60, 126, 327 f., 341, 344,350, 364 f. Moralische Differenz 129 ff., 135 ff., 141 f., 238, 244,246,269,280, 324 Moralische Dilemmata 37 Moralismus 22 Moralität 9 1 , 1 4 4 , 1 8 5 Moralphilosophie (s. auch Ethik) 11 Fn, 51 Fn, 176,203, 220 Moralpositivismus 204 Moralprinzip 35 ff. Moraltheologie 34 f., 204,209, 312 Mord, s. Töten Motivation 24 f. Motive, s. Handlungsmotive Münchhausen-Trilemma 39 Fn Mundraub 320 Mut - als Tugend 196 - als Vermögen 152 ff. Natur 163 ff., 240 ff. menschliche N. 83 ff., 164 ff., 271 f. - , menschliche N. und Ethik, s. Ethik - , Ordnung der Natur, Naturordnung 231 ff., 271 - und Gnade 78, 83 ff., 203 - , „Veränderlichkeit" der menschlichen Natur 265 Naturalismus 236,242 Naturalistischer Fehlschluss, naturalistic fallacy 115,237 Naturgesetz, lex naturalis 26 f., 38, 136 Fn., 231 ff., 253 ff., 271 - , allgemeine (gemeinsame, erste) und zweitrangige (sekundäre, spezifische) Prinzipien des N. 250 f. - als Bewegungsprinzip 238 f., 291

-

als Ordnung der Vernunft 271 als Teilhabe (Partizipation) am ewigen Gesetz 288 f. - als Prinzip der Praxis 238 ff. - , erstes Prinzip des N. (s. auch Prinzipien: erstes Prinzip der praktischen Vernunft) 235 ff. - , Gebote des N. als Prinzipien der praktischen Vernunft 232 ff., 288 - und konkretes Ethos (s. auch Ethos) 257 f. - und Klugheit 253 ff., 261 f. - und menschliche Identität 241 f., 271 - und natürliche Neigungen 240 ff. - und sittliche Tugenden 242 - und spezifische Handlungsprinzipien 239 ff., 265 f. Natürliche Neigungen (s. auch Naturgesetz) 240 ff., 245 f., 288,322 - , formelle und materielle Betrachtung 243 f. - und menschliche Güter 246 f. - und menschliche Identität 241 f., 271 Naturverlangen, s. desiderium naturale Nebenfolgen 334 ff. Negative Verantwortlichkeit / negative responsibility 343 f. Neid 194,195,205 Neigung (s. auch Pflicht) 24, 290 non est eadem rectitudo apud omnes 265 ff. Neoaristotelismus 13 Fn, 17, 24, 189 Normative Aussagen 270, 271,292, 299,319 Normen 16, 19, 23, 26, 180, 291 ff., 326 - , exhortative 320 f. - , Gesetzesnormen 293 f. - , negative N., Verbotsnormen 266, 303 ff., 319 ff. Normenutilitarismus, s. Utilitarismus - , sittliche/moralische 11,291 ff. - und Handlungsbeschreibungen 251,297 ff. - und intentionale Handlungen 295,299 ff. - und Prinzipien 256, 291 f. - und Sprache 302 Fn, 306 - und Tugenden 128,180,295 - und Verhaltensvorschriften 293 f. Normenbegründung 16 ff. - , prozedurale 17 Normenethik, s. Ethik Nüchternheit 193 Objekt, s. Handlungsobjekt objektiv/subjektiv 27 Fn, 52,274 f. Objektivität 274 f.

394 Offenbarung 31, 35,78, 82, 8 5 , 2 0 3 , 2 1 3 , 2 8 9 Optimierung, s. Handlungsfolgen ordinatio rationis, s. Gesetz orthos logos, s. Vernunft overlapping consensus 21 partikular/universal 254 ff., 261,263 ff. Person menschliche 166 f. - , Primat der P. 220 f. - und Ethik, s. Ethik - und menschliche Natur 166 f. Perspektive der Moral, s. Moral Pflicht - bei Aristoteles 10,175 f. - bei Kant 4 7 , 1 7 5 , 1 8 4 f., 276,280 ff. - , theonome Begründung der P. 286 ff. - und Neigung 280 ff. - und Tugend 24 f., 175 f., 285 f. Pflichtenkollision 25,284 f., 297, 302 Philosophie - als ancilla theologiae (Magd der Theologie) 32 f. christliche 31 ff., 83 Fn, 268 - p o l i t i s c h e 211,225 - , praktische 41 ff. - und Glaube 30 ff. - und Theologie 31 ff. Physizismus 140,335 Pluralismus 210,221 Polis, Polisethik 188 f., 201 f. Politik 17 Praktische Wahrheit, s. Wahrheit Praktische Vernunft (s. auch Vernunft) - , affektive Bedingtheit 111 ff., 152, 175 ff., 182 f., 201, 238,267 ff. - , Ausgangspunkt 109 ff., 236 ff. - , erstes Prinzip der p. V. 235 ff., 268 f. - , Einheit der p. V. 259 ff., 321 ff. - , Konkretisierung der p. V. 176,255 ff., 259 ff., 263 ff. - , Mehrstufigkeit der p. V. 263 ff. - , Prinzipien der p. V. 227 ff., 253 ff. - , Selbsterfahrung der p. V. 236 - , Theonomie der p. V. 233 - und Gott 286 ff. - und moralische Differenz (s. auch dort) 129 ff. - und natürliche Neigungen 240 ff. - und sittliche Verpflichtung 286 ff.

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- und Wille 108 ff. - , Universalität und Partikularität der p. V. 254 ff. Praktischer Syllogismus 111 ff., 154 f. Praxis 41 ff., 59 ff. - , eventistischer Begriff von P. 18,342 Fn - , Perspektive der P. 49 ff., 59 ff., 122,131,269 - und Poiesis (Herstellen/Tun) 59 ff. Prinzipien 2 3 , 2 6 , 3 8 - als Ziele der Tugenden 246,250,259,264, 325 Applikation praktischer P. 258 ff. - , Erkenntnis praktischer P. und Erfahrung 254 ff. - , erstes Prinzip der praktischen Vernunft 235 ff., 268 ff. - , Genese praktischer P. 247, ff., 255 ff. - , narrative Struktur ihrer Genese 257 - , praktische 38, 203, 227 ff., 245 ff., 253 ff., 321 f., 324 ff. - , spezifische Handlungsprinzipien und ihre Konstituierung 239 ff. -theoretische 171,256 - und konkrete Handlungsregelung 29, 38, 255 ff., 258 ff. - und Klugheit, s. dort - und sittliche Normen 256 - , Universalität 253,266 Prinzipienerkenntnis - und affektive Dispositionen 267 ff. - und Klugheit 253 ff. Prinzipienethik 253 f., 299 ff. Proportionalismus 128, 341, 342 Fn Rationalismus 13,209 Recht 181, 206, 207 f., 222, 247 - , positives 206 f. - , natürliches 206 f. Rechtsstaat 225 recta ratio, s. Vernunft Reduktionismus 13,36,81,220 Reflexivität - des Bewusstseins 269 ff. - der Vernunft 53 f., 148, 240 Fn, 241, 244 Fn, 256,273 f. - des Willens 53 f., 241 - , Ebene der Reflexion und Handlungsebene 112,238 f., 292 - und Freiheit 53 ff., 148,273 Regeln (s. auch Nonnen)

SACHREGISTER

- , moralische 2 3 , 2 6 , 2 9 5 ff. - , rechtliche, Gesetzesregeln 293 ff. Regelutilitarismus, s. Militarismus Relativismus 2 8 , 5 2 , 1 6 5 , 2 5 4 , 2 9 2 Religion 30 ff., 212 f. - als sittliche Tugend 193,195,212 f., 290 Religionsfreiheit 208 f., 210 Reue 197,267,274 richtig/falsch 122 ff., 347 f. Richtigkeit - , das von Natur aus Richtige 227 ff. - des Strebens, s. Streben - des Zieles 227 ff. - und Gutsein von Handlungen 122 ff. - und Motive 38 - von Handlungen 19, 23 ff., 36, 42, 298 ff., 323 ff. Sachverhalte, s. Handlungsfolgen Sanftmut 193,198,214 Schamhaftigkeit 193 Schuld 160,161,255,318 - und Gewissen 277 ff. - und Strafe 308 ff., 312 Schwangerschaftsabbruch, s. Abtreibung second order desires 54 Sein und Sollen, s. Sollen Selbsterhaltung 7 3 , 1 1 5 , 1 1 6 , 2 3 6 , 2 4 5 f., 247 Selbstmord 307 Selbstverwirklichung 60 f. Sexualität, Sexualtrieb 138 f., 156, 205, 215, 245 f., 251 ff. Sexual verkehr 156 Sinnlichkeit, sinnliches Begehren 146 ff., 151 ff., 160 f., 171,198,215 f. Sittliches Verhältnis 326 f. Solidarität 225,248 Sollen 15,41 ff., 65, 114 f., 270 - , Ableitung des S. aus dem Sein 114 f., 165, 236 f., 272 - , moralisches 22, 114 f., 176, 347 Spezies einer Handlung, s. Handlung Spontaneität des Willens, s. Wille Sprache (s. auch Kommunikationsgerechtigkeit) - , moralische 21, 302 Fn, 306 - und Prozess der praktischen Vernunft 112 ff., 292,295 Sprechakttheorie 300 Starkmut, Tapferkeit 174, 192, 193, 194, 195 f., 198, 214 f., 217 ff., 318

395 Stehlen, s. Diebstahl Stolz, s. Hochmut Strafe(n) - als Wiederherstellung der Gerechtigkeit 308 ff. - , und Sühne 311 Fn Streben 15, 87,157 - als Grundkategorie 44 ff. - nach dem Guten 44 ff. - nach Glück, s. dort - , Richtigkeit des S. 29, 227 ff., 302, 322, 324 ff., 348 f. - und praktische Vernunft 108 ff., 236 ff. - und sittliche Tugend 173 ff., 201,214 ff. Strebensethik, s. Ethik Strebevermögen, konkupiszibles und iraszibles 153 f., 196,214 f., 242 Subjekt, s. Handlungssubjekt Subjektivität - und Wahrheit 15 f., 169,290 f. Sünde 195 - , formelle und materielle 125 f. suum cuique, s. Gerechtigkeit Synderesis, s. Habitus der ersten Prinzipien synesis 193,202 Tapferkeit, s. Starkmut Tauschgerechtigkeit, s. Gerechtigkeit Technik 41 Teleologie, s. Handeln (-Zielgerichtetheit) Teleologische Ethik, s. Ethik Theologie 31 ff., 81 ff., 95 Theonomie 233,286 ff. Tiere 54, 58, 67, 88 Todesstrafe (s. auch Töten) 140, 308 ff. - als Sühne 311 Fn - als Vergeltung 311 f. Toleranz 210 Tollkühnheit 214,219 Töten 140, 306 ff. - als in sich schlechte Handlung 306 ff. - als Strafe (s. auch Todesstrafe) 308 ff. - aus Affekt 308 - eines Unschuldigen 312 f. - , Formulierung des Tötungsverbots 307, 312 f., 339, 339 - im Erpressungsfall 19 - im Krieg 312,313 - , intentionale Beschreibung 306 ff. - , konsequentialistische Analyse des Töten 120 f.

396 Mord 140 - und Sterbenlassen 343 Fn, 349 - Ungeborener 336 ff. - zur Selbstverteidigung 313,339 f. Tötungsverbot, s. Töten Transzendentaler Formalismus der praktischen Vernunft 287,285 Transzendentalpragmatik 28 Fn Trauer/Traurigkeit 152,194,198 Treue 252, 253, 359 Trieb 15,138 Triebfeder, moralische 46 f., 288 Tugend 22 ff., 36,86 ff., 169 ff., 245, f f „ 352 ff., 359 - , affektiv-kognitive Dimension 169, 173 ff., 182 f., 267 ff. - als Disposition zum richtigen Handeln 24 ff., 36 ff. - als Habitus 172 f., 190 ff. - als Habitus des Wählens, Habitus der guten Handlungswahl 177 ff., 186 ff., 284 - als habitus operativus bonus 173 - als Konnaturalität mit dem Guten, s. Konnaturalität - als Mitte 178 ff. - als Ordnung der Vernunft 173 anthropologische Dimension 173 ff. aristotelische Definition der T. 177 ff. - , augustinische Definition der T. 177 Fn - B e g r i f f 24ff., 169ff. - bei Kant 175, 183 - , Differenzierung/Spezifizierung der T. 195 ff. - , Einzeltugenden 193 ff. - , Erwerb der T. 186 ff., 323 - , Erziehung zur T. 190 ff. - , innerer Zusammenhang (Einheit) der Tugenden (connexio virtutum) 216 ff., 221 - , intellektuelle (dianoetische) T. 170 f. -Kardinaltugenden 192 ff. - , Keime der Tugenden (semina virtutum) 250 narrative Struktur 196, 217 Fn - , natürliche T. 228, 242, 323 - , „Organismus der Tugenden" 162 f., 216 ff. - , politische T. 222 ff. - , sittliche (ethische) T. 166 f., 170 ff., 174 ff., 323 - , Teile der Tugenden 193 f. - , thomanische Rezeption des Aristotelischen Begriffs der T. 177 ff. - , Trivialbegriff der T. 24, 281, 352

SACHREGISTER

-

und Charakter 2 4 , 1 7 1 , 1 9 9 Fn und Glück 65,169 f. und Institutionen 223 ff. und Moralgesetz 26 und Natur 164 ff., 228 f. und Normen 128, 320 f. und Pflicht 280 ff. und Vernunft 173 ff. vollkommene und unvollkommene 175, 219 f. - und praktische Prinzipien 245 ff. - und Strebevermögen 173 ff. - und Wissen 176 Tugendethik 11,18 f., 20 f., 22 ff., 35 ff, 43,151, 169,319,323 ff., 347 f., 351 ff. - , angelsächsische virtue ethics 23 f., 304, 323 Begriff 22 ff., - , klassische 22ff„ 221, 305, 323 - , nicht-kognitivistische 23 f., - K r i t i k an der T. 19, 72 f. - , moderne 22 ff., 304 - r a t i o n a l e 25 f., 188 - , Struktureigenschaften 35 ff., - , umrissartiger Charakter 179,196 - und absolute Handlungsverböte 180, 304 f. - und christliche Gesetzesethik 38 - und Diskursethik 20 f., 221 - und Gott 286 ff. - und Kantische Pflichtethik 280 ff. - und Konsequentiaüsmus 19, 35 f. - und Normenethik 326 f. - und Relativismus 28,221 - und sittliche Normen 299 ff. Tugendhafte, der 52,175 Tun und Unterlassen, s. Handlung Übel (als Mangel an Gutem) 198 Umstände 332 ff. Unenthaltsamkeit 25,154 f.,267 Unfehlbarkeit des Klugen, s. Klugheit Unfehlbarkeit der Vernunft, s. Vernunft Ungerechtigkeit 19, 197, 206, 213, 250, 307 f. - , Strukturen der U. 214 Unmäßigkeit 195,215 f. Unparteilichkeit 15 Unsterblichkeit 82 Unterlassung, s. Handlung Unwissenheit - u n v e r s c h u l d e t e 125, 279 f. -, ignorantiafacti/ignorantia iuris 125Fn, 278Fn

SACHREGISTER

Unzucht 194 Urteile (s. auch praktische Vernunft) affektive Bedingtheit praktischer Urteile 25, 51,170 f., 267 ff. - , Gewissheit praktischer U. 263 ff. - , partikulare Handlungsurteile 16,176, 321 ff. praktische (Handlungsurteile) 109 ff., 129 ff., 321 ff. theoretische 109,238 Utilitarismus (s. auch Konsequentialismus) - als ethische Theorie 14, 18 f., 30, 50, 128, 186, 204, 294, 320, 323, 324 f., 330 f., 341, 341 ff. - , Handlungsutilitarismus 294 Fn - , Normenutilitarismus 294, 301 f., 330 - , Regelutilitarismus 294,296 f., 298 - und Straftheorie 294, 301 f., 309,311 Fn, 312 - und Verbot der Lüge 316 f. Verantwortung 61 f., 144, 248, 334, 345, 350, 356 f., 359 Verdienst - und Handlungsfolgen 334 Vergeltung 308 ff. Verheißungsideologien 81,83,366 Vernunft 2 5 , 5 3 , 6 8 , 1 3 8 , 147 ff. - als Licht 150 - als Maßstab von gut und schlecht 87 ff., 135 ff., 141,143 ff., 163 ff., 198,229,233,246, 332 f. - als Natur 234 ff., 240, 242 - , Faktum der V. (Kant) 230 Imperium, imperativer Akt der V. 161 f., 238 - , inventiver Akt der V. (inventio) 191 Fn, 246, 255 - , Leben gemäß der V., s. Leben - , Mehrstufigkeit praktischer V., s. Praktische Vernunft - , Ordnung der V. 173,184,245,252 f. praktische (s. auch Praktische V.) 16, 26 f., 46 ff., 57,94, 102 f., 108 ff., 227 ff. - , Primat der V. 146 ff. - , rechte, (orthos logos, recta ratio) 136, 151 Fn, 179 f., 201 - , Reflexivität der V., s. dort - , theoretische 237,263,272 - und Leidenschaften 151 ff., 160 ff., 197 f., 216 - undPflicht 285 f. Unfehlbarkeit der V. 147 ff., 184

397 - , verdorbene V. 150,266 Vernünftigkeit 2 4 , 1 4 7 , 1 6 9 - , das von Natur aus Vernünftige 26 ff., 227 ff., 234,236 f., 305, 322 - , praktische 46 ff. - , Strukturen der V., 165, 202 f., 227 ff. - und Glück 65 ff. - und Zielgerichtetheit 56 ff. Verpflichtung, sittliche, s. Gewissen Versprechen 298, 300 f., 320 Verstand, s. Intellekt Verteilungsgerechtigkeit, s. Gerechtigkeit Verwirklichung des Menschseins, s. Selbstverwirklichung Verzeihen 197 visio beatifica/v. divinae essentiae 76 Völlerei 194 Wahl (electio, proairesis) - Handlungswahl 102 ff., 185 f., 348 Handlungswahl und Zielintention 102 ff., 181 ff., 227 ff. Wahlunwissenheit, ignorantia electionis 154 f., 1 6 1 , 1 7 5 , 1 7 8 , 2 0 1 , 2 1 5 , 2 7 9 f. Wahrhaftigkeit 193,247, 313 ff. Wahrheit 17,68,75,88,291 - der Subjektivität 1 6 , 5 2 , 1 6 9 , 2 7 4 f. - , praktische 17, 20 f., 29, 88, 176, 200, 227 ff., 2 3 9 , 2 5 7 , 2 6 1 , 2 6 4 , 3 2 2 , 324 - und Demut 158 ff. Weisheit (sophia) 171,226, 291 Weltzustände, s. Handlungsfolgen Werte 27 Wille, Wollen 15,108 - als Natur (voluntas ut natura) 171,234 - als vernünftiges Streben 53 ff., 65, 68, 139, 157 ff., 161,322 - , guter W. 60 f., 105 ff., 181 ff., 185 f., 278 f., 322 f., 331, 341, 348 f. - , Freiheit d. W. 53 f., 157 ff. - , Reflexivität des W., s. dort - , Spontaneität des W. 157 ff. - und Gerechtigkeit 204 f. - und Leidenschaften, Affekte 153 ff., 160 ff. Willensakte -, actus elicitus/actus imperatus 98 -Wählen/Intendieren 102 ff. Willensfreiheit, s. Wille Willensschwäche 25 Willentlichkeit 57 f.

398 Wissen, sittliches 269 ff. Wohlwollen (s. auch Gerechtigkeit) 197, 207 f., 222,284, 354 f. Wünsche(n) 103,120 Würde 44,145

SACHREGISTER

184, 190 f.,

Ziel - der Tugend(en) 227 ff., 246,250,259,264 dominantes/inklusives 87 letztes 62 ff. Mittel-Ziel 93,100 ff., 105 ff., 181 ff., 322 - , natürliches und übernatürliches 34 f., 81 ff.

- und Handlung 57 ff., 102 ff. zoon politikon, s. Mensch Zorn - als Laster 194 - als Leidenschaft 152,156 f., 194,198 Zwecke/Mittel (s. auch Ziel) - , „der Zweck heiligt (nicht) die Mittel" 200,202,317,329 ff., 334

107,

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